Plenarprotokoll 12/61

Deutscher

Stenographischer Bericht

61. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Inhalt:

Abwicklung der Tagesordnung 5131 A Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . 5143A Detlef Kleinert (Hannover) FDP 5143 C Wahl der Abgeordneten Antje-Marie Steen zur Schriftführerin als Nachfolgerin der Ab- Einzelplan 06 geordneten Margitta Terborg 5131 B Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern (Drucksachen 12/1406, Tagesordnungspunkt II: 12/1600) Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten in Verbindung mit Entwurfs eines Gesetzes über die Fest- stellung des Bundeshaushaltsplans für Einzelplan 36 das Haushaltsjahr 1992 (Haushaltsgesetz 1992) (Drucksachen 12/1000, 12/1329) Zivile Verteidigung (Drucksachen 12/1429, 12/1600)

Einzelplan 07 in Verbindung mit Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz (Drucksachen 12/1407, Einzelplan 33 12/1600) Versorgung (Drucksache 12/1427) Rudolf Purps SPD 5145A in Verbindung mit Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . 5148B CDU/CSU 5149B Einzelplan 19 Bundesverfassungsgericht (Drucksachen Rudi Walther (Zierenberg) SPD . . . 5152B 12/1419, 12/1600) FDP 5153A, 5159A Dr. Hans de With SPD 5131D PDS/Linke Liste 5156 C

Michael von Schmude CDU/CSU . . . 5135 C Dr. Bündnis 90/GRÜNE 5158A Dr. Klaus-Dieter Uelhoff CDU/CSU . . Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 5137 D 5159B Günter Graf SPD 5160 C Dr. PDS/Linke Liste 5138 C Dr. FDP 5163 A Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 5139D , Bundesminister BMI . . 5163D Dr. Michael Luther CDU/CSU 5142A Dr. Willfried Penner SPD 5165B Gerlinde Hämmerle SPD . . . 5142D, 5143B Hans Gottfried Bernrath SPD 5167 D II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Einzelplan 09 Einzelplan 11 Geschäftsbereich des Bundesministers Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft (Drucksachen 12/1409, für Arbeit und Sozialordnung (Drucksa- 12/1600) chen 12/1411, 12/1600) Wolfgang Roth SPD 5169D, 5191A SPD 5215 D Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . . 5170 C Hans-Gerd Strube CDU/CSU 5219 C Ernst Hinsken CDU/CSU 5171 C Ina Albowitz FDP 5221 D Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 5173 C Petra Bläss PDS/Linke Liste 5224 B Dr. FDP . . 5177A, 5191C Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 5226 B CDU/CSU . . . . 5179D Heinz-Jürgen Kronberg CDU/CSU . . . 5228 C Dr. Uwe Jens SPD 5180B SPD 5229 B Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 5181A Christina Schenk Bündnis 90/GRÜNE . 5230 D Josef Grünbeck FDP 5182A Dr. FDP 5232 D Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 5182 C Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 5234 B Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Dr. Gisela Babel FDP 5234 C Linke Liste 5185 A Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . 5185D Einzelplan 15 Dr. Otto Graf Lambsdorff FDP 5186 C Geschäftsbereich des Bundesministers für Gesundheit (Drucksachen 12/1415, Jürgen W. Möllemann, Bundesminister 12/1600) BMWi 5187A Uta Titze SPD 5237 B Wolfgang Roth SPD 5188A, C Arnulf Kriedner CDU/CSU 5241 C Dr. Uwe Jens SPD 5188C, 5189D Ernst Schwanhold SPD 5242 A Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD . . . . 5190D Uta Titze SPD 5243C, 5249B Einzelplan 13 Dr. PDS/Linke Liste . . . 5244 A Geschäftsbereich des Bundesministers Dr. Dieter Thomae FDP 5245 B für Post und Telekommunikation (Drucksachen 12/1413, 12/1600) , Bundesministerin BMG 5246 B Iris Gleicke SPD 5192A Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste . . 5246 D Manfred Kolbe CDU/CSU 5193 C Klaus Kirschner SPD 5248 A Wieland Sorge SPD 5195C Rudolf Dreßler SPD 5248 D Jürgen Timm FDP 5197 B Tagesordnungspunkt VI: Dr. Christian Schwarz-Schilling, Bundesmi Beratung der Beschlußempfehlung des nister BMPT 5199A Ältestenrates Arne Börnsen (Ritterhude) SPD . . . 5200 C a) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Weiterentwicklung des Grundgeset- Walther (Zierenberg) SPD . . . 5202 A Rudi zes zur Verfassung für das geeinte Deutschland Einzelplan 10 — Einsetzung eines Verfassungsra- Geschäftsbereich des Bundesministers tes — für Ernährung, Landwirtschaft und b) zu dem Antrag der Gruppe BÜNDNIS Forsten (Drucksachen 12/1410, 12/1600) 90/DIE GRÜNEN Ernst Kastning SPD 5202 C Vom Grundgesetz zur gesamtdeut-- FDP 5205 C schen Verfassung — Einrichtung und Aufgaben eines Dr. Gerald Thalheim SPD 5206 C Verfassungsrates — Bartholomäus Kalb CDU/CSU 5207 A c) zu dem Antrag der Fraktionen der Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD . . 5207 B CDU/CSU und FDP — Einsetzung eines Gemeinsamen Jan Oostergetelo SPD 5208 A Verfassungsausschusses — Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ (Drucksachen 12/415, 12/563, 12/567, Linke Liste 5210 B 12/787, 12/1590) Dr. Sigrid Hoth FDP 5211D Dr. Paul Laufs CDU/CSU 5250 B , Bundesminister BML . . . 5213 D Dr. Hans-Jochen Vogel SPD 5251 C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 III

Dr. CDU/CSU 5253 D Anlage 1 Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 5255 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 5267 * A Detlef Kleinert (Hannover) FDP 5255 B Dr. Jürgen Schmude SPD 5256 B Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/ Anlage 2 GRÜNE 5256 C Dr. Gerhard Friedrich CDU/CSU . . . 5257 C Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Einzelplans 13 Geschäftsbereich des Gerlinde Hämmerle SPD 5258 C Bundesministers für Post und Telekommuni-

Freimut Duve SPD 5259 B kation — Riege PDS/Linke . . Dr. Gerhard Liste 5259 D Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Linke Liste 5267 *B Einzelplan 17 Geschäftsbereich des Bundesministers für Frauen und Jugend (Drucksachen 12/1417, 12/1600) Anlage 3 Dr. Konstanze Wegner SPD 5260 D Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung (Quickborn) CDU/CSU 5261 B des Einzelplans 15 — Geschäftsbereich des Helmut Wieczorek (Duisburg) SPD . . 5261 C Bundesministers für Gesundheit — Karl Diller SPD 5261 C Dr. Dieter Thomae FDP 5268 *A Petra Bläss PDS/Linke Liste 5263 D SPD 5264 D Anlage 4 Ingrid Roitzsch (Quickborn) CDU/CSU . 5265 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Einzelplan 18 des Einzelplans 17 — Geschäftsbereich des

Geschäftsbereich des Bundesministers Bundesministers für Frauen und Jugend — für Familie und Senioren (Drucksachen 12/1418, 12/1600) 5265 CSusanne Jaffke CDU/CSU 5268 * C in Verbindung mit Dr. Angela Dorothea Merkel, Bundesministe rin BMFJ 5269 *B Zusatztagesordnungspunkt Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Iwersen, weiterer Abgeordneter Anlage 5 und der Fraktion der SPD: Wohnen im Alter (Drucksache 12/1571) 5265 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Haushaltsgesetz 1992 (Drucksachen des Einzelplans 18 — Geschäftsbereich des 12/1601, 12/1602) 5265D Bundesministers für Familie und Senioren — und Beratung des Antrags betr. Wohnen im Tagesordnungspunkt V: Alter Beratung der Beschlußempfehlung des Irmgard Karwatzki CDU/CSU 5271 * C Haushaltsausschusses zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Dr. Konstanze Wegner SPD 5273 *A Der Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 (Drucksachen 12/1001, 12/1329, 12/ Dr. Sigrid Hoth FDP 5274 *B 1629) 5266 A - Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 5275 * A Nächste Sitzung 5266 C Hannelore Rönsch, Bundesministerin Berichtigung 5266 BMFuS 5276 *A

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Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Michael von Schmude Herren, die Sitzung ist eröffnet. Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich Einzelplan 19 bekannt: Bundesverfassungsgericht Interfraktionell ist vereinbart worden, die Beschluß- — Drucksachen 12/1419, 12/1600 — empfehlung des Ältestenrates zur Einsetzung einer Gemeinsamen Verfassungskommission auf Drucksa- Berichterstattung: che 12/1590 bereits nach der Beratung des Einzel- Abgeordnete Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) plans 15 aufzurufen. Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Hans-Georg Wagner Darüber hinaus ist vereinbart worden, den Antrag der Fraktion der SPD „Wohnen im Alter" auf Druck- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für sache 12/1571 zusammen mit dem Einzelplan 18 auf- die gemeinsame Aussprache 1 Stunde vorgesehen. — zurufen und ohne Debatte an die zuständigen Aus- Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. schüsse zu überweisen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der Herr Abgeordnete de With. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Es ist so beschlossen. Die Kollegin Margitta Terborg legt ihr Amt als Schriftführerin nieder. Ich möchte ihr für die langjäh- Dr. Hans de With (SPD): Frau Präsidentin! Meine rige Unterstützung herzlich danken. sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst vor- nehmlich der Justizgemeinde und den Haushältern (Beifall im ganzen Hause) einen schönen guten Morgen! Die Fraktion der SPD schlägt als Nachfolgerin die (Zurufe: Guten Morgen!) Kollegin Antje-Marie Steen vor. Sind Sie mit diesem Doch zur Sache: Wer sieben Jahre lang warten muß, Vorschlag einverstanden? — Das ist der Fall. Die Kol- bis er sich durch die Instanzen gequält hat und endlich legin Antje-Marie Steen ist als Schriftführerin ge- der Bundesfinanzhof entscheidet, wird an unserem wählt. Staat zweifeln, wenn er nicht ein routinierter Prozeß- Wir setzen die Haushaltsberatungen fort. kenner ist. Wer beim Vermögensamt der Stadt Leipzig Ich rufe auf: einen Antrag auf Rückübertragung seines Elternhau- ses stellt, lange genug warten muß, aber endlich den Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Vorabbescheid erhält, daß sein Antrag wohl abge- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei- lehnt werde, wird sich fragen, was „die da oben" nach nes Gesetzes über die Feststellung des Bundes- der Wiedervereinigung wohl bloß gemacht haben. haushaltsplans für das Haushaltsjahr 1992 Wer durch einen Konkurs sein Leben und seinen Be- (Haushaltsgesetz 1992) trieb völlig ruiniert, seine Arbeiter auf der Straße ste- — Drucksachen 12/1000, 12/1329 — hen und andere trotz Konkurses als Geschäftsführer bei der Ehefrau lustig Geld verdienen sieht, wird ent- Beschlußempfehlung und Bericht des Haus- weder verzweifeln oder sich ebenfalls an den Geset- haltsausschusses (8. Ausschuß) zen vorbeischlängeln. Einzelplan 07 Das sind drei Beispiele, die belegen, was geschieht, Geschäftsbereich des Bundesministers der wenn die Rechtspolitik nicht vorsorgt, aber drei Bei- Justiz spiele aus unserer Zeit. — Drucksachen 12/1407, 12/1600 — Natürlich wissen wir, daß auf Betreiben des Bundes- ministers der Justiz — er unterhält sich gerade ange- Berichterstattung: legentlich — der Bundesfinanzhof in den letzten Jah- Abgeordnete Hinrich Kuessner ren personell erheblich aufgestockt wurde, immer mit 5132 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Hans de With großer Unterstützung durch die Opposition. Natürlich Schließlich kennen wir auch die rastlose Tätigkeit wissen wir, daß das Gesetz zur Entlastung des Bun- des Ministers bei der Bewältigung der Reparatur der desfinanzhofs vom 8. Juli 1975 — also noch zu Zeiten Gesetze zum Einigungswerk — das war im Frühjahr der sozialliberalen Koalition verabschiedet — immer dieses Jahres — , der Reparaturgesetze, die mehr oder und immer wieder verlängert wurde — zuletzt vorige weniger durch das Parlament gedrückt wurden, um Woche. nicht zu sagen, gepeitscht wurden. Doch schon wieder gibt es Unzuträglichkeiten. Zigtausende von früheren Daneben aber lag ein Gesetz zur Änderung der Fi- kleinen Hauseigentümern wollen ihr Grundstück in nanzgerichtsordnung vor, das im Rechtsausschuß je- Görlitz oder in Schwe rin, in Leipzig oder in Gera wie- doch nicht rechtzeitig verabschiedet werden konnte, der zurückhaben. Sie müssen aber warten und warten weil die Koalitionsfraktionen keine Eile zeigten. Und und wissen nicht, ob sie erfolgreich sein werden. Auf im selben Rechtsausschuß haben wir gehört, daß das der anderen Seite fürchten Mieter und gutgläubige Bundesministerium der Finanzen an einer Änderung „Häuslebauer" — wie wir sagen würden — von da- der Abgabenordnung arbeitet, um den Verfahrens- mals um die Frucht ihrer Arbeit und fürchten Vertrei- gang bei Einsprüchen gegen Finanzamtsbescheide zu bung aus ihrem Haus. beschleunigen und die Gerichte zu entlasten. (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Schließlich haben wir — ich sage das, um das ein- CSU]: Aber sie werden nicht vertrieben!) mal aufzuzählen — in der vorigen Woche das be- rühmt-berüchtigte Justizentlastungsgesetz behan- Da gibt es Existenzangst. delt. Mit geplanten Entlastungseffekten auch für die Finanzgerichte. Daneben aber stagnieren die Investitionen im

Osten — in Berlin und anderswo — , weil die Eigen- Der Normalbürger wird sich bei dem Wust von Ge- tumsverhältnisse und Entschädigungsregelungen setzen und Verfahrensmöglichkeiten fragen, wo nicht geklärt sind und die sogenannten Vorfahrtsre- bleibt aber die tatsächliche Abhilfe für mich. Und das gelungen entweder nicht greifen oder nicht ange- bei einer noch zunehmenden Verfahrensdauer bei wandt werden können. Lesen Sie dazu doch einmal den Finanzgerichten. die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", die bei Gott (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke kein SPD-Blatt ist, von vorgestern. Dort wurde alles Liste) aufgelistet. Es winkt schon Straßburg. Die Bundesrepublik wurde (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Was bereits verurteilt, weil bei uns zum Teil die Verfah- ist z. B. ein SPD-Blatt?) rensgänge zu lang sind. Deshalb stehen schon wieder dringende Reparaturen (Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von an. Stetten [CDU/CSU]) (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Was Die Frage gibt aber schon — hören Sie gut zu, Herr ist ein SPD-Blatt?) von Stetten — die Antwort. Hier hat die Bundesregie- rung — sprich der Bundesminister der Justiz — nicht Die Bürger sind ungeduldig. Herr Gerster, Sie sollten strategisch gedacht, und sie hat es versäumt, mit es etwas ernst nehmen. Das bet rifft nämlich Bürger, Macht und Mut eine wirkliche Reform, die Abhilfe die warten und die sich Mühe gegeben haben. Und gebracht hätte, durchzuboxen. Hier wurde — um es das darf man nicht mit Gespött abtun. platt zu sagen — mehr oder weniger von der Hand in (Beifall bei der SPD — Johannes Gerster den Mund gelebt. Das büßen der rechtsuchende Bür- [Mainz] [CDU/CSU]: Ich nehme Sie sehr ger, die Staatsfinanzen und die Glaubwürdigkeit un- ernst, Herr de With!) seres Staates. Hätten nicht schon längst die Lehren aus den Erfah- Natürlich wissen wir auch, daß es der damalige rungen dieses Sommers gezogen werden müssen, Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz — der Herr Minister, oder waren die Maßnahmen vom Früh- heutige Bundesminister der Justiz — war, der wesent- jahr dieses Jahres nicht doch zu überhastet? Den gu- liche Grundlagen für das Werk des Einigungsvertra- ten Willen unterstellen wir. Daß das alles keine einfa- ges gelegt und damit dafür gesorgt hat, daß unser che Materie ist, ist unbestritten. Das wissen wir auch. Rechtssystem im Kern rasch auf die neuen Länder Aber wäre es nicht klüger gewesen — auch wenn ich übertragen wurde. mich jetzt wiederhole — , einen Koordinator einzuset- Wir wissen auch, daß er sich größte Mühe gegeben zen, der nichts anderes tut und wirklich auch nichts hat — das sei anerkannt — und noch gibt, daß bei den anderes macht, als sich tagtäglich um die Belange der Gerichten drüben bestehende Lücken aufgefüllt wer- neuen Länder zu kümmern und darum, daß die Eigen- den. tumsverhältnisse, die Investitionsvorhaben und die Rehabilitierung rascher zu einem Ende geführt wer- Wir Sozialdemokraten haben ihn dabei — das weiß den können? er — stets nachhaltig unterstützt. Wir wissen auch um die Schwierigkeiten mit den Ländern, die selbst eine Das Reformgesetz für das Vergleich - und Konkurs- Menge leisten, deren Arbeit aber oft wenig koordi- wesen liegt seit dem 21. November, also seit wenigen niert zu sein scheint. Das belegen uns die vielen Briefe Tagen, vor. Aber, es hat eine lange Geschichte. Sie von Leuten, die gern drüben mitarbeiten würden, reicht tief in die Zeit der sozialliberalen Koalition hin- aber häufig einfach lange keine Antwort erhalten. ein. Noch — und ich schaue ihn an — unter Hans- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5133

Dr. Hans de With Jochen Vogels Regiment wurde die Insolvenz-Rechts- wurf gibt es inzwischen. Dabei frage ich mich jedoch, kommission einberufen. warum der Bundesminister der Justiz noch immer (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das hat nicht ge nicht Abstand genommen hat von seinem Vorschlag schadet!) einer — ich sage es so — fiskalischen und verfas- sungswidrig höchst bedenklichen Vermögensstrafe, Die Vereinigten Staaten von Amerika — von uns oft an der die Sachverständigen im Anhörungsverfahren des rüden Kapitalismus, der Umständlichkeit und der aber wirklich kein gutes Haar gelassen haben. Langsamkeit gescholten — praktizieren längst ein modernes Insolvenzrecht zur Sicherung von Sach- Wenn ich freundlicherweise vorgestern mit der Post werten, zur Aufrechterhaltung von Bet rieben und zur den Referentenentwurf, nicht Gesetzentwurf, eines Vermeidung der Restzerschlagung von Vermögens- Gesetzes zur Begrenzung des Mietanstieges erhalten massen, verbunden mit einer Schuldnerbefreiung. Ich habe, darf ich sagen und fragen: erinnere hier nur an das Stichwort „Schuldturm". Den gibt es bei uns noch immer. (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: So früh werden Sie informiert!) Weil die Reform bei uns noch nicht durchgeführt ist, war erst jüngst wieder ein Flickwert vonnöten. Wir Bei den Mietern brennt es schon allzu lange. Wann mußten das Konkursrecht erneut ändern, einfach um wird der Mietpreistreiberei endlich ein Ende gesetzt den Sozialplan zu sichern, und das zum x-ten Male, werden können? Wann kommt hier endlich eine Be- weil die Reform so lange auf sich warten ließ. grenzung? Der Bundesminister der Justiz darf versichert sein, daß wir Sozialdemokraten nach Kräften an dieser Re- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ form mitarbeiten werden. Unsere Vorstellungen sind GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Wenn Ihnen bekannt. Aber, Herr Minister, rügen darf ich wir genug Wohnungen haben!) schon, daß sich die Bundesregierung hierzu zu lange Mehr als Hunderttausende warten darauf und nicht Zeit genommen hat, zu lange Zeit gelassen hat zu nur in den Großstädten, auch schon in den mittleren einer Reform, die geeignet ist, Geld, Arbeitslosigkeit und kleineren Städten. und — ich sage — auch Tränen zu ersparen. Eine Änderung des Namensrechts hat der Bundes- (Zuruf von der CDU/CSU: Wir brauchen ja minister der Justiz angekündigt, um das Vorrecht des Wohnungen! — Weiterer Zuruf von der Mannes im Interesse der Gleichheit von Mann und CDU/CSU: Wir wollen keine Mietzwangs Frau zu brechen. Hier ist er ein Getriebener. Ohne die wirtschaft!) entsprechende Entscheidung des Bundesverfas- sungsgerichts hätte er diese Ankündigung wohl nicht — Da ändern Ihre Zwischenrufe überhaupt nichts. Sie vorgenommen. wissen zu genau aus Ihren Wahlkreisen, wie schlimm es um die Mieter steht. (Zuruf von der CDU/CSU: Hätte er auch gar nicht gemußt!) Obwohl wir nunmehr seit Jahren beinahe wöchent- lich mit Meldungen konfrontiert werden, nach denen Dabei wäre es für ihn ganz einfach und leicht gewe- deutsche Firmen an Rüstungsmaßnahmen im Irak, am sen. Er hätte nur die Vorschläge der SPD zu überneh- Aufbau von Giftgasfabriken, z. B. in Libyen, am Ver- men brauchen. So einfach ist die Sache. kauf von U-Boot-Blaupausen beteiligt sind oder betei- (Beifall bei der SPD — Johannes Gerster ligt sein sollen, und geradezu nach einem zupacken- [Mainz] [CDU/CSU]: Sagen Sie einmal, was den Außenwirtschaftsgesetz gefragt wird zur Unter- ein SPD-Blatt ist! — Weiterer Zuruf von der bindung dieser Rüstungsexporte, sind wir — auch das CDU/CSU: Wir übernehmen doch niemals müssen Sie einräumen — hier noch immer nicht per- Ihre Vorschläge! Das haben wir noch niemals fekt. Wir Sozialdemokraten hatten — ich darf daran gemacht, daß wir Ihre Vorschläge übernom erinnern — eine Telefonabhörregelung nach der men haben!) Strafprozeßordnung eingeführt wissen wollen. Sie, die Regierungsfraktionen, wollten einen sehr viel um- — Natürlich, wir liefern Ihnen die Vorlagen. Überneh- ständlicheren und — ich sage auch — rechtsstaatlich men Sie sie, und alles ist in Ordnung, und ich brauche hier nicht so heftig zu reden. äußerst bedenklichen Weg gehen, der die Gefahr her- aufbeschworen hätte, daß schon im Vorfeld ganze Fir- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ men mit zigtausenden von Beschäftigten abgehört- CSU: Wir übernehmen doch niemals Ihre werden können. Wolfgang Hoffmann hat das letzte Vorschläge!) Woche in der „Zeit" heftig kritisiert und gegeißelt.

Was die Bekämpfung der organisierten Kriminali- Weil das nun aber am Einspruch des Bundesrats tät angeht, so war die Bundesregierung auch hier eine gescheitert ist, sind Sie dabei, ein Gesetz zu schmie- Getriebene. Zur Geldwäsche, zur Gewinnabschöp- den, das der Zustimmung des Bundesrates nicht be- fung und zur Beschlagnahme zur Sicherung der Ge- darf. winnabschöpfung liegt seit 1989 ein Gesetzesentwurf der SPD vor, wie Sie wissen. Wir, die Bundesrepublik (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Ganz schön tük Deutschland, gehören zu den wenigen Staaten euro- kisch!) päischen Zuschnitts, die noch keinen Geldwäsche- straftatbestand haben. Wir sind so ziemlich die lang- Ich frage mich, ob das dem Gesichtspunkt des Re samsten im europäischen Geleitzug. Einen Gesetzent spekts der Verfassungsorgane untereinander ent- 5134 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Hans de With spricht und das nicht längst hätte geregelt sein sol- Noch aus Hans-Jochen Vogels Zeiten — er kommt len. schon wieder vor — stammt der Gedanke einer großen Schuldrechtsbereinigung. (Hermann Bachmaier [SPD]: Trickserei und keine Rechtspolitik! — Gegenruf von der (Zuruf des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]) CDU/CSU: Nicht so hart!) Vor wenigen Tagen hat der Bundesminister der Justiz Die Reihe der Versäumnisse — sehr spät einge- den Abschlußbericht der Schuldrechtskommission brachte Gesetzesvorlagen und mangelnde Koordina- entgegennehmen können. Das Bürgerliche Gesetz- tion; hören Sie gut zu! — könnte ich fortsetzen. Es sei buch war und ist ein großes Werk, aber es ist mehr als nur daran erinnert, daß die Vergewaltigung in der Ehe einhundert Jahre alt. Das Schuldrecht ist zerfasert, ist noch immer nicht unter Strafe steht, daß sich das zum Teil außerhalb des BGB geregelt und ist sehr Staatsziel Umweltschutz noch immer nicht im Grund- umfänglich neben dem Gesetz durch die Rechtspre- gesetz findet und daß Regelungen für nichteheliche chung weiterentwickelt worden. Wir fragen: Mit wel- Lebensgemeinschaften noch immer fehlen. chen Zielen und unter welchen Zeitvorstellungen soll es weiterentwickelt werden? ( [CDU/CSU]: Die wollen wir ja nicht!) (Zuruf von der FDP) Sicherlich werden Sie es hier noch so machen wie in Wie steht es mit einer Reform des Erbrechts? fast jedem Fall, nämlich hinterherkommen und sagen: —Dazu gibt es ja Entscheidungen des Bundesgerichts- Wir haben es gemacht. hofs. Da hängen wir wieder hintendrein. Muß das Testamentsrecht nicht der Lebenswirklichkeit ange- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Einer muß immer paßt werden? Kann das Pflichtteilsrecht eigentlich so vorangehen, Herr de With!) bleiben, wie wir es noch im Bürgerlichen Gesetzbuch — So ist es, und das sind meist nicht Sie von der finden? Union. Meine sehr verehrten Damen und Herren, müßte Sicherlich kann ein Justizminister nicht allein han- nicht auch einmal unser Versicherungsvertragsrecht deln. Er hat — das sei eingeräumt — manches auf den — darüber wird oft nicht viel geredet, aber die Betrof- Weg gebracht. Er hat rastlos gearbeitet wie die Be- fenen spüren es allzusehr — ganz gründlich überprüft diensteten seines Hauses, denen ich dafür und für die werden? Die Ärgernisse von Bürgern, die sich mit stete Zuarbeit im Rechtsausschuß sehr herzlich dan- ihren Versicherungen herumschlagen und gegen sie ken möchte. herumprozessieren, sind Legion, und das wissen Sie ja auch von Ihren Wahlkreisen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU) Welche Vorstellungen hat eigentlich die Bundesre- Nur, bei aller Sympathie für Sie: Ist da nicht manch- mal ein Stück zuviel Rastlosigkeit zu spüren? Weht da gierung nicht manchmal zu sehr der Hauch des trouble- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Der shooting oder Krisenmanagements? redet so, wie er aussieht!) (Zuruf von der CDU/CSU: Was war das für die Beratungen der heute auf Grund des Auftrags denn?) des Einigungsvertrags einzusetzenden Verfassungs- kommission? Da hören wir wenig. Oder ist das eine Was ich sagen will, ist dies: Es sollten — Sie wissen Geheimsache? es ganz genau — langfristig angelegte Reformziele deutlich werden. (Dr. Franz Möller [CDU/CSU]: Sind Sie nicht dabei?) (Zuruf des Abg. Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]) Weil ich auch heute die Zeitung gelesen habe, lese ich Ihnen etwas aus der „Süddeutschen Zeitung" vor. — Ich werde es gleich sagen; Sie brauchen nicht un- Da gibt es eine schöne Karikatur und unten eine Über- geduldig zu werden. — Wie steht es denn, meine sehr schrift, die da lautet: verehrten Damen und Herren von den Regierungs- fraktionen, Herr Minister, um die Reform der Juri- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das stenausbildung? — Es ist und bleibt eine Quelle des ist eine SPD-Zeitung!) Ärgers, daß die deutschen Juristen im Vergleich zu „Unredlicher Unionsstreit zur Abtreibungsfrage".- allen anderen schon graue Bärte haben, wenn sie ihr Dann möchte ich fragen: Wie steht es denn um die erstes Amt antreten. wenigen, die die einen Andersdenkende, die CSU (Beifall bei der SPD — Norbert Geis [CDU/ hingegen Abweichler nennen? Ganz ernst, meine Da- CSU]: Das hängt an den Bärten, Herr Kol men und Herren: lege! — Gegenruf von der SPD: Wo ist Ihr (Zuruf von der SPD: Was ist das denn, ein Bart?) CSU-Abweichler?) Im Vergleich zum westlichen Ausland hinken wir Es ist nicht bloß eine Sache der CDU/CSU, wenn da ganz jämmerlich hinterher. Das kostet zuviel Geld. Druck auf Leute ausgeübt wird, die allein ihrer Gewis- Dadurch werden — das sage ich ganz ernst — zu viele sensfreiheit folgen wollen. Es ist eine Sache des gan- Ausbildungsplätze zu lange belegt. Dabei geht ein zen Parlaments. Stück jugendliche Kraft auch für diesen Staat verlo- ren. Und: Es nistet sich Unbeweglichkeit ein. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5135

Dr. Hans de With Die Gewissensfreiheit muß nun einmal über die Frak- Bereich der Justiz oft gefragt und natürlich möglich, tionsarbeit gestellt werden. Das schreibe ich ins langfristiges Agieren aber immer nötig. Eine solche Stammbuch der CDU, vor allem aber ins Stammbuch Rechtspolitik ist meist nicht spektakulär. Ich werfe der CSU. Ich erinnere nur an Ihren Parteitag vom letz- Ihnen, Herr Minister, mit meinem Schlußsatz nichts ten Wochenende. vor, aber ich warne: Keine Rechtspolitik dieser Art ist (Zuruf von der CDU/CSU: Ich empfehle mal, dann aber wirklich fast immer reaktionär. Pascal zu lesen! — Weitere Zurufe von der Vielen Dank. CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ — Der getroffene Hund bellt. GRÜNE und der PDS/Linke Liste — Johan nes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Jetzt wis (Zurufe von der CDU/CSU: Nein, nein!) sen wir immer noch nicht, was ein SPD-Blatt Das haben Sie wieder einmal gespürt. ist!) Ich sage in allem Ernst: Nehmen Sie diese Sache bitte nicht zu leicht. Die Bevölkerung paßt nicht nur Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht bei dieser sehr heiklen Materie auf. Sie wird sich fra- der Abgeordnete Michael von Schmude. gen: Wer hat da welche Interessen, und wer schiebt wen wohin? Michael von Schmude (CDU/CSU): Frau Präsiden- (Zuruf von der CDU/CSU: Machen Sie doch tin, meine Damen und Herren, was der Herr Kollege keinen Popanz daraus!) de With hier eben im Zusammenhang mit der Diskus- Ich sage noch einmal: Es sollte einzig und allein sion des § 218 ausgeführt hat, darauf ankommen, was der einzelne denkt. Er sollte (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: War seine Chance haben, dazu sein Votum und seine schrecklich!) Stimme abgeben zu können. dient nicht der sachlichen Zusammenarbeit in diesem (Zurufe von der CDU/CSU) Hause. — Ich wünschte nur, die Zuschauer draußen könnten (Beifall bei der CDU/CSU) ihre ständigen Zwischenrufe hören, damit einmal Es dient auch nicht dazu, das Ansehen der Bundes- deutlich wird, von welch großer Disziplin allein Ihr tagsabgeordneten draußen im Lande zu fördern. Wir Zuhören ist. lassen uns von niemandem in diesem Hause und auch (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ außerhalb des Hauses unterstellen, wir in der CDU/ CSU]: Wenn man so etwas sagt, Herr de CSU-Fraktion würden hier anders als nach unserem With!) Gewissen entscheiden. Sind nicht, so frage ich, um ein anderes Thema auf- (Beifall bei der CDU/CSU) zugreifen, auch einige Korrekturen fällig? Herr Kollege Dr. de With, es gibt aus keiner Fraktion (Zurufe von der CDU/CSU: Da haben Sie des Deutschen Bundestages — bis auf unsere — zwei auch besser getan, daß Sie etwas anderes Gesetzentwürfe zu diesem Bereich. aufgreifen!) (Dr. Hans de With [SPD]: Den einen habe ich —Ich könnte da weiterfahren, und Sie würden ebenso nicht kritisiert, den anderen aber!) ärgerlich bellen. Aber meine Zeit eilt. Deswegen muß — Es geht nicht darum, ob Sie einen dieser Entwürfe ich zum Schluß kommen. kritisiert haben oder nicht; vielmehr geht es darum, (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Was daß die Meinungsvielfalt in unserer Fraktion durch ist das für eine Frage? — Wir bellen nicht!) niemanden aus der Fraktionsführung beeinflußt wird. Das möchte ich hierzu ganz deutlich feststellen. Sind nicht auch einige Korrekturen fällig? — Wie (Beifall bei der CDU/CSU) wäre es mit einem Wort zur Kronzeugenregelung? Eine Regelung, von uns heftig bekämpft, die nur Ver- Herr Dr. de With, wir beklagen gemeinsam den viel wirrung gestiftet und die bisher so gut wie niemand zu langen Rechtsweg in unserer Demokratie. Darin gutgeheißen hat, jedenfalls weder die Richter noch stimmen wir überein. Allerdings müssen wir auch ein- die Staatsanwälte, noch die Rechtsanwälte. mal nach den Ursachen dafür fragen. Dann werden wir feststellen, daß der Rechtsweg, der heute angebo- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ ten wird, in zunehmendem Maße auch mißbräuchlich- CSU]: Sie läuft nur zur Probe!) genutzt wird. Wir können einen Beitrag leisten, dem Den Betroffenen hat sie auch nicht geholfen. Heraus- Einhalt zu gebieten, indem wir den Bürgerinnen und gekommen im Sinne der Erfinder ist gar nichts. Bürgern draußen im Lande auch einmal deutlich sa- gen, daß man weiß Gott nicht mit jeder Kleinigkeit bis (Dr. Franz Möller [CDU/CSU]: Da kennen zur letzten Instanz durchprozessieren muß. Die Ge- Sie die Rechtsprechung nicht!) richte klagen nicht zu Unrecht darüber, daß sie heute Kurz: Sie sollten nicht warten, bis das Verfassungs- mit vielen Bagatellfällen überfordert werden. gericht oder bis oberste Bundesgerichte Wege weisen Meine Damen und Herren, schon ein kurzer Blick in oder bis die Bürger verdrossen werden. den Justizhaushalt 1992 zeigt, daß auch im zweiten Sie sollten — meine Schlußbemerkung, Herr Mini- Haushaltsjahr des wiedervereingten Deutschlands ster — den Ruf zur Gesetzgebung in unserer Zeit sy- der Aufbau des freiheitlichen Rechtsstaates in den stematisch aufspüren. Schnelles Reagieren ist auch im neuen Bundesländern von dieser Bundesregierung 5136 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Michael von Schmude mit besonderem Nachdruck vorangetrieben wird. Das Das Interesse von Richtern und Staatsanwälten in Haushaltsvolumen, das bereits 1991 außerordentlich den neuen Bundesländern an diesem Weiterbildungs- stark expandierte, weist jetzt keine extremen Verän- angebot nimmt außerordentlich zu. Aus diesem Perso- derungen mehr auf. Gleichwohl haben wir im Haus- nenkreis heraus wurde die Anregung an mich heran- haltsausschuß allen Wünschen des Bundesjustizmini- getragen, vergleichbar mit der von uns geschaffenen sters Rechnung tragen können. Wanderausstellung „Justiz im Nationalsozialismus" eine Ausstellung über Justiz im SED-Unrechtsstaat Anläßlich der Aussprache über den Haushalt 1991 durchzuführen. hatte ich auf die für uns nicht länger hinnehmbare Situation beim Bundeszentralregister hingewiesen, (Beifall bei der CDU/CSU — Norbert Geis wo durch Abrechnungspannen allein in den Jahren [CDU/CSU]: Eine gute Sache!) 1989 und 1990 4,5 Millionen DM Gebühreneinnah- Dies wäre, so meine ich, ein wichtiger Beitrag zur Auf- men für den Bund verlorengegangen sind. Inzwischen arbeitung der unseligen DDR-Vergangenheit. Ich hat der Minister für andere Verfahrensabläufe bei die- gebe diese Anregung gerne an Sie weiter. ser Behörde gesorgt. Wir werden gemeinsam mit dem Bundesrechnungshof die weitere Entwicklung dort (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aufmerksam verfolgen. Schon bei der ersten Lesung des Etats 1992 haben Ein besonderes Sorgenkind im Bereich des Einzel- wir gemeinsam festgestellt und auch beklagt, daß die plans 07 ist die Juris GmbH. Diese vom Bund gegrün- Umsetzung der Hilfsprogramme des Bundesjustizmi- dete und zu 95 % in Bundesbesitz befindliche Gesell- nisters nicht wie geplant verläuft. Für 1991 hatten wir schaft weist die Gesetzgebung, die Rechtsprechung 117,4 Millionen DM an Bundesmitteln bereitgestellt, und die Rechtsliteratur der Bundesrepublik aktuell und im Haushaltsjahr 1992 werden es 104,5 Millionen nach. DM sein. Damit soll die Abordnung von 1 000 Richtern und 500 Rechtspflegern in die neuen Bundesländer Für die Gesetzgebung, für die Rechtsprechung und ermöglicht werden. Die alten Bundesländer haben natürlich auch für die obersten Bundesgerichte ist die bisher aber erst 654 Richter und Staatsanwälte abge- Juris sicherlich unverzichtbar. Andererseits müssen stellt. Bei den Rechtspflegern ist die Sollzahl von 500 wir heute feststellen, daß das seinerzeit gesteckte ehr- jetzt erreicht. geizige Ziel, Juris mittelfristig aus der Verlustzone Geradezu enttäuschend verläuft die Umsetzung des herauszuführen, nicht erreicht worden ist. Die Verlu- Seniorenmodells. Hier hatten wir große Hoffnungen. ste summieren sich ganz erheblich. Allein im operati- 500 pensionierte Richter und Staatsanwälte aus den ven Bereich sind zwischen 1986 und 1991 27 Millio- alten Bundesländern sollten für eine Tätigkeit in den nen DM Verluste angefallen. Insgesamt dürfte uns neuen Bundesländern gewonnen werden. Bis ein- Juris inzwischen mehr als 100 Millionen DM gekostet schließlich November waren es erst 25 Bewerber. haben. Demgegenüber stehen Hunderte von Anfragen bei Mit dem jetzt vorgelegten Konzept soll durch eine den Landesregierungen in den alten Bundesländern, Neubewertung des Leistungsaustauschs zwischen die diese Bewerbungen nicht zügig genug bearbeiten. dem Bund und der GmbH erreicht werden, daß das Bürokratische Hemmnisse wie Beihilfeprobleme oder Unternehmen endlich auf eigenen Füßen stehen Vorschriften bezüglich der Altersgrenze blockieren kann. Dies ist allerdings die letzte Chance für Juris; den Vollzug und führen bei überaus engagierten Be- denn dieses Unternehmen darf nicht zu einem Dauer- werbern zu Unverständnis und Frust. subventionsfall werden. (Zuruf von der CDU/CSU: Leider!) Die Beratungen über den Einzelplan 07 in der Ver- Es muß noch einmal besonders bei den SPD-regier- gangenheit haben wiederholt gezeigt, daß in vielen ten Bundesländern versucht werden, den Weg für die- Bereichen ein breites Maß an Übereinstimmung zwi- ses nicht ausgenutzte, fachlich hochmotivierte und schen Regierung und Opposition gegeben ist. Dies gilt hochwertige Personal von Juristen frei zu machen. insbesondere auch hinsichtlich der Einbeziehung der neu einzurichtenden Tagungsstätte in Wustrau, Bran- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) denburg, in die Richterakademie Trier. Der Haus- Aus diesem Programm, meine Damen und Herren, haltsplan sieht hier zunächst 3 Millionen DM Ver- werden wir 1992 rund 20 Millionen DM für die EDV- pflichtungsermächtigungen für Umbau- und Sanie- Ausrüstung der Grundbuchämter in den neuen Bun- rungsmaßnahmen vor. Darüber hinaus sollen bis 1997 desländern frei machen können. Ich halte- dies für 10 Millionen DM für Baumaßnahmen bereitgestellt außerordentlich wichtig, um dort die Arbeit — Um- werden. schreibung von Eigentum und Klärung der ganzen Eigentumsfragen — zu beschleunigen. Diese Liegenschaft, einst Schloß von General Ziethen, soll künftig als Fortbildungsstätte für Richter (Dr. Franz Möller [CDU/CSU]: Eine der und Staatsanwälte genutzt werden. wichtigsten Fragen!) (Norbert Geis [CDU/CSU]: Eine gute Sa Eine erfreuliche Entwicklung hat sich bei der Neu- che!) einstellung von Richtern, Staatsanwälten und Rechts- pflegern in den neuen Bundesländern selber erge- Das Fortbildungsbedürfnis der Richter und Staatsan- ben. Dieses Hilfsprogramm von 300 Stellen ist inzwi- wälte ist außerordentlich groß, und es kann durch die schen ausgefüllt. Ich möchte an dieser Stelle einmal Richterakademie in T rier nicht allein befriedigt wer- sehr herzlich all jenen ganz nachdrücklich danken, den. die sich im Wege der Abordnung oder auf Dauer für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5137

Michael von Schmude den Aufbau der Justizverwaltung in den neuen Bun- träge von der Treuhandanstalt um mehrere Mo- desländern zur Verfügung gestellt haben. nate verzögert. Um weiteren Schaden zu vermei- den (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) — darauf liegt die Betonung — Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, tragen vor und die Zukunft der Arbeitsplätze zu sichern, Ort mit den dort Tätigen eine große Last. Die Lei- wurde nach schwierigen Verhandlungen ein Ver- stungsfähigkeit unserer Rechtspflege hat in Anbe- gleich geschlossen. tracht der Reinigung der DDR-Justiz bewirkt, daß es So sieht die Wirklichkeit aus. Ich sage noch einmal: trotz allem keinen Stillstand bei den Gerichten gege- Herr Klose hält das Prinzip Rückgabe vor Entschädi- ben hat. In einigen Bereichen konnten sogar schon gung für richtig. — Und er ist Fraktionsvorsitzender Rückstände abgebaut werden. geworden. Es liegt nun auch an uns, der Justiz die Arbeit nicht (Zuruf von der SPD: Wissen Sie, was ein Ver unnötig zu erschweren. Gesetze, die wir machen — gleich ist? — Weitere Zurufe von der SPD) etwa das Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht — Ich kann Ihre Aufregung darüber verstehen; aber sowie zur Regelung von Entschädigungsfragen —, das sollten Sie in Ihren Reihen klären. sollten deshalb nicht mit bürokratischen Details über- frachtet werden. Für die Koalitionsparteien gilt in die- Das Gesetz zur Regelung der Höhe der Entschädi- sem Zusammenhang nach wie vor der Grundsatz: gungen und der staatlichen Ausgleichsleistungen für Rückgabe hat Vorrang vor Entschädigung. Dies ent- Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besat- spricht nicht nur unseren Vorstellungen von Eigen- zungshoheitlicher Basis muß jetzt schnell kommen. tum, sondern auch den Vorstellungen und den Festle- Daß erhaltener Lastenausgleich bei der Rückgabe von gungen in unserem Grundgesetz. Eigentum zurückzuzahlen ist, wird auch allgemein akzeptiert. Eine neue zusätzliche Vermögensabgabe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sozusagen als Bundessteuer auf zurückerhaltenes Ei- Die Sozialdemokraten — wir wissen das — sehen gentum muß nach rechtlichen und wirtschaftlichen dies ein bißchen anders, Gesichtspunkten sorgfältigst geprüft werden, weil ich meine, daß eine solche Steuer doch recht fragwürdig (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das sehen die ist. Menschen in den neuen Bundesländern aber etwas anders!) Jene, die in den neuen Bundesländern investieren wollen, dürfen nicht durch finanzielle Bürden überfor- aber sie sehen es auch unterschiedlich. Ihre Kollegin dert werden. Jene, die nur Ausgleichsleistungen für Frau Däubler-Gmelin — Sie werden gleich noch sogenannte Bodenreformschäden erhalten sollen, Grund haben, unruhig zu werden — hat sich hier bei müssen eine faire Chance haben, bei Interesse ihr frü- den Haushaltsberatungen 1991 ausdrücklich zu dem heres Eigentum zu einem vernünftigen Preis zurück Prinzip bekannt: Entschädigung vor Rückgabe. rwerben zu können. (Dr. Franz Möller [CDU/CSU]: Hört! Hört! — (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr richtig!) Nur so wird es uns gelingen, Objekte überhaupt kurz- Aber Ihr neuer SPD-Fraktionsvorsitzender Klose hatte fristig zu privatisieren und die dringend notwendigen Monate zuvor einen unseligen Rechtsstreit gegen die Investitionen zu bewirken. Treuhand anhängig, insgesamt über 20 Prozesse. Die Sehnsucht nach Freiheit und Recht waren die (Dr. Franz Möller [CDU/CSU]: Hört! Hört!) entscheidenden Triebkräfte für die Wende. Deshalb In den Prozessen hat er, als es um den SPD-Parteibe- dürfen Hoffnung auf Recht und Vertrauen in diesen Rechtsstaat nicht enttäuscht werden. sitz, um die Rückgabe von Zeitungen, ging, das Prin- zip umgedreht und hat Rückgabe vor Entschädigung Wir, die Koalitionsfraktionen, stimmen dem Haus- gefordert. halt des Bundesministers der Justiz uneingeschränkt gerne zu. (Zustimmung bei der CDU/CSU — Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sind die feinen Unter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schiede! — Widerspruch bei der SPD) Er mußte sich dann von den Gerichten eines Besseren belehren lassen, daß es sich nämlich bei den rekla- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Wolfgang Ullmann. --e mierten Objekten nicht um Parteivermögen, sondern um Volksvermögen handelt.

(Hermann Bachmaier [SPD]: Deshalb hat Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Frau man einen Vergleich geschlossen!) Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der kurzen Sie werden auch dieses noch ertragen müssen. Die Redezeit von fünf Minuten kann ich nicht auf Einzel- Treuhandanstalt hat dazu festgestellt — ich posten des Einzelplanes 07 eingehen. Ich werde im zitiere —: übrigen für ihn stimmen. Die SPD hatte Ansprüche auf Rückübertragung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — von 13 der insgesamt 14 von der Treuhandanstalt Zuruf von der CDU/CSU: Das freut uns!) zu privatisierenden Regionalzeitungen geltend Ich will aber eine rechtspolitische Anmerkung zu gemacht. Dadurch wurde der Abschluß der Ver einem Thema machen, das ich für ganz wichtig halte, 5138 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Wolfgang Ullmann und zwar zur Unrechtsaufklärung und zur Unrechts- man eine Verhandlung aus Humanitätsgründen nicht bereinigung. mehr zumuten kann. (Zuruf von der CDU/CSU: Krank ist er schon, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist ein wich aber im Kopf!) tiges Thema!) Er sollte sich endlich dazu entschließen, nicht mehr Ausstellungen, Herr Kollege von Schmude, mögen nur auf die Fragen von Reportern zu antworten, son- ganz schön sein, aber sie sind in meinen Augen nicht dern auf die Fragen derer, die sein Grenzregime da- genug. Wir sind der Meinung, daß die Absage an von abhielt, die nächsten Angehörigen zu besuchen, Unrecht und Rechtszerstörung durch das, was wir an wie er es jetzt für sich selbst beansprucht. Unrechtsaufklärung und -bereinigung getan haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie noch nicht ausreicht, auch wenn wir so wichtige Ge- bei Abgeordneten der SPD) setzesinitiativen wie das Stasi-Unterlagengesetz und Aber wir alle gemeinsam sollten das T ribunal ernst den Entwurf eines ersten Unrechtsbereinigungsgeset- nehmen, vor das uns die deutsche Geschichte, vor zes vorliegen haben, wofür ich sehr dankbar bin. allem die deutsche Rechtsgeschichte des letzten Men- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: schenalters, geführt hat. Aber zugestimmt haben Sie nicht!) Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Aber all das wird so lange den Bann einer lastenden bei Abgeordneten der SPD) Vergangenheit nicht brechen können, wie gerade diese beiden letztgenannten Gesetze nicht — nach- träglich wenigstens — fundamentiert werden durch Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt eine von den obersten Verfassungsorganen politisch Dr. Gregor Gysi. zu vollziehende rechtswirksame Verurteilung der in (Norbert Geis [CDU/CSU]: Er soll was zu deutschen Landen seit 1933 geschehenen flächen- Honecker sagen!) deckenden Rechtszerstörung. Das unaufgebbare Strafrechtsdogma „nulla poena sine lege" darf nicht in den perversen Grundsatz „nullum crimen sine Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- lege" umgemünzt werden: Verbrechen, die das Recht tin! Meine Damen und Herren! Die Kürze der Zeit als solches zerstören, statt einzelne Verbote zu über- erlaubt leider nur, auf einige wenige Fragen im Zu- treten, seien angeblich nicht verurteilbar. sammenhang mit dem Haushalt des Justizministers einzugehen. Wenn in unseren Tagen über Tribunale und Urteile (Michael von Schmude [CDU/CSU]: Dafür debattiert wird, dann geschieht das nicht, weil ein kommen Sie ja öfter!) paar sich selbst überschätzende Bürgerrechtler sich Gesetze ausdenken wollen, mit denen man, gegen Ich möchte mit der Grundstücksproblematik in den den Art. 101 des Grundgesetzes verstoßend, die Ur- neuen Bundesländern beginnen und sage Ihnen, daß teile bekommt, die man gegen bestimmte Leute ha- die gesetzlichen Regelungen dazu eine Katastrophe in ben möchte. Nein, wir debattieren, weil die Szene der mehrfacher Hinsicht sind. Eine Frage wird immer be- deutschen Geschichte nun endgültig zum Tribunal tont, nämlich die der Investitionen, die sich äußerst geworden ist. Abermals sind die Schleier von einer kompliziert gestalten, wenn Sie an Unternehmerin- Vergangenheit gefallen, die mit allen Machtmitteln, nen und Unternehmer Bet riebe immer mit dem Vor- auch den illegitimsten, festgehalten werden sollten. behalt verkaufen: Es kann aber sein, daß ihr den Grund und Boden noch einmal verliert. — Dann ist Das wird auch vor Herrn Honecker nicht haltma- natürlich deren Interesse an Investitionen sehr be- chen. Wenn wir fordern, daß der gegen ihn erlassene grenzt, und zwar einfach deswegen, weil sie sagen: Haftbefehl vollstreckt und er dem Richter zugeführt Die Maschinen allein sind es eigentlich nicht, was ich wird, dann wahrlich nicht aus p rivaten Rachegelü- erwerben wollte, sondern in erster Linie kommt es auf sten. Bei mir persönlich überwiegt eher der Respekt den Grund und Boden an. vor dem antinationalsozialistischen Widerstands- Es ist aber noch schlimmer, daß es viele Bürgerin- kämpfer. Aber es ist eben die furchtbare Wahrheit nen und Bürger gibt, die heute nicht mehr wissen, ob deutscher Geschichte, daß dieser Widerstandskämp- ihr Eigenheim oder ihr Wochenendhaus ihnen bleibt fer schon heute wegen seiner Verantwortung für den oder nicht, obwohl sie jahrelang ihre Arbeitskraft und Schießbefehl, für ein Grenzregime, das keine völker- Freizeit auf den Aufbau verwandt haben. Da- herrscht rechtliche Normalität, sondern eine antihumane Enor- wirklich irrsinnige Rechtsunsicherheit. Nehmen Sie mität war, diese bitte nicht leicht. Es gibt Orte mit 80 % soge- nannten ehemaligen Westgrundstücken, in denen (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Vorsichtig ausge schon fast eine feindliche Stimmung herrscht. Es ist drückt!) ganz wichtig, daß im Interesse der Betroffenen, die dort seit Jahren leben, gebaut und gewirkt haben, hier und für einen Einsatzbefehl, der implizierte, daß in schnellstens Rechtssicherheit geschaffen wird. Leipziger Krankenhäusern Blutkonserven bereitzu- stellen waren, in den Berliner Mauerschützenprozeß Ich sage Ihnen auch: Man kann kaum ermessen, verwickelt ist. was es in der DDR z. B. bedeutete, ein Eigenheim oder ein Wochenendhaus zu bauen. Das war nicht mit Herr Honecker hat durch sein letztes Interview be- einem Auftrag und dem entsprechenden Geld erle- wiesen, daß er nicht der alte, kranke Mann ist, dem digt, sondern erforderte wirklich umfassende — auch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5139

Dr. Gregor Gysi eigene — Arbeit, um dies überhaupt errichten zu kön- unterzeichneten internationalen Konvention über nen. Helfen Sie den Menschen. Beenden Sie endlich bürgerliche und politische Rechte muß gegen jedes die Rechtsunsicherheit auf diesem Gebiet. Strafurteil ein Rechtsmittel zulässig sein. Eine zweite Bemerkung. Die Richterwahlaus- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist doch mög schüsse sollen dafür sorgen, daß Richterinnen und lich!) Richter in den neuen Bundesländern tätig werden, — Nein. Sie können noch Beschwerde einlegen und die politisch-moralisch vertretbar sind und dafür in behaupten, ein Rechtsmittel wäre zulässig gewesen. Frage kommen. Dagegen wäre an sich nichts zu sa- gen, wenn nicht die Praxis und auch die Vergangen- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Ist das kein heit das Ganze unglaubwürdig machten. Es fängt Rechtsmittel?) schon einmal damit an, daß es hier kein Stück Selbst- — Wissen Sie, mit solchen Tricks habe ich 20 Jahre kritik etwa im Hinblick auf die Tatsache gibt, daß lang zu tun gehabt. nach 1945 fast alle braunen Juristen in die Justiz über- (Lachen bei der CDU/CSU) nommen worden sind. Es geht damit weiter, daß letzt- Belassen Sie es bei einem ordnungsgemäßen lich offensichtlich nur Praktikabilität vorherrscht. Sie Rechtsmittel und nicht bei der Frage, ob ein Rechts- müssen doch einmal die Frage beantworten, wie es mittel zulässig ist oder nicht. Alles andere wäre eine kommt, daß in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen vehemente Einschränkung des Rechtsmittelrechts. und Mecklenburg-Vorpommern bis zur Hälfte der Richter, in Brandenburg wahrscheinlich sogar zwei Besonders mies finde ich, daß Sie das mit der Be- Drittel, aber in Berlin nur drei oder vier übernommen gründung tun: Wir brauchen das, um die Justiz in den werden können. neuen Bundesländern aufzubauen. Dagegen liegen die Pläne seit Jahren in den Schubfächern. Sie miß- (Zuruf von der CDU/CSU: Das mag seine brauchen hier die neuen Bundesländer, um alte Pläne Gründe haben!) zur Rechtsmitteleinschränkung durchzusetzen. — Das will ich Ihnen auch begründen; es ist ganz ein- (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Norbert fach. Die Richter in Berlin waren nicht anders. Geis [CDU/CSU]: Jetzt übertreiben Sie aber (Zuruf von der CDU/CSU: Nehmen Sie ein maßlos!) mal das Wahlergebnis von Berlin!) Ich komme zu meinem letzten Hinweis. Was das Es liegt daran, daß es dort West-Berlin gibt, daß dort Unrecht betrifft, so ließe sich eine Menge wiedergut- genügend Richterinnen und Richter zur Verfügung machen. Es gibt den Fall, daß ein Mann beschreibt, stehen und daß Ihnen die Richter in den anderen Bun- daß er in Bautzen gefoltert worden ist. Er sagt, wann desländern fehlen. Das schränkt die Glaubwürdigkeit das war, und er sagt, von wem er gefoltert wurde, d. h. ein, weil es gar nicht darum geht, sondern um Krite- er nennt Namen. Aber es passiert nichts. Statt dessen rien der Praktikabilität und der Durchsetzbarkeit. führen Sie in Berlin einen Schauprozeß nach dem anderen, der zu gar nichts führt, sondern rechtsstaat- Ich will einen dritten Punkt ansprechen. Es ist ge- liche Bedenken auslöst. nauso unglaubwürdig, wenn Sie z. B. bei einer Rich- (Dr. Franz Möller [CDU/CSU]: Ausgerechnet terin, der Sie nichts vorwerfen können, den Senat, nur Sie reden von Schauprozessen! — Weitere weil man eine PDS-Mitgliedschaft vermutet, über Wo- Zurufe von der CDU/CSU) chen und Monate beschäftigen, obwohl der Richter- wahlausschuß ja gesagt hat. —Was anderes war es denn bei Harry Tisch? Letztlich müssen die Leute es als Veralberung empfinden, aber Ein großes Problem stellt mit Sicherheit die Verein- nicht als eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Daß fachung der Rechtswege dar. Ein Recht ist kaum noch der Mauerschützenprozeß schwerste rechtsstaatliche etwas wert, wenn man es erst nach sieben Jahren Bedenken auslöst, müßten auch Sie wissen. bestätigt bekommt. Danke schön. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist richtig! Da (Beifall bei der PDS/Linke Liste) stimmen wir mit Ihnen überein!) Daran muß etwas geändert werden. Da habe ich auch meine Erfahrungen. Sie legen jetzt ein solches Verein- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht fachungsgesetz vor. Schauen Sie sich einmal an, der Bundesminister der Justiz, Herr Kinkel. worauf das hinausläuft. Ich will mich jetzt gar nicht zum Zivilrecht äußern, bei dem Sie das Rechtsmittel fast abschaffen. Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister der Justiz:- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! (Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie haben sich das Gesetz ja gar nicht angeguckt!) (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt aber weg mit der Vornehmheit! — Dr. Wolfgang — Doch. Im Strafrecht gibt es enorme Einschränkun- Weng [Gerlingen] [FDP]: Herr Bötsch weiß gen beim Beweisantragsrecht der Verteidiger. Das nicht, daß man das auch vornehm machen halte ich für ein irrsinniges Problem. kann!) Sie haben Strafurteile eingeführt, die nicht mehr Herr Abgeordneter de With, Sie haben mich kriti- rechtsmittelfähig sind, bei denen es um die Frage siert. Das ist Ihr gutes Recht. Sie haben eine Fülle von geht, ob eine Berufung überhaupt zulässig ist oder Punkten angesprochen. Ich würde gern zu jedem ein- nicht. Ich sage Ihnen: Das verstößt gegen geltendes zelnen Punkt etwas ausführen und könnte dies auch. Völkerrecht. Nach der auch durch die Bundesrepublik Aber ich muß Ihnen sagen: Ich habe andere Sorgen. 5140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Ich sage Ihnen in aller Offenheit und in aller Klarheit: schen an und mit ihm unsicher werden. Endlich soll- Ich habe verdammt andere Sorgen. Wenn es möglich ten die Täter nach ihrer Meinung bestraft, die Opfer wäre, würde ich mich wahrhaftig gern um alle von rehabilitiert und die Eigentumsverhältnisse geklärt Ihnen aufgeführten Punkte kümmern; aber ich kann werden, besser: Es sollte eine gerechte und vor allem es einfach deshalb nicht, weil ich nicht genügend schnelle Lösung gefunden werden. Leute habe, weil nach wie vor die Problematik der Wiedervereinigung und im Augenblick auch die Um- Wir in der alten Bundesrepublik waren und sind an brüche in Mittel- und Osteuropa Dinge erforderlich den Rechtsstaat gewöhnt, sind durch ihn verwöhnt. machen, die es nicht zulassen, sich mit der notwendi- Die rechtsstaatliche Betreuung praktisch von der gen Intensität mit jenen Fragen zu beschäftigen, die Wiege bis zur Bahre ist bei uns zur Selbstverständlich- Sie zum großen Teil angeschnitten haben. Sie wissen keit geworden. Aber versetzen wir uns doch einmal in die Lage der - Opfer: Wie stellt sich ihnen dieser ganz genau: Ich habe im Bundesjustizministerium ei- SED Rechtsstaat bisher dar? Kühl schaut er aus, emotional nen ganz erheblichen „Blutverlust" beim Personal zu verzeichnen. Ich kann die Stellen im Augenblick nicht wenig engagiert, mechanistisch, in komplizierten qualifiziert nachbesetzen. Ich muß das bei einer sol- Verfahren bei Gericht und im Parlament spezialisiert, chen Gelegenheit auch einmal deutlich sagen. Durch von seinen Juristen professionell bet rieben, vor allem aber viel zu langsam. Auch konkret überzeugt er noch die Wiedervereinigung und die Schaffung einer Wirt- schafts-, Währungs- und Sozialunion und alle anderen nicht. Er ist noch nicht die bergende Hütte, wie Herr Dinge ist das Bundesjustizministerium in den letzten Heitmann es gesagt hat, wie auch ich es hier im Hause Monaten so überlastet gewesen, daß wir nicht mehr schon wiederholt gesagt habe. leisten konnten. Die Eigentumsverhältnisse sind nicht geklärt. Alles, Ich würde mich wahnsinnig gern — wie Sie es an- was Sie sagen und ansprechen, ist richtig. Die Reha- hat leider erst begonnen. Wir haben das gemahnt haben — vor allem um langfristige Reform- bilitierung erste Unrechtsbereinigungsgesetz verabschiedet. Für vorhaben kümmern, aber ich kann es nicht. Soweit es irgendwie geht und die Kraft ausreicht, wird es ge- das Berufs- und Verwaltungsunrecht suchen wir noch schehen. Wenn Sie sagen, Sie hätten manchmal den nach einem richtigen Weg. Das Bedrückenste von al- Eindruck, ich sei ein Troubleshooter, dann sage ich lem ist: Die Täter sind nicht einmal andeutungsweise Ihnen: Ich muß Troubleshooter sein, und zwar in allen bestraft worden. Sie sitzen in Moskau — wie Honek- möglichen Richtungen. Die Glorifizierung zurücklie- ker — , wandern durch die Talk-Shows, machen sich gender Zeit, da Rechtspolitik in etwas ruhigeren Bah- in Verwaltungen und Unternehmen breit, und in Ber- nen ablaufen konnte, geht in Ordnung — auch ich lin stehen vier junge Leute vor Gericht, die fast noch habe ja Teile dieser Zeit mitgemacht — , aber die Zei- Kinder waren, als sie die Taten im Auftrag von Herrn ten haben sich verändert; sie haben sich ungeheuer Honecker ausgeführt haben, die ausgeführt worden verändert. Ich bitte, das einfach zu berücksichtigen. sind. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann Ich werde Ihnen im Rechtsausschuß und auch sonst [Bündnis 90/GRÜNE]) zu jedem einzelnen Punkt, den Sie genannt haben, Rede und Antwort stehen, wenn ich die Zeit habe. So hatten sich die Menschen den gerechten Rechts- Aber ich sage Ihnen nochmals: Es bedrückt mich et- staat nicht vorgestellt. Nicht wenige beginnen des- was anderes; dazu will ich Stellung nehmen. Ich habe halb, an ihm zu verzweifeln, ich manchmal auch ein es mir vorgenommen, weil ich glaube, daß es wichtig wenig; ich will das deutlich sagen. Gerade deshalb ist. gilt: Dieser Enttäuschung müssen wir mit aller Kraft und vor allem mit aller Überzeugungskraft entgegen- Nach wie vor stehen sich aus der Wiedervereini- treten. Das ist übrigens alternativlos. Wir müssen die gung ergebende Probleme im Mittelpunkt der Rechts- Idee des Rechtsstaats vermitteln, müssen weiterhin politik. Ich will in diesem Zusammenhang kurz auf für seine Akzeptanz werben. Wir müssen deutlich einen Fragenkreis eingehen, der mich wahnsinnig be- machen, wie und wann der Rechtsstaat überhaupt drückt, der mich weit mehr bedrückt als das meiste Gerechtigkeit herstellen kann. von dem, was Sie gesagt haben. Wir haben jetzt zwar gleiches Recht in Deutschland, leider aber noch nicht Er ist kompliziert, manchmal zu kompliziert. Er ent- gleiche Rechtsverhältnisse und vor allem keine glei- hält viele Sicherungen. Niemand hat absolute Gewalt che Rechtsgewährung. über Menschen. Die Gesetze werden langsam, sorg- fältig beraten. Das ist kein Vorwurf. Die Verfahren- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann sind öffentlich, sie kennen viele Beteiligte. Die Durch- [Bündnis 90/GRÜNE]) setzung liegt bei den Gerichten. Diese sind Gott sei Dank unparteiisch und dürfen den Angeklagten nur Nach 40 Jahren gelebtem Rechtsstaat — wir hatten zur Last legen, was in einem sorgfältig durchgeführ- die Chance, hier den Rechtsstaat einschließlich unse- ten Verfahren auch wirklich bewiesen wurde. res Wohlstands aufzubauen — waren wir stolz darauf, den Menschen in der ehemaligen DDR sagen zu kön- Dies alles dauert lange, es dauert seine Zeit. Das ist nen: Der Rechtsstaat kommt jetzt auch zu euch. — Ich in normalen Zeiten verkraftbar. In außergewöhnli- als Bundesjustizminister habe das auch gesagt, und chen Zeiten — in einer solch außergewöhnlichen Zeit zwar massiv und deutlich. Leider aber hat die Erfah- leben wir nun einmal — ist es nur schwer verstehbar rung gezeigt — das will ich in aller Offenheit anspre- und verdaulich. Dann dauert es, bis alle Täter ange- chen, weil alles andere keinen Sinn hat — , daß es mit klagt, vor Gericht gestellt und verurteilt sind, und da dem Rechtsstaat so einfach nicht ist, ja, daß die Men kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß manche Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5141

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Täter durch die Maschen schlüpfen. Aber — das ist im auf eine unwahrscheinliche Art und Weise hilfesu- Rechtsstaat nun einmal so — : Lieber einen Schuldi- chend an uns wenden und sagen: Ihr habt den Großen gen entkommen lassen, als unschuldige Bürger mit Bruder. Wir haben niemanden. Schnüffelei und Ausspähung zu überziehen, ihnen die Wenn Sie den albanischen Justizminister, den Ju- verfahrensmäßigen Rechte zu beschränken und sie stizminister aus Weißrußland, den aus der Ukraine, zum Objekt statt zum Subjekt des Rechts zu ma- den aus Slowenien, den aus Mazedonien usw. erlebt chen. hätten, ihre Not auf dem Weg zur Demokratie und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie zum Rechtsstaat gespürt hätten, würden Sie es nicht bei Abgeordneten der SPD und des Abg. verstehen, wenn ich hier auf die Feinziselierung der Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/ Zwangsvollstreckung einginge und nicht auf die Pro- GRÜNE]) bleme, die sie haben. Die Mühlen des Rechtsstaats mahlen vielen zu lang- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sam; ich weiß das. Als Bundesjustizminister bedrückt Das ist gerade auch für uns in der Bundesrepublik es mich in ganz besonderer Weise, daß ich das fest- eine ungeheure Herausforderung, auf der anderen stellen muß. Ich weiß, daß es nicht anders geht. Natür- Seite aber auch eine gewaltige Chance. Ich kann Ih- lich sehe, höre und spüre ich die Ungeduld und Unzu- nen nur sagen: Uns bietet sich hier in der Bundesre- friedenheit der betroffenen Menschen. In diesen Zei- publik, weil kontinentales, europäisches Recht erwar- ten des Umbruchs muß ich leider nur zu oft um Geduld tet wird, eine gewaltige Chance, von der Sprache bis und Vertrauen in das Recht bitten, was ich im übrigen hin zur Wirtschaft: Die Wirtschaft folgt dem Recht, aus tiefer Überzeugung tue. Verfassungsrecht, Wirtschaftsrecht auf dem Weg von Wir dürfen uns deshalb im Wissen um die Qualität der sozialistischen Kommandowirtschaft hin zur So- unseres Rechtsstaates nicht zurücklehnen, vielmehr zialen Marktwirtschaft. Wir haben eine sehr große müssen wir eine gewaltige Kraftanstrengung vollbrin- Verpflichtung und eine sehr große Chance. gen. Auch folgendes bedrückt mich sehr: Wir sollten Es hat keinen Sinn, daß wir hier versuchen, uns nicht vergessen, daß wir das Dritte Reich noch aufar- allein auf die Wiedervereinigung zu fokussieren und beiten; noch läuft in Stuttgart der Schwammberger zu konzentrieren. Wir müssen diese Umbrüche in Mit- Prozeß. Wir sind nun verpflichtet, ein zweites Un- tel- und Osteuropa beachten; in der Retrospektive rechtsregime in Deutschland aufzuarbeiten; das ist werden sie später einmal geschichtlich betrachtet. eine verheerende Hinterlassenschaft. Seien Sie nicht böse, wenn ich deutlich sage: Dies Ganz wichtig sind in diesem Zusammenhang auch wird sehr viel wichtiger sein als unsere Wiederverei- die symbolischen Fälle. Die Menschen haben ein sehr nigung, die uns wahrhaftig viel bedeutet und auch viel bedeuten muß. feines Gefühl für diese Symbolik. Zu diesen symboli- schen Fällen gehört — wie hier schon angespro- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann chen — der Fall Honecker, ob wir es wollen oder [Bündnis 90/GRÜNE]) nicht. Meines Erachtens hören wir zu häufig: Laßt Sie verlangt auch viel von uns, gerade in bezug auf doch den alten Mann, der Antifaschist war, im Zucht- den Aufbau des Rechtsstaats. haus saß, in Ruhe. Nein! Ich stimme Herrn Ullmann zu: Wir können ihn nicht lassen. Hier liegt die einmalige Chance — ich sage es noch einmal — , und ich bin überzeugt davon, daß wir sie Ich muß Ihnen persönlich deutlich sagen, daß ich nutzen müssen. Ich möchte den Deutschen Bundestag am Rechtsstaat verzweifeln würde, wenn wir so ver- auffordern, mir dabei zu helfen, die Verpflichtung zu führen. spüren und die Chance wahrzunehmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE] ) Ich danke dem Parlament mit Nachdruck für die bisherige Unterstützung. Ich danke aber insbeson- Ich werde nicht müde werden, das zu sagen, und auch dere dem Haushaltsausschuß, der den Bundesjustiz- versuchen, es zu erklären. Der Anspruch des Rechts- minister — der im Grunde einen winzigen Haushalt staats, alle Bürger dem gleichen Recht zu unterwer- hat — außerordentlich fair und gut behandelt hat. Ich fen, ist unbedingt; wer hier nachgibt, gibt den Rechts- fordere Sie natürlich auf, mich bei den Anliegen zu staat auf. Herr Honecker unterliegt nun einmal dem unterstützen, die auf uns zukommen und die lange deutschen Recht, und wir müssen dafür sorgen — ich nicht so kosten- und personalintensiv sind, wie sie werde jedenfalls alles dafür tun — , daß er hier vor wirken. Hier kann mit allen möglichen Mitteln, die wir Gericht gestellt wird, mag dieses Verfahren ausge- zum Teil bereits einsetzen, viel mehr geleistet wer- hen, wie es will. den. Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, daß ich Herr Abgeordneter von Schmude, ich möchte Ihnen andere Sorgen habe. Lassen Sie mich zum Schluß zum Schluß sagen, daß ich mich über Ihre Anregung noch ganz kurz etwas sagen, was mich mindestens im Hinblick auf eine Ausstellung „SED-Unrechts- genauso bedrückt. Am letzten Montag und Dienstag staat" sehr freue. Ich werde diese Anregung gerne fand hier in Bonn die Konferenz der Justizminister aufnehmen. Wir werden alles versuchen, eine solche aus mittel- und osteuropäischen Ländern statt. Ich Ausstellung zu machen. Hoffentlich wird sie ein glei- kann Ihnen nur sagen, daß das eine bewegende Sache cher Erfolg wie die Ausstellung „NS-Justiz" , die dem war. Bewegend deshalb, weil 16 Justizminister aus Bundesjustizminister im wahrsten Sinne des Wortes osteuropäischen Ländern anwesend waren, die sich aus der Hand gerissen wird. Wir haben bisher 20 bis 5142 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel 25 Veranstaltungsorte gehabt. Wir haben einen unge- von den Berufsverbänden. Die Richterschaft sieht heuren Zulauf vor allem von jungen Menschen. Ich trotz der ausdrücklichen Befristung der meisten Maß- finde, das ist ein gutes Zeichen. nahmen althergebrachte Strukturen und Prinzipien Vielen Dank. der Zerstörung ausgesetzt. Die Anwaltschaft wie- derum sieht ihre und die Rechte ihrer Mandanten über (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Gebühr eingeschränkt. Wir werden jedoch nicht nur Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordne im Interesse der alten, sondern besonders der neuen ten der SPD) Länder einige befristete Änderungen einführen müs- sen, die es gerade den neuen Ländern erlauben, mit Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht den nun langsam herandringenden Verfahren in der Abgeordnete Dr. Michael Luther. vernünftiger Weise fertigzuwerden. Es stünde allen Initiatoren jenes Entwurfes und den entsprechenden Kräften im Bundestag gut an, sich der Aufgabe Justiz- Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau aufbau mit mehr Rationalität zu stellen. Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren, jetzt komme ich auf ein Demokratie ist ein kompliziertes Ding. Es erfordert ein sehr heikles Thema; ich muß es dennoch ansprechen: tägliches Ringen. Man muß sich bemühen. Es ist an- Es gibt ausreichend viele Bundesgerichte in Deutsch- strengend. Die Demokratie zu erhalten ist eine tägli- land. Aber die Historie stellte bestimmte Prämissen an che Gratwanderung. Ein wichtiger Baustein, ein deren geographische Verteilung. Stück des Fundaments der Demokratie ist das Rechts- system, ist das Grundgesetz und ist das Bürgerliche (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Gesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland. der SPD) Dieses Rechtssystem ist mir unendlich wertvoll. Die neue deutsche Situation ermöglicht und erfordert, Aber von vielen Bürgern in Westdeutschland wird es an Traditionen anknüpfend, bestimmte Verlagerun- nicht mehr bewußt wahrgenommen, und von vielen gen vorzunehmen. Der Nachfolger des Reichsge- Bürgern in Ostdeutschland wird es noch nicht bewußt richtshofes in Leipzig ist der Bundesgerichtshof, der wahrgenommen. Rechtsstaat muß gelernt werden. heute in Karlsruhe neben dem Bundesverfassungsge- richt sein Domizil hat. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das ist richtig! Auch von Herrn Gysi!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Aus guten Gründen!) Das ist besonders schwer für die, die so einfach verur- teilt, gedrückt und in die Ecke gestellt wurden und Der Bundesgerichtshof gehört nach Leipzig. sich nicht entfalten durften und heute mit zu verste- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der hender Entrüstung sagen: Was nützt uns das Recht, FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE) wenn es die Falschen schützt? Der Bundesgerichtshof gehört nach Leipzig — ge- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist kein nauso wie das deutsche Parlament im Reichstag seine Recht!) Traditionen fortsetzen will. An dieser Stelle werde ich sehr hellhörig. Denn von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dieser Stimmung ist es nicht mehr weit bis zu dem Ruf der SPD) nach dem starken Mann. Deshalb muß die Justiz ihre Karlsruhe wird dabei nicht verarmen und auch nicht Aufgaben erfüllen können. Sie muß Recht und Ge- an Bedeutung verlieren. Aber im Sinne der von mir rechtigkeit schaffen. Die Wege der Rechtsprechung eingangs beschriebenen Situation der Akzeptanz des und der Gerechtigkeitfindung müssen aber auch Rechtsstaates ist eine solche Verlagerung ein Zeichen nachvollziehbar und durchschaubar sein. Nicht nur par excellence für die Menschen in den neuen Bun- der in der Wüste steht in der Gefahr, im Kreis zu lau- desländern. fen. Auch derjenige, der sich im Urwald eines in vier- zig Jahren entwickelten Gesetzeswerkes zurechtfin- den muß, steht in der Gefahr, sich zu verirren oder die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter Lust an dem ganzen zu verlieren. Das ist ein Problem Luther, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abge- aller sechzehn Teile Deutschlands. ordneten Hämmerle? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Karlsruhe!) Deshalb muß das Rechtssystem vereinfacht werden, durchschaubar gestaltet werden. Die Leistungsfähig- - keit der Justiz muß gefördert werden, die insbeson- Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Sehr gerne. dere für die Aufbauarbeit in den neuen Bundeslän- dern notwendig ist. In der näheren Zukunft werden Gerlinde Hämmerle (SPD): Lieber Herr Kollege Lu- wir hier und im Rechtsausschuß eine ganze Reihe von ther, ich möchte hier jetzt mit Ihnen nicht streiten. Ich Vorhaben zu beraten haben, die die Rechtseinheit in möchte Sie nur fragen, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis ganz Deutschland herstellen und den Aufbau der Ju- zu nehmen, daß dieses Parlament eine Kommission stiz weiter erleichtern werden. eingesetzt hat mit dem Namen Föderalismuskommis- So ist z. B. der Gesetzentwurf des Bundesrates zur sion. Ich habe die Ehre, eine Vorsitzende zu sein, und Entlastung der Justiz, den wir vor kurzem in erster der Herr Ministerpräsident von Thüringen ist der an- Lesung hier beraten haben, auf viel Kritik gestoßen. dere Vorsitzende. Sind Sie weiterhin bereit, zur Das war teilweise zu erwarten. Teilweise ist diese Kri- Kenntnis zu nehmen, daß es der Auftrag dieser Kom- tik jedoch unverständlich. Zu erwarten war die Kritik mission ist, die obersten Bundesbehörden gerecht auf Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5143

Gerlinde Hämmerle die neuen und die alten Länder zu verteilen? Und sind richt ein Verfassungsorgan ist, das hier nicht unbe- Sie dann nicht mit mir der Ansicht, daß das Rednerpult dingt zur Debatte stehen darf, keine einzige weitere des Deutschen Bundestages heute vielleicht der fal- obere Bundesbehörde hat? sche Platz ist, um die Verlegung einer einzigen Be- hörde zu behandeln? (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Es wäre wiederum CSU]: Niemals!) eine Aufgabe der Föderalismuskommission, eine ge- rechte Verteilung vorzunehmen. Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Genau, so ma bin Ihnen sehr dankbar für die Frage und für den Hin- chen wir es auch!) weis auf diese Föderalismuskommission. Ich denke, Meine Damen und Herren, ich war kurz vor dem daß es wichtig ist, gerade auch von dieser Stelle solche Ende. Dinge zu benennen, die historisch zu benennen sind. Ich denke, daß Sie diese Anregung von dieser Stelle Lassen Sie mich zum Schluß für die großartigen Lei- auch aufnehmen werden. Danke. stungen der Bundesregierung in diesem Jahr beim materiellen und personellen Aufbau der Justiz in den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und neuen Bundesländern danken. Die Menschen in der SPD) Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Bran- denburg, Thüringen und Sachsen wissen das zu schät- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Luther, ge- zen. statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeord- neten Dr. Weng? — Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Herr Kollege Luther, ist Ihnen bewußt, daß einer der Gründe dafür, daß dieses Gericht seinerzeit in Karlsruhe angesiedelt Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der worden ist, die Tatsache war, daß Karlsruhe darauf Abgeordnete Detlef Kleinert. verzichtet hat, im Zuge der ersten und bisher leider einzigen Länderneugliederung in der Bundesrepublik Landeshauptstadt zu werden, wodurch — trotz des Detlef Kleinert (Hannover) (FDP): Frau Präsidentin! bestehenden Verfassungsgebotes; ich sage das auch Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr mit Blick auf die Situation der neuen Bundesländer — Bundesjustizminister Kinkel, wir möchten uns dem eine Verbesserung der Struktur der Länder nur im schon mehrfach ausgesprochenen Dank für die Lei- Südwesten erreicht worden ist? stungen Ihres Hauses und Ihre persönliche Leistung (Dr. Franz Möller [CDU/CSU]: Leipzig ist anschließen und Ihnen ganz besonders dafür danken, auch keine Landeshauptstadt!) daß Sie durch Ihren großen persönlichen Einsatz ein Beispiel für das gegeben haben, was Sie hier zu Recht Dr. Michael Luther (CDU/CSU) : Mir ist das bekannt. von uns allen eingefordert haben, nämlich mit Über- ich muß allerdings auch sagen, daß wir in den neuen zeugungskraft darauf hinzuwirken, daß die Bürger in Bundesländern auf Grund dessen, daß wir infolge des den neuen Ländern das Recht und den Rechtsstaat so Krieges von Leuten besetzt worden sind, die nicht annehmen und sich mit ihm — trotz aller Mängel — so wollten, daß wir ein Deutschland sein würden, auf vie- anfreunden können, wie wir das im Interesse dieses les verzichten mußten. Ich denke, daß wir jetzt eine Rechtsstaates brauchen. Für diese allgemein aner- neue Situation haben. kannte Leistung, die schon in dem einen Jahr nach der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ersten gemeinsamen Bundestagswahl zu so deutlich sichtbaren Erfolgen geführt hat, unseren herzlichen Dank. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter Luther, es gibt eine weitere Anfrage der Abgeordne- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ten Hämmerle. Tatsächlich relativiert sich dann ja einiges andere, was heute morgen vorgetragen worden ist, ganz deut- Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Ja, bitte. lich. Süß-saure Cocktails sind nicht jedermanns Ge- schmack. Gerlinde Hämmerle (SPD): Sie haben Pech gehabt, (Heiterkeit) Herr Kollege Luther. Ich wollte gerade hinausgehen, Wenn man Lob und Tadel so durcheinanderrührt,- wie als ich hörte, daß Sie mit meiner Heimatstadt zu Herr de With das getan hat, dann entsteht ein doch Gange waren. verhältnismäßig wenig überzeugendes Gebräu, des- (Heiterkeit) sen Verzehr wir gerne anderen überlassen. — Ich möchte das jetzt wirklich nicht ins Lächerliche ziehen. Ich möchte hier jetzt auch keine Debatte über (Heiterkeit — Beifall bei der FDP und der Karlsruhe und die hohen Gerichte. Ich möchte Sie nur CDU/CSU) fragen, weil Sie die historischen Gründe aufgezeigt Es ist in der Tat so, daß neben den Leistungen, die haben und sich der Herr Kollege Dr. Weng dankens- im Vordergrund stehen müssen, die laufenden Dinge werterweise daran beteiligt hat: Sind Sie auch bereit, sehr ordentlich weiterbehandelt worden sind und wei- zur Kenntnis zu nehmen, daß das Land Baden-Würt- terbehandelt werden und daß man fast zu jedem der temberg außer dem Bundesgerichtshof, wenn man hier angesprochenen Einzelthemen die Kritik natür- einmal davon ausgeht, daß das Bundesverfassungsge lich auch zurückgeben kann. 5144 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Detlef Kleinert (Hannover) Woher rühren denn die Probleme bei § 218 StGB? unnötigen Regelungsdichte von dort aus überzogen Sie rühren u. a. doch daher, daß sich diejenigen in der werden. Weil wir engagierte und überzeugte Födera- SPD nicht durchsetzen können, die auf Entscheidun- listen sind, möchten wir auch ein föderales Europa gen des Bundesverfassungsgerichts verweisen und haben, davon abraten, einen politisch vielleicht durchaus ein- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der leuchtenden und vertretbaren Vorschlag zu machen, CDU/CSU) der aber verfassungsrechtlich nicht standhalten dürfte. Es liegt also immer an mehreren Beteiligten, weil nämlich in seiner Vielfalt und in der Bewahrung aufeinander zuzugehen, wenn man sich in wichtigen der in den einzelnen Ländern gewachsenen Traditio- Dingen bewegen und auch in diesem Punkt zu einem nen, zu denen insbesondere auch die Rechtstradition Stück deutscher Einheit kommen will. gehört ganz wesentlich die Kraft dieses Europas lie- gen wird. Deshalb wiederhole ich meine Wünsche an Das gleiche kann man bei dem angemahnten Insol- die Bundesregierung, diese Dinge mit möglichst star- venzrecht anführen. Solange man glaubt, es könnten ker Hand bei den vor uns liegenden Verhandlungen hier nur von einer Seite Opfer zur Revitalisierung der zu bedenken und durchsetzen zu helfen. Unternehmen — die wir genauso wollen wie Sie — verlangt werden, die andere Seite aber könne auf Herzlichen Dank. angeblich wohlerworbenen Rechten, z. B. beim So- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zialplan und dem Kündigungsschutz, beharren, kommt man eben nicht zu einem überzeugenden Er- gebnis. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Damit schließe ich Wenn man glaubt, es läge nur daran, den Rechts- die Aussprache. weg bei den Finanzgerichten einzufordern und den Zugang zum Bundesfinanzhof möglichst dauerhaft zu Wir kommen zur Abstimmung des Einzelhaushalts, verkürzen — und das dann für bürgerfreundlich und zwar zunächst über den Einzelplan 07 — Ge- hält — , dann ist das entschieden zu kurz gesprungen. schäftsbereich des Bundesministers der Justiz —. Ich Man muß nach der Ursache fragen. Wir sind bemüht, frage: Wer stimmt für den Einzelplan 07 in der Aus- zu vorgerichtlichen Einigungsmechanismen zu kom- schußfassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — men. Wir möchten, daß die Finanzämter auch das Ein- Der Einzelplan 07 ist mit den Stimmen der CDU/CSU sehbare als ein Ziel ihres Handelns vor Augen haben, und FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE bei Gegen- daß sie Entscheidungen so treffen, daß der Bürger sie stimmen der SPD und der PDS/Linke Liste angenom- noch nachvollziehen kann. Wenn sich aber die Fi- men. nanzbehörden und auch der Bundesfinanzhof — das (Zurufe von der CDU/CSU: SPD und PDS! ist bei anderen Gerichten nicht viel anders, fällt aber Eine schöne Gesellschaft!) beim Bundesfinanzhof besonders deutlich auf — die Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 19 — Bun- Arbeit durch viel zu detaillierte, viel zu künstliche desverfassungsgericht — ab. Wer stimmt dafür? — Kasuistik selbst beschaffen, dann ist es verkehrt, bei Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan 19 uns anzumahnen, diese Tätigkeit etwa noch dadurch ist bei einer Gegenstimme und zwei Enthaltungen beschleunigen zu helfen, daß man keine normale Re- angenommen. vision und ein für allemal keine Streitwertrevision mehr zuläßt, damit noch mehr zusätzliche Komplika- Ich rufe jetzt auf: tionen ersonnen werden. Zur Vereinfachung müssen Einzelplan 06 wir als Anfang kommen. Geschäftsbereich des Bundesministers des In- (Dr. Freiherr [CDU/ nern CSU]: Sehr richtig!) — Drucksachen 12/1406, 12/1600 — Dann werden sich einige Probleme in der Ausstattung Berichterstattung: der oberen Bundesgerichte nicht mehr in der Schärfe Abgeordnete Karl Deres stellen, in der sie sich leider noch stellen. Ina Albowitz (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rudolf Purps Bei all dem, was der Bundesjustizminister hier hin- Einzelplan 36 sichtlich seiner Sorgen in den neuen Bundesländern Zivile Verteidigung und in Osteuropa so eindrucksvoll dargestellt hat, — Drucksachen 12/1429, 12/1600 — möchte ich noch eines sagen: Berichterstattung: Wir haben in wenigen Wochen eine sehr wichtige Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Konferenz in Maastricht. Wir wünschen unserer Re- Rudolf Purps gierung eine glückliche Hand bei den schweren Ver- Ina Albowitz handlungen, die da auf sie zukommen; denn unser Rechtsstaat kann auch durch ungeeignete europäi- Einzelplan 33 sche Regelungen ausgehöhlt werden. Wir können Versorgung auch erheblichen Schaden in unserem Rechtsver- — Drucksache 12/1427 — ständnis und seinen Regeln nehmen, wenn über den Grundsatz der Subsidiarität in Europa zwar ständig Berichterstattung: gesprochen wird, wir aber hinter diesem verbalen Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) Vorhang mit einer völlig unerwünschten und völlig Rudolf Purps Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5145

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Zum Einzelplan 06 liegen ein Änderungsantrag der Zum Doping und zur ersten Gemeinsamkeit: Wir im Gruppe PDS/Linke Liste und zwei Änderungsanträge Haushaltsausschuß haben eine 5-Millionen-Sperre der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE vor. ausgebracht, damit die Fachverbände in der unseli- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für gen Dopingfrage endlich ihre Hausaufgaben machen. die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgese- Denen, die ihre Arbeit getan haben, sage ich: Sie wer- hen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. den nicht darunter leiden. Den Säumigen aber muß man deutlich zu erkennen geben: Wer fördert, der for- Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der dert auch. Diese Sperre wird erst dann aufgehoben, Abgeordnete Rudolf Purps. wenn der Haushaltsausschuß Vollzugsmeldung er- hält. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Rudolf Purps (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Der Einzel- Nun zu einem leidigen Kapitel: Dem geplanten Re- plan 06 wurde in Aufstellung und Beratung im Haus- generationszentrum Königsbrunn. Ich habe bean- haltsausschuß von Herrn Dr. Schäuble verantwortet. tragt, das umstrittene Projekt zu streichen und zu Nach dem Wechsel im Amt hat jetzt Kollege Seiters überlegen, ob es nicht im Osten Deutschlands errich- das Erbe angetreten, ein Erbe, das gekennzeichnet ist tet werden könnte. Königsbrunn hineinschieben, von Unterlassungen, Fehlentscheidungen, von Unge- Kreischa zumachen — all das macht irgendwie keinen reimtheiten und in einigen Bereichen von mangelnder Sinn. Klarheit in Zielsetzung und Durchführung. (Dr. Willfried Penner [SPD]: Genau!) (Beifall bei der SPD — Anhaltende Zurufe Wir haben gemeinsam die 6 Millionen gesperrt. Ih- von der CDU/CSU) nen, Herr Dr. Schäuble, möchte ich sagen: Es ist in der Sprache Ihrer Landsleute schon etwas mehr als ein — Liebe Kollegen, was regt ihr euch denn jetzt schon Geschmäckle, wenn man Kuratoriumsmitglied der auf? Man beurteilt ein Menü doch nicht nach dem Trägergesellschaft Regenerationsstiftung ist und ihr ersten Löffel Suppe. Wartet doch mal ein bißchen dann als Innenminister in Personalunion insgesamt ab! 26 Millionen für ein nicht etatreifes Projekt im (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Schnellverfahren zuwenden will. Gemeinsamkeiten — ich bitte zuzuhören — und Zu- (Zurufe von der SPD: Hört! Hört! — Unge stimmung werde ich nicht verschweigen; denn nur heuerlich!) dann kann man um so deutlicher und glaubwürdiger Im übrigen hat die Presse diesen Vorgang entspre- auf die unterschiedlichen Positionen und Beurteilun- chend kommentiert. gen hinweisen, die sich in der Innenpolitik zwischen Die Neugliederung des Deutschlandfunks, der Regierung und Opposition ergeben. Deutschen Welle und des Rias kommt zum Teil voran. Ich komme zur Sache. Seit mehr als einem Jahr for- Ich begrüße die vorgesehene Regelung, die Deutsche dert die SPD-Bundestagsfraktion, übrigens in völliger Welle um das deutsche Auslandsfernsehen zu erwei- Übereinstimmung mit dem Deutschen Sportbund, daß tern. Denn gerade der Umbruch in Ost- und Südost- über den Rahmen von Zuständigkeit und Einigungs- europa stellt die Deutsche Welle vor sehr große Auf- vertrag hinaus der Aufbau des Breitensports und die gaben, insbesondere wenn man weiß, daß Millionen Substanzerhaltung der Sportstätten in den neuen Menschen dort Deutsch lernen und sich dementspre- Bundesländern mit Bundesleistungen gefördert wer- chend orientieren. Dieses vernünftige und tragbare den. Mit ebenso unschöner Regelmäßigkeit verweist Konzept bei der Deutschen Welle wird in dieser Hin- der BMI auf seine Unzuständigkeit, obwohl er ganz sicht die Zustimmung der SPD finden. genau weiß, daß Länder und Kommunen in ihrer ge- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das genwärtigen Einnahmesituation gegenwärtig nicht in finde ich sehr gut!) der Lage sind, die finanziellen Mittel aufzubringen, um Sporthallen, Schwimmbäder und vieles andere vor Um so unbefriedigender, Herr Gerster, ist es, daß es dem sprichwörtlichen Verfall zu bewahren. beim Deutschlandfunk nicht vorangeht. Es ist meines Erachtens dem Bürger nicht zuzumutzen, daß er zwei- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wie ist mal zur Kasse gebeten wird: zum einem über die be- es denn mit dem Grundgesetz?) schlossene Gebührenerhöhung und zum zweiten über Im übrigen, was wäre denn, wenn in den Westländern seine Steuergroschen. Die Rundfunkanstalten legen bei der Sportförderung Landesregierungen und nämlich das für die Neuordnung des Deutschland- Kreise keine freiwilligen Leistungen mehr erbräch- funks vorgesehene Geld zinsgünstig an und reiben - ten? Was wäre denn dann? Also meine ich: Was den sich die Hände, weil Bund und Länder sich nicht eini- Ländern und Kreisen und Kommunen in der Sportför- gen; und so lange muß der Deutschlandfunk aus dem derung recht ist, sollte dem Bund ein Vorbild sein. Er Bundeshaushalt, also mit Steuergeldern, finanziert sollte hier nicht mauern; er sollte fördern. werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. Dies ist ein unmöglicher Zustand. Ich fordere alle Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das hat da Verantwortlichen, insbesondere Sie, Herr Kollege Sei- mit überhaupt nichts zu tun!) ters, auf, umgehend eine einvernehmliche Lösung in Wir fordern einen neuen Goldenen Plan und eine Angriff zu nehmen. Anschubfinanzierung für den Aufbau der Sportver- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wie eine in den neuen Ländern und für den Zweck, den soll die denn aussehen? Sagen Sie das mal! Breitensport auf eine gesicherte Grundlage zu stel- Sagen Sie mal, wie die Lösung aussehen len. soll!) 5146 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Rudolf Purps — Das haben Ihnen meine Kollegen im Innenaus- darauf ankommt, die Funktionsfähigkeit der Behörde schuß schon oft genug gesagt; das brauche ich hier Gauck zum 1. Januar herzustellen, ist der Einsatz die- nicht zu wiederholen, Herr Gerster. ses von Ihnen bevorzugten Personenkreises der fal- sche Weg; denn wenn ab Januar nicht nur 70 000 — (Beifall bei der SPD) wie heute schon — , sondern noch mehr Anträge ein- Es gibt in der Bundesrepublik zwei äußerst sensible gehen, Anfragen auf Akteneinsicht, Auskunftsersu- Themen, die beide beim Innenminister angesiedelt chen, dann wird es einen nicht zu verantwortenden sind und in der öffentlichen Diskussion große Emotio- Bearbeitungsstau geben. Und wie wollen Sie vermei- nen freisetzen, was bei der Behandlung im Bundestag den, daß die Bürger nicht vermuten, daß dieser Stau mitbeachtet werden muß. Es handelt sich um die Auf- politisch gewollt sei, arbeitung der Stasi-Akten und um die Asylproblema- (Zuruf von der CDU/CSU) tik. daß man da nicht mit Nachdruck an der Aufklärung Zum Stasi - Unterlagen - Gesetz: Schon bei der Bera- der Stasi-Verbrechen interessiert ist? Mit dieser tung des 91er Haushalts im Juli dieses Jahres habe ich Sperre haben Sie sich einen Bärendienst erwiesen, Sie darauf aufmerksam gemacht, daß nach Meinung und ich kann Sie nur auffordern, die Sperre so schnell der SPD der damals bewilligte Stellenplan von knapp wie möglich aufzuheben. Es liegt ein Antrag vom 1 000 Stellen zur Durchführung des zu verabschieden- Bündnis 90/GRÜNE vor, der dies beinhaltet. Wir wer- den Gesetzes nicht ausreichen werde. Ich habe Ihnen den dem Antrag zustimmen. Ich möchte dazu aber erklärt, daß die SPD in dieser Situation weiteren Stel- sagen: Wenn man dabei im Ausschuß nicht mitge- lenmehrungen zustimmen wird. Dies tun wir auch kämpft hat und dann hier den Antrag vorlegt, dann ist heute. Im demokratischen Rechtsstaat muß die unge- das kein politischer Stil. heuerliche Vergangenheit von Bespitzelung, Terrori- sierung und Unterdrückung, von Verfolgung und In- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf haftierung von Millionen Menschen in den neuen, gang Weng [Gerlingen] [FDP]) aber auch in den alten Bundesländern restlos und Meine Damen und Herren, trotz der beim Bundes- zügig aufgeklärt werden, wenn nicht Zweifel an die- kanzler getroffenen Allparteienvereinbarung zu Fra- sem demokratischen System entstehen oder wachsen gen der Neuordnung des Asylrechts geschieht von sollen. der Regierungsseite her so gut wie nichts. Ein Gesetz- Folgerichtig hat der Deutsche Bundestag mit den entwurf liegt bis heute nicht vor, und der ehemalige Stimmen aller Parteien das Stasi-Unterlagen-Gesetz Innenminister Schäuble, der dieser Vereinbarung ja beschlossen. Aber am gleichen Tag, als im Plenum die innerlich ablehnend gegenübersteht, hat es seinem Reden gehalten wurden, hat die Koalition im Haus- Nachfolger, Herrn Seiters, überlassen, diesen Gesetz- haltsausschuß die Durchführung dieses Gesetzes entwurf nun vorzulegen, und er hat es auch angekün- durch administrative Maßnahmen stranguliert. digt. Im Gegenzug wird behauptet, diese Verzögerung (Zuruf von der CDU/CSU: Was?) läge an den Ländern, weil sie ihren übernommenen Und sie hat dies gegen den ausdrücklichen Rat des Aufgaben nicht nachkämen. Kollegen Schäuble getan. — Herr Kollege Schäuble, (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) dies ist für Sie eine Niederlage, es sei denn, Sie haben an dieser Stelle nur just for show gekämpft, um nicht Es könne also frühestens im Frühjahr mit Maßnahmen selber in die Schußlinie zu geraten. gerechnet werden. Wissen Sie, ich werde den Ver- dacht nicht los, daß hierbei der Terminkalender von (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wir Landtagswahlen die Regie führt und nichts anderes. werden das noch korrigieren!) (Beifall bei der SPD) Dies möchte ich eigentlich nicht glauben, aber Ihr nur hinhaltender Widerstand läßt diese Vermutung zu. Ich sage Ihnen — bitte nehmen Sie das ernst — : Die- ses Thema eignet sich nicht im geringsten für die Aus- Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, einandersetzung. Die meines Erachtens unverant- haben die Hälfte der für Herrn Gauck vorgesehenen wortliche Kampagne, die im Sommer vom Konrad- Stellen — 1 215 Stellen — gesperrt und darüber hin- Adenauer-Haus losgetreten wurde, hat bereits zu er- aus verfügt, daß diese Stellen soweit wie möglich mit schreckenden Ergebnissen geführt. Wer dieses Soldaten und Verwaltungsangestellten besetzt wer- Thema nicht mit der nötigen Sensibilität und- Sach- den sollen. Dies haben Sie beschlossen, lichkeit behandelt, der risikert, daß aus dem Jauche- beet des Nationalismus die braunen Triebe hervorbre- (Zuruf von der FDP: Das ist nicht wahr!) chen, obwohl Ihnen ein Gutachten des Innenministers vor- (Zuruf von der CDU/CSU: Woraus?) lag, aus dem hervorgeht, daß die Besetzung so schnell daß Fremdenhaß und Rassismus grassieren und gar nicht vorgenommen werden kann. Hünxe und Hoyerswerda keine Einzelfälle bleiben. Wer in dieser Frage mit dem Feuer spielt, der wird sich Damit hier keine Unsicherheit entsteht: Ich bin sehr an Wahltagen die Augen reiben, wenn nämlich an- dafür, Soldaten vorrangig im öffentlichen Dienst wei- dere die erhoffte Ernte einfahren. terzuverwenden und auch die Beamten der Wehrver- waltung; denn dies ist allemal besser als eine frühzei- (Zuruf von der CDU/CSU: Denken Sie ein tige Pensionierung. Aber in diesem Falle, in dem es mal daran!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5147

Rudolf Purps — Da haben wir kein Problem! Die von der Koalition im Haushaltsausschuß hier (Zuruf von der CDU/CSU) ausgebrachten Kürzungen und Sperren haben nur die Funktion von weißer Salbe, weil man selbst von der Herr Kollege Schäuble, Herr Kollege Seiters, warum Richtigkeit und der Höhe der Ansätze nicht überzeugt denn diese Kampagne im Jahre 1991? Im Jahre 1990 ist. kamen 193 000 Asylsuchende in die Bundesrepublik Deutschland. Rechnet man für 1990 die Bereiche Asyl, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Also Aussiedlung und auch noch Übersiedler zusammen, von Salben verstehe ich mehr als Sie!) Es ist dringend erforderlich, diesen ganzen Komplex (Zuruf von der CDU/CSU: Sie werfen wieder einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen. alles in einen Topf!) Was die Rettung des deutschen Kulturgutes in ehe- dann waren das mehr, als wir hier 1991 auch zusam- maligen Reichs- und Siedlungsgebieten betrifft, so men erwarten. Warum dann 1991 diese Kampagne? muß auch einmal deutlich gesagt werden: Das Wort Hätten Sie denn Ihre Aufgaben, wenn Sie sie denn so „Rettung" hat einen komischen Beigeschmack. Denn gesehen hätten, nicht schon eher machen können? — wir dürfen nicht vergessen, daß ohne die hervorra- Für mich gibt es darauf nur eine Antwort: Sie wollten gende Arbeit polnischer Restaurateure, die zu Recht aus dem politischen Tief nach den Landtagswahlen mit als die besten der Welt gelten, viele dieser histo- und der Steuerlüge heraus. Um die eigenen Fehler rischen Baudenkmäler im heutigen Polen überhaupt und Schwächen zu überdecken, hat das Adenauer nicht mehr existierten, weil sie im Hitler-Wahnsinns- Haus das Asylthema aufgelegt, um die Themenwende krieg zerstört oder so schwer beschädigt wurden, daß zu erzwingen. sie kaum noch zu retten gewesen wären, wenn nicht (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der Polen dafür gesorgt hätte. Auch dies muß einmal aner- CDU/CSU — Dr. Wolfgang Weng [Gerlin kannt werden. gen] [FDP]: Leider wahr!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie haben dies geschafft. Aber ich frage Sie: Zu wel- der CDU/CSU und der FDP — Johannes Ger chem Preis haben Sie das geschafft? ster [Mainz] [CDU/CSU]: Da hat er recht!) (Zurufe von der CDU/CSU) Zu den Fragen der Ost- und Westwanderung, der Armutswanderung, hat meine Kollegin Hämmerle ge- Wir stellen für den Haushalt 1992 dem Bundesamt stern ausführlich Stellung genommen. gemeinsam 2 374 neue Stellen zur Verfügung, die so schnell wie möglich besetzt werden müssen, weil (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) sonst die Übereinkunft beim Kanzlergespräch nicht — Sehr gut, jawohl, das war sehr gut. Ich beschränke eingehalten werden kann. Aber sollte für das Bundes- mich darauf, festzustellen, daß es eben wirk lich alle- amt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mal besser ist, die Ursachen von Flucht- und Wander- die gleiche Strategie gelten wie bei der Gauck-Be- bewegung an den Wurzeln zu bekämpfen und vor Ort hörde, dann, meine Damen und Herren, setzen Sie die Probleme zu lösen. Deshalb unterstützen wir So- von der Koalition die Glaubwürdigkeit der Politik we- zialdemokraten sowohl die Reintegrationsprogramme gen vermeintlicher parteitaktischer Vorteile aufs als auch die Hilfen für die Wolgarepublik. Der Ansatz Spiel. Wenn Sie schon nicht auf die SPD hören wollen in Höhe von 100 Millionen DM für 1992 ist zur Hälfte oder nicht hören können, dann hören Sie doch auf den qualifiziert gesperrt. Bundespräsidenten, hören Sie auf die Kirchen, hören Sie eventuell auch einmal auf die FDP. (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Staatskommissar Waffenschmidt dankt Ih (Zuruf von der CDU/CSU: Auf welche Kir nen!) chen?) Eine Entscheidung, die wir gemeinsam getroffen ha- — Vielleicht halten Sie in dieser Frage einmal innere ben und die in Anbetracht der vielen Unwägbarkeiten Einkehr. Ich glaube, diese Jahreszeit eignet sich be- und Unsicherheiten, mit denen dieser strenggenom- sonders dafür. men eigentlich nicht etat- und haushaltsreife Titel (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ausgestattet ist, unumgänglich notwendig war. Ich erwarte von der Bundesregierung, daß sie auch für die Schon bei der Beratung des Bundeshaushalts für nicht gesperrten 50 Millionen DM strengste Kontrolle dieses Jahr haben wir den starken Aufwuchs der Zu- bei der Projektplanung anordnet und dem Haushalts- wendungen an zentrale Organisationen, Verbände, ausschuß, insbesondere den Berichterstattern, dar- insbesondere des Bundes der Vertriebenen, kritisiert. über berichtet. - Diese Kritik gilt auch für die Steigerung bei der För- derung zur Erhaltung der deutschen Kultur, wie es Denjenigen, die dieses Projekt annehmen und in die jetzt heißt: in den historischen Reichs- und Siedlungs- neue Wolgarepublik ziehen, wird Hilfe gewährt. gebieten. Mir ist völlig unverständlich, daß in 1992 Diese Hilfe muß sich auch auf die russische Bevölke- dieser Titel noch einmal aufwächst. Ich bleibe bei mei- rung beziehen. Es wäre nämlich fatal, wenn neue ner Meinung: Die Mittel würden besser verwendet für Neidkomplexe entstünden, etwa nach dem Motto: Die eine aktive Begegnungspolitik zwischen Deutschen Deutschen helfen den Deutschstämmigen, für die und Polen, Deutschen und Tschechen, besonders für Russen bleibt leider nicht viel übrig. die Begegnung junger Menschen, die unsere gemein- Ebenso darf nicht vergessen werden, daß es neben same Zukunft in einem gemeinsamen Haus aktiv ge- der Wolgarepublik auch andere Neusiedlungsziele stalten wollen und, wie ich weiß, dies auch schon gibt, die ebenfalls der Förderung bedürfen. Es ist ja tun. bekannt, daß viele Deutschstämmige auch nach Ost- 5148 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Rudolf Purps preußen ziehen möchten. Sofern dies geschieht, ist Rudolf Purps (SPD): Vielen Dank, Herr Kollege auch hier Hilfe zu leisten. Dies alles verbinden wir mit Weng. — Nein, Herr Kollege Gerster, ich übersehe der Hoffnung, daß sich durch diese Hilfen der Zustrom nichts. Ich habe das — das hat der Kollege Weng ja der Aussiedler verringern könnte, weil sich für sie zugegeben — erwähnt. eine Perspektive im eigenen Land eröffnet, eine reali- Ich will ganz deutlich machen, daß diese 180 Millio- stische Chance, um in der Heimat den Traum von nen DM das Problem nicht lösen. Mit diesen 180 Mil- einem besseren, freieren und gerechteren Leben zu lionen DM ziehen Sie einen Schlußstrich unter die verwirklichen. Dabei sind die Zusagen des russischen Förderung der Kultur. Präsidenten Jelzin bei seinem Besuch in der Bundes- republik der Grundstein. Jetzt kommt es darauf an, (Zurufe von der CDU/CSU: Nein! — Wer ist das Haus zu bauen und wohnlich einzurichten. Ein denn zuständig?) Haus für Deutsche und Russen und keine nationale Wir wissen doch alle, daß das, wenn Sie, Herr Kollege Enklave. Weng, ab 1993 keine müde Mark mehr zur Verfügung Die Koalition im Haushaltsausschuß hat allerdings stellen, für viele Kulturinstitutionen in den neuen Län- entgegen den Ankündigungen des damaligen Innen- dern das Todesurteil bedeutet. ministers, Herrn Dr. Schäuble, beschlossen, die Bun- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Nur desmittel für die Substanzerhaltung und Förderung mal abwarten! Keine vorschnellen der kulturellen Infrastruktur in den neuen Ländern Schlüsse!) nicht zu erhöhen. Das ist eine weitere Ohrfeige für den neuen Fraktionsvorsitzenden, den ich nun leider hier Sie können doch nicht ernsthaft glauben, daß 1993 nicht mehr sehe keine Zuwendungen mehr gegeben zu werden brauchten, daß die Länder und Kommunen dies kom- (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das plett übernehmen könnten, weil sie dann finanziell ist das Allerletzte! — Zuruf von der CDU/ schon so gut ausgestattet sein werden. Was Sie sich da CSU: Wenn eurer nur ein Zehntel der Zeit vorstellen, ist doch alles irreal! hier wäre, dann könnte er sich „von Klose" schreiben!) (Beifall bei der SPD — Johannes Gerster — entschuldigen Sie mal, seien Sie doch nicht so auf- [Mainz] [CDU/CSU]: Abwarten und Tee trin geregt! — und der noch im September selber gesagt ken!) hat, er setze sich dafür ein, daß diese Mittel von Ich prophezeie Ihnen: Dieser Titel wird wieder auf- 600 Millionen DM auf 900 Millionen DM erhöht wer- gemacht werden. Ich fordere Sie, Herr Bundesmini- den. Im Haushalt 1992 ist es nicht zu dieser Erhöhung ster Seiters, auf, für den Haushalt 1993 diesen Titel gekommen. wieder zu öffnen und mit den nötigen Mitteln auszu- (Zuruf von der CDU/CSU: Ich habe das, was statten; ich gesagt habe, im Hinblick auf die Anwe ( [CDU/CSU]: Dann sagt ihr, senheit gemeint!) wir machten zuviel Schulden!) Die Opposition hat einen solchen Antrag gestellt, denn erst 1995, wenn die Finanzbeziehungen zwi- die Koalition hat ihn abgelehnt. Statt dessen wollen schen Bund und Ländern neu geordnet sind, nicht Sie 180 Millionen DM im Nachtrag etatisieren, eher, werden die neuen Länder in der Lage sein, die- (Zuruf von der CDU/CSU: Die haben wir ge sen ihnen nach der Verfassung zustehenden Pflichten stern beschlossen!) nachzukommen. um sozusagen eine Schlußabrechnung vorzunehmen, (Zurufe von der CDU/CSU: Wann wird das und haben diese zur Eigenbewirtschaftung der Stif- Ihrer Meinung nach sein? — 2050!) tung Kulturfonds, der Nachfolgeorganisation des ehe- maligen DDR-Kulturfonds, zugewiesen. Meine Damen und Herren, zum Einzelplan 36 — Zivile Verteidigung — wird mein Kollege Graf gleich etwas sagen, so daß ich mich auf einige Bemerkungen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter beschränke. Purps, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- neten Dr. Weng? Ich denke, daß es in einer Zeit der allgemeinen Ent- spannung und des völligen Umbruchs in Osteuropa nicht vertretbar ist, für diesen Haushalt noch eine Stei- Rudolf Purps (SPD): Aber gern, Herr Kollege! gerung zu beschließen. Ich habe versucht, dem Rech- nung zu tragen und mit Kürzungsanträgen eine- Null- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Herr Kollege diät herbeizuführen. Die Koalition ist meinen Anträ- Purps, ich muß die Zwischenfrage etwas relativieren. gen in den meisten Fällen nicht gefolgt, Ich frage Sie, ob Sie diese 180 Millionen DM aus dem (Zuruf von der SPD: Sehr schade!) Nachtrag hier unterschlagen wollen. Das haben Sie dankenswerterweise aber nicht getan. Ich wollte nur in einigen wohl. Das ist bedauerlich; denn die hier darauf hinweisen, daß wir von seiten der Koalition im vorhandenen Einsparpotentiale hätten Sie nutzen laufenden Jahr, noch mit Blick auf das kommende können, um andere, wichtigere Dinge zu machen. Jahr, in erheblichem Umfang, nämlich mit 180 Millio- Ich frage mich manchmal: Was macht es in dieser nen DM zusätzlich, für diese Kulturgüter ein wichtiges Situation eigentlich noch für einen Sinn — Herr Kol- Signal gesetzt haben. lege Uelhoff, wir haben ja darüber diskutiert — , für (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das 10 Millionen DM Nahrungsmittel für Krisenzeiten hat Herr Purps übersehen!) einzulagern, so als ob die Entwicklung der letzten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5149

Rudolf Purps zwei Jahre in Europa überhaupt nicht stattgefunden im Innenausschuß ein sehr genaues Auge auf die In- hätte? Wenn man dann weiß, daß dies heißt „ 1 kg nenpolitik werfen. Die Ergebnisse der letzten Jahre Trockenerbsen pro Haushalt" , dann muß ich Ihnen sprechen ja auch für unsere Arbeit. sagen: Die hat meine Frau im Schrank; dafür brau- chen wir keinen Krisenvorrat. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der FDP) (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Wie gut Sie dran sind!) Wolfgang Schäuble hat in gut zwei Jahren seiner Hier wird — damit will ich zum Schluß kommen — Amtszeit dem Innenressort politisch und damit auch wie in vielen Bereichen an alten Zöpfen festgehalten. haushaltspolitisch seinen Stempel aufgedrückt. Das Alte Vorstellungen werden weiter gepflegt, und nur Volumen des BMI-Haushalts hat sich in diesem Zeit- da, wo man überhaupt nicht mehr begründen kann, raum nahezu verdoppelt. Für Haushälter ist das im- daß es so weitergehen soll, kommt es zu Aufgabenab- mer ein Warnsignal. Aber an dieser Stelle ist die inten- bau. Zugleich wird aber überall krampfhaft nach sive und kritische Prüfung ja auf eine gute Fundierung neuen Möglichkeiten gesucht, Aufgaben umzuwid- getroffen. Hier sind nämlich nicht In flation und Ober- men, um den Personalbestand, die Behörde oder das maß die Gründe. Die erfreuliche Ursache des Wachs- Amt zu erhalten. Ich verstehe das, aber hier muß die tums des Innenhaushalts ist vielmehr die deutsche Politik einmal konsequent sein. Ihnen fehlt der Mut, Einheit, die untrennbar auch mit dem Namen von endlich entscheidende Schritte auf diesem Gebiet zu Wolfgang Schäuble verbunden ist. tun. Sie trippeln auf der Stelle (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU: Uns fehlt der Mut, Unter seiner Leitung wurden nicht nur die Ostberli- Ihnen die Kenntnis, Herr Kollege!) ner Ministerien, die es gab, aufgelöst, sondern es und versuchen, das als Fortschritt auszugeben. wurde auch das innerdeutsche Ministe rium in das Meine Damen und Herren, der kalte Krieg ist vor- BMI eingegliedert. Es wurden drei neue Bundesober- bei. Dies muß Konsequenzen haben, auch im Bereich behörden eingerichtet. Zur Bewältigung der Einreisen der zivilen Verteidigung. von Übersiedlern, Aussiedlern und Asylbewerbern Meine Damen und Herren, der Haushalt des Bun- hat sich ein weiterer rasanter Aufgabenzuwachs beim desministers des Innern wie auch der Einzelplan 36 BMI vollzogen. — Zivile Verteidigung — können in der vorliegenden In der Zusammenarbeit mit Herrn Schäuble haben Form nicht die Zustimmung der Sozialdemokraten er- wir Berichterstatter eine gute Grundlage gehabt. Wir halten. Wir lehnen beide Haushalte ab, aber stimmen konnten nicht immer einer Meinung sein. Das wäre dem Einzelplan 33 zu. auch nicht richtig. Welches Selbstverständnis haben Wir erwarten vom neuen Innenminister, daß er im wir eigentlich, wenn wir zur eigenen Regierung hin- nächsten Jahr Haushaltspläne vorlegt, die den Erfor- gehen und sagen: Guten Morgen, hier ist alles, was du dernissen der Innenpolitik und der zivilen Verteidi- willst. — Wir müssen zunächst einmal sehr genau gung in einer geänderten Welt im vereinten Deutsch- schauen, was da los ist, und kontrollieren, auf die Qua- land Rechnung tragen. lität achten. (Anhaltender Beifall bei der SPD — Zuruf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie von der CDU/CSU: Das Beste an der Rede bei Abgeordneten der SPD) war der Beifall! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Denn erst dann darf man Schulden machen. Man darf nicht einfach sagen, wir geben alles aus, um letzten Endes dem Schuldenmacher in der Öffentlichkeit, vor Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der den Bürgern, Vorwürfe zu machen. Abgeordnete Karl Deres. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ihnen, Herr Minister Seiters, möchte ich eine (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Karl Deres ebenso gute und konstruktive Zusammenarbeit an- lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Rudolf bieten. Ich wünsche Ihnen alles Gute und Gottes Se- Purps gerade gesagt: Er hat es einfach verdient, daß er gen für Ihr neues und schweres Amt. an ein paar Stellen etwas zurückbekommt. Das muß auch sein. Das werde ich im Laufe meiner Rede durch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Betonung entsprechend darstellen. - Sie übernehmen die Verantwortung für ein Haus- Die zweite und dritte Lesung des Innenhaushalts haltsvolumen von rund 8,5 Milliarden DM, 54 000 trifft mit dem Wechsel im Amt des Bundesinnenmini- Planstellen und Stellen, davon knapp 30 000 Polizei- sters zusammen. Das ist ein guter Zeitpunkt, an dem vollzugsbeamte im Bundesgrenzschutz, die dazuge- wir dem scheidenden die Bilanz und den Ausblick hören. dem neuen Minister widmen können. Im Gegensatz zu der Aufforderung der SPD, sich im kommenden Rund 5 000 dieser Planstellen sind — ich komme im Haushalt in der neuen Aufstellung für 1993 nun wirk- einzelnen darauf noch zurück — für 1992 neu bewil- lich den Problemen der Innenpolitik zuzuwenden, ligt und müssen in den nächsten Wochen und Mona- möchte ich sagen, daß ich aus der Erfahrung der letz- ten möglichst besetzt werden, aber auch unter Beach- ten Jahre nicht nur bei Wolfgang Schäuble, sondern tung des Faktors Qualität. Man kann da nicht einfach auch schon beim Vorgänger Zimmermann immer fest- ein Gebilde in die Gegend setzen, bei dem am Schluß stellen konnte, daß CDU und CSU mit den Kollegen die Arbeit gegen die Täter und für die Opfer nicht 5150 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Karl Deres vollzogen werden kann. Das Gegenteil muß in den ser Problematik im Rahmen einer Parlaments- und nächsten Wochen garantiert werden. Verfassungsreform nachgegangen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme jetzt noch auf einige wichtige Ich darf aber auch sehr herzlich meinen Mitberich- Punkte des Innenhaushalts zu sprechen. terstattern, Frau Kollegin Ina Albowitz und dem Herrn Kollegen Purps, danken. Bei allen Differenzen, die wir Erstens. Es ist sichergestellt worden, daß die Ziel- haben und die ausgetragen werden müssen, war es vorstellungen zur Beschleunigung des Asylverfah- eine gute Zusammenarbeit. Herzlichen Dank dafür, rens aus dem Parteiengespräch beim Bundeskanzler meine liebe Kollegin und mein lieber Kollege. vom 10. Oktober dieses Jahres haushaltsmäßig umge- setzt werden. Das Planstellen- und Stellen-Soll des Wir Berichterstatter haben den Innenhaushalt in Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer den letzten Wochen in einem bislang nicht erlebten Flüchtlinge steigt von 1 176 in diesem Jahr — hören Ausmaß umgestaltet. Auf der einen Seite haben wir Sie bitte genau zu! — auf 3 599 im Jahre 1992. Es wird mehr als 150 Millionen DM einvernehmlich gestri- also mehr als verdreifacht, bleibt aber auch einfach chen; auf der anderen Seite haben wir infolge der gesperrt, und zwar einvernehmlich. Warum sind wir politischen Entwicklungen mehr als 110 Millionen uns denn da einig, aber bei der Stasi-Unterlagen- DM umgeschichtet. Die Wiedererrichtung einer deut- Behörde nicht? Ich frage das an dieser Stelle nur. — schen Wolgarepublik, aber auch Förderungsmaßnah- Das Bundesamt soll auf jeden Fall in die Lage versetzt men für die Rückkehr und Reintegration von auslän- werden, ca. 80 Außenstellen bei den von den Ländern dischen Flüchtlingen waren Gründe dafür. Gleichzei- geplanten Gemeinschaftsunterkünften einzurichten tig haben wir — das ist für Haushälter immer etwas und die bislang von den Ländern durchgeführte aus- ärgerlich — Mehrausgaben von rund 475 Millionen länderrechtliche Erfassung der Asylbewerber zu DM für den Ausbau des Bundesamtes für die Aner- übernehmen. kennung ausländischer Flüchtlinge sowie der Be- hörde des Beauftragten für die Unterlagen des ehema- Ich habe allerdings Zweifel daran, daß damit das ligen Staatssicherheitsdienstes bewilligt. Problem des zehntausendfachen Mißbrauchs unseres Asylrechts gelöst werden kann. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine all- gemeine haushaltspolitische Bemerkung machen. Am (Beifall bei der CDU/CSU) Beispiel des Innenhaushalts 1992 wird besonders Ich denke, ich teile diese Zweifel nicht nur mit dem deutlich, daß die parlamentarischen Mitbestim- früheren, sondern auch mit dem jetzigen Innenmini- mungs- und Kontrollbefugnisse bei Aufstellung und ster. Durchführung der Einzelpläne kaum noch vollstän- dig wahrzunehmen sind. Zahl, Umfang und Komple- Selbst wenn künftig innerhalb von sechs Wochen xität der BMI-Haushaltsansätze erfordern für die Be- 30 % oder mehr der Asylanträge abschließend und mit richterstattergespräche inzwischen einen kaum mehr gerichtlicher Billigung als offensichtlich unbegründet zumutbaren Zeitaufwand. Das gilt auch für die Bera- abgewiesen werden, bleiben ganz erhebliche prakti- tungen im Haushaltsausschuß. Alles stöhnt schon, sche Probleme. Qualifiziertes Personal ist kaum aus- wenn der Einzelplan 06 aufgerufen wird. reichend zu gewinnen, jedenfalls nicht kurzfristig; denn die Beurteiler dieser Situation, die Einzelent- Wenn dann noch dreistellige Millionenbeträge un- scheider, sind aus dieser Behörde in den letzten Mo- ter einer einzigen Zweckbestimmung veranschlagt naten zum Teil schon verschwunden. Allein die Zahl werden, dann wird eine wirksame parlamentarische dieser unabhängigen Einzelentscheider müßte fast Kontrolle nahezu unmöglich. Als Beispiel hierfür verdreifacht werden. Ich sehe auch noch nicht die von möchte ich die 600 Millionen DM für die Erhaltung der den Ländern zugesagten 500 Entscheider beim Bun- kulturellen Substanz und Infrastruktur in den neuen desamt. Ich bin einmal gespannt, wie die Länder die- Ländern nennen. Das ist ein Grund dafür, das in Zu- ser Verpflichtung nachkommen werden. kunft nicht mehr auf der Bundesebene zu tun, sondern die Verantwortung wirklich in die Länder und vor Ort Im übrigen kann Personal erst dann gewonnen wer- zu legen. den, wenn die Länder die rund 80 Gemeinschaftsun- terkünfte für neu eingereiste Asylbewerber festgelegt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben. Die Exekutive erzielt hier einen Informations- und Also bitte auch an dieser Stelle keine Illusionen,- Handlungsvorsprung, der das Budgetrecht des Parla- keine allzu hohen Erwartungen! Die Praxis wird zei- ments schmälert. Das ist auch durch den Bundesrech- gen, wie sich die Dinge in diesem Rahmen entwickeln nungshof und durch die spätere Rechnungsprüfung und was sie uns dann am Schluß wirklich kosten wer- — in Klammern: Vergangenheitsbewältigung — nicht den. wieder aufzuholen. Das sage ich Ihnen als Vorsitzen- der des Rechnungsprüfungsausschusses. Vor allem wird der außerordentliche personelle und materielle Aufwand dann keine Verbesserung brin- Die uns zur Verfügung stehenden Mittel, etwa die gen, wenn abgelehnte Asylbewerber von den dafür qualifizierte Sperre von Teilbeträgen oder die Anfor- zuständigen Bundesländern nicht unverzüglich abge- derung periodischer Berichte zum Haushaltsvollzug, schoben werden. Fälle von Abschiebungshinderun- können diesen Mangel nicht heilen. Sie sind der Ver- gen bleiben natürlich ausgenommen. Dennoch führt such, in etwa bei der Entwicklung zu bleiben. Ich kein Weg daran vorbei: Der Zustrom der Armuts- halte es daher für dringend notwendig, daß auch die flüchtlinge aus Osteuropa und der Dritten Welt kann Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5151

Karl Deres nicht hier, sondern muß bereits am Entstehungsort Diese Situation ist derart, daß ich von Anfang an bekämpft werden. gesagt habe: Es ist dringend notwendig, dieses Perso- nalpaket in einem Stufenplan überzubringen. Wir sollten durch eine Grundgesetzänderung ver- hindern, daß unser Asylrecht zur Umgehung der Ein- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Diese Haushälter reisebeschränkungen benutzt wird. sind ganz schön überheblich! Immer mit der Krone herumlaufen!) (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sehr Alle übrigen waren anderer Meinung. Deswegen wahr!) bricht mir auch kein Zacken aus der Krone. Dann könnten wir nämlich die rund 323 Millionen Jetzt will ich Ihnen einmal eines sagen: Ich be- DM, die wir jetzt für den Ausbau des BAFl bereitstel- komme aus dem Hause zuerst die Meldung, es wäre len — gut, wenn mein Stufenplan durchgeführt würde; denn es könnte mit all diesen Leuten auf einen Schlag (Dr. Willfried Penner [SPD]: Was ist das?) schlimm werden. Dann kommt der Rechnungshof und — Bundesamt für die Anerkennung ausländischer sagt uns: nicht administrabel. Das war der Kernsatz Flüchtlinge. Entschuldigen Sie, Herr Kollege Penner, seines Zwischenberichtes. Anschließend kommen aus Sie wissen das zwar schon; aber man muß ja irgend- der Opposition Stimmen, die besagen: Du hast ja in wann die Gelegenheit zu einer Zwischenbemerkung etwa recht, aber wir stehen unter dem Druck der Er- haben. wartungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was? Wir duzen Sie doch nicht! Das ist ja unerhört!) Übrigens: Diese 323 Millionen DM sind auf der Ba- Meine Damen und Herren, wenn wir dann noch all sis elf Dreizehntel der zukünftigen Personalkosten be- die golden Shakehands sehen, die noch hinzukom- rechnet. Das heißt, es wird sicher noch eine ganze men, dann müssen wir uns, die für das Geld zuständig Ecke teurer. sind, doch einmal fragen, ob es nicht richtig ist, das Vorerst bleibt es aber bei dem dep rimierenden Er- Ganze zumindest in einem abgebremsten Verfahren gebnis, daß Länder und Kommunen jährlich über unter Überprüfung der Entwicklung — mit der Frage 4,5 Milliarden DM für die Unterbringung von sowie verbunden, ob wir auch die aus Bundeswehr, Zoll für Verwaltungs- und Gerichtsverfahren für Men- usw. übernommen haben, die dabei sein könnten — schen aufwenden, die im Sinne unseres Grundgeset- in die Überlegungen einbeziehen. zes zu über 90 % nicht politisch verfolgt sind. Um die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dimension deutlich zu machen: Diese Summe ist mehr als halb so groß wie der gesamte 92er Entwick- Wo sind wir denn, wenn wir jeden Wunsch, auch lungshilfehaushalt mit seinen 8,2 Milliarden DM. wenn er aus dem Fachausschuß begründet vorgetra- gen wäre, nachlaufen würden, ohne zu prüfen, was (Zuruf von der CDU/CSU: Das kann nicht so das Ganze kostet und was es im Ablauf der Dinge im weitergehen!) Grunde genommen für eine Wirkung haben wird? Erinnern Sie sich bitte an die Diskussion gestern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — abend über den Einzelplan 23. Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das mußte einmal gesagt werden! — Zuruf von Zweiter Punkt. Jetzt wird es interessant. Die vor der SPD) einem Jahr geschaffene Behörde des Beauftragten für — Hören Sie einmal: Ich komme aus der Schule. Ich die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der weiß, was effektive Arbeit in der Verwaltung ist. ehemaligen DDR erhält insgesamt 3 406 Planstellen und Stellen, damit sie in Berlin und ihren 14 Außen- (Ina Albowitz [FDP]: Du warst doch nicht in stellen die ihr vom neuen Stasi-Unterlagen-Gesetz Nordrhein-Westfalen!) künftig gestellten Aufgaben erfüllen kann. Die Hälfte Meine Damen und Herren, wir wissen, daß die Be- der über 2 400 Planstellen und Stellen haben wir qua- hörde des Sonderbeauftragten eine besondere Ver- lifiziert gesperrt. Das heißt, in erster Linie stehen alle antwortung hat und eine riesige Arbeitslast zu bewäl- diese Stellen ab 1. Januar bereit. Jetzt ist es einfach tigen hat. Ich will Ihnen auch sagen: Ehe man durch einmal notwendig, über die Historie der Diskussion die Lande fährt und unter Tränen in der Medienland- etwas zu sagen. schaft über die Frage, wieviel Leute man hat oder (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Sehr gut!) nicht hat, klagt, sollte man zuerst einmal die Stellen besetzen, die man schon hat, nämlich die 981, die in Es fällt mir kein Zacken aus der Berichterstatterkrone, diesem Jahre noch nicht besetzt worden sind. wenn ich Ihnen sage, daß ich — — (Beifall bei der CDU/CSU) (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wo haben Sie Angesichts dieser hohen Erwartungen wollten wir denn Ihre Krone gelassen? — Hans Peter nicht vergessen, daß wir nur einen Auskunftsapparat Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Er hat sie einrichten, der keineswegs unfehlbar ist. Den Men- in der Tasche!) schen, die unter dem Staatssicherheitsdienst vielfältig — Ich ziehe sie selten an, höchstens auf Karneval. gelitten haben, wird er weder Gerechtigkeit noch Wiedergutmachung verschaffen können. Der innere (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wo ist die Friede, den jener unmenschliche Überwachungsap- Krone?) parat über Jahrzehnte hinweg zerstört hat, läßt sich 5152 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Karl Deres nicht allein mit den Mitteln der Bürokratie wiederher- 1991 in den fünf neuen Ländern zwischen 40 und 70 % stellen. der Länderausgaben auf kulturellem Gebiet betragen. So richtig die Aussage des Liedermachers Wolf Ein solcher Zustand würde bei längerer Dauer ein Biermann ist, daß man den explodierten Stasi-Akten- wesentliches Element unserer föderalen Ordnung berg nicht wie den Tschernobyl-Reaktor einbetonie- aushöhlen. ren könne, so richtig ist es andererseits — das möchte Die 900 Millionen DM in 1991 haben den neuen ich in allem Ernst sagen — , daß von den Stasi-Tätern Ländern und Kommunen die notwendige Bedenkzeit Schuldbekenntnisse nicht erzwungen und von ihren verschafft, um sich darüber klarzuwerden, welche Opfern Vergebung nicht eingeklagt werden kann. Theater, Museen, Orchester usf. an welchen Orten Wir sollten uns daher davor hüten, aus der Behörde und in welchem Umfang fortgeführt werden sollen. des Beauftragten eine moralische Instanz zu machen und deren Auskünfte als sittliche Werturteile zu ver- Es war jetzt Zeit, Schwerpunkte zu setzen und die stehen. Strukturen zu bereinigen. Ich sage mit besonderer Betonung: Die Rückführung der Bundeshilfe in 1992 Wir sind uns in der Frage der Einrichtung der für Länder und Kommunen — ihre Eigenverantwor- einig. Wir haben zugestimmt, daß in Wolgarepublik tung vor Augen — fördert Prioritäten und verhindert, diesem Jahr noch geholfen wird. Lieber Rudolf Purps, daß diejenigen prämiert werden, die aus dem alten wir erwarten nicht einen Neideffekt aus unserer Hilfe, Trott staatlich gelenkter Kultur nicht herausfinden sondern eher die Erkenntnis der russischen Bevölke- wollen. rung, daß unsere Hilfe für die Menschen in der Wolga- republik und die Deutschen, die sich do rt ansiedeln Im übrigen haben wir — wie eben schon erwähnt werden, ein Signal der Hoffnung ist, auch für eine und diskutiert — im Nachtragshaushalt noch einmal bessere Zukunft der gesamten russischen Bevölke- 180 Millionen DM über die Stiftung der Länder nach- rung. geschoben. Sie werden zur Selbstbewirtschaftung zu- (Beifall bei der CDU/CSU) geführt, und es kann aus Erträgnissen dieser Mittel entsprechend geholfen werden. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) Deres, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- neten Rudi Walther? Auch bei der Förderung der Schlösser und Gärten haben wir 50 % gesperrt. — Es ist ja nicht so, als wenn wir so etwas nur an einer Stelle tun. — Wir haben das Karl Deres (CDU/CSU): Eine Zwischenfrage des gemacht, um den Ländern Berlin und Brandenburg großen Vorsitzenden wird immer gestattet. vor Augen zu führen, daß sie in einer gemeinsamen Stiftung — vielleicht ähnlich der Stiftung Preußischer Rudi Walther (Zierenberg) (SPD): Herr Kollege De- Kulturbesitz — die Dinge entwickeln können. Dann res, könnten Sie sich vorstellen, daß angesichts der könnte man sich auch auf Bundesebene in angemes- großen Verdienste des Staatssekretärs Waffenschmidt senem Rahmen beteiligen. um die Wolgarepublik selbiger zum ersten Präsiden- ten dieser Republik gewählt werden könnte? Ich gehe auf die Rundfunkanstalten nicht mehr ein. (Heiterkeit) Meine Damen und Herren, bei der ersten Lesung dieses Haushalts habe ich gesagt: Geld und Stellen (CDU/CSU): Herr Kollege Walther, ich Karl Deres allein lösen noch keine Probleme. Wir müssen mit möchte, daß der Herr Waffenschmidt in unserer Re- Bedauern feststellen, daß wir trotzdem mehr Geld und gion bleibt. mehr Stellen brauchten. Aber wir hoffen, daß diese (Beifall bei der CDU/CSU — Dieter Wie Stellen im Laufe der kommenden Jahre infolge von felspütz [SPD]: Waffenschmidt an die Wolga! Normalisierungen auf ein Normalmaß zurückgeführt — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: werden können. Denn sonst können wir unsere Vor- Auf den Walther können wir aber eher ver gaben, den Bundeshaushalt nur in einem bescheide- zichten!) nen Umfang auszudehnen, die Steigerungsrate bei Was die kulturelle Substanzerhaltung und Infra- 2,9 %, wie jetzt erreicht, zu belassen und seine Steige- struktur in den neuen Ländern angeht, werden nach rungen in den nächsten Jahren sogar vielleicht noch den 900 Millionen DM aus diesem Jahr 1992 weitere etwas zu reduzieren, nicht verwirklichen. 600 Millionen DM — das sind noch 100 Millionen DM Ich bitte Sie alle, beim Sparen mitzuhelfen. Sparen - mehr, als in der Finanzplanung stand — vorgesehen. ist nicht nur ein Verzicht auf Konsum, sondern bedeu- Dazu kommen 50 Millionen DM aus dem Innenhaus- tet auch, darauf zu achten, daß mit den gegebenen halt für den Denkmalschutz. Damit werden die Wün- Mitteln effektiv und produktiv gearbeitet wird. sche aus den neuen Ländern, die auf eine Fortschrei- bung der 900 Millionen DM aus diesem Jahr erzielten, Ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksam- nicht voll erfüllt; das geben wir ohne weiteres zu. keit. Wir haben aber auch eine Begründung dafür: Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie halte die Reduzierung für 1992 und den gänzlichen des Abg. Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]) Fortfall in 1993 für sachgerecht; denn diese Bundes- hilfe muß im Zusammenhang mit der vom Grundge- setz gewollten grundsätzlich ausschließlichen Zustän- digkeit der Länder und Kommunen für kulturelle An- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Abgeord- gelegenheiten gesehen werden. Die Bundeshilfe hat neten Ina Albowitz das Wort. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5153

Ina Albowitz (FDP): Herr Präsident! Meine sehr ver- Mit diesem Satz, Herr Dr. Schäuble, können Sie leicht ehrten Damen und Herren! Für mich persönlich ist der von denjenigen zum Kronzeugen gemacht werden, Einzelplan 06 der wichtigste des Haushaltes. Ich will die einfachen Lösungen das Wort reden. auch gern begründen, warum. Denn diese Wertung (Beifall bei der FDP und der SPD — Johannes bedeutet keineswegs eine Zweitrangigkeit der ande- Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Kann es sein, ren Einzelpläne. Aber in keinem anderen Haushalt daß Sie Verantwortungs- und Gesinnungs und in keinem anderen Zuständigkeitsbereich des ethik im Moment verwechselt haben, Frau Bundes spiegelt sich das seit dem 3. Oktober 1990 Kollegin?) geeinte Deutschland in seiner Vielfalt und in seiner Problematik so deutlich wider wie in diesem Etat. — Nein, Herr Gerster. Herr Dr. Schäuble hat gestern von Verantwortungsethik gesprochen. Bitte lesen Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das im Protokoll nach. der CDU/CSU) (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Manchmal habe ich mir in den letzten Tagen vorzu- Aber Sie verwechseln das offensichtlich mit stellen versucht, wie sich die jetzt so jung geeinte Bun- Gesinnungsethik! Ich will Sie nur darauf hin desrepublik in 10 oder 20 Jahren innerlich gestaltet weisen!) haben wird. Diskutieren wir dann immer noch über — Nein, ich verwechsle das nicht. Ich will Ihnen das die Probleme der Kultur, des Sports und des BGS, über gerne nachher noch einmal alleine erläutern. die Neuordnung der Rundfunkanstalten und über die Bewältigung der unsäglichen Stasi-Vergangenheit in Im Allparteiengespräch beim Bundeskanzler am 10. Oktober und auf der nachfolgenden Konferenz der den neuen Bundesländern, um nur einige Bereiche zu nennen? Ich hoffe nein. Sicher werden dann andere Innen- und Justizminister von Bund und Ländern sind in der Frage, wie Asylverfahren in der Bundesrepu- Probleme im Mittelpunkt einer Haushaltsdebatte ste- hen. Heute müssen wir uns aber um die jetzt aktuellen blik beschleunigt werden können, gravierende perso- nelle und finanzielle Veränderungen zu Lasten des kümmern. Bundes vereinbart worden. Durch das Bundesamt für Ein Problem ist die Situation asylsuchender Men- die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sollen schen und der Ausländer in unserem Land. Ich will an 80 Außenstellen, verteilt auf alle Bundesländer, ein- dieser Stelle keinen Debattenbeitrag in der Sache lei- gerichtet werden. Die Länder haben sich verpflichtet, sten, weil dies in den letzten Tagen schon mehrfach 500 Entscheider abzuordnen. Das Bundesamt selbst geschehen ist. Doch fühle ich mich veranlaßt — ich muß damit korrespondierend um 2 423 Mitarbeiter bedauere jetzt ausdrücklich, daß Dr. Schäuble nicht und rund 600 Zeitkräfte aufgestockt werden. anwesend ist; ich kritisiere das nicht — , nachdem ge- Daß diese Stellen und damit auch die Sachtitel zur stern der neugewählte Fraktionsvorsitzende der Zeit noch gesperrt sind, ergibt sich aus der Logik der CDU/CSU Dr. Wolfgang Schäuble im Zusammen- Vereinbarung zwischen Bund und Ländern. Die Län- hang mit der Frage der Ausländerfreundlichkeit der der müssen jetzt nämlich die Liegenschaften und die Bundesrepublik von Verantwortungsethik gespro- Entscheider zur Verfügung stellen. Wenn von dort die chen hat, einmal nachzufragen, wie es denn mit der Vollzugssignale kommen, wird es bestimmt nicht an Verantwortungsethik der Sprache bei Politikern aus- uns liegen, umgehend die Sperre aufzuheben. sieht. (Beifall bei der FDP) (Wolfgang Lüder [FDP]: Sehr richtig!) Ich appelliere von dieser Stelle aus nachdrücklich Wenn Sie, Herr Dr. Schäuble, darlegen, daß wir un- an alle Verantwortlichen in Bund und Ländern, keine sere Anstrengungen verstärken müssen, um die Wan- populistische Politik zu Lasten der betroffenen Men- derungsbewegungen in Osteuropa und in der Dritten schen zu betreiben. Welt zu bekämpfen und das mit dem Satz verbinden — ich zitiere aus dem Protokoll der gestrigen De- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Bünd batte — nis 90/GRÜNE) Wir sind alle miteinander stark in unserer Glaubwür- Das werden wir besser schaffen, wenn wir uns digkeit gefordert, auch gegenüber der deutschen Be- nicht mehr sosehr mit 200 000 Asylbewerbern in völkerung. zehn Monaten in unserem Land politisch und finanziell herumschlagen müssen, Mit einer weiteren drastischen Personalaufstok- kung mußten wir uns während der Berichterstatter- - ist dies für mich ein böser Satz. gespräche befassen. Auf Grund des vom Deutschen Bundestag in diesem Monat beschlossenen Stasi-Un- (Beifall bei der FDP, der SPD, dem Bünd terlagen-Gesetzes beantragte der Sonderbeauftragte nis 90/Grüne und der PDS/Linke Liste — für die Unterlagen der ehemaligen Staatssicherheit Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr richtig, Frau eine Personalaufstockung um 2 651 Stellen. Hinzu Kollegin, daß Sie darauf hinweisen! Respekt, kommen noch 221 Mitarbeiter mit Zeitarbeitsverträ- Frau Kollegin!) gen. Denn mit diesem Satz werden Sie selber dem hohen Der Bundesrechnungshof hat dagegen erhebliche Anspruch, den Sie an Verantwortungsethik stellen, Bedenken geltend gemacht. Ich weiß, daß der Be- nicht gerecht. schluß der Koalition, die Hälfte dieser Stellen zu sper- ren, einige Irritationen hervorgerufen hat. Deshalb (Beifall bei der FDP und der SPD) will ich noch einmal unsere Gründe darlegen. 5154 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Ilona Albowitz Erstens. Wenn der Bundesrechnungshof dem Parla- tig wird im Bund-Länder-Arbeitskreis — und nicht ment seine erheblichen Bedenken mitteilt, haben wir nur dort — über eine Finanzzulage in Ballungsräumen sie ernst zu nehmen, und zwar nicht nur dann, wenn laut nachgedacht. In den neuen Bundesländern aber es uns jeweils ins Geschäft paßt, sondern unabhängig suchen Tausende hochmotivierter Frauen und Män- von der politischen Stimmungslage an der Sache ner einen vernünftigen Arbeitsplatz. orientiert. (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr Gerster Zweitens. Mit der namentlichen Abstimmung zum könnte wieder Beamter werden!) Haushaltsgesetz morgen mittag werden wir gleichzei- tig unsere Zustimmung zu einer Aufstockung des Per- Sollten wir nicht einmal unsere Strategie zur Quali- sonalhaushaltes um 14 114 Stellen geben. 4 425 Stel- fizierung und Gewinnung von Personal in Bund und len entfallen auf 1992, so daß tatsächlich 9 689 Stellen Ländern überdenken? Auch hier hat sich durch die neu in den Bundeshaushalt eingestellt werden. Daß Einheit Deutschlands einiges verändert. Neue Wege angesichts dieser Zahl jede einzelne Neuanmeldung müssen gegangen werden. zum Personalhaushalt kritisch hinterfragt wird, ver- (Beifall bei der FDP) steht sich doch wohl von selbst. Verändert hat sich auch die Situation im Leistungs- Drittens. Bei der Behörde des Sonderbeauftragten sport in Deutschland. Wir haben in diesem Haus in kommt noch eine Besonderheit hinzu. Dieses Amt ist den letzten Monaten bereits öfter darüber diskutiert. erst in diesem Jahr neu eingerichtet worden und da- Die von uns schon mehrfach angeforderte Sportkon- her noch im Aufbau begriffen. Von den für 1991 ge- zeption fehlt immer noch. Offensichtlich geht der nehmigten 978 Stellen waren bis in die jüngsten Tage Deutsche Sportbund davon aus, daß wir das alles nicht hinein erst 600 besetzt. Innerhalb weniger Monate so ernst meinen. Wir meinen es ernst, meine Damen eine Bundesbehörde von 0 auf 3 600 Stellen in ihrer und Herren. Das wird sich spätestens am Haushalt inneren Struktur effizient aufzubauen ist eine nicht zu 1993 zeigen. lösende adminstrative Aufgabe. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) und dem Bündnis 90/GRÜNE) Deshalb haben wir den Rechnungshof sehr ernst Ein besonders übles Kapitel ist die Doping-Affäre. genommen, gleichzeitig aber auch die Anforderun- Der Kollege Purps ist auch schon darauf eingegangen. gen von Herrn Gauck gewürdigt, um damit auch den Ich bin dem Sportausschuß außerordentlich dankbar Ansprüchen, die sich aus dem Gesetz ergeben, schnell für sein Engagement in dieser Sache. Wir erwarten, nachzukommen. Die Sperre läßt genug Raum für den daß der deutsche Sport ein sauberer Sport ist. Ich per- sorgfältigen Aufbau der Behörde. Wir haben dem sönlich möchte lieber auf Medaillen verzichten, als die Sonderbeauftragten ebenfalls signalisiert, daß er je- Gesundheit von Menschen ruiniert zu sehen. derzeit kurzfristig mit weiteren Freigaben rechnen kann, wenn die Besetzungssituation es erforderlich (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD macht. Die Sachtitel können in vollem Umfang in An- und dem Bündnis 90/GRÜNE) spruch genommen werden. Deshalb hat der Haushaltsausschuß nicht alle Mittel Die Koalitionsfraktionen erwarten von der Bundes- zur Sportförderung der Fachverbände freigegeben. regierung, daß der Entschließungsantrag zur Verset- Wir erwarten von allen Verbänden umgehend ein- zung von freiwerdendem Personal, z. B. bei Bundes- deutige Erklärungen und keine Lippenbekennt- wehr und Zoll, den dieses Haus vor wenigen Tagen nisse. beschlossen hat, zum Aufbau der Behörde Gauck und Bei der Neuordnung der Rundfunkanstalten haben beim Bundesamt in Zirndorf genutzt wird. wir die Konzeption eines der Deutschen Welle zuge- (Beifall bei der FDP) ordneten Auslandssatellitenfernsehens gebilligt. Eventuell bestehende rechtliche Hindernisse müssen RIAS-TV wird komplett von der Deutschen Welle geprüft und gegebenenfalls kurzfristig beseitigt wer- übernommen. Mit dem Auslandsprogramm, das im den. Darauf will ich noch einmal deutlich hinwei- nächsten Jahr auf Sendung geht, können zwei Drittel sen. der Weltbevölkerung erreicht werden. In Zukunft ist allerdings bei der Ausweitung des Sendebereichs ein Meine Damen und Herren, noch einen Satz zu der strenger Maßstab anzulegen, nämlich dahin gehend, im Augenblick offensichtlich schwierigen Gewinnung ob sich die hohen Satellitenkosten auch wirklich be- von Angestellten und Beamten für den öffentlichen zahlt machen. Dienst und der auch diskutierten Ballungsraumzu- - lage. Der Bundesinnenminister ist bei den Tarifver- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sehr handlungen für Bund und Länder Verhandlungsfüh- richtig!) rer. Deshalb erlaube ich mir, Herr Seiters, an dieser Dies ist 1993 — ich habe das bei den Beratungen an- Stelle auch einige persönliche Bemerkungen. gekündigt — noch einmal zu überprüfen. Wir müssen Über 12 000 qualifizierte Beamtinnen und Beamte nicht den Ehrgeiz haben, in jedem kleinsten Winkel sind inzwischen in den neuen Bundesländern tätig. der Erde präsent zu sein. Das Verhältnis von Kosten Sie werden dort gebraucht. und Nutzen muß auch hier stimmen. (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: (Beifall bei der FDP) Über 20 000!) Bei den noch ausstehenden Entscheidungen zur — Vielen Dank, Herr Gerster. — Sie fehlen uns aber Rundfunkneuordnung sollten sich auch die Minister- auch hier; daran besteht gar kein Zweifel. Gleichzei präsidenten, die jetzt über die Zukunft von Deutsch- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5155

Ina Albowitz Landfunk, RIAS-Hörfunk und des Deutschlandsenders desregierung die Situation im Herbst kommenden Kultur entscheiden, welche alle in die Zuständigkeit Jahres anders beurteilt, bleibt es ihr unbenommen, der Länder übergehen, von der Maxime der Sparsam- uns einen neuen Vorschlag zu unterbreiten. keit leiten lassen. Die Zuordnung des dann neugebil- (Rudolf Purps [SPD]: Wir bitten darum!) deten Deutschlandsenders zu ARD und ZDF, die der- zeit von den Bundesländern favorisiert wird, muß Vor wenigen Tagen besuchte der Präsident der Rus- nach meiner Ansicht noch einmal überdacht wer- sischen Republik, Boris Jelzin, die Bundesrepublik. den. Ein wichtiges Thema des Besuchs war die Zukunft der Nach Ansicht meiner Fraktion wäre es sinnvoller, RußlandDeutschen und die Gründung einer autono- eine neue unabhängige Rundfunkanstalt zu bilden. men Republik an der Wolga. Wir haben dafür bereits Diese ist eher in der Lage, eigenes Profil und Selbstän- haushaltsmäßige Vorkehrungen getroffen, um im digkeit zu gewinnen und somit flexibler zu arbeiten Jahr 1992 die wichtigsten Investitionen in diesem Ge- als unter der Kontrolle der Mediengiganten. biet mit 100 Millionen DM finanziell zu unterstützen. Daß von diesem Betrag die Hälfte gesperrt ist, weil die (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: We weitere Entwicklung aufmerksam begleitet werden niger Filz!) muß, haben die Kollegen übereinstimmend vorgetra- Diese Lösung dürfte auch kostengünstiger sein. gen. Wir hoffen, daß wir den Menschen, die sich in einer schwierigen Situation befinden, mit unserem Lassen Sie mich an dieser Stelle auch noch eine Engagement eine Perspektive bieten können. Bemerkung zum Finanzgebaren der Bundesländer machen. Obwohl Länder und Kommunen der alten Ich will auch deutlich festhalten, daß wir mit dieser Bundesrepublik in diesem Jahr nur 3 % der finanziel- Politik gleichzeitig die Situation der dort lebenden len Gesamtlasten für die Einheit und im nächsten Jahr russischen Bevölkerung verbessern möchten. nur 2 % tragen, steigen die Etats in diesen Bundeslän- Bereits seit Beginn der Öffnung in den osteuropäi- dern mehr als doppelt so stark wie im Bund, nämlich schen Staaten werden in den Gebieten, in denen genau um 6,7 %. Diese mangelnde finanzielle Solida- Deutschstämmige leben, Hilfsprojekte durchgeführt, rität kritisiert der Bund der Steuerzahler mit der dra- die die Menschen zum Verbleiben bewegen sollen. stischen Bemerkung, daß sich die Altländer aus ihrer Ich danke an dieser Stelle nicht nur allen Organisatio- Mitverantwortung gestohlen haben. nen, sondern ich möchte ausdrücklich auch dem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Staatssekretär Horst Waffenschmidt und seinen Mit- arbeitern Dank aussprechen, die in der Sache außer- Daß sich die Länder mit SPD-Alleinregierungen in ordentlich engagiert sind. dieser Beziehung besonders negativ hervortun, ist keine Überraschung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Rudolf Purps [SPD]: Das ist ja unerhört!) Engagiert hat sich hier u. a. auch der Bund der Ver- triebenen, der manchmal auch durch unüberlegte Äu- Das beweist uns nur wieder einmal, was wir derzeit ßerungen seiner Mitglieder auffällt, von der finanziellen Solidarität der SPD zu erwarten haben. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — bis hin zu öffentlich geäußerten Morddrohungen ge- Rudolf Purps [SPD]: In NRW und Hamburg genüber dem Bundesaußenminister. Ich erwarte, daß klappt das wunderbar! — Weitere Zurufe von sich die Führungsspitze des Bundes der Vertriebenen der SPD) in Zukunft schneller und eindeutiger von solchen Äu- — Ganz ruhig. ßerungen distanziert und nicht erst nach Aufforde- rung. Daß die neuen Länder mit der Übernahme der ge- setzlich verankerten Kulturhoheit und der damit ver- (Beifall bei der FDP, der SPD, der PDS/Linke bundenen Finanzierung derzeit noch große Probleme Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE — Karl haben, verwundert bei der Vielschichtigkeit nicht. Diller [SPD]: Sie haben doch die Mittel auf 1991 stellt der Bund 900 Millionen DM für das Pro- gestockt!) gramm „Substanzerhaltung Kultur" zur Verfügung. — Das ist nicht wahr; das sollten Sie nachlesen. — Im Jahre 1992 sind im Etat dafür 600 Millionen DM Ansonsten wird die Arbeit vieler Verbandsmitglieder, veranschlagt. die sich ernsthaft für die Aussöhnung mit unseren öst- Auf dringende Bitte der Ministerpräsidenten der lichen Nachbarn einsetzen, schwer belastet. - neuen Bundesländer, die uns überzeugend dargelegt Meine Damen und Herren, die Veränderungen in haben, daß sie mit diesen 600 Millionen DM nicht aus- Europa haben auch eine Neuorganisation des Bun- kommen, haben wir im Nachtragshaushalt 1991, den desgrenzschutzes notwendig gemacht. Auf Grund des wir ja morgen verabschieden, weitere 180 Millionen Wegfalls der Aufgaben an der innerdeutschen Grenze DM für die Stiftung Kulturfonds bereitgestellt. Diese werden erhebliche Umstrukturierungen notwendig. Mittel können dann von der Stiftung im Jahre 1992 Recht sonderbar erscheint es mir jedoch, wenn der bewirtschaftet werden. BGS-Standort Hünfeld in Hessen, der nach den bei- Der Titel insgesamt — das ist richtig — ist von uns den von einer Arbeitsgruppe des BMI erstellten Mo- für den Haushalt 1993 „kw" gestellt worden. Das Ver- dellen nicht nur erhalten bleiben, sondern sogar auf- fassungsgericht gibt uns mit Blick auf die Länderho- gestockt werden sollte, jetzt nun doch geschlossen heit ja auch keine andere Möglichkeit. Wenn die Bun- werden soll. Statt dessen bleibt der Standort im be- 5156 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Ina Albowitz nachharten Fulda, der nach beiden Konzepten aufge- Ina Albowitz (FDP): Ich bin beim letzten Satz, Herr löst werden sollte, offensichtlich erhalten. Präsident. Ich fordere den Innenminister auf, die Gründe dar- Die FDP-Fraktion erteilt den Einzelplänen des In- zulegen, warum er sich in so auffälliger Weise über die nenministeriums, der Zivilen Verteidigung und der Empfehlung der Expertenkommission hinwegsetzt. Versorgung die Zustimmung. Es wird hoffentlich, Herr Bundesinnenminister, dafür Vielen Dank. triftigere Gründe geben, als den, daß der Ehrenvorsit- zende der CDU/CSU-Fraktion, Dr. Dregger, dessen (Beifall bei der FDP) Wahlkreis rein zufällig Fulda ist, ein Abschiedsge- schenk erhält. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Abge- (Rudolf Purps [SPD]: Na also! Ganz zufällig! ordnete Jelpke. — Dieter Wiefelspütz [SPD]: Aha! — Dr. Wal ter Franz Altherr [CDU/CSU]: Frau Kollegin, Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! das ist nicht mehr aktuell!) Meine Damen und Herren! Der Einzelplan 06 ist ein — Meine Damen und Herren, das Problem ist wirklich herausragendes Beispiel dafür, daß sich die Bundes- zu ernst. — Wenn Herr Dr. Dregger hier seinen politi- republik daranmacht, Europa und speziell Osteuropa schen Einfluß nutzt, um eine sachgerechte Entschei- nach ihren Vorstellungen umzugestalten. dung zu kippen, darf man sich über die zunehmende (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Was Politikverdrossenheit der Bürger nicht wundern. ist daran schlecht, Frau Kollegin?) (Beifall bei der FDP, der SPD und dem Bünd Ende Oktober zitierte der damalige Innenminister nis 90/GRÜNE) Schäuble die zuständigen Minister aus 28 europäi- Wundern muß ich mich nur, daß der für seinen Prag- schen Ländern in das Reichstagsgebäude nach Berlin. matismus bekannte ehemalige Innenminister in die- Offiziell sollten gemeinsame Vorstellungen entwik- ser Angelegenheit so nachgiebig war. kelt werden, wie die Ost - West - Migration in den Griff zu bekommen sei. Praktisch ging es darum, den ande- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Erstaunlich!) ren deutsche Ansprüche zu verklickern. Bisherige na- Herr Bundesinnenminister Seiters, ich erwarte von tionale Gesetze sollten den deutschen Ansprüchen Ihnen als Chef des Hauses eine umgehende Klarstel- angepaßt werden. lung in der Sache; denn die uns vorliegenden Kon- Nach dem Berliner Treffen fragte sich der sowjeti- zepte sehen anders aus. Ich glaube nicht, daß wir es sche Innenminister, ob er auf einer Veranstaltung von zulassen sollten, die Kleinstadt Hünfeld wegen eines Politikern oder von Polizisten gewesen sei. Herr politischen Versprechens in eine schwere Struktur- Schäuble unterstrich nicht ohne Stolz, mit den Rumä- krise zu stürzen. nen habe die Anpassung ihrer Gesetze intensiv be- (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) sprochen werden müssen. Es ist also keineswegs so, daß die Bundesregierung Im Bereich der zivilen Verteidigung ist die Auswei- gezwungen ist, Maßnahmen im Bereich des Asyl- tung der Organisation des Technischen Hilfswerks rechts oder der inneren Sicherheit auf Grund europäi- auf die neuen Bundesländer in vollem Gange. Dabei schen Drucks auszuführen. Genau andersherum wird wird der veränderten Sicherheitslage in Europa Rech- ein Schuh daraus. Diese deutschen Vorgaben für Eu- nung getragen. ropa schlagen sich in diesem Haushalt deutlich nie- Das Konzept der Bundesregierung zur Neustruktu- der. rierung der Zivilen Verteidigung bzw. des Bundes- Der Bundesgrenzschutz beispielsweise wird mit fast verbandes für den Selbstschutz wird im kommenden 2 Milliarden DM bedacht. Der Löwenanteil des Haus- Jahr verabschiedet. Die von der Rückführung des haltstitels „Innere Sicherheit" geht damit an eine Or- Bundesverbandes für den Selbstschutz betroffenen ganisation, die ursprünglich ihre Legitimation aus- hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter müs- schließlich aus der Existenz der DDR und des Ost- sen bald wissen, ob sie von anderen Zivilschutzorga- blocks gezogen hat. nisationen übernommen werden können. Wir sollten das in diesem Hause nachdrücklich unterstützen. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Wo leiten Sie denn Ihre her?) Meine Damen und Herren, danken möchte ich an Vor wenigen Tagen verabschiedete dieser Bundestag dieser Stelle allen Mitarbeitern des BMI in Bonn, den - Außenstellen und den nachgeordneten Behörden. Sie gegen alle verfassungsrechtlichen Bedenken des haben ein schwieriges Jahr bewältigen müssen. Auch Bundesrates und Teilen der SPD ohne Debatte ein das kommende Jahr wird nicht leicht. Das Parlament Bundesgrenzschutzgesetz, mit dem die Umwandlung weiß Ihre Arbeit zu würdigen und baut auch in Zu- der Grenzschutztruppe in eine paramilitärische Bun- kunft auf Sie. despolizei abgeschlossen wird. Diese Truppe wird umorganisiert und erhält neue Aufgaben bei Schutz (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der und Kontrolle von Flughäfen und Bahnhöfen. Eine SPD) Hauptaufgabe des neuen BGS neben dem Schutz der Ostgrenzen vor angeblichen Flüchtlingsströmen be- steht dann darin, die in Europa hin und her geschobe- nen Flüchtlinge datenmäßig zu erfassen, sie zu kon- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- trollieren, abzuschieben und möglichst auch die letz- zeit ist schon ein gutes Stück überschritten. ten Schlupflöcher dichtzumachen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5157

Ulla Jelpke Ich wiederhole es: 2 Milliarden DM für eine Truppe, en in den Aussiedlungsgebieten, die die Autonomie- die die europäische Asylpolitik im Inneren absichern und Selbstverwaltungsmöglichkeiten der deutschen soll. Zu dieser Umsetzung angeblich europäischer Minderheiten stärken". Verpflichtungen müssen noch die Finanzierung der Meine Damen und Herren, angenommen, die hier Europäischen Rauschgiftzentrale und die Zuarbeit zu lebenden Immigranten würden auch nur annähernd dem sogenannten Schengener Informationssystem hinzugerechnet werden. Auch dieses Datennetz dient so weitgehende Forderungen 'tack Selbstbestimmung ausschließlich der europäischen Erfassung und Kon- und Minderheitenrechten stellen, wie dies die Deut- trolle von Flüchtlingen und Asylbewerberinnen. „Da- schen in aller Welt mit Unterstützung der Bundesre- tennetz" hört sich ganz billig an, ist es aber nicht. gierung tun: Wie müßte dieser Haushalt dann ausse- hen? Wo sind die Haushaltstitel für türkisch-, kur- Das Bundeskriminalamt — Steigerung im Haus- dischsprachige Radio- und Fernsehstationen, über die haltsansatz fast 36 Millionen DM — richtet ein neues die Betreffenden selbst verfügen können? Wo sind die automatisches Fingerabdrucksystem ein. Alleine für Gelder für Einrichtungen, in denen die Immigranten dieses System müssen über 13 Millionen DM in die- und Flüchtlinge ihre Traditionen bewahren, leben sem Haushalt lockergemacht werden. Insgesamt be- und entwickeln können? tragen die Beschaffungskosten des Systems 78 Millio- nen DM. Das erste Teilsystem zur Bearbeitung der Nur zur Erinnerung: Ihnen werden in der Bundes- Fingerabdruckblätter soll für Asylantragstellerinnen republik immer noch nicht elementarste Bürgerrechte installiert werden. zugestanden. Vergebens sucht mensch in diesem Haushalt deutliche Signale dafür, daß innenpolitisch Fast 48 Millionen DM sind für die Datenverarbei- abgerüstet wird zugunsten der Konzentration auf so- tung beim Bundeskriminalamt insgesamt angesetzt, ziale Probleme, beispielsweise für die menschenwür- ein Großteil für sogenannte präventive Aufgaben. Mit dige Unterbringung der Asylbewerberinnen und diesen präventiven Aufgaben wurden in den letzten Flüchtlinge. Im Freistaat Bayern z. B. wird vom Sozial- Jahren gebetsmühlenartig die Befugniserweiterun- ministerium von einer Familie mit zwei Kindern eine gen und Haushaltserhöhungen für die Polizei begrün- Gebühr von 702 DM für ein 15 m2-Zimmer verlangt — det. Wenn es heute allerdings etwas gibt, was die dazu noch in einer ehemaligen Kaserne, in der weitere Sicherheit eines großen Teils von Bürgerinnen be- 500 Asylbewerberinnen untergebracht sind. droht, dann sind es neofaschistische und rassistische Angriffe auf ausländische Mitbürgerinnen. Exakt in Ein deutliches Signal setzt der Haushalt dagegen dieser Frage erklärt sich das Bundeskriminalamt beim Problem der Reintegration noch hier lebender selbst für hilf- und ratlos. Es hat sich als völlig un- AusländerInnen. Vom Haushaltsausschuß wurde der brauchbares Werkzeug in der Situation erwiesen, in ursprüngliche Ansatz von 5 Millionen DM auf 14 Mil- der Leib und Leben von ausländischen Mitbürger In- lionen DM erhöht. Diese Reintegrationsprogramme nen tatsächlich massenhaft bedroht waren. sind Bestandteil der Umsetzung der Flüchtlingskon- zeption der Bundesregierung vom September 1990. Ausbau des Verfassungsschutzes, Ausbau des Bun- Dabei handelt es sich im wesentlichen um eine vor- deskriminalamtes, Um- und Ausbau des Bundes- nehmere Variante der Ausländer-raus-Politik. grenzschutzes und Erweiterungen der Bereitschafts- polizeien, kurz: Vorrang der polizeilichen inneren Si- Das nordrhein-westfälische Roma-Reintegrations- cherheit vor Sicherung der sozialen und ökonomi- programm wird von den Betroffenen als erpreßte schen Stabilität und Sicherheit für die Menschen hier. Wahl zwischen der Pest der notdürftig finanzierten So lassen sich die Eckpfeiler dieses Einzelplans be- Rückkehr und der Cholera der Ausweisung bezeich- schreiben. Aussonderung und Ausgrenzung der Aus- net. länderinnen werden hier festgeschrieben. Die Mög- Meine Damen und Herren, die besonderen Schwie- lichkeiten ihrer Sonderbehandlung werden in diesem rigkeiten in den neuen Bundesländern in sozialer und Haushalt finanziell abgesichert. ökonomischer Hinsicht werden zum Vorwand genom- Abgesichert und auf ein völlig neues Niveau geho- men, um soziale, politische und kulturelle Rechte in ben werden aber auch die Interessen der Deutschen der ganzen Bundesrepublik abzubauen und einzu- — wie schon von meinen Vorrednern angekündigt — schränken. im Ausland, vor allem natürlich in den ehemaligen Auch die kleinliche Abrechnung mit der ehemali- Ostblockländern. Ganz aktuell ließ der Innenaus- gen DDR ist noch lange nicht vorbei. Sie wird als schuß in den Haushaltsentwurf einen Titel einfügen Druckmittel auch weiterhin eine Rolle spielen: durch —ich zitiere — „Leistungen im Zusammenhang mit politische Überprüfungen in Ost und West, durch-v- Kür- dem Aufbau der Republik der Deutschen an der zungen und Aberkennungen von Renten- und Eigen- Wolga". Und dafür gibt es 100 Millionen DM. Das tumsansprüchen, durch Verweigerung der sozialen kann ich überhaupt nicht verstehen. Weder die dort und politischen Gleichberechtigung einzelner sowie lebenden Menschen noch die in der Sowjetunion le- der Parteien in Ost und West. benden Bürger deutscher Abstammung wissen, ob und wie diese Wolga-Republik konstruiert werden (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Wel kann oder soll. cher Parteien?) Über 90 Millionen DM gibt es darüber hinaus zur Das kleinliche Hin- und Hergeschiebe eines Antrages Unterstützung von Deutschen in Aussiedlungsgebie- der PDS auf Förderung einer parteieigenen Stiftung ten. Hinzu kommen noch die im Sommer letzten Jah- zwischen Haushaltsausschuß und Innenministerium res beschlossenen Sonderausgaben von 200 Millionen ist ein winziges, aber bezeichnendes Beispiel für die DM zur Unterstützung aller — ich zitiere — „Initiati Politik der Aberkennung. 5158 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Ulla Jelpke Statt auf die Situation in Europa mit radikaler Abrü- ses Urteil zum erstenmal etwas vorgegeben hat, was stung der Instrumente der inneren Sicherheit zu rea- es für die alte DDR bis jetzt noch nicht gibt, nämlich gieren, wird die Situation in den neuen Bundeslän- eine Kriegsfolgelastenregelung. Ohne eine solche dern zum Anlaß genommen, neue Feindbilder, neue werden wir keine Klarheit in die Eigentumsfragen Bedrohungsanalysen aus dem Ärmel zu zaubern. Der bekommen, sondern werden weiter mit so unsinnigen Entwurf liefert die innenpolitische Basis für die Groß- Stichtagen wie dem 18. Oktober 1989 — Ablösung machtansprüche der Bundesrepublik in Richtung Honeckers, die mit Eigentumsrecht überhaupt nichts West- und Osteuropa. Deswegen geben wir diesem zu tun hat — leben müssen, statt mit echten Stichta- Haushalt nicht unsere Zustimmung. gen, nämlich dem Kriegsende und dem Ende der (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von DDR, beginnend mit dem 9. November 1989 und en- der CDU/CSU: Gott sei Dank! — Johannes dend mit dem 3. Oktober 1990, zu operieren. Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das Land wird Meine dritte Bemerkung gilt der Drucksache das gut aushalten!) 12/1669. Es handelt sich um einen Änderungsantrag der Gruppe Bündnis 90 zum Einzelplan 06 betreffend Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- den Sonderbeauftragten für Unterlagen des ehemali- ordnete Dr. Ullmann. gen Staatssicherheitsdienstes. Wir ziehen diesen Antrag zurück. Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe zu (Uta Würfel [FDP]: Sehr gut! — Zurufe von zwei Anträgen der Gruppe Bündnis 90 Stellung zu der SPD: Sehr gut!) nehmen und Ihnen noch eine zusätzliche Bemerkung, die hierhergehört, vorzutragen. Das hat mit den Argumenten zu tun, die Frau Kollegin Ich beginne mit dem Antrag auf Drucksache Albowitz hier vorgetragen hat 12/1668 und bitte Sie dringend um Zustimmung zu (Beifall bei der FDP) unserem Änderungsantrag. Meine Damen und Herren, im deutschen Vereini- und die in meinen Augen wirklich plausibel sind. gungsprozeß sind wir in große Schwierigkeiten gera- Aber noch viel wichtiger ist für mich, was der Son- ten, weil wir uns gegen Rechtszerstörung in der De- derbeauftragte Gauck selbst im Unterausschuß ge- mokratie nicht energisch genug abgegrenzt haben. stern vorgetragen hat. Er hat nämlich seine Lage so Hätten wir hier eine klarere Richtung eingeschlagen, geschildert, daß er im Augenblick nicht einmal die hätte nicht das eintreten können, was jetzt eingetreten vorhandenen Stellen besetzen kann. Ich kann es mir ist: daß die Frage der Verfassung im Einigungsprozeß politisch schlecht vorstellen, im Bundestag einen An- als letzte behandelt wird; wir werden ja heute nach- trag einzubringen, der in Widerspruch zu den klaren mittag darüber zu reden haben. Das darf uns in Eu- Aussagen des Sonderbeauftragten selbst steht. Darum ropa nicht noch einmal passieren. ziehen wir diesen Antrag zurück. Er basierte einfach Darum bitte ich Sie, es sehr ernst zu nehmen, wenn auf einem ungenügenden Informationsstand, freilich wir vorschlagen, im Einzelplan 06 die Titelgruppe 03 auch auf einer Berichterstattung — das muß man nun zu streichen, weil hier unserer Meinung nach eine in der Öffentlichkeit einmal sagen — , die darauf hin- gefährliche Präjudizierung auf die sich erst in ganz auslief, daß die vom Sonderbeauftragten beantragten unklaren Umrissen abzeichnende europäische Ver- 2 651 Stellen gestrichen seien. Es muß ganz klar fest- fassung vorgenommen würde. Ich kann mir nicht vor- gestellt werden: Der Sonderbeauftragte braucht diese stellen, daß es politisch positiv ist, daß ausgerechnet Stellen. eine deutsche Zentralstelle, die sich mit Kriminalität zu befassen hat, hier eine Vorreiterrolle spielen soll. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!) Das hielte ich nun für ein ganz falsches politisches Signal. In dem Moment, wo der Fall eintreten sollte, daß er diese Stellen nicht bekommt, werden wir als Opposi- Jetzt komme ich zu meiner zweiten Bemerkung, die tion selbstverständlich auf dem Plan sein; aber bei sich auf einen anderen Fall mangelnder Entschieden- dem augenblicklichen Stand der Angelegenheit muß heit bei der Abwehr von Rechtsbruch und Rechtszer- ich sagen, ich hätte als Haushälter auch Hemmungen, störung bezieht. Ich möchte Sie darauf aufmerksam auf einen Ritt 2 650 Stellen zu genehmigen; das ist machen, daß die — vom Bundesminister der Justiz haushaltstechnisch wirklich sehr schwierig. auch angesprochene — Nichtregelung der Eigen- - tumsfragen in der alten DDR mittlerweile ein Thema Ich sage aber noch einmal ausdrücklich: Der Son- von innenpolitischer Brisanz geworden ist. Es ist jetzt derbeauftragte braucht diese Stellen, und es wird von nicht der Ort, hier die rechtlichen Voraussetzungen unserer Seite keine Zustimmung geben, wenn etwa und Einzelheiten vorzutragen. Aber ich denke, es be- der Versuch gemacht werden sollte, von einer qualifi- darf keiner weiteren Erklärungen, daß die gesetzli- zierten zu einer restriktiven Sperrung überzugehen. chen Regelungen der Anlage IX zum Staatsvertrag, Das ist nicht mit unserer Zustimmung zu haben; denn, die Gemeinsame Erklärung der Regierungen, An- meine Damen und Herren, noch immer geht es darum, lage III zum Einigungsvertrag, und die Folgegesetze daß wir meiner Meinung nach noch nicht entschieden nicht das gebracht haben, was sie leisten sollten. genug mit der Nichtaufklärung des Unrechts gebro- Der erste Schritt auf sichereren Boden ist das Urteil chen haben. Das Unrecht ist noch nicht bereinigt; aber des Bundesverfassungsgerichts vom Frühjahr dieses es wäre eine ganz schlechte Politik in unserem Lande, Jahres. Warum, meine Damen und Herren? Weil die hier Anträge zu stellen, die in Widerspruch zu den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5159

Dr. Wolfgang Ullmann Aussagen des Sonderbeauftragten selbst stehen. — geht um einen Teil, der in der Öffentlichkeit nicht mit Danke. dem notwendigen Bewußtsein wahrgenommen wird: (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei um den zivilen Bevölkerungsschutz, um den Schutz Abgeordneten der CDU/CSU) vor Katastrophen in Friedenszeiten, im Grunde um Situationen, die wir uns gar nicht vorstellen können, weil wir glauben, nur hinten in der Türkei, aber nicht Zu einer Kurzinterven- Vizepräsident Hans Klein: bei uns könnten ein industrieller Unfall oder eine Na- tion Frau Abgeordnete Albowitz. turkatastrophe noch auftreten.

Ina Albowitz (FDP): Herr Kollege Ullmann, ich er- Ich möchte in drei Punkten ein wenig zu diesem lebe jetzt etwas, was ich in diesem einen Jahr, seit ich Einzelplan 36 sagen, der sicher zu den kleineren ge- im Deutschen Bundestag bin, noch nicht erlebt habe: hört und dem Steuerzahler nur fast 1 Milliarde DM daß man Abgeordnete wirklich durch Argumente, die — aber immerhin 1 Milliarde DM — wert ist. hier im Parlament vorgetragen worden sind, so über- zeugen kann, daß sie einen Antrag zurückziehen. Herr Bundesminister Seiters, Sie haben von Ihrem Vorgänger ein Konzept für den Zivilschutz übernom- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten men, über das zu diskutieren sein wird. Meine Bitte der CDU/CSU) ist, daß wir über dieses Konzept sehr bald in eine Dis- Ich finde, das ist ein erfreulicher Vorgang. Ich möchte kussion insbesondere im zuständigen Fachausschuß, mich bei Ihnen und der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE im Innenausschuß, kommen, damit wir bei der näch- ausdrücklich herzlich bedanken. — Vielen Dank. sten Haushaltsberatung die konkreten haushälteri- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schen Konsequenzen ziehen können. der CDU/CSU) Das bedeutet ganz konkret, daß wir etwa beim Bun- desverband für Selbstschutz wissen müssen und wis- Vizepräsident Hans Klein: Theoretisch, Herr Ull- sen wollen, wie es dort weitergeht. Der Bundesver- mann, können sie noch erwidern. band für Selbstschutz hat nicht die Akzeptanz, die er nach seiner eigentlichen Aufgabenstellung haben Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Ich müßte. Er hat die Öffentlichkeit über die Notwendig- glaube, Herr Vorsitzender, was ich zu sagen hatte, keit zu informieren, sich bewußt zu sein, daß es auch habe ich gesagt. im Haushalt, im Beruf, im Zivilleben Katastrophen (Beifall) geben kann. Ein Erfolg des BVS in dieser Hinsicht ist nicht erkennbar. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- ordnete Dr. Uelhoff. Deshalb müßte die Konsequenz gezogen werden, daß die notwendige Aufgabe beibehalten, aber dafür vielleicht eine andere Organisationsform gewählt Dr. Klaus-Dieter Uelhoff (CDU/CSU): Herr Präsi- wird. Jedenfalls sollten wir darüber in den nächsten dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch Monaten im Gespräch bleiben. ich wollte dem Kollegen Ullmann für seine Redlichkeit danken. Aber damit er nicht übermütig wird, möchte Ich möchte einen weiteren Punkt aufgreifen, den ich es bei dieser Bemerkung belassen. ich auch vor dem Hintergrund für ganz wichtig halte, (Zuruf von der CDU/CSU: Er läuft auch daß die beiden Teile unseres Landes zusammenwach- schon weg!) sen und vergleichbare Situationen auch in den fünf Herzlichen Dank dafür, daß Sie aus einer Diskussion neuen Bundesländern eintreten. Dabei geht es um den ganz konkrete Konsequenzen ziehen. Aufbau eines funktionsfähigen erweiterten Kata- strophenschutzes in den neuen Bundesländern. Für Kollegin Albowitz, Sie wissen, ich schätze Sie sehr den erweiterten Katastrophenschutz sollen 1991 bis als Kollegin und Mitstreiterin für den Einzelplan 06 zu 80 Einheiten eingerichtet werden. Für 1992 sind im und 36. In einem Punkt allerdings möchte ich Ihnen Etat 85 Millionen DM für die Aufstellung von weiteren doch widersprechen. Ich halte es nicht für legitim, Brandschutzzügen mit 240 Fahrzeugen und von einem Kollegen — in diesem Falle dem früheren Bun- 80 Betreuungszügen bereitgestellt. Den Ländern und desinnenminister — aus dem in freier Rede gespro- den Kommunen steht die vom Bund im Rahmen des chenen Wort „herumschlagen" hier in der Weise ei- Zivilschutzes beschaffte Ausrüstung für den friedens- nen Vorwurf zu machen, wie Sie es getan haben. mäßigen Katastrophenschutz und die Gefahrenab- (Beifall bei der CDU/CSU] wehr bei Naturkatastrophen und industriellen Groß- Ich bin überzeugt, daß sich der Kollege Schäuble bei unfällen unentgeltlich zur Verfügung. Etwa ein Drittel dem Bemühen, Handlungsethik und Gesinnungs- der so beschafften Bundesausstattung entfällt auf den ethik miteinander zu vereinen, von niemandem in die- Brandschutz und damit im wesentlichen auf die Frei- sem Haus übertreffen lassen wird. willige Feuerwehr, der Rest auf die Sanitätsorganisa- tionen, wie etwa das Deutsche Rote Kreuz und auf das (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der Technische Hilfswerk. Dies gilt auch für sechs von der SPD) Bundeswehr im Zuge der Abrüstung nicht mehr benö- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die ge- tigte Hubschrauber, die nach ihrem Umbau in fünf ringe Zeit, die mir zur Verfügung steht, möchte ich Luftrettungsstationen eingesetzt werden sollen. benutzen, um Ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema zu lenken, das aber doch zu dem großen Ge- Ein ganz erfreuliches Zeichen in den neuen Bundes- schäftsbereich des Bundesinnenministers gehört. Es ländern ist, daß sich die freiwilligen Helfer in großer 5160 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Zahl für den Aufbau des erweiterten Katastrophen- sorge und Schutz vor Katastrophen eben nicht nur in schutzes zur Verfügung stellen. dem unwahrscheinlich gewordenen Verteidigungs- fall, sondern im täglichen Leben — zu Hause und im Beim Technischen Hilfswerk sind die Mittel für In- landseinsätze verstärkt und ist ein Ansatz für Aus- Beruf, bei Naturkatastrophen und bei großen Unfäl- landseinsätze geschaffen worden. Die vorbildlichen len. Leistungen der Helfer des Technischen Hilfswerks Das vom Bundesinnenminister vorgelegte Konzept und der anderen Katastrophenschutzorganisationen, sollte unverzüglich diskutiert werden und Grundlage insbesondere des Deutschen Roten Kreuzes, im In- des nächsten Haushaltsplanes sein. land und Ausland sind bekannt. Ein Großteil der Hil- Ich möchte ausdrücklich dem bisherigen Bundes- fen für Osteuropa, Armenien oder die kurdischen innenminister Schäuble für sein Engagement im zivi- Flüchtlinge im Irak wäre ohne die Unterstützung der len Bevölkerungsschutz danken und Ihnen, Herr Bun- anderen Hilfsorganisationen durch das Technische desminister Seiters, unsere Kooperation anbieten, Hilfswerk kaum in dieser Form möglich gewesen. wenn es darum geht, das Konzept des Zivilschutzes, (Beifall der CDU/CSU) das Ihr Haus vorgelegt hat, auf den Weg zu bringen. Ein herzliches Glückauf für Ihre Arbeit! Wir wollen deshalb die Planungen und Erkundungs- missionen des THW im Einzelplan 36 absichern, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eigentlichen humanitären Hilfsaktionen aber nach wie vor aus dem Etat des Auswärtigen Amtes finan- zieren. Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter Gün- Ich möchte an dieser Stelle allen Hilfsorganisatio- ter Graf, Sie haben das Wort. nen, ihren höchst sachkundigen hauptamtlichen und den vielen, vielen tausend ehrenamtlichen Mitarbei- tern für ihre erfolgreiche Arbeit für den Zivilschutz in Günter Graf (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolle- unserem Land und im Ausland ein herzliches Danke- ginnen und Kollegen! Sicherlich ist der Haushaltsplan schön sagen. des Bundesministers des Innern nicht das Herzstück (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des Haushaltsgesetzes 1992. Aber ich denke, bei ge- nauer Betrachtung wird auch hier sehr deutlich, daß Der BVS soll sich — ich habe dazu bereits einiges die Bundesregierung den tatsächlichen Ansprüchen gesagt — künftig im wesentlichen auf planerische und Herausforderungen der Gegenwart insbesondere Maßnahmen beschränken. Seine ehrenamtlichen vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Eini- Helfer, immerhin fast 2 000 an der Zahl, sollten für gung nicht gerecht wird. andere Aufgaben des Selbst- und des Zivilschutzes gewonnen werden. Das hauptamtliche Personal, im- Lassen Sie mich in meinem kurzen Beitrag nur auf merhin fast 800 Personen, sollte unter Berücksichti- zwei Aspekte der Innenpolitik eingehen: zum einen gung der sozialen Belange drastisch reduziert wer- auf den Aspekt der inneren Sicherheit und zum zwei- den. Ich unterstelle, daß im Geschäftsbereich des Bun- ten auf den hier schon mehrfach angesprochenen desinnenministeriums sehr großer Personalbedarf be- Aspekt des Zivil- und Katastrophenschutzes. steht. Bei gutem Willen auf beiden Seiten muß nie- Ich denke, wir stimmen überein, wenn ich feststelle, mand den Verlust seines Arbeitsplatzes befürchten. daß es nicht allein Aufgabe der Polizeien und Sicher- Meine sehr verehrten Damen und Herren, zivile heitsorgane von Bund und Ländern sein kann, die Verteidigung und Zivilschutz haben keine Konjunk- innere Sicherheit für alle Bürgerinnen und Bürger tur, gerade weil wir alle viel zu schnell geneigt sind, dieses Landes — ich betone: für alle Bürgerinnen und die beklemmenden Bilder aus den israelischen Bürger — jederzeit zu gewährleisten. Erst wenn die Schutzräumen während des Golfkrieges oder jetzt sozialen und die gesellschaftlichen Voraussetzungen etwa aus Kroation zu verdrängen. Gerade weil dies so in diesem Land geschaffen worden sind, wenn die ist, möchte ich für meine Fraktion ein uneinge- Bürgerinnen und Bürger — insbesondere in den schränktes Bekenntnis zu dieser Staatsaufgabe able- neuen Bundesländern — erleben, daß sie im Arbeits- gen. und im Privatleben eine positive Perspektive haben, können Polizei- und Sicherheitsorgane ihren Beitrag (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ wirkungsvoller als bisher leisten. CSU) Die Kriminalität — nicht nur in den neuen Län- Auch wenn wir gegenwärtig z. B. beim Schutzraum dern — steigt in dramatischer Weise an. Parallel- dazu bau im wesentlichen nur noch die aus den Vorjahren nimmt die Zahl der aufgeklärten Fälle in beängstigen- eingegangenen Verpflichtungen erfüllen, bleibe ich der Weise ab. Bei den Bürgerinnen und Bürgern unse- davon überzeugt: Eine glaubwürdige Zivilverteidi- res Landes stellt sich ein Gefühl von der Ohnmacht gung kommt auch ohne einen baulichen Mindest- der Sicherheitsorgane ein. schutz in der Zukunft nicht aus. Die Beispiele der Auch die zunehmende Gewaltbereitschaft, insbe- Schweiz und Schwedens, die seit Jahrzehnten von sondere vor dem Hintergrund einer erschreckend zu- Kriegen verschont blieben, dürfen wir nicht aus den nehmenden Ausländerfeindlichkeit, kennzeichnet Augen verlieren. das Bild der inneren Sicherheit in diesem Lande. Ich Wir sollten uns über die Bedeutung des Zivilschut- bitte hier mit allem Nachdruck noch einmal darum zes in Friedenszeiten ein stärkeres Bewußtsein bilden und fordere dazu auf: Lassen wir die unsägliche Dis- und hierzu auch in unserer Öffentlichkeit ein stärke- kussion um die Änderung des Art. 16 des Grundgeset- res Bewußtsein herausfordern; denn es geht um Vor zes! Das, was wir damit erreichen, ist nichts anderes, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5161

Günter Graf als daß wir Ausländerfeindlichkeit schüren und den Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich Rechtsextremisten den Nährboden schaffen. auf einen weiteren Punkt kurz eingehen. Wiederholt wurde die Bundesregierung, und nicht nur seitens der (Beifall bei der SPD, der FDP und dem Bünd SPD-Bundestagsfraktion, darauf hingewiesen, daß nis 90/GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: die Berliner Polizei weder personell noch organisato- Sie verwechseln Ursache und Wirkung!) risch in der Lage ist, sämtliche Verfahren der soge- Die Tatsache, daß sich in vielen Städten und Gemein- nannten Regierungs - und Vereinigungskriminalität den so etwas wie Bürgerwehren gebildet haben, muß zu bearbeiten. jeder verantwortliche Politiker und jede verantwortli- (Dr. Willfried Penner [SPD]: Hört! Hört!) che Politikerin mit gemischten Gefühlen aufneh- men. Die Überlastung der Berliner Polizei hat inzwischen zur Stillegung von etwa 25 Großverfahren mit einem (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Schadensumfang von ungefähr 460 Millionen DM ge- FDP) führt. 46 weitere Verfahren mit einem Schadensum- Ich denke, Kolleginnen und Kollegen, es kann nicht fang von etwa 283 Millionen DM wurden ohne An- sein, daß man Laien zumutet, Aufgaben zu überneh- klage ganz und gar eingestellt. Wegen der fehlenden men, die der Polizei zukommen. Ermittlungskapazität drohen ein nicht zu vertretender Beweismittelverlust, die Verjährung vieler Straftaten (Beifall bei der SPD, der FDP und dem Bünd sowie schwere Vermögensausfälle zum Nachteil des nis 90/GRÜNE) Bundes und einzelner Geschädigter. Es stellt sich für mich die Frage, warum sich der bis Sicherlich wäre der Bundesfinanzminister dankbar vor wenigen Tagen amtierende Bundesinnenminister dafür, wenn er einige 100 Millionen DM mehr in die Dr. Schäuble geweigert hat, den fast 30 000 Mann Kasse bekommen würde, die durch kriminelle Ma- starken Bundesgrenzschutz in Absprache mit den chenschaften dem Bund entzogen werden. Jedoch Ländern — ich betone ganz deutlich: in Absprache weigert sich der Bundesinnenminister bisher beharr- mit den Ländern — für derartige Aufgaben mitzuver- lich — vielleicht ändert sich das jetzt bei Ihnen, Herr wenden. Wenn die Aussage von Herrn Dr. Schäuble, Kollege Seiters —, bei der Verfolgung der Regie- die er in der 42. Ausgabe des „Spiegel" gemacht hat, rungs- und Vereinigungskriminalität das Bundeskri- zutrifft, wonach der unmittelbare Schutz von Asylbe- minalamt einzuschalten und dafür die notwendigen werbern als einzeldienstliche Tagesaufgabe von Orts- Mittel bereitzustellen. kräften der Landespolizei effektiver und wirtschaftli- cher wahrgenommen werden kann, dann hat er damit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) deutlich bewiesen, daß er die Situation völlig falsch Sofern die Berliner Polizei nicht schnellstens durch einschätzt. Fachleute des Bundeskriminalamtes oder z. B. durch (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Beamte der Zollsteuerfahndung entlastet wird, droht GRÜNE) der Bundesrepublik Deutschland die Gefahr des Ver- lustes von Milliarden von D-Mark. Welch schlimme Durch diese Haltung leistet er möglicherweise einer Auswirkungen die Untätigkeit des Bundesinnenmini- ganz gefährlichen Tendenz in diesem Lande Vor- steriums auf das Rechtsempfinden der Menschen ins- schub, nämlich der, daß unter Deutschen sowie unter besondere in den neuen Bundesländern hat, kann Ausländern ein wachsender Trend zur Selbstjustiz überhaupt nicht abgesehen werden. und zur Selbstbewaffnung festzustellen ist. Dies hat nun fürwahr mit der Gewährung innerer Sicherheit, (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Wider wie ich meine, nichts zu tun. spruch bei der CDU/CSU) Diese Tatsache wird nach meinem Dafürhalten aber — Kolleginnen und Kollegen, regen Sie sich doch bitte auch dadurch unterstrichen, daß seit Jahren ein wah- nicht auf. Hören Sie einmal bis zum Ende zu! Dann rer Boom bei der Zunahme privater Sicherheitsdien- können wir darüber diskutieren. ste festzustellen ist. Knapp 200 000 Beschäftigten in den Sicherheitsunternehmen steht in diesem Lande Sicher lohnt es sich auch, einmal darüber nachzu- ein Personalbestand von Polizeibeamten von 250 000 denken, ob nicht die freigewordenen Kräfte der ver- gegenüber. Ich denke, daß diese Zahlen sehr deutlich kleinerten Dienste in diesem Lande geeignet wären, zeigen, wie dramatisch die Situation tatsächlich ist. diese Aufgabe zu unterstützen, denn ihre Kenntnisse über die alten Seilschaften könnten hier vielleicht- Hier sei nur am Rande angemerkt — und das hat sehr hilfreich sein. etwas mit dem Haushalt zu tun — , daß sich der Um- Vor diesem Hintergrund mahnen wir Sozialdemo- satz der Wach - und Sicherheitsdienste in diesem Lande von 1986 bis heute fast verdoppelt hat. In die- kraten an, daß die Fortschreibung des „Programms sem Jahr rechnen die Unternehmen mit einem Ge- für innere Sicherheit" aus dem Jahre 1974 dringender samtumsatz von 3 Milliarden DM. Dem steht ein Etat denn je geworden ist. Die Fortschreibung dieses Pro- des Bundesministeriums des Innern für die Sicher- gramms und seiner Ergänzung um ein Sofortpro- heitsorgane von 2,7 Milliarden DM gegenüber. gramm „Innere Sicherheit für die neuen Bundeslän- der" ist angesichts der Lage der inneren Sicherheit in (Dr. Willfried Penner [SPD]: Das ist es!) den neuen Ländern dringender denn je geboten. Diese Zahlen sprechen, wie ich meine, eine sehr deut- Insoweit wäre die Bundesregierung bestens bera- liche Sprache. ten, die neuen Bundesländer personell wie auch mate- 5162 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Günter Graf riell beim Ausbau ihrer Sicherheitsbehörden nach Ab- Nicht weniger kritisch, Kolleginnen und Kollegen, sprache mit den Ländern zu unterstützen. ist auch die Auflösung des Grenzschutzkommandos Nord in Hannover zu beurteilen, zumal diese Ent- (Beifall des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]) scheidung im klaren Widerspruch zu der Polizei- Die in den Jäger 90 fehlinvestierten Milliarden wären dienstvorschrift 100 steht. Die acht niedersächsischen hier sicherlich zum Nutzen aller Bürgerinnen und Bür- Grenzschutzabteilungen werden den vier Regional- ger unseres Landes sinnvoller und besser angelegt. behörden — Ost in Berlin, Nord in Bad Bramstedt, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) West in Bonn und Mitte in Kassel — zugeordnet. Wie dies aus polizeitaktischer Sicht und unter dem Ge- Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch auf sichtspunkt polizeilicher Führungsgrundsätze zu be- einen weiteren Komplex der Innenpolitik eingehen, gründen ist, ist mir unbegreiflich. der den Bundesgrenzschutz bet rifft. Der Wegfall der (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sa EG-Binnengrenzen und der deutsch-deutschen gen Sie doch einmal, was Sie wollen!) Grenze macht sicherlich eine Novellierung des Bun- desgrenzschutzgesetzes notwendig. Mit der Übertra- Durch derartige Fehlentscheidungen werden Sicher gung der Aufgaben der Luftverkehrssicherheit und heitsdefizite nicht abgebaut, sondern noch verstärkt. der Bahnpolizei ist ein von uns Sozialdemokraten seit (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Jahren verfolgtes Anliegen in einem ersten Schritt Keine Sprechblasen! Fakten! Sagen Sie doch erfüllt. etwas dazu!) Wenn man sich mit der Neuorganisation des Bun- — Ich würde ja gern noch mehr dazu sagen, aber hier desgrenzschutzes befaßt, können Standortfragen blinkt es schon, zwangsläufig nicht ausgeklammert werden. Hierbei (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sa ist kritisch zu bemerken — ich schließe an das an, was gen Sie doch einmal, was Sie anders machen die Frau Kollegin Albowitz hier gesagt hat —, daß die wollen!) vom ehemaligen Innenminister Dr. Schäuble getrof- und deswegen muß ich jetzt zum Ende kommen. fene Standortentscheidung am Parlament vorbei ge- fällt worden ist. Auch aus haushaltsrechtlicher Sicht — wir sprechen ja über den Bundeshaushalt — ist die Auflösung eines (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Na, mit hervorragender Infrastruktur versehenen Stand- na, na!) orts Hannover nicht zu begreifen, zumal die neu zu Wir hatten keine Möglichkeit, Einfluß zu nehmen. errichtende Regionalbehörde Mitte in Kassel mögli- cherweise mit Millionenaufwand ausgebaut werden (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Na, muß. na, na!) Die Beratung im Innenausschuß in der letzten Sit- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Graf, Sie zungswoche war nach meinem Dafürhalten eine reine sind schon ein gutes Stück über die Zeit! Schauveranstaltung. Alles war festgeklopft.

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie Günter Graf (SPD): Jawohl, schönen Dank, ich haben sich doch gar nicht dafür interes komme zum Ende. — Kolleginnen und Kollegen, ich siert!) gebe die Hoffnung nicht auf, daß der Bundesinnenmi- — Herr Gerster, Sie waren vorher informiert und ha- nister über diese Entscheidung noch einmal sehr ben sich an dieser Schauveranstaltung auch noch be- ernsthaft nachdenkt und sie revidiert. teiligt. Das ist verwerflich. (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Der (Beifall bei der SPD — Johannes Gerster liest hier gnadenlos sein Zeug ab!) [Mainz] [CDU/CSU]: Freizeit habt ihr ge Es ist lohnend, dies noch einmal sehr genau zu über- habt, während wir gearbeitet haben!) prüfen. Wir sollten auch im Innenausschuß — dann aber ohne eine vorabgestimmte Meinung — darüber Noch eines, Herr Gerster — die Kollegin Albowitz erneut nachdenken. hat dies ja sehr deutlich gesagt — : Man muß sich natürlich fragen: Warum wurde, obwohl die Exper- tengruppen eindeutig in beiden Konzepten für den Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Graf, Standort Hünfeld und nicht für Fulda gestimmt haben, bitte! ganz kurzfristig eine anderweitige Entscheidung ge- - troffen, nämlich Hünfeld zu streichen und Fulda zu Günter Graf (SPD): Ich kann leider nichts mehr zum lassen? Komplex Katastrophen- und Zivilschutz sagen. (Zuruf von der CDU/CSU: Ist doch nicht ak (Zuruf von der CDU/CSU: Das war schon tuell!) genug! Das war eine Menge!) Da gilt, denke ich, was hier heute morgen bereits Unsere Meinung dazu ist schon angeklungen. — Ich gesagt wurde: Dies war nichts weiter als ein Ge- bedanke mich. schenk an den jetzigen Ehrenfraktionsvorsitzenden (Beifall des Abg. Dr. Willfried Penner [SPD] Dr. Dregger, der ja aus Fulda kommt. — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ihr (Zurufe von der SPD: Sehr richtig! — müßt in der Opposition mehr arbeiten!) Dr. Willfried Penner [SPD]: Da hat sich Dyba — Herr Gerster, ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir im durchgesetzt!) Innenausschuß wirklich einmal intensiver und nicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5163

Günter Graf immer nur so oberflächlich reden würden. — Vielen — das hat der Kollege Graf gesagt — des Bundes und Dank. der Länder aus den 70er Jahren stammt und bis heute (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ zwar partiell, aber niemals umfassend fortgeschrieben GRÜNE — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/ worden ist, bezogen auf Polizeistärken, Aufgabentei- CSU]: Weniger schwätzen, mehr schaffen!) lung, Polizeirecht, die Organisation, die Laufbahnre- gelungen, die Datenverarbeitungsprogramme usw. Dieses Defizit wird größer. Die Zusammenarbeit der Vizepräsident Hans Klein: Verehrte Kolleginnen Polizeien der europäischen Länder wird nicht dadurch und Kollegen, die Geschäftsführer legen ziemlich erleichtert, daß keine gemeinsame europäische parla- exakt fest, wie sie ihre Redezeit verteilen wollen. Es ist mentarische Kontrolle dafür in Sicht ist. Das sage ich, das Amt des Präsidenten, zu sagen: Jetzt ist Schluß! obwohl das Schreckensgemälde, das Frau Jelpke hier Wenn ich sage „Sie sind schon ein Stück über Ihre gemalt hat, mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Man Redezeit." , dann sollte nicht noch eine Minute dran- muß ja einmal darauf hinweisen, daß das Schengener gehängt werden. — Ich versuche, das bei allen unpar- Abkommen Datenschutzregelungen, gerade im Be- teiisch zu tun. Helfen Sie bitte dem Präsidenten dabei reich der polizeilichen Zusammenarbeit, enthält, die ein bißchen! weit über das europäische Datenstatut hinausgehen (Beifall) — weit darüber hinausgehen! —, und daß wir dort Das Wort hat der Kollege Burkhard Hirsch. eine ausdrückliche Vereinbarung getroffen haben, daß dieser Datenaustausch nur dann stattfindet, wenn die Länder die europäischen Staaten, ihre Daten- (FDP): Herr Präsident! Meine Dr. Burkhard Hirsch schutzvorkehrungen dem Standard des Schengener sehr geehrten Damen! Meine Herren! Ich habe mich Abkommens anpassen. nach den dankenswerten Ausführungen der Kollegin Albowitz nur noch zu Wort gemeldet, um für die In- Aber trotzdem: Beim europäischen Polizeirecht nenpolitiker einige Bemerkungen zum Wechsel in der brauchen wir in einer Demokratie eine parlamentari- Führung des Hauses zu machen. sche Kontrolle, die nicht in Sicht ist. Es fehlt heute die Gelegenheit, das im einzelnen auszuführen. Wir wer- Wir Innenpolitiker der FDP sind dem bisherigen den das nachholen müssen. Bundesinnenminister Schäuble zu Dank verpflichtet. Er hat bei ganz unterschiedlichen politischen Aus- Herr Minister Seiters, Sie haben ein schweres Amt gangspositionen die Zusammenarbeit mit uns ge- übernommen. Wir werden Sie unterstützen und wün- sucht. Wir haben eine vernünftige und menschlich schen Ihnen eine glückliche Hand und eine Zusam- erfreuliche Zusammenarbeit gefunden und in vielen menarbeit über die Grenzen der Koalition hinaus. Problemen gemeinsame Lösungen erzielt: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das stimmt, ja!) im Ausländerrecht, in der Novellierung des Daten- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem schutzes, beim Recht der Nachrichtendienste, zuletzt neuen Bundesminister des Innern, Rudolf Seiters. beim Stasi-Unterlagen-Gesetz. Wir möchten dem bisherigen Innenminister für seine Arbeit insbesondere in diesen Bereichen dan- Rudolf Seiters, Bundesminister des Innern: Herr ken, Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mir im Rahmen dieser Debatte einige kurze Bemer- und wir sind sicher, daß wir diese gute Zusammenar- kungen, nachdem ich vor zwei Tagen das Amt des Bundesinnenministers in einer Zeit des Aufbaus, der beit auch mit dem neuen Innenminister Seiters fort- setzen werden, der uns seit vielen Jahren als Kollege Umorientierung und des Neuanfangs für viele in die- bekannt ist und dem wir für seine schwierige Aufgabe sem Lande übernommen habe. Erfolg und eine glückliche Hand wünschen. Wir sind Zeugen eines historischen Umbruchs, der Es würde mich reizen, noch zu einigen Sachfragen, mit dem Fall der Grenze durch Deutschland auch die insbesondere zu asyl- und einwanderungsrechtlichen Spaltung unseres Kontinents überwinden konnte. Die Regelungen, die miteinander zusammenhängen, Stel- Bundesrepublik Deutschland liegt nicht mehr am lung zu nehmen. Eine rationale Beurteilung der Ein- Rande des freien Westens, sondern im Herzen eines in wanderung in die Bundesrepublik, die ja tatsächlich Freiheit zusammenwachsenden Europas. erfolgt, ist kaum möglich, ohne daß wir uns Klarheit Diese Wende zu Freiheit und Freizügigkeit stellt über die Bedeutung dieser Einwanderung für unsere auch die Innenpolitik in eine neue Verantwortung wirtschaftliche Lage, für unsere Sozialsysteme und für und uns alle miteinander, ob wir im Westen oder im das Verhältnis zu unseren Nachbarn verschaffen. Es Osten des größer gewordenen Deutschlands leben, ist nicht korrekt, wenn wir diese Überlegungen auf vor neue Herausforderungen. Asylbewerber begrenzen und wenn wir Zuwanderun- Es ist das politische Verdienst Wolfgang Schäubles, gen in die Bundesrepublik zwar tatsächlich wollen dem politischen Umbruch in Deutschland mit dem müssen, sie aber aus politischen Gründen nur über Einigungsvertrag das rechtliche Fundament ver- das Asylrecht verwirklichen. schafft zu haben, das die wiedergewonnene staatliche Das andere große Thema ist Europa und die innere Einheit in der Werteordnung unserer freiheitlichen Sicherheit. Wir beklagen schon für den nationalen Gesellschaft verankerte. Diese Ordnung beruht auf Bereich, daß das gemeinsame Sicherheitsprogramm unserem Grundgesetz, das sich im Rahmen des Eini- 5164 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Bundesminister Rudolf Seiters gungsprozesses wie auch seit Bestehen der Bundesre- fung einer leistungsfähigen rechtstaatlichen öffentli- publik Deutschland insgesamt voll bewährt hat. chen Verwaltung im Rahmen einer Verwaltungshilfe durch Bedienstete — bei mir steht die Zahl von (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie 15 000; vielleicht können wir uns darauf verständi- bei Abgeordneten der SPD) gen — des öffentlichen Dienstes aus Bund, Ländern Sicher gibt es heute einen, wie ich meine, begrenz- und Gemeinden, die Dienst in den neuen Ländern tun. ten Bedarf zur Überprüfung, Änderung und Ergän- Ich denke, ich sollte hinzufügen, daß diese Bedienste- zung unserer Verfassungsnormen angesichts der Her- ten mit ihrem Engagement die immer wieder aufle- stellung der deutschen Einheit, tiefgreifender Verän- benden Pauschalangriffe gegen unseren öffentlichen derungen der weltpolitischen Lage und der jetzigen Dienst ebenso nachhaltig widerlegen wie diejenigen Stellung Deutschlands in der Welt. Darüber werden Mitarbeiter in den abordnenden Dienststellen, die wir im Verfassungsausschuß zügig, gründlich und wegen der Tätigkeit ihrer Kollegen im Osten jeden- auch konstruktiv miteinander beraten. falls hier und da Mehrleistungen erbringen müssen. Aber ich füge — aus meiner Sicht — hinzu: Ange- Gerade die jetzige Phase zeigt die besondere Ver- sichts der Tatsache, daß es sich bei unserem Grund- antwortung des öffentlichen Dienstes für die Ver- gesetz ja wohl unstreitig um die beste und freiheit- wirklichung des demokratischen und sozialen Rechts- lichste Verfassung handelt, die es jemals in Deutsch- staats im vereinten Deutschland. Ich sage jedenfalls land gab, allen, die an dieser Aufbauleistung mitwirken, mei- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) nen besonderen Dank. kann eine Totalrevision, ein Umbau oder eine Ver- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD schiebung der wesentlichen Strukturelemente dieser und dem Bündnis 90/GRÜNE) Verfassung nicht in Frage kommen. Ich füge in einem Satz hinzu — vielleicht können wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) uns auch darauf verständigen — : Angesichts von Dis- Ich möchte, daß sich die Politik des wiedervereinigten kussionen über die Frage, wie weit staatliche Tätig- Deutschland auch künftig an dem Menschenbild un- keit reicht oder reichen soll — durchaus berechtigten seres Grundgesetzes und an den Grundwerten und Diskussionen — , darf es jedenfalls an dem Grundsatz ethischen Normen dieser bewährten Verfassung aus- keinen Zweifel geben, daß der öffentliche Dienst, den richtet. wir natürlich zeit- und anforderungsgemäß fortent- wickeln müssen, für den Bestand und die Zukunft von Meine Damen und Herren, die staatliche Einheit Staat und Gesellschaft unentbehrlich ist und daß das Deutschlands haben wir erreicht, die Vollendung der Berufsbeamtentum mit seinen verfassungsmäßigen inneren Einheit Deutschlands wird uns noch über ei- Aufgaben auch künftig für uns unverzichtbar bleibt. nen längeren Zeitraum beschäftigen. Ich sage dies auch als bisheriger Chef des Kanzleramtes, der jetzt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie seine 16. Arbeitsbesprechung mit den Chefs der des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]) Staatskanzleien der neuen Länder durchgeführt hat, der praktisch jede Woche im Kabinettsausschuß oder Noch ein Wort zur inneren Einheit. — Ich unterstrei- in der dafür zuständigen Staatssekretärsrunde mit che die Bedeutung des Themas Kultur, das von ver- dem Prozeß des Zusammenwachsens befaßt war. Ich schiedenen Seiten hier angesprochen wurde. Ich kenne sehr wohl die noch vorhandenen ökonomi- denke, daß in den 40 Jahren der Teilung Deutsch- schen Probleme. Aber ich weiß, daß 40 Jahre lands die Kultur eine verbindende Klammer der fort- schmerzlicher Teilung auch in den Köpfen der Men- bestehenden Einheit der Nation geblieben ist. Daraus schen tiefe Spuren hinterlassen haben. Deswegen resultiert eine gemeinsame besondere Verantwor- müssen wir ankämpfen gegen Ungeduld auf der ei- tung. Mit dem bereits wenige Wochen nach der Ver- nen Seite und mangelndes Verständnis oder gar einigung beschlossenen umfangreichen Programm Überheblichkeit auf der anderen Seite. zur Erhaltung der kulturellen Substanz und zur Siche- rung der kulturellen Infrastruktur, das wir auch 1992 Ich plädiere jedenfalls für ein ganz hohes Maß an fortsetzen, hat sich die Bundesregierung zu dieser Einfühlungsvermögen. Die Einheit muß nach meiner Verpflichtung bekannt. Ich weiß, es ist im parteipoli- festen Überzeugung als gemeinsamer Lern- und Er- tischen Streit, ob die Mittel, die wir hier zur Verfügung neuerungsprozeß von beiden Seiten akzeptiert wer- stellen, ausreichen. den, wenn sie erfolgreich vollendet werden soll. Dazu bedarf es insbesondere der Solidarität derer, die das Ich glaube aber, Sie sollten zur Kenntnis nehmen,- Glück hatten, die langen Jahre der Teilung nicht auf daß auch in den neuen Ländern durchaus anerkannt der Seite der Unterdrückung, der Bevormundung und wird — ich selbst habe viele Gespräche darüber ge- der wirtschaftlichen Not erdulden zu müssen. Ich führt — : Das Ziel ist 1991 erreicht worden. Die kultu- kann nicht erkennen, daß wir in Sachen Solidarität relle Substanz hat in dieser Übergangsphase keine unsere Mitbürger in den alten Bundesländern bisher wesentlichen Einbußen hinnehmen müssen, und das überfordert hätten. sollten wir würdigen. Dies ist ein gemeinsamer Erfolg (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) des Bundes und der neuen Länder einschließlich ihrer Kommunen, die trotz der bekannten Finanzprobleme Wir werden unsere Anstrengungen für den Aufbau rund 2,5 Milliarden DM für die Kultur bereitgestellt der neuen Bundesländer konsequent fortsetzen. Das haben. gilt auch für die gemeinsamen Bemühungen von Bund, Ländern und Kommunen zur raschen Schaf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5165

Bundesminister Rudolf Seiters Der Einigungsvertrag verpflichtet uns auch für daß es ein Problem beim Folgerecht, beim Staatsan- 1992. Über die Zahlen ist hier bereits gesprochen wor- gehörigkeitsrecht wie beim Bundesvertriebenenrecht den. Ich unterstreiche die Notwendigkeit — ich habe wie auch bei den Verwaltungsanordnungen, die sich mich auch dafür eingesetzt — , daß wir die Mittel je- darauf gründen, gibt? denfalls in dieser Größenordnung noch einmal in den Haushalt hineinbekommen. Ich möchte besonders die Leistungen für die Denk- Rudolf Seiters, Bundesminister des Innern: Meine malpflege hervorheben, die nahezu verdoppelt wer- politische Botschaft, die ich in Kontinuität zu meinem den. Unsere besondere Sorge gilt der Erhaltung der Vorgänger überbringen möchte, ist die, daß wir das historischen Bausubstanz im Beitrittsgebiet. Der Tor nicht zumachen, weil sonst die Aussiedler zu uns Bund ist zur Mithilfe bereit. Aber, meine Damen und kommen. Herren — auch das muß ich jetzt korrekterweise hin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge zufügen —, der Bund geht dabei an die Grenze des ordneten der FDP) verfassungsmäßig Möglichen. Das muß hier gesagt Wir sollten zu einer Beruhigung der Diskussion beitra- werden, damit keine falschen Vorstellungen für die gen. Dann werden wir den Prozeß des letzten Jahres Zukunft entwickelt werden. fortsetzen. Kultur ist auch ein wichtiges Thema für deutsche (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Lafontaine Minderheiten in Osteuropa, nicht nur zur Bewahrung ihrer Identität, sondern auch zur Verständigung mit begreift das sowieso nie! — Hans-Gerd unseren Nachbarvölkern. Den deutschen Minderhei- Strube [CDU/CSU]: Penner auch nicht!) ten in ihrer angestammten Heimat gesicherte Zu- Meine Damen und Herren, aus unserer eigenen kunftsperspektiven zu eröffnen zählt zu den vorrangi- Geschichte wissen wir um die entscheidende Bedeu- gen Zielen der Aussiedlerpolitik der Bundesregie- tung von Recht, Freiheit und Toleranz für eine frei- rung. Von besonderer Bedeutung ist dabei die ver- heitliche Gesellschaftsordnung. Eben diese Ge- traglich vereinbarte und rechtlich gesicherte Möglich- schichte hat uns auch gelehrt, wie entschlossen wir keit zur unbehelligten Pflege von Sprache, Kultur und allen Anfängen von brutaler Gewalt und Radikalis- Tradition. Die Bundesregierung wird ihre Maßnah- mus zu wehren haben. Wie wir alle in diesem Hause men und Hilfen hierzu weiterhin verstärken. verurteile ich jede Form von Haß, Gewalt und Aus- Es ist bereits die ermutigende Entwicklung für die schreitungen gegenüber unseren ausländischen Mit- deutsche Minderheit in der UdSSR gewürdigt wor- bürgern. Wir werden gegen solche Ausschreitungen den. Wir freuen uns über diese Entwicklung. Sie be- von rechtsextremistischen Schlägertrupps mit allen trifft besonders die Wiederherstellung einer autono- Mitteln vorgehen. In einem weltoffenen Deutschland men staatlichen Ordnung für die Deutschen an der dürfen ausländerfeindliche Ausschreitungen keinen Wolga, die die 2 Millionen als Identifikationsschwer- Platz haben. punkt für ihre kulturelle und wirtschaftliche Zukunft (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD in der UdSSR sehen. und dem Bündnis 90/GRÜNE) Meine Damen und Herren, wenn sich die vorgese- Die Innen- und die Justizminister haben sich am henen Hilfen voll auswirken und sich die politische 17. Oktober in Bonn darauf verständigt, durch eine Entwicklung in den Aussiedlungsgebieten stabilisiert, bundesweite Aufklärungskampagne dem Extremis- dann kann man hoffen, daß die Frage des Aussiedler- mus entgegenzusteuern. Ich sage für mich: Extremis- zustroms für die Bundesrepublik Deutschland in den mus und Radikalismus führen zu Haß und Gewalt. kommenden Jahren vielleicht doch an Bedeutung Deshalb sollten und müßten sie gesellschaftlich ge- verliert. Ich will nur sagen: Die Beruhigung ist 1991 ächtet werden. eingetreten. Nur rund 50 % im Vergleich zu 1990 sind Auch vor diesem Hintergrund begrüße ich aber, daß zu uns gekommen. Wenn aber gesagt wird, das hänge die in der Vergangenheit bisweilen zu hörenden For- aber an den andauernden Verfahren, so will ich doch derungen nach Auflösung des Bundesamtes für Ver- einmal eine zusätzliche Zahl nennen. 230 000 Deut- fassungsschutz zwischenzeitlich verstummt sind. sche in der UdSSR haben Aufnahmebescheide und warten gleichwohl erst einmal die Entwicklung ab. (Dr. Willfried Penner [SPD]: Das war von der Deswegen sage ich: Die Tendenzen zum Dortbleiben CSU zu hören! — Zuruf von der CDU/CSU: würden wir durch eine Diskussion über eine Ände- Na, na!) rung des Art. 116 des Grundgesetzes gefährden. Für Zum umfassenden Aufgabenkreis des Verfassungs- uns kommt eine Änderung dieses Artikels nicht in schutzes gehören neben der Beobachtung von Bestre-- Betracht. bungen gegen die freiheitlich-demokratische Grund- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ordnung unseres Staatswesens und der gegen unser Land gerichteten Spionagetätigkeit die Sammlung Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, ge- von Informationen zur Bekämpfung des einheimi- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten schen und des internationalen Terrorismus sowie Penner? eben auch das Ziel, die Umtriebe gewalttätiger und extremistischer Gruppen in der Bundesrepublik Rudolf Seiters, Bundesminister des Innern: Ja. Deutschland unter Kontrolle zu halten. Natürlich muß sich der Verfassungsschutz auf aktu- Dr. Willfried Penner (SPD): Herr Kollege Seiters, ist elle politische Entwicklungen einstellen, organisato- Ihnen bekannt, daß es — insoweit jedenfalls — gar risch wie personell. Für die innere Sicherheit ist je- nicht um eine Änderung des Art. 116 geht, sondern doch auch im vereinten Deutschland der Erhalt des 5166 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Bundesminister Rudolf Seiters Bundesamtes für Verfassungsschutz zusammen mit Flug- und Seehäfen führen, in deren Rahmen auch dem Aufbau leistungsfähiger rechtsstaatlicher Poli- Sicherheitsbelange der Partnerstaaten mit wahrzu- zeibehörden in den neuen Ländern und der dortigen nehmen sein werden. Einrichtung funktionsfähiger Verfassungsschutzbe- Wir haben in der gestrigen Debatte über den Etat hörden eine unverzichtbare Voraussetzung. des Bundeskanzlers bereits über das drängende und Ich füge ganz generell hinzu: Die Gewährleistung wichtige innenpolitische Thema der Lösung der Asyl- der inneren Sicherheit ist die unabdingbare Voraus- problematik gesprochen. Ich möchte, was meine per- setzung für die im Grundgesetz verankerte freie Ent- sönliche Position anbetrift, dazu folgende Bemerkun- faltung der Persönlichkeit jedes einzelnen und für das gen machen: solidarische Zusammenleben aller in der staatlichen Erstens. Natürlich müssen politisch, rassisch und Gemeinschaft. Dieser Anspruch auf Gewährleistung religiös Verfolgte auch in Zukunft bei uns Zuflucht innerer Sicherheit ist unteilbar und besteht unabhän- finden. Aber gerade weil wir ein asylfähiges und aus- gig von der Nationalität der zu schützenden Perso- länderfreundliches Land bleiben wollen, muß der fort- nen. schreitende Asylrechtsmißbrauch auf nationaler wie Hier ist nicht nur, aber in besonderer Weise unsere internationaler Ebene effektiver begrenzt werden. Polizei gefordert, der ich in diesem Zusammenhang (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge für ihre gerade heute nicht einfache Arbeit Dank sa- ordneten der FDP) gen möchte. Damit ich nicht mißverstanden werde: Ich habe (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem durchaus Verständnis für Menschen, die aus wirt- Bündnis 90/GRÜNE sowie des Abg. Dieter schaftlichen Gründen in unser Land kommen wol- Wiefelspütz [SPD]) len. Ich sehe es als Teil unserer politischen Verantwortung (Zustimmung des Abg. Dieter Wiefelspütz an, den Sicherheitsbehörden bei dieser Arbeit Rück- [SPD]) halt und notwendige Unterstützung zu geben. Ich wehre mich dagegen, die Motive zu diffamieren; Wir haben es mit gravierenden Formen der Krimi- denn was wäre verständlicher, als daß ein Familien- nalität, der Bedrohung durch Terrorismus, Extremis- vater auch an seine Familie und an die Besserung sei- mus und durch das organisierte Verbrechen zu tun, in ner Lebenssituation denkt? Das ist völlig klar. dessen Mittelpunkt der illegale Drogenhandel steht. Der Zunahme der organisierten Rauschgiftkriminali- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD, tät gilt unsere besondere Sorge. Inzwischen ist es ge- dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abge lungen, tieferen Einblick in die Strukturen des illega- ordneten der PDS/Linke Liste) len Rauschgifthandels zu erhalten. Daß wir das so aussprechen, ist auch wichtig für das Nationalstaatliches Denken und Handeln werden Klima in unserem Lande der neuen Situation, die durch den Abbau der Grenz- (Zustimmung bei der SPD) kontrollen zwischen den Staaten der europäischen Gemeinschaft, durch die Öffnung der Grenzen auch und für die Argumentation bei dieser wichtigen im Osten Europas sowie mit der Änderung der Er- Frage. scheinungsformen des internationalen Verbrechens Aber, meine Damen und Herren, wir können eben entstanden ist, nicht mehr gerecht. nicht alle Probleme auf dem deutschen Boden lösen, Wir müssen daher mit Nachdruck die internationa- sondern wir müssen bei den Quellen ansetzen und die len und die nationalen Bekämpfungskonzepte voran- Fluchtursachen — ich füge hinzu: stärker als bisher — treiben. Besonders wichtig ist in diesem Zusammen- bekämpfen. hang eine verstärkte polizeiliche Zusammenarbeit in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Europa, in die wir dank der europäischen Entwick- Zuruf von der CDU/CSU: Mit dem Art. 16 hat lung auch unsere östlichen Nachbarn einbeziehen das nichts zu tun!) können. Vordringlich ist vor allem eine europäische Zentrale zum Kampf gegen die Drogenmafia und ge- Zweitens. Zunächst wird es darum gehen, die Ziel- gen das organisierte internationale Verbrechen. vorstellungen zur Verfahrensbeschleunigung, auf die sich die Spitzen von CDU/CSU, FDP und SPD in Im Inneren unseres Landes fordert die besondere einem verständigt ha- Komplexität der polizeilichen Aufgaben ein gemein- Gespräch beim Bundeskanzler ben, möglichst rasch umzusetzen. Ich sage -für mich sames, koordiniertes Handeln der Polizeien der Län- und uns und auch für meinen Vorgänger: Hier wird der und des Bundes einschließlich Bundesgrenz- nichts verzögert. Ich mache keine Schuldzuweisun- schutz, der die mit Erlangung der staatlichen Einheit gen; ich sage nur: Es hat die Gespräche zwischen dem verbundene Erweiterung seiner Aufgaben mit Erfolg Bund und den Ländern gegeben. Hier wird nichts ver- angepackt hat. zögert. Ich habe bereits in den ersten Stunden nach Neue qualitative Anforderungen ergeben sich für meiner Amtsübernahme gesagt: Ich will, daß den ihn zum einen aus dem Aufgabenübertragungsge- Fraktionen des Deutschen Bundestages in den näch- setz, zum anderen aus der Vollendung des europäi- sten Tagen ein im Bundesministerium des Innern ge- schen Binnenmarktes zum 1. Januar 1993. Der damit meinsam mit dem Bundesministerium der Justiz erar- verbundene Abbau der Binnengrenzkontrollen wird beiteter Entwurf einer Novelle zum Asylverfahrens- zu einer Konzentration grenzpolizeilicher Kontrollauf- gesetz zugeleitet wird, der den Zielvorstellungen des gaben an den EG-Außengrenzen einschließlich der Gesprächs beim Bundeskanzler entspricht. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5167

Bundesminister Rudolf Seiters Drittens. — Ich spreche über meine persönliche Po- über Fragen der Eindämmung illegaler Einreisen sition. — Ende Oktober in Berlin 27 Staaten darauf verständigt haben, die zur Bewältigung illegaler Wanderungsbe- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Da bin ich aber wegungen bestehenden ausländerrechtlichen und gespannt!) polizeilichen Möglichkeiten gezielt einzusetzen. Von Die europäische Dimension des Wanderungsdrucks der Migration sind viele Staaten berührt, wenn auch — darin sind wir wahrscheinlich ebenfalls einig — unterschiedlich betroffen, Ziel-, Transit- und Her- verlangt über das hinaus, was wir vereinbart haben, kunftsstaaten. Es ist gelungen, sie alle im Geiste ver- weitere beharrliche Bemühungen um eine europäi- nünftiger Partnerschaft von der Notwendigkeit eines sche Lösung. Unser Ziel ist ein in seinen Grundzügen konzertierten Vorgehens zu überzeugen, ein Erfolg, harmonisiertes europäisches Einwanderungs- und der auch im Hinblick auf andere Vorhaben vielleicht Asylrecht in formeller und materieller Hinsicht. Ein Zuversicht geben sollte. Europa der offenen Grenzen braucht die Harmonisie- Im übrigen unterstreiche ich nachdrücklich — ich rung des Asylrechts, der Asylpraxis und der Asylpoli- habe es schon angedeutet — ungeachtet der rechtli- tik auf europäischer Ebene. Wir müssen die Überle- chen Ansätze die Notwendigkeit, die Ursachen der gung weiterverfolgen, wie in verfassungsrechtlich Wanderungsbewegungen zu beseitigen, unsere Mit- einwandfreier Weise erreicht werden kann, daß Per- tel konzentriert zur Bekämpfung der Auswande- sonen nicht in ein aufwendiges Asylverfahren einbe- rungsursachen an der Quelle einzusetzen und in die- zogen werden müssen, die unseres Schutzes nicht sem Zusammenhang die von der Bundesregierung am bedürfen, etwa weil sie aus nach allgemeiner Über- 25. September 1990 beschlossene Flüchtlingskonzep- zeugung verfolgungsfreien Herkunftsländern stam- tion konsequent weiterzuentwickeln, weil dieser men oder über sichere Drittstaaten kommen. Weg, den Flüchtlingen eine neue Lebensperspektive Der scheidende Bundesinnenminister hat hierzu ei- im eigenen Heimatland zu eröffnen, auf Dauer der nen konkreten Formulierungsvorschlag für eine Er- einzig erfolgversprechende zur Lösung dieser schwer- gänzung des Grundgesetzes vorgelegt, über den wir wiegenden Problematik ist. derzeit, wie jedermann weiß, in der Koalition keine Meine Damen und Herren, der Haushalt 1992 des Verständigung haben, der aber nach meiner Auffas- Bundesinnenministers einschließlich des wichtigen sung den Weg für eine maßgebliche Entlastung der Teilbereichs Sport, für den sich der Bund auch 1992 in Asylverfahren freimachen und Deutschland außer- besonderer Weise engagiert, und einschließlich der dem die volle, gleichberechtigte Teilnahme an einer meinen Geschäftsbereich betreffenden Mittel des europäischen Lösung der Asyl- und Flüchtlingspro- Einzelplans 36 — ich unterstreiche die Bedeutung der blematik ermöglichen würde. zivilen Verteidigung und des Zivilschutzes auch im wiedervereinigten Deutschland — ist, so denke ich, (Beifall bei der CDU/CSU) eine sachgerechte Antwort auf die innenpolitischen Jedenfalls ist es nach meiner Meinung notwendig, Herausforderungen, vor denen wir gegenwärtig ste- unsere volle Teilhabe am Schengener und Dubliner hen. Abkommen, die einen international einheitlichen Um- Allen Beteiligten, dem Haushaltsausschuß, insbe- gang mit Asylbewerbern vorsehen, rechtlich ein- sondere den Berichterstattern, und dem Innenaus- wandfrei abzusichern. Meine Meinung hierzu — ich schuß sowie den Vorsitzenden danke ich für ihre tat- sage das auch mit Blick auf die aktuelle Diskussion, kräftige Unterstützung. Sie haben — ich habe mir das die wir in diesen Tagen haben — ist bekannt. Ich habe angeschaut — mit großer Sachkunde und Umsicht da- sie unmittelbar vor und nach meiner Amtsübernahme für gesorgt, daß die für die Verwirklichung wichtiger öffentlich geäußert. Für eine volle und gleichberech- staatlicher Aufgaben notwendigen Haushaltsmittel tigte Teilhabe an den Verträgen brauchen wir die zur Verfügung stehen und daß wir, so denke ich, auch Ergänzung des Grundgesetzes. Das ist mit einer ein- in Zukunft die innenpolitischen Herausforderungen fach-gesetzlichen Regelung nicht zu machen. erfolgreich bestehen können. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich biete allen Fraktionen des Deutschen Bundes- Meine Damen und Herren, mit Blick auf die außer- tags eine gute Zusammenarbeit an. ordentliche Dimension des Problems hoffe ich, daß wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im Dezember beim Europäischen Rat in Maastricht in dieser Frage vorankommen und daß sich in Deutsch- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- land die an der Gesetzgebung Beteiligten einer sach- ordnete Hans Gottf ried Bernrath. lich-konstruktiven Diskussion und Lösung auf euro- päischer Basis nicht verschließen. Hans Gottfried Bernrath (SPD): Herr Präsident! Ich weiß, daß wir das Problem auch uns erreichen- Meine Damen! Meine Herren! Ich möchte zunächst im der weltweiter Wanderungsströme aus wirtschaftli- Namen meiner Fraktion, vor allen Dingen der Innen- chen Gründen mit rechtlichen Maßnahmen allein politiker meiner Fraktion, Herrn Minister Schäuble nicht aus der Welt schaffen können. Aber, meine Da- für die gute Zusammenarbeit, die wir in den hinter uns men und Herren, der Gesetzgeber muß den aus mei- liegenden Jahren hatten, danken. Sie war gekenn- ner Sicht dringend erforderlichen Handlungsspiel- zeichnet von einem freimütigen Austausch der Argu- raum schaffen, ohne daß der Kerngehalt des Asyl- mente und Klarheit der Standpunkte, vor allen Dingen rechts in Frage gestellt wird. aber auch von dem persönlich sehr angenehmen Zu- Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich sammenarbeiten, wie wir es von Herrn Schäuble ja begrüßen, daß sich bei der internationalen Konferenz auch aus anderen Ämtern gewohnt waren. Wir wün- 5168 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Hans Gottfried Bernrath schen ihm für die neue Aufgabe viel Glück. Sie wird Dem steht aber leider eine grobe Vernachlässigung um einiges schwieriger sein, wie wir heute morgen des Personals im öffentlichen Dienst durch den auch in dieser Debatte erfahren konnten. Dienstherrn oder den öffentlichen Arbeitgeber gegen- über. Hier und da wird geflickschustert; wir haben es Wir möchten Ihnen, Herr Minister Seiters, alles gerade in bezug auf das Strukturgesetz erlebt. Dahin- Gute für Ihr Amt als Innenminister wünschen. Es ist ter steht eben keine Konzeption, beispielsweise auch eine, wie Sie eben angedeutet haben, schwierige Auf- keine Konzeption für eine zeitgerechte Struktur des gabe, gerade in dieser Zeit des gesellschaftlichen Um- öffentlichen Dienstes. Wir können ihn daher auch bruchs, des Aufbaus in Deutschland und auch der nicht fortentwickeln und ihn nicht an die heutigen Herausforderungen, die damit gerade auf den Innen- Aufgaben anpassen. Es wird notwendig sein, Herr minister zukommen. Minister, daß gerade in dieser Hinsicht klare Zielset- In der Politik ist es wie in der Kunst: Der Künstler zungen für die nächsten Jahre formuliert werden, da- — in der Politik der Politiker — bezieht die stärksten mit wir einen stabilen, dezentralen, der Demokratie Antriebe und Energien aus dem Widerspruch. Wir verpflichteten öffentlichen Dienst bekommen, der versprechen Ihnen, daß wir den Widerspruch offen nicht nur Ordnungsverwaltung garantiert, sondern formulieren werden, daß wir Ihnen widersprechen der Leistungsangebote auch modern gestaltet und der werden, wo dies notwendig ist, daß wir Sie unterstüt- damit auch zur Festigung der inneren Ordnung bei- zen werden, wo es unumgänglich ist und wo es uns trägt. richtig erscheint, um gemeinsam diejenigen Ziele zu Bei der Ordnungsverwaltung denke ich insbeson- erreichen, auf die wir als politische Parteien in unse- dere daran, daß der öffentliche Dienst im Bereich des rem Staat verpflichtet sind. Umweltrechts neue Funktionen übernimmt, wogegen Widerspruch wird notwendig sein, wenn wir daran Funktionen im klassischen Ordnungsrecht anteilig denken, daß Sie eine Reihe von Defiziten aufzuarbei- schrumpfen sollten. Er sollte auf der Grundlage be- ten haben. Sie sind nur in Stichworten darauf einge- währten ordnungsrechtlichen Handelns helfen, Um- gangen: beispielsweise organisierte Kriminalität, Dro- weltrecht durchzusetzen, wodurch ein wesentlicher genkriminalität; Sie haben darüber hinaus Einwande- Teil politischer Zielsetzungen erreicht würde. rungsprobleme angedeutet. Wir können diese Pro- Die zeitgerechte Gestaltung des Leistungsangebots bleme nicht lösen, wenn wir uns nur gegenseitig gu- auch im Wettbewerb muß durch ein entsprechendes ten Willen bestätigen, sondern nur dann, wenn wir Dienstrecht garantiert werden. von der Einzelerfahrung ausgehend dazu beitragen, daß wir dem Verfassungsgebot, das uns dabei immer (Zustimmung bei der SPD) als Maßstab dient, gerecht werden. Wir können uns in In der Zielsetzung muß eine möglichst weitgehende der Zusammenarbeit dahin gehend bewähren, daß Selbstverwaltung nachgeordneter Verwaltungen, Be- die Spannung, die unsere Arbeit hier im Parlament hörden und Ämter und vor allen Dingen die uneinge- kennzeichnet, zu einer guten Lösung beiträgt. schränkte Garantie der Selbstverwaltung für unsere Ich bin überzeugt, daß Sie mit uns zusammen auf Kommunen enthalten sein. dieses Ziel hinarbeiten werden. An unserer Unterstüt- Nie waren die politischen und administrativen Be- zung wird es jedenfalls nicht mangeln. dingungen dafür günstiger als im Augenblick, denn (Beifall bei der CDU/CSU — Johannes Ger der öffentliche Dienst hat in der Öffentlichkeit eine ster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist ein gutes große Akzeptanz gefunden. Das hat sich ja auch beim Wort!) Aufbau der Verwaltungen in den neuen Ländern ge- zeigt. Wir müssen durch eine andere Gestaltung des Lassen Sie mich mit ein paar Stichworten noch et- Dienstrechts, über mehr Freiheiten hinsichtlich der was zum öffentlichen Dienst sagen, der heute etwas Verhandlungsrechte des Personals, seiner Gewerk- am Rande gestanden hat, obwohl für die Durchset- schaften und Vertretungen dazu beitragen, daß wir zung innenpolitischer Ziele die Exekutive, also die den hohen Leistungsstandard des öffentlichen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, von ganz be- Dienstes auch in Zukunft erhalten und den jeweiligen sonderer Bedeutung ist. Die Mitarbeiter des öffentli- zeitlich bedingten Bedürfnissen anpassen können. chen Dienstes haben in der Vergangenheit Leistungs- Ich habe gesagt, daß die Bedingungen dafür gün- bereitschaft, Anpassungsfähigkeit bewiesen. Das Klima in den Ämtern hat sich in den letzten zehn, stig sind. Sie zeigen sich ja in einer Spanne zwischen fünfzehn Jahren wesentlich gewandelt. Heute wird den Aufgaben, die wir in den neuen Ländern haben. bedient, nicht mehr abgefertigt. Die Mitarbeiter sind Sie haben in diesen Tagen erklärt, daß der Aufbau- nur hilfsbereit. Sie beraten gleichzeitig, vor allen Dingen zögerlich vor sich gehe. Das liegt nicht am Personal, in den Publikumsdiensten. Das gilt, um bei einem sondern es liegt vor allen Dingen an den rechtlichen aktuellen Thema zu bleiben, etwa für die Ausländer- Voraussetzungen, die das Personal braucht, um den ämter, wo wir einen Großteil der Schwierigkeiten, die Aufbau unter dem Gesichtspunkt der erwarteten zeit- wir in den Kommunen haben, gerade deshalb über- lichen Beschleunigung bewältigen zu können. winden und ausgleichen können, weil wir dort Mitar- Es liegt aber auch daran, daß wir nicht genügend beiter haben, die Recht und Gesetz nicht nur kennen, geeignetes Personal aus den westlichen Ländern in sondern die es auch anwenden können, so daß der die neuen Länder bringen können, um auf diese Ausländer, der in ein solches Amt kommt, Rat findet Weise auch unter Nutzung der Erfahrungen des Per- und sich auch gut beraten fühlt. Das gilt insbesondere sonals zu einem schnellen Aufbau beitragen zu kön- für den nicht immer leichten Umgang mit Asylbewer- nen. Ich meine, daß die Chance, die wir in den neuen bern. Ländern haben, nicht dazu dienen soll, dort nun ein Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5169

Hans Gottfried Bernrath hemmungsloses Verbeamten durchzusetzen. Wir soll- Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern. ten uns bemühen, unter Nutzung der breiten Spanne Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer dienstrechtlicher Möglichkeiten und arbeitsrechtli- stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Der Ände- cher Möglichkeiten für diese Aufgabe geeignetes Per- rungsantrag ist abgelehnt. sonal — und zwar langfristig geeignetes Personal — Wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag der zu bekommen und damit helfen, die Anpassung an die Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache Lebensbedingungen in den westlichen Ländern und 12/1668 ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? auch den Übergang eines Teils der zentralen Verwal- — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Ände- tung nach Berlin zu erleichtern. rungsantrag ist abgelehnt. Die andere Chance liegt in der europäischen Rege- Der Änderungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE lung. Die größere Durchlässigkeit sollten wir nutzen. GRÜNEN auf Drucksache 12/1669 wurde zurückge- Ich will das nicht weiter ausführen. Zur Zeit blockie- zogen. ren wir in erster Linie über den Art. 48 und die daran Wir kommen deshalb zur Abstimmung über den gebundene Rechtsprechung. Wir müssen die Chance, Einzelplan 06 in der Ausschußfassung. Wer stimmt die darin liegt, andere Erfahrungen für uns wirksam dafür? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — zu machen, auch im Sinne der europäischen Einigung Der Einzelplan 06 in der Ausschußfassung ist ange- und der Durchsetzung der gemeinsamen Ziele, näm- nommen. lich eine Wirtschafts-, eine Rechts- und eine Sozialein- heit in Europa auch mit dem Personal des öffentlichen Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 36, Zivile Dienstes zu erreichen, nutzen, statt „dynamisch zu Verteidigung, in der Ausschußfassung ab. Wer stimmt erstarren", also immer darüber zu reden, aber nicht dafür? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Ein- einen Schritt in diese Richtung zu tun und dazu bei- zelplan 36 ist angenommen. zutragen, daß dieser Artikel eher leerläuft, als er für Wer stimmt für den Einzelplan 33, Versorgung? — unsere Zielsetzungen nutzbar gemacht werden Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? kann. — Der Einzelplan 33 ist angenommen. Eine weitere Chance liegt in der Diskussion um die öffentlichen Unternehmen in der Bundesrepublik. Ich rufe auf: Hier ist das Stichwort des Art. 87 zu nennen. Wieder Einzelplan 09 wird eine Verfassungsänderung gefordert, ohne daß Geschäftsbereich des Bundesministers für vorher genutzt wird, was in den jetzigen Möglichkei- Wirtschaft ten, auch in den verfassungsrechtlichen Möglichkei- — Drucksachen 12/1409, 12/1600 — ten, steckt — nicht nur technisch, sondern auch per- sonalpolitisch. Ich glaube mit allen anderen, daß wir Berichterstattung: eine bessere Führungs- und Wettbewerbsstruktur Abgeordnete Kurt J. Rossmanith brauchen. Aber ich glaube auch, daß wir alle anderen Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Chancen nutzen müssen, bevor wir eine Verfassungs- Helmut Wieczorek (Duisburg) änderung und damit eine Abkehr von den infrastruk- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für turellen Verpflichtungen dieser Unternehmen wagen. die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Die Chancen liegen in erster Linie in personalpoliti- Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das scher Hinsicht, nämlich in einem einheitlichen, mo- so beschlossen. dernen Dienstrecht mit ausgedehnten Verhandlungs- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem möglichkeiten und daran geknüpften Bezahlungen Abgeordneten Wolfgang Roth. sowie Voraussetzungen für mehr Flexibilität, die diese Unternehmen im Wettbewerb brauchen. Wolfgang Roth (SPD): Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! Vor knapp einem Jahr hat der Bun- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Bernrath, desminister für Wirtschaft Jürgen Möllemann sein Sie sind schon ein gutes Stück über die Zeit. Amt angetreten. Ich sage offen: Ich hatte gewisse Hoffnungen auf einen Neuanfang, insbesondere was Hans Gottfried Bernrath (SPD): Die Zeit ist abgelau- den Fehlstart der Integration der Wirtschaft der frü- fen. Ich wollte mit diesen wenigen Stichworten darauf heren DDR in die Wirtschaft der Bundesrepublik an- hinweisen, daß wir mit dem öffentlichen Dienst eine betrifft. starke Stütze für die Durchsetzung innenpolitischer Es ist unstreitig so: Es begann mit Paukenschlägen. Ziele haben, wir diesen öffentlichen Dienst aber nur Neuminister Möllemann forderte einen gewaltigen behalten werden, wenn wir auch seine Bedingungen, Subventionsabbau in Höhe von 10 Milliarden DM. Es die Bedingungen seines Personals, erfüllen. ging weiter: Minister Möllemann forderte die Zustän- Danke schön. digkeit des Wirtschaftsministers für die Treuhandan- stalt in Berlin. Er erklärte, der Treuhandauftrag müsse (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]) um die Sanierung erweitert werden. Es gehe jetzt nicht mehr nur um Privatisierung oder sofortige Schließung. Er forderte eine Korrektur der vermö- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- gensrechtlichen Regelungen des Einigungs- bzw. che. Staatsvertrages. Er wollte mehr zukunftsorientierte Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst Investitionen statt Rückgabe an Altbesitzer, die bei über den Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Investitionsmaßnahmen zögern würden. Schließlich Liste auf Drucksache 12/1639 zum Einzelplan 06, dem erweckte er den Anschein, als würde er den Glauben 5170 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Wolfgang Roth an das automatische Wirtschaftswunder Ost aufgeben schwinden. Die chemische Indust rie ist bis auf einen und nun konkret zu Handlungen kommen. kleinen Kern reduziert. Alles das waren Ansatzpunkte in der Wirtschafts- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Gott sei politik, die wir damals mehr oder weniger begrüßt Dank!) haben. Wir haben auch darüber verhandelt. Aber was Die Maschinenbauindustrie, die teilweise sehr moder- geschah dann? Alles, was Sie angepackt haben, geriet ne Produkte hatte, ist nicht überlebensfähig, jeden- Ihnen unter der Hand zu einer PR-Aktion ohne wirk- falls nicht mit der derzeitigen Politik. liche Substanz, zum Showgeschäft ohne wirkliche Veränderung der Politik. Das ist die Wahrheit nach Wenn Sie nach Ostdeutschland kommen, egal ob einem Jahr. nach Dessau, Chemnitz, Zittau oder Schwe rin, klagen Ihnen Kommunalpolitiker und Betroffene, Gewerk- Fangen wir beim Subventionsabbau an. 10 Milliar- den DM sollten es weniger sein. Was ist daraus gewor- schafter genauso wie Unternehmensleiter, daß die Hilfen für die Indust den? Wir haben im nächsten Jahr in der Bundesrepu- rie in Ostdeutschland praktisch blik Deutschland mehr Subventionen. Ihr Kollege ausgeblieben sind. Wir haben eine Deindustrialisie- Weng hat Ihnen das vor einigen Tagen öffentlich vor- rung in Ostdeutschland nach einem weiteren Jahr. gehalten. Im Haushaltsjahr 1992 werden Finanzhilfen Das ist die Realität. Und das ist das ungelöste Pro- blem. und Steuervergünstigungen aufgestockt. Wo bleibt nun eigentlich der Rücktritt, Herr Minister Mölle- (Beifall bei der SPD) mann? Bitte. Sie haben zu Recht vor einem Jahr gesagt, im Grunde sollte der Wirtschaftsminister für die Treu- hand zuständig werden. Sie argumentierten, hier Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Gerster, gehe es um Struktur- und Wirtschaftspolitik, um Ar- bitte. beitsplätze und nicht um eine Entscheidung des Fi- nanzministeriums. Wir hören inzwischen nichts mehr von diesem Anspruch. Sie haben in der Frage der (Mainz) (CDU/CSU): Herr Kol- Zuständigkeit der Treuhand gekniffen. Sie sind damit Johannes Gerster lege Roth, Sie beklagen nicht nur die Arbeit der Treu- mitverantwortlich für viele Fehlentwicklungen im Be- hand und die Arbeit des Wirtschaftsministers, sondern reich der Treuhandanstalt, was Arbeitsplätze anbe- mit ebenso harschen Worten auch die Kontrolle der trifft. Dasselbe gilt übrigens, was die gesetzliche Er- Treuhand durch den Unterausschuß des Haushalts- weiterung des Auftrags angeht. Bisher gibt es keiner- ausschusses. Darf ich fragen, ob Sie die wiederholt lei Vorschlag der Bundesregierung, was die Regelbin- ausgesprochene Einladung Ihres Fraktionskollegen dung der Aktivitäten der Treuhand angeht. Rudi Walther, Vorsitzenden des Haushaltsausschus- In der Frage der Eigentumsverhältnisse im Osten ses, in diesen Unterausschuß zu kommen und sich von wird inzwischen völlig klar — übrigens teilen diese der Qualität der Arbeit dieses Ausschusses zu über- Meinung die CDU- und FDP-Kommunalpolitiker im zeugen, jetzt annehmen oder ob Sie diese Einladung Osten genauso wie die Sozialdemokraten — : Das nicht annehmen? Chaos ist nicht besser geworden, sondern die Lage wird immer schwieriger. Zusätzlich zu all den Schwie- rigkeiten, die wir ohnehin vom alten SED-Regime ge- erbt hatten, hat also die Bundesregierung neue Stör- Wolfgang Roth (SPD): Die hat mich noch nicht er- faktoren geschaffen. Es gab keinen wirklichen Neu- reicht. Aber wenn sie mich erreicht, werde ich sie anfang der Politik vor einem Jahr. Es gab keine annehmen. Durchsetzungskraft in den praktischen Fragen zur Er- Ich sage Ihnen nur folgendes: Jeder von uns weiß haltung und Verbesserung der Indust rie im Osten. doch, in welchem Umfang die Kolleginnen und Kolle- Wir hatten gedacht, Sie würden reale Einschätzun- gen des Haushaltsausschusses im zweiten Halbjahr in gen bringen, Abschied vom Glauben an ein automati- Hunderten von Sitzungen gefordert sind. Meine Mei- sches Wirtschaftswunder nehmen. Seit Wochen erle- nung zu dem Thema bleibt bestehen: Wir brauchen im ben wir nun das Gegenteil. Es wird ständig schönge- Bundestag einen gesonderten Treuhandausschuß für färbt, statt realistisch die Probleme zu beschreiben einige Jahre, der sich die großen Projekte genau an- und sie anzupacken. schaut. Das kann man nicht nebenbei erledigen. Kollege Walther hat noch heute in einem Interview (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Und es geht - ständig aufwärts!) gesagt — und da teile ich seine Meinung — , es wäre im Grunde noch besser, man würde in der Bundesre- publik für einige Jahre das Schatzministerium neu aufleben lassen, das dann die volle Zuständigkeit für Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Roth, ge- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten die Treuhand bekäme. Gerster? (Beifall bei der SPD) Es ist doch nicht erträglich, daß wir noch Tausende von Betrieben im Bundesbesitz haben — und das ist ja Wolfgang Roth (SPD): Gleich. die Treuhand — und gleichzeitig der Finanzminister Meine Damen und Herren, in der Elektroindustrie das nebenbei erledigen soll. Es ist auch eine Zumu- in Ostdeutschland ist der Zusammenbruch praktisch tung für die Kolleginnen und Kollegen im Haushalts- da. Die Textilindustrie in Ostdeutschland ist am Ver ausschuß, das neben ihrer schweren Pflicht, diesen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5171

Wolfgang Roth Haushalt jedes Jahr zu betreuen, erledigen zu müs- mußte ein FDP-Kollege mit einem Vorsitz bedient sen. werden, (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Aber wir (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Un schaffen das!) erhört! — Josef Grünbeck [FDP]: Der Stell Das ist meine Position, und bei dieser Position werde vertreter ist von der SPD!) ich bleiben. also ist der Ausschuß eingerichtet worden. Aber für (Beifall bei der SPD) die Treuhand ist kein Ausschuß eingesetzt worden. Das ist skandalös. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Roth, hier (Beifall bei der SPD) sind zwei Kollegen, die Ihre Redezeit weiter verlän- Da kritisiere ich mich als Parlamentarier selbst. — gern möchten. Bitte schön.

(SPD): Aber Sie sind so lieb, mir das Wolfgang Roth Herr Kollege Hinsken. nicht auf meine Zeit anzurechnen. Vizepräsident Hans Klein:

Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Gerster Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Roth, möchte seine zweite Frage stellen, und auch der Kol- nachdem wir soeben haben zur Kenntnis nehmen lege Hinsken möchte eine Frage an Sie richten. Sind müssen, daß Sie den Sitzungen des Unterausschusses Sie einverstanden, daß beide Fragen nacheinander Treuhand auf Grund fehlender Einladung nicht bei- gestellt werden, oder wollen Sie sie einzeln beantwor- wohnen konnten, aber in Zukunft beiwohnen wollen, ten? meine Frage an Sie: Warum haben Sie bisher nicht an Sitzungen des Wirtschaftsausschusses teilgenommen, bei denen führende Leute der Treuhand zugegen wa- Wolfgang Roth (SPD): Wenn Sie einverstanden ren, um nachzufragen, um in Zukunft ein besseres sind, nacheinander. Verständnis für deren Argumentation zu gewinnen, als das in der Vergangenheit der Fall war? Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Herr Kol- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lege Roth, was halten Sie denn von der Äußerung Ihrer beiden Fraktionskollegen Walther und Wieczo- rek, die erklärt haben, Ihre Feststellung, der Unter- Wolfgang Roth (SPD): Also, verehrter Kollege, jetzt ausschuß des Haushaltsausschusses sei mit den Kon- erzähle ich Ihnen zum fünfzigstenmal, daß ich gar trollaufgaben völlig überfordert — Sie haben das hier nicht ordentliches Mitglied des Wirtschaftsaus- heute noch einmal wiederholt — , sei eine bodenlose schusses bin Frechheit? Was halten Sie denn von dieser Charakte- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber stellvertre risierung? tendes Mitglied sind Sie! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Wolfgang Roth (SPD): Jedenfalls war das keine Lie- und daß ich in meinem Arbeitskreis sechs Vollaus- benswürdigkeit. schüsse des Parlaments zu koordinieren habe. Das ist (Heiterkeit) schlicht die Antwort. Sie werden verstehen, daß das Aber ich bleibe bei meiner Meinung, daß der Haus- bei anderen Kolleginnen und Kollegen, die in großen haltsausschuß — und ich bin nun seit 16 Jahren im Fraktionen Vergleichbares zu tun haben, auch so Parlament und kann das verfolgen — der am meisten ist. belastete Ausschuß im Deutschen Bundestag ist. Das Meine Damen, Herren, ich will fortfahren. sage ich als Mitglied des Wirtschaftsausschusses und (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Eine Frage, vor dem Hintergrund der in mehreren anderen Aus- wenn es noch gestattet ist! Darf ich noch eine schüssen gemachten Erfahrungen. Ich bin der Mei- Frage stellen?) nung, das Parlament sollte hier eine vernünftige Re- gelung finden. Ich bin da in Übereinstimmung — auch — Ja, wenn die Uhr angehalten wird. in Ihrer Fraktion wird zustimmend genickt — mit vie- len Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses. Eitelkei- Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Roth, da ten haben da gar keine Rolle zu spielen, Sie ja wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Frak- - (Zustimmung bei der SPD) tion sind: Haben Sie zur Kenntnis genommen, daß der sondern es geht um die konkrete Kontrolle von Milli- Wirtschaftsausschuß vor nicht allzu langer Zeit, vor ardenbeträgen. Vielleicht weiß das nicht jeder, der drei Wochen, die Vorsitzenden der einzelnen Wirt- hier oder draußen zuhört. Wir haben im nächsten Jahr schaftsausschüsse der Landesparlamente in den allein für die Treuhand eine Nettokreditaufnahme von neuen Bundesländern und zusätzlich einige führende 35 Milliarden DM, haben aber nicht einmal ein Gre- Leute der Treuhand nach Potsdam geladen hat, und mium, das permanent die Zeit hat, diese Ausgaben haben Sie als stellvertretendes Mitglied des Wirt- ontrolle wahrzunehmen, sondern nur einen Unter- schaftsausschusses damals wirklich keine Zeit-k gefun- ausschuß. den, um Ihren großen Sachverstand hier einzubrin- Und noch ein anderes Wort zu dem Thema: Wir gen? haben im Deutschen Bundestag einen Fremdenver- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und kehrsausschuß, einen Ausschuß für Tourismus. Da der FDP) 5172 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Wolfgang Roth (SPD): Verehrter Kollege, ich habe im Westen nicht finanzierbar. Das ist die Schlüssel- mir in den letzten Wochen die Mühe gemacht, mich in problematik, um die sich Herr Möllemann herumge- der Treuhand mehrfach direkt detailliert zu informie- drückt hat. Da hilft kein Herumreisen in der ganzen ren, jenseits einer einzelnen Ausschußsitzung. Ich Welt, sondern da hilft nur eine Konzentration auf diese finde, daß diese direkte Information unersetzlich ist. Aufgabe. Im übrigen würde ich Ihnen empfehlen, vor allem in die Industriebetriebe in Ostdeutschland zu gehen und In diesem Zusammenhang habe ich dann, was die dort mit dem Management und mit den Betriebsräten Arbeit der Treuhand betrifft, konkrete Fragen. Wie über meine These zu reden, die ich gerade vertreten wollen Sie eigentlich rechtfertigen, daß im Falle von habe. Zeiss/Jena pro erhaltenen Arbeitsplatz 400 000 DM (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das haben wir ausgegeben werden, während kleine und mittlere, auch gemacht!) inzwischen aufgespaltene Maschinenbaubetriebe bei der Treuhand vergeblich um 20 000, 25 000 DM pro Ich wiederhole diese These, die da lautet, daß wir in Arbeitsplatz betteln gehen müssen? Das ist die Reali- der Gefahr sind, daß Ostdeutschland eine Region tät. Warum wird im Raum Halle plötzlich viel Geld wird, die keinerlei industrielle Basis mehr hat. bereitgestellt, in anderen Regionen dagegen nicht? (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist Hat das damit zu tun, daß Halle der Geburtsort des richtig!) Außenministers ist? Oder ist das strategische Wirt- Die Beschreibung des Vorgangs ist doch ganz ein- schaftspolitik, die irgendwelche Grundlagen hat? fach, meine Damen und Herren: Wir haben — bedingt durch die Transfers an Finanzen — im Handel, in den (Zurufe von der FDP) Dienstleistungen, im Bankensektor, bei den Gastwirt- schaften, den Hotels und den Imbißstuben eine wirk- Wir, meine Damen und Herren, sind der Auffas- liche Neugründungstätigkeit mit viel Aufschwung; sung, daß jetzt klare Regelungen dafür gefunden wer- daran besteht überhaupt kein Zweifel. Die Ursache ist den müssen, wie den Betrieben im Osten geholfen auch völlig klar. Wir haben im letzten Jahr und in die- wird. Meine Meinung ist, wir müßten Klarheit darüber sem Jahr — im nächsten Jahr werden wir es wieder finden, welche Eigenkapitalausstattung für die jewei- tun — etwa 120 Milliarden DM vom Westen an den ligen Industriebetriebe im Westen typisch ist, und Osten überwiesen, eine Maßnahme, die ich nicht kri- dann Regelungen schaffen, mit denen wir eine ver- tisiere, sondern die richtig war. Aber dieses Geld ist gleichbare Eigenkapitalausstattung für die Bet riebe primär in regionalen Konsum gegangen und hat die im Osten herstellen können, so daß gleiche Startchan- Industrie in Ostdeutschland überhaupt nicht stabili- cen bestehen. Ich bin auch der Meinung, daß wir für siert. Die Industrie ist weiterhin im Niedergang, und eine Übergangsphase Modernisierungshilfen brau- genau an diesem Punkt wird die Wirtschaftspolitik der chen, die sich dann schrittweise abbauen, damit die Bundesregierung gefordert. Wo gibt es eine Industrie- Betriebe im Osten überhaupt eine Chance bekom- politik für die ostdeutschen Bundesländer, die eine men, weltmarktfähig zu werden, in den Konkurrenz- industrielle Basis schafft, so daß von innen her der kampf des Weltmarktes mit Chancen zum Erfolg ein- Konsum der Bevölkerung, der Arbeitnehmer finan- zutreten. Ich bin erfreut darüber, daß vom DIW über ziert wird? Das ist die Schlüsselfrage. Um diese das Hamburger Weltwirtschaftsarchiv bis hin zu dem Schlüsselfrage hat sich die Bundesregierung herum- bekannten Wirtschaftsprofessor und Publizisten Wolf- gedrückt. Einkaufszentren, Reparaturwerkstätten, ram Engels der Bundesregierung ähnliche Gedanken Hotels, Imbißstuben — das reicht eben nicht aus für vorgeschlagen werden. Meine konkrete Frage an die eine tragfähige Basis. Bundesregierung lautet: Soll es so weitergehen, daß Ich nenne jetzt eine Zahl, meine Damen und Herren das Geld entsprechend der aktiven Lobby des jewei- von der CDU/CSU und der FDP, weil Sie dauernd von ligen Unternehmenschefs verteilt wird, oder sollen Aufholjagd reden. Ich habe ausgerechnet, was die nicht endlich klare Kriterien zur Erneuerung der Indu- Investitionstätigkeit in diesem Jahr ausmacht und was strie in Ostdeutschland gefunden werden? Wollen Sie der Sachverständigenrat an Industrieinvestitionen in einen Einzelinterventionismus der Marke Späth Ostdeutschland für das nächste Jahr prophezeit; das — der Vetterle kriegt 400 000 DM und die anderen ist genau die Hälfte der Summe, die in Westdeutsch- gehen leer aus —? land an Investitionen für das nächste Jahr geplant ist. Das heißt, die Kluft in der Industrie zwischen Ost- Das ist die konkrete Situation in der Industriepolitik dieser Bundesregierung. Ich habe noch nie eine deutschland und Westdeutschland tut sich weiter marktwirtschaftsfeindlichere, interventionistischere auf. - und dirigistischere Industriepolitik als das beobachtet, (Zuruf von der FDP: Das ist eine Milchmäd was derzeit zwischen Finanzministerium und Treu- chenrechnung! — Weitere Zurufe von der hand vereinbart wird. FDP und der CDU/CSU) Das heißt, der industrielle Prozeß ist in Wahrheit noch Wenn wir über Ostdeutschland reden, müssen wir nicht in Gang gekommen, und das ist, meine Damen natürlich auch über Westdeutschland sprechen. Es ist und Herren, keine Milchmädchenrechnung, sondern völlig klar, daß uns die Chancen zur Stabilisierung der genau der strategische Punkt. Wenn in Ostdeutsch Wirtschaft in Ostdeutschland nur dann gegeben sind, land die Industrie nicht wirklich in die Aufholjagd wenn wir in der Lage sind, die westdeutsche Wirt- kommt, dann müssen wir auf Dauer, auf Jahrzehnte schaft in Schwung zu halten und vor einer Rezession hinaus, einen Finanztransfer aus dem Westen tragen. zu bewahren. Wer das Gutachten des Sachverständi- Das ist für die Menschen im Osten inakzeptabel, weil genrats studiert hat, merkt ganz genau, daß wir an der sie sich ausgehalten vorkommen, und es ist auf Dauer Schwelle zu einer Rezession stehen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5173

Wolfgang Roth Der Herr Staatssekretär Eekhoff vom Bundeswirt- ist in unserer Wirtschaftsordnung an der Stelle nicht schaftsministerium hat vor einigen Tagen in aller Öf- gefordert — schon gar nicht mit Prozentratschlägen. fentlichkeit dieselbe Befürchtung geäußert. Ich füge Sie verstoßen hier gegen 40 Jahre konkrete und hinzu: Ich sehe auch noch andere Gefahren. Die bun- gute Erfahrungen in der Bundesrepublik Deutsch- desdeutsche Wirtschaft war bisher in der Auseinan- land. Herr Wirtschaftsminister Möllemann, wenn es in dersetzung mit anderen großen Industrieländern wie den nächsten Monaten Streiks und Aussperrungen Japan und USA stets in der Lage, Konkurrenzgefech- gibt, dann sind Sie letztlich der Brandstifter mit gewe- ten standzuhalten. Automobilindustrie, Elektroindu- sen. strie und vieles andere waren weltmarktfähig und wettbewerbsfähig. (Beifall bei der SPD — Lachen bei der FDP) Ist es Zufall, daß der BDI vor einiger Zeit einen „In- Hören Sie mit dieser Aktion auf im Sinne des sozialen dustriepolitischen Dialog" einberufen hat, weil er Friedens in der Bundesrepublik Deutschland! wichtige internationale Märkte und auch den deut- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ schen Markt für die Industrie bedroht sieht? Ich GRÜNE — Zuruf von der FDP: Das war ge glaube, das ist kein Zufall. In vielen Sektoren der Wirt- nau sein Niveau!) schaft — ich rede jetzt nicht nur über Elektronik und die Tatsache, daß wir praktisch keinen Chip-Produ- zenten mehr haben, der Weltmarktbedeutung hat — sehe ich Bedrohungen und Gefahren. Meine Meinung Vizepräsidentin : Als nächster hat ist: Der Bundeswirtschaftsminister darf es jetzt nicht der Herr Abgeordnete Kurt Rossmanith das Wort. dabei bewenden lassen, daß er einen industriepoliti- schen Dialog als marktwirtschaftsfeindlich negiert und ablehnt, sondern er muß die Kräfte in der Bundes- Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Frau Präsidentin! republik Deutschland an einen Tisch bringen. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über den ersten Teil Ihrer Ausführungen, Herr Kollege Roth, In Japan gibt es eine Konsensstrategie zwischen allen sozialen Kräften und zwischen Gewerkschaften hätten wir noch diskutieren können. Der letzte Teil und Arbeitgebern und auch dem Staat unter Ein- war — so muß ich leider sagen — weit unter dem Ni- schluß aller seiner Teile, nicht nur des MITI, die Welt- veau, mit dem wir hier in diesem Hohen Hause disku- marktkonkurrenz als wichtigste Herausforderung der tieren sollten, und auch weit unter dem Niveau, das Wirtschaft zu akzeptieren. Ich sehe in der Bundesre- wir in der Regel im Haushaltsausschuß an den Tag legen. publik Deutschland diesen Konsens nicht erreicht. Ich sehe Gefährdungen. Natürlich wäre es noch eine Ge- Ich darf Ihnen sagen: Ich bedanke mich dafür, daß fährdung, wenn wir in den nächsten Wochen und Sie einmal anerkannt haben, welch schweres Los die Monaten einen Tarifkonflikt mit mehreren Wochen Haushälter haben und welche Leistung sie erbringen. Streik bekämen. Es deutet sich in der Verfestigung Es ist unsere Aufgabe, jährlich über Hunderte von der Fronten in diesem Zusammenhang etwas an. Milliarden D-Mark Kontrolle auszuüben; in diesem Jahr sind es 422 Milliarden DM, die den Gesamthaus- Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß der halt ausmachen. Auch im Unterausschuß für die Treu- soziale Konsens der Vergangenheit bewahrt werden hand, dem ich mit angehöre — deshalb tue ich mich muß, und zwar gerade wegen unserer Wettbewerbs- vielleicht ein bißchen schwer, dazu etwas zu sagen —, fähigkeit. Da das so ist, kann ich von dieser Stelle aus sind wir uns schon darüber im klaren, welche Arbeit den Herrn Bundeswirtschaftsminister nur davor war- hier geleistet werden muß. Wir leisten sie mit der glei- nen, daß er jeden Tag mit Prozentempfehlungen in chen Akribie und mit dem gleichen Verantwortungs- Richtung auf die Gewerkschaften und die Arbeitge- bewußtsein. Es ist schlicht und einfach nicht möglich ber in der Öffentlichkeit auftritt. — das wissen Sie mit Ihrem Wirtschaftssachverstand (Beifall bei Abgeordneten der SPD) doch auch — , in Prozesse einzugreifen. Sie würden ja gerade zum Wirtschafts- und zum Investitionsverhin- Es ist in der Bundesrepublik noch niemals etwas Gu- derer, wenn Sie in laufende Prozesse der Treuhand tes herausgekommen, wenn der Bundeswirtschafts- eingreifen und sagen würden, Moment, hierzu muß minister sich in die Tarifpolitik der Gewerkschaften ich erst einmal eine Entscheidung des Unterausschus- und der Arbeitgeber eingemischt hat. Herausgekom- ses oder auch eines Ausschusses Treuhand herbeifüh- men sind dann stets bittere Arbeitskämpfe. Ich weiß ren. Bis diese Entscheidung vorläge, wäre das Ge- als Sozialdemokrat im übrigen, worüber ich auch schäft doch schon längst erledigt. Insofern würden- wir rede, nämlich über das Jahr 1974. Auch damals hat die bei einem solchen Vorgehen nur behindernd eingrei- Politik gemeint, sie müsse sich mit Tarifempfehlungen fen. einmischen. Herausgekommen ist ein schwerer Kon- flikt zwischen einer großen Gewerkschaft und der Wir müssen kontrollieren, und diese Arbeit, diese Bundesregierung. Wir appellieren an alle Beteilig- Aufgabe nehmen wir wahr, auch wenn sie sehr zeit- ten, intensiv ist und das, was in diesen Stunden im Unter- (Zuruf von der CDU/CSU) ausschuß Treuhand geleistet wird, weit über das übli- che Maß hinausgeht, weil wir uns natürlich — hier sich in der nächsten Phase zusammenzusetzen und in nehme ich alle Kollegen von der SPD, von der FDP Einklang mit der konjunkturellen Lage, die nicht und von der CDU/CSU mit in ein Boot — auch vor Ort mehr so gut ist wie vor einem Jahr, nun einen Kom- informieren. Wir fahren nach Bitterfeld, wir fahren promiß zustande zu bringen. Aber das ist die Aufgabe nach Halle, wir fahren nach Usedom, wir fahren ins der Gewerkschaften und der Arbeitgeber. Der Staat Erzgebirge, wir fahren nach Dresden, um uns dort 5174 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Kurt J. Rossmanith über die Arbeit, die geleistet werden muß, und über Haushaltsrisiken für die künftigen Jahre vor uns ha- die Probleme, die dort anstehen, zu informieren. ben werden. Es läßt sich noch nicht alles abschätzen. Keiner ist bisher aufgetreten und hat gesagt, diese (Beifall bei der CDU/CSU) und jene Haushaltsrisiken werden noch auf uns zu- Wenn man die Debatte in dieser Woche verfolgt hat, kommen. Ich wäre dankbar gewesen, wenn Sie uns dann fällt folgendes schon schwer — ich sage das, einige aufgezeigt hätten. Nur, keiner kann das, weil wenn Sie es jetzt auch nicht expressis verbis zum Aus- wir nicht wissen, was alles auf uns zukommt. druck gebracht haben — : Wie wurden wir be- Gerade deshalb ist es erforderlich, daß wir mitein- schimpft! Der Haushalt wurde von Ihrer Seite als un- ander in einer vernünftigen und ehrlichen Art und seriös, als unsolide bezeichnet. Sie selbst haben das Weise umgehen. Wer kann denn heute schon etwas wieder zum Ausdruck gebracht, indem Sie dargestellt sagen über die voraussichtlichen Defizite in der Treu- Ausga- haben, daß es uns nicht gelungen sei, weitere handanstalt, die Altschuldenproblematik der Bet riebe benkürzungen vorzunehmen. in der ehemaligen DDR, über die Altlasten im Um- Hier wird von der SPD einfach mit gespaltener weltbereich? Sie haben das Beispiel des Chemiedrei- Zunge gesprochen. ecks gebracht. Dafür bin ich dankbar. Herr Roth, Sie (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! — Zuruf werden doch ehrlich nicht daran glauben, daß wir weiterhin in dieser Ecke eine Chemieindustrie mit von der FDP: Unwahrhaftig!) 75 000 bis 90 000 Beschäftigten haben können oder Es ist richtig, daß das Ergebnis der Beratungen im haben sollten? Das können Sie doch nicht gemeint Haushaltsausschuß über den Einzelplan für den Ge- haben? Weshalb werfen Sie uns dann vor, daß wir schäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft, versuchen, die Chemieindustrie auf ein vernünftiges über den wir jetzt beraten, nicht ein Minus gegenüber Maß zurückzuführen, das einmal den Menschen, aber dem Entwurf, sondern ein Plus in Höhe von 780 Mil- auch den Betroffenen in dieser Region eine Zukunft lionen DM aufweist. bietet? Das sind doch die Themen. Darum geht es Ich möchte Ihnen jetzt aufzeigen, wo hier die doch. Darum wird auch versucht, im Haushalt die ent- Schwerpunkte liegen. 400 Millionen DM mehr für die sprechenden Weichen zu stellen und die Rahmen- Investitionsförderung in den neuen Ländern — mit bedingungen zu schaffen. Zustimmung der SPD. 200 Millionen DM für die Koks- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kohlebeihilfe entsprechend den in der Kohlerunde der FDP) getroffenen Vereinbarungen — mit Zustimmung der sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen im Gerade deshalb ist Ausgabendisziplin gefragt und Haushaltsausschuß. 70 Millionen DM für die Wettbe- erforderlich. Ich darf den Sachverständigenrat zitie- werbshilfe an die Werften, um das Förderprogramm ren, der uns mit seinem jüngsten Gutachten einige im ursprünglich vorgesehen Umfang durchführen zu deutliche Worte ins Stammbuch geschrieben hat. Ich können. Auch dies einig im Haushaltsausschuß, mit teile natürlich die Auffassung des Sachverständigen- den Stimmen der SPD. rates, daß es nicht darum gehen kann, durch globale Minderausgaben oder prozentuale Kürzungen aller (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Budgetposten das notwendige Einsparvolumen zu er- Aha!) bringen. Gerade aus wirtschaftspolitischer Sicht wäre Ja, da frage ich mich natürlich schon: Sie werfen uns ein derartiges Verfahren äußerst unbef riedigend, vor Unsolidität, Unaufrichtigkeit vor. Aber die Forderun- allem, wenn man bedenkt, daß bestimmte Ausgaben gen kommen von Ihnen, und wenn wir nach hartem zum Wiederaufbau in den neuen Bundesländern Ringen nicht alle Ihre Forderungen erfüllen, aber — ich denke hier gerade auch an die Investitionsför- doch sagen, aus gutem Grunde werden wir zumindest derung und an Infrastrukturmaßnahmen — wahr- in Teilen — und ich habe es jetzt namentlich ge- scheinlich in den nächsten Jahren noch kräftig erhöht nannt — mitstimmen, dann werden wir von Ihrer Seite werden müssen. Vielmehr müßte der Haushalt gezielt hier noch entsprechend beschimpft. auf solche Posten überprüft werden, die wegen verän- derter politischer Bedingungen reduziert werden kön- ( [CDU/CSU]: So sind die Ka nen oder die schlicht und einfach ökonomisch nicht meraden!) mehr vertretbar sind. Dies ist der Weg, den die Bun- So ein Verhalten, meine sehr verehrten Damen und desregierung eingeschlagen hat, als sie im Entwurf Herren, finde ich unse riös und unsolide des Haushalts 1992 und der mittelfristigen Finanzpla- nung einen Abbau von Finanzhilfen und Steuerver-- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) günstigungen von durchschnittlich 10 Milliarden DM und entspricht nicht der Art und Weise, wie wir den im Jahre beschlossen hat. Haushalt gestaltet haben. Ich glaube schon, daß es die Wahrheit gebietet, Gerade wenn wir jetzt sagen, wir Politiker müssen wenn wir hier feststellen, daß der Subventionsabbau, der Öffentlichkeit mehr Glaubwürdigkeit vermitteln, wenn auch mit kleineren Korrekturen, in dieser Grö- dann darf ich an Sie appellieren und Sie daran erin- ßenordnung erreicht worden ist, trotz mancher an- nern: Bitte gehen Sie auch hier mit entsprechendem derslautender Presseberichte der letzten Tage. Ich Beispiel voran und halten Sie sich daran, daß wir auch glaube, daß hier auch ganz bewußt manche Fehlinter- nach außen hin als Politiker glaubwürdig bleiben kön- pretation von der Opposition mit eingeflossen ist. nen. Leider ist es uns nicht gelungen — auch das sage ich Ich verhehle ja nicht, daß wir gerade im Zusammen- ganz freimütig —, unser Anliegen, das wir als Haus- hang mit der deutschen Einheit noch gewichtige halter hatten, nämlich weitere 4 Milliarden DM im Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5175

Kurt J. Rossmanith Haushalt einzusparen, umzusetzen. Die Bundesregie- Der Gesamtplafond wird mithin etwa 9 Milliarden DM rung hat uns gegen Ende der Beratungen im Haus- betragen. haltsausschuß noch eine Reihe von unabweisbaren (Michael Glos [CDU/CSU]: Da muß eine alte Nachforderungen auf den Tisch gelegt, die in der Höhe insgesamt etwa diesen vorgesehenen Kürzun- Frau viele Strümpfe stopfen!) gen entsprochen haben. Natürlich mag hier mancher — Sehr richtig, Herr stellvertretender Fraktionsvorsit- an das Sprichwort denken „Wie gewonnen, so zerron- zender Glos, und ich bezweifle natürlich, daß sie das nen" ; das ist richtig. Ich bezweifle auch nicht die Be- je in ihrem arbeitsreichen Leben erreichen wird. rechtigung der Nachforderungen, nur, Herr Bundes- (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!) minister: Das Verfahren, wie es sich abgespielt hat, darf sich in Zukunft so nicht wiederholen. Deshalb — das wollte ich schon noch mit anfügen — ist noch die Frage der Finanzierung der Verstro- (Beifall bei der CDU/CSU) mungsregelung für die Zeit nach 1995 offen, Wir sehen uns nicht — ich sage auch in diesem (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Hohen Hause, was ich schon im Ausschuß gesagt habe —, Herr Bundesminister Möllemann, als Erfül- wenn der sogenannte Kohlepfenning ausläuft. lungsgehilfen der Bundesregierung; wir sind Kontrol- Der Kollege Wieczorek hat im Ausschuß die Frage leure. Wir wollen Sie dabei unterstützen — wir tun das aufgeworfen: Wer hat denn je danach gefragt? — Ich mit allem Nachdruck — , wenn es darum geht, die will ihm natürlich die Antwort geben: Wenn besagte Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich das Witwe wegen dieses sogenannten — so muß ich ja wirtschaftliche Wachstum, das wir in den alten Bun- sagen — Kohlepfennigs, der ja nicht nur einen Pfen- desländern noch haben und das sich jetzt auch in den nig, sondern schon einige Mark ausmacht, mit monat- neuen Bundesländern abzeichnet, verfestigt und noch lich 20 DM bis 30 DM zusätzlich belastet wird, dann verstärkt, aber wir wollen nicht im letzten Moment ist das mit Sicherheit eine Belastung. Daß Sie deshalb Papiere auf den Tisch erhalten, zu denen wir mehr keine Fragen stellt oder nicht — wie manch andere oder weniger nur noch ja oder nein sagen können und das tun — spektakulär ihre Stimme erhebt, liegt viel- bei denen sich aus der Verantwortung heraus letztlich leicht daran, daß sie heutzutage einfach nicht mehr in natürlich das Ja einfinden muß. der Lage ist — es soll ja auch schon einen Bundes- kanzler gegeben haben, der dazu nicht in der Lage (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) war — , die Stromrechnung zu lesen. Zu den Punkten, die noch am Schluß der Beratun- (Michael Glos [CDU/CSU]: Beim Schmidt gen im Haushalt umgesetzt werden mußten, gehörten war es die Wasserrechnung, aber die ist ja die Ergebnisse der Kohlerunde. Hierbei konnte ähnlich kompliziert!) — das ist zu begrüßen — nach langen und zähen Ver- handlungen ein Kompromiß erzielt werden, der die — Gut, dann war es die Wasserrechnung. Ich dachte, öffentlichen Haushalte allerdings weit stärker bela- es sei die Stromrechnung gewesen. Aber das ist ja stet, als ursprünglich geplant. ähnlich gelagert. Die „Frankfurter Allgemeine " hat dem Bergbau in (Michael Glos [CDU/CSU]: Das nur zur His der vergangenen Woche einen Leitartikel gewidmet torie!) Ich will nicht ausschließen, daß wir nach 1995, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: wenn, wie gesagt, dieser Kohlepfennig ausläuft, wei- „Leid", mit „d"!) tere Belastungen im Bundeshaushalt werden verkraf- mit der Überschrift: „Kostgänger der Nation". ten müssen. Ich hätte es deshalb wirklich begrüßt, wenn ein stärkerer Abbau der Förderkapazitäten (Zuruf von der CDU/CSU: Leider wahr!) hätte durchgesetzt werden können. Lieber Kollege Weng, dieser Ausdruck ist sicherlich Angesichts der Tatsache, daß in den neuen Bundes- leicht polemisch, aber wenn — das muß man sich vor ländern wohl noch mit einem Anstieg der Arbeitslo- Augen halten; hierin stimme ich mit Ihnen überein, sigkeit gerechnet werden muß, insbesondere dann, wie wir ja in fast allen Punkten übereinstimmen — wenn die Lohn- und Gehaltsforderungen, wie sie der- jede Tonne Steinkohle, die in einer deutschen Zeche zeit wieder auf dem Tisch liegen, in den neuen Bun- gefördert wird, mit knapp 160 DM bezuschußt werden desländern weiterhin in dieser Größenordnung ver- treten werden und wenn versucht wird, diese Forde- muß, damit sie abgesetzt werden kann, dann sollte, - meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Saar rungen durchzusetzen, werden wir eine steigende Ar- und vom Ruhrgebiet, zumindest die Frage erlaubt beitslosigkeit in den neuen Bundesländern haben. sein, wann die Grenze des Vertretbaren denn nun Gerade angesichts dieser Tatsache muß ich zumindest erreicht ist. den jüngeren Mitarbeitern im Bergbau schon die Frage stellen, ob sie sich tatsächlich beruflichen Um- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig! — oder Neuorientierungen gänzlich verschließen wol- Zuruf von der FDP: Schon lange!) len. Allein für die Kokskohlebeihilfe werden trotz Redu- Auch der Sachverständigenrat ist der Auffassung, zierung der Förderkapazitäten in den nächsten drei daß die Zahl der Arbeitslosen in den neuen Bundes- Jahren rund 6,4 Milliarden DM an Bundesmitteln be- ländern noch steigen wird und daß deshalb eine nötigt, um die Differenz zum Weltmarktpreis ausglei- schnelle Lösung dieses Problems noch nicht zu erwar- chen zu können. Hinzu kommt noch der Landesanteil. ten ist. Die Voraussetzungen sind aber dank unserer 5176 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Kurt J. Rossmanith konsequenten, wachstumsorientierten Wirtschafts- daß dieses Programm für die alten Bundesländer auf und Finanzpolitik günstiger geworden. Dauer gestorben ist. Es darf nur ein Ruhen sein. Wenn erforderlich, muß auch hier das Eigenkapitalhilfepro- (Beifall bei der CDU/CSU) gramm wieder Platz greifen. Es ist Ziel dieser Politik, alles zu tun, damit sich die (Beifall bei der CDU/CSU) Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft in den neuen Bundesländern rasch verbessert. Denn der Versuch, Lassen Sie mich noch einen Satz zur vorgesehenen an alten und unrentablen Arbeitsplätzen festzuhalten, Errichtung eines neuen Bundesausfuhramtes sagen, mag zwar den Menschen im Moment weniger Härten für das wir jetzt — natürlich unter dem Vorbehalt der zumuten, er verbaut aber mit Sicherheit den Weg in Verabschiedung eines entsprechenden Errichtungs- eine dauerhafte, bessere und sicherere Zukunft. gesetzes — die haushaltsmäßigen Voraussetzungen geschaffen haben. Ich bestreite nicht die Notwendig- Unsere Politik, die vor allem auf die Förderung von keit einer effizienten Exportkontrolle, insbesondere Investitionen zur Schaffung neuer wettbewerbsfähi- damit gefährliche Technologien nicht in Länder der ger und zukunftsträchtiger Arbeitsplätze abzielt, wird Dritten Welt exportiert werden. Dieses berechtigte deshalb vom Sachverständigenrat, den Sie, Herr Kol- Anliegen darf aber nicht dazu führen, daß wir uns in lege Roth zitiert haben, nachdrücklich unterstützt. der Bundesrepublik Deutschland von einem Export- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Zu Recht!) weltmeister hinorientieren zu einem Exportverhinde- rungsweltmeister. Ich brauche nur auf die Erhöhung der Mittel für die Ich möchte wirklich die Problematik der sogenann- Regionalförderung in den neuen Ländern hinzuwei- ten — es wird ja alles in diesem schönen neudeutsch sen, die von uns im Haushaltsausschuß beschlossen ausgedrückt — Dual-use-Produkte ansprechen. De- worden ist; ein sicherlich richtiger und notwendiger ren Ausfuhr wird in anderen westlichen Industriena- Schritt. Aber auch hier gilt das, Herr Bundeswirt- schaftsminister, was ich eingangs, an anderer Stelle, tionen wesentlich geringer kontrolliert. Das führt zu Wettbewerbsnachteilen in der deutschen Wirtschaft. gesagt habe: Auch hier bitte in Zukunft ein anderes Ich darf Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, deshalb Verfahren, ein rechtzeitiges Verfahren und nicht ein auffordern, alles zu tun, damit auch hier unter den Nachschieben von Forderungen im allerletzten Mo- Industrienationen und den Exportnationen eine ment, damit es nicht einfach heißt: Wenn ihr jetzt nicht Gleichheit der Exportbedingungen geschaffen wird. schlichtweg ja sagt, seit ihr diejenigen im Haushalts- ausschuß, die die Zukunft, auch die wirtschaftliche, in (Beifall bei der CDU/CSU) den neuen Bundesländern verhindern. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Solche Förder Vizepräsidentin Renate Schmidt: Aber jetzt bitte mittel sind allemal besser als die Aufstok zum Schluß, den letzten Satz! kung von AB-Maßnahmen!) (CDU/CSU): Selbstverständ- — Ich bedanke mich, Herr Kollege Hinsken, ganz aus- Kurt J. Rossmanith lich, Frau Präsidentin. Ich bin bereits bei meinem vor- drücklich dafür. Wir müssen von diesen AB-Maßnah- letzten Satz. men wegkommen; denn die frühere DDR war eine einzige Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahme. Wir müssen dem entgegensetzen eine freie — — Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nein, Sie sind bei Ihrem letzten Satz, weil Sie schon eine Minute über- (Josef Grünbeck [FDP]: Könnten Sie das dem zogen haben. Herrn Blüm sagen?)

— Der Herr Blüm weiß es ja auch. Die Arbeitsplatzbe- Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Ja. Wir haben aber schaffungsmaßnahmen laufen aus, lieber Herr Kol- innerhalb der CDU/CSU-Fraktion einige Zeit übrig. lege Grünbeck; das wissen wir. Wir sind uns einig, daß das nur eine Übergangslösung sein kann, die aus- Das muß Ihr Ge- laufen muß, weil wir eine freie und Soziale Marktwirt- Vizepräsidentin Renate Schmidt: schäftsführer klären! schaft haben und im Osten sehr rasch den Weg dort- hin gehen wollen. Diese AB-Maßnahmen können im Moment nur eine Abfederung sein. Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Mit dem habe ich das abgesprochen. Deshalb darf ich zwei Minuten (Beifall bei der CDU/CSU) überziehen. Das Eigenkapitalhilfeprogramm — 678 Millionen Ich möchte hier die H-Liste mit ansprechen.- Herr DM nur für die neuen Bundesländer — dient ja auch Bundesminister, diese Liste darf wirklich nur auf den dazu, diesen Wachstumsprozeß zu fördern und Ar- Kern der sensiblen Länder begrenzt werden, in die wir beitsplätze zu schaffen. Lassen Sie mich das bitte sa- dann nicht exportieren bzw. diese Produkte nicht ex- gen: Es ist uns schwergefallen, dieses Eigenkapitalhil- portieren dürfen. In diesem Sinne werden wir das feprogramm für die alten Bundesländer im Moment Bundesausfuhramt und die Stellenbesetzung dort nicht mehr fortführen zu können, weil wir sämtliche auch noch einmal sorgfältig prüfen. uns verfügbaren Mittel gerade unseren Landsleuten Zum Schluß möchte ich allen Berichterstatterkolle- in den neuen Bundesländern zur Verfügung stellen gen und den Mitarbeitern im Wirtschaftsministe rium, müssen. im Finanzministerium und im Bundesrechnungshof Ich möchte aber noch eins in aller Deutlichkeit sa- herzlich danken, ich darf Ihnen, Herr Bundesminister gen: Dieser Verzicht der alten Bundesländer — ich Möllemann danken, und ich möchte Ihrem Haushalts- betone ausdrücklich: Verzicht — darf nicht heißen, staatssekretär danken. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5177

Kurt J. Rossmanith Ich bitte das Hohe Haus, diese seriösen und sehr negative Rückwirkungen auf Konjunktur, Preise und soliden Einzelplan des Bundesministeriums für Wirt- Beschäftigung aus. Das ist der Grund, warum die FDP schaft zuzustimmen. im Sommer dieses Jahres einen Kurs der finanzpoliti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen Vertrauensbildung angemahnt hat. Zur Zeit sitzen der Bundeskanzler und der italieni- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- sche Ministerpräsident im Bundeskanzleramt zusam- lege Otto Graf Lambsdorff das Wort. men. Das sind die Vertreter zweier Regierungen, die die Konvergenzanforderungen für die dritte Stufe der europäischen Währungsunion zur Zeit beide nicht er- Dr. Otto Graf Lambsdorff (FDP): Frau Präsidentin! füllen. Das werden wir wieder schaffen; aber so sieht Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der es heute aus. Bundeskanzler hat gestern hier bei der Behandlung des Themas Maastricht auch angekündigt, daß in Die Lohnpolitik hat schon im vergangenen Jahr den Maastricht auch die dritte Stufe der Währungsunion Pfad der Stabilität verlassen. Die Folge war, daß sich schon endgültig festgelegt werden müsse. Auf mei- die Lohnstückkosten beschleunigt erhöhten, in die- nen Zuruf hin hat er hinzugefügt, daß in Maastricht sem Jahr um 5 % nach nur 1 % im Jahre 1989 und auch das Wie für den Übergang zur europäischen 2,5 % schon 1990. Ergebnis dieser Entwicklung: Die Währung festgeschrieben werden müsse. Das ist völ- Inflation hat wieder ihr Haupt erhoben. In diesem lig richtig. Sommer stiegen die Preise mit 4,5 % im Vorjahresver- gleich so stark wie zuletzt vor neun Jahren. Ich muß Die Bundesregierung hat vor wenigen Tagen aller- erklären, warum ich 4,5 % sage und der Finanzmini- dings erklären lassen, es seien in diesem Zusammen- ster 3,5 % sagt. Das ist der Basiseffekt gegenüber dem hang nur noch ein paar Fragen offen. Ich sage Ihnen, vorigen Jahr. Es ist eine reine statistische Verzerrung. es sind essentielle Fragen offen. Ich hoffe, die Bundes- In Wahrheit liegt der Wert zwischen 4,5 und 5 %. regierung spielt das nicht herunter, sondern sie nimmt das ernst; denn die Koalitionsfraktionen haben aus- Wenn sich Kosten und Preisauftrieb in dieser Weise drücklich gesagt: Die Bedingungen müssen erfüllt fortsetzen, dann ist der Konflikt mit der Geldpolitik sein, wenn wir ratifizieren sollen. unausweichlich. Da wir die Alternative Inflation alle Die wichtigste Aufgaben der Wirtschaftspolitik ist miteinander nicht wollen, bedeutet das dann Stabili- es, dafür Sorge zu tragen, daß die Leistungsfähigkeit sierungskrise. Andere Länder haben diese Erfahrun- der deutschen Wirtschaft bewahrt, ja gesteigert wird. gen gemacht. Wir brauchen sie nicht auch noch zu Herr Rossmanith hat das beliebte Wort vom Export- machen. weltmeister gebraucht. Sind wir das noch, meine sehr Die künftige Gestaltung der Finanzpolitik und der verehrten Damen und Herren? — Wir schauen uns die Lohnpolitik wird maßgeblich darüber entscheiden, Zahlen an: 35 % unseres Bruttosozialprodukts expor- wie es bei uns weitergeht. Werden die Finanzen nicht tieren wir, aber 77 % davon gehen in die Länder der konsolidiert, weiten wir weiter den Staatssektor aus Europäischen Gemeinschaft. Bei Einführung einer eu- und finden die Tarifpartner nicht wieder zu maßvollen ropäischen Währung ist das Binnenhandel. Auf den Abschlüssen, wird die Belastbarkeit der Wirtschaft Weltmärkten draußen sind wir keineswegs mehr so getestet, dann sind Stagnation und Rezession vorge- vertreten, wie wir es nach meiner Meinung eigentlich zeichnet. sein sollten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zuruf von der CDU/CSU: Das ist leider Der andere Weg, der Weg der Stabilität, der finanz- wahr!) politischen Solidität, der lohnpolitischen Verantwor- Meine Damen und Herren, die Wirtschaft im We- tung und der Stärkung der marktwirtschaftlichen sten sieht auf eine neunjährige Aufschwungphase zu- Ordnung, besitzt dagegen eine ausgesprochen gün- rück, deren Kennzeichen nicht nur monetäre Stabilität stige Perspektive für Wachstum, Beschäftigung und und finanzpolitische Solidität waren, sondern auch besseren Umweltschutz. eine große wirtschaftliche Dynamik, die immer neue Beschäftigungsrekorde gebracht hat. (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist richtig!) (Zuruf von der FDP: Sehr gut!) Der Bund hat mit seinem Haushalt 1992, den wir Diese Zeit hat unter Beweis gestellt, daß sich eine hier heute beraten, und mit der mittelfristigen Finanz- Politik der wirtschaftlichen Neuorientierung in ho- planung ein positives Signal gesetzt. Aber das reicht hem Maße auszahlt. Wir haben diesen Pfad verlas- nicht. Da sind die zahlreichen Nebenhaushalte vom sen. Fonds Deutsche Einheit bis zur Bundesbahn. Da sind ferner die Länder und Gemeinden, die noch nicht den In der Finanzpolitik hat die Einigung Deutschlands Weg zur notwendigen Haushaltsdisziplin gefunden enorme finanzielle Anstrengungen erforderlich ge- haben. Wenn selbst der Bund der Steuerzahler sagt, macht, an denen es nichts zu kritisieren gibt. Ich un- daß sich die alten Bundesländer ihrer Verantwortung terstreiche das dreimal. Aber auf Dauer entfalten die entzogen haben, müßten wirklich die Glocken klin- finanzpolitischen Entwicklungen ihre ökonomische gen. Wirkung unabhängig von den Ereignissen, die sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bewirkt haben. Wechselkurse und Zinsen reagieren empfindlich, wenn der Eindruck entsteht, daß die Fi- Von entscheidender Bedeutung, meine Damen und nanzpolitik die Dinge nicht im Griff haben könnte. Ich Herren, bleibt der weitere Subventionsabbau. Sub- spreche ausdrücklich im Konjunktiv. Von da gehen ventionen sind wie Unkraut im Garten: Sie wachsen 5178 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Otto Graf Lambsdorff immer wieder von neuem, und es muß permanent ist deshalb von entscheidender Bedeutung, daß die gejätet werden. Unternehmensteuerreform nicht aus dem Blick ge- rät. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Ich will Bundesminister Möllemann ausdrücklich für seinen Einsatz beim Abbau der Subventionen dan- Die FDP hält es für verfehlt, wenn die erste Stufe, die ken. mit dem Steueränderungsgesetz 1992 ansteht, aus diesem Gesetz herausgebrochen wird. (Beifall bei der FDP — Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Beim Versuch!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) — Nein! Das ist kein Umverteilungsprogramm, sondern das ist ein Beschäftigungsprogramm. Es wird nicht durch die Ich weiß, daß es da viel Kritik gegeben hat; es wird Mehrwertsteuererhöhung finanziert — es ist blanke auch immer wieder neue geben. Wenn die alten Sub- Demagogie, das zu behaupten — , sondern dadurch, ventionen nicht wenigstens zum Teil beseitigt wären, daß steuerliche Vergünstigungen im Unternehmens- wären auch diese noch vorhanden. bereich gestrichen werden. Die Unternehmensteuer- (Carl-Ludwig Thiele [SPD]: Sehr richtig!) reform ist in sich aufkommensneutral; das war von So sieht die Wirklichkeit doch aus. Es ist gut, daß einer Anfang an so geplant. an diese Aufgabe herangeht. Daß man sich dabei nie- In der Lohnpolitik ist Umkehr gefordert. Die zen- mals eine Goldmedaille verdienen kann, das weiß ich trale Leitlinie für Lohnabschlüsse im Westen der Bun- aus sieben Jahren Erfahrung als Bundeswirtschafts- desrepublik muß wieder die Produktivitätsentwick- minister selber. lung werden. Deshalb unterstützt die FDP den Appell Mit dem Kohlekompromiß hat er einen notwendi- des Bundeskanzlers und des Bundeswirtschaftsmini- gen und — wie wir alle wissen — politisch schwieri- sters zu maßvollen Lohnabschlüssen. gen Durchbruch erzielt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) So wichtig wie der Abbau der Subventionen ist die Lohnpolitische Vernunft — meine Damen und Her- Vermeidung immer höherer Steuern und Abgaben, ren, das haben wir doch nun erlebt — ist ja nicht zum seien es nun Sozialabgaben, Umweltabgaben oder Schaden der Arbeitnehmer, sondern im Gegenteil zu Abgaben für Süßigkeiten. deren Nutzen. In den 80er Jahren haben wir gesehen, Die Mahnungen, die die Bundesbank in diesen Ta- daß Zurückhaltung auf diesem Gebiet die Beschäfti- gen vor immer weiter steigenden Lohnzusatzkosten gung und die Realeinkommen in einem Maße gestei- ausgesprochen hat, müssen ernst genommen werden. gert hat, wie wir es seit den 50er Jahren nicht mehr Wir steuern bei den Lohnzusatzkosten jetzt auf eine hatten. Größenordnung von über 35 % vom Bruttoeinkom- In den neuen Bundesländern — das füge ich men eines Arbeitnehmers zu. Dazu kommen dann hinzu — paßt das alleinige Maß der Produktivität al- noch die Steuern. Irgendwann werden uns die Leute lerdings nicht. In der Umbruchphase ist Differenzie- sagen: Die Belastungsgrenze ist erreicht; wir mögen rung angesagt. Betriebe, die in der Anpassung besser das nicht mehr. — Ohne Schaden für Wettbewerbsfä- vorangekommen sind, können auch besser zahlen. higkeit und für Wachstum sowie Beschäftigung kann Anderen ermöglicht die Zurückhaltung das Überle- man diesen Weg nicht weitergehen. ben. Deshalb ist es in den neuen Bundesländern gebo- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) ten, Öffnungsklauseln vorzusehen, Betriebsvereinba- rungen zu ermöglichen oder ertragsabhängige Lohn- Das Wirtschaftssystem einerseits und das Abgabe- komponenten zu vereinbaren. und Sozialsystem andererseits müssen im Gleichge- wicht bleiben. Sind wir dabei, das Gleichgewicht zu Der Wechsel von der staatlich gelenkten Planwirt- verlieren? Zu welchen Konsequenzen so etwas führt, schaft zur wettbewerblich organisierten Marktwirt- haben wir Ende der 70er Jahre — viele von uns waren schaft beansprucht mehr Zeit, als wir es uns vorge- damals in diesem Hause schon dabei — gesehen. stellt hatten. In dieser Situation besteht die Gefahr, Nicht mehr Steuern und Abgaben, sondern weniger daß vom Staat mehr erwartet wird, als er leisten kann. Steuern, insbesondere für die produzierende Wirt- Diese Zeit läßt sich nicht dadurch verkürzen, daß der schaft, sind gefordert. Staat lenkend und gestaltend und einzelfallbezogen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) in den Wirtschaftsablauf eingreift. Vielmehr ist zu be- fürchten, daß auf diese Weise falsche Strukturen ge- Wir müssen im Hinblick auf den europäischen Bin- schaffen oder alte, auf Dauer nicht wettbewerbsfähige nenmarkt alles dafür tun, die Attraktivität des Stand- Strukturen erhalten werden. ortes Bundesrepublik zu verbessern. In fast allen un- seren westlichen Partnerstaaten hat man sich auf den (Wolfgang Roth [SPD]: Das machen Sie doch Binnenmarkt eingestellt und die Steuern für Unter- täglich!) nehmen gesenkt. In Finnland haben Regierung, Ge- Deshalb macht es keinen Sinn, Herr Roth, der Treu- werkschaften und Arbeitgeber gemeinsam die Nomi- handanstalt immer neue und engere Vorgaben auf er- naleinkommen um 7 % gesenkt. Glücklicherweise legen zu wollen. brauchen wir das nicht; aber auch so etwas gibt es. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wir können bei uns nicht so tun, als ginge uns das alles nichts an. Wir sehen schon heute, daß viele Di- Ich bin gerne bereit, mit Ihnen eine industriepolitische rektinvestitionen an unserem Lande vorbeigehen. Es Diskussion zu führen. Aber Industriepolitik durch die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5179

Dr. Otto Graf Lambsdorff Hintertür wird es mit den Freien Demokraten nicht etwas endgültig weg und schicken dir dafür 3 000 geben. Mark." (Beifall bei der FDP — Matthias Wissmann Wir können wirtschaftspolitisch nicht darauf ver- [CDU/CSU]: Auch nicht mit der CDU/ zichten, den Investitionen Vorfahrt vor der Wieder- CSU!) herstellung der alten Eigentumsverhältnisse zu ver- schaffen. Wir können gesellschaftspolitisch die in der Was Ihre Forderung nach dem Treuhandausschuß alten DDR gewährten Nutzungsrechte nicht einfach anlangt, möchte ich sagen: Ich habe bisher nicht ge- beiseite wischen. Wir können ordnungspolitisch auf hört, daß die Kollegen des Haushaltsausschusses ge- den Schutz des P rivateigentums in der Sozialen sagt hätten, sie würden mit ihrer Arbeit nicht fertig. Marktwirtschaft ebensowenig verzichten. Wenn sie das tun, dann können wir darüber reden. Meine Damen und Herren, der Gesetzgeber wird (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Die werden dieses Problemknäuel niemals so lösen können, daß damit fertig!) es jedem Einzelfall gerecht werden könnte. Das haben Im Augenblick scheint mir das ein deutliches Mißtrau- Kommunisten in 40 Jahren ange richtet. Ich habe hier ensvotum gegen die Kollegen des Haushaltsausschus- früher schon einmal gesagt: Wenn Deutsche 40 Jahre ses zu sein, dem ich mich jedenfalls nicht anschließen lang Kommunismus machen, machen sie ihn ver- kann. dammt gründlich. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zur Lösung dieses Problems ist eine in Deutschland nicht gerade weitverbreitete Tugend, nämlich Ver- Meine Damen und Herren, die positive Perspektive gleichsbereitschaft, gefragt. Wir sollten vielleicht dar- in den fünf neuen Bundesländern — sie ist ja vorhan- über nachdenken, wie wir die Rahmenbedingungen den — wird nur dann Wirklichkeit, wenn ein klarer für eine Erhöhung der Vergleichsbereitschaft verbes- wachstumsorientierter marktwirtschaftlicher Kurs sern könnten, wie wir diese fördern könnten, damit verfolgt wird. Dazu gehören die Investitionsbedin- die unbestreitbaren Eigentumshindernisse in der frü- gungen des Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost, heren DDR schneller überwunden werden können. die Hilfe beim Ausbau der Verwaltungen, der Wieder- Von Ihrem neuen Fraktionsvorsitzenden, meine Da- aufbau der Infrastruktur. Dazu gehört auch die men und Herren von der SPD, von Herrn Klose, schwierige Klärung der Eigentumsfragen. 40 Jahre stammt der Ausspruch, der Staat sei der Reparaturbe- real existent gewesener Sozialismus und die national- trieb des Kapitalismus. Es ist zwar ein paar Jahre her, sozialistischen Enteignungen jüdischer Mitbürger ha- aber so war es ja wohl. Das war schon damals falsch. ben die Eigentumsordnung schwer beschädigt. Sie Heute wissen wir alle: Die Soziale Marktwirtschaft ist haben, wie der polnische Botschafter in Frankreich der Reparaturbetrieb des real existent gewesenen So- das kürzlich formulierte, die römische Zivilisation in zialismus. diesen Länder zerstört. In der Tat ist ja der Rechtsbe- griff Eigentum 2 000 Jahre alt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ob nun Entschädigung vor Rückgabe oder Rück- Wir haben gerade jetzt allen Anlaß, unsere freiheit- gabe vor Entschädigung, der Formelstreit hilft über- liche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung offensiv haupt nicht weiter. zu vertreten. Will die CDU-Grundwertekommission wirklich den Begriff „Soziale Marktwirtschaft" auf- (Wolfgang Roth [SPD]: Das ist richtig! Es muß geben? Ich kann das kaum glauben. Aber wenn, dann investiert werden!) überlassen Sie das nur den Liberalen; wir haben da Er hilft besonders dann nicht weiter, wenn es sich um keine Probleme, Herr Wissmann. Vermögen jüdischer Mitbürger handelt. (Beifall bei der FDP — Wolfgang Roth [SPD]: Ich kann die Aufregung, die gestern bei meiner Wir nehmen ihn auf!) Zwischenfrage an Herrn Thierse in Ihrer Fraktion ent- — Sie nehmen ihn auf. Na ja, aber bei Ihnen weiß ich stand, überhaupt nicht verstehen. Das ist ein Thema. nicht genau, was hinterher dabei herauskommt. Ich bin in der nächsten Woche mit den Vorsitzenden (Wolfgang Roth [SPD]: Ehrlich bleiben, Graf von vier großen jüdischen Organisationen in New Lambsdorff!) York zu einer Diskussion über dieses Thema verabre- det. Herr Waltemathe, der hier vorgetragen hat, nach — Herr Roth, Sie übernehmen immer nur das Etikett 1945 hätte für die Restitution gegolten: „Entschädi- und tun irgend etwas anderes in die Packung. gung vor Rückgabe", hat uns damit eine falsche Infor- mation gegeben. Ich nehme an, er hat sich geirrt. Ich Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Graf habe mir die Restitutionsgesetze angesehen: Vorran- Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage? gig war die Rückgabe, sogar bei gutgläubigem Er- werb. (Wolfgang Roth [SPD]: Aber das war nach Dr. Otto Graf Lambsdorff (FDP): Frau Präsidentin, 10 Jahren und nicht nach 50 Jahren!) gerne. — Ich sage ja nur, daß er eine falsche Angabe gemacht hat. Ich sage aber auch: Das ist in den internationalen Matthias Wissmann (CDU/CSU): Herr Kollege Graf Organisationen ein Thema von hoher politischer Rele- Lambsdorff, da ich Mitglied der Grundwertekommis- vanz für die Bundesrepublik Deutschland. Es täusche sion der CDU bin, wäre ich dankbar, wenn Sie zur sich keiner darüber hinweg, daß das Problem einfach Kenntnis nähmen, daß zu keinem Zeitpunkt je die auf diese Art und Weise zu lösen ist: „Wir nehmen dir Überlegung bestanden hat, das Gütesiegel christlich 5180 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Matthias Wissmann demokratischer Wirtschaftspolitik, die Soziale Markt- Wir machen ja als Opposition gar nicht so furchtbar wirtschaft, in Frage zu stellen. viel; wir strengen uns gar nicht so gewaltig an. (Beifall bei der CDU/CSU — Wolfgang Roth (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Endlich gibt [SPD]: Alles ein bißchen schmalzig!) es mal einer zu!) Aber trotzdem ist das Ansehen des Wirtschaftsmini- sters so miserabel. Woran liegt es wohl? Dr. Otto Graf Lambsdorff (FDP): Das Schmalz stört mich nicht; ich höre das gerne. Ich bin ja zufrieden, (Zuruf von der FDP: Nur an Ihnen!) wenn es so bleibt. Wenn diese Erklärung durch meine Zu den Subventionen will ich wenigstens folgendes Bemerkung provoziert worden ist, hat sie ihren Zweck sagen: Graf Lambsdorff, in der „Wirtschaftswoche" erfüllt. Ich danke Ihnen, Herr Wissmann. wurde von der Lachnummer gesprochen. Wenn ich es (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei richtig in Erinnerung habe, hat Ihr Kollege Weng Abgeordneten der CDU/CSU) selbst gesagt, daß das Ziel, das sich der Herr Wirt- Wir werden das gemeinsam tun; wir haben da mitein- schaftsminister gesetzt hat, nicht erreicht worden ist. ander keine Probleme. Wir warten eigentlich immer noch darauf, daß er sei- nen Hut nimmt; das hat er ja versprochen. Vielleicht Ich sage ausdrücklich: Die Freie Demokratische wäre es gar nicht so schlecht, wenn er ihn nähme. Partei und unsere Bundestagsfraktion haben Ver- trauen zur Politik des Bundeswirtschaftsministers und Wir haben im Wirtschaftsausschuß des Deutschen zum Bundeswirtschaftsminister selber. Gucken Sie Bundestages den Haushalt des Wirtschaftsministe ri mich nicht so fragend an, Herr Jens. -ums sehr sorgfältig beraten. Ich muß aus meiner Sicht drei scharfe Kritikpunkte dazu vortragen. Es gibt fal- (Dr. Uwe Jens [SPD]: Sie waren ja manchmal sche Weichenstellungen, die wir korrigieren müssen. gegen ihn!) Sobald wir Sozialdemokraten an die Regierung kom- — Ja, ich weiß schon. Manchmal — das will ich ja ganz men, werden wir sie korrigieren. offen sagen — gucken wir uns auch so an, sehen et- was ängstlich zu und fragen uns, ob er nun auf das (Zuruf von der CDU/CSU: 2050!) allerdünnste Eis geht. Zunächst einmal hat er die Hilfen für die Verbrau- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Und cherberatungsstellen gestrichen. Darüber kann man absäuft!) streiten. Tatsache ist aber ganz zweifellos, daß die schwächste Stelle der Wirtschaft der Verbraucher ist Aber es ist uns lieber, wir haben einen Wirtschaftsmi- und daß es zur marktwirtschaftlichen Ordnung ge- nister, der aufs Eis geht, als einen, der sich am Ufer- hört, daß wir die Position des Verbrauchers verbes- rand gemächlich auf seinem Hosenboden nieder- sern. Deshalb ist es einfach falsch, die Hilfen für die läßt. Verbraucherinformation, für die Verbraucherbildung Wir stimmen dem Haushalt des Bundeswirtschafts- und die Verbraucheraufklärung zu streichen. Im Ge- ministers zu. genteil: Wir müßten auf diesem Felde eigentlich mehr (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — tun. Matthias Wissmann [CDU/CSU]: Meinen Sie Das, was im Bereich der Hilfen für kleine und mitt- die Werftenhilfe?) lere Unternehmen geschehen ist — Herr Rossmanith hat es auch angesprochen — , ist unerträglich. Da wird in den alten Bundesländern die Ansparförderung, die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- wir gerade eingeführt haben, wieder gestrichen. lege Uwe Jens das Wort. Lohnkostenzuschüsse für Arbeiten auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung werden gestrichen. Es gibt in Zukunft nicht mehr das Eigenkapitalhilfe- Dr. Uwe Jens (SPD) : Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das war eben die Rede programm. Machen Sie sich doch bitte nichts vor: des Oberwirtschaftsministers; die Rede des Wirt- Wenn es erst einmal beseitigt ist, ist es furchtbar schaftsministers kommt am Ende. Er wollte nämlich schwer, es für die alten Bundesländer wieder einzu- gerne, daß keiner mehr nach ihm sprechen kann. führen. (Widerspruch von Bundesminister Jürgen Alles dies halten wir für falsch, weil wir die kleinen W. Möllemann) und mittleren Unternehmen brauchen, weil wir sie fördern wollen, weil sie das belebende Element einer Aber ich werde es nicht zulassen, daß wir uns mit der marktwirtschaftlichen Ordnung sind. Deshalb sollten Politik des Wirtschaftsministers nicht auseinanderset- Sie diese Entscheidungen korrigieren, sobald das zen. Sie werden Verständnis dafür haben, daß wir das möglich ist. tun; denn das ist die Aufgabe der Opposition. Wir (Beifall bei der SPD) müssen schon ein paar kritische Anmerkungen ma- chen. Herr Wirtschaftsminister Möllemann ist ja wirklich Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Jens, ge- sehr eifrig bemüht, seinen Bekanntheitsgrad zu stei- statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossma- gern. Aber ich habe das Gefühl, zwischen Bekannt- nith? heitsgrad und öffentlichem Ansehen gibt es eine er- hebliche, negative Korrelation. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es gibt ja auch Dr. Uwe Jens (SPD): Wenn es nicht auf die Redezeit die doppelte Null-Lösung!) angerechnet wird. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5181

Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Herr Kollege Jens, Ich glaube, es gibt auch Mängel im Hinblick auf die sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir, was langfristige Perspektive. Früher war das Wirtschafts- die Verbraucherberatung anlangt, bereits im vergan- ministerium einmal ein Grundsatzministerium. Jetzt genen Jahr den Beschluß gefaßt haben, die Mittel in ist das Wirtschaftsministe rium zwar häufiger in den diesem Jahr auf 80 % und im nächsten Jahr auf 60 % Schlagzeilen — das gebe ich gerne zu — , aber über zu kürzen und dieses Programm später auslaufen zu Grundsatzprobleme, über langfristige Probleme wird lassen, es aber in die Verantwortung der Länder zu leider überhaupt nicht mehr nachgedacht. Es geht übertragen, wohin es verfassungsrechtlich gehört? kurzfristig nur um Gschaftlhuberei. Sind Sie des weiteren bereit, zur Kenntnis zu neh- Was wollen Sie eigentlich machen, Herr Wirt- men, daß das Eigenkapitalhilfeprogramm in den alten schaftsminister, wenn das eintritt, was wir befürchten, Bundesländern zunächst einmal nicht mehr fortge- daß die Konjunktur weltweit absinkt, angesichts der führt werden muß, weil es insofern erfolgreich war, als gewaltigen Verschuldung und angesichts der Tatsa- im vergangenen Jahr im Gegensatz zu 1980, als nur che, daß die Zinsen steigen, und zwar von 42 Milliar- etwa 170 000 Betriebe dieses Programm in Anspruch den DM, die wir jährlich ausgeben, auf 58 Milliarden genommen haben, 390 000 Betriebe dieses Programm DM im Jahre 1995, wodurch wir jeden Handlungs- in Anspruch genommen haben? spielraum für konjunkturelle Eingriffe mittlerweile verspielt haben? Auf diesem Felde liegt vieles im argen. Es geht Dr. Uwe Jens (SPD): Ich nehme natürlich gern alles darum, diese Situation zu verändern. Wir sind mittler- zur Kenntnis. Ob es richtig ist, was Sie da sagen, ist weile Spitzenreiter bei der Preissteigerung. Die Ar- eine zweite Frage. Zu den Verbraucherberatungsstel- beitslosenquote ist enorm hoch. Die Position, die wir len gibt es zwar eine Aussage des Bundesrechnungs- früher einmal eingenommen haben — wir waren frü- hofs, aber diese ist mehr oder weniger bestellt. Es gibt her in bezug auf diese beiden wirtschftlichen Kennzif- von seriösen Verfassungsrechtlern die Aussage: Die- fern führend — , haben wir leider verloren. ses ist eine Aufgabe des Bundes, und sie soll weiter (Josef Grünbeck [FDP]: Warum denn?) erfüllt werden. Deshalb kritisieren wir hier, daß das Meine Damen und Herren, ich glaube, daß die Ar- gestrichen worden ist. beitslosigkeit auch in den neuen Bundesländern in Es wäre schön, wenn wir im Rahmen der nächstjäh- Zukunft sprunghaft ansteigen wird. Ich finde, die Re- rigen Beratungen das Eigenkapitalhilfeprogramm gierung sollte sich etwas sorgfältiger ausdrücken. Ich wieder einführen könnten. Sie votieren ja auch dafür. gebe zu, daß in bestimmten Wirtschaftszweigen ein Die Summe aus SPD- und CDU-Stimmen würde aus- Anstieg zu verzeichnen ist, was Investitionen angeht reichen, das zu realisieren. — in einigen Bereichen mehr, in anderen weniger —, Der dritte Punkt, bei dem ich Kritik üben muß, be- aber ich glaube, daß es noch eine lange Zeit dauern trifft den Streit um die Kohle. Monatelang hat der wird, bis wir die Arbeitslosigkeit in den neuen Bun- Bundeswirtschaftsminister dafür gesorgt, daß in den desländern herabgedrückt haben. Ich weiß, daß die Kohlerevieren Unruhe herrscht. Das, was eben von Menschen drüben es überhaupt nicht mehr verstehen Ihnen gesagt wurde, grenzt, wie ich glaube, schon an können, wenn ihnen die Bundesregierung, wenn ih- eine Beleidigung der Bergleute, die — wie Sie und nen überhaupt eine Regierung etwas einreden will, wie jeder andere — das Recht haben, für ihren Ar- was einfach nicht wahr ist. Sie sind jahrelang, jahr- beitsplatz zu streiten. So furchtbar schön ist die Tätig- zehntelang von der Regierung belogen worden. Dies keit der Bergleute wirklich nicht. Ich halte es nach wie muß ein Ende haben. Dies darf diese Bundesregie- vor volkswirtschaftlich für sinnvoll, daß wir auf einen rung auch nicht praktizieren. Sockel an heimischen Kohiereserven auch in Zukunft (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dies tut sie doch zurückgreifen können. Das ist doch das Ziel der Koh- auch nicht! Herr Professor Jens, das ist unter lepolitik. Ihrem Niveau! — Weitere Zurufe von der (Beifall bei der SPD — Kurt J. Rossmanith CDU/CSU) [CDU/CSU]: Das tun wir! Das habe ich ja Die ständigen Eingriffe in die Tarifautonomie sind nicht bestritten!) von meinem Kollegen Wolfgang Roth kritisiert wor- Der Wirtschaftsminister hat sich da wieder einmal den. Ich meine, es ist auf lange Sicht wichtig, daß wir lautstark nach vorn gemogelt. dafür sorgen, daß das Sparen wieder eine Tugend wird. (Josef Grünbeck [FDP]: Gewagt, nicht gemo (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gelt!) - der CDU/CSU und der FDP) Jetzt redet er über ein energiepolitisches Gesamtkon- Es wäre sinnvoll, wenn vor allem die FDP darüber zept. Was ist das für eine Politik? Ich finde, umgekehrt nachdenken würde, ob wir nicht gerade jetzt eine wird ein Schuh daraus. Zunächst muß man ein Kon- Initiative zur Förderung des Produktivvermögens in zept erstellen. Man muß festlegen, welche Energieträ- Arbeitnehmerhand ergreifen müssen. ger in welcher Höhe zum Zuge kommen sollen. Das Ergebnis besagt, wieviel Kohle wir in Zukunft noch (Matthias Wissmann [CDU/CSU]: Deswegen brauchen. Das, was diesbezüglich vom Wirtschaftsmi- wollen Sie Kontrollmitteilungen!) nister praktiziert worden ist, ist völlig falsch, meine Damen und Herren. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Jens, ge- (Josef Grünbeck [FDP]: Kein Applaus von statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen der SPD!) Grünbeck? 5182 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Uwe Jens (SPD): Ich möchte diesen Gedanken Das Denken und Handeln unseres amtierenden Bun- erst noch zu Ende führen. — Dabei müssen wir selbst- desministers für Wirtschaft reicht leider häufig nur bis verständlich etwas tun, um das Risiko der Arbeitneh- zum nächsten Wahltermin. Das Wirtschaftsministe- mer abzusichern. Wir bräuchten auch einen staatli- rium ist kein Grundsatzministerium mehr, wie das in chen Rahmen für eine Beteiligungsgesellschaft. Auf der Vergangenheit der Fall war. diesem Felde blockt allerdings die FDP ab, und das Ich meine jedoch: Nur wenn wir vorausschauend finde ich nicht schön. die wirklichen Probleme der Zukunft erkennen und sie einer Lösung näherbringen, hat unsere Wirtschaft Vizepräsidentin Renate Schmidt: Jetzt haben Sie eine Chance. Die unverrückbaren Eckpfeiler dieser das Wort, Kollege Grünbeck. Wirtschaft sind für Sozialdemokraten klar. Die Wirt- schaft der Zukunft muß freiheitlich, sozial und ökolo- gisch sein. Josef Grünbeck (FDP): Lieber Herr Kollege Jens, da Sie zum Sparen aufgefordert haben, frage ich Sie, wie Schönen Dank. Sie die Politik der SPD-Fraktion im Wirtschaftsaus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schuß damit vereinbaren, daß sie in nahezu jeder Sit- der PDS/Linke Liste und des Abg. Dr. Klaus- zung ausgabenwirksame Anträge einbringt, ohne die Dieter Feige [Bündnis 90/GRÜNE]) Summe der Ausgaben überhaupt zu errechnen, schon gar nicht davon zu reden, daß überhaupt keine Dek- kungsvorschläge gemacht werden. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster Red- ner hat das Wort der Kollege Dr. Klaus-Dieter Feige. Dr. Uwe Jens (SPD) : Wir haben in unserem Antrag, der noch zur Abstimmung gestellt wird, eine Fülle von Kürzungsvorschlägen gemacht. Wir schlagen nicht Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Frau nur Kürzungen im Bereich des Einzelplans 09, son- Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- dern darüber hinaus auch in anderen Haushalten vor. ren! „Wenn ihr wüßtet, mit wie wenig Aufwand von Dort sollen erhebliche Summen gestrichen werden. Verstand die Welt regiert wird, so würdet ihr euch Machen Sie doch bitte endlich mit, und reden Sie wundern" , so weit Papst Julius III. nicht immer davon, daß die Ausgaben für den Jä- Nach dem bisherigen Verlauf der Haushaltsdebatte ger 90 aus dem Haushalt verschwinden. Dann hätten wundert auch mich nun nichts mehr. In den letzten wir doch schon einen Ansatz. Tagen ist zwar viel und ausdauernd über die Notwen- (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Das haben wir digkeit und Gefahr der Verschuldung und der Sub- nach Ihrer Meinung schon bei der Entwick ventionspolitik gestritten worden, den wesentlichen lungshilfe ausgegeben!) Punkt der verdeckten Subventionen hat aber nie- mand angesprochen. Hätte man nämlich der Wirt- Der Herr Wirtschaftsminister will Ökonomie und schaft der Bundesrepublik die bislang weitgehend Ökologie ja gerne miteinander versöhnen, wie er so unentgeltliche schön sagt. Ich finde das auch richtig. Wir Sozialde- Beschädigung und Zerstörung unse- rer Biosphäre schon früher in Rechnung gestellt, wäre mokraten haben Anträge eingebracht — ich gebe zu, der Umweltminister nicht zu folgendem Ergebnis ge- das wird auch wieder ein bißchen Geld kosten — , die kommen — ich zitiere — : „Der Wohlstand der westli- darauf abzielen, das Energiesparen zu fördern. Unser chen Industrieländer entspricht damit einem Wohl- Ziel ist die bessere Nutzung der Primärenergie. Hät- standsbetrug und einer Wohlstandslüge. " Natürlich ten wir das doch schon vor einigen Jahren — zu dieser sind mir gestern in der Debatte die Worte von Herrn Zeit war Herr Möllemann noch nicht im Amt; das gebe Solms, daß wir uns ein bißchen zusammenreißen sol- ich gerne zu — getan! Dann wären wir im Hinblick auf len, nicht entgangen; dies betrifft insbesondere die die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie und ins- soeben erwähnten Worte. Aber ich muß den Umwelt- besondere in bezug auf die Vermeidung von CO2 minister so zitieren, wie er das gesagt hat. Ich glaube, schon einen großen Schritt weiter. eine Sauerei sollte auch als solche benannt werden. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Kohle!) Ich denke, es wird schnell klar, um welche Dimen- Ihre Meinung, Herr Bundeswirtschaftsminister, daß sion es sich bei diesem Betrug handelt. Will man also globale Probleme globale Lösungen erfordern, kön- die Subventionierung durch ökologischen Raubbau nen wir nicht teilen. Wer so argumentiert, verschiebt marktwirtschaftskonform aufheben, so müssen in den die Lösung der ökologischen Probleme, wie ich meine, nächsten Jahren die Kosten der Umweltschäden- be- auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Bei besonders wich- schleunigt in die Preise integ riert werden. Das allein tigen Problemen in ökologischer Hinsicht können wir wird aber nicht ausreichen, wenn nicht gleichzeitig nicht auf andere warten. Hier müssen wir sofort han- verkrustete Wirtschaftsstrukturen für einen drasti- deln, und zwar in der Erwartung, daß andere nachzie- schen Wandel zur ökologischen Marktwirtschaft ge- hen. öffnet werden. Erst dann, glaube ich, darf sich eine Wir sind im übrigen davon überzeugt: Die Volks- Marktwirtschaft als sozial bezeichnen. wirtschaft, die als erste die ökologischen Herausforde- Beim Abbau der ökologischen Subventionierung, bei rungen erkennt und sie aufgreift und sie einer Lösung der Internalisierung der ökologischen Kosten unserer näherbringt, hat gewaltige ökonomische Vorteile für Wirtschaftsweise, letztlich bei einem ökologischen die Zukunft. Strukturwandel geht es um eine überlebenswichtige (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist richtig! Weichenstellung für das nächste Jahrtausend. Darum macht diese Regierung das!) Manchmal könnte man den Eindruck haben, es geht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5183

Dr. Klaus-Dieter Feige nicht nur um Weichenstellung, sondern einfach bloß Aktionsplan zur Umsetzung Ihres eigenen Klima- um die Richtungsänderung. schutzzieles notwendig, der zumindest folgende Ele- mente enthält: eine schrittweise Erhöhung der Mine- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Nein, ralölsteuer und die Einführung einer Schwerver- es geht um die Züge, die fahren!) kehrsabgabe, die Förderung der rationellen Energie- — Um die Züge geht es auch und um das, womit sie nutzung für Raumwärme im Neubau, eine wirksame gefüllt sind. Unterstützung der rationellen und wirtschaftlichen Dabei handelt es sich um eine so grundsätzliche Nutzung von Elektrizität in Indust rie und Haushalt, Umorientierung, daß der Umwelt- und der Wirt- das überfällige Marktdurchdringungsprogramm für schaftsminister diese entscheidende Aufgabe nur Kraft-Wärme-Kopplung, ein Markteinführungspro- noch mit Unterstützung aller anderen Kollegen im gramm für regenerative Energien. Der Stand der For- Kabinett angehen können, wenn deren Lösung Erfolg schung läßt es längst zu. zeigen soll. Aber von einer solchen Vernunftposition, Wir halten die Einführung einer Primärenergieab- glaube ich, sind der Umweltminister und auch der gabe einschließlich deren schrittweiser Erhöhung in Wirtschaftsminister gegenwärtig noch sehr weit weg. den nächsten Jahren für unumgänglich. Das Abga- Es sieht eher so aus, als ob die Bundesregierung und benaufkommen muß dann zweckgebunden in ein fi- allen voran der Bundeswirtschaftsminister mutlos vor nanzielles Förderprogramm für den Klimaschutz ein- ihrer Verantwortung für die Zukunft zurückwei- fließen. chen. Es ist höchste Zeit, das Energiewirtschaftsgesetz zu (Bundesminister Jürgen W. Möllemann: novellieren, und zwar so, daß der Least-cost-plan- Dummerstorf!) ning-Ansatz Grundprinzip der Energiewirtschaft wird und sich die Ziele der EVUs in Richtung Energie- — Das kenne ich schon. Das ist nicht neu, Herr Möl- lemann. Dummerstorf hat die klügsten Leute hervor- dienstleistungsunternehmen wandeln. gebracht. Sie sehen es ja. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren, was findet man von diesen Elementarmaßnahmen im (Zuruf von der FDP: Wir hören es! — Josef Spiegel des Haushalts wirklich? Rein gar nichts. Dabei Grünbeck [FDP]: Das muß man unterstrei würde gerade die Aufdeckung der Subventionierung chen!) des Umweltraubbaus dem Wirtschaftsminister die — Ich habe natürlich nicht mich gemeint. Ich bin in Chance geben, seine Rücktrittsankündigungen mit Parchim geboren worden. Parchim — das ist eine Kürzungen um 100 Milliarden DM zu verbinden. wunderschöne Stadt. Gegenüber dem notwendigen Richtungswechsel in Es sieht eher so aus: Ihre bisherigen Maßnahmen der Energiepolitik bleibt der Entwurf eines neuen zugunsten unserer natürlichen Lebensgrundlagen er- energiepolitischen Konzepts des Wirtschaftsministers schöpfen sich in einer Flut technokratischer Verord- hinter der Realität weit zurück. Trotz des ehrenwerten nungen, Gebote und Grenzwerte. Eine wirkliche selbstgesteckten Ziels der Bundesregierung, die CO2- Neuausrichtung hin zu einer ökologischen Wirt- Emissionen bis zum Jahre 2005 um 25 % bis 30 % zu schaftsweise hat sie nicht bewirken können; vielleicht reduzieren, ist bereits ein Jahr tatenlos verstrichen. sollte sie das auch gar nicht. Der zugehörige Kabinettsbeschluß stammt immerhin Meine Damen und Herren, noch während der 90er vom '7. November vergangenen Jahres. Das Bundes- Jahre müssen einschneidende Veränderungen einge wirtschaftsministerium war bisher nicht in der Lage, leitet werden, wenn überhaupt noch zu rettende Um- ein diesen Anforderungen entsprechendes Energie- welt übrig sein soll. Ohne eine wirkliche Effizienzre- konzept zu erarbeiten. Offenbar ist sich die Bundesre- volution unserer Wirtschaft wird das nicht gehen. Nur gierung aber nicht der ganzen Tragweite ihrer eige- ökologisch intelligente Lösungen in Politik und Wirt- nen Zielsetzung bewußt. Oder soll vielleicht eine ein- schaft bieten eine Chance auf eine lebenswerte Zu- zige von Herrn Möllemann in Auftrag gegebene Stu- kunft. die, die bei steigenden Energiepreisen und spürbaren Einsparungsmaßnahmen dennoch nur eine Vermin- Für einen solchen ökologischen Strukturwandel derung der CO2-Emissionen um 11 % gegenüber dem muß endlich eine innovative Politik den richtigen Rah- Stichjahr 1987 prognostiziert, den Ausstieg aus dem men setzen und ein glaubwürdiges ökologisches Leit- Kabinettsbeschluß vorbereiten? Völlig im Gegensatz bild entwerfen, damit sich die Menschen in der Wirt- dazu stehen die Studien, die die Enquete-Kommission schaft, Produzenten wie Konsumenten, zunehmend „Schutz der Erdatmosphäre" in Auftrag gegeben hat. umweltorientiert verhalten. Diese waren Voraussetzung, um zu dem Kabinetts-- Zu diesem Rahmen gehört neben einem neuen öko- beschluß zu kommen. logischen Verkehrskonzept vor allem eine Neuorien- Wer jedoch meint, durch Aus- und Neubau von tierung der Energiepolitik des Bundes, die eine effi- Atomkraftwerken die Klimakatastrophe abwenden ziente Bereitstellung und Verwendung von Energie zu können, wird garantiert das Gegenteil erreichen. wie auch die Nutzung regenerativer Energien voran- Wenn der Wirtschaftsminister weiterhin der Option treibt. Wir brauchen endlich den Umbau der an- Kernenergie und damit der Strategie Energiemix das gebotsorientierten Energiewirtschaft zur nutzungs- Wort redet, zeigt er allzu deutlich, daß ihm die not- orientierten Sonnenenergiewirtschaft. Dafür muß wendige Einsicht in die internen direkten und indi- endlich ein Konsens hergestellt werden. rekten Wirkzusammenhänge der Energieerzeu- Um diese Neuorientierung zu leisten, ist heute ein gungs- und -verbrauchsstrukturen bis heute fremd umfassender Maßnahmenkatalog und ein konkreter geblieben sind. Bundesminister Möllemann hält of- 5184 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Klaus-Dieter Feige fenbar an einer sehr simplen Betrachtungsweise fest, deskindern eine Chance auf eine lebenswerte Zu- die in unserer komplexen bewegten Welt längst fehl kunft erhalten bleibt! am Platz ist. Oberflächlich betrachtet scheinen Kern- Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und kraftwerke wirklich keine Treibhausgase zu emittie- Herren, leider ist von einem zukunftsorientierten, ins ren. Aber — ich glaube, Herr Möllemann, hier haben nächste Jahrtausend weisenden Energiekonzept bei Sie Ihre Berater im Stich gelassen — allein die Be- der Bundesregierung nichts zu sehen. Und das ist trachtung des gesamten Brennstoffkreislaufs vom wohl auch nicht zu erwarten. Der neue und wohl doch Uranbergbau über die Anreicherung und den Kraft- sehr altmodische Entwurf des Wirtschaftsministers werksbau bis hin zur Entsorgung würden Ihren Blick beharrt weiterhin blind auf energiepolitischen Ansät- auf die Tatsache lenken: Pro Kilowatt erzeugten zen der 70er Jahre und zementiert damit bestehende Atomstroms wird ein Vielfaches an CO2 im Vergleich ineffiziente Strukturen. zu mit Erdgas befeuerten Kraft - Wärme - Kopplungs- anlagen freigesetzt. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) (Lachen des Abg. Josef Grünbeck [FDP]) Auch die Orientierung der Energieforschung weist nach wie vor in die Vergangenheit. Während für sämt- — Ja, genau, das können Sie nachrechnen. liche erneuerbaren Energieträger und die rationelle Noch gravierender dürften die indirekten Auswir- Energienutzung 1992 gut 350 Millionen DM ausgege- kungen von Kern- und anderen Großkraftwerken ein- ben werden sollen — das akzeptiere ich als eine gute schließlich der dazu passenden zentralistischen Orga- Zahl — , wird für die Erforschung nuklearer Energien nisationsstrukturen unserer großen Energieversor- fast das Vierfache bereitgestellt. Das ist noch ohne die gungsmonopole auf das Klimaschutzziel sein. Der in- zukünftigen Milliardenbeträge für die Kernfusionsfor- härente betriebswirtschaftliche Zwang zum exzessi- schung gerechnet. ven Stromabsatz auch infolge der hohen Investitions- Globale Probleme wie der bereits reale Sprung in kosten bei gleichzeitig fixkostenintensiver Finanz- die Klimakatastrophe, Herr Möllemann, erfordern si- struktur fördert den Energieverbrauch. Er fördert ihn. cherlich auch globale Lösungsansätze. Mit Blick auf

Betreiber von Großkraftwerken torpedieren so den die UNCED - Konferenz 1992 in Rio in Brasilien kön- Ausbau der effizienteren dezentralen Kraft-Wärme- nen die Entwicklungsländer als Hauptbetroffene des Kopplung, von den Risiken der Atomenergienutzung von den Industrieländern verursachten Klimaschocks einmal ganz abgesehen. erwarten, daß auch durch die Bundesrepublik Meine Damen und Herren, angesichts dieser Tatsa- Deutschland drastische Energiesparmaßnahmen fi- chen und der dringlichen Notwendigkeit für eine Effi- xiert werden. Auch einzelne Nationen können durch zienzrevolution unseres Energiesystems frage ich die von ihnen ausgehende Signalwirkung einer ent- also den Bundeswirtschaftsminister: sprechenden Klimakonvention mit internationaler Bindungskraft Vorschub leisten. Das hat auch etwas Warum, Herr Möllemann, wurde die Kraft - Wärme- mit Glaubwürdigkeit zu tun. Kopplung als einzige effiziente Verwertungsform fos- siler Brennstoffe bis heute nicht in das Stromeinspei- So habe ich auch die Ergebnisse der Reise von sungsgesetz einbezogen? Liegt es etwa am Wider- Herrn Töpfer — er ist wieder zurück —, die ich heute stand der EVU-Lobby, die das große Anwendungspo- einer „dpa"-Meldung entnahm, verstanden. tential in Industrie, Gewerbe, Gemeinden oder gar Meine Damen und Herren, frühzeitige Innovatio- Haushalten fürchtet? nen, umweltverträgliche Energietechnologien und deren heutige Marktanwendung bauen Wettbe- (Zuruf von der SPD: Richtig!) werbsvorteile auf und sichern zukunftsträchtige Wie, Herr Möllemann, sollten die zentralisiert orga- Märkte. Dies ist für die Bundesrepublik, aber auch für nisierten Elektrizitätsversorgungsunternehmen die Europa um so wichtiger, da auf anderen Zukunfts- dezentral vor Ort vorhandenen Potentiale zur rationel- märkten, wie z. B. Telekommunikation und Computer len Energienutzung und Energieeinsparung mobili- die Konkurrenz in Fernost einfach davonläuft. sieren? Sind dazu nicht gänzlich neue Strukturen, vor- Schließlich hat die bundesdeutsche Wirtschaft nicht zugsweise gar auf kommunaler Ebene notwendig? zuletzt dank der nachsorgenden Umweltpolitik der Warum, Herr Bundeswirtschaftsminister, halten Sie 80er Jahre die Marktführerschaft bei der End - of - Pipe- am Stromvertrag für die neuen Länder fest? Ist es Technologie erworben. Deshalb ist es angebracht, nicht offenkundig, daß mit regionalen Energiemono- auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft mit polisten weder eine entwicklungsfähige Energie- einer zügigen Einbindung der Umweltschäden in die struktur aufgebaut werden kann noch mögliche Emis- Energiepreise vorzupreschen. - sionsminderungspotentiale genutzt werden können? Ich gebe zu, daß sich manche Entscheidung des Wie, Herr Möllemann, gedenken Sie den aufge- Wirtschaftsministers optisch nicht schlecht macht. zeigten Gegensatz zwischen Energieeinsparung, ra- Aber optisch nicht schlecht — und vielleicht auch tioneller Energienutzung und beschleunigter Anwen- ästhetisch — ist auch der freie Fall eines vergeßlichen dung erneuerbarer Energieträger einerseits und dem Fallschirmspringers, bis zum Aufschlag. kontraproduktiven Weiterbetrieb von Atomkraftwer- Schönen Dank. ken zu überwinden? (Beifall bei der SPD) Denken Sie daran, daß Sie heute in der Verantwor- tung stehen, die unabdingbaren Weichenstellungen vorzunehmen, damit auch den zukünftigen Genera- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat tionen, unseren Kindern und vielleicht unseren Kin der Kollege Dr. Fritz Schumann das Wort. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5185

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Li- hinnehmen. Wir sollten die Bundesregierung gemein- ste): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! sam auffordern, für die Schaffung wettbewerbsfähi- Graf Lambsdorff, ich habe Ihre Ausführungen mit gro- ger Arbeitsplätze noch mehr als bisher zu tun. Auch ßem Interesse verfolgt. wenn es zur notwendigen Wirtschaftspolitik unter- schiedliche Auffassungen gibt, ob die Schaffung (Josef Grünbeck [FDP]: Das ist lobenswert!) neuer Arbeitsplätze oder die Umgestaltung der vor- Ich möchte Ihnen auch bestätigen, daß das, was Sie handenen hier vorgetragen haben, einer inneren Logik nicht (Michael Glos [CDU/CSU]: Wo sind Ihre Kol entbehrt. legen?) (Franz Müntefering [SPD]: Jetzt wird er aber — hören Sie doch bitte zu! — der Ausgangspunkt ist, verlegen! — Michael Glos [CDU/CSU]: Sie halten wir für das Entscheidende, daß alles getan reden sich um Kopf und Kragen! Die lassen wird, um in den neuen Bundesländern wettbewerbs- Sie nie mehr auftreten!) fähige Arbeitsplätze zu schaffen. Nur, die Frage ist: Was nützt diese innere Logik ange- Wo sehen wir in erster Linie Ansatzpunkte für die sichts der Tatsache, daß wir es mit einer Übergangs- Schaffung von Arbeitsplätzen? Unter den gegenwärti- periode zu tun haben, die wir vielleicht nicht allein mit gen Bedingungen nimmt die Treuhandanstalt eine den Lehren der freien Marktwirtschaft bestehen kön- Schlüsselstellung für die Veränderung der Lage ein, nen, die sicher auch nur eine begrenzte Zeit wirksam auch wenn es nur eine vorübergehende Aufgabe ist. ist? Was nützt diese innere Logik angesichts der Tat- Nach unserer Auffassung kommt es darauf an, das sache, daß in den neuen Ländern 4,9 Millionen Ar- wirtschaftliche Potential in Indust rie, Landwirtschaft beitsplätze weggefallen sind und daß — nach über- und im Dienstleistungssektor aus der Konkursmasse einstimmender Einschätzung verschiedener Wirt- zentralistisch mißleiteter Wirtschaft in den neuen schaftsinstitute — in den nächsten Monaten noch Bundesländern mit gesamtstaatlicher Unterstützung mehr Arbeitsplätze wegfallen, als neue entstehen? zu beleben, um den Bürgern Arbeit und den neuen (Josef Grünbeck [FDP]: Das hat Graf Lambs Bundesländern wirtschaftliche Lebensfähigkeit zu dorff ausdrücklich betont! Sie haben nicht schaffen; zugehört! — Weitere Zurufe von der FDP) (Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP] Darunter sind sicher auch Arbeitsplätze gewesen, die meldet sich zu einer Zwischenfrage) nicht notwendig waren. denn auch die leiden darunter ganz erheblich. Der Aufschwung leidet an vielem, am meisten Trotz vieler Erklärungen seitens der Bundesregie- daran, daß er noch nicht so richtig eingesetzt hat. Er rung zur Veränderung der Aufgabenstellung der leidet sicher auch daran, daß — im Unterschied zum Treuhand mit dem Ziel, für funktionierende Arbeits- Wirtschaftswunder von 1948 bis in die 50er Jahre hin- plätze zu sorgen, hat sich die Lage nicht verändert. Ich ein — die vielen kleinen Investitionen für die Schaf- freue mich sehr, daß zu dieser Erkenntnis auch Dr. fung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze fehlen. Sie Paul Krüger von der CDU-Fraktion gekommen ist. Er fehlen vor allem auch deshalb, weil es mit der Groß- hat einen Artikel mit der Überschrift „Strukturpolitik industrie eher rückwärts als vorwärts geht. Ohne statt reiner Lehre" veröffentlicht. Ich konnte ihn nicht Flaggschiff keine Begleitschiffe; das wissen auch fragen, aber ich darf ihn hier sicher einmal zitieren: Sie. Strukturpolitik statt sanieren und verscherbeln — so (Michael Glos [CDU/CSU]: Waren Sie bei das Ziel einer Gesetzesinitiative. Weiter heißt es wört- der Marine?) lich: In den alten Bundesländern hat es eine Degression in Für uns ist es nicht einsehbar, daß im Westen der Großindustrie zu keiner Zeit gegeben. Unternehmen wie die Bundesbahn und Kohle echen am Tropf des Staates hängen und in Ost- Die Bundesregierung setzt bei der Ankurbelung der deutschland die reine Lehre praktiziert wird. Wirtschaft — nach unserer Auffassung einseitig — Nach langen, vergeblichen Bemühungen sind wir weiter auf die Kräfte des Marktes, die es ohne Zweifel deshalb dabei, unseren Standpunkt intensiver gibt. Warum aber sollen diese Kräfte freiwillig für ei- durchzusetzen. nen Aufschwung in den neuen Bundesländern sor- gen? Infolge der Kapazitätsreserven in den alten Bundes- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, ländern einerseits und der fehlenden Infrastruktur in würden Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen den neuen Bundesländern andererseits und auch mit Weng gestatten? --z Blick auf Europa haben die Marktkräfte für einen wei- teren Konjunkturaufschwung im Westen gewirkt. Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Li- Während die Lieferungen im innerdeutschen Waren- ste): Gern, ich wollte nur das Zitat zu Ende bringen. verkehr von Ost nach West — solche Zahlen lassen sich ja verfolgen — im Verlaufe des Jahres 1991 zu- rückgegangen sind und noch etwa 700 Millionen DM Vizepräsidentin Renate Schmidt: Und wenn Sie betragen, haben sich die Lieferungen von West nach zwischendurch einmal Luft holen, besteht auch die Ost von Januar 1991 bis August 1991 von 2,6 Milliar- Möglichkeit zu Zwischenfragen. den DM auf 4,3 Milliarden DM erhöht. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sollten Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Es ist jetzt die gegenwärtige Situation nicht als unveränderlich ein bißchen lange her, Frau Präsidentin. — 5186 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Herr Kollege, Sie haben gerade gesagt: „Hören Sie Dr. Otto Graf Lambsdorff (FDP): Herr Kollege, doch bitte zu." Meine Frage an Sie: Haben Sie dabei könnten Sie mir bitte mal erklären oder mich vielleicht insbesondere an Kolleginnen und Kollegen Ihrer über den Zeitpunkt unterrichten, wann Sie Ihre Ab- Gruppe gedacht, von denen kein einziger da ist? neigung gegen Waffenexporte entdeckt haben und wie es zu dieser wundersamen Wandlung gekommen ist? Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Li- ste): Ich gehe davon aus, daß sie am Bildschirm sitzen und das verfolgen, was ich hier sage. Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Li- (Heiterkeit und Zurufe) ste): Wenn Sie mich persönlich fragen: Ich habe diese Abneigung natürlich schon immer gehabt. Es wird Das passiert in Ihren Fraktionen auch. Ihnen sicherlich auch schwerfallen, das hier zu be- Die Treuhand weist vieles zurück, was über den streiten. Verkauf der Unternehmen hinausgeht. So kommt es (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Ich denke in den Fällen, wo sich kein Käufer findet oder ent- gar nicht daran!) scheidet, zu wirtschaftlichem Stillstand. Sie spielen sicher auf Herrn Schalck-Golodkowski Im Gegensatz zu den Ankündigungen der Bundes- und auf das an, was in dieser Beziehung gemacht wor- regierung widersetzt sich die Treuhandanstalt weiter den ist, oder auf andere an, die in dieser Richtung Konzepten zur Sicherung von Arbeitsplätzen, die ihr gewirkt haben. Ich hatte darauf weder Einfluß noch von Unternehmen vorgelegt werden. Ohne Entschei- daran Anteil. Viele von uns DDR-Bürgern haben so dung zu solchen Konzepten, die auf die wirtschaftli- etwas nicht gewußt — leider, muß ich sagen. Insofern che Tätigkeit gerichtet sind, ist aber wirtschaftliches bin ich sehr glücklich darüber, daß heute so etwas Leben undenkbar. Das ergibt sich allein schon aus transparenter ist und herauskommt und daß darüber den Realisierungszeiten für Investitionen, um Produk- geredet werden kann. Ich sehe das auch als einen tionen umzugestalten und zu modernisieren. echten Fortschritt an. Wir verstehen Sanierung unter den gegenwärtigen (Michael Glos [CDU/CSU]: Sie haben immer Bedingungen in den neuen Bundesländern nicht, wie nur Landwirtschaftsmaschinen exportiert?! Gegner jeglicher Sanierung in den Treuhandunter- — Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der nehmen behaupten, als komplette Strukturpolitik. Die FDP) Begründung, daß nicht saniert werden könne, weil die Bundesregierung nicht wisse, welche Entwicklungs- Nach wie vor wird infolge der Regelungen der Wäh- richtungen perspektivisch seien, ignoriert die tatsäch- rungsunion durch die Treuhandanstalt genausoviel lichen Notwendigkeiten für einen wirtschaftlichen für Zinszahlungen wie für Sanierungen ausgegeben. Aufschwung. Die Beschäftigten in den Betrieben der Die deutschen Banken verdienen jährlich rund Treuhandanstalt fordern doch nicht, daß über Nacht 10 Milliarden DM an der künstlichen Verschuldung komplett neue, modernste Ausrüstungen hingestellt ehemaliger DDR-Staatsunternehmen, denen sie nie- werden. Es geht darum, Stillstand und Entschei- mals einen Kredit gewährt haben. dungslosigkeit mit Investitionen zu beenden, allen (Zuruf von der CDU/CSU: Die sind herunter eine Chance zu geben, sich unter den neuen Bedin- gewirtschaftet! — Weitere Zurufe von der gungen zu erproben. Dann erst kann der Markt ent- CDU/CSU) scheiden. Arbeitsplätze sind dann ineffizient, wenn — Die deutschen Banken haben diesen Kredit an die der Markt effizientere anbietet. Industrie nicht gewährt, und alles das geht von den Auch wenn wir zur Privatisierung angesichts der Mitteln ab, mit denen andernfalls Arbeitsplätze gesi- Herausforderungen an die entwickelte Wirtschaft in chert werden könnten. den alten Bundesländern — ich nenne hier nur Um- Wir bekräftigen an dieser Stelle unseren Vorschlag, weltskandale, Verkehrschaos und Waffenexporte — die Banken durch die Zeichnung einer Anleihe an den eine andere Auffassung haben, sehen wir keinen Ge- Kosten der Einheit zu beteiligen. Wir meinen, daß das gensatz zwischen Sanierung und Privatisierung. Wir angesichts der zusätzlichen Gewinne gerechtfertigt halten es für erforderlich, den Umfang der Mittel, die ist. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die die Treuhandanstalt für ein Funktionieren der Ar- von der Bundesbank festgestellten überdurchschnitt- beitsplätze einsetzt, zu erhöhen. Das schließt auch ein, lichen Gewinne der Unternehmen im vergangenen daß die Treuhandanstalt und die Bundesregierung Jahr. Wir unterstützen den Vorschlag der IG Metall zu sich auf eine Eigentümerrolle für die Unternehmen einer Investitionsabgabe nach dem Beispiel des Inve- einstellen, die sich jetzt bei der Treuhand befinden stitionshilfegesetzes von 1952; denn es ist nicht- so, daß und mittelfristig wirtschaftlich sein können. Wir for- die Unternehmen der alten Bundesländer nicht inve- dern ein ähnliches Herangehen an die Stahlindustrie stieren; sie tun es; sie tun es im Ausland. Mit 36 Mil- in Brandenburg wie früher in Salzgitter, ein gleichar- liarden DM wurden dort im vergangenen Jahr weit tiges Herangehen an die Werften in Ost wie in West mehr Arbeitsplätze geschaffen als in den neuen Bun- und an die Chemieindustrie im Raum Halle wie bei desländern. Wir sind nicht gegen Investitionen im der Privatisierung großer Unternehmen in den alten Ausland, nur darf dann die Bundesbank nicht be- Bundesländern wie z. B. des Volkswagenwerks. An haupten, daß es — — diesen Standorten hängen massenhaft Arbeitsplätze. (Wolfgang Roth [SPD]: Wir haben viel zuwe nig Auslandsinvestitionen!) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zwischen- — Ich bin doch sehr dafür. Ich habe diese Auslands frage, Graf Lambsdorff. investitionen in keiner Weise in Frage gestellt, nur Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5187

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) bitte ich darum, daß wir auch etwas für die neuen das erfolgreiche Modell der Sozialen Marktwirtschaft Bundesländer tun. Angesichts der 10 Milliarden DM, zu verankern. Das bedeutet auch eine Absage an alle die für Investitionen in den neuen Bundesländern ge- Versuche, dem Staat eine Rolle als strukturpolitischer leistet wurden, halte ich die Relation einfach nicht für Lenker zuzuweisen. gegeben. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Damit muß ich leider schließen. Die rote Lampe CDU/CSU) blinkt. Ich hätte gern noch etwas gesagt. Und das bedeutet eine Finanzpolitik der Stabilität. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Ohne diese Eckwerte ist eine Einigung in Maast richt kaum vorstellbar. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Bun- Wir brauchen zweitens als exportorientierte Nation desminister für Wirtschaft das Wort. die Sicherheit, daß das Prinzip des Freihandels auch künftig in der Weltwirtschaft gilt. Das heißt gleichzeitig: Die laufenden GATT-Ver- Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- schaft: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen handlungen müssen möglichst bald, möglichst in die- und Herren! Das Jahr 1991 ist wirtschaftspolitisch ein sem Jahr, erfolgreich abgeschlossen werden. Wir wä- gutes Jahr. In den Ländern des alten Bundesgebiets ren als Exportnation aufs schwerste betroffen, käme es erreichen wir ein Wachstum von gut 3,5 % im Jahres- zu weltweitem Protektionismus. Und der droht im Fall durchschnitt. des Scheiterns dieser Verhandlungen. Deshalb müs- sen wir, auch wenn uns die Rolle als Exportweltmei- Diese Zahl markiert zugleich das neunte Jahr eines ster in der Tat nachhaltig streitig gemacht wird, jetzt ununterbrochenen wirtschaftlichen Aufschwungs seit mit gutem Beispiel vorangehen, denn wir sind die Übernahme der Regierungsverantwortung durch Hauptnutznießer des Freihandels. diese Koalition. Das ist gewiß nicht allein auf das Han- deln dieser Koalition zurückzuführen. Aber Kritik an (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Wirtschaftspolitik dieser Koalition drückt sich üb- Das müssen wir, indem wir ein Signal für eine Reform licherweise anders aus. So schlecht kann sie nicht der EG-Agrarpolitik geben, die auch durch Protektio- gewesen sein und ist sie nicht, wenn man solche Zah- nismus gekennzeichnet ist. len zustande bringt. Wir müssen drittens weiter Disziplin bei den staatli- (Beifall bei Abgeordneten der FDP — Ernst chen Ausgaben wahren. Der Kollege Dr. Waigel hat Hinsken [CDU/CSU]: Unter den Rahmenbe bereits am Dienstag darauf hingewiesen, daß die all- dingungen für diese Entwicklung!) gemeine Kürzung von Ausgabenansätzen gleichge- Wir haben in Ostdeutschland die Strategie „Auf- wichtig mit dem Einschnitt bei einzelnen Subven- schwung Ost" auf den Weg gebracht. Mit dieser Stra- tionsbereichen zu den Geboten staatlichen Handelns tegie haben wir in bemerkenswert kurzer Zeit die gehört. Ich unterstreiche das. Trendwende geschafft. Die Wirtschaftsaktivitäten in den neuen Bundesländern zeigen deutliche Anzei- Dies gilt nicht nur wegen des äußerst angespannten chen einer Stabilisierung. Dies wird uns auch vom Bundeshaushalts und der äußerst angespannten Sachverständigenrat aktuell bestätigt. Haushalte der Länder. Das gilt zusätzlich deshalb, weil wir für die Treuhand, für den Fonds Deutsche 1992 wird das Jahr der großen Herausforderungen. Einheit und für die Bundesanstalt für Arbeit weiterhin Wir haben ehrgeizige Ziele: 2,5 % Wachstum in Ge- dreistellige Milliardenbeträge aufbringen müssen, samtdeutschland, 10 % Wachstum in den neuen Bun- um so die soziale und wirtschaftliche Einheit mit her- desländern. Diese Entwicklung wird sich vor dem beizuführen und sie abzusichern. Die Risiken können Hintergrund eines dramatischen Wandels und eines wir mit letzter Sicherheit nicht abschätzen; sie sind hohen Tempos bei der Anpassung der wirtschaftli- aber beachtlich. chen Strukturen in Ostdeutschland vollziehen. Auch deshalb muß der ersten Runde zum Dieses Ziel ist um so ehrgeiziger, als wir uns die Subven- noch in dieser Legislaturpe riode eine weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen vor Augen tionsabbau zweite folgen. halten müssen. Die Ausfuhren der deutschen Wirt- schaft fielen zwar zuletzt noch geringfügig höher aus (Zuruf von der FDP: Sehr gut!) als vor Jahresfrist, der Export wird aber im nächsten Darauf müssen sich die Mitglieder dieses Hauses ein- Jahr auf Grund der verhaltenen Wirtschaftsentwick- stellen und vor allem diejenigen, die lautstark mehr lung in den meisten westlichen Industrieländern nicht - als das jetzt Erreichte eingefordert haben. Aber, im gewohnten Maß der Motor der Konjunktur sein. meine Damen und Herren, ich will hier doch deutlich Was ist nun nötig, um die Herausforderungen des sagen, nachdem kritisiert wurde, daß wir nicht — wie nächsten Jahres zu bewältigen? ursprünglich vereinbart — etwas mehr als 33 Milliar- Wir brauchen erstens einen Fortschritt im europäi- den DM mit Wirkung für die Jahre 1992 bis 1994 schen Einigungsprozeß. Der Gipfel von Maastricht gestrichen haben, sondern „nur" den Betrag von am 10. und 11. Dezember muß ein Erfolg werden, und 32,177 Milliarden DM: Mich ödet nach den Debatten zwar ein Erfolg in der Sache. Das bedeutet, wir müs- und Erfahrungen der vergangenen Monate die Hal- sen in der Frage der Wirtschafts- und Währungsunion tung derer an — Herr Jens war dafür ein Musterbei- weiterkommen. Sie ist die logische Weiterentwick- spiel mit seinem ansonsten doch etwas enttäuschen- lung der Idee des europäischen Binnenmarkts. Es den Beitrag — , die für Subventionsabbau im allge- kommt vor allem darauf an, im europäischen Rahmen meinen plädieren, aber überall dort, wo er konkret 5188 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Bundesminister Jürgen W. Möllemann stattfinden soll, aus Angst vor der Lobby kneifen oder Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister gar Hand in Hand mit der Lobby für den Bestand der Möllemann, gestatten Sie zunächst eine weitere Zwi- Subventionen demonstrieren. schenfrage — wenn ich das richtig verstanden habe — (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) des Herrn Abgeordneten Roth? — Ich weise auch auf Mit der fortdauernden Subventionierung nicht wett- die Möglichkeit der Kurzintervention hin. bewerbsfähiger Wirtschaftszweige verspielen wir nicht nur unser internationales Ansehen als Freihänd- Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- schaft: Ja, bitte. ler, die andere auffordern, Subventionen abzubauen, die es aber selbst nicht in hinreichender Weise tun, wir vergeuden auch die knappen Mittel, die wir für zu- Wolfgang Roth (SPD): Ich freue mich, daß wir in der kunftsfähige Strukturen dringend brauchen. Grundfrage gleicher Meinung sind und auch die Posi- tion des Bundeskanzlers von gestern so unterstüt- zen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, ge- statten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordne- Wie ist eigentlich der Eindruck in der Öffentlichkeit ten Roth? entstanden, der offenbar falsch ist, als ob sich Minister Kiechle gegen Sie im Kabinett durchgesetzt hätte? Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Aber der ist schaft: Ja, natürlich! Vielleicht ist die besser als die doch gar nicht entstanden!) Rede. Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- schaft: Ich habe diesen Eindruck nicht gewonnen, und Wolfgang Roth (SPD): Wie erklären Sie mir folgen- des Verhalten: Als der irische Kommissar die Reform- zwar weder in der Kabinettsitzung noch in der Öffent- lichkeit. vorschläge zur EG-Agrarordnung unterbreitet hat, haben Sie dem am Anfang zugestimmt — ich habe das (Wolfgang Roth [SPD]: Danke! — Dr. Otto auch gemacht —; jetzt kommt heraus, daß die Bun- Graf Lambsdorff [FDP]: Lesen Sie die heutige desregierung — Sie sind ja Kabinettsmitglied — zu- FAZ, da steht das drin!) sammen mit der französischen Republik bei der Ver- wässerung dieser guten Vorschläge des irischen Kom- Vizepräsidentin. Renate Schmidt: Nun noch eine missars am meisten tätig war? Zwischenfrage des Kollegen Jens.

Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- Dr. Uwe Jens (SPD): Herr Minister, Sie hatten eben schaft: Diese in Ihrer Frage ausgedrückte Behauptung davon gesprochen, daß es Wirtschaftszweige mit ist unzutreffend. Wir haben — — Dauersubventionen gebe. Können Sie mir vielleicht im sekundären oder tertiären Sektor einige solcher (Michael Glos [CDU/CSU]: Schlechte Vor- Wirtschaftszweige nennen, und glauben Sie wirklich schläge von MacSharry! — Wolfgang Roth ernsthaft, daß wir im Bereich der Kohle und Agrar- [SPD]: Haben Sie gehört: „Schlechte Vor- wirtschaft jemals auf Subventionen verzichten kön- schläge" aus den Reihen der CDU/CSU!) nen? — Ich würde ganz gern auf Ihre Frage antworten. Wir haben im Bundeskabinett, und zwar auf mein Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- Drängen hin, einen Beschluß gefaßt, der die EG-Kom- schaft: Ich muß offen gestehen, daß ich keinen ande- mission ermutigt und ermuntert, bei den GATT-Ver- ren Bereich so enervierend uninteressant erlebt habe, handlungen eine Position einzunehmen, die von der wie es zum Teil die Argumente in der Debatte über die Position des letzten Herbstes abweicht und die — wie Kohlesubvention gewesen sind. Ich bin in der Tat der es wörtlich heißt — signifikante Zurückführung bei Meinung gewesen und bin unverändert der Meinung, den Exportsubventionen, beim Außenschutz und bei wir würden energiepolitisch und wirtschaftspolitisch der internen Stützung einschließt. Die Größenord- auch mit einem geringeren Anteil sehr gut hinkom- nung, die in den Kabinettsberatungen im Gespräch men. Mir kann keiner klarmachen, daß man bei einem war, war die vom seinerzeitigen schwedischen Mini- riesigen Angebot jederzeit für jeden verfügbarer ster Hellström vorgeschlagene von etwa 30 %. preiswerter Steinkohle auf dem Weltmarkt Steinkohle Es ist auch geläufig, daß bei dem Gespräch zwi- in der jetzigen Menge bei uns mit einem Aufwand von schen Präsident Bush, dem niederländischen Premier- 190 DM pro Tonne und einem Aufwand pro Berg- minister Lubbers und Kommissionspräsident Delors mann von 76 000 DM pro Jahr bei uns aus dem Boden die Zielgröße, die ich hier eben nannte, in etwa auch holen muß. Da wäre ein Kompromiß auf niedrigem angestrebt worden ist. Es kann keine Rede davon sein, Niveau natürlich erreichbar gewesen. Sie wissen ganz daß die Bundesregierung durch ein Blockieren dieser genau, warum wir den Kompromiß, den wir jetzt ge- Position die GATT-Verhandlungen in der Agrarpoli- funden haben, haben machen müssen. tik erschwere. Der Bundeskanzler hat hier gestern in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) aller Deutlichkeit das gesagt, was er im übrigen auch Da ist die Allianz derer, die hier sitzen, doch in Teilen mehrfach öffentlich bekundet hat: Ein Scheitern der gegen das gewesen, was wir als Ziel proklamiert ha- GATT-Verhandlungen wäre für die Bundesrepublik ben. eine Katastrophe. Wir sind nicht bereit, wie im letzten Nein, Herr Jens, ich halte meine Position in dieser Herbst — da waren wir an dem Punkt — dazu beizu- Frage unverändert für richtig. Aber man muß im poli- tragen. Und dafür stehe ich hier auch. tischen Leben — das müssen auch Sie in Ihrer Par- (Beifall bei der FDP) tei — im Bundestag Kompromisse machen, und das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5189

Bundesminister Jürgen W. Möllemann war jetzt einer, den ich ohne jede Begeisterung mit- Herr Kollege Roth, Herr Kollege Jens, daß die Rah- gemacht habe. Ich trage ihn jetzt mit. menbedingungen in der Tarifpolitik mit Vernunft ge- Es kommt, meine Damen und Herren, viertens und staltet werden müssen. schließlich darauf an, Wachstumsimpulse für die Zu- (Wolfgang Roth [SPD]: Da sind wir uns ei kunft zu geben. Der Standort Bundesrepublik wird nig!) sich im großen europäischen Binnenmarkt mehr denn Die Tarifpartner tragen in hohem Maße Verantwor- je dem direkten Vergleich mit seinen unmittelbaren tung für die Beschäftigung im vereinten Deutsch- Nachbarn stellen müssen. Deshalb brauchen wir zu- land sätzlich zu den Beschlüssen, die der Bundestag vor (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!) nicht allzu langer Zeit zur Steuerpolitik getroffen hat, und damit für die wirtschaftliche und soziale Entwick- eine weitere Stufe der Steuerreform, die den Entla- lung in den neuen Bundesländern. stungen bei den ertragsunabhängigen Steuern folgen muß, so wie sie der Deutsche Bundestag, wie ich (Zuruf von der CDU/CSU: Und für die Preis sagte, im Steueränderungsgesetz 1992 beschlossen stabilität!) hat. In diesem Jahr haben beide Tarifpartner das not- Angesichts beachtlicher Senkungen bei den Er- wendige Gespür vermissen lassen. tragsteuersätzen in Großbritannien, Frankreich, den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Niederlanden, Japan, den Vereinigten Staaten, ja, Mit Lohnsteigerungen, die erheblich über der Produk- selbst in Schweden und Österreich müssen wir darauf tivitätsentwicklung lagen, achten, daß die Standortqualität der Bundesrepublik Deutschland international erhalten bleibt. Auch des- (Michael Glos [CDU/CSU]: Siehe VW!) wegen müssen wir die Steuersätze der Einkommen- haben wir über unsere Verhältnisse gelebt. Das gilt und Körperschaftsteuer weiter senken. auch für die öffentliche Hand, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Dr. Otto Graf Lambsdorff [FDP]: Sehr gut!) Nun haben wir strukturelle Nachteile nicht nur bei die selbst als Arbeitgeber mit am Verhandlungstisch sitzt. den Abgaben, sondern auch bei den Lohnnebenko- sten, die weltweit zu den höchsten zählen. Es kann auf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dauer nicht ohne Folgen für die Bundesrepublik blei- Die Tarifpartner im Westen müssen mit ihren Lohn- ben, wenn ein deutsches Unternehmen mit 30 bis 40 % abschlüssen auch dazu beitragen, daß sich die wirt- höheren Kosten kalkulieren muß als der schweizeri- schaftspolitische Kluft, die Kluft zwischen der Realität sche oder amerikanische Wettbewerber. Gerade des- der wirtschaftlichen Lage in Ost und der in West, nicht halb müssen wir uns hüten, mit immer neuen Abga- weiter vergrößert. ben die Beschäftigung in Deutschland weiter zu ver- Ich wiederhole — ich bleibe dabei und halte es für teuern. Die Folgen wären die Zunahme der Schwarz- mein Recht und meine Pflicht als Wirtschaftsminister, arbeit und die Abwanderung von Unternehmen. das so zu sagen — : Abschlüsse, die mehr als eine Vier Standorte mit ungünstiger Kostensituation stehen vor dem Komma haben, gehen über das hinaus, was schneller zur Disposition, als dies noch vor Jahren der gesamtwirtschaftlich vertretbar ist. Fall war. Deshalb dürfen wir die Lohnnebenkosten nicht weiter nach oben treiben. Deshalb kann es aus (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — meiner Sicht keine Pflegeversicherung unter dem Wolfgang Roth [SPD]: Das ist unglaublich bei Dach der Sozialversicherung geben. 4 % Inflation!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister Möllemann, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage Das wäre gleichbedeutend mit eingebauter Ausga- des Kollegen Jens? bendynamik, mangelndem Kostenbewußtsein und neuen Verschiebebahnhöfen für öffentliche Kassen, und es wäre der Bruch einer Zusage. Diese Koalition Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- hat den Unternehmen, vor allem den kleinen und schaft: Bitte! mittleren Betrieben, versprochen, die Lohnnebenko- sten nicht weiter zu steigern. Wir sind schon haar- scharf an der Grenze. Dr. Uwe Jens (SPD): Herr Minister, kennen Sie die vom Sachverständigenrat 1968 vorgetragene -Formel (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist wahr!) einer verteilungsneutralen Lohnpolitik genau, und Diese weitere Maßnahme brächte das Faß zum Über- können Sie sie wiederholen? laufen. Sie kann deswegen so nicht beschlossen wer- (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP — den. Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Setzen jetzt!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Und geben Sie mir recht darin, daß sich die Verteilung Zuruf von der FDP: Eine eindeutige Spra auf Grund der Lohnentwicklung in den letzten Jahren che!) nicht etwa zugunsten der Arbeitnehmer, sondern zu- gunsten der Unternehmer verändert hat? Meine Damen, meine Herren, wer Investoren für Deutschland, vor allem für den Aufbau in Ostdeutsch- land, gewinnen will, muß darauf achten, daß die Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- Standortfaktoren stimmen. Das bedeutet eben auch, schaft: Herr Kollege Jens, wir hatten in den Jahren 5190 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Bundesminister Jürgen W. Möllemann von 1983 bis 1988 ein bemerkenswert vernünftiges Betroffenen sagt, daß das der Gestaltungsraum ist, Verhalten aller Beteiligten bei den Tarifabschlüssen. wirklich ein bißchen Bescheidenheit zu praktizieren, Dadurch wurde eine Investitionsquote möglich, die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dazu geführt hat, daß wir mittlerweile mit den mo- dernsten Produktionsapparat haben. Gott sei Dank; auch wenn das in einer solchen Phase bitter ist? Aber bitterer ist gewiß die Alternative: der wirtschaftliche denn die Produktivität und die Modernität dieses Ap- parates sind die einzige Chance. Sie sind die wesent- Schwächekurs, den es jetzt gibt, oder die Arbeitslosig- liche Voraussetzung dafür, daß wir angesichts der keit. Tatsache, daß wir in allen anderen Bereichen Schwie- Wir müssen darauf hinweisen: Es gibt viel zu viele, rigkeiten im Wettbewerb haben — keine Rohstoffe, die jetzt populistisch durch die Lande ziehen und ver- hohe Löhne, hohe Lohnnebenkosten, ein gutes, aber suchen, über diesen Sachverhalt hinwegzureden. teures Sozialsystem, viel Freizeit, die längsten Ur- Wir brauchen eine stärkere Differenzierung der laubszeiten — , im Wettbewerb bestehen können. In Löhne — auch in den neuen Bundesländern — , die allen diesen Punkten sind wir erst durch hohe Moder- der tatsächlichen Ertragskraft und Ertragslage der nität und Produktivität wettbewerbsfähig. Unternehmungen und Branchen gerecht wird. Das Just hier liegt das Problem. Wenn jetzt mehr verteilt können wir sehr wohl. Ich höre dazu ja auch durchaus wird, als sich an Produktivitätszuwachs ergibt, kann in akzeptable Bemerkungen aus den verschiedenen die weitere Modernität, in die weitere Wettbewerbs- politischen Lagern. Wir sollten darauf hinwirken, daß fähigkeit nicht investiert werden. die Tarifvertragsparteien zu einer solchen Flexibilität kommen. (Michael Glos [CDU/CSU]: Genau das ist der Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben insge- Punkt!) samt gute Chancen, die Volkswirtschaft unseres Lan- Dann werden Arbeitsplätze geschaffen, aber nicht in des auch im kommenden Jahr weiterzuentwickeln Deutschland, sondern anderswo. und im internationalen Wettbewerb zu stärken. Die Verantwortung liegt aber bei uns selbst. Wir haben es Das alles haben wir am Ende der 70er Jahre in einer in der Hand, ob wir weiterhin wirtschaftlich in der Koalition miteinander erlebt. Deswegen haben wir ersten Liga spielen und Wachstum mit Stabilität ver- dann gesagt: „Schluß jetzt!", binden wollen. Siegt die Unvernunft in den Punkten, (Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]) die ich nannte, droht die Gefahr des Abschwungs und des Abstiegs. Siegt die Vernunft, können wir es schaf- weil wir es eben nicht mehr verantworten konnten, fen, den Aufschwung Ost und die wirtschaftliche Basis daß unsere Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähig- in den alten Bundesländern zu stärken. Dann wird der keit verspielt wurden. Diesen Fehler werden wir nicht Aufschwung für die alten Bundesländer — und damit noch einmal machen. dann für ganz Deutschland — auch im zehnten Jahr Bestand haben, allerdings auch nur dann. Ich rufe Sie (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — alle auf, daran mitzuwirken. Michael Glos [CDU/CSU]: Wo er recht hat, hat er recht, der Möllemann!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen, meine Herren, nun zu den Tarif- lohnsteigerungen in den neuen Bundesländern. Ich Vizepräsidentin Renate Schmidt: Mir liegen jetzt weiß, daß das ein sehr heikles Thema ist. Auf der noch Meldungen für zwei Kurzinterventionen vor. Als einen Seite gibt es natürlich den Wunsch derjenigen, erstes redet der Kollege Helmut Wieczorek. die dort tätig sind, möglichst schnell an das Einkom- (Abg. Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD] mensniveau in Westdeutschland heranzukommen. begibt sich zum Rednerpult) Wer wollte diesen Wunsch an sich kritisieren? — Herr Kollege Wieczorek, die Kurzinterventionen Auf der anderen Seite haben wir eine sehr geringe finden vom Saalmikrofon aus statt. Quote von Unternehmen, die in der Hand der Treu- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ich hand sind, die derzeit schwarze Zahlen schreiben. Die habe von dem Instrumentarium noch nie Ge Quote ist sehr niedrig. Das bedeutet, daß jede weitere brauch gemacht!) deutliche Lohnsteigerung notwendigerweise zu zwei möglichen Reaktionen führt: Entweder kommen die — Dann machen Sie jetzt zum erstenmal von dem Unternehmen zur Treuhand, um Liquiditätshilfe zu Instrumentarium des Saalmikrofons Gebrauch. fordern. Das bedeutet: Der Anspruch an den Staat - wird höher. Wir werden Transfer betreiben müssen. Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Das ist mir Wir werden die Verschuldung oder die Steuern erhö- sehr angenehm, weil ich von diesem Platz aus den hen müssen. Minister besser sehen kann. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Genauso ist Herr Minister, wir haben Ihnen sehr aufmerksam es!) zugehört. Es gibt sicherlich Teile Ihrer Ausführungen, Die andere Alternative ist, daß die Unternehmen, mit denen wir uns identifizieren können. Es gibt große wenn sie keine Liquiditätshilfe bekommen, die Ar- Teile, derentwegen wir gerne weiter in Dialog mit beitskräfte entlassen müssen, weil sie ihnen die ge- Ihnen treten wollen. stiegenen Löhne ja nicht zahlen können. Ist das unser Meine Bitte an Sie ist: Seien Sie intellektuell redlich. Ziel? Oder müssen wir nicht den Versuch unterneh- Ich vermisse die Redlichkeit bei Ihnen. Ich will Ihnen men, durch eine Politik des Augenmaßes, die den das an einem Beispiel deutlich machen. Sie reden von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5191

Helmut Wieczorek (Duisburg) 70 000 DM, die jeder Bergmann kostet. Wenn Sie Ihre Vizepräsidentin Renate Schmidt: Jetzt eine weitere Rechnung weiterführen, kosten die letzten drei Berg- Kurzintervention des Kollegen Otto Graf Lambs- leute jeweils 3 Milliarden DM. Daran sehen Sie schon, dorff. daß das nicht geht. (Josef Grünbeck [FDP]: Was ist dabei denn (FDP): Vielen Dank, Frau redlich?) Dr. Otto Graf Lambsdorff Präsidentin! Zur Tarifpolitik möchte ich nur eine er- — Ich will Ihnen den Nachhilfeunterricht gerne ertei- gänzende Anmerkung machen. Wenn wir uns den len, Herr Kollege. Der Minister teilt die Gesamtauf- Forderungen oder den Gedanken der IG Metall ge- wendungen für die Altlasten des Bergbaus durch die genübersehen, bis zum Jahre 2000 etwa zu erreichen, Anzahl der jetzt beschäftigten Bergleute. Das geht daß in Deutschland nicht mehr nach Leistung, son- nicht. Wenn wir dann weiter herunterfahren, kommen dern nach Qualifizierung bezahlt wird, dann werden wir dahin, daß wir alle Aufwendungen auf einen Berg- wir völlig neue Arbeitsentgeltverhältnisse und mann beziehen müßten. -umstände erleben, wobei ich der festen Überzeu- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie gung bin, daß wir uns das im weltwirtschaftlichen mal: Wer soll denn das sonst bezahlen?) Umfeld überhaupt nicht werden leisten können. Man muß sich das einmal vorstellen — etwas übertrieben Alle Altlasten, die zum Aufbau dieses Landes notwen- ausgedrückt — : Dann beschäftigen wir nur noch Pro- dig waren, werden jetzt mitgerechnet. Das kann nicht fessoren und bezahlen die nach Qualifizierung, aber sein. Das wollte ich Ihnen sagen. nicht nach Leistung. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Zuruf von der SPD) GRÜNE) — Das wird eine sehr interessante Diskussion, die wir nicht übersehen sollten. Wir können hier nicht nur die aktuellen Tarifverträge diskutieren, sondern wir müs- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Kurzintervention des Kollegen Wolfgang Roth. sen auch die tarifpolitische Landschaft diskutieren, die sich da abzeichnet. Meine zweite Bemerkung. Herr Wieczorek, ob Sie Wolfgang Roth (SPD): Herr Bundesminister, ich das nun auf den einzelnen Bergmann umlegen oder habe in meinen Ausführungen auch das Thema Lohn- nicht, daß wir pro Tonne Steinkohle, die in Deutsch- politik angesprochen, und zwar in dem Moment nur land verwendet wird, mindestens den dreifachen für den Westen. Ich möchte jetzt aber auch noch einen Preis dessen zahlen, was wir auf den Weltmärkten Satz in Richtung auf den Osten sagen. dafür zu entrichten hätten, das muß die deutsche Volkswirtschaft als Last und Belastung tragen, Zunächst zum Westen noch ein Wort. Wir sind uns völlig einig, daß wir in einer ganz kritischen Phase der (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Tarifpolitik sind, und zwar insbesondere auch des- und es muß irgendwo anders verdient werden. halb, weil die Bundesregierung die wahre wirtschaft- Eine weitere Bemerkung dazu. Ich habe den Strom- liche Lage im Westen, die dadurch gekennzeichnet vertrag und das ganze Gerüst damals in der alten ist, daß eine Rezession droht, wenn nicht schon begon- Koalition mit zustande gebracht. Inzwischen ist die nen hat, nicht richtig darstellt. Deshalb gehen Tarif- Steinkohle aber nicht mehr die wichtigste heimische partner vielleicht noch von einer falschen Situation Energiereserve, sondern dies ist die Braunkohle in der aus. Insofern glaube ich, daß Behutsamkeit ange- Lausitz und in Brandenburg. bracht ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wenn der Bundeswirtschaftsminister in derselben Woche durch sein Haus verkünden läßt, er akzeptiere Da haben sich die Dinge verschoben. die Prognose 4 % Preissteigerung im nächsten Jahr, Ich möchte auch einmal wissen, Herr Wieczorek, die der Sachverständigenrat gebracht hat, aber er for- wie lange denn die Position aufrecht erhalten werden dere, daß die IG Metall — die ist ja wohl gemeint — soll, daß wir jeden notwendigen Abgang aus dem mit 4 % abschließe, dann sagt er gleichzeitig, daß der Steinkohlebergbau im Ruhrgebiet, an der Saar und in gesamte Produktivitätsfortschritt des nächsten Jahres Aachen nun wirklich versüßen und vergolden, wie wir zugunsten der Arbeitgeber gehen soll. Das ist die logi- es nur irgend können, und daß wir auf der anderen sche Folgerung der Angelegenheit. Insofern mischen Seite Zigtausende in der Mark Brandenburg und in Sie sich in einer Weise in die Tarifpolitik ein, die nur der Lausitz zum Arbeitsamt schicken. Wie lange soll weitere Konflikte zur Folge haben wird. diese unterschiedliche Behandlung eigentlich vertre- Ich möchte aus meiner Sicht sagen: Wir müssen ten werden? beruhigend wirken, wir müssen kooperativ wirken, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wir müssen zu einem schnellen Konsens ohne tiefe Konflikte beitragen. Zu der Situation im Osten nur eine Bemerkung. Wir Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- stehen hier in einem Dilemma: Schnelle Lohnanpas- dungen zu diesem Einzelplan liegen mir nicht vor. Ich sung im Osten bedeutet Nachteile für Arbeitsplätze; schließe damit die Aussprache, und wir kommen zur keine Lohnanpassung bedeutet Wanderung in den Abstimmung. Westen. Das ist der Konflikt, vor dem wir stehen. Wir Wer stimmt für den Einzelplan 09 in der Ausschuß- sollten diesen Konflikt offen ansprechen und nicht fassung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? kaschieren. — Damit ist der Einzelplan 09 so angenommen. 5192 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Vizepräsidentin Renate Schmidt Ich rufe nun auf: habe ein solides, mit Eigenkapital ausgestattetes Un- Einzelplan 13 ternehmen in den Wettbewerb entlassen. Nach seiner Darstellung sollte die Eigenkapitalquote noch vor Be- Geschäftsbereich des Bundesministers für Post ginn des Vereinigungsprozesses über 40 % liegen. und Telekommunikation Tatsache ist — das haben die Eröffnungsbilanzen ge- — Drucksachen 12/1413, 12/1600 — zeigt — , daß die Eigenkapitalquote 1990 nur knapp Berichterstattung: 30 % betrug und Ende 1991 sogar auf 26 % absinken Abgeordnete Manfred Kolbe wird. Werner Zywietz Angesichts der enormen betriebswirtschaftlichen Rudi Walther (Zierenberg) Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Auf- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für bau der Telekommunikationsinfrastruktur in den die Aussprache zu diesem Einzelplan eine Stunde vor- neuen Ländern und der nach wie vor ergebnisunab- gesehen. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann hängigen Ablieferung an den Bund wird man in den ist das so beschlossen. Folgejahren sogar mit einer Eigenkapitalquote rech- Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe als erster der nen müssen, die deutlich unter 20 % absinken wird. Kollegin Iris Gleicke das Wort. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Das größte Loch bei der Eigenkapitaldecke ergibt sich aus der Tatsache, daß Minister Schwarz-Schilling die Bilanz Iris Gleicke (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als vor gut zwei Jahren das Poststruktur- der Telekom zum Zeitpunkt der Übergabe an die Vor- gesetz im Deutschen Bundestag verabschiedet wurde, stände um 8 Milliarden DM schöngerechnet hat. sprachen Sie, Herr Bundespostminister, von einem Statt in seiner Funktion als Eigentümer des Sonder- denkwürdigen Tag. Mit der Reform sollte die Wettbe- vermögens Deutsche Bundespost alles zu tun, um die werbsstellung der Postunternehmen verb essert, ihre Finanzschwierigkeiten zu beheben und für eine Auf- Finanzkraft gestärkt, die Dienstleistungsqualität er- stockung des Eigenkapitals zu sorgen, macht der Mi- höht und die Motivation der Mitarbeiterinnen und nister das Gegenteil. Ich erinnere nur an die Sonder- Mitarbeiter bei der Deutschen Bundespost gesteigert ablieferung in Höhe von 4 Milliarden DM, die den werden. Mit seinen damaligen Zielsetzungen ist der Unternehmen der Deutschen Bundespost ohne jede Minister auf der ganzen Linie gescheitert. postpolitische Begründung aufgebrummt wurden, nur (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Na, damit der Bundesfinanzminister seine Haushalts- na! Nun übertreiben Sie gleich am An löcher schließen kann. fang!) (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: So ist Die Schwachstellen im Paketdienst waren seit Jah- es!) ren bekannt. Von einer verbesserten Dienstleistungs- qualität kann angesichts der bekannten Laufzeiten Meine Fraktion hat zu den Haushaltsberatungen im von Briefen und Paketen, insbesondere in den neuen Postausschuß zum Einzelplan 13 u. a. den Antrag ge- Bundesländern, wohl kaum die Rede sein. Nebenbei : stellt, das Eigenkapital bei der Deutschen Bundespost Ich habe Ihnen ein paar schöne Beispiele für die Qua- Telekom auf die gesetzlich orientierte Höhe von min- lität dieser Zustellung mitgebracht. Transparenz und destens einem Drittel des Gesamtkapitals aufzustok- Öffentlichkeit auch bei vertraulicher Abgeordneten- ken. Zu diesem Zweck soll die Bundesregierung auf post ist hier voll gewährleistet. die Sonderablieferung verzichten und die Ablieferung bei Telekom in dem Umfang vermindern, der zur Ka- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Einpak pitalerhöhung notwendig ist. Leider haben die Koali- ken! ) tionsfraktionen diesem Antrag nicht zugestimmt, of- Zurück zu den Versprechungen des Postministers. fenbar mit schlechtem Gewissen. Aus den von ihm alle Jahre wieder angekündigten Immerhin scheint der Postminister erkannt zu ha- Besserungen ist nichts geworden. Statt dessen ist der ben, daß unsere Forderungen sehr wohl begründet Minister seit seinem Amtsantritt untätig geblieben waren; denn zumindest im Verkehrsgebiet Ost will und hat den Unternehmensvorständen die Milliarden- der Finanzminister künftig auf die umsatzbezogene defizite im gelben Postbereich gewissermaßen als Ablieferung für alle drei Postunternehmen verzichten. Marschgepäck auf den Weg in eine neue Postzukunft Wir begrüßen das ausdrücklich, halten diese Maß- mitgegeben. Die Motivation der Beschäftigten ist nahme jedoch immer noch nicht für ausreichend. nicht besser, sondern schlechter geworden. Wen wun- - dert's, wenn man weiß, daß die Beförderungsmengen Es ist doch völlig absurd, daß die gelbe Post eine sprunghaft gestiegen und der Abbau von Zehntau- Ablieferung in Höhe von rund 1,7 Milliarden DM an senden von Arbeitsplätzen geplant ist. den Bund leisten muß, obwohl sie Verluste in nahezu Die finanzielle Lage des in der Vergangenheit kern- gleicher Höhe einfährt. Durch den Verzicht auf die gesunden Fernmeldebereichs ist ausgesprochen kri- Ablieferung würde das Unternehmen Bundespost tisch und wird immer desolater. Die Milliardenge- schwarze Zahlen schreiben. Das hätte auch für die winne vergangener Jahre reduzierten sich 1990 auf Telekom eine erheblich entlastende Wirkung, da da- nur noch knapp 1,2 Milliarden DM und werden be- mit die Finanzausgleichszahlung, die die Telekom reits 1991 gegen null tendieren. bisher leisten mußte, entfallen würde. Die Eigenkapitalquote des Unternehmens Telekom Auch die Postbank wird durch die Ablieferung sinkt kontinuierlich und dramatisch. Der Postminister überproportional belastet. Würde die Postbank wie erweckte noch vor wenigen Monaten den Eindruck, er ein normales Unternehmen Steuern zahlen, müßte sie Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5193

Iris Gleicke statt derzeit etwa 250 Millionen DM im Jahr Abliefe- Am meisten ärgere ich mich jedoch über einen Post- rung an den Bund lediglich 50 Millionen DM Steuern minister, der die Bediensteten der Post in den neuen zahlen. Ländern systematisch im Stich läßt. Da wird ein riesi- ger Stellenabbau angekündigt, ohne die technischen (Wolfgang Roth [SPD]: Wo ist da die Lo Voraussetzungen zu schaffen, und gleichzeitig wer- gik?) den die Tarifverhandlungen von den Vorständen so Der Bundespostminister tut nichts gegen das finan- verschleppt, daß die verständlichen Streiks der Betrof- zielle Ausbluten seiner Unternehmen. Im Gegenteil: fenen ganz zufällig und unbeabsichtigt in die Vor- Wie am Beispiel der Sonderablieferungen deutlich weihnachtszeit fallen. Dann wird in der Öffentlichkeit geworden ist, mutet er ihnen noch zusätzliche finan- ganz klar, wer den Schwarzen Peter hier in der Hand zielle Belastungen zu. hält. Ich empfinde das als eine Unmöglichkeit. Die Sicherung der Eigenwirtschaftlichkeit der Un- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ternehmen der Deutschen Bundespost und die Erhal- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li tung und Stärkung ihrer Finanzkraft sind kein Selbst- ste) zweck. Sie sind notwendig und unverzichtbar, weil die Postunternehmen im Unterschied zu x-beliebigen Betrieben einen klaren öffentlichen Auftrag zu erfül- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat len haben. der Kollege Manfred Kolbe das Wort. (Beifall bei der SPD) (V o r sitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cro nenberg) Sie müssen — so will es die Verfassung, und so sieht es zumindest dem Wortlaut nach das Strukturgesetz vor — moderne, erschwingliche Dienstleistungen zu Manfred Kolbe (CDU/CSU) : Herr Vizepräsident! gleichen Tarifen flächendeckend zur Verfügung stel- Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich, len. Damit diese Aufgabe erfüllt werden kann, haben ehe ich zum Einzelplan 13 komme, kurz auf den Kol- die Unternehmen besondere Rechte. Ich spreche hier legen Wieczorek eingehen, der mich vorgestern im von den Monopolbereichen. Das Netzmonopol, das Zusammenhang mit den Kosten der deutschen Einheit Telefondienstmonopol und auch das Briefmonopol genannt hat. Herr Wieczorek, was die angeblichen müssen erhalten und die Einnahmen daraus gesichert 109 Milliarden DM Transferleistungen im Bundes- werden, damit die Unternehmen auch dort den Infra- haushalt 1992 betrifft, haben Sie recht. Sie werden in strukturauftrag erfüllen können, wo dies gewinnbrin- der Debatte aber auch festgestellt haben, daß sie mitt- gend nicht möglich ist. lerweile aus der haushaltspolitischen Diskussion ver- Wir haben große Sorgen, daß auch in diesem Be- schwunden sind. Wir haben beide in den letzten zwei reich der Minister anders handelt, als er spricht. Tat- Tagen aufgepaßt; sie kamen nicht mehr vor. Das ist sächlich erleben wir jedoch, daß er diesen Anforde- gut so. rungen nicht gerecht wird und im Zweifelsfalle die Ein anderes finanzpolitisches Ärgernis ist aber lei- ihm anvertrauten Unternehmen gegenüber privaten der noch nicht vom Tisch, nämlich die Tatsache, daß Unternehmen eher benachteiligt. Die jüngsten Aus- sich die westdeutschen Länder nicht an den Kosten einandersetzungen über die Mietleistungsgebühren der Einheit beteiligen, ja sogar an dieser Einheit ver- für den D-2-Mobilfunkbetreiber beweisen das. Gegen dienen. Ich bitte Sie, darüber ebenfalls zu sprechen. die Beschlüsse von Vorstand und Aufsichtsrat der Te- Ich darf das kurz ausführen. lekom und gegen den massiven Widerstand der SPD- Die Nachfrage aus den östlichen Ländern seit Ende Vertreter im Infrastrukturrat 1989 war ein gigantisches Konjunkturprogramm (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Aber West, das 1990 zu einem realen Wachstum von 4,5 % so massiv war das durchaus nicht! Frau Prä und 1991 von 3 % im alten Bundesgebiet geführt hat. sidentin, ich war dabei!) Hierdurch stiegen natürlich auch die Steuereinnah- men entsprechend. hat der Minister zugunsten des privaten Mobilfunk- Nimmt man nur ein Drittel dieser Steuermehr- betreibers und zu Lasten der Telekom die von ihr für einnahmen als einigungsbedingt an — das ist die un- notwendig gehaltenen Gebühren für die Überlassung tere Grenze — , dann hat das zu einigungsbedingten von Mietleistungen drastisch reduziert. Das ist nur ein Steuermehreinnahmen im Bundesgebiet alt von Beispiel für die Benachteiligung der ihm anvertrauten 7 Milliarden DM im Jahre 1991 und 8 Milliarden DM Unternehmen gegenüber der privaten Konkurrenz. im Jahre 1992 geführt. Die einigungsbedingten Aus- - (Wolfgang Roth [SPD]: Mannesmann läßt gaben der alten Länder belaufen sich dagegen ledig- grüßen!) lich auf 3 Milliarden DM im Jahre 1991 und 5 Milliar- den DM im Jahre 1992. Die Altländer, meine Herren Ein letztes Wort zur Situation der Postbediensteten auf der Bundesratsbank, erzielen also 1991 und 1992 im Osten. Man ärgert sich über Briefe und Pakete, die einen einigungsbedingten Überschuß von 4 bzw. zerfetzt ankommen. Man ärgert sich, wenn man nach 3 Milliarden DM. Ich halte dies für den eigentlichen fi- Thüringen telefonieren will und einen verblüfften nanzpolitischen Skandal der deutschen Einheit! Sachsen am Telefon hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) der FDP) Man ärgert sich über ewige Wartezeiten auf Telefon- Dieser einigungsbedingte Nettoüberschuß erklärt anschlüsse. — Es kann jeder gern einmal versuchen, auch die rasanten Steigerungsraten der Länderhaus- mit einem Wahlkreisbüro zu telefonieren. halte, die ja ebenfalls schon Gegenstand der hiesigen 5194 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Manfred Kolbe Diskussionen waren. So stieg der Haushalt des Landes Richtig ist aber auch, Herr Minister, daß Sie einem Niedersachsen um sage und schreibe 8,5 %, der von Briefträger in Potsdam nur noch für einen sehr be- Baden-Württemberg um 8,4 % und der von Hamburg grenzten Zeitraum klarmachen können, daß er nur gut um 7,5 %. Diese Steigerungsraten widersprechen al- die Hälfte dessen verdient, was sein wenige Kilometer len Festlegungen im Finanzplanungsrat. Herr Wiec- weiter arbeitender Kollege in Berlin verdient. Das zorek, der Bund verhält sich da mit einer Steigerungs- werden wir nicht über das Jahr 1994 hinaus durchhal- rate von 2,9 % geradezu mustergültig. ten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Allgemein gilt: Wir haben in Deutschland jetzt ei- nen einheitlichen Arbeitsmarkt und können deshalb Also, Herr Wieczorek, lassen Sie uns doch gemein- die Angleichung der Löhne und Gehälter nicht über sam auch dieses zweite finanzpolitische Ärgernis ein- einen bestimmten Zeitraum hinausschieben; sonst mal angehen; dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. wandern die Facharbeiter weiter ab, wie das heute noch tagtäglich in Sachsen und den anderen östlichen (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Ländern passiert. Die Schätzungen gehen dahin, daß Gerne!) monatlich noch 5 000 bis 10 000 Menschen abwan- Nun zum Einzelplan 13: Post- und Telekommunika- dern. Das sind qualifizierte Facharbeiter. So können tion. Der Einzelplan 13 ist nach Ausgliederung der wir den Aufschwung nicht bewältigen. Ich bitte, auch drei Postunternehmen durch die Postreform von 1989 dies zu berücksichtigen. ein reiner Verwaltungshaushalt, allerdings mit der für (Zustimmung bei der CDU/CSU) den Finanzminister — für den Postminister weniger — erfreulichen Besonderheit, daß wegen der Abliefe- Relativ breiten Raum nahm im Haushaltsausschuß rungspflicht der Deutschen Bundespost die Einnah- die Frage des Standorts des 1989 gegründeten und jetzt im Aufbau befindlichen men 9,34 Milliarden DM, die Ausgaben dagegen le- Bundesamtes für Post diglich 540 Millionen DM betragen. Durch die auf und Telekommunikation ein. Ursprünglich war Grund von Verkehrssteigerungen gestiegenen Ein- Mainz als Standort vorgesehen. Da Herr Gerster nicht nahmen erhöhte sich die Ablieferung der drei Unter- mehr anwesend ist, kann ich dazu ein paar Worte ver- nehmen Telekom, Postdienst und Postbank um 10,5 % lieren. auf 9,7 Milliarden DM. (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Vor sicht! Darmstadt liegt nicht weit von Mainz Im Laufe des Haushaltsaufstellungsverfahrens, entfernt!) Frau Gleicke, haben wir dann auf den drohenden Eigenkapitalmangel der drei Postunternehmen rea- Der Haushaltsausschuß hatte im Mai das Bundesmini- giert und haben in das Haushaltsgesetz § 27 Abs. 4 sterium nahezu einstimmig — das ehrt ihn — gebeten, eingefügt, der die Betriebseinnahmen der Postunter- diese Standortentscheidung zu überprüfen und insbe- nehmen aus den östlichen Ländern bei der Abführung sondere einen Standort in den östlichen Ländern in nicht berücksichtigt, um eben die Eigenkapitalaus- die Überlegungen einzubeziehen. Diesen Prüfungs- stattung zu verbessern. Der Wegfall der Ablieferung auftrag hat das Ministerium bis heute nicht erfüllt. in den östlichen Ländern macht für die Telekom Der Haushaltsausschuß hat daher erneut nahezu 400 Millionen DM aus, für den Postdienst 200 Millio- einstimmig — das ehrt ihn wieder — durch einen ent- nen DM und für die Postbank 15 Millionen DM. Bis sprechenden Vermerk im Haushaltsplan klargestellt, heute beläuft sich also die Ablieferung im Jahre 1992 daß die Standortentscheidung offen ist. Das betone auf 615 Millionen DM weniger. Das setzt sich dann in ich. Dies begrüße ich auch außerordentlich. Denn von den Jahren 1993 und 1994 fort. 176 Bundesoberbehörden und Bundesgerichten be- findet sich derzeit keine einzige Institution in den öst- Nun zu den Ausgaben im Einzelplan 13. Die Ausga- lichen Ländern außerhalb von Berlin. Wir sind uns ben steigen um 3,7 % auf 541 Millionen DM. Im Be- wohl alle einig: Das kann nicht so bleiben, wenn die richterstatterverfahren konnten Einsparungen in östlichen Länder gleichberechtigt am staatlichen Le- Höhe von 15 Millionen DM erzielt werden. Insbeson- ben in Deutschland teilhaben sollen. dere bei den Personalausgaben konnten der Mitbe- richterstatter Walther und ich Einsparungen erzielen. Was also liegt näher, als umgehend eine noch auf- Wir haben so im Stellenbereich des Ministeriums zubauende Behörde, bei der wir nicht die ganzen so- 13 kw-Vermerke kegelgerecht ausgebracht. Außer- zialen Probleme der Verlagerung haben, in einem der dem hat der Haushaltsausschuß auf Grund eines Be- östlichen Länder anzusiedeln? Die Föderalismuskom- richts des Rechnungshofes fünf weitere Stellen des mission wird sich damit beschäftigen und ich- setze höheren Dienstes gesperrt, und im Zentralamt für Zu- großes Vertrauen in diese Kommission. lassungen im Fernmeldewesen in Saarbrücken wur- Zum Abschluß, meine Damen und Herren, lassen den 20 Planstellen gestrichen. Sie mich noch einige Worte zum aktuellen Stand der Da wir beim Personal sind und da das heute schon Telekommunikation in den östlichen Ländern ma- vielfach angesprochen wurde, gestatten Sie mir auch chen. Herr Bundespostminister, um dieses Thema ist ein Wort zu den kommenden Tarifrunden. In dieser es relativ ruhiger geworden. Das spricht für Sie. Of- Debatte heute ist von vielen Rednern darauf hinge- fenbar ist die frühere Telefonmisere beendet; wir sind wiesen worden, daß sich Lohnsteigerungen am Pro- deutlich auf dem Weg der Besserung. Ich darf dazu ein duktivitätszuwachs orientieren müssen. Das ist natür- paar Zahlen nennen. Ende 1989 gab es in der ehema- lich grundsätzlich richtig. ligen DDR ganze 1,8 Millionen Telefonanschlüsse. Während 92 % aller Haushalte in Westdeutschland (Zuruf von der SPD: Das ist immer richtig!) ein Telefon besaßen, waren es in der DDR nur 17 % Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5195

Manfred Kolbe Über 2 000 Orte hatten überhaupt keinen Telefonan- — Man lobt sich ungern selbst. schluß. DDR-Bürger warteten auf ein Telefon länger Zurück zum Haushalt: Ich bitte Sie, dem Entwurf als auf ein Auto, und darauf wartete man schon sehr des Einzelplans 13 in der Ausschußfassung zuzustim- lange. Von Ost- nach Westdeutschland gab es ganze men. 111 Telefonleitungen; von West nach Ost gab es ca. 800 Telefonleitungen. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 1990 wurde von der Telekom ein Sofortprogramm eingeleitet. Es wurden 160 000 Anschlüsse neu ge- schaltet. Die Zahl der Leitungen von Ost nach West Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort wurde von 111 auf 2 054 verzwanzigfacht. hat der Abgeordnete Wieland Sorge. Bis zum Ende des Jahres 1991 wird die Telekom rund eine halbe Million neuer Hauptanschlüsse ein- Wieland Sorge (SPD): Herr Präsident! Meine sehr richten. Das ist eine Steigerung um 30 % in einem Jahr verehrten Damen und Herren! Als Abgeordneter, der gegenüber dem Altbestand. In der Zahl von einer hal- — genau wie meine Vorrednerin von der SPD, I ris ben Million sind in etwa 90 000 Neuvergaben enthal- Gleicke — aus einem Wahlkreis in Thüringen kommt, ten, so daß wir immerhin auf einen Nettozuwachs von kann ich täglich vor Ort ganz konkret feststellen und 410 000 Telefonen kommen. erleben, wie wichtig eine funktionierende moderne Post- und Telekommunikationsinfrastruktur für die Den Durchbruch in der Ost-West-Verbindung wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern, brachte vor allen Dingen im Sommer dieses Jahres die für die Ansiedlung neuer Unternehmen und die Einschaltung des digitalen Overlay-Netzes. Seitdem Schaffung neuer Arbeitsplätze ist. Mein Vorredner kann man halbwegs normal telefonieren. Man hat hat das soeben auch schon dargestellt. Ich kann dem zwar immer noch einmal den einen oder anderen in voll beipflichten. der Leitung, wie es mir gestern abend wieder passiert In diesem Zusammenhang möchte ich den Beschäf- ist, aber es geht deutlich besser. Das muß man auch tigten in den Postunternehmen — trotz mancher Pan- einmal sagen. nen, die nicht ausbleiben können — für die bisher (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geleistete Arbeit ausdrücklich meinen Dank und meine Anerkennung aussprechen. Die Anzahl der Ost-West-Verbindungen erhöhte sich dadurch schlagartig auf 34 000. Spätestens zum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahresende soll sich die Ost-West-Telekommunika- der CDU/CSU) tion auf bundesdeutschem Standard befinden. Die gewaltigen Herausforderungen können die Postunternehmen jetzt und in den kommenden Jah- Auch bei den Telefonzellen tat sich manches. 10 000 ren nur dann bestehen, wenn sie ihre Aufgaben nicht neue Telefonzellen wurden eingerichtet. Es stellt al- nach streng betriebswirtschaftlichen Kriterien in An- lerdings ein Ärgernis dar, daß davon allein 3 000 aus- griff nehmen, sondern wenn sie einen politisch ge- gewechselt werden mußten, weil Beschädigungen wollten übergeordneten Infrastrukturauftrag erfül- durch Vandalismus oder Beraubung eintraten. Dies ist len. Die Sicherung dieses Infrastrukturauftrags in den unnötig. neuen, aber auch in den alten Bundesländern hat für Beeindruckend sind auch die Ausbauziele für 1992. uns höchste Priorität. Da die Postunternehmen ihre Geplant sind 600 000 neue Hauptanschlüsse, wo- Ausgaben durch eigene Einnahmen finanzieren müs- durch der Bedarf der Geschäftskunden endlich befrie- sen und keine Subventionen oder Zuschüsse erhalten digt sein dürfte. Dies ist immer noch ein großes Pro- — im Gegenteil: sie liefern Milliarden an den Bund blem. Ich erlebe es in den Wochen, in denen ich im ab — , können sie diese wichtige wirtschaftliche und Wahlkreis bin. Gründen Sie einmal eine Existenz gesellschaftliche Aufgabe nur erfüllen, wenn sie über ohne eigenes Telefon. Das ist eine verdammt schwie- die entsprechende Finanzkraft verfügen. rige Sache. Wir sind deshalb sehr dankbar, daß das Meine Kollegin Iris Gleicke hat auf die Gefahren nächstes Jahr endgültig der Vergangenheit angehört. aufmerksam gemacht, die aus der völlig unzureichen- Vielen Dank für diesen Ausbau, Herr Minister. den Eigenkapitalausstattung der Deutschen Bundes- post (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Telekom resultieren, und zu Recht das Verhalten Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Das hat er des Bundespostministers kritisiert, der seiner Verant- gar nicht gemacht! Das haben die Kollegen wortung in dieser Hinsicht nicht nachgekommen ist. auf der anderen Seite gemacht!) (Beifall bei der SPD — Gerhard O. Pfeffer- mann [CDU/CSU]: Na, das sollten Sie aber — Ich danke dem Minister stellvertretend für die Kol- zurücknehmen!) legen der Telekom vor Ort, die das tatsächlich durch- führen. Wie leichtfertig der Postminister die wirtschaftli- chen Grundlagen der Post Telekom aufs Spiel setzt, (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Gehen Sie zeigt sich auch an den sogenannten Eckpunktepapie- einmal zum Postamt nach Grimma und er ren, mit denen der Postminister aus eigener Macht- zählen Sie denen das! — Weiterer Zuruf von vollkommenheit und ohne demokratisch legitimierte der SPD: Dem Haushaltsausschuß müssen Kontrolle durch Verwaltungsanweisungen definiert, Sie danken! — Gegenruf des Abg. Gerhard was genau unter dem Netz- und Telefondienstmono- Reddemann [CDU/CSU]: Der Haushaltsaus pol zu verstehen sein soll. Hinter den technisch schuß tut seine Pflicht! Der muß nicht gelobt schwer verständlichen Beschreibungen verbirgt sich werden!) eine gefährliche Aushöhlung der für die Eigenwirt- 5196 Deutscher Bundestag — 1.2. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Wieland Sorge schaftlichkeit der Telekom unverzichtbaren Mono- entläßt, statt alle verfügbaren Kräfte zur Verbesse- pole für den Netz- und den Telefondienst. rung der Dienstleistungsqualität einzusetzen.

So sollen — um nur wenige Beispiele zu nennen — (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dag die Errichtung privater Netze für unternehmens- mar Enkelmann [PDS/Linke Liste]) interne Übertragungen von Telefongesprächen er- Es ist kein seltener Fall, daß ein B rief von Bonn nach möglicht und das Betreiben öffentlicher Telefonzellen Berlin vier Wochen braucht. Das kann ich an einigen durch Private ebenso wie die Zusatzdienstleistungen Beispielen belegen. von Telefonkonferenzen oder Ansage- und Aus- kunftsdiensten erlaubt werden. Wenn man weiß, daß Die Verbesserung der Dienstleistungsqualität be- über 90 % der Einnahmen der Telekom aus dem Tele- trifft nicht nur die unvertretbar langen Laufzeiten, fondienst stammen, kann man sich unschwer ausma- sondern auch die Tatsache, daß beispielsweise in den len, welche finanziellen Auswirkungen ein Aushöh- neuen Bundesländern bis heute noch ein Großteil der len dieses Monopols für das Unternehmen bedeutet. Briefe und Pakete nicht ins Haus zugestellt werden. Erst wenn diese Mißstände behoben sind, wenn die Meine Fraktion ist deshalb gemeinsam mit dem Ar- Dienstleistungsqualität stimmt, kann der notwendige beitskreis der Bundesländer für Post und Telekommu- Personalbestand bei der gelben Post ermittelt werden. nikation der Auffassung, daß die im Poststrukturge- Dazu gehört auch, daß das Unternehmen Postdienst setz festgeschriebenen Monopole durch das Eck- Klarheit darüber schaffen muß, wie beispielsweise der punktepapier keinerlei Einschränkung erfahren dür- Brief- und Schalterdienst künftig organisiert und wie fen. und in welcher Form gemeinsame Dienstleistungen (Beifall bei der SPD) mit der Postbank angeboten werden sollen. (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Darauf Eine auch nur teilweise Öffnung des Telefondienstes warten wir schon ein halbes Jahr!) für den Wettbewerb könnten das finanzielle Gleich- gewicht der Post Telekom und damit auch die Erfül- Wir plädieren hier nachdrücklich dafür, die Verbund- lung des Infrastrukturauftrages gefährden. vorteile, die eine gemeinsame Nutzung vorhandener Einrichtungen ermöglichen, zu nutzen. (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Besser Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang eine bei VEB bleiben!) kurze Bemerkung zu den ausgesetzten Tarifverhand- der Post in den neuen Bundesländern. Ich In den neuen Bundesländern muß nicht nur eine lungen finde es ausgesprochen unfair, daß der Postgewerk- völlig neue Telekommunikationsinfrastruktur aufge- schaft zum Teil unterstellt wird, ausgerechnet in der baut werden; auch im Postwesen sind einschneidende Vorweihnachtszeit Kampfmaßnahmen zu planen, um Umstellungen erforderlich. Die Post in der ehemali- ihre Forderungen durchzusetzen. gen DDR hatte andere Aufgabenschwerpunkte ge- setzt -- ich nenne z. B. den Postzeitungsdienst —, (Jürgen Timm [FDP]: Das ist sehr unfair!) kannte zum größten Teil keine Hauszustellung von Briefen und Paketen wie in der alten Bundesrepublik Tatsache ist, daß der Vorstand Postdienst die Ver- und ist technisch und in den baulichen Anlagen völlig handlungen monatelang verschleppt hat, so daß sich überaltert. der Verdacht geradezu aufdrängt, daß die Gewerk- schaft mit unpolulären Streiks in dieser Zeit in Miß- Wir sind uns darüber im klaren, daß die objektiv kredit gebracht werden soll. schwierigen Anpassungen der Dienstleistungsquali- (Beifall bei der SPD) tät im Brief- und Paketdienst nicht von heute auf mor- gen durchgeführt werden können. Sie dürfen jedoch Daß die Defizite im Osten sehr viel größer als im nicht allein und zuallererst auf dem Rücken der Be- Westen sind, mag stimmen. Die Diskussion darüber ist schäftigten der Deutschen Bundespost und ihren Kun- aber der politischen Entwicklung hin zur Einheit nicht den in den neuen Ländern durchgeführt werden. dienlich. Wir müssen noch einmal darüber beraten, wie es sich wirklich verhält. (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, daß sich die Unterneh- men der Deutschen Bundespost wirtschaftlich verhal- Der dort bei der gelben Post geplante Beschäfti- ten müssen, daß sie nicht auf Dauer Mitarbeiterinnen gungsabbau von mehr als 10 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigen können, denen- keine und Mitarbeitern bis zum Jahre 1992 ist angesichts sinnvolle Arbeit für die Kunden und das Unternehmen der hohen und weiter ansteigenden Arbeitslosigkeit angeboten werden kann, versteht sich von selbst. nicht vertretbar. Er ist auch betrieblich mehr als frag- Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen dürfen sich aller- lich, wenn man berücksichtigt, daß die Arbeitsmen- dings nicht auf Personalfragen verengen. Ich habe gen allein im ersten Halbjahr 1991 bei den Briefsen- den Eindruck, daß die Unternehmensvorstände vor dungen von West nach Ost um mehr als 440 % und bei allem deshalb an der Personalschraube drehen, um den Paketsendungen um mehr als 200 % gestiegen zumindest Scheinerfolge bei ihren Bemühungen um sind. eine Ergebnisverbesserung vorzeigen zu können. Wer erlebt, daß man heute in den neuen Bundeslän- Ich hätte mir gewünscht, die Deutsche Bundespost dern wochenlang nach der Absendung darauf warten -- jetzt spreche ich in die Vergangenheit gerichtet — muß, bis man einen B rief oder ein Paket erhält, kann hätte sich von Wirtschaftlichkeitsüberlegungen leiten nur schwer nachvollziehen, daß die Post Mitarbeiter lassen, als es um die Einrichtung von Breitbandver- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5197

Wieland Sorge teilnetzen für den Empfang von Hörfunk- und Fern- Deswegen weist auch nur eine einzige Zahl in dem sehprogrammen ging. Haushaltsplan auf seinen Staatshaushaltscharakter (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Das ist hin. Das sind die 9,7 Milliarden DM Postablieferung. die Einrichtung, die heute keiner mehr will, (Werner Zywietz [FDP]: Das ist eine ganz oder wie?) ordentliche Zahl!) — Gleich, Herr Pfeffermann. — Die dabei aufgelaufe- Aber von den drei Unternehmen liegen zu den Jah- nen Defizite von 1983 bis heute dürften inzwischen resabschlüssen 1990, also für das erste Jahr, die ent- knapp die 10-Milliarden-DM-Grenze erreicht haben. sprechenden Berichte vor. Daraus lassen sich doch Jährlich kommt mindestens eine weitere Milliarde schon einige Entwicklungen für die Zukunft able- hinzu. sen. Die Bemühungen des Postministers, mit Hilfe priva- Zum Beispiel hat das Unternehmen Postbank 1990 ter Betreiber und Vermarkter von Breitbandkabelan- immerhin ein positives Betriebsergebnis erwirtschaf- lagen eine schnellere und wirtschaftlich tragfähigere tet. Nur dadurch, daß Postablieferung und Wertpa- Versorgung mit Breitbandanschlüssen zu erreichen, pierabschreibungen stattfinden mußten, muß die sind ebenfalls total gescheitert. Der Bundesrech- Postbank einen Verlust von rund 400 Millionen DM nungshof hat vor wenigen Wochen ein Gutachten vor- ausweisen, der durch den Finanzausgleich gedeckt gelegt, das für den Bundespostminister in dieser Hin- wird. Das Betriebsergebnis für 1991 und die Postablie- sicht vernichtend ausgefallen ist. ferung werden sicherlich höher ausfallen. Die politischen Altlasten in Milliardenhöhe, die der Bundespostminister seinem Unternehmen Telekom Es gibt aber ein Problem für 1992, auf das ich kurz als Danaergeschenk hinterlassen hat, dürfen im Zu- eingehen möchte, nämlich daß sich Postbank und sammenhang mit der wirtschaftlichen Gesamtsitua- Postdienst noch nicht darüber geeignet haben, wie tion der Telekom nicht übersehen werden. Angesichts denn die Nutzung der Poststellen in der Zukunft ge- der riesigen Verluste will der Vorstand der Post Tele- schehen soll. Der Differenzbetrag beider Vorstellun- kom die monatlichen Gebühren für den Kabelan- gen liegt derzeit noch bei 1 Milliarde DM. Es ist zwar schluß um bis zu 24 % anheben. Die Dummen sind richtig, daß sich Politik nicht in die Geschäfte der also letztlich die Kabelkunden, die der Postminister Unternehmen einmischen sollte, aber ich glaube, eine mit Versprechungen und günstigen Gebühren in sein Forderung muß erlaubt sein: daß hier schnellstmög- Netz lockte und die nun die drastischen Gebührener- lich eine Einigung dahin gehend erzielt wird, daß höhungen hinnehmen müssen. auch die Postbank reell an den Kosten der Postdienst- stellen beteiligt wird, ohne daß sie im Wettbewerb mit (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Da kommt den anderen Banken einen Nachteil erleidet. Freude auf! — Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Meinen Sie die 3 DM Herr Kol (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lege?) der CDU/CSU) — Ja. Das wäre eine Grundvoraussetzung dafür, daß die Postbank auch in der Fläche, möglichst in allen Post- Es geht uns nicht darum, die Post Telekom in ein stellen, erhalten bleiben kann. Ich denke, daß der schlechtes Licht zu rücken. Wir wollten nur die Män- Begriff Post als Markenzeichen so weiterhin erhalten gel aufzeigen. Es ist nicht unsere Aufgabe, das Mini- bleiben kann. sterium besonders zu loben. (Franz Müntefering [SPD]: Das kann man Das Unternehmen Postdienst schließt 1990 erwar- auch nicht!) tungsgemäß mit einem hohen Verlust ab und muß aus dem Finanzausgleich unterstützt werden. Auch wenn Wir haben vielmehr deutlich machen wollen, daß eine 1991 ein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, kann Reihe von Veränderungen notwendig sind. Wir sind man daraus noch keine abschließenden Prognosen für bereit, mit allen zuständigen Stellen zu verhandeln das Wirtschaftsjahr 1992 ableiten. und mit ihnen gemeinsam neue Lösungen zu suchen und konstruktive Vorschläge zu machen. Die Situation ist schwierig, insbesondere beim Aufbau in den neuen Bundesländern. Wenn 1991 (Beifall bei der SPD) 500 Millionen DM und in den nächsten Jahren wei- tere Mittel zur Verfügung gestellt werden, rechnet der Postdienst immerhin für 1995 mit schwarzen Zahlen. Das Wort Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das wäre doch ein positiver Vorgang. - hat nun der Abgeordnete Jürgen Timm. Daß nun der gesamte Standard Westdeutschlands nicht auf Anhieb auf die neuen Bundesländer zu über- tragen ist, dürfte auf Grund der Situation eigentlich Jürgen Timm (FDP): Herr Präsident! Meine sehr klar sein. verehrten Damen und Herren! Der vorgelegte Haus- haltsplan ist eigentlich sehr mager. Das liegt ganz ein- Das Unternehmen Telekom hat ein gutes Wirt- fach daran, daß die wichtigen Wirtschaftspläne 1992 schaftsergebnis 1990 erzielt, aber durch die Postablie- der drei neuen Postunternehmen noch nicht vorlie- ferung ist der Gewinn auf Null zurückgeschrieben gen, weil sie entweder nicht verabschiedet oder nicht worden. genehmigt sind. (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Das hat (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Was ist doch die Bundesregierung selbst beschlos das?) sen!) 5198 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Jürgen Timm — Darüber werden wir gleich noch zu sprechen ha- Zeitraum von 1924 bis 1991 erstrecken, zu verkraften. ben. Daß das nicht nahtlos und ohne Probleme geht, kann Das Geschäftsjahr 1991 wird ähnlich sein und das sich, glaube ich, jeder vorstellen. Ergebnis 1992 wahrscheinlich wieder so eintreten. Die Poststrukturreform hat den richtigen Weg ge- Auch wenn für die neuen Bundesländer die Postablie- zeigt; sie muß fortgesetzt werden. ferung ausgesetzt ist, kann man beim besten Willen nicht erwarten, daß bessere Ergebnisse zu erzielen (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Sie führt sind. in die Sackgasse!) Für 1992 wird von einer freien Finanzspitze von Die FDP-Fraktion unterstützt den Minister in diesem 400 Millionen DM ausgegangen, die zur Kapitalauf- Vorhaben. stockung verwendet werden soll. Jetzt sind wir schon (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) in dem Problembereich, den Sie eben angesprochen haben: daß die Kapitalaufstockung bei dem zu erwar- Das ist schon allein mit Blick auf den gemeinsamen tenden Betriebsergebnis 10 Milliarden DM betragen europäischen Markt 1993 wichtig, wichtig auch mit müßte. Blick auf die Abhängigkeit deutscher Zulieferer von Monopolbeschränkungen für den Fall, daß sie im Aus- (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Eben!) land Geschäfte tätigen wollen. Ich meine, die Fortfüh- Das können wir aber weder aus dem Staatshaushalt rung der Poststrukturreform ist hier das einzig geeig- noch aus dem Gewinn ohne weiteres bereitstellen. nete Mittel. Sonst müßten wir an anderer Stelle Kredite aufneh- Es soll nichts übers Knie gebrochen werden, Herr men; jetzt werden sie an dieser Stelle aufgenommen, Börnsen. Aber wir sollten ernsthaft in ein Gespräch etwa 17 Milliarden DM abzüglich der 400 Millionen darüber eintreten, DM. Darüber müssen wir sprechen. Hier kann nur hel- fen, privates Kapital einzubringen. Deswegen meine (Franz Müntefering [SPD]: Ja, fangen Sie mal ich, daß wir richtig beraten sind, auf eine Änderung an!) des Art. 87 des Grundgesetzes hinzuarbeiten, damit das möglich wird. was wir hier richtigerweise machen können. Wir sit- zen alle in einem Boot. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Franz Müntefering [SPD]: Und wer ru Das gleiche gilt für die Postbank; denn sie ist das dert?) Unternehmen, das für eine Privatisierung prädesti- niert wäre, wenn die Voraussetzungen, wie ich sie Wenn einer streikt, geht das zu Lasten der anderen. eben geschildert habe, einträten. Das Boot kommt dann nicht da an, wo es eigentlich ankommen soll. Das sage ich vor dem Hintergrund der Beim Postdienst kann es 1995 besser werden. Aber derzeit stattfindenden Tarifverhandlungen, die offen- ohne Rationalisierung und ohne Einschnitte in die sichtlich scheitern werden, wie man heute gelesen Personalstruktur geht es einfach nicht. Das muß man, hat, die einen ganz entscheidenden Punkt zum Ge- wenn man sich damit vor Ort beschäftigt, sehen. genstand haben, nämlich die Frage, ob ein globaler Wenn wir erreichen wollen, daß die gelbe Post wie Rationalisierungsschutz eingeführt werden kann. bisher überall in der Fläche erhalten bleibt, dann müs- Aber wie soll das funktionieren? Die gleichen Leute sen wir auch ungewöhnliche Vorschläge und Schritte fordern auf der einen Seite, moderne Technik schnell akzeptieren. Also: Warum können wir im Hinblick auf und ohne große Probleme einzuführen, und auf der die Flächenpräsenz der Post nicht über ein meines anderen Seite sagen sie: Aber Rationalisierungen dür- Erachtens notwendiges und durchaus realisierbares fen nicht stattfinden. Verfahren der Teilprivatisierung nachdenken? Warum soll das tabu sein? (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Das ist nicht wahr! Sie müssen sich damit einmal (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ernsthaft beschäftigen!) der CDU/CSU — Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Das ist wohl das einzige, was Ihnen Das kann nicht funktionieren! dazu einfällt!) (Beifall bei der FDP) — Das wäre immerhin ein Weg. Warum sollten wir über diesen Weg nicht diskutieren und ernsthaft Wir haben die Pflicht, hier voranzugehen und die nachdenken und ihn dann auch beschreiten? Entscheidungen dafür zu treffen, daß die Post- für die zukünftige Entwicklung einen Gestaltungsraum hat. Die Telekom wird zwar immer kritisiert, daß alles Die Sache duldet keinen Aufschub mehr. Ich bitte Sie nicht so läuft, wie man sich das gerne wünscht. Aber deshalb ganz ernsthaft, die in Zukunft notwendigen wenn man einmal etwas hinter die Kulissen schaut Schritte in einem gemeinsamen Gespräch zu klären. und sieht, wie die Verhältnisse beim Wiederaufbau in den neuen Bundesländern tatsächlich sind, dann muß (Franz Müntefering [SPD]: Wann machen man auch der Telekom durchaus ein Lob dafür aus- wir das denn? Das haben Sie schon ein paar- sprechen, daß hier Gewaltiges geleistet worden ist. mal angeboten!) (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ist — Ich will das gern sagen: Wir sind ja ständig im richtig!) Gespräch, und es gibt unterschiedliche Runden, die darüber diskutieren. Wir haben ja in einigen Bereichen vier Generationen von technischen Einrichtungen, die sich über den Wir stimmen dem Posthaushalt 1992 zu. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5199

Jürgen Timm Vielen Dank. sten, der irgendwo nicht richtig hängt, verantwortlich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gemacht werde? Im übrigen wäre dies natürlich nicht möglich gewe- sen, wenn ich nicht schon zu Zeiten der DDR — also Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine vor der Wiedervereinigung — in den Jahren 1989/90 Damen und Herren, bevor ich dem Minister für Post mit meinen damaligen Kollegen entsprechende Pla- und Telekommunikation das Wort erteile, möchte ich nungen abgestimmt hätte. Da gab es natürlich Verein- fragen, ob das Haus damit einverstanden ist, daß der barungen zwischen den beiden Regierungen. Wir ha- Abgeordnete Dr. Schumann (Kroppenstedt) seine ben uns schon zu diesem Zeitpunkt zusammenge- Rede zu Protokoll gibt.* ) setzt, und ich bin stolz darauf, daß wir im Unterschied (Zustimmung) zur Bundesbahn die Integration der Unternehmen mit einem Schlage vollzogen haben. Wir wollen mal — Das Haus ist damit einverstanden. Dann können sehen, wie schwierig das jetzt für Reichsbahn und wir so verfahren. Bundesbahn in der nächsten Zeit werden kann. Ich Ich vermerke das um so dankbarer, als ich das Haus glaube, daß wir hier die richtigen Entscheidungen darauf aufmerksam machen möchte, daß die Sitzung getroffen haben. nach der jetzigen Debattenplanung heute abend über 24 Uhr hinausgeht. Wir sind also schon sehr erfreut, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — wenn solche hilfreichen Angebote beim Präsidium Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ist eingehen. Das darf durchaus als Aufforderung ver- richtig!) standen werden. Frau Kollegin Gleicke, Sie haben einiges über die Nunmehr haben Sie, Herr Minister Dr. Schwarz Bewertung der Postreform gesagt. Nun, daß es Pan- Schilling, das Wort. nen gab, auch Fehler gab, das ist vollkommen unbe- stritten. Es ist eine so riesige Umorganisation, die in diesen Unternehmen durchzuführen ist, daß Sie selbst Dr. Christian Schwarz-Schilling, Bundesminister für unter normalen Bedingungen eigentlich mit zwei bis Post und Telekommunikation: Herr Präsident! Meine vier Jahren rechnen müssen, bis ein eingeschwunge- sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir ner Zustand von Führungsstruktur, Organisations- alle haben in den letzten Monaten empfunden, wie struktur und Aufgabenerfüllung gegeben ist. wichtig Kommunikation ist: zwischen Menschen, Auf der anderen Seite, so muß ich sagen, ist die zwischen Unternehmen. Das fällt besonders dann auf, Aufgabenstellung für das neue Management, genau wenn sie irgendwo einmal nicht funktioniert. zu dem Zeitpunkt, als es an Bord genommen wurde, (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Ja, das ist die Wiedervereinigung zu meistern, natürlich eine wahr!) außergewöhnliche Herausforderung. Es ist jetzt ei- Gerade die neuen Bundesländer machen uns bewußt, gentlich etwas billig, manche Pannen, die nun auf welch riesige Rolle Kommunikation spielt und wie Grund dieser Priorität entstehen mußten, der Post- wichtig sie als Voraussetzung für das Wachstum unse- strukturreform anzulasten. Ich würde umgekehrt sa- rer ganzen Volkswirtschaft ist. gen: wenn wir die nicht vorher abgeschlossen hätten, wären wir niemals in der Lage gewesen, den Aufbau (Werner Zywietz [FDP]: So ist es!) der Infrastruktur im Osten mit dieser Schnelligkeit zu Ich darf mich hier an Stelle der Unternehmen bei leisten. Das ist meine ganz klare Auffassung! Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Unter- den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — bedanken, die wirklich Ungeheures geleistet nehmen Zurufe von der SPD) haben, und zwar im ersten Halbjahr unter der Dauer- beschimpfung der Öffentlichkeit, sie täten nichts, weil Nun, Sie haben zu Recht die Frage der Eigenkapi- natürlich die wenigsten gemerkt haben, daß unten in taldecke angesprochen. Ich muß hier wirklich das den Schächten und daß in den Digitalstellen im Drei- Wort zurückweisen, wir hätten die Bilanzen um 8 Mil- schichtenbetrieb an sechs Tagen in der Woche gear- harden DM schöngerechnet. Es geht hier um den beitet wird. Wenn sich da scheinbar nichts tat, mein- nackten Unterschied zwischen kameralistischer und ten die Leute, daß alles schläft. Erst als man die sieben betriebswirtschaftlich-handelsrechtlicher Bilanzie- Overlay-Netzvermittlungsknoten eingeschaltet hat, rung. war plötzlich das Erstaunen groß. Die Deutsche Bun- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das! — Zuruf despost erfreut sich jetzt wirklich einer großen Zu- von der FDP: Genau richtig!) stimmung. Viele, viele Bürgerinnen und Bürger aus - den fünf neuen Bundesländern schreiben heute be- Wenn Sie nach dem Handelsrecht zu bilanzieren ha- geisterte B riefe, daß sie nicht geglaubt haben, daß es ben, dann müssen Sie Ihr Anlagevermögen nach dem so schnell funktioniert. Niederstwertprinzip ansetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Das muß Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Gehen die ten Sie aber vorher auch!) Briefe auch an den Minister?) — Nein, wir wußten nicht, in welcher Größenord- — Die gehen auch an den Minister; denn warum sol nung. Das hätten 3 Milliarden, das hätten 6 Milliarden len die Leute dort besser orientiert sein als im Westen sein können. Es waren ursprünglich 12 Milliarden der Bundesrepublik, wo ich ja auch für jeden Postka- vorgesehen. Dann ist man auf 7 bis 8 Milliarden her- untergegangen, nachdem man noch einmal ganz ge- *) Anlage 2 nau geprüft hat, was handelsrechtlich noch vertretbar 5200 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Bundesminister Dr. Christian Schwarz-Schilling ist und ob man die Abschreibungen auf mehrere Jahre Dr. Christian Schwarz-Schilling, Bundesminister für verteilen kann. Das sind alles Fragen, die man mit den Post und Telekommunikation: Aber sehr gern, Herr Wirtschaftsprüfungsgesellschaften zu besprechen Börnsen! hatte, die erst nach der Strukturreform hinzugezogen werden. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte Von daher gesehen, möchte ich auch hier sagen: schön. Gehen Sie mal nach England, nach Japan oder nach Amerika. Sie werden dann sehen: Dort sind meistens größere Veränderungen im Anlagevermögen vorge- Arne Börnsen (Ritterhude) (SPD): Herr Minister, als nommen worden als bei den Unternehmen der Deut- wir während der Beratung des Poststrukturgesetzes schen Bundespost. im Ausschuß und auch hier im Plenum von Ihnen die (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Dann ha Zahlen über den Eigenkapitalanteil der Telekom er- ben Sie aber vorher geschönte Zahlen ge fuhren, war ihnen doch bekannt, daß die notwendigen nannt!) Korrekturen auf Grund der Bilanztechnik erforderlich — Nein! Sie waren nach der Kameralistik richtig. sein würden und daß diese in vergleichbaren Fällen im Ausland zu einer erheblichen Minderung des Ei- Aber das Handelsrecht hat Risikovorschriften, und die müssen beachtet werden. genkapitals geführt haben. Darauf haben Sie aber während der Beratung des Poststrukturgesetzes nicht Noch eine Bemerkung zur Frage des Eigenkapitals: hingewiesen. Also haben Sie damals die Zahlen ge Als die Bundespost in den 60er Jahren die Infrastruk- schönt. tur der Bundesrepublik aufbaute — das war die Zeit, in der hier etwa die Ortsnetze ausgebaut wurden —, hatte sie ein Eigenkapital von unter 10 %. Dann wurde Dr. Christian Schwarz-Schilling, Bundesminister für durch die sehr vernünftige Aussetzung der Abliefe- Post und Telekommunikation: Nein. Herr Kollege, ich rung in 15 Jahren das Eigenkapital auf die jetzige darf darauf hinweisen, daß wir bei einem Eigenkapi- Größenordnung aufgebaut. talanteil von über 43 % gelegen haben, nach der Auf- Auch ich hätte das Problem lieber so gelöst, daß wir teilung ungefähr bei 38 % für die Telekom, und daß jetzt weiteres Eigenkapital aufbauen könnten. Ich ich in etwa absehen konnte, daß dies dann auf 33 % habe zwar zur Kenntnis genommen, daß es unglaub- bei der neuen Bilanzierung zurückgehen wird. So war lich sei, was der Postminister hier gemacht habe. Aber es damals in den Beratungen. Deswegen wurden für man muß die entsprechenden Entscheidungen in der die Unternehmen ja auch nicht 38 %, sondern 33 % Solidarität einer Regierung treffen. Daß ich mich im Eigenkapital im Gesetz festgelegt. Interesse der Unternehmen bemüht habe, die Abga- (Gerhard O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Exakt ben nicht zu erhöhen, sondern zu verringern, weiß so war es!) jeder, der guten Willens selber in die Zeitungen ge- Lieber Herr Kolbe, ich darf hier doch eines richtig- schaut hat. Das brauche ich hier doch wohl nicht wei- stellen: Mein Kollege Rawe hat im Haushaltsausschuß ter hervorzuheben. sehr wohl das Ergebnis der Untersuchung für den (Abg. Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD] mel Standort des BAPT in Mainz kundgetan. det sich zu einer Zwischenfrage) (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: So lieb ist er!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mi- Es ist dort entsprechend erörtert worden. Da kann der nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Haushaltsausschuß eine andere Meinung haben. Aber ich möchte doch diesen Vorwurf gegenüber dem Kollegen Rawe hier zurückweisen. Dr. Christian Schwarz-Schilling, Bundesminister für Post und Telekommunikation: Einen kleinen Mo- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ment, bitte. — Daß der Finanzminister jetzt zugestan- stimmt!) den hat, die Abgabe für das Ost-Gebiet nicht mehr zu Ich muß Ihnen sagen: Wenn Sie sich über Einzelheiten erheben — und zwar nicht vorübergehend, sondern orientieren wollen, stehen wir Ihnen ja jederzeit zur bis zur Überführung der Unternehmen in die normale Verfügung, um die entsprechenden Kriterien offenzu- Besteuerung, die ab 1995/1996 auch nach dem Gesetz legen, Ich möchte Sie also bitten, davon Gebrauch zu vorgesehen ist — , zeigt, daß die Bundesregierung die machen, aber hier nicht in dieser Weise eine falsche Einschätzung, die ich bereits Anfang des Jahres hatte, Äußerung vorzunehmen. - nämlich daß wir hier die große Frage des Eigenkapi- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Sehr tals nicht richtig beachtet haben, heute mit mir teilt gut!) und die richtigen Signale gesetzt hat. Dafür bin ich dem Finanzminister außerordentlich dankbar. Ich Herr Kolbe, auch bezüglich der Frage des Briefzu- glaube, wir haben hier in langer, wirklich harter Zu- stellers in Potsdam muß ich einen Punkt ansprechen. sammenarbeit das Machbare und Mögliche im Ge- Glauben Sie doch nicht, daß ich nicht furchtbar gern samtrahmen des Bundeshaushalts doch noch erreicht. diesem Briefzusteller die Anpassung geben würde. Dafür meinen ausdrücklichen Dank an den Finanzmi- (Zuruf von der SPD: Das war Sorge!) nister! -- Herr Sorge? Nein, das war von Herrn Kolbe vorge- tragen worden. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Und nun (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Herr Kolbe sind Sie bereit, die Zwischenfrage zu beantworten? hatte die Sorge!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5201

Bundesminister Dr. Christian Schwarz-Schilling — Ja, er hatte die Sorge, aber Herr Kolbe hat es vor- renanpassungen vorgenommen werden müssen, um getragen. die entsprechende Rendite noch im Laufe der Lebens- (Heiterkeit) dauer eines Netzes zu erreichen. Ich habe den Bericht sehr gut gelesen. Ich bin schon anderes gewohnt ge- Glauben Sie doch bitte nicht, daß wir das nicht furcht- wesen. In dem Bericht sind sehr gute Dinge enthalten, bar ernst nehmen. Aber haben Sie sich einmal ausge- und die muß die Telekom sehr genau beachten. Der rechnet, was das bedeutet? Ich will Ihnen einmal eine Bericht ist ja auch an die Telekom gerichtet. Zahl nennen: Wenn Sie bei den Postunternehmen eine Angleichung des Einkommensniveaus von Ost Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun ein an West um 1 % vornehmen wollen, dann kostet die- abschließendes Wort sagen: In den fünf neuen Bun- ses Prozent ca. 47 Millionen DM. Es gibt Leute, die desländern haben wir eine gewaltige Anstrengung reden von einer Anpassung von 60 auf 80 %. Wissen mit Investitionen in Höhe von 60 Milliarden DM in Sie, daß das eine Erhöhung um ungefähr 33 % ist? Und den nächsten fünf Jahren vor uns. In diesem Jahr sind jetzt rechnen Sie bitte 33 mal 47 Millionen DM! es — wie Sie wissen — rund 6,8 Milliarden DM von der Post und dann noch 1,6 Milliarden DM durch ein Meine Damen und Herren, zu dem, was dann auf Zusatzprogramm für die Turnkey-Projekte. Insgesamt den Haushaltsausschuß zukommt — bei uns müssen ist dies das größte Investitionsprogramm, das von ir- das ja die Unternehmen bezahlen, und dann sagt man gendeiner Seite in den fünf neuen Bundesländern den Unternehmen, nun seht mal zu, wie ihr das be- durchgeführt wird. Das leistet dieses Unternehmen, zahlt; aber Tarife dürft ihr nicht erhöhen; es wird alles ohne vom Steuerzahler auch nur irgend etwas zu be- eingeschränkt, aber zahlen sollen sie es Zu dem, kommen. Im Gegenteil, es muß sogar eine entspre- was das dann bezüglich des übrigen öffentlichen chend hohe Quote abführen. Dienstes für den Haushaltsausschuß bedeuten würde, In einem Punkt gebe ich Ihnen natürlich recht: Es wird möchte ich schon sagen, daß sich ein Mitglied des die Frage gestellt, ob man das denn nicht etwas ferner Haushaltsausschusses diese Frage, die hier zu beant- von der Politik machen soll. Dazu sage ich Ihnen, worten ist, einmal stellen sollte und das vielleicht ein- obwohl ich der politisch Verantwortliche bin: Ich bin mal berechnen sollte. der Auffassung, daß die Politik von der Deutschen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Bundespost mehr ferngehalten werden muß und in Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Wir machen das die langfristigen Planungen dieser Unternehmen auch, Herr Minister!) nicht so stark und so willkürlich eingreifen darf. Ich kann dazu nur sagen: Wir können uns auf diesem (Zustimmung bei der CDU/CSU) Sektor populistische Forderungen nicht erlauben, Aber da sind alle Koalitionen gleich: Herr Matthöfer weil hinterher die dicke Suppe kommen wird. Wir hat die Ablieferung von 6,75 % auf 10 % erhöht, als werden Arbeitslosigkeit über Arbeitslosigkeit bekom- — ohne Wiedervereinigung — die Kassen leer waren. men, weil kein Unternehmen und auch nicht der öf- Der Finanzminister heute ist ebenfalls nicht bereit, fentliche Dienst solche Größenordnungen in den weniger als vorher einzunehmen. Er kommt jetzt etwa nächsten drei Jahren verkraften könnte. Sie müßten auf das gleiche. ja, wenn Sie von 1994 sprechen, praktisch in drei Ich kann Ihnen nur sagen: Das kann man nur durch Sprüngen vorgehen: 80 % , 100 %, 120 %; denn in drei gesetzliche Maßnahmen verändern. Insofern bin ich Jahren werden Sie das Westniveau von heute minde- aus vielerlei Gründen auf eine neue Postreform aus, stens auf 120 % haben, wenn Sie es auf das Niveau auf eine Postreform 2. Ich bin sehr froh darüber, daß von 1991 beziehen. auch in der sozialdemokratischen Fraktion darüber Von daher gesehen kann ich Ihnen also nur sagen: ernsthaft nachgedacht wird, denn es steht zuviel auf Das wären Lohnerhöhungen pro Jahr in der Größen- dem Spiel. Man muß die internationale Situation se- ordnung von über 30 %. Welche Volkswirtschaft hätte hen. Mit einer Geschwindigkeit ohnegleichen werden bei stabilem Geld jemals eine solche Erhöhung ver- die Weltmärkte von den internationalen Telefonge- kraften können! — Das geht nicht. sellschaften praktisch aufgeteilt in Osteuropa und auch in Südamerika; aber unser Flaggschiff, die Tele- (Zuruf von der SPD: Und die Kostensteige kom, darf sich nicht beteiligen, darf deshalb nicht, rungen?) weil sie nach Art. 87 des Grundgesetzes daran gehin- dert ist. Nächster Punkt: Kabelgebühr. Meine Damen und Herren, hierzu muß ich noch einmal folgendes sagen — Herr Sorge, Herr Pfeffermann hatte hierzu den rich- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mi- tigen Zwischenruf gemacht — : 3 DM Erhöhung, und nister, ich bin weit davon entfernt, Ihr verfassungsmä-- dann sehen Sie sich doch einmal das an, was die ßiges Recht, hier so lange zu reden, einschränken zu öffentlich-rechtlichen Anstalten an Rundfunkgebüh- wollen. Aber mit Rücksicht auf die Gesamtsituation renerhöhungen fordern, ohne daß es eine Vermeh- darf ich Sie bitten, doch — — rung an Programmen gibt. Und schauen Sie sich ein- mal an, wie hoch die Gebühren für Kabelfernsehen in Dr. Christian Schwarz-Schilling, Bundesminister für Amerika, in England, in Frankreich sind; die liegen im Post und Telekommunikation: Selbstverständlich. Vergleich zu dem, was heute die Bundespost ein- Ich wollte also das, was Kollege Timm hier gesagt nimmt, zwischen dem Doppelten und dem Dreifachen hat, nur noch einmal stärker betonen. Ich lade Sie alle höher. ein, in den nächsten Wochen und Monaten Gespräche Wenn der Rechnungshof seine Besorgnis ausdrückt, darüber zu führen, ob wir in der Verantwortung für die dann ja gerade in dem Sinne, daß rechtzeitig Gebüh drei Postunternehmen nicht gemeinsam eine entspre- 5202 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Bundesminister Dr. Christian Schwarz-Schilling chende Regelung finden können, die unser Flagg- Ich rufe auf: schiff wieder flottmacht und die notwendige Kapital- Einzelplan 10 beschaffung ermöglicht. Geschäftsbereich des Bundesministers für Er Ich danke Ihnen. nährung, Landwirtschaft und Forsten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) — Drucksachen 12/1410, 12/1600 — Berichterstattung: Abgeordnete Bartholomäus Kalb Herr Mi- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ernst Kastning nister, dem Vorsitzenden des Haushaltsausschusses Dr. Sigrid Hoth können wir eine Zwischenfrage, glaube ich, nicht ver- weigern. Ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste liegt dazu vor. Ich frage das Haus, ob es mit einer Debattenzeit von einer Stunde einverstanden ist? Dr. Christian Schwarz-Schilling, Bundesminister für — Das ist offensichtlich der Fall. Post und Telekommunikation: Selbstverständlich! Dann können wir mit der Aussprache beginnen. Das Wort hat der Abgeordnete Kastning.

Rudi Walther (Zierenberg) (SPD) : Ich wollte den Minister nur folgendes fragen, weil er bei seiner Post- reform 2 auf Art. 87 des Grundgesetzes abhebt. Herr Ernst Kastning (SPD): Herr Präsident! Meine Da- Minister, sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß es men und Herren! Die deutschen Landwirte blicken in auch darum ginge, Art. 33 Abs. 3 und 5 des Grundge- diesen Wochen und den nächsten Monaten mit be- setzes entsprechend zu ändern, und sind Sie nicht rechtiger Sorge auf die bevorstehende Agrarreform auch der Meinung, daß die jeweiligen Innenminister aus Brüssel und befürchten zugleich weitere Einkom- an dieser Stelle bisher versagt haben? menseinbußen aus der noch nicht abgeschlossenen Uruguay-Runde des GATT. Ich teile diese Sorgen. Ich meine auch, daß — um Dr. Christian Schwarz-Schilling, Bundesminister für nur ein paar Punkte zu nennen — weitere Einkom- Post und Telekommunikation: Herr Kollege, ich bin menseinbußen nicht hingenommen werden können, Realist. Ich weiß, daß innerhalb von zwei, drei Jahren daß Stützpreissenkungen nur gegen Einkommens- einer Legislaturpe riode ein solches Werk nicht auf ausgleich erfolgen dürfen und daß dieser Einkom- den Weg zu bringen ist. Bisher ist jede Koalition daran mensausgleich, insbesondere dann, wenn er an sozia- gescheitert. Auf Grund dieser Erkenntnis glaube ich, len und an ökologischen Kriterien ausgerichtet ist, auf daß wir nur spezifische Lösungen erreichen können. jeden Fall GATT-konform ist. Allerdings könnte eine so spezifische Lösung si- Mir ist allerdings noch nicht klar, ob dann, wenn cherlich auch ein Signal setzen, daß man etwas tun diese Reform kommt, von den inzwischen 63 Milliar- muß, um den gesamten öffentlichen Dienst in ad- den DM Agrarförderung der EG wirklich mehr direkt äquater Form modern weiterzuentwickeln. Dabei bin bei den Bauern ankommen wird. Das ist ja wohl, wie ich nicht der Meinung, daß die Substanz verändert ich annehme, ein großes Problem. werden muß; es müssen aber Regelungen moderni- siert werden. Das ist aber nicht Aufgabe des Postmi- (Zuruf von der CDU/CSU: Da mußt du mit nisters, sondern eine Aufgabe, die von allen gemein- helfen, Ernst! Das weißt du doch!) sam angegangen werden muß. Dies kann sicherlich Meine Damen und Herren, als Haushälter will ich nicht innerhalb eines Zeitraums von einigen Jahren heute aber vor allem auf das eingehen, was die deut- geschehen. Diese Aufgabe muß — wie die Postre- sche Landwirtschaft jetzt und unmittelbar als Folge form 1 — innerhalb von zwei Legislaturperioden von der Bundeshaushaltspolitik bet rifft. Die Haushalts- allen angedacht werden, und dann muß darüber dis- politik sollte, so denke ich, auf eine durchschaubare kutiert werden. Aber für uns ist dieser Zeitraum zu Finanzierung der Agrarpolitik allergrößten Wert le- lang, denn für den Bereich der Post-Unternehmen gen, dies auch deshalb, um die kostenträchtige Agrar- muß jetzt gehandelt werden. politik endlich aus der öffentlichen Kritik herauszu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — bringen. (Beifall bei der SPD) Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Aber Sie - sind doch schon seit neun Jahren an der Re Wir sind uns doch wohl darin einig, daß Agrarpoli- gierung!) tik, wenn sie vernünftig fortgesetzt werden soll, eine breite Zustimmung in der Bevölkerung haben muß. (Zuruf von der CDU/CSU: Wie die Kohle!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Damen und Herren, ich erkläre die Aussprache für — Wie die Kohle; dazu könnten sie eine Menge beendet und komme zur Abstimmung. tun. Wer dem Einzelplan 13 in der Ausschußfassung zu- (Zustimmung bei der SPD) zustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzei- Ich glaube, daß Sie, Herr Minister Kiechle, bei Nicht- chen. — Wer stimmt dagegen? — Der Einzelplan 13 beachtung dieses Grundsatzes Ihrem Kabinettskolle- ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen gen Möllemann das Geschäft erleichtern, die Agrarfi- die der Opposition angenommen. nanzen erneut ins Visier zu nehmen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5203

Ernst Kastning Auch das Kanzlerwort von gestern vormittag kann ben wird. Jetzt hören Sie gut zu. Wohlgemerkt — Herr nicht darüber hinweghelfen, Kollege, ich kenne Sie persönlich leider nicht, sonst würde ich Sie mit Namen anreden — : Ich bin für den (Zuruf von der CDU/CSU: Es war richtig und direkten Einkommensausgleich. Ich möchte als Haus- hilft uns allen!) hälter vor Freigabe der Mittel aber wissen, wie und für daß wir ein sorgfältiges Vorgehen brauchen. wen konkret sie der Minister ausgeben will. (Zuruf von der CDU/CSU: Da war der Mölle (Beifall bei der SPD) mann nicht hier! — Weitere Zurufe) Von ebensowenig finanzpolitischer Klarheit zeugt — Wir sind hier nicht in der Versammlung Ihres Be- das Verfahren beim Herauskauf einer Milchquote triebes für nachwachsende Rohstoffe, Herr Kollege von 675 000 Tonnen auf Grundlage der EG-Be- von Hammerstein; deswegen wäre ich dankbar, wenn schlüsse vom Frühjahr dieses Jahres. Gemäß Sparvor- ich bei etwas mehr Ruhe vortragen könnte. gabe des Finanzministers darf das sogenannte natio- Die Koalition schiebt schon mal haushaltsrechtliche nale Hütchen, wie das vom Hause bezeichnet wird, Grundsätze beiseite, wenn es um politische Verspre- über 217 Millionen DM nicht als direkte Bundesaus- chungen geht, so jedenfalls geschehen, als man sich gabe erscheinen. Die BALM muß zahlen. Ich denke, im Haushaltsausschuß weigerte, insgesamt 1,4 Milli- auch das ist eine Va riante von Schattenhaushaltspoli- arden DM für die Anschlußregelung zur auslaufenden tik des Bundes. Mehrwertsteuervergünstigung zunächst qualifiziert zu sperren, zu sperren deshalb, weil Sie, Herr Mini- (Beifall bei der SPD — Rudi Walther [Zieren ster, bis zum Abschluß der Beratungen im Ausschuß berg] [SPD]: Wenn das der Walter Altham nicht verbindlich erklären konnten, wie diese An- mer wüßte!) schlußregelung im einzelnen aussehen wird. Aber das ist noch nicht alles in diesem Zusammen- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber daß hang. Obwohl der Finanzierungsanteil der EG in fünf sie kommen mußte, war klar!) Jahresraten abgewickelt wird, finanziert der Bund vor und zahlt alles in einem Betrag aus. Das mag agrar- — Warten Sie mal ab! — Viel zu lange hat der Minister politisch einen Sinn machen; das will ich nicht bestrei- schlicht auf die Fortsetzung der Mehrwertsteuerrege- ten. Aber dafür muß wiederum die BALM mit Kredit- lung gesetzt, und die EG hat erwartungsgemäß — das aufnahme einspringen, für die über die Jahre der Vor- war für jeden erkennbar — abgelehnt. finanzierung Zinskosten von über 200 Millionen DM Für die Anschlußregelung über den soziostruktu- entstehen, die der Bund zu tragen hat. rellen Einkommensausgleich liegen nun weder die erforderlichen gesetzlichen Grundlagen vor, noch Ich frage hierzu nicht den Agrarminister — aus- sind die Vorstellungen des Ministers hierzu, wie er drücklich nicht — , sondern den Finanzminister, selbst festgestellt hat, innerhalb der Bundesregierung (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Wo ist er abgestimmt. Die Frage ist für mich außerdem — das denn eigentlich?) können Sie ja auch bei Ihren Verbänden nachprü- fen —, ob sie genügend differenziert sind, um bei- ob das im Sinne von Haushaltsklarheit und Haushalts- spielsweise die flächenarmen Veredelungsbetriebe wahrheit ist und ob das ein vernünftiger Umgang mit wirksam zu erreichen. Zudem muß die Zustimmung öffentlichen Geldern ist. der EG und der Mitgliedstaaten noch in harten Ver- handlungen erreicht werden, und sie ist wohl auch (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Der noch fraglich. zählt seine Defizite! — Rudi Walther [Zieren berg] [SPD]: Seine Schuldentürme zählt Inzwischen, meine Damen und Herren, versuchen er!) Unionspolitiker draußen im Lande — das finde ich sehr pikant — , die zögernde Finanzierungshaltung ei- Die Aufwendungen von darüber hinaus jährlich niger Länder als Ursache für Unklarheiten festzuma- 114 Millionen DM Zinskosten für die BALM, um EG- chen, obwohl der Bundesminister selbst seine Schul- Leistungen an die Bauern einigermaßen zügig und arbeiten nicht gemacht hat. vorfinanziert auszahlen zu können, sind ein grund- sätzliches kostenträchtiges Übel, das man den Bür- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: So gern wohl kaum verständlich machen kann. ist es! — Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Wie die ganze Regierung!) (Beifall bei der SPD) Ich verstehe das Begehren der Länder, nicht immer Ich sehe Ihr Schmunzeln. Aber die FDP hat,- Frau nur auf Grund von Beschlüssen in Bonn zahlen zu Kollegin Hoth, zu meiner großen Freude durch ihren müssen, sondern gerade mit Blick auf künftige Ent- Obmann ebenfalls daran Anstoß genommen und im scheidungen in Brüssel die Finanzierungsfragen zwi- Ausschuß erklärt, sie werde in den Folgejahren die schen Bund und Ländern auch einmal erörtert und Zinskosten für die Zwischenfinanzierung nicht mehr perspektivisch geklärt zu sehen. hinnehmen. Ein wahrhaft starkes Wort. Ich werde mir (Beifall bei der SPD — Siegfried Hornung erlauben, bei den folgenden Haushaltsberatungen [CDU/CSU]: Das war bisher eine Gemein darauf zurückzukommen. schaftsaufgabe und wird es auch in Zukunft Im übrigen hat die Bundesregierung vom Haus- sein!) haltsausschuß den Auftrag bekommen, in die Rich- Nicht ohne Grund wird befürchtet, daß die Mehr- tung zu arbeiten, daß diese Kosten nicht mehr auftre- wertsteuer-Anschlußregelung kein Einjahresakt blei ten. Ich greife etwas Ihres Koalitionspartners auf. Viel- 5204 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Ernst Kastning leicht diskutieren Sie einmal mit ihm darüber. Es war schaft praktisch auf Null herunter, obwohl die Situa- immerhin Herr Weng, tion dort nach wie vor dramatisch ist. (Michael Glos [CDU/CSU]: Was heißt hier „immerhin"?) (Zurufe von der FDP) der das gefordert hat und der wohl weiß, was im — Der im Haushalt verbleibende Anteil, Frau Kollegin Finanzbereich los ist. Hoth, von 300 Millionen DM entspricht noch nicht Ich habe in den vergangenen Wochen aufmerksam einmal dem, was bei einer einheitlichen Rechtslage, die Zeitungen gelesen, die sich mit der Agrarfinanzie- die wir noch nicht haben, als soziostruktureller Ein- rung beschäftigten. Ich bin darauf gestoßen, daß die kommensausgleich zu leisten wäre. Ich finde, die be- troffenen Bauern müssen das schon als Etiketten- „Süddeutsche Zeitung" am 18. Oktober die Agrar- politik dergestalt kommentiert hat, daß sie sagte, sie schwindel empfinden. werde nach Teppichhändlerart gemacht. (Beifall bei der SPD) (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ist eine Beleidigung der Teppichhändler!) Sie waren leider noch nicht einmal bereit, die von uns beantragten 100 Millionen DM wieder draufzusetzen, Es gibt in der Tat ein paar Anzeichen, die diese Kom- um wenigstens in besonders schwierigen Fällen Hilfe mentierung rechtfertigen. leisten zu können. Erstens. Da wird der CDU-Landesregierung von Ba- den-Württemberg für 1993 ein 70-Millionen-DM-Zu- Es gibt durchaus Aussagen aus dem Bereich der ost- schuß für den wissenschaftlich nicht hinreichend be- deutschen Landwirtschaft, die die Verbitterung deut- gründeten Großversuch MEKA offeriert. lich machen. So heißt es z. B. : Wenn man für 1992 keine Mittel mehr gibt, dann hätte man sich auch die (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Es ist immer finanziellen Aufwendungen in den vergangenen zwei so: Ein Versuch ist immer ein Versuch!) Jahren ersparen können. — Herr Kollege, Sie können mir doch nicht weisma- chen, daß Sie keine Ahnung haben. Deshalb sollten (Zuruf von der FDP: Na, na, na!) Sie solche Zwischenrufe nicht machen. Ich wollte Ihnen eigentlich noch etwas Drastischeres Auch ein Versuch muß wissenschaftlich hinrei- sagen, aber ich lasse das einmal. Ich habe jedenfalls chend begründet sein. Bei näherer Betrachtung den Eindruck: Von Gleichbehandlung der Landwirt- — auch das wieder aus dem Mund eines FDP-Kolle- schaft in Ost und West kann keine Rede sein. gen — kann durchaus der Verdacht auftauchen, es könne sich um Wahlhilfe handeln. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist ste — Zurufe von der FDP) falsch!) — Die Stimme von Herrn Gallus ist nicht zu überhö- Daß dem kleineren Koalitionspartner nicht ganz wohl ren. Deswegen gehe ich auch noch darauf ein, auch dabei ist, haben wir in den Haushaltsausschußbera- wenn die Redezeit wegläuft. tungen vermerkt. Das drückt sich auch in. einer Frage des Kollegen Paintner an die Bundesregierung aus, (Zurufe von der FDP) die er vor ein oder zwei Wochen an diese gerichtet hat. Die Kraft zur Verhinderung dieses Vorhabens war al- — Mir klingt es immer besonders in den Ohren, wenn lerdings leider nicht gegeben. sie rufen, Herr Gallus. Zweitens. Da werden im Zusammenhang mit dem Koalitionsstreit um das Wohnungsbauprogramm von Lassen Sie mich noch sagen: Das, was unter „An- Frau Schwaetzer von einer kleinen Gruppe der Union passungshilfen" neu ausgewiesen worden ist, — — der Wortführer ist im Moment nicht hier; schade 390 Millionen DM, ist ja wohl nichts anderes als der plötzlich neue Forderungen zur Agrarfinanzierung Teil, der als Anschlußregelung für die auslaufende gestellt und dann in letzter Minute 125 Millionen DM Mehrwertsteuer-Regelung vorgesehen ist. Das aber zur Senkung der Unfallversicherungsbeiträge be- hat nichts mit Anpassungshilfe zu tun; steht zwar un- schlossen, woran die neuen Länder im übrigen nur ter dem Titel, hat aber damit nichts zu tun. partiell partizipieren. Meine Damen und Herren, wenn ich noch einige (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Das ist doch Worte auf die Lage der ostdeutschen Landwirtschaft- vernünftig!) verwende, dann nicht deshalb, weil ich die Sorgen der —Herr Kollege Borchert, wenn Sie aufmerksam zuhö- westdeutschen Landwirte übersähe, sondern deshalb, ren, dann werden Sie merken, daß ich über den Stil weil hier die Zuständigkeit der Bundesregierung un- dieser Agrarpolitik rede, der nach meiner Meinung mittelbar wirkt und auch nötig ist. unbedingt vernünftig sein muß. Ich glaube, wenn man die Dinge aufmerksam beob- Auf der anderen Seite wird im gleichen Moment der achtet, muß die Frage aufkommen, ob die schwerwie- Regierungsansatz zur Gemeinschaftsaufgabe „Ver- genden Probleme beim Zusammenwachsen der un- besserung der Agrarstruktur und des Küstenschut- terschiedlichen Landwirtschaften in beiden Teilen zes" für die neuen Bundesländer um 100 Millionen Deutschlands durch die Bundesregierung ausrei- DM heruntergesetzt, und zugleich fährt die Koalition chend berücksichtigt werden. Hier sind gewisse die Anpassungshilfen für die ostdeutsche Landwirt Zweifel angebracht. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5205

Ernst Kastning Das Grundproblem — darüber brauchen wir nicht dem. notwendigen Maß zurückbleibt und zu spät er- zu streiten — liegt mit Sicherheit im Erbe der ehema- folgt. ligen DDR begründet. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie tun so, — Georg Gallus [FDP]: Na, na!) als ob das in ein paar Monaten bereinigt wer Die umstrukturierten Betriebe müssen Zins und Til- den könnte!) gung für Altanlagen leisten, die den heutigen Anfor- derungen in keiner Weise gerecht werden und des- — Gewöhnen Sie sich doch einmal die Fähigkeit zum halb gezwungenermaßen mit erheblichem Finanzauf- Zuhören an, Herr Kollege! Das wäre für uns alle gut. wand modernisiert oder umgebaut werden müssen. — Aber es wachsen gerade bei den Betroffenen die Hier wird vielfach Unmögliches verlangt. Das müßte Zweifel, ob ein großer Teil der aktuellen Schwierig- doch auch die Bundesregierung erkennen. keiten nicht auch ein Ergebnis einer falschen La- geeinschätzung durch die Bundesregierung ist. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke geordneter Kastning, sind Sie bereit, eine Frage des Liste) Abgeordneten Gallus zu beantworten? Hier frage ich ganz exakt: Herr Minister Kiechle, werden Sie von Ihrer Außenstelle des Ministeriums Ernst Kastning (SPD): Bitte. Berlin eigentlich offen über die tatsächliche Situation informiert, oder gelangt das, was dort beobachtet Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte wird, als verkürzter Extrakt auf Ihren Schreibtisch? schön. Die größten Schwierigkeiten bringt gegenwärtig die Vermögensauseinandersetzung nach § 44 des Georg Gallus (FDP): Herr Kollege, haben Sie sich Landwirtschaftsanpassungsgesetzes mit si ch. Um die die Mühe gemacht, einmal festzustellen, welches Ver- Höhe des tatsächlichen Vermögens — ich meine nicht hältnis zwischen den neuen und den alten Bundeslän- den Artikel, an den Sie jetzt denken; das ist geklärt — dern in bezug auf die Verschuldung besteht und daß, der LPG, um die Höhe von Rückstellungen für soge- wenn die Entschuldung vollzogen ist, eine wesentlich nannte Altlasten und um den Auszahlungsanspruch günstigere Situation für die Betriebe aller Schattierun- kommt es in den Dörfern zum offenen Streit, einem gen in den neuen Bundesländern entsteht, zumal wir Streit, der Initiativen lähmt oder gar verhindert, daß jetzt die Talsohle bei den Preisen durchschritten ha- wettbewerbsfähige Betriebe aufgebaut werden kön- ben? Wir haben heute drüben bei Schweine- nen. fleisch — — Bereits bei den Beratungen zu diesem Gesetz haben (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: die Agrarpolitiker meiner Fraktion auf die Gefahr des Frage!) erheblichen Kapitalabflusses in den außerlandwirt- Ich habe gefragt, ob er sich die Mühe gemacht hat, schaftlichen Bereich hingewiesen. die Zahlen einmal zu vergleichen. Ich füge hinzu: (Ulrich Heinrich [FDP]: Die haben wir alle nachdem die Preise beinahe angeglichen sind. gesehen!) Herr Ab- — Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Aber nicht entsprechend gehandelt. geordneter Gallus, wir betrachten das weniger als (Beifall bei der SPD) Frage, sondern eher als eine Intervention. (Georg Gallus [FDP]: Das ist eine Frage!) Bei Anerkennung der berechtigten Ansprüche der ausscheidenden LPG-Mitglieder sahen unsere dama- ligen Änderungsanträge ein weitergehendes Vertre- Ernst Kastning (SPD): Ich habe das schon als Frage tungs- und Mitspracherecht der Boden- und Inventar- verstanden. Ich bin freudig bereit, darauf zu antwor- einbringer vor. Konsequenterweise sollten diese aller- ten. dings dann auch für die Folgen der Vermögensaus- Herr Kollege Gallus, erstens habe ich mir die Mühe einandersetzungen mit in die Pflicht genommen wer- gemacht, festzustellen, daß Sie in den letzten Mona- den. ten mehr über die westdeutsche Landwirtschaft als über die ostdeutsche geredet haben. Das ist klar; Sie (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Genau das können das selber in den Stenographischen Berichten- Gegenteil wollten Sie!) der Fragestunden des Bundestages nachlesen. In vielen unistrukturierten Betrieben besteht, meine (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Er weiß Damen und Herren, ganz aktuell die Gefahr, daß Aus- doch gar nicht, was er in den Fragestunden zahlungsanprüche nicht geleistet werden können und antwortet!) daß diese Betri ebe dadurch in ihrer Existenz auf Zweitens habe ich mir die Mühe gemacht, die Zah- Dauer gefährdet sind. len zu vergleichen, und bin zu dem Ergebnis gekom- (Georg Gallus [FDP]: Das stimmt überhaupt men — da ich auch nach dem Hintergrund gefragt nicht!) habe —, daß Verschuldung in West und Ost, zumin- dest zum großen Teil, unterschiedlich zu bewerten ist, Erschwerend kommt hinzu, daß die tatsächlich gelei weil ich auch fragen muß: Für was ist die Entschul- stete Entschuldung in ihrer Höhe bei weitem hinter dung entstanden? 5206 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Ernst Kastning Ich wollte Ihnen jetzt noch ein Beispiel nennen. Ich appelliere abschließend noch einmal an die Bundesregierung und an die Koalition — Herr Bor- (Abg. Georg Gallus [FDP] steht noch am chert, ich meine das wirklich ehrlich — Saalmikrophon) (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Bei Appellen — Sie können sich wieder setzen; das war an alle hören wir immer aufmerksam zu!) gerichtet. Das ist freundschaftlich gemeint. — bei Appellen hören Sie nicht zu? — (Heiterkeit) (Jochen Borchert [CDU/CSU]: „Aufmerksam Sie wehren sich doch nicht gegen meine Freund- zu" habe ich gesagt!) schaft! Um Gottes willen, das wollte ich nicht! — Sehr schön — , die Finanzierung der Agrarpolitik Wenn ein Betrieb 6 Millionen DM Altschulden hat, auf eine solide und durchschaubare Grundlage zu inklusive Altschulden für Wohnungsbau, Kindergar- stellen und von Ad-hoc- und Gefälligkeitsmaßnah- ten und Wegebau, was nichts mit dem eigentlichen men abzusehen, um nicht unnötig öffentlich Porzellan Betriebszweck zu tun hat — das werden Sie mir zuge- zu zerschlagen und — vielleicht darf ich das noch hin- ben —, und dann mit 40 000 oder 100 000 DM entla- zufügen — auch nicht unnötig die Agrarberichterstat- stet wird, dann ist das doch wohl nicht vertretbar. ter Ihrer Fraktionen zu verärgern. (Heiterkeit — Beifall bei der SPD und der (Beifall bei der SPD — Horst Jungmann PDS/Linke Liste — Jochen Borchert [CDU/ [Wittmoldt] [SPD]: Lachhaft ist das!) CSU]: Dem letzten Halbsatz stimme ich Meine Damen und Herren, ich frage: Sollte am zu!) Ende stimmen, was kürzlich „Die Zeit" schrieb, näm- lich, daß unter dieser Regierung die Umstrukturierung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer der ostdeutschen Landwirtschaft genutzt werde, um Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Thal- den Agrarmarkt zum Nachteil der Ostdeutschen zu heim jetzt das Wort. bereinigen? Ich vermag das im Moment nicht zu glau- ben. Interessant ist aber, daß so etwas heute schon Dr. Gerald Thalheim (SPD): Herr Staatssekretär Gal- geschrieben wird. lus, ich möchte Ihnen auf Ihre Frage antworten, daß es Es erscheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, daß mir unverständlich ist, daß sie zu der Entschuldungs- die hier von mir vorgetragene Bewertung der tatsäch- frage hier eine Meinung dahin gehend äußern, daß lichen Situation auch im Herbstgutachten der Fünf die Entschuldung viel zu hoch ausfällt. Ich kann mich Weisen zum Ausdruck kommt. Dort ist das Ergebnis, gut erinnern, daß gerade Sie bei der Ausschußbera- der Übergang aus der Planwirtschaft heraus bedeute tung festgestellt haben, daß der Verschuldung der für die ostdeutsche Landwirtschaft keineswegs, daß Landwirtschaft in den meisten Fällen in Ostdeutsch- sie nun ihre Wettbewerbsvorteile suchen könne. Sie land kein Gegenwert gegenübersteht. Ich kann mich werde daran durch Altlasten und politische Vorgaben daran erinnern, daß ich Ihrer Meinung in der Aus- gehindert. schußberatung ausdrücklich zugestimmt habe. Bei riebe besteht die große (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste der Entschuldung für die Bet Schwierigkeit darin, daß sie für Anlagen Zins und — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Alte poli rieben tische Vorgaben!) gung leisten müssen, die in den meisten Bet überhaupt keinen Nutzen mehr bringen. — Ihre sind auch nicht immer neu, Herr Kollege. Stellen wir uns erst die Besserungsscheinregelung Ich will nicht verhehlen, daß es gestern — das hat vor: Wenn in drei Jahren die Bet riebe anfangen müs- mich beruhigt — im Ausschuß für Ernährung, Land- sen, aus dem Gewinn Zins und Tilgung zu leisten, wirtschaft und Forsten erfreulicherweise zu einem dann wird die alte DDR — ich übertreibe — Lichtjahre Fortschritt in einem Punkte gekommen ist: Durch eine zurückliegen. Dann sollen diejenigen, die in der Wirt- sofortige interfraktionelle Gesetzesinitiative sollen die schaft tätig sind, für Sachen Zins und Tilgung leisten,

Schwierigkeiten bei der Anmeldung von LPG - Um- die ihnen, wie gesagt, überhaupt nichts mehr nüt- wandlungen beseitig werden. zen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) Ich denke, das ist eine Hilfe für diejenigen, die ernst- haft entschlossen sind, Veränderungen im guten Die Tatsa- Sinne herbeizuführen, aber aus objektiven Gründen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: che, daß der Abgeordnete Gallus jetzt nicht antwortet,- bislang nicht alle erforderlichen Unterlagen beibrigen ist darauf zurückzuführen konnten. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der SPD) — nein, er hat sich gemeldet —, daß auf eine Kurzin- Ich hoffe, daß das Haus diese Sache in den nächsten zwei Wochen einmütig zum Abschluß bringt. tervention geschäftsordnungsmäßig nicht mit einer Kurzintervention geantwortet werden kann. Deswe- Meine Damen und Herren, es wird Sie nicht wun- gen erteile ich dem Abgeordneten Kalb das Wort. dern, wenn ich sage: Dem Einzelplan 10 können wir (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Gut, daß für 1992 leider nicht zustimmen. der Präsident die Geschäftsordnung im Kopf (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Nein, das hat! — Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: darf doch nicht wahr sein! — Jochen Borchert Sonst hätte uns der Gallus die ganze Debatte [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!) geschmissen!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5207

Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) : Herr Präsident! seit geraumer Zeit die Forderung nach einer durch- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Drei Dinge greifenden Änderung der EG-Agrarpolitik. Ich ge- sind es, die der Landwirtschaft derzeit große Sorgen stehe freimütig, daß ich eine Reform der EG-Agrar- bereiten: Es ist die derzeitige Lage der Landwirt- politik, insbesondere der Agrarmarktordnungen, seit schaft, es ist die anstehende EG-Agrarreform, und es langem für dringend erforderlich halte und daß ich sind die laufenden GATT-Verhandlungen und deren diese Forderung oft mit großer Zustimmung bäuerli- befürchteten Folgen. cher Zuhörer erhoben habe. Entscheidend wird sein, Landauf, landab erreichen uns die besorgten Fra- was am Ende dabei herauskommt. gen und Proteste. Ich habe großes Verständnis dafür, (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Rich daß die Bauern ihre Sorgen, wenn es sein muß, auch tig! — Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das lautstark zum Ausdruck bringen und ihren Forderun- ist immer so!) gen mit Demonstrationen — die im übrigen sehr dis- — So ist es, lieber Herr Kollege Walther. Es wird nicht zipliniert verlaufen — Nachdruck verleihen. alles nur nach unseren Wünschen und Vorstellungen Es ist auch das gute Recht der Bauern, sich aus ihrer laufen. Ich bin aber sicher, daß Bundesminister Ignaz Sicht gegen die Vorschläge von EG-Agrarkommissar Kiechle, unterstützt durch seinen Staatssekretär Kit- MacSharry auszusprechen. Es kann aber nicht hinge- tel, nommen werden, wenn — wie ausweislich eines Fo- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Er hat tos in der Wochenzeitung „Die Zeit" — Transparente doch noch mehr!) mitgeführt werden: „Tötet MacSharry, bevor er uns tötet!" Ich will das auch hier deutlich sagen, weil ich mit allem Nachdruck für Lösungen kämpfen wird, die weiß, daß die meisten Bauern in unserem Lande nur den Belangen der deutschen Landwirtschaft weitest- aus Sorge heraus auf die Straße gehen und ehrliche gehend Rechnung tragen. Absichten verfolgen. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch polemische Äußerungen wie etwa — ich zi- Er hat hier die volle Unterstützung von seiten der tiere — „idiotische Vorschläge einer korrupten Kom- CDU/CSU. mission ohne Sachkenntnis" dienen der Sache nicht, Wenn man sich im übrigen in der Praxis umhört, sondern schaden mehr, wie das Beispiel Frankreich dann stellt man fest, daß einige Vorschläge auch in- zeigt. nerhalb des Berufsstandes durchaus unterschiedlich Es geht auch anders. Der bayerische Bauernver- bewertet werden. Über die vorgezogene Regelung bei band beweist, daß die Auseinandersetzung mit Ölsaaten sind ja manche nicht so unglücklich, Herr MacSharry hart in der Sache, aber fair und sauber Minister. geführt werden kann. Die Wirkung der EG-Agrarreform wird unweiger- (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Da ist auch lich vom Ergebnis der GATT-Verhaltungen abhän- Sonnleitner Präsident!) gen. Die sehr umstrittenen Exportsubventionen der Europäischen Gemeinschaft liegen meines Erachtens Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- keineswegs primär im deutschen Interesse. Wir wer- geordneter Kalb, sind Sie bereit, eine Antwort auf eine den uns in erster Linie auf den Markt der 340 Millio- Zwischenfrage des Abgeordneten Jungmann zu ge- nen Verbraucher in der Europäischen Gemeinschaft ben? beschränken müssen. Alles andere macht auf Dauer keinen Sinn. Daran ändert auch der vorübergehende Bedarf für Nahrungsmittelhilfe grundsätzlich nichts. (Wittmoldt) (SPD): Herr Kollege Horst Jungmann Ob angesichts der rasch zunehmenden Weltbevölke- Kalb, Sie haben gerade ein Foto aus der „Zeit" be- rung diese Frage in einigen Jahrzehnten anders ent- schrieben und die Forderungen einiger radikaler schieden wird, kann heute wohl niemand vorhersa- Landwirte dargestellt. Ist Ihnen bekannt, daß sich der gen. Präsident des schleswig-holsteinischen Bauernver- bandes, der ehemalige Kollege , für die Ent- gleistung bei der Demonstration in Lübeck entschul- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- digt hat und daß die geschilderten Forderungen nicht geordneter Kalb, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage die Auffassung der Bauern in Schleswig-Holstein, des Abgeordneten Oostergetelo zu beantworten? sondern nur einer kleinen radikalen Minderheit dar- stellen? Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Ich schaue zwar auf die Uhr; aber ich kann dem agrarpolitischen Spre- - Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) : Ich schätze den cher der SPD eine Zwischenfrage nicht verweigern. ehemaligen Kollegen Eigen sehr und bin dankbar da- für, Herr Kollege Jungmann, daß Sie ausdrücklich Ich werde darauf hinweisen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ihnen die Zeit nicht anrechnen. Aber ich mache das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Haus darauf aufmerksam, daß ich mich verpflichtet FDP und der SPD) fühle, anschließend das Zulassen von Zwischenfragen Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist ver- sehr restriktiv zu behandeln. Wir nähern uns mit dem ständlich, daß die Reformvorschläge der Kommission Sitzungsende jetzt 0.30 Uhr. Es gibt Mitarbeiter im unterschiedlich bewertet werden. Ich kann aber nicht Hause, die heute nacht nach 3 Uhr ins Bett gekommen erkennen, daß MacSharry seine Vorschläge in böswil- sind und sich jetzt wieder im Dienst befinden. Ich liger Absicht gemacht hätte. Vielmehr gibt es von sei- meine, daß man, ohne die Debatte unzulässig ein- ten des Berufsstandes wie auch von seiten der Politik schränken zu wollen, auch eine gewisse soziale Ver- 5208 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg antwortung gegenüber diesen Mitarbeitern hat, und marktpreise zu beklagen und sie gleichzeitig durch bitte wirklich, sich ein bißchen restriktiv zu verhal- Preisdumping noch weiter in die Tiefe zu drücken. ten. (Freiherr Carl-Detlev von Hammerstein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und [CDU/CSU]: Wie die Amerikaner!) der FDP — Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das würde ich mal dem Ältestenrat ausrich Der entscheidende und für uns Deutsche wichtigste ten, Herr Präsident! — Helmut Wieczorek Punkt in der GAP-Reform wie in den GATT-Verhand- [Duisburg] [SPD]: Wir können ja morgen lungen wird sein: Gelingt es, einen ausreichenden weitermachen! — Zuruf von der SPD: Sams und wirksamen Außenschutz zu gewährleisten? tag auch noch!) (Michael Glos [CDU/CSU]: Richtig!) —Diese meine Bemühungen sind sicher nicht vergeb- Hier müssen wir uns mit aller Entschiedenheit gegen lich. die Reformvorschläge der Kommission und gegen die Herr Oostergetelo hat das Wort. Forderungen im GATT wenden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir fordern die Bundesregierung und alle ihre Mit- Jan Oostergetelo (SPD): Lieber Herr Kollege Kalb, glieder auf Sie haben gesagt, daß der Bundesminister davon aus- gehen kann, daß er in der Frage der Agrarpolitik (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Alle! — Sie reden von MacSharrys Vorstellungen — mit der Auch den Herrn Möllemann!) Unterstützung der Koalitionsfraktionen rechnen — die Betonung liegt auf „alle" —, bei den Verhand- kann. lungen auf allen Ebenen für die Beibehaltung eines (Jochen Borchert [CDU/CSU]: „Der CDU/ ausreichenden, wirksamen und funktionierenden Au- CSU" hat er gesagt!) ßenschutzes an den Grenzen der Europäischen Ge- meinschaft einzutreten. Meinen Sie jetzt die Leitlinien der Bundesregierung und die Unterstützung der 15prozentigen Preiskür- (Zustimmung bei der CDU/CSU und der zung, oder meinen Sie die Aussage, die es noch bis vor FDP) einem halben Jahr gab, daß direkte Einkommens- Der Weltmarkt für Agrargüter — auch das muß ein- übertragungen eigentlich böses sozialistisches Mach- mal verdeutlicht werden — ist nicht zu vergleichen werk seien? Was meinen Sie jetzt? mit dem Weltmarkt etwa für Industriegüter. Dort kann (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Beides!) die Angebotsmenge im Zweifel exakt nachgesteuert werden. Der Weltmarkt für Agrargüter verdient mei- nes Erachtens nicht einmal die Bezeichnung „Markt", er ist bestenfalls die Schutthalde der Überschußpro- Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Der Vorsitzende duzenten. des Haushaltsausschusses sagt, es sind beide Dinge damit gemeint. Ich habe Ihre Frage in diesem Zusam- (Egon Susset [CDU/CSU]: Resteverwer menhang nicht genau verstanden. Sie wissen, daß in tung!) der Agrarpolitik sehr viel Bewegung ist, lieber Kollege Man kann aber weder die Versorgungslage unserer Jan Oostergetelo. Bevölkerung noch die Landeskultur und schon gar Ich denke, Ignaz Kiechle hat mit seinen Vorschlä- nicht die bäuerlichen Existenzen den Wirrnissen des gen, die er bisher auf den Tisch gelegt hat, im Inter- Weltmarkts ausliefern. esse der deutschen Bauern gehandelt. Er soll für seine Wir haben versucht, bei den Beratungen des Bun- Verhandlungen in Brüssel wissen, daß wir geschlos- deshaushalts den drängenden Problemen der Land- sen hinter ihm stehen und daß dieser Bundestag seine wirtschaft Rechnung zu tragen, soweit dies mit finan- Initiativen unterstützt. ziellen Mitteln im nationalen Bereich möglich ist. So (Beifall bei der CDU/CSU — Helmut Wieczo war es für uns selbstverständlich, als uns während der rek [Duisburg] [SPD]: Ignaz, hast du ihm ei Einzelberatung die endgültige Entscheidung der nen ausgegeben? — Bundesminister Ignaz Kommission bekannt wurde, die Verlängerung der Kiechle: Noch nicht!) 3 %-Vorsteuer-Regelung über den 31. Dezember 1991 hinaus nicht zu genehmigen, die anteiligen- Bun- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe desmittel für den sogenannten soziostrukturellen vorhin davon gesprochen, daß wir uns im wesentli- Einkommensausgleich zu erhöhen. Das bedeutet für chen auf den Verbrauchermarkt der Europäischen die alten Bundesländer 1,04 Milliarden DM und für Gemeinschaft beschränken müssen. Es macht aus die neuen Bundesländer 390 Millionen DM. meiner Sicht auf Dauer keinen Sinn, immer mehr Gü- ter zu produzieren und sie dann mit immer höheren Wir haben das getan, so wie es bereits zu Beginn Kosten und zu immer schlechteren Preisen am Welt- dieser Legislaturpe riode in der Koalitionsvereinba- markt abzusetzen zu versuchen. rung zugesagt worden ist. Ich appelliere an die Bun- desländer, ihrerseits den Länderanteil bereitzustel- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sehr rich len, der dem bisherigen Schlüssel der Umsatzsteuer- tig!) verteilung auf der Seite der Mindereinnahmen ent- Davon haben unsere Bauern am allerwenigsten. Es ist spricht. Ich bin den Bundesländern Bayern und Ba- auch nicht logisch, einerseits die niedrigen Welt den-Württemberg sehr dankbar dafür, daß sie dieses Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5209

Bartholomäus Kalb von vornherein ohne jede Einschränkung zugesagt rationenvertrag hier nicht mehr. Den Leistungsbezie- haben. hern steht ein kleiner werdender Kreis von Beitrags- zahlern gegenüber. Ein immer höherer Teil der Nach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommen bäuerlicher Familien zahlt nicht mehr in die Auch wenn es für uns auf Grund unserer eigenen Kassen der Eltern, sondern in die Solidarkassen ande- Festlegungen und Zusagen selbstverständlich war, rer Berufsgruppen ein. Auch das sollte hier in der die Mittel bereitzustellen, ist es keine Selbstverständ- Debatte deutlich gemacht werden. lichkeit, daß bei der Schwierigkeit der Haushaltsge- Die Landwirtschaft in den neuen Ländern — neuer- staltung und den großen finanziellen Herausforderun- dings sagen manche auch: in den jungen Ländern — gen eine von vornherein befristete Maßnahme in befindet sich in einer außerordentlich schwierigen Form einer Mindereinnahme nun in eine Ausgabe Umstellungs-, Umstrukturierungs- und Anpassungs- umgewandelt wird. Dadurch wird einmal mehr unter phase. Mit den in diesem Einzelplan ausgewiesenen Beweis gestellt, daß diese Regierung und diese Koali- Mitteln soll dieser schwierige Prozeß unterstützt und tion um die Sorgen unserer Landwirte wissen, daß sie — wo notwendig — abgefedert werden. Gleichwohl wissen, wo und wie sehr die Bauern der Schuh sind uns, Kollege Kastning, weitergehende Wünsche drückt. bekannt. Wir müssen und wir mußten uns aber auch Lassen Sie mich auch hinzufügen: Wir haben Wort hier im Rahmen des Möglichen, Notwendigen und gehalten. gegenüber allen Vertretbaren bewegen. Darüber hin- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) aus müssen auch Leistungen für die Landwirtschaft aus anderen Bereichen und Einzelplänen — Sie haben Mit der Regelung zur Rückführung der Milchquote vorhin die Entschuldung angesprochen — gesehen auf Kosten und zu Lasten des Bundes, soweit nicht von werden. Im übrigen können nicht alle Probleme nur der EG erstattet, haben wir in einem weiteren Bereich mit Geld nach dem Motto: „Viel hilft viel" gelöst wer- unter Beweis gestellt, daß wir helfen, wo wir helfen den. können. (Zustimmung bei der CDU/CSU und bei der Nicht unerwähnt lassen möchte ich — Kollege Kast- FDP — Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ning hat es vorhin schon angesprochen — eine Maß- stimmt!) nahme, zu der wir uns erst in den letzten Tagen der Ausschußberatungen entschließen konnten, Es war sicher richtig, im ersten Jahr nach der Wie- dervereinigung auch das Risiko einzugehen, daß nicht (Ernst Kastning [SPD]: Mußten!) jede Mark zielgenau ihren Zweck erfüllt. Wir waren nämlich die Aufstockung der Mittel für die landwirt- uns aber im Haushaltsausschuß einig — ich denke, schaftliche Unfallversicherung um 125 Millionen das gilt auch für alle anderen Haushaltsbereiche —, DM. Damit sollen die landwirtschaftlichen Bet riebe daß wir auch in den neuen Ländern möglichst schnell kostenseitig noch stärker als bisher entlastet wer- zu geordneten Verfahren und zu einer regulären und den. bedarfsgerechten Mittelbewirtschaftung nach allge- mein geltenden Grundsätzen und Maßstäben kom- Die Agrarsozialpolitik, für die wir nach den Ergeb- men müssen. nissen der Ausschußberatung über 6 Milliarden DM ausgeben, ist ein hervorragendes Instrument, uni die Kollege Helmut Wieczorek hat am Dienstag in die- landwirtschaftlichen Betriebe und die bäuerlichen Fa- ser Debatte ausgeführt: „Noch nie ist in der Bundes- milien zu entlasten und ihnen so zu einem höheren republik soviel Geld für die Landwirtschaft ausgege- frei verfügbaren Einkommen zu verhelfen. ben worden" wie jetzt. — Kollege Wieczorek, ich bin Ihnen für diese Aussage außerordentlich dankbar, (Jan Oostergetelo [SPD]: Wann kommt die auch wenn Sie sie eher als Kritik denn als Anerken- Reform?) nung verstanden wissen wollten. — Sie, Herr Kollege Oostergetelo, wissen, daß die (Jan Oostergetelo [SPD]: „Und noch nie wa Arbeitsgruppe eingesetzt worden ist, die die Reform ren die Bauern ärmer"!) vorbereitet. — Zudem erfüllen die eingesetzten Gel- der mit einem äußerst hohen Wirkungsgrad ihren — Ich komme schon noch darauf zu sprechen! — Da- Zweck und kommen bei den Bauern auch tatsächlich. mit wird von einem unverdächtigen Zeugen aus den an, Reihen der Opposition bestätigt, (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut! — Rudi (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]; In diesem Fall unverdächtig!) Walther [Zierenberg] [SPD]: Das glaube ich - nicht!) daß die Bundesregierung und diese Koalition finan- ziell das Menschenmögliche für die Landwirtschaft wie es — das sage ich auch sehr kritisch — bei man- tun, auch wenn es ein Mitglied der Bundesregierung chen Marktordnungsausgaben bei weitem nicht in laut dpa-Meldung von heute doch gerne etwas anders diesem Maße der Fall ist. hätte. (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Wer ist das? — Die Leistungen auf dem agrarsozialen Sektor sind also Egon Susset [CDU/CSU]: Heißt der Mölle eine wirksame Hilfe. mann?) Andererseits sind die vergleichsweise hohen Auf- Ich bin deshalb dem Bundeskanzler außerordentlich wendungen auch gerechtfertigt; denn auf Grund des dankbar, daß er in der gestrigen Debatte für die Bun

Strukturwandels funktioniert der sogenannte Gene- desregierung eindeutig zugunsten der Land wirtsch aft 5210 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Bartholomäus Kalb Stellung bezogen hat. Ich denke, daß das Wort des Besonders bedrückend ist, daß sich die wirtschaftli- Bundeskanzlers an dieser Stelle mehr zählt als die che und soziale Situation der ostdeutschen Landwirt- Ausführungen eines Wirtschaftsministers in Köln. schaft, die bekanntlich bereits dramatische Formen (Zustimmung bei der CDU/CSU) angenommen hat, weiter zuspitzt. Auch wenn die tie- feren Ursachen dieser Krise im realen Sozialismus zu Lieber Kollege Oostergetelo, ich unterschlage nicht suchen sind, dem ich vor allem die Entfremdung der den zweiten Teil des Zitats des Kollegen Wieczorek, Eigentümer von der Produktion und die irrsinnige der sagte: Und noch nie ging es unseren Bauern so Spezialisierung und Konzentration vorwerfe, steht schlecht. Ich füge sogar hinzu: Nie zuvor wurden in gleichermaßen fest, daß eine Politik der angemesse- den Haushalten — auch der Länder und insbesondere nen Berücksichtigung der Ausgangslage der ostdeut- der Europäischen Gemeinschaft — so viele Mittel auf- schen Landwirtschaft — also eine vernünftige gewendet. Wie Sie wissen, betragen die EG-Agrar- Politik — die Krise zwar nicht vermieden hätte, in ih- marktordnungsausgaben für den gesamteuropäi- ren wirtschaftlichen und sozialen Ausmaßen und Aus- schen Bereich etwa 60 Milliarden DM. wirkungen aber erheblich begrenzt hätte. Das ist Damit wird deutlich, daß viele Probleme allein meine feste Überzeugung und zugleich meine Kri- durch die Hingabe von Geld nicht gelöst werden kön- tik. nen. Auch mit sehr viel Geld können wir die Gesetz- Dabei geht es mir nicht um eine unproduktive mäßigkeiten des Marktes nicht außer Kraft setzen. Schuldzuweisung, sondern ich bitte darum, die Lage Deshalb kommt der Mengenbegrenzung und -redu- in der ostdeutschen Landwirtschaft wirklich nüchtern zierung sowie einer marktgerechten und marktorien- und frei von ideologischen Vorbehalten zu analysie- tierten Produktion größere Bedeutung zu. Um dies zu ren, was zweifellos eine Korrektur der offiziellen erreichen, ist die Reform der Agrarpolitik unumgäng- Ostagrarpolitik bewirken würde. lich. Dem Agrarminister, der Bundesregierung und uns Im Landwirtschaftsausschuß gibt es dazu gute An- allen stehen noch schwere Aufgaben bevor. Ich wün- sätze, wie ich sehe. Sie haben sich leider noch nicht sche bei deren Bewältigung viel Erfolg. Zum Schluß auf das zuständige Bundesministerium übertragen. bedanke ich mich bei allen Kollegen im Haushaltsaus- Der Prozeß der Umstrukturierung wird besonders schuß, insbesondere bei der Frau Kollegin Dr. Hoth, durch folgende Erscheinungen behindert. Es gibt beim Kollegen Kastning als Mitberichterstatter und große Liquiditätsprobleme, die sowohl durch die Ab- natürlich beim Agrarminister und seinen Mitarbeitern satzkrise im vergangenen Jahr — in diesem Jahr ist für die konstruktive Mit- und Zusammenarbeit. Ich die Krise weniger schwer — als auch durch zu nied- bedanke mich auch bei allen Freunden, die uns unter- rige Preise und durch nach wie vor zu hohe Kosten stützt haben, Herr Kollege Oostergetelo verursacht werden. Es gibt einen erheblichen Mangel (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Unterstützt an Eigenkapital, das wir nicht bilden konnten; das war der?) nicht möglich. — er hat uns natürlich auch bekämpft, aber gelegent- Man hat den Eindruck, daß es seitens der Banken lich unterstützt er uns auch — , und wünsche bei der eine Kreditsperre gibt. Die zögerliche und unzurei- Umsetzung dieses Haushalts, daß diese Zahlen für die chende Entschuldung von Altlasten, dubiose Prakti- Menschen Nutzen bringen. Ich bin sicher, daß sich ken der Treuhand sind zu nennen. Selbst bei gleich- alle Mitarbeiter des Bundesministeriums für Ernäh- wertigen Kauf- und Pachtangeboten sowie Bewirt- rung, Landwirtschaft und Forsten nach Kräften bemü- schaftungskonzepten erhalten Alteigentümer und hen werden. Neueinrichter aus den alten Bundesländern und dem Herzlichen Dank. Ausland den Zuschlag vor einheimischen Wiederein- richtern und erst recht vor Nachfolgeunternehmen der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) LPG. Der Abschluß von nur einjährigen Pachtverträ- gen über Treuhandflächen erschwert die betriebliche Entwicklungsplanung, das Ausschöpfen der Förde- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Kol- lege Kastning, ich hatte bereits angekündigt, daß ich rungsmöglichkeiten und die Erlangung von Investi- mit den Zwischenfragen außerordentlich restriktiv tionskrediten. verfahren muß. Ich bitte um Nachsicht und Verständ- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das war nis. aber gewollt!) Herr Dr. Schumann, Sie haben das Wort. Ich möchte die Liste derartiger Erscheinungen nicht fortsetzen, aber unbedingt noch darauf verweisen, daß die Förderung der Verarbeitung, der ostdeut- (Kroppenstedt) (PDS/Linke Dr. Fritz Schumann schen Ernährungsindustrie, auch in diesem Haushalt Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die völlig ungenügend ist. Das Nichtbeachten des inneren Aussprache zum Entwurf des Agrarhaushalts 1992 Zusammenhangs zwischen landwirtschaftlicher Ur- findet vor dem Hintergrund einer schwierigen Situa- produktion und Verarbeitung behindert die Umstruk- tion der Landwirtschaft in Ost und West statt sowie vor turierung ganz massiv. dem Hintergrund der immer mehr um sich greifenden Verunsicherung der Bäuerinnen und Bauern ange- Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die gravie- sichts der zum Teil unakzeptablen Reformvorschläge renden sozialen Probleme in den Dörfern, in denen es der EG-Kommission. Auch die Bundesregierung gibt oft genug neben der Landwirtschaft — das waren nun in diesem Zusammenhang zur Zeit kaum Anlaß zu einmal die LPGen — keine andere Arbeit gibt. Viel- Optimismus. leicht haben sich auch deshalb in der letzten Mei- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5211

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) nungsumfrage des „Spiegel" 52 % der Befragten da- in diesem Jahr 813 Millionen DM Anpassungshilfe für entschieden, daß LPGen bleiben sollen. Nur 23 % geflossen sind und 1992, wie bereits festgestellt, der waren dagegen. Ich halte das für gefährlich. Ich bin eingestellte Betrag den Titel Anpassungshilfe nicht der Meinung, es kann nicht Sinn unserer Politik sein, mehr verdient. daß solche Ergebnisse entstehen. Mit Entschiedenheit möchte ich den Vorwurf an die (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Zumal Sie Opposition zurückweisen, sie fordere nur viel und wissen, daß Ihr Betrieb hervorragende Er sehe nicht das ökonomische Erfordernis eines gewis- gebnisse hat!) sen Anpassungsdrucks. Für meine Person und Gruppe möchte ich hier eindeutig erklären, daß wir — Danke, Herr Hornung. von Anbeginn der Debatten um dieses leidige Thema Angesichts der geschilderten Situation in der ost- vom dem Grundsatz einer gesunden Kombination von deutschen Landwirtschaft liegt das Hauptproblem des degressiven Anpassungshilfen und Anpassungs- vorliegenden Einzelplanentwurfs für die Gruppe druck ausgegangen sind. Heute ist fast nur noch PDS/Linke Liste im Haushaltstitel „Anpassungs- und Druck übriggeblieben. Überbrückungshilfen". Obwohl dort entsprechend (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein dem Vorschlag des Haushaltsausschusses inzwischen [CDU/CSU]: Sie sind gemeinsam mit uns 690 Millionen DM gegenüber 300 Millionen DM des drüben gewesen, Herr Schumann, und ha Regierungsentwurfs enthalten sind, ist festzustellen, ben sich das angeguckt!) daß tatsächlich nicht eine einzige Mark für die vorge- sehene Zweckbestimmung ausgewiesen ist. Die — Ich bin nicht nur gemeinsm mit Ihnen drüben ge- Zweckbestimmung der Anpassungshilfe gemäß För- wesen, sondern ich lebe und arbeite dort und erlebe dergesetz der DDR — das laut Einigungsvertrag das jeden Tag, Herr von Hammerstein. Rechtsgrundlage dieser Haushaltsposition ist — ist (Rudolf Müller [Schweinfurt] [SPD]: Wer ist der teilweise Ausgleich des Preisbruchs. Die im Regie- Opposition, Herr Schumann?) rungsentwurf enthaltenen 300 Millionen DM entspre- —Ich stimme Ihnen zu, daß auch Sie eine höhere For- chen nicht einmal anteilig dem soziostrukturellen Ein- derung gestellt haben und daß Herr Dr. Thalheim da- kommensausgleich, der den Bauern der alten Bundes- von gesprochen hat, daß diese Anpassungshilfe ein länder gewährt wird. Die Erhöhung auf 690 Millionen Etikettenschwindel ist. Das möchte ich hier doch sehr DM dient als Ausgleich der am 31. Dezember 1991 deutlich sagen. Ich will mich nicht unbedingt in Ihre entfallenden 3 %-Umsatzsteuer-Regelung in den sonstigen Angelegenheiten einmischen. Aber ich neuen Bundesländern. Beide Zweckbestimmungen glaube, in diesem Punkt stimmen wir überein. stellen keine Bevorteilung der ostdeutschen Land- wirte dar. Auch Freiherr von Heereman hat inzwischen öffent- lich gesagt, daß eine Anpassungshilfe von 1,2 Milliar- Ich habe im Namen der Gruppe PDS/Linke Liste am den DM erforderlich wäre, um die Anpassung tatsäch- 1. Oktober einen Antrag auf Erhöhung der Anpas- lich zu begleiten. Ich glaube, man kann Freiherr von sungshilfen von damals 300 Millionen DM auf 1,5 Mil- Heereman davon freisprechen, daß er damit alte liarden DM gestellt. Dieser Antrag wurde im Aus- Strukturen der LPG erhalten wollte. Das wollen auch schuß mit allen Stimmen abgelehnt. wir nicht. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Erwar Danke. tungsgemäß!) (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Im übrigen sind die Anpassungshilfen seit nunmehr eineinhalb Jahren ein politischer Dauerbrenner. Be- reits in der Volkskammer wurde von unserer damali- gen Fraktion im Vorfeld des Agrarhaushalts für das Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort zweite Halbjahr 1990 und für das Jahr 1991 die Frage hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Sigrid Hoth. aufgeworfen, ob es sich wirklich um einen ange- spannten Finanzrahmen handelt oder ob „die Schwelle zwischen hohem Anpassungsdruck und Dr. Sigrid Hoth (FDP): Sehr verehrter Herr Präsi- ökonomischem Ruinierungskonzept der DDR-Land- dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wirtschaft bereits überschritten" ist. Das fand regie- (Jan Oostergetelo [SPD]: Noch eine hübsche rungsseitig wenig Beifall. Die Anpassungshilfen wur- Bäuerin!) den prompt zu niedrig festgelegt und mußten, wie - bekannt, durch Nachtragshaushalt erheblich erhöht — Ja, na sicher. werden. Der Einzelplan 10 sieht ein Volumen von etwa Kollege Susset von der Fraktion der CDU/CSU ar- 13,9 Milliarden DM vor, knapp 100 Millionen DM gumentierte in seiner Pressemitteilung vom 8. No- mehr als 1991. vember damit, daß die Anpassungshilfe entsprechend Über 40 % der vorgesehenen Mittel — das sind über der Vorgabe der EG-Kommission degressiv gestaltet 6 Milliarden DM — fließen in den Bereich der land- werden müsse. Diese Feststellung ist zweifelsohne wirtschaftlichen Sozialpolitik. Dieser Betrag setzt völlig richtig. Allerdings hat die EG-Kommission nicht sich im wesentlichen aus Zuschüssen zur landwirt- festgelegt, wie die Degression konkret zu erfolgen schaftlichen Altershilfe sowie zur Kranken- und land- hat. Vor allem hat sie nicht festgelegt, daß bereits 1992 wirtschaftlichen Unfallversicherung zusammen. Im jegliche Anpassungshilfe einzustellen sei. Tatsache Laufe der Haushaltsberatungen wurde entschieden, ist, daß im zweiten Halbjahr 1990 2,75 Milliarden DM, den staatlichen Zuschuß zur landwirtschaflichen Un- 5212 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Sigrid Hoth fallversicherung um 125 Millionen DM auf 615 Millio- DM werden für die Erhöhung des EG-Herauskauf- nen DM zu erhöhen. preises um 33 Pfennig je Kilogramm gezahlt. Im Ge- gensatz dazu wird in den neuen Bundesländern ledig- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das war lich der von der EG bereitgestellte Betrag von sehr vernünftig!) 23,5 Pfennig je Kilogramm und Jahr erstattet — insge- — Richtig. samt also nur 1,17 DM und zudem auf fünf Jahre ver- teilt. Mit der Gasölbetriebsbeihilfe in Höhe von 960 Mil- lionen DM und dem soziostrukturellen Einkommens- (Zuruf von der SPD: Wie bewerten Sie ausgleich im Umfang von 1,7 Milliarden DM unter- das?) stützt die Bundesregierung die heimische Landwirt- — Darüber können wir uns gerne hinterher im Detail schaft mit weiteren 2,6 Milliarden DM. Dabei wurde unterhalten. der ursprüngliche Ansatz des soziostrukturellen Ein- kommensausgleichs um 1,04 Milliarden DM auf (Widerspruch bei der SPD) 1,7 Milliarden DM erhöht, um so den Wegfall Ich habe die Zeit hier jetzt nicht. Ich bitte um Ver- (Zurufe von der SPD) ständnis. —das hier ist eine Haushaltsberatung und keine Witz- Auch die Ausgestaltung der einjährigen Flächen- stunde — der 3%igen Umsatzsteueregelung ausglei- stillegung hätte ich mir etwas anders gewünscht. chen zu können. Durch die degressive Staffelung der Zuwendungen erhält ein Betrieb, der mehr als 100 ha stillegt, nur Die Aufstockung der Anpassungs- und Überbrük- noch 50 % der Beihilfe je Hektar. Zudem kann nur kungshilfen für die neuen Bundesländer um 390 auf stillegen, wer seine Flächen im Wirtschaftsjahr insgesamt 690 Millionen DM geschah mit der glei- 1990/91 bereits stillgelegt hatte. chen Absicht. Noch fehlt allerdings die gesetzliche Regelung, um die Kompensation in dieser Form vor- Mir scheint, die Besonderheiten der Landwirtschaft nehmen zu können. Eine eventuelle Nachfolgerege- in den neuen Bundesländern, nämlich große Betriebs- lung des Ende 1992 auslaufenden soziostrukturellen einheiten, die sich gerade in der Umstrukturierung Einkommensausgleichs muß außerdem EG- und befinden, wurden nicht ausreichend berücksichtigt. GATT-konform gestaltet werden. Meine Damen und Herren, die Ausführungen zum Die Summe der bisher genannten Maßnahmen be- Agrarhaushalt haben dennoch deutlich gemacht, daß läuft sich auf 9,4 Milliarden DM und macht deutlich: die Hilfen, die die Bundesregierung insgesamt der Die Bundesregierung läßt die Landwirte nicht im Landwirtschaft zur Verfügung stellt, umfangreich Stich. sind. Die Frage, die gerade wir Haushälter uns doch immer stellen müssen, lautet aber: Wie effizient wer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den die aufgewendeten Mittel eingesetzt? Infolge von Anlauf- und Umstrukturierungsschwie- (Johann Paintner [FDP]: Sehr richtig!) rigkeiten stehen wir in den neuen Bundesländern so- gar vor dem Problem, daß die vom Bund bereitgestell- Da das Einkommen der Landwirtschaft in diesem ten Mittel bedauerlicherweise nicht in vollständigem Jahr stark zurückgegangen ist, hingegen die Ausga- Umfang abgerufen werden. Als Beispiel seien hier die ben für die Landwirtschaft insgesamt, also unter Be- im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung rücksichtigung der Aufwendungen der EG der Agrarstruktur und des Küstenschutzes bereitge- (Zurufe von der SPD) stellten Mittel genannt. Es zeichnet sich derzeit ab, daß im laufenden Haushaltsjahr voraussichtlich — also, auch auf dieser Seite sind schöne Herren —, 150 Millionen DM nicht genutzt werden können. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Können da CDU/CSU) einige Bundesländer nicht zahlen?) stark gestiegen sind, hat die EG-Kommission zur Lö- In der Hoffnung, daß dieses Problem im nächsten Jahr sung dieses Widerspruchs einen stark umstrittenen weitgehend überwunden sein wird, sieht der Haus- Vorschlag unterbreitet. haltsentwurf für 1992 hier allein für die neuen Bun- Im Mittelpunkt der geplanten Reform steht die Sen- desländer 1,1 Milliarden DM vor. kung der Marktordnungspreise, die durch direkte Da ich gerade über die speziellen Probleme der Einkommenstransfers ausgeglichen werden soll. Um Landwirtschaft in den neuen Bundesländern spreche, die Beihilfen beanspruchen zu können, muß ein Teil möchte ich auf zwei Regelungen eingehen, die in der der Ackerflächen stillgelegt werden. Flankierende vorliegenden Form meine Zustimmung nicht so ganz Maßnahmen in Form von Beihilfen zur Realisierung finden können: von Produktionsverfahren mit geringerer Umweltbe- lastung sowie eine attraktivere Ausgestaltung der Im Rahmen der jüngsten Herauskaufaktion für Vorruhestandsregelung sind vorgesehen. Milch erhalten die Landwirte aus den alten Bundes- Zunächst möchte ich den Mut und die Entschlossen- ländern die sogenannte „Milchrente 6" in Höhe von heit der Kommission hervorheben, neue Wege in der 1,50 DM je Kilogramm. Dieser Betrag wird den Land- Agrarpolitik zu gehen. Dies ist notwendig. wirten in vollem Umfang bereits im 1. Quartal 1992 gezahlt. Allein durch die Vorfinanzierung des EG- Eine teilweise Senkung der Marktordnungspreise Anteils entstehen der Bundesrepublik Zinskosten in scheint nicht nur für einen erfolgreichen Abschluß der Höhe von 200 Millionen DM. Weitere 217 Millionen GATT-Verhandlungen unausweichlich. Vielmehr Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5213

Dr. Sigrid Hoth hängen durch die Marktordnung der EG die Kosten für den zunehmenden Artenrückgang in Pflanzen- für die Exporterstattungen nicht nur von der abzuset- und Tierwelt mitverantwortlich ist. zenden Menge, sondern auch von der Differenz zwi- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ist schen Weltmarkt- und Interventionspreis der EG ab. wahr!) Durch ihre anhaltende Überproduktion tragen die Hauptexporteure somit zu weiter sinkenden Welt- Grundsätzlich muß festgehalten werden: Die Ent- marktpreisen bei und erhöhen damit automatisch die lohnung von Umweltleistungen ist meiner Ansicht Kosten ihrer Exporte. nach durchaus vorstellbar. Die vorgesehene Flächenstillegung, meine Damen (Beifall bei der FDP) und Herren, unterstütze ich im Grundsatz. Mit der von Sie kann aber nur eine „Zusatzeinnahme" darstellen der Kommission vorgeschlagenen Ausgestaltung bin und kann nur für wirklich zusätzliche Leistungen er- ich jedoch so nicht einverstanden. folgen. (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Sehr Um nicht — bewußt oder unbewußt — mißverstan- gut!) den zu werden — dies richte ich insbesondere an die Kollegen auf dieser Seite —, möchte ich zum Schluß Die sogenannten Großerzeuger sollen zu einer Stille- noch einmal ganz deutlich sagen: Die Bundesregie- gungsquote von 15 % gezwungen werden, um Aus- rung muß auch in Zukunft ihren Verpflichtungen im gleichszahlungen für die geplante Senkung des Preis- Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft nachkommen. niveaus innerhalb der EG beanspruchen zu können. Dies darf jedoch nicht eine Behinderung des Struktur- Problematisch hierbei ist jedoch, daß ein Großbe- wandels darstellen, sondern muß seine soziale Ab- bedeuten. trieb nach Ansicht der EG-Kommission bereits ein sicherung Betrieb mit etwa 50 ha ist. Einem solchen Betrieb soll (Beifall bei der FDP) dann für maximal siebeneinhalb Hektar Stillegungs- Dazu ist es notwendig, die Effizienz der national fläche eine Entschädigung gezahlt werden. Für dar- und EG-weit aufgewendeten Mittel zu steigern. Den über hinausgehende Flächen soll keine Prämie ge- Bauern muß geholfen werden, wirklich wettbewerbs- währt werden. fähige Strukturen aufzubauen, ohne den Bundeshaus- Liebe Kollegen und Kolleginnen, es wäre doch fatal, halt und damit den Steuerzahler langfristig zu über- wenn gerade die Betriebsgrößen in ihrer Entwicklung fordern. gehemmt würden, die die Strukturen aufbauen kön- Auch ist es unsere Pflicht, die Betroffenen mit den nen oder bereits aufweisen, die zukünftig notwendig zu erwartenden Änderungen nicht allein zu lassen. sein werden, um im stärker werdenden Wettbewerb Gerade deshalb müssen wir heute nach langfristig bestehen zu können. Ein wesentliches Element dieser gültigen Lösungen suchen, auch auf die Gefahr hin, Reform muß doch gerade die Schaffung konkurrenz- daß diese nicht immer populär sind. fähiger und damit langfristig weniger subventionsab- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. hängiger Strukturen sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der FDP — Jan Oostergetelo bei Abgeordneten der SPD) [SPD]: Welche Größe ist dann erforderlich?) Begleitend zu diesen Maßnahmen sieht der Reform- vorschlag u. a. auch die finanzielle Unterstützung für Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bevor ich eine Umstellung auf umweltschonendere Produk- dem Minister für Ernährung, Landwirtschaft und tionsweisen vor. Die Entlohnung von — im weitesten Forsten das Wort erteile, gebe ich dem Abgeordneten Sinne — Umweltleistungen wird immer häufiger vor- Georg Gallus das Wort zu einer Erklärung nach § 30 geschlagen. unserer Geschäftsordnung. Das Hauptproblem stellt dabei die genaue Defini- (Georg Gallus [FDP]: Ich verzichte! — Beifall tion dessen dar, was denn eigentlich entlohnt werden bei der SPD — Zuruf von der SPD: soll. Wer eine ordnungsgemäße Landwirtschaft be- Schade!) treibt und somit dazu beiträgt, daß die von ihm bewirt- — Ich bedanke mich dafür im Namen des Hauses. schafteten Flächen auch in Zukunft noch für eine landwirtschaftliche Nutzung geeignet sind, handelt Herr Minister, Sie haben das Wort. aus betriebswirtschaftlicher Verantwortung heraus und im ureigensten Interesse. Ignaz Kiechle, Bundesminister für Ernährung, Im Zusammenhang mit der Entlohnung land- Landwirtschaft und Forsten: Herr Präsident! Meine schaftspflegerischer Dienste wird häufig das Stich- sehr verehrten Damen und Herren! Seit ihrem Amts- wort „Erhaltung der Kulturlandschaft" genannt. Ich antritt hat diese Regierung ihre Solidarität mit der wäre denen, die diesen Begriff verwenden, für eine Landwirtschaft immer wieder unter Beweis gestellt. exakte Definition dankbar. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Da wird es mehrere geben!) Das wird vor allem auch durch die Entwicklung des Agraretats deutlich. Hier kann man sagen „Taten Wer darunter aber landschaftliche Vielfalt versteht, statt Worte". Zwischen 1983 und 1990, also bis zur wird bei ehrlicher Betrachtung feststellen, daß auch Verwirklichung der deutschen Einheit, erhöhte die unsere — als bäuerlich bezeichnete — Landwirtschaft Bundesregierung den Etat für die deutsche Landwirt- 5214 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Bundesminister Ignaz Kiechle Schaft von 5,9 Milliarden DM auf rund 10 Milliarden übrigens der Deutsche Bundestag beschlossen hat, DM. Das ist eine Steigerung um 68 %. das agrarsoziale Sicherungsysstem einer grundlegen- den Reform unterziehen, um eine bessere Beitrags- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Und was ausgestaltung zu erreichen, die finanzielle Stabilität hat es ihr genutzt?) des Systems zu gewährleisten und die soziale Absi- Der Bundeshaushalt wuchs im gleichen Zeitraum nur cherung der Landfrauen zu verbessern. um 24 %. Die volumenmäßige Fortsetzung, meine Damen Der Agraretat 1992 beträgt einschließlich unserer und Herren, des dreiprozentigen Mehrwertsteueraus- neuen Bundesländer jetzt rund 14 Milliarden DM. gleichs ist ein außerordentlich bedeutsamer Beitrag, (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist um unserer Landwirtschaft in ihrer schwierigen Situa- ja inflationär!) tion zur Seite zu stehen. Ich weiß, die hierfür vorgese- hene Aufstockung der Bundesmittel für den sozio- — Nein, es ist der Beweis für Hilfswilligkeit, Herr Kol- strukturellen Einkommenausgleich in den alten Bun- lege. desländern um rund 1 Milliarde DM und die Anpas- Mit rund 2,6 Milliarden DM stellt die Bundesregie- sungshilfe in den neuen Bundesländern um rund rung auch 1992 einen großzügigen Finanzrahmen 390 Millionen DM bedeutet einen enormen finanziel- zum Neuanfang in der Landwirtschaft der neuen Bun- len Kraftakt. Er steht auch unter der Überschrift „Wir desländer zur Verfügung, und zwar insbesondere für halten Wort". Nun sind die Länder am Zuge. Damit Anpassungs- und Überbrückungshilfen sowie für die Landwirtschaft einen vollen Ausgleich erhält, agrarstrukturelle Förderungsmaßnahmen. müssen sich die Länder wie beim soziostrukturellen Einkommensausgleich mit zusätzlichen Mitteln betei- Die Kritik, die hier angeklungen ist, muß ja dann, ligen. Eine entsprechende Zusage der Länder würde wenn sie seriös wirken soll, in Verbindung mit den übrigens auch die Durchsetzung dieser Förderschiene neuen Maßnahmen gebracht werden, die es im letz- bei der EG-Kommission erleichtern. Ein ersatzloser ten und vorletzten Jahr sowieso nicht gegeben hat Wegfall des dreiprozentigen Mehrwertsteueraus- und die jetzt sowohl aus der Gemeinschaftsaufgabe gleichs würde allerdings im Durchschnitt der Bet riebe als auch aus den Mitteln von Brüssel hinzukommen. einen Einkommensrückgang um 15 % bedeuten. Das Wenn wir diese zusammenzählen, standen nämlich in kann wohl niemand wollen. Ich hoffe, daß es niemand diesem Jahr 1,2 Milliarden DM für reine Liquiditäts- will. Es wäre für die Landwirtschaft nicht vertretbar. hilfen zur Verfügung und stehen diesmal auch wieder 1,2 Milliarden DM zur Verfügung, aber nicht mehr für Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bun- reine Liquiditätshilfen, sondern im Zusammenhang desregierung hat ein Interesse daran, daß die Ver- mit den zusätzlichen Mitteln; es ist also derselbe Be- handlungen zur Reform der EG-Agrarpolitik und zu trag. Im übrigen möchte ich denen, die uns jetzt auf GATT zügig fortgeführt — ich betone das — und auch die Anklagebank setzen, doch zu bedenken geben, abgeschlossen werden. Unsere Bauern haben ein daß sie dann eine Antwort auf folgende Zahl finden Recht darauf zu wissen, wohin die Reise geht oder müssen. Es gab rund 4 500 LPGen, und am 1. Juli die- gehen soll. Sie brauchen eine klare Antwort, um be- ses Jahres gab es noch 1 640. Es haben also sehr viel triebliche Entscheidungen treffen zu können. Was mehr, als noch im Juli bestanden, bereits den Weg in man heute modernerweise wohl so nennt: Sie brau- eine Neuordnung gefunden. Dann muß man uns auch chen eine Perspektive. erläutern, warum die anderen heute teilweise noch (Zuruf von der CDU/CSU: Die haben Sie im nicht einmal bis zur Anmeldung gekommen sind. Die- mer gegeben, Herr Minister!) jenigen, die halt nicht hören wollen und glauben, man könne alte, verkommene, ideologisch bedingte Be- Das Konzept der Bundesregierung bietet eine Per- triebe einfach weiterführen, die Regierung werde es spektive. Wir wollen, daß die Produktion innerhalb dann schon tole rieren, täuschen sich. der EG im wesentlichen wieder auf die Nachfrage zurückgeführt wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der SPD — Carl-Detlev Freiherr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — von Hammerstein [CDU/CSU]: Denen wol Zuruf von der CDU/CSU: Das wollen auch len wir auch nicht helfen!) wir! Das wollen alle Bauern!) Meine Damen und Herren, Schwerpunkte des Wir unterstützen die von der Kommission vorgese- Haushalts 1992 sind neben der Gemeinschaftsauf- hene Verknüpfung von Mengenbegrenzung und Ein- gabe die landwirtschaftliche Sozialpolitik, der sozio- kommensbeihilfen. Wir fordern, daß Bet riebe,- die sich strukturelle Einkommensausgleich und die Nachfol- marktgerecht verhalten, einen vollen Einkommens- geregelung für den dreiprozentigen Mehrwertsteuer- ausgleich erhalten, und zwar für den Einkommens- ausgleich für die alten Bundesländer sowie die Anpas- entgang sowohl auf Grund von Mengenrückführung sungshilfe in den neuen Bundesländern. Die Bundes- als auch auf Grund möglicher Preissenkungen. Wir mittel für die Agrarsozialpolitik überschreiten erst- wollen also keine Diskriminierung für größere Be- mals die Grenze von 6 Milliarden DM. Im Jahre 1982 triebe. Wir setzen uns dafür ein, daß dieser Einkom- waren es 3,7 Milliarden DM. Diese 6 Milliarden DM mensausgleich dauerhaft ist. Er muß auch verläßlich sind heute die Größenordnung, die 1982 der gesamte sein. Bestimmte Betriebsformen und -größen dürfen Einzelplan 10 hatte. Durch den Bundeszuschuß ergibt nicht benachteiligt werden. Im GATT dürfen diese sich eine rein rechnerische Entlastung bei den Beiträ- Maßnahmen nicht unter die abbaupflichtigen Beihil- gen zur Sozialversicherung von durchschnittlich rund fen fallen. Wir lehnen aber einen überzogenen Abbau 12 000 DM je Betrieb und Jahr. Wir werden, wie es des Außenschutzes — dies ist ein absolut wichtiger Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5215

Bundesminister Ignaz Kiechle Punkt — sowie eine unangemessene Verminderung Ich möchte schließen mit einem Wort des ehrlichen der Erzeugerschutz- oder Stützungspreise entschie- Dankes an die Berichterstatter und auch an die Mit- den ab. glieder des Haushaltsausschusses, die bei all diesen schwierigen Dingen und auch oft schwer erklärbaren Zum vollen Ausgleich der Einkommenseinbußen Dingen viel Verständnis für die Landwirtschaft und auf Grund der von der Kommission vorgeschlagenen damit auch den Landwirtschaftsminister aufgebracht Preissenkungen — nicht etwa unsere Meinung — wä- haben. ren übrigens erhebliche zusätzliche Haushaltsmittel erforderlich. Das, was man bei den Preisen wegnimmt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge also bei den Stützpreisen, müßte aus Haushaltsmitteln ordneten der FDP) wieder zurückgegeben werden. Daneben bestünde übrigens die Gefahr, daß die Zahlung von Einkom- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wir kommen nun mensbeihilfen in dieser Größenordnung, wie die zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Ände- Kommission sie vorschlägt, zu einer völligen Abhän- rungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf der gigkeit der Bauern vom Zustand der Staatsfinanzen Drucksache 12/1640. Wer stimmt für diesen Ände- führen würde. Das kann man aus Prinzip nicht wol- rungsantrag? len. (Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Auch in Zukunft sollten die Betriebe ihr Einkommen Zwei Mann von der PDS!) vorrangig über den Markt erzielen können. Aber eben Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Bei deswegen, meine Damen und Herren, ist ein ausrei- einer Stimmenthaltung ist dieser Änderungsantrag chender Außenschutz unter Einbeziehung der Substi- abgelehnt. tute unverzichtbar. Wer stimmt für den Einzelplan 10 in der Ausschuß- (Beifall bei der CDU/CSU) fassung? — Die Gegenprobe! — (Zurufe von der CDU/CSU: Oh, oh! Die wol Es würden sonst die Preise dauerhaft auf unbefriedi- len alle kein Geld!) gendem oder sogar unter Kosten liegendem Niveau festgeschrieben, und alle Anstrengungen zur Men- Enthaltungen? — Damit ist der Einzelplan 10 ange- genrückführung wären vergebens. nommen. Wir brauchen auch in Zukunft — und obwohl schon Ich rufe jetzt auf: oft gesagt, wiederhole ich es — eine leistungsfähige Einzelplan 11 Landwirtschaft. Dabei gehen die Leistungen mittler- weile weit über die Erzeugung von Nahrungsmitteln Geschäftsbereich des Bundesministers für Ar- und Rohstoffen hinaus. Die Landwirtschaft pflegt un- beit und Sozialordnung sere Kulturlandschaft. Wer darüber witzelt oder es gar — Drucksachen 12/1411, 12/1600 — leugnet, hat keine Ahnung davon, wie ein Land aus- Berichterstattung: sieht, das nicht mehr bebaut wird und vom Bauern Abgeordnete Karl Diller gepflegt wird. Hans-Gerd Strube Dr. Klaus-Dieter Uelhoff (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ina Albowitz ordneten der FDP — Zuruf von der CDU/ CSU: Herr Minister, es gibt kein schöneres Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Land als die Bundesrepublik Deutschland!) die Aussprache insgesamt eineinhalb Stunden vorge- sehen worden. Gibt es dazu gegenteilige Meinungen? Die Landwirtschaft leistet einen wesentlichen Beitrag — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlos- zur Stabilisierung des ländlichen Raums. Auch das sen. muß man wissen: Ohne Bauern ist der ländliche Raum Als erstem erteile ich dem Herrn Abgeordneten Karl nicht mehr haltbar in seiner heutigen Form. Sie er- Diller das Wort. zeugt — und das ist schon ihre Hauptaufgabe — hoch- wertige Nahrungsmittel — und das ausschließlich um- welt-, natur- und artgerecht. Bitte, Nebenerscheinun- Karl Diller (SPD) : Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- gen bekommen wir mit der Zeit schon in den Griff. Sie nen und Kollegen! Herr Minister Blüm, selten eigent- ist ein nicht wegzudenkender Teil unserer deutschen lich hatte ein Bundesminister für Arbeit und Sozial- Kultur, nicht nur der Kulturlandschaft. ordnung eine so herausfordernde wie auch so reiz- volle Aufgabe wie sie. Doch statt eine Fülle von Ideen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zu produzieren, wie man zur sozialen Einheit kommt,- um dann die besten davon umzusetzen, sind Sie Opfer Diese Leistungen müssen eben auch honoriert wer- der ideologischen Scheuklappen Ihres Kanzlers und den, wenn man sie im Zeitalter einer sehr modernen des Wirtschaftsministers geworden Entwicklung und im Rahmen eines der höchst entwik- kelten Industriestaaten in der Welt auch in der Zu- (Beifall bei der SPD — Lachen und Wider kunft haben will. Darüber sollte es eigentlich auch spruch bei der CDU/CSU und der FDP) keinen Streit geben. und haben ihnen viel zu lange das Märchen vom Markt, der es schon richten werde, geglaubt oder dem (Zuruf von der CDU/CSU: Wie jede andere zumindest nicht widersprochen. Dienstleistung auch!) Statt aktiv den Arbeitsmarkt im Osten zu gestalten, Aber daß das Ganze für uns keine leeren Worte sind, haben Sie und Ihre Koalitionsfraktionen unsere ent- das beweist dieser Haushalt 1992. sprechenden Vorschläge und unsere Äntrage zur 5216 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Karl Diller Schaffung von Beschäftigungsgesellschaften nieder- Die gleiche Bewertung gilt auch für Ihren Aus- gestimmt, spruch vor einem halben Jahr bei der Beratung des 91er Haushalts. Damals sagten Sie: (Zuruf von der CDU/CSU: Die taugen ja auch nichts!) Ich halte es für besser, wir geben das Geld für ABM aus, als daß wir Arbeitslosigkeit passiv ver- unsere Mahnungen und Bitten in den Wind geschla- walten. gen. Der Bundesanstalt für Arbeit wurde es sogar un- tersagt, im Herbst 1990 ein fix und fertig konzipiertes Diese Aussage von Ihnen verträgt sich nicht mit den Qualifizierungsprogramm zu starten. Unglaublich! von Ihnen gebilligten Verschärfungen und Erschwer- Das Angebot der Arbeitgeber, zur verstärkten Hilfe nissen für den Einsatz von ABM. Sie verträgt sich bei Ausbildung und Umschulung beizutragen, wurde nicht mit dem von Ihnen verordneten Zurückfahren lange Zeit nicht beachtet. Die Treuhand wurde nicht der erlaubten Neuzugänge in ABM im Osten von angewiesen, der Sanierung der Bet riebe Vorrang zu 30 000 pro Monat in diesem Halbjahr auf weniger als geben. die Hälfte im Durchschnitt des nächsten Halbjahres. So richtete es denn der Markt mit der ihm eigenen (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) Brutalität. Von den ehemals über 9 Millionen Er- Wo ist, Herr Minister Blüm, Ihre Zurechtweisung des werbstätigen in der DDR sind jetzt nur noch 6,7 Mil- Wirtschaftsstaatssekretärs und Raumfahrtlobbyisten lionen in Arbeit und Brot. Die Zahl der Erwerbstätigen Riedl, als dieser vor wenigen Tagen unglaublicher wäre noch viel niedriger und erschreckender, hätten eise vorschlug, die Mittel für ABM Ost den dortigen nicht eine halbe Million Ostdeutsche als Pendler im Arbeitslosen wegzunehmen, damit die finanziellen Westen Beschäftigung gefunden und hätte es nicht Löcher für seine Weltraumabenteuer namens Hermes — viel zu spät, aber immerhin — Ihrerseits eine teil- und Columbus gestopft werden können? weise Umkehr und ein Aufgreifen sozialdemokrati- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Unglaub scher Vorschläge durch die Koalition gegeben. lich!) ( [CDU/CSU]: Das war Des Ministers Aussage verträgt sich auch nicht mit ein Scherz!) der von Ihnen verhängten Streichung von 560 Millio- Zwar hat die Bundesregierung ihrer Treuhandanstalt nen DM für ABM West. Das bedeutet nämlich den immer noch nicht die nötige Kurskorrektur verordnet, Wegfall von 18 000 neu zu bewilligenden Vollzeit- doch sind durch das Altersübergangsgeld 281 000 ABM-Plätzen im alten Bundesgebiet. Menschen sozial verträglich aus dem Erwerbsleben Doch das ist noch nicht alles. Hinzu kommt, daß ausgeschieden, sind durch ABM und Beschäftigungs- Minister Blüm eine weitere globale Minderausgabe gesellschaften noch viele hunderttausend Menschen von über 600 Millionen DM der Bundesanstalt zumu- erwerbstätig. Gäbe es den Einsatz dieser von uns im- tet, die, weil es sonst nicht geht, zumindest zur Hälfte, mer wieder mit Nachdruck geforderten Instrumente wahrscheinlich zu mehr als der Hälfte erneut über jetzt nicht, wären nach dem Eingeständnis von Ihnen, zusätzliche Kürzungen bei ABM erwirtschaftet wer- Herr Minister Blüm, im Haushaltsausschuß knapp den muß und damit mithin weit über 10 000 weitere zwei Millionen Menschen im Osten zusätzlich arbeits- ABM-Plätze im Westen wegfallen. Damit wird jede los. dritte ABM-Neubewilligung im Westen im nächsten Eigentlich müßten Sie, Herr Minister Blüm, die Eck- Jahr durch Ihre Politik unmöglich gemacht. Das ist daten der Bundesregierung für 1992 anspornen, noch falsch, Herr Minister, größere Anstrengungen zur Bewältigung der Situa- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke tion im nächsten Jahr zu unternehmen; denn die Bun- Liste) desregierung geht für das nächste Jahr nur noch von 5,8 Millionen Erwerbstätigen — mithin 900 000 weni- denn das Jahr 1992 wird im Bereich der Arbeitsmarkt- politik ein schwieriges Jahr. Die Sachverständigen ger — in den neuen Ländern aus. und Sie selbst räumen ein, daß es im Jahresdurch- Unseren Antrag, deshalb die besondere Kurzarbei- schnitt im Westen 200 000 Arbeitslose im nächsten tergeld-Regelung nicht bereits im nächsten Monat Jahr mehr geben wird als in diesem Jahr und im Osten auslaufen zu lassen, sondern bis Ende 1993 fortzufüh- sogar 400 000 zusätzliche Arbeitslose prophezeit wer- ren und mit einem starken finanziellen Anreiz zu be- den. ruflicher Fortbildung oder Umschulung zu verknüp- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie müssen fen, haben Sie niedergestimmt. Die Koalition verant- -w- sich einmal an 1982 zurückerinnern! — Ge wortet dadurch, daß 1992 im Osten mindestens genruf der SPD: Wir haben jetzt 1991, Herr 170 000 Kurzarbeiter zusätzlich arbeitslos werden. So Kollege!) produziert Minister Blüm Arbeitslose und entlarvt die Pressemitteilung seiner eigenen Regierung vom Ein Jahr — verehrter Herr Kollege — in dem erstmals 6. November: mehr als 4 Millionen Arbeitslose und Kurzarbeiter in Deutschland zu verzeichnen sind, hat eine andere, Der Tiefpunkt der Arbeitslosigkeit ist noch nicht eine bessere, eine energische Arbeitsmarktpolitik ver- erreicht. Dies unterstreicht die Notwendigkeit ei- dient. ner aktiven Arbeitsmarktpolitik. (Beifall bei der SPD) als leeres Geschwätz, Herr Minister Blüm. Schauen Sie sich unseren Antrag an. Wir haben im (Beifall bei der SPD) Haushaltsausschuß gezeigt, wie eine verantwortungs- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5217

Karl Diller bewußte Arbeitsmarktpolitik in dieser Zeit aussehen im alten Bundesgebiet um 1,3 Millionen Menschen, müßte. also um 60 %, zugenommen hat. (Zuruf von der CDU/CSU: Da haben wir aber (Zuruf von der CDU/CSU: Neue Armut auf nichts gehört!) hohem Niveau!) Verehrter Minister, schauen Sie sich diese Graphik Wir wollten der Bundesanstalt die ihr 1992 fehlenden an! Ich habe sie aus dem jüngsten Jahresbericht des Mittel von rund 1,7 Milliarden DM durch eine Zufüh- Statistischen Bundesamtes herauskopiert. Das hier rung über den Nachtragshaushalt für dieses Jahr, den wir jetzt mit beraten, bewilligen. zeigt, daß es uns, als wir in den 70er Jahren regierten, trotz weltwirtschaftlicher Krisensituationen gelungen (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Woher ist nehmen?) (Zuruf von der CDU/CSU: Wir möchten das Dann wäre es nicht zu den von Ihnen verhängten Kür- auch sehen!) zungen bei ABM um 560 Millionen DM, zu den von — bitte sehr, Herr Staatssekretär! — , die Zahl der Ihnen verhängten Kürzungen bei Rehabilitationsmaß- Sozialhilfeempfänger konstant zu halten — trotz welt- nahmen um 330 Millionen DM gekommen, und es weiter Wirtschaftskrise! würde nicht dazu kommen, daß Personal-, Sach- und (Zurufe von der CDU/CSU — Unruhe) Investitionskosten um 250 Millionen DM gestrichen werden müßten und weitere globale Minderausgaben Diese Stelle hier markiert den Zeitpunkt Ihrer Amts- von 600 Millionen DM zu erwirtschaften wären. übernahme, (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Damals wa (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Immer ren Sie noch unter dem Strich!) mehr Ausgaben!) Herr Minister Blüm, und seit dieser Zeit geht diese Meine Damen und Herren, wenn Sie fragen: „Wie Kurve unaufhörlich nach oben, trotz weltweit günsti- wäre das zu finanzieren gewesen?": ger Konjunkturdaten seit sieben Jahren. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Jä (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Da la ger 90, ja?) chen die noch! Das ist unverschämt! — Ge genruf von der CDU/CSU: Der zieht die fal Das wäre genauso zu finanzieren gewesen, wie Sie schen Schlüsse! — Zuruf von der CDU/CSU: das für einen Teil in diesem Nachtragshaushalt auch Gib doch mal die Statistik zu Protokoll! — machen. In diesem Haushaltsjahr ist eindeutig er- Anhaltende Zurufe) kennbar, daß wir ein Vielfaches dieses Betrags nicht werden ausgeben können. Deswegen wären diese Das ist kein Zeichen guter Sozialpolitik, lieber Kollege Mittel vorhanden gewesen, ohne daß die vereinbarte Wieczorek, sondern das ist das Ergebnis einer gna- Kreditlinie für 1991 auch nur im Entferntesten berührt denlosen Umverteilungspolitik durch diese Koalition oder gar überschritten worden wäre. zugunsten der Besserverdienenden. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und (Beifall bei der SPD) dem Bündnis 90/GRÜNE — Lachen und Wi Unser Antrag wurde im Haushaltsausschuß ebenso derspruch bei der CDU/CSU — Zuruf von der abgelehnt wie unsere Aufforderung an die Regierung, CDU/CSU: Das mußte ja kommen!) dafür Sorge zu tragen, daß die Bundesanstalt für Ar- Nur wer die Ursachen der Armut kennt, kann sie beit ihre Stellen so besetzen kann, daß die Arbeitsver- beseitigen. Zu den Hauptursachen gehören unzurei- waltung in Ost und West ihrer Arbeit voll nachkom- chende Renten, eben mit der Folge der Altersarmut, men kann. So war der Wortlaut unseres Antrags, und das haben Sie abgelehnt. Ein wirklich absurdes Ab- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wollen, daß stimmungsverhalten, meine Damen und Herren von alle arm werden! So ist das!) der Koalition! wobei noch zu sagen ist, daß viele verschämt ihren Sozialhilfeanspruch gar nicht wahrnehmen. Wir (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li schlagen zur Behebung der Altersarmut die Schaf- ste) fung einer Grundsicherung vor. Eine herausfordernde Aufgabe für Sie, Herr Blüm, (Zuruf von der CDU/CSU: Einheitsrente!) müßte eigentlich auch die Bekämpfung der Armut in In diesem Zusammenhang appellieren wir -an die unserem Lande sein. Es dürfte einen Sozialminister Bundesregierung und an die Verantwortlichen in den nicht ruhig schlafen lassen, neuen Ländern, dem Skandal ein Ende zu bereiten, (Zurufe von der SPD: Den schon! — Der daß von 280 000 im Osten eingereichten Anträgen auf schläft doch immer! — Der schläft doch schon Kriegsopferversorgung erst 51 000 bewilligt worden wieder! — Zuruf von der CDU/CSU: Der sind. schläft nie! — Weitere Zurufe) (Zuruf von der CDU/CSU: Der weiß nicht mal, wer für die Bearbeitung zuständig ist! — wenn allein in den ersten sieben Jahren seiner Amts- Weitere Zurufe) führung die Zahl der Sozialhilfeempfänger Zu den Hauptursachen der Armut zählt mittlerweile (Zuruf von der CDU/CSU: Das besagt doch auch die Langzeitarbeitslosigkeit. Sie wirft Men- überhaupt nichts!) schen aus ihrer gewohnten und geordneten Bahn, zer- 5218 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Karl Diller stört Ehen und Familien, führt in die Sackgasse der modellhaft optimiert und neue, konstengünstigere Überschuldung — höchste Zeit, daß wir den Privat- Formen der Versorgung erprobt werden können, konkurs mit der Möglichkeit einer Restschuldbefrei- stammt von meinem Kollegen Hans-Gerd Strube und ung vorsehen — unsere Vorstellungen dazu liegen von meiner Kollegin Ina Albowitz und ist von mir seit einem Jahr vor — und den Kampf gegen die Spi- unterstützt worden. rale nach unten aufnehmen! Eine herausfordernde Aufgabe auch und gerade für Die bisherigen Versuche der Regierung verfehlten den Arbeitsminister ist in den letzten Monaten der ihr Ziel. Geld wurde zwar bereitgestellt, Herr Minister Schutz unserer ausländischen Arbeitnehmer vor Blüm, aber es kam mangels tragfähiger Konzepte der Übergriffen geworden. Wir wissen, aus welchen Regierung nur unzureichend zum Einsatz dieses Gel- Gründen die bei ihm ressortierende bisherige Auslän- des. Haushaltsreste in Höhe von 255 Millionen DM derbeauftragte der Bundesregierung ihr Amt zur Ver- bei den Lohnkostenzuschüssen an Arbeitgeber für die fügung gestellt hat. Sie wollte nicht länger mitanse- Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser und von hen, wie sehr die Bundesregierung ihre Warnungen weiteren 51 Millionen DM, die für Zuschüsse für die und Bitten in den Wind schlug. Unser Antrag zur Auf- Beschäftigung besonders schwer vermittelbarer Ar- wertung und Neugestaltung des Amtes liegt auf beitsloser nicht zum Einsatz kamen, sind kein Grund, Drucksache 12/1357 vor und müßte eigentlich Ihren Herr Kollege Strube, die Mittel zu kürzen, wie Sie es Beifall finden. taten, sondern Anlaß, endlich für eine neue Pro- Doch sei der neuen Ausländerbeauftragten gesagt, grammkonzeption zu sorgen. daß es mit den jetzt veranschlagten neuen Stellen und (Beifall bei der SPD) ein paar Mark mehr für Öffentlichkeitsarbeit und Re- präsentation nicht getan ist, Wir begrüßen deshalb, daß wir uns im Ausschuß darauf verständigen konnten, in 18 Arbeitsamtsbezir- (Beifall bei der SPD) ken im Westen und in 5 Arbeitsamtsbezirken in den schon gar nicht, wenn ihre Parteifreunde von der FDP neuen Ländern modellhaft neue Wege zu erproben, und ihr Koalitionspartner von der CDU/CSU wild ent- mußten aber enttäuscht feststellen, daß die Koalition schlossen dabei sind, das von den karitativen Organi- nicht bereit war, unserem Antrag zu folgen und von sationen bundesweit aufgebaute Betreuungsnetz zu einer Kürzung der Mittel für die Schwerstvermittelba- zerstören. Nichts anderes bedeutet nämlich Ihr unse- ren abzusehen. Angesichts der Tatsache, daß in den liges Festhalten an dem Beschluß, Herr Kollege neuen Ländern bereits 30 % der Arbeitslosen seit acht Strube, die Mittel jedes Jahr um weitere 2 Millionen und mehr Monaten ohne reguläre Beschäftigung sind, DM zusammenzustreichen. wären die Mittel dringendst erforderlich. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Zu der wachsenden Armut trägt auch die Unfähig- Liste) keit der Regierung bei, in der wichtigen Frage der finanziellen Absicherung des Pflegerisikos zu einer Nicht die Zahl der Redenschreiber und Briefbeant- ebenso sozialen wie sachgerechten Lösung zu kom- worter für die Ausländerbeauftragte darf der Grad- men. messer für eine Ausländerpolitik sein. Die konkrete (Beifall bei der SPD) Hilfestellung vor Ort für den ratsuchenden Arbeitneh- mer ist doch das Entscheidende. Deshalb beklagen Die einzige Fraktion, die einen beratungsfähigen Ge- wir mit Caritas, Diakonie und Arbeiterwohlfahrt mit setzentwurf vorgelegt hat, ist die SPD-Fraktion. großer Bitterkeit, daß Sie unserem Antrag nicht ge- (Beifall bei der SPD — Ina Albowitz [FDP]: folgt sind, dafür 41 Millionen DM vorzusehen. Wo ist er denn?) Das ist schade, wäre doch hier ein Konsens möglich Wir schlagen darin — übrigens zusammen mit den gewesen, so wie wir einen Konsens finden konnten, von uns regierten Bundesländern — ein schlüssiges indem Sie unserem Antrag folgten, 1,5 Millionen DM und sozial gerechtes Konzept vor, auf dessen Umset- mehr zur Beratung osteuropäischer Staaten bei der zung tagtäglich Millionen Bürger immer ungeduldi- Neugestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme und ger hoffen und warten. der Arbeitsförderung bereitzustellen, so wie wir auch in Konsens beschlossen haben, daß eine Bundesan- (Ina Albowitz [FDP]: Wir verbessern doch stalt für Arbeitsmedizin gegründet wird — meine nichts mit eurem Antrag! Das ist das Pro Mahnung, die wissenschaftlichen Mitarbeiter auch blem!) auf angemessene Stellen zu führen, möchte ich an Das einzig Positive, was zu diesem Thema in den dieser Stelle wiederholen, Herr Minister — , so- wie wir Haushalt hineingekommen ist, stammt übrigens nicht schließlich auch im Konsens die Rentenreform 1992 von Minister Blüm. Er war nur daran interessiert, zu- beraten und samt Überleitungsgesetzen beschlossen sätzlich noch 5 Millionen DM für Propaganda zu be- haben. Ich zitiere: kommen. Die Rentenreform 1992 wurde am 9. November (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Seltsam, 1989 von den großen politischen Kräften im Deut- daß Sie mit diesem Konzept nicht überall in schen Bundestag gemeinsam beschlossen. der Welt Erfolg haben!) So schreibt der Minister im Vorwort einer jetzt an alle Der Vorschlag, 40 Millionen DM im Haushalt bereit- Haushalte in den neuen Ländern verteilten Broschüre zustellen, mit denen in etlichen Regionen, vor allem „Die neue Rente". auch in den neuen Ländern, die ambulante Betreuung Ganz recht. Da war die SPD maßgeblich mitbetei- Pflegebedürftiger und die stationäre Unterbringung ligt. Da hat die SPD dafür gesorgt, daß die ursprüng- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5219

Karl Diller lichen Konzeptionen von CDU/CSU und FDP geän- Wir finden davon nichts in diesem Haushalt. dert wurden, wodurch z. B. der Bundeszuschuß we- (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Lauter sentlich erhöht wurde, was die Beitragszahler entla- solche Geschichten da! — Weitere Zurufe stet. Jetzt wird von der Bundesanstalt ein höherer Bei- von der CDU/CSU: Das haben Sie mit be- trag für Arbeitslose gezahlt, was deren spätere Ren- schlossen! — Das weiß der nicht einmal tenhöhe positiv beeinflußt. Es wurde die Rente nach mehr, daß er dabei war! — Die 13 Milliarden Mindesteinkommen ausgebaut, was für mehr als eine haben Sie mitbeschlossen! — Wissen Sie gar Million Rentnerinnen mehr Geld bedeutet. nicht, wie Sie hier abgestimmt haben?) Ähnliche Verbesserungen erreichten wir für die — Nun beruhigen Sie sich! — Der Minister hat damals Rentner in den neuen Ländern bei den neuen Renten- gesagt: Die Anschubhilfe für den Aufbau einer ver- überleitungsgesetzen, wodurch z. B. der Sozialzu- gleichbaren sozialen Sicherheit in der DDR ist eine schlag für einen weiteren Neu-Rentnerjahrgang, gesamtstaatliche Aufgabe und darf nicht den Bei- nämlich den 93er, gewährt und allen Empfängern tragszahlern in der Bundesrepublik aufgebürdet wer- zwei Jahre länger ausgezahlt wird, nämlich bis Ende den. Sie erfolgt deshalb aus Steuermitteln. 1996. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben das mit Damit ist die Zeit gewonnen, eine nach unserer Auf- beschlossen!) fassung dringend notwendige soziale Grundsiche- In diesem Haushalt ist davon nichts zu finden. Deswe- rung zu schaffen. Wir erreichten auch, daß z. B. alle gen lehnen wir ihn ebenfalls ab. Rentenzugänge bis 1996 einen Vertrauensschutz be- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und züglich ihrer erworbenen Ansprüche und Anwart- beim Bündnis 90/GRÜNE) schaften genießen,

(Ina Albowitz [FDP]: Von Defizit haben Sie Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der auch noch nichts gehört?) Kollege Hans-Gerd Strube. mithin keine Verschlechterung durch das neue Recht eintreten kann. Hans-Gerd Strube (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kol- Man sieht daran, wenn die Bundesregierung zu lege Diller, Sie haben Glück. Ich habe nämlich gerade Kompromissen mit der SPD gezwungen wird oder gestern beschlossen, mir einen neuen Redestil zuzule- dazu bereit ist, dann kommt Vernünftiges dabei her- gen und Polemik nicht mit Polemik, sondern mit gro- aus, ßer Sachlichkeit zu beantworten. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — zumindest Vernünftigeres, als wenn sie gegen unsere Zurufe von der SPD) warnenden Stimmen Gesetze, Verordnungen und Meine Damen und Herren, wenn es um den Haus- Maßnahmen durchsetzt, Änderungsanträge ablehnt. halt des Bundesarbeitsministers geht, wird mit vielen Bekanntestes Beispiel für ein solches Verhalten, für Milliarden jongliert. In diesem Jahr sind es 91 Milliar- die Folgen des sturen Regierungshandelns, ist der den DM. absolute Tiefpunkt in Minister Blüms Karriere, Ihre Der finanzierte Sozialstaat soll den Schutz des sozial Super-Pleite mit Ihrer sogenannten Gesundheitsre- und wirtschaftlich Schwächeren garantieren. Er soll form, Herr Minister. soziale Ungerechtigkeiten abbauen. Aber mit dem stetigen Wandel in der Gesellschaft ändern sich Dieser Haushalt wird, wie dargelegt, in wesentli- zwangsläufig auch Handlungsnotwendigkeiten. chen Punkten den Herausforderungen des Jahres Was in der Vergangenheit zur Behebung von verbreitetem 1992 nicht gerecht. Der Einzelplan ist im übrigen auch Elend erforderlich war, muß in einer Zeit des Massen- ein Beispiel für das Verlagern von Kosten des Bundes wohlstands nicht notwendig sinnvoll bleiben. zu Lasten Dritter. So läßt die Bundesregierung seit 1988 wichtige Aufgaben der Integration von Aussied- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abge lern aus Mitteln der Beitragszahler für Nürnberg be- ordneten Ina Albowitz [FDP]) zahlen. Der Bund spart auf diese Weise zu Lasten der Die Sozialpolitik muß Antworten auf die veränder- Beitragszahler allein im nächsten Jahr 3,3 Milliarden ten Herausforderungen unserer Gesellschaft finden. DM. (Konrad Gilges [SPD]: Das ist die Rede vom Der Haushalt ist auch ein Beleg für von Ihnen, Herr letztenmal!) - Blüm, nicht eingehaltene Versprechen. Wie die Presse Es kann und darf nicht sein, daß ungefragt alle Struk- zur Zeit berichtet, zeichnen sich für das nächste Jahr turen konserviert werden. Traditionelle Leistungen Defizite bei den Rentenversicherungsträgern ab; die können sich nicht aus sich selbst heraus legitimieren, Schätzungen gehen bis 12 Milliarden DM. Dieses sondern müssen ihre Berechtigung in der jeweils kon- Loch in den Rentenkassen ist einigungsbedingt. Sie kreten Lage nachweisen. selber haben am 17. Mai versprochen, daß die eini- (Ina Albowitz [FDP]: Sehr richtig! — Gerd gungsbedingten Kosten nicht zu Lasten der Beitrags- Andres [FDP]: Wo bleibt der neue Rede zahler, sondern zu Lasten der Steuerzahler gehen stil?) müssen. Der Sozialstaatsgedanke wird heute vielfach zur Be (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Aber gründung neuer Forderungen in Anspruch genom jetzt reicht es langsam!) men, während auf Grund gewandelter Sachverhalte 5220 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Hans-Gerd Strube gleichzeitig notwendige Änderungen im sozialen Sy- treuung ausländischer Arbeitnehmer. Bei der sprach- stem als Anschlag auf den Sozialstaat diffamiert wer- lichen und beruflichen Bildung geht es vor allem um den. Kurse für junge Ausländer und für ausländische Um das erreichte Niveau unseres sozialen Siche- Frauen. Inzwischen erreichen fast drei von vier Aus- rungssystems in Deutschland halten zu können, ist länderkindern einen allgemeinbildenden Schulab- mehr Eigenverantwortung notwendig, muß Eigenini- schluß. tiative weiter gesteigert werden. Entscheidende Weichen für die Zukunft werden (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina beim Übergang von der Schule in den Beruf gestellt. Albowitz [FDP]) Hier setzen wir an; denn möglichst viele ausländische Jugendliche sollen für das Berufsleben qualifziert Der Staat ist hier nicht allein gefordert. Die Mitarbeit werden. des einzelnen ist wichtiger denn je. Daher haben die Bundesregierung und die Bundes- Wenn wir uns umschauen, finden wir jedoch oft das anstalt für Arbeit ihre Maßnahmen in den letzten Jah- Gegenteil: Immer mehr Menschen sind auf der Suche ren erheblich verstärkt. Wir bieten ein geschlossenes nach Orientierung. Man sehnt sich nach perfekten Förderpaket. Dazu gehören deutsche Sprachkurse, Lösungen, nach todsicheren Rezepten. spezielle Angebote zur Berufsvorbereitung von Aus- (Zuruf von der SPD: Nichts mit Tod!) ländern und das Programm zur Förderung der Berufs- ausbildung benachteiligter Jugendlicher. Lassen Sie mich einige Haushaltsansätze heraus- greifen, die von der Summe her nicht zu den größten Die Angebote der Bundesanstalt für Arbeit sind zählen und dennoch interessant sind. — Meine Da- überaus erfolgreich. An Berufsvorbereitungs- und Bil- men und Herren, in diesen Wochen wird ja viel von dungskursen beteiligen sich pro Jahr 12 000 junge Ausländerfeindlichkeit geredet. Dabei wissen wir Ausländer. Außerdem hat die Bundesanstalt für Ar- alle: Ohne Ausländer wäre der Wohlstand in der Bun- beit spezielle Initiativen entwickelt, um die jungen desrepublik Deutschland massiv gefährdet. Ausländer und ihre Eltern an die Berufsberatung her- anzuführen. Im letzten Jahr haben 150 000 ausländi- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD sche Jugendliche die Beratungsdienste der Bundes- und beim Bündnis 90/GRÜNE) anstalt für Arbeit in Anspruch genommen. Wir Christdemokraten betonen daher immer wieder, Im Sozialetat stehen für Koordinierungs - und Son- daß wir uns stark gegen die Ausländerfeindlichkeit dermaßnahmen 1992 insgesamt 52,5 Millionen DM wenden, bereit. Das sind 2 Millionen DM mehr als im letzten (Zurufe von der SPD) Jahr. Der Ansatz für die Betreuungsmaßnahmen wird daß wir Lösungen vom Stammtisch ablehnen; gegenüber dem Vorjahr um 2 Millionen DM auf 36 Millionen DM zurückgeführt. (Zurufe von der SPD) Das ist vor allem aus zwei Gründen sinnvoll: Zum denn Vorurteile werden durch Zahlen widerlegt. einen wird der Anteil der ersten Ausländergeneration, Zwei Drittel der hier lebenden Ausländer wohnen die ganz besonders stark die Sozialberatung benö- schon über zehn Jahre bei uns. Zwei Drittel der Aus- tigte, immer geringer. Zum anderen steigt der Anteil länderkinder sind in der Bundesrepublik geboren. der jungen Ausländer und der zweiten und dritten Neun von zehn Ausländern sprechen oder verstehen Generation. Deren Integration wird immer notwendi- Deutsch. Vier von fünf Ausländern zwischen 15 und ger. 24 Jahren haben eine deutsche Schule besucht oder Besonders im sprachlichen und beruflichen Bereich besuchen sie noch. nimmt der Bedarf zu, auch bedingt durch den Famili- Die Bundesregierung will die Eingliederung der ennachzug. Während 75 % der deutschen Jugendli- ausländischen Arbeitnehmer weiterführen. Wir wol- chen eine Berufsausbildung absolvieren, sind es unter len nämlich niemanden ins Ghetto drängen, weder in den ausländischen Jugendlichen nur 35 %. Durch pro- das kulturelle noch in das sprachliche Ghetto. Wir jektbezogene Maßnahmen wollen wir die Integration Christdemokraten setzen uns dafür ein, daß den Tür- verstärken. ken, Griechen, Spaniern und Menschen anderer Na- Wir verfolgen dabei ein weiteres Ziel. Durch die tionalitäten, die bei uns eine zweite Heimat gefunden Betreuungsmaßnahmen sind Frauen bisher kaum er- haben, das Leben leichter gemacht wird. Zu einhun- reicht worden. Frauen sind aber in der Regel der Be- dertzehnprozentigen Deutschen wollen wir damit nie- zugspunkt der Familie. Durch Projekte wollen wir- die manden machen. Integration von ausländischen Frauen erleichtern. (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Das wol Das kommt dann der ganzen Familie zugute. len sie auch selber nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vielmehr wollen wir helfen, daß ihnen der Einstieg in Ziel der Frauenkurse ist es auch, Frauen verstärkt den Beruf und das Kennenlernen der ihnen fremden, schweren deutschen Sprache leichter fällt. für eine Berufsausbildung zu interessieren. Die Um- schichtung der Mittel bietet dem Arbeitsministerium Diese Hilfe ist in der Öffentlichkeit leider kaum einen größeren Spielraum. Die Haushaltsmittel wer- bekannt. Doch stellt das Arbeitsministerium hierfür den nicht mehr einfach nach dem Gießkannenprinzip insgesamt 110 Millionen DM zur Verfügung, u. a. Mit- breit gestreut; vielmehr fördert man gezielt Projekte tel für die berufliche und sprachliche Bildung, für Zu- mit sehr unterschiedlichen Trägern. Dadurch lassen schüsse an freie Wohlfahrtsverbände und für die Be sich neue Wege bei der beruflichen und sozialen Inte- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5221

Hans-Gerd Strube Bration erproben. Diese zahlreichen Projekte zeigen: Defizite bestehen besonders bei den Themen Mehr- Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land, und fachbelastungen, psychomentale Belastungen sowie die Bundesregierung ist ebenso ausländerfreund- Erkrankungen, die nicht monokausal erklärt werden lich. können. Diese Situation ist unhaltbar. Wir können sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht nur aus sozialpolitischen, sondern auch aus wirt- schaftlichen Gründen nicht länger hinnehmen. Meine Damen und Herren, wir Christdemokraten Die Bundesanstalt für Arbeitsmedizin wird diese haben es in der Vergangenheit ständig geschafft, mit Defizite beseitigen. Darüber hinaus wird sie eine wei- unserer Sozialpolitik die soziale Sicherung zu verfei- tere wichtige Aufgabe lösen können: Die Europäische nern. Gemeinschaft hat sich zum Motor der Entwicklung zu (Lachen bei der SPD — Zuruf von der SPD: mehr Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeits- So fein, bis sie keiner mehr sieht!) platz entwickelt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sozialpolitik duldet keinen Stillstand; immer wird es Defizite geben, die beseitigt werden müssen. Zahlreiche Richtlinien müssen umgesetzt werden oder sind derzeit in Vorbereitung, z. B. die Maschi- In diesem Zusammenhang rückt ein Thema immer nenrichtlinie und die Bildschirmrichtlinie. Wenn wir mehr in den Blickpunkt: der Arbeitsschutz. Sie alle bei der Gestaltung des Sozialraums Europa mitreden wissen: Arbeit kann dem Leben einen Sinn geben, wollen, dann brauchen wir mehr arbeits- und be- Arbeit kann aber auch krank machen. Damit der Ar triebsmedizinischen Sachverstand. Dieser Sachver- beitsplatz menschenwürdig eingerichtet ist, muß die stand ist bei der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin vor- Arbeit so gestaltet werden, daß sie möglichst wenig handen. Gesundheitsbelastungen für die Arbeitnehmer mit Meine Damen und Herren, ich habe meine Redezeit sich bringt. Das ist auch volkswirtschaftlich sinnvoll. bewußt genutzt, um zwei Themen aus dem Aufgaben- Dazu gehört auch die Vorbeugung gegen Krankhei- katalog des Bundesministeriums für Arbeit und Sozi- ten, die durch den Arbeitsplatz entstehen können. alordnung etwas vertieft darzustellen. Wirksamer Arbeitsschutz bedeutet, daß man weiß, (Beifall der Abg. Uta Titze [SPD]) welche Faktoren auf den Menschen durch Arbeit ein- Schlagzeilen werden diese Ausführungen nicht brin- wirken — wie Gefahrstoffe, Lärm, Hitze oder psychi- gen. sche Anforderungen. Hierfür leistet die Bundesanstalt für Arbeitsschutz einen wichtigen Beitrag. Arbeits- (Uta Titze [SPD]: Woher wollen Sie das denn schutz bedeutet ebenso, daß man weiß, wie sich diese wissen?) Belastungen auswirken, z. B. als Gesundheitsstörun- Aber, meine Damen und Herren, verantwortlich ge- gen — wie Vergiftungen, Allergien, Schwerhörigkeit, staltete Sozialpolitik schielt auch nicht nach Schlag- Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische und physi- zeilen, sondern ist an der Sache orientiert. sche Funktionsstörungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dieser Bereich lag jahrelang fast brach. Der Bund Ich bedanke mich beim Bundesarbeitsminister, besaß bisher keine eigene arbeitsmedizinische Ein- (Zuruf von der SPD: Das ist doch die Schlag richtung. Die deutsche Einheit hat uns hier eine große zeile!) Chance geboten: Das weltweit anerkannte ehemalige Zentralinstitut für Arbeitsmedizin in Ost-Berlin hat bei den Mitarbeitern des Ministeriums und ebenfalls uns die Möglichkeit gegeben, das Defizit zu beseiti- bei den Mitberichterstattern und möchte Sie bitten, dem Einzelplan 11 Ihre Zustimmung zu erteilen. gen. Die Übernahme als Bundesanstalt für Arbeits- medizin zeigt nicht nur die hohe Bedeutung, die wir Herzlichen Dank. der Arbeitsmedizin beimessen. Sie zeigt gleichzeitig, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) daß anerkannte Einrichtungen der ehemaligen DDR nicht einfach in westlichen Strukturen untergehen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat die Kolle- Seit Übernahme der Bundesanstalt für Arbeitsmedi- gin Ina Albowitz das Wort. zin steht dem Bund nun erstmals eine leistungsfähige eigene Fachkompetenz in diesem Bereich zur Verfü- gung. Damit werden wir künftig in der Lage sein, die Ina Albowitz (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr Verbesserungen in der arbeitsmedizinischen Versor- verehrten Damen und Herren! Zu unser aller Entset- - gung umzusetzen. Dies ist dringend erforderlich. zen müssen wir feststellen, daß Deutschland von einer Welle der Gewalt überrollt wird, verursacht durch den Ich möchte hier nur auf eine Studie von 1989 ver- Haß gegenüber Ausländern und asylsuchenden Men- weisen. Diese des großen werksärztlichen Studie schen. Dienstes beim Volkswagenwerk kommt zu dem Er- gebnis, daß die Ausstattung der betriebsärztlichen Manchmal frage ich mich, wann und wo wir versagt Versorgung völlig unzureichend ist, daß es große Lük- haben bzw. wo wir gemeinsam deutlicher Zeichen ken bei der Ursachenbestimmung von Erkrankungen hätten setzen sollen. Die Bundesregierung und der gibt, die mit Arbeitsbedingungen im Zusammenhang Haushaltsausschuß haben hierzu in der letzten Woche stehen können, und daß das Datenmaterial insgesamt ein Zeichen gesetzt, in manchen Augen vielleicht nur lückenhaft ist. ein kleines, in meinen Augen aber doch ein sehr be- deutsames. Ich spreche vom Amt der Ausländerbe- (Zuruf von der SPD: Das ist ja nicht neu!) auftragten, das Cornelia Schmalz-Jacobsen in der 5222 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Ina Albowitz letzten Woche übernommen hat. Mit ihrem Amtsein- streicht, daß wir unserer sozialen Verantwortung ge- tritt verbinden sich nicht nur gute Wünsche für eine recht werden, Herr Kollege. erfolgreiche Arbeit aus diesem Hause, sondern auch eine Reihe von Verbesserungen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dies will ich an zwei Punkten dokumentieren. Der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten größte Brocken des Sozialhaushalts sind die Bundes- der CDU/CSU) zuschüsse an die Rentenversicherung mit fast 60 Mil- Die Zuständigkeiten der Ausländerbeauftragten liarden DM. Das ist mehr als das Gesamtvolumen des sind erweitert worden. In Zukunft ist sie an allen aus- BMA-Haushalts im Jahre 1982, Herr Kollege. länderrelevanten Vorhaben der Bundesregierung zu Für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik beteiligen, so daß ihr Einfluß deutlich wächst. Die er- werden durch den Bundeshaushalt und den Haushalt weiterte Zuständigkeit drückt sich auch in der neuen der Bundesanstalt für Arbeit im nächsten Jahr mehr Amtsbezeichnung aus. Hieß sie bisher „Beauftragte als 48 Milliarden DM zur Verfügung stehen. Dies be- der Bundesregierung für die Integration der ausländi- deutet gegenüber dem laufenden Jahr einen Anstieg schen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen" um 10 Milliarden DM. so lautet die Bezeichnung jetzt „Beauftragte der Bun- desregierung für die Belange der Ausländer". (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! Die zweite Verbesserung für das Amt der Auslän- Hört!) derbeauftragten ist, daß der Etat aufgestockt wurde Unsere Wirtschafts- und Sozialpolitik sieht sich und mehr Personal zur Verfügung steht. Es werden nach wie vor der wohl größten Herausforderung ge- neue Planstellen eingerichtet und zusätzlich 300 000 genüber: der Umwandlung einer maroden sozialisti- DM für die Weiterbeschäftigung von Aushilfskräften schen Planwirtschaft in eine marktwirtschaftliche in Bonn und der Außenstelle in Berlin zur Verfügung Ordnung — und das in kürzester Zeit. Eine solche gestellt. Damit wird die Ausländerbeauftragte in Zu- Aufgabe, meine Damen und Herren, die vollständige kunft über 16 Mitarbeiter verfügen. Erneuerung der gesamten Volkswirtschaft eines Lan- des mit 17 Millionen Einwohnern, hat sich in der Ge- Ein wichtiges Instrument, damit die Ausländerbe- auftragte ihre Aufgabe, das Verständnis der Deut- schichte so noch nie dargestellt. schen und der Ausländer füreinander zu fördern, er- (Dr. Gisela Babel [FDP]: Sehr wahr!) füllen kann, ist die Informationsarbeit. Mit der Ver- Viele haben sich gefragt, ob wir diese Herausforde- mittlung von Fach- und Sachinformationen kann sie rung im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft und mit zur Versachlichung der Diskussionen beitragen, Vor- ihren Mitteln überhaupt bewältigen können; denn urteile überwinden und zwischenmenschliche Bezie- klar war: Es ist nicht damit getan, hier und da ein paar hungen fördern helfen. Dies ist ein wichtiges politi- Verbesserungen einzuführen, einige Bet sches Anliegen. Deshalb haben wir den Ansatz hierfür riebe zu mo- dernisieren und darauf zu hoffen, daß damit schon vervierfacht. alles besser wird. Zu gewaltig — und bis zur Wende in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dieser Dimension auch unvorstellbar — sind die Defi- der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Weng zite im Osten, um mit ein paar Handgriffen alles ins [Gerlingen] [FDP]: Zusammen mit dem Ko Lot zu bringen. Es war sofort eindeutig: Wir brauchen alitionspartner!) nicht nur eine massive Wirtschaftsförderung, sondern — Wir gemeinsam. Ich bin Ihnen außerordentlich für eine begrenzte Zeit auch eine notwendige soziale dankbar für diesen Hinweis. Die Kollegen im Haus- Flankierung des Umwandlungsprozesses. haltsausschuß wissen das auch. Zum einen sind vor allem private, aber auch öffent- liche Investitionen notwendig, denn auf Dauer kön- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Und nen nur die Marktkräfte den Aufschwung im Osten der Nörgler Diller ist hier widerlegt!) schaffen. — Das denke auch ich; aber das ist ein besonderer (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Punkt. Ich habe ihn auch schon besser erlebt; das muß ich hier ebenfalls sagen. Nur Investitionen in moderne Fertigungsstätten und in Infrastruktur schaffen zukunftssichere Arbeits- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der plätze. CDU/CSU — Jochen Borchert [CDU/CSU]: Der widerlegt sich selber!) Auf der anderen Seite können Investitionen ange- sichts der Größe dieser Probleme aber nur langsam- Nach diesen notwendigen Ausführungen zu dem greifen. Solange Marktkräfte in der Umbruchphase Amt der Ausländerbeauftragten möchte ich jetzt ei- allein nicht in der Lage sind, genügend zukunfts- nige Punkte aus dem Bereich des Sozialhaushalts an- sichere Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, brau- sprechen. Immerhin umfaßt der Etat des Bundesar- chen wir eine soziale Flankierung des Umwandlungs- beitsministers mit einem Volumen von über 91 Milli- prozesses. arden DM mehr als ein Fünftel des Gesamthaushalts des Bundes; er ist damit mit deutlichem Abstand der ( [CDU/CSU]: Richtig!) größte Einzelplan. Die Bundesregierung und die sie tragenden Koali- Damit hier kein Irrtum aufkommt, meine Damen tionsfraktionen haben sich dieser großen Aufgabe so- und Herren, sage ich deutlich: Geld allein entscheidet fort gestellt. Sie haben alles, was möglich ist, auf den nicht über die Qualität des Sozialstaates. Doch daß der Weg gebracht. Ich erinnere nur an den Fonds Deut- Sozialetat ein so großes Volumen erreicht hat, unter sche Einheit und das Gemeinschaftswerk Auf- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5223

Ina Albowitz schwung Ost. 1991 fließen netto rund 140 Milliarden Diesen Wechsel sollten wir hier nicht durchgehen las- DM in die neuen Bundesländer, davon rund 50 Milli- sen. arden DM direkt für Investitionen. Wir haben das mit (Zurufe von der SPD) Abstand größte Konjunktur- und Strukturprogramm, das jemals auf die Beine gestellt worden ist, zum Lau- — Wir bemühen uns mächtig darum. fen gebracht. Besonders wichtig ist: In solchen Extremsituatio- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nen, meine Damen und Herren, schützt aktive Ar- Noch, meine Kolleginnen und Kollegen, befinden beitsmarktpolitik nicht nur vor Arbeitslosigkeit; sie sich die neuen Bundesländer — das wissen wir ja bewahrt vor allem vor Entqualifizierung, verhilft zu alle — in der schwierigen Umbruchphase, die für viele neuen Befähigungen und bereitet damit die Men- Menschen mit dem Verlust auch des Arbeitsplatzes schen auf neue Aufgaben vor. Arbeitsbeschaffungs- verbunden ist. Die früher verdeckte Arbeitslosigkeit maßnahmen und Weiterbildungsangebote haben sich ist offen zutage getreten. als sinnvolle Brücken zu neuer Beschäftigung erwie- sen. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich das Wort (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: So ist „Brücke", denn wir dürfen niemals aus den Augen es!) verlieren, daß der Umstrukturierungsprozeß letztend- Deshalb ist jetzt die arbeitsmarkt- und sozialpolitische lich von der Wirtschaft getragen werden muß. Flankierung nötig, denn sie macht die rasche Um- Die positiven Anzeichen aus den neuen Bundeslän- strukturierung der Wirtschaft für die Menschen erst dern lassen erwarten, daß die Talsohle in den neuen akzeptabel und damit auch politisch möglich. Ländern stetig durchschritten wird und ein Auf- Knapp 20 Milliarden DM stehen in diesem Jahr für schwung in Gang kommt, der schließlich in einen star- die aktive Arbeitsmarktpolitik und weitere 7 Milliar- ken Beschäftigungsaufbau im privaten Sektor mün- den DM für Kurzarbeitergeld in den neuen Bundes- det. ländern zur Verfügung. (Zustimmung bei der FDP und der CDU/ Ich stelle fest: Im Osten unseres Landes ist es nicht CSU) zu dem befürchteten Dammbruch gekommen. Mehr als 1,9 Millionen Menschen konnten bisher vor der Das bedeutet, daß jetzt, da Anzeichen eines Auf- Arbeitslosigkeit bewahrt werden. schwungs sichtbar werden, mit den beschäftigungs- politischen Maßnahmen des Staates noch sorgsamer (Manfred Reimann [SPD]: Was ist das denn umgegangen wird. Das Entstehen einer gesunden für eine Rechnung?) mittelständischen Wirtschaftsstruktur darf nicht er- — Hören Sie doch zu. Ich rechne Ihnen das gern vor, schwert werden, wenn Sie sich gedulden. (Zustimmung bei der FDP) (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Trotz Diller!) — Der ist Lehrer, der müßte es eigentlich viel besser weil durch ABM hoch subventionierte öffentliche An- können als ich. bieter in einigen Bereichen konkurrenzlos sind. Des- halb muß das Engagement des Staates schrittweise (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Deshalb gerade zurückgehen. nicht!) Meine Damen und Herren, in dem einen Jahr, das In Maßnahmen beruflicher Fortbildung und Um- seit der Wiedervereinigung verstrichen ist, hat sich für schulung befanden sich im Oktober rund 300 000 Per- die Bürger in den neuen Bundesländern viel verbes- sonen. Die Zahl der Beschäftigten in Arbeitsbeschaf- sert. fungsmaßnahmen lag Ende Oktober bei 348 000. Das waren rund 35 000 mehr als Ende September. Im Ok- (Julius Louven [CDU/CSU]: Das kann man tober bezogen rund 624 000 Personen Vorruhestands- wohl sagen!) und Altersübergangsgeld. Zwei Untersuchungen renommierter Wirtschaftsfor- Der Entlastungseffekt der Kurzarbeit ist im Oktober schungsinstitute zeigen, daß die auf rund 670 000 zu beziffern. Realeinkommen in den neuen Ländern inzwischen bereits deutlich ge- Dies sind Zahlen, die ich aus verläßlichen Daten stiegen sind. Die Ergebnisse dieser quantitativen zusammengetragen habe. Die können Sie nicht ne- Analysen berücksichtigen im übrigen noch nicht,- wie gieren wollen. sehr sich der Lebensstandard in den neuen Ländern auch dadurch verbessert hat, daß es nunmehr keine (Zuruf von der SPD: Das ist aber eine Statistik Versorgungsmängel mehr gibt. des Schreckens, wenn man das so hört!) — Mein lieber Herr Kollege, für die Situation, die im Insbesondere für die Rentner in den neuen Bundes- Osten herrscht, können Sie diesen Bundestag und ländern ist vieles bereits besser geworden. Die Rege- diese Bundesregierung nicht verantwortlich machen. lungen im Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- Das wissen Sie genausogut wie ich. und Sozialunion, im Einigungsvertrag und im Renten Überleitungsgesetz geben den Rentnern soziale (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Sicherheit. Die lohnbezogene dynamische Rente ge- Manfred Reimann [SPD]: Aber für die Ver währleistet größtmögliche soziale Sicherheit im Al- säumnisse sind sie verantwortlich!) ter. 5224 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Ina Albowitz Zum 1. Januar 1992 werden die Alters- und Kriegs- men sei und alle Anstrengungen unternehme, um die- opferrenten in den neuen Bundesländern um weitere sen so schnell wie möglich zu vollenden. 11,65 % angehoben. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was Sie (Zuruf von der SPD: Bravo!) nicht verhindern konnten!) Sie sind damit seit dem 30. Juni 1990 um insgesamt Was immer sich hinter diesen Ankündigungen ver- 90 % gestiegen. borgen hat, der heute vorliegende Etat des Bundesmi- (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Hört! Hört!) nisteriums für Arbeit und Sozialordnung macht es mir Öfter „bravo" sagen, kann ich da nur sagen. Anders schwer zu erkennen, worin die Anstrengungen zu ausgedrückt: Die Altersrente eines Durchschnittsver- mehr sozialer Gerechtigkeit, zur Überwindung der dieners nimmt in diesem Zeitraum um 473 DM auf Ausgrenzung und Marginalisierung einer wachsen- 993 DM zu. Damit erreicht das ostdeutsche Renten- den Minderheit im Westen und einer Mehrheit im niveau etwa 57 % des westdeutschen Niveaus. Im Juni Osten oder zum Abbau von Altersarmut bestehen. 1990 lag der Betrag bei nur 30 %. Auch die für mich wahrnehmbare Realität der Armut, vor allem in den neuen Bundesländern — Armut ist Vom 1. Januar 1992 an wird es in ganz Deutschland aber auch im Westen eine längst zum Alltag gehö- eine unterschiedslose Rentenversicherung und eine rende Erscheinung —, bestärkt mich in meiner Skep- gemeinsame Rentenkasse geben. Der Finanzverbund sis gegenüber den ministeriellen Versprechungen. ist sichtbarer Ausdruck gesamtdeutscher Solidarität. Die Entwicklung des Bundeszuschusses an die Ren- Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in völlig ungesi- tenversicherung unterstreicht: Wir stehen zu unserer cherten Einkommensverhältnissen. Wo es heute ge- Verantwortung gegenüber der älteren Generation in rade noch reicht, kann bereits morgen durch Arbeits- ganz Deutschland. losigkeit, durch das Auslaufen der Regelung für Kurz- arbeiterinnen und Kurzarbeiter und durch die Beendi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld die blanke 1992 werden sich die Bundeszuschüsse auf knapp Not entstehen. 60 Milliarden DM belaufen. Das sind fast 9 Milliarden (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und in ein DM mehr als 1991. Darin sind auch die ab 1992 auf solches Land kommen täglich immer mehr den Bundeszuschuß umgeschichteten Mittel für die Menschen!) Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung enthalten, nämlich insgesamt Nach Erhebungen des Deutschen Instituts für Wirt- 4,9 Milliarden DM. schaftsforschung lebten Anfang dieses Jahres schon Meine Damen und Herren, in der Diskussion um die 3 % aller Haushalte in den neuen Bundesländern un- Pflegeversicherung plädieren immer mehr Sachver- ter dem Sozialhilfesatz. 15,7 % aller Haushalte muß- ständige für eine private Pflegeversicherung nach ten mit weniger als 1 000 DM im Monat auskom- dem Kapitaldeckungsverfahren, men. (Lachen bei der SPD) Arbeitslosigkeit ist in den östlichen Landesteilen in weit stärkerem Maße als in den westlichen Bundes- denn — dies wissen alle, die rechnen können — ein ländern Ursache für Sozialhilfebedürftigkeit. Zum Umlagesystem in der Pflegeversicherung als soge- Beispiel sind in Sachsen zwei Drittel der Arbeitslosen nannte fünfte Säule unter dem Dach der Sozialversi- zusätzlich auf Sozialhilfe angewiesen, weil die Ar- cherungssysteme wird den Generationenvertrag beitslosenunterstützung das gesellschaftlich defi- überlasten. Ich denke, wir sollten sämtliche Warnun- nierte Existenzminimum nicht abdeckt. gen, die in den letzten Monaten vom Sachverständi- genrat, von der Bundesbank und von vielen anderen (Zuruf von der CDU/CSU: Dafür tragen Sie in dieser Republik deutlich ausgesprochen worden die Verantwortung!) sind, ernst nehmen. Diese Situation wird sich noch dramatisch verschär- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Arnulf fen, wenn zum Jahresende weitere Hunderttausende Kriedner [CDU/CSU]) Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter endgültig in die Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion stimmt Arbeitslosigkeit entlassen werden bzw. für einen dem Einzelplan 11 zu. Großteil der schon arbeitslosen Frauen dank der un- würdigen Bedürftigkeitsprüfung der Anspruch auf Ich danke Ihnen. Leistungen der Arbeitsverwaltung entfällt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, mit diesem Haushalt- wird weder den bisherigen sozialpolitischen Stan- dardanforderungen Rechnung getragen noch werden Nun hat die Kolle- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wege beschritten, die den neuen Herausforderungen gin Petra Bläss das Wort. in der Sozialpolitik entsprechen. Das vielgepriesene System der sozialen Sicherung verliert zunehmend seine Wirkungskraft angesichts einer Situation, bei Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Der Sozialstaat gewinnt der immer mehr erwerbsfähigen Menschen die Mög- an Kontur." — Mit dieser Feststellung präsentierte lichkeit vorenthalten wird, die materiellen Grundla- Bundesarbeitsminister Blüm bereits in der ersten Le- gen ihres Lebens durch eigene Erwerbsarbeit zu si- chern. sung den Einzelplan 11. Er fügte nicht gerade be- scheiden hinzu, daß man dem einigen Sozialstaat Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung Deutschland bereits ein großes Stück nähergekom reichen zur Absicherung individueller Lebensrisiken Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5225

Petra Bläss oder auch sozialer Notlagen nicht aus. Sozialhilfe plan 11 rar. Es sind ganze 3,5 Millionen DM für die — als Ausnahme konzipiert — wird für immer mehr Erprobung neuer Wege in der Arbeitsmarktspolitik Menschen zum Regeleinkommen. Ich erinnere nur an vorgesehen, also etwa 1 % dessen, was als Entwick- all diejenigen, die auf Pflege angewiesen sind und lungskosten für den ganz und gar überflüssigen Jä- auch schon in der alten Bundesrepublik durch die ger 90 aufgewandt werden soll. Das ist ein schreckli- Maschen des sozialen Netzes fielen. ches Mißverhältnis, vor allem wenn man bedenkt, daß es einerseits um die Planung von Existenzsicherung (Zuruf von der CDU/CSU: Was gab es denn in der ehemaligen DDR dafür?) von Menschen und andererseits um Existenzvernich- tung geht. Bei den Zuschüssen zur Förderung von In diesem Zusammenhang denke ich an die allein- Langzeitarbeitslosen werden sogar 50 Millionen DM erziehenden Frauen und die vielen Rentnerinnen, die gekürzt. im sozialen Sicherungssystem nur völlig unzurei- chend berücksichtigt werden. Die PDS/Linke Liste fordert, daß zumindest der An- satz von 1991 erhalten bleibt und schwerpunktmäßig In der DDR hatten wir z. B. eine Mindestrente. Mittel für die neuen Bundesländer bereitgestellt wer- (Lachen bei der CDU/CSU — Adolf Roth den, wo sich das Problem der Schwervermittelbarkeit [Gießen] [CDU/CSU]: Unglaublich!) aktuell und verschärft stellt, Die Gefahr einer millionenfachen Altersarmut ist (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Es ist längst nicht mehr von der Hand zu weisen. Durch die wirklich schwer vermittelbar, was Sie erzäh zweifelhaften Segnungen des Renten-Überleitungs- len!) gesetzes kommen die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern einer notwendigen Min- und das trotz Ihrer Ankündigung, daß der Erfolg der destsicherung keinen Schritt näher. arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen die Erwartun- gen der kühnsten Optimisten übertreffen werde. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine Un verschämtheit, was Sie da erzählen, und Leider müssen auch in diesem Jahr wieder Milliar- dumm dazu! — Weitere Zurufe von der CDU/ denbeträge zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit CSU) bereitgestellt werden. Daran wird sich auch nichts — Vielleicht könnten Sie wenigstens weiter zuhö- ändern, solange nicht in regional zugeschnittene ren. struktur- und beschäftigungspolitische Konzepte mit Zukunftsperspektive investiert wird. Natürlich ist es Wir, die PDS/Linke Liste, setzen uns darüber hinaus besser, hunderttausende Männer, Frauen und Ju- allerdings generell für eine soziale Grundsicherung gendliche in AB-, Qualifizierungs- und Umschulungs- ein. Mit der Forderung nach sozialer Grundsicherung, maßnahmen oder andere Parkeinrichtungen zu stek- die neben dem System der sozialen Sicherung neue ken, als sie gleich in die Arbeitslosigkeit zu entlas- Wege zur Gestaltung individueller Lebensperspekti- sen. ven eröffnet, wollen wir erreichen, daß die Sozialpoli- tik ihrer Schutz- und Gestaltungsfunktion gerecht Aber welche Zukunftschancen werden ihnen eröff- wird. net? Wo werden sie Dauerarbeitsplätze bekommen, wenn z. B. in einer Stadt wie Cottbus mit 130 000 Ein- (Zuruf von der CDU/CSU: So wie früher mit wohnern in sage und schreibe 700 Maßnahmen der Mauer!) Frauen und Männer, teilweise mit mehreren qualifi- Eine solche Grundsicherung, die zumindest zeit- zierten Berufsabschlüssen, völlig unkoordiniert in weise eine Entkoppelung von Erwerbsarbeit und so- Massen zu Fachverkäuferinnen oder Gebäudereini- zialer Sicherheit ermöglicht, ließe sich unseres Erach- gerinnen und -reinigern umgeschult werden oder in tens durchaus finanzieren, wenn man zu den Milliar- ländlichen Regionen Sachsen-Anhalts hunderte für denaufwendungen für Arbeitslosenhilfe und Sozial- die Landwirtschaft qualifizierte Frauen nun zu Blu- hilfe die enormen Kosten einer aufgeblähten Bürokra- menbinderinnen ausgebildet werden? tie, die über Höhe und Zuteilung der Bezüge entschei- det und nicht zuletzt auch noch die Bedürftigkeit der (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ist das Bezieherinnen und Bezieher erschnüffeln muß, hinzu- schlecht?) rechnet. Es läßt sich absehen, daß hier nur aufgeschoben, was (Zuruf von der CDU/CSU: Vom Schnüffeln auf diese Weise nicht aufgehoben werden kann. verstehen Sie etwas!) Trotz dieser Kritik und den aufgezeigten Unzuläng-- Die erste Voraussetzung zur Realisierung eines sol- lichkeiten sind wir selbstverständlich ganz und gar chen Grundsicherungskonzepts wäre allerdings die dagegen, daß, kaum begonnen, hier schon wieder Streichung der diskriminierenden Bedürftigkeitsprü- gestrichen werden soll. Wir unterstützen daher die lung und der Zumutbarkeitsklausel aus dem Arbeits- Forderung der SPD nach Rücknahme der Kürzungen

förderungsgesetz. von ABM - Mitteln. Viele begonnene Projekte, u. a. Ich denke, zur Überwindung der Zweidrittelgesell- auch im Wissenschaftsbereich, haben bei Kürzung der schaft und einer sich anbahnenden Eindrittelgesell- Förderdauer und der Lohn- und Sachkostenzuschüsse schaft in den neuen Bundesländern sind solche keine Überlebenschance. Schritte unabdingbar notwendig. So schlecht vielerorts die Qualifizierungs- und Um- Meine Damen und Herren, Mittel mit eher gestalte- schulungsmaßnahmen sind: Die Bedingungen der Ar- rischem Charakter der Sozialpolitik sind im Einzel beitsämter in den neuen Bundesländern, ihre räumli- 5226 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Petra Bläss che und personelle Ausstattung sind häufig noch un- Und das, meine Damen und Herren — ich weiß, daß zulänglicher. Sie das nicht gerne hören —, (Zuruf von der CDU/CSU: Waren Sie schon (Julius Louven [CDU/CSU]: Wie viele zu einmal da?) sätzliche Arbeitsplätze?) Ich erinnere hier an den offenen B rief zur Situation des weil wir in dieser Zeit weltweit Hochkonjunktur hat- Berliner Arbeitsamtes 8, zuständig für die Stadtbe- ten und Sie mit der Politik der deutschen Einigung ein zirke Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen. gigantisches nachfrageorientes Wirtschaftsprogramm (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Da sitzen durchgeführt haben. die alten Stasi-Leute! Das Bonzengetto!) (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind doch sonst Wir schließen uns deshalb der Forderung auf Erhö- immer ein so vernünftiger Mensch!) hung der Planstellen in den dortigen Arbeitsämtern an. Meine Damen und Herren, Anspruch und Ergebnis Angesichts der wachsenden Ausländerfeindlich- Ihrer Arbeitsmarktpolitik ebenso wie der von Ihnen zu verantwortenden Gesundheitspolitik lassen bei keit in unserem Land und den sich verstärkenden ras- sistischen Übergriffen auf ausländische Mitbürgerin- leistungsorientierter Beurteilung nur eine Zensur zu: nen und Mitbürger halten wir es für politisch instinkt- Note sechs, setzen! Am besten aussetzen auf den Bän- los und sozial verhängnisvoll, daß ausgerechnet die ken der Opposition. Zuschüsse für die Betreuung ausländischer Arbeit- Meine Damen und Herren, in Ostdeutschland sind nehmerinnen und Familien um 2 Millionen DM ge- seit der deutschen Einigung fast 4 Millionen Arbeits- kürzt werden. Wir fordern die Rücknahme dieser Kür- plätze verlorengegangen. Fast 3 Millionen Menschen zung. sind de facto arbeitslos; denn reguläre Arbeitslose, Die PDS/Linke Liste lehnt die vorgelegten Be- Leute mit Kurzarbeit null, aber auch solche in Um- schlußempfehlungen des Einzelplans 11 ab. Wir se- schulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen haben hen darin keinen Beitrag zu einer sozial gerechteren keine Arbeitsplätze. Für diese Zahlen, Herr Minister, Verteilungs- und Umverteilungspolitik. tragen Sie sicherlich nicht alleine die Verantwortung. Schuld daran, ich sage das — Herr Fuchtel, fuchteln (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Sie nicht so herum — , war der Zusammenbruch des CSU]: Es wäre uns peinlich, wenn Sie zuge Blockregimes und der Wirtschaft der DDR. Schuld stimmt hätten!) daran war aber auch — Vielleicht überlegen Sie sich neue Sprüche, wenn Sie Zurufe machen. Ich halte es nicht unbedingt der (Julius Louven [CDU/CSU]: Die CDU?) Qualität des Bundestages angemessen, was hier im- die wirtschafts- und sozialpolitische Weichenstellung mer zu hören ist. im Rahmen des Einigungsprozesses. Auch das ist ein (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der SPD Faktum. Man hat ja die Arbeitslosigkeit in Kauf ge- — Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Ihre Rede nommen. Ich sage das, denn es ist eine Tatsache. auch nicht!) Daß in diesem Jahr die schlimmen Auswirkungen dieser Maßnahmen durch das volle Ausschöpfen des Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- administrativen arbeitspolitischen Instrumentariums lege Hans Büttner das Wort. ausgeglichen werden konnten durch Kurzarbeiter- geldregelung, Beschäftigungsgesellschaften, Um- schulungsmaßnahmen, haben wir alle gemeinsam Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Frau Präsidentin! — und da schließe ich auch Sie, Herr Minister, mit Meine Damen und Herren! Frau Albowitz hat vorhin ein — getragen. den Satz von Minister Blüm aus seiner ersten Haus- Daß Sie sich jedoch, Herr Minister, angesichts der haltsrede in diesem Jahr wiederholt: Geld entscheidet sich abzeichnenden Arbeitsmarktentwicklung in 1992 noch nicht über die Qualität des Sozialstaats. Ich muß in Koalition und Kabinett nicht haben durchsetzen Ihnen sagen, Herr Minister: Damit haben Sie in der Tat den Nagel auf den Kopf getroffen. können, dieses Instrumentarium wenigstens im Be- reich der Kurzarbeit und des Vorruhestands weiter- Ihr Etat ist der höchste seit Kriegsende. Aber er ist zuführen, zeigt, wie wenig dieser Regierung an einer gleichzeitig der arbeitsmarktpolitische Offenbarungs- wirklich sozialen Einigung, die von den Menschen eid dieser Regierung. getragen wird und von ihnen auch verstanden wird, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des gelegen ist. - Bündnisses 90/GRÜNE — Julius Louven (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Selbst [CDU/CSU]: Der Einstieg ist mißlungen, dafür kriegen Sie von der SPD keinen Beifall! Herr Kollege!) Hören Sie das?) 1983 hat Herr Blüm an dieser Stelle gesagt, er werde innerhalb von wenigen Monaten die damalige Zahl Ich hätte mir gewünscht, Herr Minister, Sie wären in der Arbeitslosen, 1,8 Millionen, auf unter 1 Million dieser Frage ebenso standhaft geblieben wie bei Men- drücken. 1990, acht Jahre danach, haben wir in West- schenrechtsfragen in Chile und Südafrika — dafür deutschland immer noch im Durchschnitt 1,6 Millio- zolle ich Ihnen ausdrücklich Respekt —; denn Millio- nen Arbeitslose. nen Menschen von der Arbeit fernzuhalten (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Und 3 Mil (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wer tut das lionen neue Arbeitsplätze!) denn?) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5227

Hans Büttner (Ingolstadt) und sie damit von der wirtschaftlichen Entwicklung sie bedarfsgerecht für die Arbeitsuchenden und die fernzuhalten, ist auch eine Frage der Menschen- Wirtschaft eingesetzt werden. rechte. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Siegf ried Hornung Ich will Ihnen nur einiges aus Ihren eigenen Stati- [CDU/CSU]: Das machen Sie mit der 35- stiken vortragen: 1974 hatte ein Vermittler in einem Stunden-Woche!) Arbeitsamt ca. 30 Arbeitsuchende zu betreuen. Wis- Vorruhestand und Kurzarbeitergeld schaffen sicher sen Sie, meine Damen und Herren, wie viele Arbeit- noch keine neue Arbeit. Sie sind aber nicht teurer als suchende der gleiche Mitarbeiter 1988 zu betreuen Arbeitslosigkeit pur. Dafür wäre in diesem Haushalt hatte und wie viele er heute zu betreuen hat? auch noch Geld vorhanden gewesen, wenn Sie es nur (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Nen gewollt hätten. nen Sie doch zunächst 1982!) (Zuruf von der CDU/CSU: Geld ist genug — 1982, das sage ich Ihnen auch, waren es 170. 1988 da!) waren es bereits 400, und jetzt sind es über 600 Arbeit- Aber Sie, Herr Minister, haben nicht länger den so- suchende pro Vermittler. zialpolitischen Rückhalt in dieser Koalition, der not- (Widerspruch bei der CDU/CSU) wendig wäre, um solche Programme durchzusetzen. — Das steht in Ihren eigenen Statistiken. — Und im (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der gesamten Bundesgebiet ist die Zahl der Arbeitslosen CDU/CSU) heute dreimal so hoch, Sie sollten auch endlich den Mut haben, dies an dieser (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das Stelle einmal zuzugeben. kann doch nicht stimmen ! — Weitere Zurufe (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ von der CDU/CSU) CSU]: Das ist eine Falschmeldung, Herr Bütt pro Arbeitsuchenden über 400. Lesen Sie das nur ner!) nach, dann werden Sie sich beruhigen. Meine Damen und Herren, Geld entscheidet nicht Wissen Sie, was das bedeutet, wie viele Minuten ein über die Qualität der Sozialpolitik. 46 Milliarden DM Arbeitsvermittler für einen Arbeitsuchenden noch sollen allein im nächsten Jahr für den Arbeitsmarkt Zeit hat? Ost aufgebracht werden. (Zurufe von der CDU/CSU) (Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ CSU]: Sind Sie dagegen?) — Das wollen Sie — ich weiß es — nicht gern hören, weil nämlich die Menschen und Schicksale, die hinter Aber auch diese Zahlen offenbaren bei genauem Hin- diesen Personen stehen, Sie nicht mehr interessieren, sehen die ganze Phantasielosigkeit der Arbeitsmarkt- sondern Sie nur nach den Statistiken heischen. politik dieser Regierung, (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und (Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ dem Bündnis 90/GRÜNE — Karl-Josef Lau CSU]: Wofür sind Sie denn? — Dr. Walter mann [CDU/CSU]: Das war die alte Gewerk Franz Altherr [CDU/CSU]: Ihre illusionäre schaftsklamotte, die kenne ich! — Weitere Phantasie hilft auch nicht weiter!) Zurufe von der CDU/CSU) die sich zum Ziel gesetzt hat, Arbeitslosigkeit zu ver- — Herr Louven, Sie sollten sich besser zurückhal- walten statt, wie im AFG vorgeschrieben, Arbeitsför- ten, derung zu betreiben. (Julius Louven [CDU/CSU]: „Louven" sitzt (Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ hier! Wen meinen Sie denn jetzt?) CSU]: Haben wir doch!) weil eines deutlich wird: Sie lassen es zu, daß Men- Diese verfehlte Zielsetzung hindert Sie nämlich auch schen gesundheitlich Schaden erleiden, weil Sie in daran, neue Wege zu beschreiten. Ich erinnere nur unseren Arbeitsämtern nicht genügend Personal für daran: Die Errichtung der Beschäftigungsgesellschaf- Vermittlung und Betreuung von Arbeitslosen zur Ver- mußte erst gegen Ihren Widerstand und den der ten fügung stellen. Treuhand durchgesetzt werden. Das sind die Tatsa- chen. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und- dem Bündnis 90/GRÜNE — Widerspruch bei (Beifall bei der SPD — Hans Peter Schmitz der CDU/CSU) [Baesweiler] [CDU/CSU]: Das ist Quatsch!) Ich sage Ihnen auch, warum Sie das tun: weil Sie Diese Zielsetzung hindert Sie auch daran, das vorhan- nicht bereit sind, die Menschen zu sehen, die hinter dene Instrumentarium der Umschulung und Weiter- Arbeitslosigkeit stehen. Denn Familien kommen für bildung sinnvoll, qualitativ gut einzusetzen. Wer sol- Sie nur in Sonntagsreden vor, nicht aber in der kon- che Millionenprogramme nur fährt, um eine schönere kreten Politik für die Betroffenen. Statistik vorweisen zu können, aber gleichzeitig der Arbeitsvermittlung das Personal vorenthält, diese Pro- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Herr Bütt gramme auch auf Qualität und Nützlichkeit zu prüfen, ner, wenn Sie schon bei Statistik sind: Wis trägt dazu bei, daß viele Millionen DM in diesem Be- sen Sie, wie viele Arbeitsplätze wir seit 1983 reich von Absahnern mißbraucht werden, anstatt daß geschaffen haben?) 5228 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Hans Büttner (Ingolstadt) — Moment, ich gehe einen Schritt weiter. Sie reden einer Sozialpolitik, die vor allem in Statistiken stattfin- nur davon, wie Sie Arbeitslosigkeit über bürokrati- det, aber die Schicksale der einzelnen ignoriert; einer sche Maßnahmen verwalten. Wir aber tun etwas da- Sozialpolitik, gegen und haben deshalb im Ausschuß für Arbeit und (Julius Louven [CDU/CSU]: Jetzt kommen Sozialordnung 3 500 Stellen mehr für die Bundesan- Sie zu den neu geschaffenen Arbeitsplätzen! stalt für Arbeit gefordert. — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Brin (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Sehr gen Sie doch einmal neue Argumente!) wahrscheinlich finanziert durch den Jä die jegliche Qualität vermissen läßt. ger 90!) Wir lehnen diesen Haushalt ab, weil das gemein- Die Koalition — wie vorher schon die Regierung im same Deutschland Besseres verdient hat. Vorstand der Bundesanstalt — hat dies abgelehnt, (Zuruf von der CDU/CSU: Besseres als Sie weil sie nicht bereit ist, zu erkennen, daß eine quali- allemal!) tativ gute Arbeitsvermittlung — das sagt selbst der Ihnen, der FDP, nahestehende Bundesverband der Ich danke Ihnen. Deutschen Unternehmensberater — für einen Ar- (Beifall bei der der SPD, der PDS/Linke Liste beitslosen viel mehr Zeit braucht als nur wenige Mi- und dem Bündnis 90/GRÜNE) nuten, etwa fünf, pro Tag, die jetzt zur Verfügung ste- hen.

Deswegen sage ich Ihnen: Für Sie ist Arbeitslosig- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat keit nur ein Zahlenspiel, bei dem Sie die Schicksale der Kollege Heinz-Jürgen Kronberg das Wort. der Menschen vergessen. (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das ist unverschämt! — Hans Peter Schmitz [Ba Heinz-Jürgen Kronberg (CDU/CSU): Verehrte Frau esweiler] [CDU/CSU]: Das nehmen Sie zu Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! rück! Sie gehen zu weit!) Was auf dem Gebiet der neuen Bundesländer im Be- reich der Sozialpolitik seit zwei Jahren getan wird, Das dokumentiert auch dieser Haushalt. Diese Regie- trägt diesen Namen zu Recht. rung hat längst aufgegeben, Arbeitslosigkeit zu be- kämpfen oder zu überwinden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Julius Louven [CDU/CSU]: Davon reden Sie Staatliche Sozialpolitik in der DDR war im wesentli- chen Mittel zum Zweck: der maximalen Ausbeutung schon zehn Jahre!) der Arbeitskraft der Bevölkerung. Sie beschränken sich auf die Verwaltung der Arbeits- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) losigkeit. Viele, die sich dem Staat verweigerten oder sich als (Zuruf von der CDU/CSU: Wer beschränkt sozialistische Persönlichkeiten nicht ausreichend dar- ist, merkt man!) stellten, wurden brutal sozial ausgegrenzt Diese Regierung ist gefangen in ihrer Ideologie der (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: So ist Privatisierung der Arbeitslosigkeit und der Privatisie- es!) rung der Arbeitsvermittlung. Das ist der Hintergrund und fielen durchs Netz des sich selbst so hoch loben- Ihrer Politik. den Sozialstaates. Und was Sie Sozialpolitiker angeht, so bedauere Ich kann dies aus meiner eigenen unmittelbaren ich, daß Sie nicht bereit sind, sich da endlich durchzu- Erfahrung sagen. Meine Schwester, deren Mann von setzen. 1975 bis 1978 in politischer Haft saß, war in dieser Weise betroffen. Sie bekam weder Arbeit noch die (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und magere Sozialfürsorge von damals 175 Mark dem Bündnis 90/GRÜNE) (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Sie betreiben das gleiche Konzept wie bei der Privati- sierung des Gesundheitsbereichs und auch des Pfle- zuzüglich 120 Mark für ihre beiden Kinder. gebereichs. (Zuruf von der CDU/CSU: Das war PDS! — Christina Schenk [Bündnis 90/GRÜNE]:- Da (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU], zur hat keiner auf der Straße gestanden!) SPD gewandt: Hat Herr Dreßler ihm die Rede aufgeschrieben? — Helmut Wieczorek [Duis So, Frau Bläss, genau so sah die Realität der angeblich burg] [SPD]: Wir haben alles nur gute „humanen" und „fortschrittlichen" Sozialpolitik des Leute!) real existierenden Sozialismus aus. Ich könnte uns allen eine große Reihe weiterer Beispiele für die unge- Dieser Haushalt ist in quantitativer Hinsicht das rechte Politik der DDR im sozialen Bereich ins Ge- Dokument einer Sozialpolitik, die die Menschen dächtnis rufen, bis hin zu den überhöhten Ehrenpen- längst vergessen hat, für die sie gemacht werden sionen von Staats-, Partei- oder gar auch Stasi-Funk- soll; tionären, die ein Schlag ins Gesicht der Bevölkerung waren. (Julius Louven [CDU/CSU]: Wie oft sagen Sie das jetzt noch, Herr Büttner?) (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5229

Heinz-Jürgen Kronberg Aber ich wollte mit dieser Einleitung nur zeigen, Ihrem Empfinden her als etwas ganz Entsetzliches (Christina Schenk [Bündnis 90/GRÜNE]:.. . bezeichnet haben, bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie keine Ahnung haben!) daß dieses Wort in der letzten Sozialenzyklika des Papstes vorkommt? was für einen Umbruch für die Menschen in den neuen Bundesländern die Erfahrungen eines rechts- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des staatlichen Sozialsystems bedeuten, bei dem der ein- Bündnisses 90/GRÜNE) zelne seinen Rechtsanspruch geltend machen kann und dabei nicht vom Wohlwollen des Staates und sei- ner Funktionäre abhängig ist. In Diskussionen über die Auswirkungen der Sozialpolitik und über die Pla- Heinz-Jürgen Kronberg (CDU/CSU): Ich nehme es nung für die nächsten Jahre sollte dies stets in Erin- zur Kenntnis, Herr Kollege; aber es tut trotzdem der nerung bleiben — auch und gerade in den alten Bun- Wertung keinen Abb ruch. „Humankapital" ist in mei- desländern. nen Augen keine Bezeichnung für Menschen. „Hu- (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!) mankapital" ist in meinen Augen eine Abwertung für Menschen, egal, wer das ausspricht. Der neue Fraktionsvorsitzende der SPD hat gestern sinngemäß davon gesprochen, daß die Bundesregie- (Zurufe von der SPD und Gegenrufe von der rung bei der Gestaltung gleichwertiger Lebensver- CDU/CSU) hältnisse und der wirtschaftlichen Entwicklung in den Meine Damen und Herren, die Wirtschaft in den neuen Bundesländern die Menschen und das von ihm neuen Bundesländern befindet sich — und dies wird so genannte „Humankapital" vernachlässigt habe, noch einige Zeit so bleiben — im Vergleich zum We- (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) sten in einer Umstellungskrise. Aber — und wir soll- wobei der Begriff „Humankapital", lieber Kollege, ten dies so lange betonen, bis es auch dem letzten übrigens so entmenschlichend ist, daß ich ihn gerade Unverbesserlichen klar geworden ist — anzulasten ist in diesem Zusammenhang lieber nicht benutzt diese Wirtschaftssituation nicht der Einführung der hätte. Sozialen Marktwirtschaft, sondern den Fehlern von vierzig Jahren sozialistischer Wirtschaft. Es dauert na- (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der türlich seine Zeit von der Investitionsplanung bis zur SPD) Produktionsaufnahme, bis neue Arbeitsplätze die im Wie auch immer, der Vorwurf ist — ich sage das jetzigen Stadium meist notwendigen Entlassungen in ganz schlicht — so falsch, wie es falscher nicht geht. vollem Umfange auffangen, wobei übrigens die Treu- Ich werde es aber mir und Ihnen ersparen, jetzt hand bei sensiblerem Umgang mit Investitionswilli- jeden einzelnen Haushaltsposten im Bereich des gen deutlich mehr helfen könnte, als dies jetzt der Fall BMA, der Leistungen für den sozialen Bereich in den ist. neuen Bundesländern zum Thema hat, vorzutragen. Im nächsten Jahr werden in den neuen Bundeslän- Damit würde ich, auch wenn ich das tun dürfte, heute dern Wachstumsraten von 5 bis 10 To zu verzeichnen nicht fertig werden. Einige Blicke möchte ich aber sein. Schon heute kann ich in meinem Wahlkreis Wei- doch in den Haushalt werfen. Dabei zeigt sich schnell: mar sehen, daß es wirtschaftlich aufwärts geht. In ei- Die Hilfen sind richtig strukturiert und auch richtig nem Jahr werden alle gemeinsam hier im Deutschen dimensioniert. Bundestag dies bekunden können, sofern sie ehrlich (Beifall bei der CDU/CSU) sind. Die Bundesregierung kommt ihrer Verantwortung für Ich möchte einen weiteren Punkt zur Verdeutli- die neuen Länder nach. chung des Bundesengagements aufzeigen. Knapp die Hälfte des bisherigen Beschäftigungsabbaus in den neuen Ländern konnte durch arbeitsmarktpolitische Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Maßnahmen aufgefangen werden. Der Strukturwan- Kronberg, würden Sie eine Zwischenfrage des Kolle- del in den neuen Ländern wird sozialverträglich ge- gen Schreiner gestatten? staltet. Massive finanzielle Hilfe des Bundes für Um- schulung und Fortbildung, die Gewährung von Ar- beitsbeschaffungsmaßnahmen, Arbeitslosengeld und Heinz-Jürgen Kronberg (CDU/CSU): Nein, es tut Kurzarbeitergeld tragen dazu bei. 1991 gab es fast mir leid; das Konzept ist so eng gefaßt, ich schaffe es 20 Milliarden DM Mehrausgaben bei der Bundesan- eh nicht mit meiner Zeit. stalt für Arbeit bei einem Haushalt von insgesamt 71 Milliarden DM. Dies ist eine Solidaritätsleistung aller deutschen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Diese Zeit wird (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ihnen nicht angerechnet. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]) an die ich hier noch einmal erinnern möchte, weil die Heinz-Jürgen Kronberg (CDU/CSU): Dann bitte. Finanzierung dieser Ausgaben durch Erhöhung der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung um 2,5 gesichert worden ist. Ottmar Schreiner (SPD): Herr Kollege, sind Sie, Das sind natürlich alles Ausgaben, die die Finanz- nachdem Sie soeben das Wort „Humankapital" von lage des Bundes erst einmal belasten. Aber es sind 5230 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Heinz-Jürgen Kronberg auch Investitionen in unsere gemeinsame Zukunft. Juristen. Die Situation mag sich verbessern, wenn die Ich denke, es ist sinnvoll ausgegebenes Geld. neuen Länder ihre eigene Sozialgerichtsbarkeit auf- bauen. Aber auch sie müssen mit den vorhandenen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so oder nicht vorhandenen Kräften arbeiten. wie des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin gen] [FDP]) Rund 310 000 Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern gehören zum Kreise der Anspruchsberech- Ähnliche Leistungen wie im Bereich des Arbeits- tigten der Kriegsopferversorgung. Gerade für ältere marktes kann die Bundesregierung auch im Bereich Menschen in der ehemaligen DDR ist diese neue An- der Renten vorweisen. Seit der deutschen Einigung spruchsmöglichkeit, die ihnen vorher ungerechter am 3. Oktober vorletzten Jahres sind die Ostrenten eise verwehrt wurde, finanziell notwendig. bereits zweimal kräftig angehoben worden. Zum 1. Januar nächsten Jahres wird es eine weitere Erhö- In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf die hung um 11,65 % geben. Leistung der freien Träger eingehen. Der Aufbau 1991 von weit über 700 Sozialstationen der freien (Zuruf von der CDU/CSU: Aber am 1. Juli Wohlfahrtspflege zur Sicherstellung der ambulanten noch einmal!) Versorgung ist eine große Leistung. Sie wurde finan- Mit dieser Erhöhung ergibt sich ein Plus von insge- ziell wesentlich durch die Programme der Bundesre- samt 48 % bei der sogenannten Eckrente. Für den sta- gierung unterstützt, in den letzten beiden Jahren tistischen Durchschnittsrentner bedeutet dies, daß er durch 200 Millionen DM. Auch der Aufbau von über damit Anfang nächsten Jahres 321 DM monatlich 120 Beratungsstellen für schwangere Frauen im Be- mehr im Portemonnaie hat als im letzten Jahr. Vor der reich der neuen Länder wurde vom Bund unterstützt. Vereinigung betrug die gesamte staatliche Mindest- Er trägt 1992 — wie bereits im Vorjahr — über 90 rente 320 Ostmark. der Kosten. Meine Damen und Herren, diese kleine Bilanz, die (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) ich Ihnen hier vorlegen durfte, und der Blick auf die Zum 1. Januar 1992 wird es in Deutschland ein ein- Planungen des Haushalts 1992 beweisen: Sozialpoli- heitliches Rentenrecht geben. Es stellt für alle Rent- tik ist für diese Bundesregierung nicht nur wichtigste ner den Anspruch auf eine lohn- und beitragsbezo- Staatsaufgabe. Das ist selbstverständlich. Insbeson- gene, lebensstandardsichernde und dynamische dere die massiven finanziellen Mittel und die Pro- Rente her. Für die älteren Menschen in den neuen gramme für die neuen Bundesländer zeigen auch den Bundesländern bedeutet dieses einheitliche Renten- Willen und die Kompetenz der Bundesregierung zur recht starke positive Veränderungen. Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. 1992 sollte mit diesen Voraussetzungen unter der Devise (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) stehen: Gemeinsam zuversichtlich handeln! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Die Altersgrenzen des Sechsten Buches Sozialgesetz- buch finden auch für sie Anwendung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Von dieser Angeglichen werden durch das Rentenüberlei- Rede hätte sich Herr Büttner eine Scheibe tungsgsetz ebenso Unfallrenten und Pflegegelder. abschneiden können!) Alle Renten werden unter Berücksichtigung der tat- sächlichen individuellen Entgelte berechnet und ent- sprechend der Nettolöhne und -gehälter angepaßt. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat die Frau Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vorgetragenen Abgeordnete Ch ristina Schenk das Wort. Beispiele sind nur einige von vielen. Aber sie zeigen, daß für den Bereich der Rentenversicherung der (Zuruf von der CDU/CSU: Im Jogging Grundsatz der Gleichwertigkeit der Lebensverhält- anzug!) nisse umgesetzt wurde — auch ein Erfolg der Bemü- hungen aller. Wir haben diese Regelungen im Ausschuß mit gro- Christina Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Frau Präsi- ßer Gemeinsamkeit verabschiedet. Ich darf mich an dentin! Meine Damen und Herren! Seitdem ich hier in dieser Stelle bei allen Ausschußmitgliedern und den der BRD lebe, muß ich mir ständig die Klage über die Mitarbeitern ganz persönlich für die Zusammenarbeit steigenden Sozialausgaben anhören, und immer sind die Ossis schuld oder die deutsche Einheit. bedanken. --w (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich denke, es muß einmal von dieser Stelle aus klar gesagt werden: Die Sozialausgaben steigen nicht von Noch einiges getan werden muß im nächsten Jahr sich aus; praktisch automatisch aus irgendwelchen auf dem Gebiet der Sozialgerichtsbarkeit. Der Haus- geheimnisvollen Mechanismen heraus. Sie steigen im halt 1992 des Bundesministeriums für Arbeit und Sozi- Westen unter anderem deshalb, weil die Indust rie alordnung weist für nächstes Jahr für die personelle eine Wirtschaftsweise betreibt, die immer mehr Men- Unterstützung der Kammern und Senate beim Kreis- schen — und vor allem Frauen — aus dem Erwerbsar- und Bezirksgericht einen Betrag von über 11 Millio- beitsprozeß erbarmungslos ausgrenzt. nen DM aus. Das BMA schätzt, daß die Geschäftsbe- lastung durch die verfügbaren Richter bewältigt wer- (Widerspruch bei der CDU/CSU) den kann. Aber es fehlt noch an Arbeitskräften in der Sie steigen im Osten, weil der Anschluß der DDR die Verwaltung. Es fehlt auch an längerfristig bleibenden Vernichtung Hunderttausender von Arbeitsplätzen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5231

Christina Schenk von Millionen von Arbeitsplätzen bewußt vorpro- gungsverhältnisse" gebaut werden, sondern im Ge grammiert und billigend in Kauf genommen hat. genteil Normalarbeitsverhältnisse abgebaut werden. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei Wie real diese Gefahr ist, zeigt sich heute bereits der PDS/Linke Liste) angesichts der Forderung der Bundesregierung, ABM auf die Bereiche mit besonders hohem Anteil von Es ist schon bezeichnend, daß die strukturelle Er- Frauen an den Beschäftigten zu konzentrieren. Die werbslosigkeit im Westen trotz des einigungsbeding- ten enormen Wirtschaftsbooms nicht beseitigt wurde. Länder und die Kommunen in Ostdeutschland griffen diese Möglichkeit als Mittel der Geldeinsparung Es sind die Ausgrenzungsmechanismen der kapitali- stischen Produktionsweise, die diese hohen Sozialaus- dankbar auf. gaben verursachen. Von den sonstigen sozialen, psy- In Pflegeheimen, auf Sozialstationen, aber vor allem chischen und ökologischen Schäden, die diese Pro- auch in Kinderbetreuungseinrichtungen wurden Dau- duktionsweise verursacht, möchte ich an dieser Stelle erarbeitsplätze in zeitlich befristete Arbeitsplätze um- nicht sprechen. gewandelt. Fehlende Übernahmegarantien nach Ab - (Zuruf von der CDU/CSU) lauf der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kündigen einen massenhaften Abbau von Frauenarbeitsplätzen Mit sogenannten arbeitsmarktpolitischen Maßnah- in diesem Bereich an. men sind diese Probleme nicht in den Griff zu bekom- men, sondern nur mit drastischer Arbeitszeitverkür- Einem staatlichen Programm zur Umwandlung fe- zung, mit Überstundenabbau, mit einer grundlegen- ster Arbeitsverhältnisse in AB-Maßnahmen hat ein den Veränderung in der Verteilung der vorhandenen staatliches Programm zu folgen, das die Finanzierung und der notwendigen Arbeit. der Arbeitsplätze in diesem Bereich nach Ablauf der ABM sichert. Es steht nach wie vor die Forderung Die herrschenden Politiker versuchen, den erwerbs- nach einer anteiligen Finanzierung der Kindereinrich- losen Menschen im Westen einzureden, sie seien sel- tungen durch den Bund, aber hierzu fehlt es der ge- ber schuld an ihrer Misere. Gleichzeitig behaupten genwärtigen Regierung ganz offensichtlich an politi- sie, die Massenarbeitslosigkeit im Osten und die dar- schem Willen oder vielleicht auch an Kreativität und aus resultierende Armut seien ein vorübergehendes Phantasie. Problem. Ein einziger Blick nach Westen, z. B. in die Hoch- Meine Damen und Herren, völlig unter den Tisch zu glanzmetropole München, ist sehr dazu geeignet, die fallen scheint in der Öffentlichkeit das Auslaufen der Ossis vor diesem Irrglauben zu bewahren. Es genügt Sozialzuschlagsregelung bei Arbeitslosigkeit im auch schon ein Blick in die „taz" von heute, in der es Osten. Diese Regelung sei immer nur als Übergangs- schwarz auf weiß steht: Schon 1989 lebte jede zehnte regelung gedacht gewesen, bis die Sozialämter in den Einwohnerin oder jeder zehnte Einwohner Münchens ostdeutschen Bundesländern funktionsfähig seien, er- in Armut. 122 000 Menschen müssen in dieser Stadt fährt man auf Nachfrage bei der Bundesanstalt für mit einem Einkommen von weniger als 530 DM im Arbeit. Auf die Frage, ob dies gewährleistet sei, ver- Monat auskommen. Wohlgemerkt: bei Münchener weist man auf die diesbezügliche Zuständigkeit des Preisen und nicht bei den Preisen Ostdeutschlands. Bundesministeriums für Familie und Senioren. Einen offiziellen Bericht kann man dort auch nicht vorlegen, Nach wie vor — und der Haushaltsplan für das Mi- geht aber dennoch ganz unverblümt davon aus, daß nisterium für Arbeit und Sozialordnung läßt nichts die Sozialämter in der Lage seien, die gesetzlichen anderes vermuten — sind AB - Maßnahmen das ein- Leistungen zu erbringen. zige beschäftigungspolitische Instrument, mit dem die Bundesregierung auf die katastrophale Arbeitsmarkt- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie kann situation in den ostdeutschen Bundesländern rea- geistig gar nicht nachvollziehen, was sie da giert. abliest!) Ein zukunftsweisendes und tragfähiges Programm Es liegen keine Zahlen vor, wieviel Arbeitslose in einer aktiven Arbeitsmarktpolitik ist aus der Haus- den ostdeutschen Bundesländern bislang einen sol- haltsplanung nicht ersichtlich. Wir sind ein weiteres chen Sozialzuschlag bezogen haben. Unbeantwortet Mal in der Situation, die Kritik an der Arbeit der Bun- bleibt daher auch die Frage, welche Relevanz dem desregierung in dieser Frage wiederholen zu müs- bislang gewährten Sozialzuschlag bei Erwerbslosig- sen. keit zukommt, welche Personengruppen in erster Li- - Eine dieser grundlegenden Kritiken richtet sich ge- nie darauf angewiesen waren und zukünftig davon gen die gegenwärtige ABM-Praxis. So wie AB-Maß- profitieren würden. Die genauen und detaillierten Da- nahmen bisher durchgeführt werden, bieten sie zwar ten der Arbeitsmarktsituation liegen vollkommen im der oder dem einzelnen die Möglichkeit, eine akute dunkeln. Situation der Erwerbslosigkeit zu vermeiden, aber Verschleiert werden die zum Teil katastrophalen eben vielfach um den Preis des Einkommensverlustes Folgen für die Lebenssituation von Frauen durch die oder der Dequalifizierung. unzureichend differenzierte statistische Erfassung der Die isolierte Handhabung von ABM, die fehlende Arbeitsmarktsituation. Daß mittlerweile 61 % aller Er- Koppelung der ABM an Strukturentwicklungspro- werbslosen Frauen sind, wissen wir. Es fehlen aber gramme birgt die Gefahr, daß mit ABM nicht — wie es jegliche Aussagen über den Anteil alleinerziehender im sogenannten Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost Frauen an den Erwerbslosen sowie über die Dauer der formuliert ist — „Brücken in dauerhafte Beschäfti Erwerbslosigkeit. 5232 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Christina Schenk Erforderlich wäre der Ausweis, wieviel Frauen in sich Frauen dieser Verantwortung nach wie vor nicht welcher Höhe Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe entzogen haben. bzw. Sozialhilfe bekommen. Dementsprechend sind Meine Damen und Herren, christliche oder auch im Haushaltsplan der Bundesanstalt für Arbeit Mittel nichtchristliche Politiker sprechen insbesondere im bereitzustellen, die die umgehende Erfassung der Ge- Zusammenhang mit der deutschen Einheit gerne vom nannten und ähnlicher statistischer Angaben gewähr- Teilen. Die Frage ist nur: Wer soll eigentlich teilen? leistet, die für die wissenschaftliche und vor allen Din- Die Unternehmer, deren jährliche Nettoeinkommen gen für die politische Arbeit unerläßlich sind; aber 1990 im Vergleich zu 1982 um 32 Milliarden DM ge- offensichtlich bedarf man deren nicht. stiegen sind, oder die, die bereits jetzt am Rande des In Kenntnis der unzureichenden Datensituation ist Existenzminimums leben? Letztere Variante ist nun es dann skandalös, wenn Institutionen, die auf dem leider keine Erfindung von mir. In der Arbeits- und Gebiet der ehemaligen DDR die Sammlung und Aus- Sozialministerkonferenz wurden kürzlich Überlegun- wertung statistischen Mate rials leisten könnten, ge- gen angestellt, die Mehrbedarfszuschläge für be- genwärtig abgewickelt werden. Statt dessen ist es er- stimmte Sozialhilfegruppen zu kürzen. Begründung: forderlich, ausreichend Mittel zur Verfügung zu stel- die hohen Kosten der deutschen Einheit. len, um in den ostdeutschen Bundesländern ein Netz Die Mehrheit der Abgeordneten dieses Bundestags sozialwissenschaftlicher Einrichtungen zu konzipie- hat im übrigen kürzlich demonst riert, was Sie unter ren und aufzubauen, das Vorhandenes integ riert und Teilen verstehen: Sie haben sich eine Diätenerhöhung Defizite durch Neugründung beseitigt. um 4,6 % genehmigt und sich dabei nicht geniert, dies mit der 5,8prozentigen Anhebung der Sozialhilfe- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Haben Sie regelsätze von Juni dieses Jahres in Verbindung zu bis hierher einen Satz verstanden?) bringen. Der kleine Unterschied besteht bloß da rin: Meine Damen und Herren, in bezug auf die Pflege- Die Diäten wurden um 786 DM angehoben, während versicherung muß befürchtet werden, daß dieses Pro- der Sozialhilferegelsatz nach der Anhebung von Juni blem ein weiteres Mal verschleppt wird, d. h., daß es um ganze 26 DM stieg. Tausende und aber Tausende in dieser Legislaturpe riode nicht zu einer Lösung von Rentnerinnen und Rentnern haben ein Einkom- kommt. Mit dem immer wiederkehrenden Argument men, das niedriger ist als die Summe, um die die Diä- einer nicht mehr tragfähigen Steigerung der sozialen ten der MdBs erhöht wurde. Kosten wird auf Privatisierung des sozialen Risikos In der DDR mußte das Volk ebenfalls mit knirschen- gesetzt. den Zähnen zusehen, wie sich die Oberen bedienten. Heiner Geißler ist da schon wesentlich realistischer. Dort nannte man das Sozialismus; hier wird das De- In einer Presseerklärung, vor einer Woche erschienen, mokratie genannt. veröffentlichte er kürzlich Eckdaten, die deutlich er- (Julius Louven [CDU/CSU]: Das ist aber kennen lassen, daß von einer Überlastung der Unter- schon ein Unterschied! — Hans-Gerd Strube nehmen infolge der Sozialkosten nicht die Rede sein [CDU/CSU]: Absolute Dummheit! — Weitere kann. Vielmehr erfreuen sich diese glänzender Bilan- Zurufe von der CDU/CSU) zen. Der Anteil der Bruttoeinkommen aus Unterneh- Ich muß Ihnen ehrlich sagen: Ich sehe mich außer- mertätigkeit am Volkseinkommen und die Unterneh- stande, diese Sache mit dem im Parlament üblichen mergewinne selbst sind seit 1982 kontinuierlich und Wortschatz zu beschreiben. kräftig gestiegen. Auch die Nettoquote der Einkom- men aus Unternehmertätigkeit und Vermögen hat ei- Aus den genannten und auch aus vielen anderen nen historischen Höchststand erreicht. Im internatio- Gründen werden wir den Einzelplan 11 ablehnen. nalen Vergleich liegt die Bundesrepublik bezüglich (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der des Anteils der Bruttoeinkommen aus Unternehmer- PDS/Linke Liste — Siegfried Hornung [CDU/ tätigkeit weit vorn. Die Lohnkostenbelastung ist in CSU]: Sie haben gelogen!) den 80er Jahren gesunken, dagegen ist die Soziallei- stungsquote seit 1982 kontinuierlich abgesenkt wor- den. Wäre sie auf dem Niveau von 1982 geblieben, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächstes hat hätten 1990 volle 95 Milliarden DM mehr Soziallei- das Wort die Kollegin Dr. Gisela Babel. stungen ausgegeben werden können. Damit hätten die Leistungen für die Pflege üppig finanziert werden können. Dr. Gisela Babel (FDP): Frau Präsidentin! Meine (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Damen und Herren! Sozialpolitik im Rahmen der Abgeordneten der PDS/Linke Liste) Haushaltsdebatte erörtern heißt nicht nur, über Ver- teilung von Geld zu reden; es muß auch über Grund- Die hartnäckige Weigerung der Arbeitgeber — auf sätze der Sozialpolitik, über die Wechselwirkung zwi- politischer Ebene durch die FDP sekundiert — , eine schen sozialen Maßnahmen und dem Wirtschafts- Pflegeversicherung einzuführen, läßt sich also mit geschehen gesprochen werden. Ein weiter Blickwin- dem Argument nicht mehr tragbarer Steigerung der kel tut not. Lohnkosten nicht begründen. Aber natürlich ist es bil- liger, wenn alles so bleibt, wie es ist: wenn der größte Beispiel: das sozialpolitisch außerordentlich wich- Teil der Pflegearbeit weiterhin von Frauen unentgelt- tige Thema einer Pflegeversicherung. — Wir stehen lich oder für ein Taschengeld erbracht wird. Es muß ja hier vor einer Weichenstellung deutscher Sozial-, klar gesagt werden: Die Lösung des Problems konnte Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. nur deswegen so lange hinausgezögert werden, weil (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5233

Dr. Gisela Babel Der Weg, den der Bundesarbeitsminister Norbert dazu, die empfindliche Pflanze Pflegeversicherung Blüm aufzeigt, nimmt seinen Ausgangspunkt in fol- bei diesem widrigen Klima lieber gar nicht erst ein- gendem Satz: Wer sein Leben lang gearbeitet hat, soll pflanzen zu wollen. — Meine Damen und Herren, das im Alter nicht durch Pflegebedürftigkeit zum Sozial- ist nicht Meinung der FDP. Die FDP will die Pflege- hilfefall werden. — Da sind wir uns sicherlich einig. versicherung, (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der (Beifall bei Abgeordneten der FDP — Zuruf SPD — Zuruf von der SPD: Da hat er von der CDU/CSU: Sehr beruhigend!) recht!) aber sie sieht nicht ein, daß wir alle mit geschlossenen — Beifall signalisiert Zustimmung. Augen in die verkehrte Richtung laufen müssen. Jetzt wird gefolgert: Also Versicherungspflicht (Zuruf von der FDP: Genauso ist es! — Zuruf — da sind wir noch dabei — , gesetzliche Krankenver- von der CDU/CSU: Das will keiner!) sicherung — da sind wir schon dagegen —, Eine Sozialversicherungslösung ist nicht zwingend. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist sehr Mit unserem Vorschlag eines Kapitaldeckungsver- schade!) fahrens haben wir den Weg gezeigt, wie auch Erträge also Umlageverfahren, also Anhebung der Lohn- aus dem Kapital die späteren Lasten mittragen kön- nebenkosten, also neuer Generationenvertrag; nen. Langfristig wird sich unser Modell als das bessere erweisen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: So sieht (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Wir das auch die FDP in der Pfalz!) werden demnächst rechnen, Frau Dr. Babel; dann werden wir sehen, daß das nicht das Ganze gewickelt in das Seidenpapier der Solida- geht!) rität. Die Union schreibt treuherzig dazu, das dürfe aber nicht zu weiterer Belastung der Wirtschaft oder Der Vorschlag der FDP zielt auf eigene Anstrengun- zur Steigerung der Lohnnebenkosten führen. gen zur Vorsorge gegen das Risiko der Pflegebedürf- tigkeit. Wir wollen einen neuen Generationenvertrag (Zurufe von der CDU/CSU: Fragen Sie mal vermeiden. Warum, wo er doch so vorteilhaft für uns die FDP Rheinland-Pfalz! — Verrennen Sie ist, die heute Lebenden, eine vergleichsweise große sich mal nicht!) Zahl von Erwerbstätigen — 29 Millionen dank unse- Meine Damen und Herren, bis zur Stunde liegt rer guten Wirtschaftspolitik — gegenüber einer ver- nichts auf dem Tisch, was dieser Hoffnung Nahrung gleichsweise kleinen Zahl von Pflegebedürftigen? gibt. Dieses günstige Verhältnis wird ja erst später, wenn die heute im Bundestag entscheidenden Abgeordne- (Zurufe von der SPD: Doch! — Zuruf von der ten ein biblisches Alter erreicht haben, umkippen. CDU/CSU: Der Turmbau zu Babel!) Dann werden weniger Erwerbstätige für mehr Pflege- Alle bisher diskutierten Kompensationen sind laut fälle zu sorgen haben. Sachverständigenrat der Konzertierten Aktion im Ge- Die FDP lehnt das ab. Wir wollen diesen Vertrag zu sundheitswesen unwirksam. Lasten der nachkommenden Generation nicht. Wir Bei den Sozialversicherungen brauchen wir ja heute hinterlassen schon genug Hypotheken im Umweltbe- schon alle Kräfte, um den dramatischen Kostenanstieg reich und im sozialen Bereich. Wir können nicht stän- zu bremsen. Von 20 Milliarden DM spricht die Deut- dig und immer mehr auf Kosten der Zukunft leben. sche Bundesbank, (Beifall bei der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU: Deswegen müs Deswegen kommt von uns der Satz: Jede Genera- sen wir Festbeträge machen!) tion sorgt für sich selber in dem Sinne: Die Generation die in den nächsten Jahren von der Sozialversiche- hat die Pflicht, Vorsorge zu treffen. rung zusätzlich aufgebracht werden müssen. Folge: (Beifall bei der FDP) Entweder Einschnitte im Leistungsbereich oder hand- Wenn dies als Rückkehr zur sozialpolitischen Eiszeit feste Erhöhungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, meine Damen und Herren! stigmatisiert wird, ist das ebenso plakativ wie falsch. Im Gegenteil: Der Egoismus ist eher in einem Modell (Zuruf von der CDU/CSU: Frau Dr. Babel, ausgeprägt, das die Lasten bewußt und eindeutig auf da, auf der anderen Seite, sitzt der Geg die nächsten 20, 30 Jahre verschiebt. - ner!) (Beifall bei der FDP) Wer kann dann noch ernsthaft davon sprechen, die als Vergessen wir doch eines nicht: Der Grund, warum harmlos eingestuften weiteren Beitragspunkte seien das demographische Risiko auszugleichen? so groß ist, liegt darin, daß heute zu wenig Kinder geboren und erzogen wer- (Zuruf von der SPD) den. Wer lebt denn auf Kosten anderer? — Derselbe — Das ist nicht ideologisch verknöchert. Das ist ohne Artikelschreiber, der Herr Bundesarbeitsminister, realen Ansatz, den Sie allerdings schon längst aus schreibt den bemerkenswerten Satz: Alterseinsam- dem Blick verloren haben, weil Sie sich nur auf den keit ist die späte Bescherung für die junge Selbstver- Menschen und auf sonst gar nichts konzentrieren. wirklichung ohne Solidarität. Kein Wunder, daß sich die Warnsignale aus der Der Vorwurf mangelnder Zukunftsorge trifft aber Wirtschaft mehren. Das verleitet ja manchen schon — das will ich hier eindringlich sagen — nicht die 5234 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Gisela Babel heute alte Generation. Auch hier wird polemisch ver- Wie das mit sozialen Gesichtspunkten in Übereinstim- dreht. Für sie gilt der Satz: „Jeder sorgt für sich selbst" mung zu bringen ist, müssen Sie der deutschen Öf- aus zwei Gründen nicht: Erstens können sie keine fentlichkeit erklären. Vorsorge treiben, zweitens haben sie, auch was das (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Aufziehen von Kindern anlangt, große Lebensleistun- Bündnis 90/GRÜNE) gen vollbracht. Ich will es ja nicht vorwegnehmen. Den Spaß wollen Die Solidarität — an dieser Stelle gebrauche ich den wir uns nicht nehmen lassen, daß uns die FDP vor- Begriff — verpflichtet uns, Lösungen zu finden, die rechnet, wie hoch der Subventionsbedarf bei ihrem das Schicksal ihrer Pflegebedürftigkeit für sie leichter Modell ist, wie hoch der Subventionsbedarf ist, wenn ertragbar macht. man auf den Einheitsbeitrag von 40 DM herunterkom- Aber das für uns Liberale Entscheidende ist und men will. Rechnerisch müßte der Beitrag ja bei bleibt: Die Generation, die heute noch hinlänglich 104 DM liegen. Ich bin gespannt auf die Rechnung, Vorsorge treffen kann, soll dazu verpflichtet werden. bin gespannt darauf, wieviel Milliarden an Subventio- Das ist der steinige Weg der FDP. Er vermeidet besser nen es kostet, um einen Einheitsbeitrag von 40 DM die Gefahren für die deutsche Wirtschaft heute, und er möglich zu machen. Im übrigen müssen Sie dann auch vermeidet die Gefahr für Bürger und Bürgerinnen noch diejenigen subventionieren, die die 40 DM nicht morgen. zahlen können. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch keine (Beifall bei der SPD) Frage des Alters!) Da wir, unsere Koalition, den Subventionsabbau als Er vermeidet vor allem — letzter Satz — die quälen- ein wichtiges Ziel betrachten, den Diskussionen über die Kostenexplosion und ihre (Unruhe bei der SPD) mögliche Eindämmung in dieser neuen Sozialversi- ist das ein Vorschlag auf der Gegenfahrbahn unserer cherung. Absichten. Das ist sozialpolitische Geisterfahrerei. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und beim Bündnis 90/GRÜNE) der CDU/CSU — Heribert Scharrenbroich Ich hatte es nicht vor; aber wenn es so vorgetragen [CDU/CSU]: Sie hat vergessen, daß dieses wird, dann verlangt es der Respekt, daß darauf geant- Modell ungefähr 40 Milliarden DM an Bei wortet wird. — Bitte, Frau Babel. trägen kostet!)

Dr. Gisela Babel (FDP): Herr Bundesarbeitsminister, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Mini- es ist sicherlich guter Brauch in einer Parlamentsde- ster für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm, batte, daß sich jeder das Passende und hübsch das Wort. Schmückende aussucht. Wenn Sie jetzt schon die FDP angreifen, dann antworten Sie ihr bitte liebevoll doch darauf, wie Sie denn nun bei den jetzigen Daten ohne Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und irgendeine Änderung der Lohnnebenkosten Ihr Mo- Sozialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und dell durchsetzen wollen. Herren! Ich hatte eigentlich nicht vor, über die Pfle- zu reden. Aber meine verehrte Kolle- geversicherung Bundesminister für Arbeit und gin Babel verdient, daß auf ihre Rede geantwortet Dr. Norbert Blüm, Sozialordnung: Erstens werden wir keinen Einheits- wird. beitrag machen, sondern wir schlagen einkommens- (Manfred Reimann [SPD]: Jetzt wird sie auf abhängige Beiträge vor, wie es der Geschichte der geklärt!) Sozialpolitik entspricht. Sehr verehrte Frau Kollegin Liebe Frau Kollegin Babel, ich kenne kein Privat- Babel, es gab keinen Sozialminister vor mir, der mehr versicherungsmodell, ob Pflicht oder freiwillig, das zur Entlastung der Lohnnebenkosten beigetragen der älteren Generation zumutbare Beiträge abver- hat, und deshalb können Sie bei mir darauf vertrauen, langt. Ich kenne keines. Ich kenne auch kein Privat- daß wir durchaus in der Lage sind, auch dieses Pro- versicherungsmodell, das den Altfällen blem zu lösen. (Zuruf von der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) — ganz ruhig, keine Aufregung, ich komme noch Ich möchte ein paar Beispiele nennen: Soziallast- dazu — ein befriedigendes Angebot an sozialer Absi- quote 1982 32 %, Soziallastquote 1991 rund 29 %. — cherung gibt. Hätten wir noch die Soziallastquote des Jahres 1982, so müßten allein im Jahre 1990 95 Milliarden DM Sie antworten mit dem originellen Vorschlag, einen mehr gezahlt werden. Die Pflegeversicherung macht Einheitsbeitrag einzuführen. Das ist in der Geschichte nur ein Viertel dessen aus, was wir durch Senkung der unseres Sozialstaates eine Uraufführung. Ein einkom- Soziallastquote in unserer Regierung erreicht haben. mensunabhängiger Einheitsbeitrag kann ja nur be- Dieses Verdienst „Entlastung der Versicherten" lasse deuten, daß die Niedrigverdienenden mehr Beitrag ich mir von niemandem nehmen, zahlen müssen, damit die Höherverdienenden entla- stet werden. Sonst gibt es keinen Grund für einen Ein- (Beifall bei der CDU/CSU) heitsbeitrag. noch nicht einmal von der FDP. (Zuruf von der SPD: So ist es!) (Zuruf von der SPD und der FDP) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5235

Bundesminister Dr. Norbert Blüm — Von niemand! Ich bin es langsam leid, Eine Senkung der Soziallastquote in dem Maße gab (Zuruf von der SPD: Wir auch!) es vorher noch nicht, und wir haben damit die Bei- tragszahler entlastet. daß Bonn die Klagemauer ist und man vor Ort nichts macht. Deshalb verdient die Kollegin Hasselfeldt Un- Da darf ich dann gleich die zweite Frage aufneh- terstützung auf dem weiteren Weg der Kostenentla- men. Sie, Herr Diller, haben mich außerhalb meines stung. Geländes angesprochen — hier sitzt ja schon meine verehrte Kollegin Hasselfeldt — und haben die Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sundheitsreform zur größten Superpleite erklärt. Dar- Ich will ausdrücklich noch die Ausländerbeauf- auf antworte ich Ihnen mit einer Preisfrage: Unter tragte begrüßen. welchem Arbeitsminister ist die Krankenversicherung in drei Jahren um genau 53 Milliarden DM entlastet (Beifall bei der FDP) worden? Sie arbeitet unter dem Dach des Einzelplans 11 bzw. (Zurufe von der SPD) des Arbeitsministers. Ich bin ganz sicher, daß wir in Erster Preis: Ein Tag im Arbeitsministerium. guter Zusammenrbeit die wichtige Aufgabe, für un- sere ausländischen Arbeitnehmer zu sorgen, gemein- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so sam bewältigen werden. Deshalb bitte ich das ganze wie bei Abgeordneten der FDP) Parlament um die Unterstützung für die Ausländerbe- Ich will auch noch eine Hilfe geben, weil ich be- auftragte. fürchte, der Kollege Diller wird nicht auf den Namen kommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Heiterkeit) Karl Diller [SPD]: Wer unterstützt Sie?) Es war in den Jahren 1989, 1990 und 1991. Vorher — Sie reizen mich. Ich komme gar nicht zu meiner stiegen die Beiträge in der gesetzlichen Krankenver- Rede. Dann noch einmal zum Kollegen Diller. Das ver- sicherung Jahr für Jahr um 0,5 % bis 0,6 %. langt ja der Respekt vor dem Berichterstatter. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Von Er kritisiert heute die Finanzierung des Renten- 1982 an!) überleitungsgesetzes. Nachdem er die Verbesserun- gen des Rentenüberleitungsgesetzes für die SPD mo- 1988 hatten wir einen Beitragssatz von 12,9 %. Hätten nopolisiert hat, kritisiert er anschließend die Bezah- wir mit dem Gesundheits-Reformgesetz nicht gehan- lung. Sie haben aber beidem zugestimmt, Herr Diller. delt, wären wir 1991 bei 14,5 % angekommen. Inzwi- Sie haben nicht nur den Verbesserungen zugestimmt, schen haben wir aber einen Satz von 12,2 %. Der Un- sondern auch der Bezahlung. Wie nenne ich denn terschied allein 1991 beträgt 2,3 %. Das wären 32 Mil- einen Mann, der das Bier austrinkt und dann über die liarden DM, wenn nichts geschehen wäre. In den Jah- Bezahlung schimpft? Sie müssen also zahlen. ren davor, 1989 und 1990, war der Entlastungseffekt mit 21 Milliarden DM kleiner. Das macht in drei Jah- (Ina Albowitz [FDP]: Einen Nassauer!) ren insgesamt 53 Milliarden DM aus. — Einen Nassauer. Jetzt frage ich Sie noch einmal, Herr Diller — Sie Wenn wir schon beim Abräumen sind: Liebe Frau können den Preis gewinnen — : Wer war es? Kollegin Bläss, der liebe Gott und die Wähler mögen (Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU sowie uns davor beschützen, daß die Mindestrente der DDR bei Abgeordneten der FDP — Ina Albowitz wieder eingeführt wird. [FDP]: Herr Minister, Hauptgewinn oder (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Trostpreis?) — Ich gebe zu, es ist ein Trostpreis. Sie betrug 330 Mark. Der liebe Gott soll uns davor bewahren! Das waren 1990 40 DM über dem Die Kollegin Hasselfeldt verdient die Unterstützung Existenzminimum, über dem Fürsorgesatz. aller; (Beifall bei der CDU/CSU) (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Hört! Hört!) denn der Teil, der durch die Gesundheitsreform ge- setzlich beschlossen wurde, ist durchgeführt. Der Teil, Das preisen Sie hier als sozialen Fortschritt. Ich den die Selbstverwaltung zu praktizieren hat, ist nicht möchte nur hoffen, daß das, was Sie sagen, nie- Wirk- durchgesetzt. Festbetrag, Richtgrößen, Wirtschaft- lichkeit wird. Dafür werden wir sorgen! lichkeitsprüfungen, Transparenz (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Kranken Ich klage mit dem Kollegen Diller darüber, daß die häuser!) Kriegsopferrenten — das Gesetz ist seit 1. Januar in — auch Krankenhäuser — , neue Vorschläge des Kraft — so zögerlich, so schleppend ausgezahlt wer- Sachverständigenrates, Bonus-Malus-Systeme, das den. Das halte ich wie Sie für eine sozialpolitische kann man alles machen. Das steht im Gesundheits Rücksichtslosigkeit; denn ein Gesetz ist nur etwas Reformgesetz mit Experimentierklausel. Kein Arbeit- wert, wenn es bei den Menschen ankommt. Deshalb geber, der das gegenüber dem Gesetzgeber verlangt dränge ich mit Ihnen, daß die Versorgungsverwaltun- hat, hat das in der Selbstverwaltung bisher gemacht. gen in den neuen Bundesländern schneller arbeiten, Da hätte er es nämlich machen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 5236 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Bundesminister Dr. Norbert Blüm nur, denke ich, Kollege Diller, gemeinsam. Wir kön- — Laßt uns doch unseren Respekt vor dem Selbstbe- nen uns die Arbeit ein bißchen teilen. Sie übernehmen hauptungswillen dieser Bürger und vor ihrer Initiative Brandenburg, und ich übernehme die anderen Län- übereinstimmend bekunden. der. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Heiterkeit) Zuruf von der SPD: Da sind wir doch einer In Brandenburg sind von 45 881 Anträgen 16 053 Meinung!) bearbeitet. Also Arbeitsteilung: Sie wenden sich an Es wird jetzt gesagt, wir ließen unsere Landsleute Stolpe und meine Freundin Hildebrandt, und ich ma- dort im Stich. Auch der Kollege Diller hat hier gesagt, che dann den Rest. Laßt uns das in der Tat gemeinsam wir bauten die Arbeitsmarktpolitik ab. Ich kann ihm machen; denn es ist unser gemeinsames Anliegen, schon mit der Mathematik nicht folgen: 1991 waren es daß die Kriegsopfer — das ist eine Generation, die 25 Milliarden DM für aktive Arbeitsmarktpolitik Ost. über Jahrzehnte benachteiligt wurde — bald in den Nachweislich des Haushalts, den wir heute verab- Genuß ihres Geldes kommen. schieden, werden es im nächsten Jahr 35 Milliarden (Karl Diller [SPD]: Wo es angenehm ist, da DM sein. 35 Milliarden sind doch mehr als 25 Milliar- geht es mit Gemeinsamkeit! Sie haben die den! Statt 7,7 Milliarden DM für Fortbildung und Um- Verantwortung!) schulung im Jahr 1991 werden es 1992 11 Milliarden DM sein. Statt 5,2 Milliarden DM für Arbeitsbeschaf- Zur Sache selber. Liebe Kolleginnen und Kollegen, fungsmaßnahmen werden es im nächsten Jahr 10 Mil- ich wollte heute hier im Bundestag eigentlich noch liarden DM sein. Wieso kann man dann mehr zu weni- einmal darlegen, welche großen Anpassungsleistun- ger erklären? Wir tanzen hier doch keinen Ball para- gen die Bürger in den neuen Bundesländern vollbrin- dox! Es ist 1992 doch mehr! Sie können das kritisieren, gen. Ich glaube, daß viele Westdeutsche die Härte und aber Sie können nicht sagen, es sei weniger. die Tiefe des Strukturwandels nicht ermessen. Es ist Richtig ist auch — das gebe ich zu; das hat Frau ja auch eine Welturaufführung, aus einer sozialisti- Albowitz schon gesagt — , daß Arbeitsbeschaffungs- schen Funktionärsgesellschaft eine Gesellschaft freier maßnahmen eine Brücke sind und daß wir nicht die Bürger zu schaffen. Es ist eine unvergleichbare Lei- ganzen neuen Bundesländer zu einer einzigen Brücke stung, aus einer staatlich verwalteten Wirtschaft in machen können. Deshalb glaube auch ich, daß wir mit eine Soziale Marktwirtschaft umzusteigen. Das ist der Zahl von 400 000 ABM-Plätzen Ende des Jahres vergleichbar mit dem Versuch, zwei Güterzüge wäh- eine Höhe erreicht haben, wo die Gefahr besteht, daß rend der Fahrt aneinanderzukoppeln. die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen den normalen Ich möchte auf eine weitere große Leistung auf- Arbeitsmarkt verdrängen. Diese Gefahr muß gesehen merksam machen. Was ist denn geschehen? Von 1990 werden. Wir wollen aus der alten sozialistischen Plan- bis 1992 — das ist hier schon gesagt worden —fallen wirtschaft doch nicht eine einzigartige ABM-Gesell- in den neuen Bundesländern 3 Millionen Arbeits- schaft machen. Das kann doch nicht unser Ziel sein. plätze weg. Wissen Sie, was das bedeutet? Das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) damit vergleichbar, als würden in Westdeutschland 10 Millionen Arbeitsplätze in einem Zeitraum von Zu Qualifizierung. Freilich muß darauf geachtet zwei bis drei Jahren wegfallen. Da muß ich meinen werden, daß Qualifizierung ihren Sinn erfüllt. Es han- großen Respekt vor dem Selbstbehauptungswillen delt sich dabei nicht um eine Beschäftigungstherapie, dieser Gesellschaft ausdrücken; denn in der Arbeits- sondern es handelt sich um eine sinnvolle Vorberei- losenstatistik erscheint dieser Strukturwandel, diese tung zur Wiedereingliederung in das Erwerbsleben. Belastung nur ungenügend. Ein Teil pendelt, ein Teil Kurzarbeit null. Die Kurzarbeit null haben wir als ist gewandert, und mit unserer Arbeitsmarktpolitik Notmaßnahme organisiert, um den Dammbruch zu verhindern wir die Arbeitslosigkeit von 2 Millionen verhindern. Aber Kurzarbeit null auf Dauer halte ich Menschen. für einen Etikettenschwindel. Dann muß man das Kind beim Namen nennen: Das ist Ich möchte meinen Respekt auch deshalb zum Aus- Arbeitslosigkeit. Deshalb kann die Sonderregelung nicht so wie bisher druck bringen, weil auch bei den Bürgern in den weiterlaufen. neuen Ländern Engagement festzustellen ist: 900 000 Bürger in den neuen Bundesländern haben seit An- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und fang dieses Jahres Fortbildungs - und Umschulungs- der FDP sowie bei der SPD und dem Bündnis maßnahmen in Anspruch genommen. Sie sind nicht 90/GRÜNE) auf ihrem Kanapee sitzen geblieben; sie haben die Ich denke, man kann Probleme nur lösen, wenn- man Initiative ergriffen. Auch hierzu wieder einen Ver- sie beim Namen nennt. Kurzarbeit null ist schon ein gleich: Das ist ungefähr so, als würden in West- Gegensatz in sich: Das ist Arbeitslosigkeit. Dann muß deutschland zehn Millionen Arbeitsplätze wegfallen man es auch so nennen. und drei Millionen Arbeitnehmer würden innerhalb eines Jahres in Fortbildung und Umschulung eintre- (Zuruf von der SPD: Das haben wir doch im ten. Das erfordert doch auch eine ungeheure Initia- mer gesagt!) tive. Ich will noch ganz kurz zu den Renten kommen. 348 000 befinden sich in Arbeitsbeschaffungsmaß- Auch hier möchte ich betonen: Ich schließe mich dem nahmen; auch diese sind nicht sitzengeblieben, son- an, was hier gesagt wurde. Am längsten haben die dern aktiv geworden. Rentner gelitten. Das ist die Generation, die zwei Weltkriege oder zumindest einen Weltkrieg, Hitler, (Zuruf von der SPD) die Nachkriegsjahre und die SED-Herrschaft miter- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5237

Bundesminister Dr. Norbert Blüm lebt hat. Deshalb hat sie einen Anspruch darauf, als ich, symptomatisch für den Stellenwert, den diese erste die Verbesserungen zu spüren. Die Renten wer- Koalition der Gesundheitspolitik zumißt. den zum 1. Januar 1992 seit der Sozialunion im Durch- Noch schlechter allerdings kommen die Frauen schnitt um 90 % gestiegen sein. weg. Die Beratungen zum Geschäftsbereich für (Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker) Frauen und Jugend finden noch später statt, d. h. zu Infolge der Rentenüberleitung ist der Auszahlungs- einem Zeitpunkt, bei dem ich sicher bin, daß kein betrag allerdings anders. Bei einigen wird die Rente Mensch im Plenum mehr zuhören wird. um weniger als 11,65 % steigen, bei vielen aber um (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Der Staats mehr. Die durchschnittliche Erhöhung beträgt bei den sekretär macht das!) Männern 16 % und bei den Frauen 21 %. Das hängt damit zusammen, daß die Hinterbliebenenversor- Noch etwas ist verräterisch. Wenn ich mir die nack- gung durch die Übernahme unseres Hinterbliebenen ten Zahlen des Einzelplans 15 ansehe, verstärkt sich rechtes 900 000 Witwen in den neuen Bundesländern meine Einschätzung eine Erhöhung ihrer Rente um durchschnittlich (Zurufe von der CDU/CSU) 240 DM gewährt. 150 000 ältere Mitbürger werden zum erstenmal überhaupt in den Genuß einer Wit- — das stört mich nicht; das bin ich vom letzten Mal wenrente kommen. gewöhnt; aber rechnen Sie nicht damit, daß ich auf jeden Zwischenruf eingehe —; denn das Finanzvolu- Meine Damen und Herren, ich will, weil über die men dieses Haushalts für 1992 ist im Vergleich zu den soziale Sicherheit und ihren Zustand geredet wurde, Ansätzen für 1991 um satte 10 % gesunken, aber nicht sagen: Wir haben die niedrigsten Rentenversiche- etwa, wie naive Gemüter denken könnten, weil wir rungsbeiträge seit 1973 und die höchsten Rücklagen alle gesünder geworden sind. seit 1976. Es besteht überhaupt kein Grund zur Ver- unsicherung. Wir haben eine solide Politik gemacht, Wenn mir jetzt einer mit der Bemerkung kommt und von diesem soliden Fundament aus arbeiten wir „Das ist doch gut so, ihr von der SPD redet doch dau- weiter. ernd von Verschuldungsorgien, eure Finanzmatadore wollen doch strengste und sparsamste Haushaltsfüh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung, Subventionsabbau usw. ", dann kann ich als ty- pische Haushälterin nur sagen: Okay, das ist in Ord- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- nung; ich bin ja als Mitglied im Haushaltsausschuß für ten Damen und Herren, wir sind damit am Ende der eine solche Haltung bekannt. Aber dann müssen, bitte Beratungen des Geschäftsbereichs des Bundesmini- schön, in ausgewogener Weise Einsparungen in allen sters für Arbeit und Sozialordnung. Ich schließe die Einzelplänen erfolgen. Heute lese ich nämlich in der Aussprache. „Süddeutschen Zeitung", daß statt der geplanten 5 Milliarden DM nur ganze Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Subventionsabbau 67 Millionen zusammengekommen sind. Kläglich, Einzelplan 11 in der Ausschußfassung? — Wer stimmt kläglich, Herr Möllemann, kann ich da nur sagen. dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der Einzel- plan 11 ist damit in der Ausschußfassung mit den (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: Das Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen ist eine Fehlmeldung! Schon längst demen der SPD-Fraktion und der Gruppen Bündnis 90/ tiert!) GRÜNE und PDS/Linke Liste angenommen. Es gibt ganz andere Einzelpläne als ausgerechnet den Einzelplan 15, bei denen Einsparungen sinnvoller Ich rufe auf: und wichtiger wären. Meine Damen und Herren von Einzelplan 15 der Koalition, die SPD hat dazu im Rahmen der Haus- haltsberatungen zur Genüge Vorschläge unterbreitet. Geschäftsbereich des Bundesministers für Ge- Ich will nicht den Jäger 90 strapazieren. In Abwei- sundheit chung davon möchte ich im Einzelplan 14 — Bundes- — Drucksachen 12/1415, 12/1600 — minister der Verteidigung — das Volumen für Be- Berichterstattung: schaffungen und beim Einzelplan 30 — Bundesmini- Abgeordnete Arnulf Kriedner ster für Forschung und Technologie — die bemannte Uta Titze Raumfahrt nennen. Ich frage mich sowieso, wieso es Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) nicht „befraute" Raumfahrt heißt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,- die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre die Schwerpunkte sowohl bei den Ausgaben als auch und sehe keinen Widerspruch. bei den Einsparungen machen den Unterschied zwi- schen Ihrer und unserer Politik aus; dieser Unter- Ich erteile unserer Kollegin Titze das Wort. Uta schied macht das Profil unserer Politik erst deutlich. Unter diesem Aspekt gibt es beim Einzelplan 15 eine Uta Titze (SPD) : Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe ganze Menge zu sagen. Kolleginnen und Kollegen! Herr Blüm — er ist schon Allerdings, die zuständige Ministerin äußert sich wieder weg — hat mich wie beim letzten Mal nicht sehr sparsam. Entweder überlegt sie laut, um dann enttäuscht. Es ist ein Genuß, seiner Darstellung zu ganz schnell die eigenen Pläne zu dementieren, so- lauschen. Zum politischen Inhalt sage ich nichts. bald die Reaktionen von Presse, Medien und Bevölke- Heute abend ist es genauso wie bei der letzten Bera- rung nicht so ausfallen wie erwartet, oder — noch tung des Einzelplans 15 schon dunkel. Das ist, meine schlauer — sie läßt andere laut denken, um anschlie- 5238 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Uta Titze Bend zu verbreiten: Das kommt nicht aus meinem heitliche Aufklärung rechtfertigen, wenn Sie nicht an Haus, das ist nicht abgesprochen. Vernunft und Aufklärung glaubten? Was, bitte, sollen die von einigen Koalitionspoliti- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ kern geäußerten Pläne, denen zufolge eine soge- GRÜNE) nannte Gesundheitsabgabe in Höhe von 10 % des Noch eines: Wenn in allen Ressorts so streng, wie im Verkaufspreises für Süßigkeiten, Alkohol und Ziga- Gesundheitsbereich verlangt wird, nach dem Verur- retten erhoben werden soll? Eine Schote aus den letz- sacherprinzip vorgegangen würde, dann hätten wir ten Tagen. Bedeutet das etwa eine Steuer auf Gum- bald paradiesische Verhältnisse. Wir hätten saubere mibärchen — die haben sehr wenig Süße — oder, Luft, sauberes Trinkwasser, sauberes Badewasser, alt- ganz aktuell, auf Dresdner Stollen oder auf Weih- lastenfreie Böden, also Verhältnisse, die sich — jetzt nachtsmänner aus Schokolade? Das scheint mir wie- hören Sie gut zu — garantiert unmittelbarer auf die der einmal ein Versuchsballon zu sein, Frau Hassel- Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger und damit feldt, dem, kaum ist er in der Luft, wie üblich die Puste — haushaltsrechtlich relevant — auf diesen Einzel- ausgeht. plan auswirken würden, als es die Gesundheitsab- (Helmut Esters [SPD]: Mozartkugeln!) gabe je könnte. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Dann — Mozartkugeln schmecken wenigstens noch. können wir den Einzelplan 15 auch abschaf Was soll die geplante Abgabe auf Ausrüstungsge- fen!) genstände für besonders gefährliche Sportarten Im übrigen, wenn schon nach dem Motto verfahren — genannt sind Skifahren oder Drachenfliegen — be- wird „Wer krank ist, ist selber daran schuld, und der deuten? soll auch entsprechend bezahlen" , dann sollte das doch bitte schön für alle Bereiche gelten. Dann müßte (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer will konsequenterweise auch jeder Bordellbesucher mit das?) einer Sexabgabe Damit kommen wir in den Wald oder auf die Erde, (Wolfgang Lohmann [Lüdenschied] [CDU/ wenn es schiefgeht. Wo wollen Sie bei der Definition CSU] : Wie bitte?) von Gefährlichkeit denn anfangen, und wo wollen Sie aufhören? Etwa bei den Profi-Sportlern? — Sie hören richtig — oder, neutraler ausgedrückt, mit einer Lustabgabe belegt werden. Das ist alles schon angedacht und in der Presse ver- breitet worden. Wir wissen ja alle, daß nicht das Sport- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Frau gerät an sich das Gefährliche ist, sondern der Umgang Kollegin, können Sie das einmal erklären? — damit. Am 27. November 1991, also gestern, wurden Weitere Zurufe von der CDU/CSU — Helmut Sie, Frau Hasselfeldt, in der „Kölnischen Rundschau" Esters [SPD]: Vor allem, wenn die aus Bang wie folgt zitiert: Es sei — jetzt wörtlich — „einleuch- kok kommen! — Weitere Zurufe von der tend, diejenigen, die ihre Gesundheit ganz bewußt" SPD) — das ist eine ungeheure Unterstellung — „zu Lasten — Ich erkläre Ihnen das gleich. Ich komme sofort auf aller Versicherten gefährden, mit einer besonderen den Haushalt zu sprechen. Abgabe zu belasten". Sofern sich ein Bordellbesucher nicht der Methoden (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ des Safer Sex bedient, wird sein Verhalten haushalts- CSU]: Setzen Sie das Zitat bitte fort! Sie hat rechtlich Spätfolgen auf diesen Einzelplan haben, gesagt, daß so etwas nicht in Frage nämlich unter der Titelgruppe „Aids-Bekämpfung". kommt!) Jetzt haben Sie es sicher kapiert. Ich muß sagen, das ist für mich eine besonders er- Wie gesagt, wir von der SPD sind gegen die Ge- schreckende Äußerung, weil in ihr ein ganz bestimm- sundheitsabgabe, weil wir meinen, das ist wieder ein- tes Menschenbild deutlich wird, nämlich das des un- mal Trick 17, um den Bürgern noch mehr aus der mündigen Bürgers, der — in Form von Abgaben — Tasche zu ziehen, als sie sich in diesem Jahr bereits wie ein Kind für unbotmäßiges Verhalten bestraft aus der Tasche haben ziehen lassen müssen. wird; zwar nicht durch den Klaps auf das Hinterteil, (Zustimmung bei der SPD — Wolfgang Loh dafür aber mit dem Griff in den bereits arg strapazier- mann [Lüdenscheid] [CDU/CSU]: Das ist ja ten Geldbeutel. ein Pappkamerad, den Sie hier aufbauen!)- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Die Kernfrage ist und bleibt: Warum eigentlich soll dem Bündnis 90/GRÜNE — Zurufe von der immer nur der Arbeitnehmer Solidaropfer bringen? CDU/CSU) Was tun Sie beispielsweise, Frau Hasselfeldt, um die Forderung der Ärzte abzuwehren, das an die Grund- — Sie Schreihals hier vorne, verteilen Sie die Rollen lohnsumme gekoppelte Gesamthonorar durch Einzel- einmal anders; ich höre auch gern andere Stimmen. leistungsvergütung zu ersetzen? Glauben Sie nicht, Frau Minister, daß Aufklärung (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Nur und Appelle an die Eigen- und Selbstverantwortlich- kein Sozialneid, Frau Kollegin! — Gegenruf keit der Bürger eher erfolgversprechend sind, zumin- des Abg. Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: dest auf längere Zeit gesehen? Wie könnten Sie die Das war der blödeste Zwischenruf des Ta 42 Millionen DM für die Bundeszentrale für gesund ges!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5239

Uta Titze — Ob Sie es glauben oder nicht, aber genau diese heitswesen abgelehnt wurde, und zwar aus sehr gu- Bemerkung habe ich an den Rand meines Manu- tem Grund. skripts geschrieben: Wetten, daß der Sozialneid kommt? Es ist wirklich primitiv. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE) Zur Erinnerung: Der Kollege Kirschner hat eine An- Dabei gäbe es durchaus andere Lösungen. Ich will frage an die Bundesregierung betreffend die ärztli- nur daran erinnern, daß in unserem Gesetzentwurf ein chen und zahnärztlichen Einkommen gestellt. Jetzt dreijähriges Moratorium vorgeschlagen wurde, damit lassen Sie sich die Daten auf der Zunge zergehen. Der man Zeit und Muße hat, den Arzneimittelmarkt neu zu durchschnittliche Reinertrag je Praxisinhaber beträgt ordnen. Auf diesem Gebiet bieten wir durchaus un- 176 500 DM bei niedergelassenen Ärzten und 195 000 sere Hilfe an. DM bei niedergelassenen Zahnärzten. Das sind Zah- len aus dem Jahre 1987. Aber es ist natürlich leichter, unbequeme Entschei- dungen gar nicht zu treffen, z. B. die Entscheidung (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ über den Abbau der Fehlbelegung in den Kranken- CSU]: Vor Steuern! — Dr. Walter Franz Alt häusern, über die bessere Verzahnung der ambulan- herr [CDU/CSU]: Können Sie Einkommen ten mit der stationären Versorgung, über eine wirk- von Gewinn unterscheiden?) same Wirtschaftlichkeitsprüfung bei den Ärzten — Herr Minister Blüm hat dieses Thema auch ange- Dreimal dürfen Sie raten, in welche Richtung sich sprochen — und den Krankenhäusern. Die Erfüllung diese Zahlen seither bewegt haben. Ich wette darauf, dieser Forderungen aber würde das Verhältnis von daß sie nicht nach unten gingen. Kosten und Leistungen zueinander deutlich machen. Das ist für mich eine Grundvoraussetzung, wenn man Wenn ich dann noch realisiere, daß Ärzteeinkom- ernsthaft über eine Kostenreduzierung diskutieren men rund das Vierfache dessen betragen, was ein will. Arbeitnehmer durchschnittlich als verfügbares Ein- kommen nach Hause tragen darf, dann muß ich die (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Gesundheitsabgabe strikt ablehnen. GRÜNE) Von den Pharmakonzernen will ich gar nicht erst (Zustimmung bei der SPD — Dr. Walter reden. Warum müssen denn bei uns in drei Teufels Franz Altherr [CDU/CSU]: Frau Kollegin, Namen Arzneimittelpackungen so groß dimensioniert nennen Sie doch einmal den Netto-Stunden sein, und warum müssen sie so teuer sein? Nirgendwo lohn! Das ist unfair!) in Europa sind Arzneimittel so teuer wie hier; das ist Aber damit nicht genug. Erst am 25. November doch kein Naturgesetz. 1991 beschloß die Koalitionsmehrheit im Vermitt- (Beifall bei der SPD — Dr. Walter Franz lungsausschuß, die Erhöhung der Arzneimittelko- Altherr [CDU/CSU]: Das stimmt doch stenbeteiligung um 15 %, höchstens bis zu 10 DM je nicht!) Arzneimittel, um neun Monate, also auf den 1. Juli 1993, zu verschieben. — Wenn Sie den Mund halten, dann sage ich Ihnen einen Fakt. Ich bin zwar für Zwischenrufe, wenn sie (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Herr witzig und humorvoll sind, aber nicht, wenn sie per- Präsident! Sorgen Sie doch einmal für manent unsachlich sind. Ruhe!) (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Er —Nein, dafür sorge ich schon alleine, Horst. — Das ist macht es immer so!) verständlich; das kann ich als Politikerin ja verstehen. — Der macht das immer so? Dann muß er noch viel Es finden zwischenzeitlich zwei wichtige Wahlen lernen. statt. Das erste Halbjahr 1991 zeigt endgültig, wo es lang- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Frau geht: Die Apotheken — jetzt hören Sie zu — erhöhten Kollegin, sind Sie Numerus-clausus-geschä ihren Umsatz um satte 11%, fast doppelt so stark wie digt? Zu Ihrer Zeit gab es noch keinen!) im Schnitt der vergangenen Jahre. Da ist schon die bescheidene Frage nach dem Solidarbeitrag der Ich bin zusammen mit meiner Fraktion der Meinung, Pharmaindustrie gerechtfertigt. daß die Patienten durch dieses Gesetz doppelt zur (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ - Kasse gebeten werden: zum einen über die Beiträge GRÜNE) zur Krankenversicherung und zum anderen über die Selbstbeteiligung an den Arzneimittelkosten. Frau Hasselfeldt, die Frage ist um so wichtiger, als dem Druck der Pharmakonzerne und deren Lobby Die öffentliche Sachverständigenanhörung zu die- nachzugeben automatisch bedeutet, sich der eigenen sem Thema vor kurzer Zeit im Zusammenhang mit Handlungs- und Gestaltungsspielräume zu berauben; dem Entwurf des Zweiten Gesetzes zur Änderung des das hat natürlich fiskalische und haushaltsrechtliche Fünften Buches Sozialgesetzbuch hat unmißverständ- Relevanz. lich klargemacht — zumindest dem, der zwei Ohren zum Hören und einen Verstand zum Nachdenken (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ hat — , daß das Konzept der Koalition respektive der CSU]: Jetzt kommt es!) Gesundheitsministerin komplett als untaugliche Maß- Besonders hart trifft die Reduzierungen — ich habe nahme zur Begrenzung der Kostenlawine im Gesund vorhin von satten 10 % Rückgang im Haushaltsvolu- 5240 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Uta Titze men gesprochen — das Kapitel „Allgemeine Bewilli- obwohl die Enquete-Kommission des Deutschen Bun- gungen" , und da speziell die Ausgaben für die AIDS- destages bereits genau diese Zuwendung befürwortet Bekämpfung. Sie sanken von 90,8 Millionen DM auf hat, ja den Mehrbedarf an Mitteln sogar auf 60 50 Millionen DM. Von den verbliebenen Restmillio- beziffert hat. nen ist der Löwenanteil, nämlich 29 Millionen DM, für (Beifall bei der SPD) die Aufklärung vorgesehen. Eine Schlußbemerkung zum Thema Aids. Ich erin- Prinzipiell ist nichts gegen Aufklärung einzuwen- nere mich noch, bei der letzten Haushaltsrede schrie den, im Gegenteil. Schließlich haben wir gerade in einer dazwischen: Haben Sie nur Aids auf der Platte? diesem Bereich in Ostdeutschland ein weites Feld zu Ich antwortete: Nein, auch noch andere Themen. beackern. Mich stört aber — und das ist eben Ihre Ab 1. Oktober gelten neue Richtlinien im Zusam- Politik im Gegensatz zu dem, was wir wollen — das menhang mit der Novellierung des BTM-Gesetzes. Verhältnis, nämlich 20 Millionen DM für die Bekämp- Sie gestatten unter bestimmten Auflagen die Abgabe fung und 29 Millionen DM für die Aufklärung. Das von Methadon an Herionsüchtige. Das bedeutet in der kann doch nur bedeuten, daß Ihnen, Frau Hasselfeldt, Konsequenz für Aids-infizierte Drogensüchtige eine - eine zu ver- die Aids-Kranken und HIV Infizierten glatte Verschärfung, da das Methadon-Abkommen nachlässigende Größe geworden sind. keine soziale Indikation mehr erlaubt. Dabei wäre es An dieser Stelle wäre schon zu fragen, warum z. B. lebenswichtig und auch billiger, Drogensüchtigen vor statt der von der Deutschen Aids-Hilfe beantragten Ausbruch einer akuten Krankheit wie Aids die Metha- 7,5 Millionen DM für Aufklärungsmaßnahmen nur don-Substitution zu ermöglichen. 6,9 Millionen DM bewilligt worden sind, obwohl die Aufgaben durch das Beitrittsgebiet deutlich gewach- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sen sind. Aber vielleicht paßt auch der Kreis, den diese Die jüngsten Fehlleistungen des Ministe riums will Deutsche Aids-Hilfe anspricht, nicht so recht in die ich nur in Stichworten nennen: HIV-Test für Ärzte

Vorstellung des Normalbürgers vom Erscheinungs- — eine tolle Schote in diesem Sommer — , HIV - infi- bild „normaler Kranker". Das kann ja sein. ziertes Spenderblut für Bluter — ein Skandal, der sei- In diesem Zusammenhang erinnere ich an die For- tens des Ministeriums und des Bundesgesundheits- derung des Vorsitzenden der CDU/CSU-Arbeits- amtes unter den Tisch gekehrt wird. gruppe „Gesundheit", Paul Hoffacker, eine Mitteler- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und höhung für die Aids-Hilfe — Sie erinnern sich? — aus dem Bündnis 90/GRÜNE) inhaltlichen Gründen — ich kenne nämlich Ihren Brief — abzulehnen. Das ist der größte Arzneimittelskandal in dieser Repu- blik, dessen Aufklärung eine Koalition gemeinsam (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Ich habe verhindert, nämlich Ärzte, Arzneimittelproduzenten, nichts mit Aids zu tun!) Versicherungsfirmen und Bluter-Funktionäre. Das — Das weiß ich. Aber Sie haben gesagt, Sie hätten sich muß einmal gesagt werden. an den Postern gestört. Wer hat Sie denn gebeten, Ihr (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Wohnzimmer oder Ihr Büro damit zu schmücken? GRÜNE) Kein Mensch. Die SPD hat hierzu eine Kleine Anfrage gestellt. Wir (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke sind mordsmäßig gespannt auf deren Beantwortung. Liste) Wir sind darüber betrübt, daß die Vorstellungen zur Die Poster sind sehr dezent und gut. Ich habe sie im Umstrukturierung von Polikliniken in Ostdeutsch- Büro hängen, obwohl ich auch nichts mit Aids zu tun land in integrierte Gesundheitszentren, die wir in die habe. Haushaltsberatungen eingebracht haben, abgelehnt Wenn Aids schon während der IWF-Tagung in wurden. Wir hatten die Etatmittel für 17 Modellein- Bangkok ein Thema war — dargestellt durch den Vor- richtungen erhöhen wollen. trag eines Regierungsmitglieds — , dann verwundert (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das ist es schon, daß hierzulande die Bedeutung von Aids doch Ländersache! Wie können wir das ab offenbar unterschätzt wird. Denn die öffentlichen An- lehnen?) hörungen in diesem Jahr haben klargemacht, daß es an der Aids-Front keine Entwarnung gibt. Im Gegen- — Mit diesem Totschlagargument können Sie immer teil: Aids wird zunehmend eine Krankheit der Hetero- kommen. Die Länder haben auf Grund ständig gestie- - sexuellen, der Frauen und Kinder, nicht nur der gener Aufgaben diese Finanzmittel nicht auch noch in Schwulen und Prostituierten. Deshalb ist die Mittel- der Schatulle. kürzung in unseren Augen kontraproduktiv. Auch in einem dritten Bereich haben wir uns nicht Wir empfinden es als erbärmlich, wie mit Aids- durchsetzen können, nämlich bei der Förderung von Kranken umgegangen wird: daß z. B. die Not der Modellen auf dem Gebiet der psychiatrischen und Aids-Stiftungen „Positiv leben" und der nationalen psychotherapeutischen Versorgung. Diesen Ansatz Aids-Stiftung, die um eine Zuwendung von je 5 Mil- halten wir effektiv für zu gering. lionen DM gebeten haben, nicht gesehen wird. Die- Einer dringenden Klärung bedarf die Etatisierung sem Antrag, den die SPD übernommen hat, wurde von Mitteln für ZEBET. Ich fasse mich kurz: Das ist die nicht entsprochen, „Zentrale Koordinierungs- und Bewertungsstelle für (Dr. Emil Schnell [SPD]: Verantwortungs Ersatz- und Ergänzungsmethoden zu Tierversuchen". los!) In der „Süddeutschen Zeitung" stand neulich ein Be- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5241

Uta Titze richt über eine Tagung in Tutzing, wo selbst von Be- Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. fürwortern von Tierversuchen eindeutig zugegeben (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und wurde, daß die Kernfrage immer noch ungelöst sei, dem Bündnis 90/GRÜNE) nämlich die der Übertragbarkeit der Ergebnisse von Tierversuchen auf Menschen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Wol ten Damen und Herren, nach diesem herzerfrischen- len Sie Menschenversuche, Frau Kollegin? den Beitrag hat nun unser Kollege Arnulf Kriedner das Das wäre stringent logisch!) Wort.

Na bitte, c' est ça. Wenn das so ist, dann können Sie Arnulf Kriedner (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine doch die dritte Stufe von ZEBET etatisieren. sehr verehrten Damen und Herren! Der Vortrag war Vorletzter Punkt: Notprogramm Trinkwasser. Auch sowohl erfrischend wie auch bemerkenswert unsach- hier ist es uns im Prinzip wurscht — auch mir als Haus- lich, was ich von der Kollegin sonst nicht gewohnt bin; hälterin —, ob die verlangten 100 Millionen DM im denn sie hat sich im Haushaltsausschuß und auch bei Einzelplan 15 — Gesundheit — oder im Aufbauwerk den Berichterstattergesprächen einer erfreulichen Ost etatisiert werden. Aber sie müssen etatisiert wer- Sachlichkeit bedient. Aber der Beitrag lag auf der den. Denn Ende des Jahres, Frau Hasselfeldt, müssen Linie — das sage ich auch einmal — der gesamten Sie gegenüber der EG-Kommission einen Bericht über Haushaltsdebatte bisher. Grenzwertüberschreitungen und entsprechende Sa- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sie als nierungswerte vorlegen. Man braucht also kein Pro- Oberlehrer sind gerade genehm!) phet zu sein, um zu wissen, was heraussp ringen — Herr Jungmann, Ihr Beitrag war ja nicht anders als wird. der von mir eben qualifizierte. Letzter Punkt: Jahrelange Bemühungen des Deut- (Beifall bei der CDU/CSU) schen Psoriasis-Bundes sind dahin. Jetzt würde ich Frau Kollegin Titze, wenn Sie ausgerechnet ameri- gut zuhören; denn hier haben wir Haushälter vom kanische Stimmen zitieren, Stimmen aus einem Land, Finanzminister eine dicke Ohrfeige kassiert. Wir ha- wo ein Gesundheitssystem herrscht, das wir wahrhaf- ben im April einstimmig den Beschluß gefaßt, eine tig nicht haben wollen, dann ist das für den Schluß

Clearing - Stelle, genannt INKRA, für einige chroni- einer Rede ganz bestimmt nicht sonderlich gut. sche Krankheiten — Allergien, Herz-Kreislauf-Er- (Beifall bei der CDU/CSU) krankungen, Pso riasis, Diabetis, Osteoporose, Ich will — man soll ja lernfähig sein —, genau den Rheuma usw. — einzurichten. Das Konzept sollte vom Versuch machen, den gestern Größere in der Debatte DIMDI erarbeitet werden. Das haben die gemacht. Sie gemacht haben, nämlich die Polemik in Grenzen zu haben ein Konzept vorgelegt. Was war? Es wurde halten. abgelehnt. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Noch Die Begründung im Berichterstattergespräch war: Größere?) Das Konzept entspricht nicht unserer Vorstellung. Das — Noch Größere. war eine Ohrfeige für den gesamten Haushaltsaus- Frau Kollegin Titze, Sie haben beklagt, daß ausge- schuß. Meine Kritik wurde von meinen Kollegen, von rechnet dieser Etat abgesenkt worden ist. Bloß hätte Ihnen, mitgetragen. Ich erwarte, daß im Jahre 1993 die Wahrheit erzwungen, daß Sie gesagt hätten: Der dieses Problem so gelöst wird, wie wir das beschlossen Haushalt ist deshalb abgesenkt worden, weil Aufga- haben. ben weggefallen sind. Man kann doch nicht einfach Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, das nur sagen, ein Haushalt ist abgesenkt worden — weil reicht, Aufgaben weggefallen sind — , und dann so tun, als ob weniger Geld in der Kasse wäre. Das finde ich nicht (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ ganz fair. Ich könnte Ihnen genau vorrechnen, will es CSU]: Das stimmt! Das reicht wirklich! — aber aus Zeitgründen nicht tun, welche Aufgaben Heiterkeit bei der CDU/CSU — Beifall bei fortgefallen sind und weswegen der Haushalt abge- Abgeordneten der SPD) senkt worden ist. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: So redet um zu begründen, warum wir den Einzelplan 15 ab- man sich immer heraus, wenn man keine lehnen. Die unerledigten Hausaufgaben, Frau Hassel- Sachkenntnis hat!) - feldt, sind die Organisationsreform der Krankenversi- cherung, die modellhafte Erprobung von Personalbe- — Das haben Sie heute schon den ganzen Tag ge- messungskonzepten, Pflegerisiko, Sanierung der ost- tan. deutschen Krankenhäuser usw. Hier gibt es eine ganze Menge zu tun. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Kried- ner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Das Fazit einer US-Studie aus Baltimore von diesem Schwanhold? Jahr ist zu schön, als daß ich Ihnen das nicht gönne zu hören. Dort wurde das Gesundheitssystem von zehn Industrieländern verglichen. Raten Sie einmal, wel- Arnulf Kriedner (CDU/CSU): Natürlich. che Note wir bekommen haben? Ich verrate es nicht. Es hieß nur: Deutschland, ein Pflegefall. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte. 5242 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Ernst Schwanhold (SPD): Herr Kollege, darf ich Ih- den Gesamtansatz für 1992 um 1 Million DM angeho- rer Aussage entnehmen, daß Sie amerikanische Stati- ben hat. stiken und bewertende, vergleichende Urteile ameri- kanischer Institute in Zukunft insgesamt für den Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gleich mit den Gegebenheiten bei uns ablehnen? Der Bund will mit diesem Notprogramm Untersuchun- gen ermöglichen, wohl wissend, daß die Aufgabe ei- gentlich Angelegenheit der Länder ist. Auch hier wurde wieder etwas beim Bund angemahnt, was die Arnulf Kriedner (CDU/CSU): Um Gottes willen, Länder zu tun haben. Daß das die Länder im Osten Herr Kollege. Generell würde ich das nicht tun. Ich nicht so können, ist uns klar. Von den alten Bundes- würde das nur bezogen auf das amerikanische Ge- ländern aber erwarte ich, daß sie ihren Aufgaben ge- sundheitssystem tun; denn das ist ein miserables Sy- recht werden, Frau Kollegin Titze. stem. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ordneten der FDP) Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Auch das Sozialsystem!) Im Bereich der Modellmaßnahmen und des Erfah- rungsaustausches im Beitrittsgebiet ist der geplante Der Haushalt des Gesundheitsministeriums gehört Ansatz um 1,5 Millionen DM auf 8,5 Millionen DM in der Tat nicht zu den umfangreichen Einzeletats. abgesenkt worden. Diese Absenkung hat ihren Grund Aber diese Tatsache steht im Widerspruch zu der Be- darin, daß die Modellmaßnahmen erst anlaufen, der deutung, die Fragen der Gesundheit für jeden einzel- Haushaltsausschuß bei der nächsten Etatberatung er- nen Menschen haben. Ich möchte an dieser Stelle neut mit diesen Themen befassen und sich auch sehr noch einmal betonen — da bin ich mir wahrscheinlich genau ansehen wird, was da geschieht. auch mit der Kollegin Titze einig — , daß die Bedeu- tung der Gesundheitspolitik ein wichtiger Grund ge- Aus diesem Grund sind auch die Verpflichtungser- wesen ist, hierfür ein entsprechendes Ressort einzu- mächtigungen für die Folgejahre zwar in der geplan- richten. Wir sind uns auch einig, daß das Ressort in ten Höhe ausgewiesen; aber wir werden darauf ach- seiner Bedeutung ausgebaut werden muß. Aber das ten, ob das Geld, das dort vorgesehen ist, vernünftig nach einem Jahr als Endprodukt zu verlangen, halte eingesetzt wird. Bisher scheint es so; denn aus diesem ich schon für ein bißchen überbetont. Ansatz werden insbesondere die Krankenhausgesell- schalten der jungen Bundesländer und das Kur- und In diesem Zusammenhang sei mir bereits eine im Bäderwesen, das in diesen Ländern in einem bekla- Haushaltsausschuß vorgetragene Bemerkung gestat- genswerten Zustand war, gefördert. tet: Institute, die aus dem Einzelplan 15 Zuschüsse für ihre Arbeit erhalten, werden häufig auch aus anderen Eine besondere Bedeutung bei den Beratungen Einzeletats bezuschußt. Unter dem Gesichtspunkt der hatte die Übernahme von zwei Instituten der Akade- Haushaltsklarheit und -wahrheit ist ein solches Ver- mie für Landwirtschaftswissenschaften der ehemali- fahren nicht einsichtig. Deshalb unterstreiche ich an gen DDR; ich meine das Institut für bakterielle Tier- dieser Stelle noch einmal den Auftrag des Haushalts- seuchenforschung in Jena sowie das Institut für Vete- ausschusses an die Bundesregierung, diese Fälle für rinär- und Ökomikrobiologie und Immunologie in die Erstellung des Haushaltsplanes 1993 darzustellen Dessau. Das hat Frau Kollegin Titze, wohl in der Eile, und Vorschläge für eine einheitliche Ausweisung der total ausgelassen. entsprechenden Mittel in einem Etat vorzulegen. (Uta Titze [SPD]: Ich kann ja nicht alles nen Die Beratungen für den Haushaltsplan 1992 stan- nen!) den auch im Bereich des Gesundheitswesens unter dem Gesichtspunkt der Einbeziehung der neuen Bun- Diesen beiden Einrichtungen aber kommt eine sehr desländer. Das, Frau Titze, haben Sie total ausgelas- hohe Qualität und ein besonderer Stellenwert auch in sen. Dies ist mir als einem Abgeordneten, der von dort den beiden Städten zu. Ich möchte deshalb hier be- kommt, aber besonders wichtig. Da bisher ein Ab- sonders erwähnen, daß diese Einrichtungen jetzt er- schluß eines Jahresetats für das größere Deutschland halten bleiben und weiter ausgebaut werden sollen, noch nicht vorliegt, sind einzelne Ansätze nach wie meine Damen und Herren. Das ist ein wichtiger An- vor schwer berechenbar. Das gilt insbesondere für sol- satz. che Ansätze, die ausschließlich Vorhaben in den (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Walter neuen Ländern betreffen. Franz Altherr [CDU/CSU]: Das freut uns im - In diesem Zusammenhang möchte ich besonders mens!) auf das Notprogramm Trinkwasser und auf die Mo- Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf ein dellvorhaben und den Erfahrungsaustausch im Ge- Thema eingehen, das mir außerordentlich wesentlich sundheitswesen in den neuen Bundesländern verwei- erscheint, weil es eine Bedeutung in den neuen Län- sen. Hier hatte die Haushaltsrechnung des Jahres dern hat. Ich denke noch an die Kassandra-Rufe, die 1991 zu Beginn der Haushaltsberatungen wenig An- hier bei der Erörterung der Gesundheitspolitik laut haltspunkte für eine Etatfestsetzung geboten. In der geworden sind, als es darum ging, die Polikliniken im Bereinigungssitzung ergaben sich dann deutlichere Osten auf ein normales Gesundheitswesen umzustel- Anhaltspunkte, so daß der Haushaltsausschuß beim len, das von niedergelassenen Ärzten und Zahnärz- Notprogramm Trinkwasser, einer sehr wichtigen An- ten getragen wird. gelegenheit in den neuen Ländern, eine qualifizierte Sperre in Höhe von 2 Millionen DM aufgehoben und (Lachen bei der PDS/Linke Liste) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5243

Arnulf Kriedner —Frau Kollegin Fischer, Ihr Lachen zeigt wahrschein- leicht stören mag, ist dort möglicherweise notwendig. lich ein besonders schlechtes Gewissen in diesem Zu- Deshalb sage ich und rege an, daß wir überprüfen sammenhang. sollten, ob diese Einrichtung nicht aus der projektbe- (Beifall bei der CDU/CSU) zogenen Förderung in eine institutionelle Förderung überführt werden sollte. Ich würde mich dafür aus- Ich kann nur sagen, daß diese Umstellung im gro- sprechen und bitte ganz herzlich, Frau Ministe rin ßen und ganzen gelungen ist und daß die Qualität des Hasselfeldt, dies noch einmal zu prüfen. Wir haben Gesundheitswesens in den neuen Bundesländern das ja schon einmal in einem persönlichen Gespräch durch vernünftige Praxen ganz erheblich angestiegen besprochen. ist. Wer das nicht glauben will, der sehe es sich vor Ort an. Ich habe Gott sei Dank die Erfahrung gemacht; Vizepräsident Helmuth Becker: Kollege Kriedner, das ist eine große und wegweisende Leistung. gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU — Zustimmung Titze? des Abg. Dr. Dieter Thomae [FDP]) Ich kann nur alle die bestärken, die Ärzte und Zahn- Arnulf Kriedner (CDU/CSU): Ja. ärzte und die anderen im Gesundheitswesen Tätigen, die unter schwierigen Umständen diese Leistung in Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Frau Kolle- einer Rekordzeit vollbracht haben. Das ist eine Lei- gin. stung, das ist auch ein hohes Risiko. Deshalb würde ich nur sehr schweren Herzens darangehen, Ärzte Uta Titze (SPD): Herr Kollege Kriedner, sind Sie deswegen zu kritisieren, weil sie einen hohen Umsatz, nicht der Meinung, daß es angesichts der Tatsache, der noch nicht mit einem hohen Einkommen gleich- daß die Anzahl der Aids-Infektionen weiter ansteigt, bedeutend ist, haben. in höchstem Maße unverantwortlich ist, die Förderung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und durch Bundesmittel zurückzufahren mit dem Verweis, der FDP) die Länder seien jetzt dran, bevor man durch Ver- handlungen klar geregelt hat, daß die Länder willens Ich will auf das Thema eingehen, das Frau Kollegin und in der Lage sind, die Finanzierung zu überneh- Titze im besonderen angesprochen hat, nämlich auf men? das Thema Aids. Frau Kollegin Titze, ich stimme mit Ihnen überein: Das Thema ist nicht vom Tisch. Im (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Das war Gegenteil, es gibt ja die Meldung, daß die Zahl der doch besprochen! Das ist doch geregelt!) Aids-Infektionen weiter ansteigt. Arnulf Kriedner (CDU/CSU): Frau Kollegin Titze, (Zuruf von der SPD: Weiß das Frau Hassel ich darf Sie nur daran erinnern, daß diese Frage in feldt?) Gesprächen zwischen dem Bundesgesundheitsmini- — Die weiß das sehr gut. Sie wird dazu auch ganz sterium und den alten Ländern geregelt ist und daß sicher etwas sagen. diese Sache weitergeführt wird. Ich sage an der Stelle nur eines: Es ist natürlich (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Richtig! — unfair, wenn Sie die Absenkung der Mittel, über die Uta Titze [SPD]: Nicht für alle!) sowohl der Gesundheitsausschuß als auch der Haus- —Ich weiß ja, daß es im Saarland und in Bremen ent- haltsausschuß lange debattiert hat, einfach als eine sprechende Schwierigkeiten gibt. Die gibt es dort ja Tatsache hinstellen, obwohl Sie genau wissen, daß die auch an anderer Stelle. Aufgabe weitergeführt wird. Sie wird nur dort weiter- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Paul Hoffak geführt, wo sie hingehört, nämlich bei den Ländern. ker [CDU/CSU]: Und in Nordrhein-Westfa (Beifall bei der CDU/CSU) len! Nur die Sozi-Länder!) Es ist deshalb gerechtfertigt, so zu verfahren, wie hier Ich sage noch einmal: Mir kommt es darauf an, daß verfahren worden ist. die 50 Millionen DM vorwiegend in den neuen Bun- desländern eingesetzt werden, wo es im Bereich Aids (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Ja überhaupt noch keine Einrichtungen gibt, die richtig wohl! — Abg. Frau Uta Titze [SPD] meldet tragen. Ich sage, dafür ist das Geld da. sich zu einer Zwischenfrage) Ich weise in diesem Zusammenhang auf etwas an- —Frau Kollegin Titze, ich gebe Ihnen in einem recht, deres hin. Das war eine Anregung von mir im Haus- und wenn die Zwischenfrage das betreffen sollte, kön- haltsausschuß, der sie Gott sei Dank aufgegriffen- hat. nen Sie sie sich ersparen: Ich halte die Deutsche Wir haben aus den Beschäftigungspositionen beim AIDS - Hilfe in Berlin für eine ganz wichtige Angele- Aidstelefon jetzt feste Stellen machen können. Damit genheit. haben wir diese für die Aidsinformation so wichtige (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Einrichtung als Dauereinrichtung ausweisen können. FDP und der SPD) Das halte ich für einen ganz wichtigen Fortschritt, nachdem es so lange gedauert hat. Ich bin froh und stimme dem zu, daß sie mit Randgrup- pen arbeitet, bei denen der Staat ein schwieriges Ar- (Ute Titze [SPD]: Und die einheitliche Tele beiten hat. Da stimmen wir voll überein. Dort wird fonnummer?) eine hochqualifizierte Arbeit geleistet. Ich habe mir — Auch das wird vielleicht noch zu regeln sein. das vor Ort angesehen. Wissen Sie, ich bin da nicht so Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich pingelig. Irgendein Plakat, das mich persönlich viel möchte zusammenfassen. Die Haushaltsberatungen 5244 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Arnulf Kriedner standen auch im Bereich des Gesundheitswesens un- den Kosten nicht beachtet werden. Da liegen die ei- ter dem Erfordernis der strikten Beachtung der Spar- gentlichen Gründe für die Kostenexplosion. samkeit; das soll hier gar nicht verschwiegen werden. Die FDP ist in ihrer politischen Grundaussage noch Dieses Erfordernis hat an einigen Stellen zweifelsfrei klarer. Sie will eine erhöhte Selbstbeteiligung, z. B. zu Einschränkungen geführt, die jedoch nach meiner 10 % Selbstbeteiligung für Kassenpatienten bei jedem Ansicht die Arbeit des Ministeriums insgesamt nicht Arztbesuch, was ja schon als Morbus Menzel durch beeinträchtigen können; vielmehr sind bei den Bera- die Presse geht und was für uns wahrlich keine Lei- tungen gesundheitspolitische Schwerpunkte gesetzt stung der so oft beschworenen Solidargemeinschaft worden, die eine zielgerichtete Politik auch weiterhin darstellt, da dies natürlich wieder einmal — ich betone gewährleisten. Dies bet rifft besonders die Arbeit in es immer wieder — chronisch Kranke, Alte und auch den neuen Bundesländern und die Fortführung der Behinderte in starkem Maße betrifft. Sie will auch wichtigen und notwendigen Maßnahmen bei der weitere Zuzahlungen sowie die private Risikoversi- Aidsbekämpfung, im Bereich der Krebsbekämp- cherung für den Pflegefall und geht mit Herrn Menzel fungsmaßnahmen, bei den chronisch Kranken und sogar so weit, auch noch die Sondersteuer für Ge- — Frau Kollegin Titze, im Widerspruch zu Ihnen — sunde einführen zu wollen. Ich habe den Verdacht, auch bei der psychiatrischen Versorgung. Der zu be- daß dann wenigstens die Ärzte einen regen Zulauf schließende Haushalt eröffnet damit die Möglichkeit, haben. Bei Kürzungen im Gesundheitsetat um 10,6 % eine moderne und auch zielgerichtete Gesundheits- bei der Vor- und Fürsorgepflicht wollen wir den Staat politik zu betreiben und gleichzeitig die notwendige nicht mehr in die Verantwortung nehmen, was bei Angleichung der Versorgung in den neuen Ländern ausgewählten Krankheiten manchmal auch klappt. zu gewährleisten. Deshalb bitte ich Sie, dem vorge- legten Entwurf zum Einzelplan 15 Ihre Zustimmung Hier möchte ich auch — um es ein bißchen lustig zu zu geben. machen -- auf einen anderen Aspekt in der Aids-Hilfe eingehen. Ich will auf unsere Kleine Anfrage einge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hen, die Großzügigkeit der Bundesregierung darstel- len und den Umgang mit Haushaltsmitteln im Bereich Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- Gesundheit — oder besser: Krankheit — auch einmal ten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Kolle- besonders hervorheben: Nicht nur, daß die Mittel in gin Frau Dr. Ursula Fischer das Wort. bezug auf Aids derart darstisch gesenkt worden sind; es gibt auch noch ein anderes Bonbon. Der Bund stellt nämlich dem Bundesministerium der Verteidigung Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- im Zusammenhang mit Aids 4,4 Millionen DM zur dent! Meine Damen und Herren! Daß die Opposition Verfügung. Im Vergleich dazu erhält die Deutsche den Haushalt ablehnt, gehört zu den Spielregeln. Aids-Hilfe ganze 6,8 Millionen DM. Nun können ja (Zurufe von der CDU/CSU: Ach nein? — die Institutionen wahrlich schlecht miteinander ver- Nicht immer! — Die Regeln kann man än glichen werden. Das sehe ich ein. Aber die Hardthöhe dern!) gibt — bis auf einen Betrag von ca. 50 000 DM — die 4,4 Millionen DM für ambulante und stationäre Be- — Wenn Sie einen besseren Haushalt machen wür- handlung sowie die Diagnostik HIV-positiver und den, würde ich ja sogar zustimmen. — Doch bleibt es Aids-erkrankter Soldaten aus. Die Anzahl der Patien- ihr vorbehalten, bei dieser Gelegenheit Grundsätzli- ten wird mit maximal 35 pro Jahr angegeben. Seit ches zur Regierungspolitik anzumerken. 1985 gab es in der Bundeswehr 168 Fälle. Das sind Frau Hasselfeldt hat in ihrer letzten Rede zum Haus- wahrlich nicht sehr viele. halt sehr richtig und aus unserer Sicht auch sehr schön klar und deutlich gesagt, (Zuruf von der CDU/CSU: Zum Glück!) (Zuruf von der CDU/CSU: Die ist auch Die Deutsche Aids-Hilfe betreut derzeit mehr als gut!) 7 000 HIV-Infizierte und Kranke. Die Behandlungsko- sten werden mit 80 000 bis 100 000 DM pro Patient bei daß der Gesundheitsetat kein Subventionsetat ist und der Bundeswehr veranschlagt. Die mitgeteilten Daten daß es unter dieser Regierung keinen Weg zu staatli- und Zahlen widersprechen leider nur der Information, chen Gesundheitsdiensten geben wird, was schlicht daß die Bundeswehr gar nicht weiß, ob überhaupt die bedeutet, für die Gesundheit, die — übrigens auch für bisher seit 1985 diagnostizierten 168 Fälle noch beim Frau Hasselfeldt — gesundes Leben, gesunde Ernäh- Bund dienen. Ich möchte einmal aus der Antwort des rung, sogar gesunde Arbeit und gesunde Umwelt be- BMVg zitieren: deutet, keine höheren Mittel durch den Bund zur Ver- - fügung zu stellen. Und nicht nur das! Es geht um Ein- Seit Beginn der Aids-Diagnostik in der Bundes- sparungen, Einsparungen, die durch das Gesund- wehr im Jahre 1985 wurden bis zum Stichtag am heits-Reformgesetz — ich betone, durch ein Gesetz — 30. Juni 1991 insgesamt 168 HIV-infizierte und erzielt werden sollen. Da stellt sich doch wohl zu Recht Aids-erkrankte Soldaten diagnostiziert. Wie viele die Frage: Wozu denn eine Kommission bilden, die dieser Infizierten und Erkrankten zur Zeit als Sol- prüfen soll, wo denn nun wirklich Einsparungen im dat Dienst tun, kann nicht gesagt werden, da dem Gesundheitswesen möglich wären? Die bisher erziel- Bundesministerium der Verteidigung wegen des ten Erfolge heißen ja schlicht Umverteilung der Ko- anonymen Meldeverfahrens und der kumulati- sten auf den p rivaten Geldbeutel von Patienten und ven Statistik nicht bekannt ist, welche Soldaten allen Kassenbeitragszahlern. Dies ist wiederum So- dieser Gruppe seit Diagnosestellung aus dem zialabbau für Kranke und Versicherte, wobei die Dienstverhältnis ausgeschieden und welche noch strukturellen Ursachen und Quellen für die ansteigen im Dienstverhältnis stehen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5245

Dr. Ursula Fischer Wer wird eigentlich hier von wem behandelt? Also veränderte Altersstrukturen, im Hinblick auf die Me- noch einmal: dizintechnik und auf mehr Ärzte nennenswerte Bela- (Zuruf von der CDU/CSU: Das unterliegt stungen im Gesundheitswesen erfahren. dem Datenschutz!) Meine Damen und Herren, wer in dieser Situation 4,4 Millionen DM pro Jahr für die Diagnostik und The- dafür plädiert, zumindest über einen begrenzten Zeit- rapie von 35 Patienten pro Jahr beim Bund. Da kann raum hinweg die Beitragssätze einzufrieren oder eine man doch allen HIV-Positiven wirklich nur empfeh- Obergrenze festzulegen, der muß in einem gesund- len, sich freiwillig beim Bund zu bewerben, da nur heitspolitischen Irrweg enden. dort die bessere, auf alle Fälle aber teuerste medizini- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sche Versorgung gewährleistet sein müßte. der CDU/CSU) (Heiterkeit bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Zuruf bei der CDU/CSU: Das ist ja Solange wir nicht gegen die Ursachen der ständigen zynisch, Frau Kollegin!) Kostensteigerungen wirksam angehen, läßt sich der Anstieg nicht vermeiden. Oder soll etwa mit einem — Ja, angesichts dessen kann man nur zynisch wer- Einfrieren der Beiträge gar eine Rationierung der den, Herr Kollege. medizinischen Leistungen immer dann erfolgen, Oder die bereitgestellten Mittel werden eben nicht wenn die vorhandenen Gelder aufgebraucht sind? für die 35 anonym getesteten HIV-positiv Diagnosti- Das kann nicht sein! Dann würden Schlagworte er- zierten ausgegeben. Dann frage ich: Wozu aber dann? scheinen wie „Wartelisten" und „Zwei-Klassen-Me- Welche Forschung wird eventuell unter diesem dizin". Vor allen Dingen würden die sozial-schwa- Posten betrieben? Wir werden wohl zum Wohle aller chen Patienten davon besonders betroffen. Patienten in dieser Bundesrepublik weiter nachfragen müssen, um allen gleichgute Behandlung zukommen Ich sage — und schließe mich daher den Äußerun- zu lassen, nicht nur den eventuellen Patienten bei der gen des Sachverständigenrates an — : Eine gesetzli- Bundeswehr. Wir werden den Haushalt ablehnen. che Festschreibung des Beitragssatzes, also im Grunde ein Lohn- oder Preisstopp, ist ungeeignet, die Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Mengen- und Preisentwicklung in den Griff zu be- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei kommen. Abgeordneten der SPD — Zurufe von der CDU/CSU: Frau Kollegin, alle Patienten ha Meine Damen und Herren, wenn wir nicht endgül- ben die gleiche Behandlung wie bei der Bun tig Schiffbruch erleiden wollen, können wir also nicht deswehr! — Sie kennen das System noch umhin, mutige Schritte zu ergreifen und den Kurs zu nicht!) ändern. Eine nachhaltige Verbesserung der Effizienz in unserem Gesundheitswesen ist möglich. Wir müs- sen sie nur in Angriff nehmen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- ten Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kol- (Beifall der Abg. Uta Titze [SPD]) legen Dr. Dieter Thomae das Wort. Wir müssen vor allen Dingen die Krankenhausreform anpacken. Dr. Dieter Thomae (FDP): Herr Präsident! Meine (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Damen und Herren! Das Defizit in der gesetzlichen bei Abgeordneten der SPD — Zurufe von der Krankenversicherung beträgt 4 bis 5 Milliarden DM. SPD: Wir warten! — Lieber gestern als Dies ist eine Alarmglocke. Wir sollten aber aufhören, heute!) die Situation lauthals zu beklagen. Wir sollten anpak- ken und versuchen, dies zu beseitigen. Wir müssen fernerhin die Organisationsreform an- packen, und — meine Damen und Herren, das sage (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin ich auch — wir wollen auch Anreize in dieses neue gen] [FDP]) System einbauen. Ohne die Gesundheitsreform — dies möchte ich fest- stellen, und das sollten sich auch hier und dort die Leider ist meine Redezeit sehr kurz. Ich kann des- erwachenden Kritiker dieser Reform in ihre Taschen- halb nur Stichworte nennen: Beim Krankenhaus müs- rechner eingeben — wäre dieses Defizit erheblich hö- sen wir von dem pauschalen Pflegesatz weg. Wir müs- her. sen den pauschalen Pflegesatz in drei unterschiedli- che Teile einteilen, und mit diesen drei unterschiedli- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — chen Teilen können wir Wettbewerb zwischen- den Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut! — Ge- Krankenhäusern ermöglichen und Möglichkeiten der nau das ist der Punkt!) Sonderentgelte und der Fallpauschale schaffen. Wir hätten dann die Krankenversicherungsbeiträge schon in diesem Jahr nennenswert erhöhen müssen. Wir wollen mit aller Macht diesen Weg gehen. Wir Nur Dank der Rücklagen aus der Gesundheitsstruk- wollen mehr wirtschaftliche Anreize ins Krankenhaus turreform blieben die Beiträge der gesetzlichen Kran- bringen. Wir wollen auch, daß unwirtschaftliche Kran- kenversicherung stabil und werden es in diesem Jahr kenhäuser, die Verluste machen, eventuell aus dem auch noch weitgehend bleiben. Markt ausscheiden müssen. Wir wollen vor allen Din- gen aber auch, daß Gewinne in den Krankenhäusern Es droht aber die Entwicklung, daß die Ausgaben erwirtschaftet werden und daß diese Gewinne in den schneller steigen als die Einnahmen. Wenn uns also Krankenhäusern investiert werden. nicht zügig eine wirksame Begrenzung des Kostenan- stiegs gelingt, werden wir schon bald im Hinblick auf (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) 5246 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Dieter Thomae Meine Damen und Herren, Sonderentgelte schaffen Diese Ausgabenstruktur belegt, daß unser freiheit- auch die Möglichkeit, Vergleiche zwischen Kranken- liches Gesundheitssystem wirksamer, humaner und haus und ambulanter Versorgung anzustellen. Auch erfolgreicher ist als alle anderen Systeme. hier haben wir eine Chance, nennenswert Gelder ein- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Und zusparen. langlebiger!) (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) Ich will hier schon einmal deutlich machen: In keinem Wir begrüßen natürlich — auch wenn es jetzt unter anderen Land ist die Vorsorge und ist die Versorgung Handlungsdruck geschieht — , daß die Bereitschaft in der Kranken so gut und so umfangreich wie bei unserem Lande wächst, verstärkt über Steuerungsin- uns. strumente der Selbstbeteiligung nachzudenken. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — begrüße die Stellungnahme des Gutachters, und ich Zuruf von der CDU/CSU: Und so sozial! — würde mich freuen, wenn alle Skeptiker, aber auch Gegenruf der Abg. Uta Titze [SPD]: Das Kritiker — auch auf der Regierungsbank — diese Ar- stimmt nicht!) gumente über die Selbstbeteiligung einmal genau Wir haben ein Gesundheitssystem, auf dessen Vor- nachlesen und darüber nachdenken würden, ob diese teile die Bürger der neuen Bundesländer mehr als Steuerungsinstrumente nicht doch eingebaut werden 40 Jahre verzichten mußten. Wir werden dafür sor- können; denn, meine Damen und Herren, ich glaube, gen, daß auch sie jetzt endlich die medizinischen Lei- dann, wenn die Eigenverantwortung nicht gestärkt stungen in der Qualität, auf dem Niveau, in dem Um- wird, werden wir das System nicht in Grenzen halten. fang erhalten, in dem die Menschen im Westen dies Dazu gehören Bonussysteme, Instrumente der Bei- seit Jahr und Tag in Anspruch nehmen konnten. tragsrückgewährung, aber auch Instrumente der Ko- stenerstattung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der FDP) Die Umstrukturierung und Qualitätsverbesserung Meine Damen und Herren, leider läuft meine Rede- in den neuen Ländern ist schneller vorangegangen, zeit ab. Meine Vorredner waren etwas großzügig, ich als dies alle erwartet haben. Ich möchte bei dieser will fair bleiben. Ich bedanke mich, und ich bitte, Gelegenheit allen, die daran beteiligt waren, was diese Gedanken der FDP mit in die Gesundheitsre- nicht einfach war und was nicht nur Aufgabe der Poli- form einzubeziehen. Ich denke, es ist Zeit, es ist not- tik war, allen, den Ärzten, den Apothekern, den Bür- wendig. Packen wir's an! — Vielen Dank.*) gern insgesamt ganz herzlich für den Mut und das Engagement bei dieser Umstrukturierung danken. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsident Helmut Becker: Meine Damen und Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Minister, ge- Herren, ich erteile jetzt der Bundesministerin für Ge- statten Sie eine Zwischenfrage der Frau Dr. Fischer? sundheit, Frau Gerda Hasselfeldt, das Wort. Gerda Hasselfeldt, Bundesministerin für Gesund- Gerda Hasselfeldt, Bundesministerin für Gesund- heit: Bitte. heit: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesundheitsetat 1992 ist der praktische Beweis für ein Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Frau Dr. Fi- seit Jahrzehnten erfolgreiches Gesundheitssystem. scher. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Wir beraten eben nicht über einen staatlichen Sub- Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Frau Minister ventionshaushalt, Frau Fischer! Hasselfeldt, wenn Sie die ganzen Vorteile für die Die Ausgaben konzentrieren sich im wesentlichen neuen Bundesländer so betonen, frage ich Sie an die- ser stelle — Sie haben sicher den „Spiegel" dieser auf Aufklärungsmaßnahmen im Bereich der Gesund- Woche gelesen — : Warum wünschen sich 85 % der heitsvorsorge, auf Modellmaßnahmen für die Menschen im Osten Polikliniken? Psychiatrie, in der Krebsbekämpfung und bei chroni- schen Erkrankungen, auf die Verbesserung der ge- (Zustimmung bei der SPD — Zuruf von der sundheitlichen Versorgung der Bevölkerung in den SPD: Das ist der Punkt!) neuen Ländern und nicht zuletzt auf die Drogen- und Aidsbekämpfung, wobei ich mich — auch dies will ich Gerda Hasselfeldt, Bundesministerin für Gesund- deutlich machen — nachdrücklich dafür einsetze, daß heit: Wenn nach einer seriösen Umfrage mehr als zwei wir unser finanzielles Engagement in diesen Berei- Drittel der Bevölkerung in den neuen Ländern schon chen auch über das Jahr 1994 hinaus fortsetzen wer- vor Monaten bereit waren, zu den niedergelassenen den. Ärzten zu gehen, (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) (Zuruf von der SPD: Ja, weil keine anderen Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß da waren!) dies grundsätzlich eine Aufgabe der Länder ist und dann können Sie deutlich sagen, wo die Prioritäten daß jedes Land in seinem Bereich diese Verantwor- der Menschen liegen, wie sich die Qualitätssituation tung auch wahrnehmen muß. verbessert hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Ursula Fischer [PDS/Linke Liste]: Es gab *) Siehe auch Anlage 3 gar keine andere Möglichkeit!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5247

Bundesministerin Gerda Hasselfeldt Meine Damen und Herren, die insgesamt positive bloßen Erwähnung des Wortes „Wirtschaftlichkeit" in Bilanz darf niemand leichtfertig in Frage stellen. Ich rhetorische Gefechtspositionen einrücken. betone dies deshalb so nachdrücklich, weil die aktu- elle gesundheitspolitische Debatte die wirkliche Lage (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht widerspiegelt und der wirklichen Lage auch Die Bürger können davon ausgehen, daß sie recht- nicht gerecht wird. Es ist Tatsache, daß wir ein flä- zeitig und ausführlich über die notwendigen Maßnah- chendeckendes Netz medizinischer Versorgung von men unterrichtet werden. Aber ich mache auch deut- hoher Qualität haben und daß es niemanden gibt, der lich: Verantwortungslose Falschmeldungen und da- im Krankheitsfall darauf verzichten müßte, daß nie- mit Verunsicherung der Bevölkerung sind keine Mit- mandem notwendige Medikamente vorenthalten tel fairer politischer Entscheidungsfindung. werden, daß keiner von uns, wenn er krank wird, auf sein Gehalt verzichten muß und daß unsere Kranken- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge häuser und medizinischen Praxen in aller Regel tech- ordneten der FDP — Dr. Walter Franz Altherr nisch hervorragend ausgestattet sind. Tatsache ist [CDU/CSU]: Und auch nur wenig geeignet, schließlich auch, daß alle diese Leistungen schlicht der Sache zu dienen!) und einfach über den Krankenschein und nur in weni- Dazu, liebe Frau Kollegin Titze, möchte ich schon gen Fällen mit direkter Selbstbeteiligung finanziert auf das zurückkommen, was Sie vorhin gesagt ha- werden. ben; (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Jeder in unserem Land, egal, ob er jung oder alt ist, denn Sie haben genau das gemacht, was wiederum egal, ob er gut verdient oder wenig verdient, hat glei- mit zur Verunsicherung der Bevölkerung beiträgt. chen Anspruch auf das hohe Niveau dieses Systems Sie haben nämlich nur halb zitiert und den Kernsatz der gesundheitlichen Versorgung. meiner Ausführungen zur Gesundheitsabgabe nicht genannt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Walter Das alles charakterisiert ein Versorgungssystem, Franz Altherr [CDU/CSU]: Unterschlagen das ganz offensichtlich nur der Opposition nicht ge- haben Sie es! — Weiterer Zuruf von der nügt, den Bürgern jedoch nichts vorenthält und des- CDU/CSU: Weggelassen!) halb von vielen ausländischen Experten immer wie- der gelobt wird. Ich werde dies deshalb mit der gebotenen Kürze nach- holen. Ich habe gesagt: Andererseits ist eine allge- (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) meine Gesundheitsabgabe kaum praktikabel und ge- sundheitspolitisch nicht vernünftig; in keinem Fall er- Darauf ist auch vorhin schon zu Recht hingewiesen füllt sie allein das Ziel, die steigenden Gesundheits- worden. ausgaben zu bremsen. Nun will ich nicht verdecken, daß es auch Mängel (Zustimmung bei der CDU/CSU) und auch unerfüllte Wünsche gibt. Vor welchen Schwierigkeiten, vor welchen Problemen wir derzeit Wenn man aus diesen Worten nicht entnehmen kann, stehen, das hat nicht zuletzt der Sachverständigenrat daß ich von diesem ganzen Zinnober nichts, aber auch für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in gar nichts halte, dann, so muß ich sagen, muß man seinem gestern vorgelegten Sondergutachten darge- noch ein bißchen Nachhilfeunterricht nehmen. stellt. Völlig richtig ist zum Beispiel das Urteil der (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Experten, daß ein entscheidender Schlüssel zur Aus- Dieter Thomae [FDP] — Zuruf von der CDU/ gabenstabilisierung in der Begrenzung medizinisch CSU: Vor allem sollte man zumindest zitie nicht begründeter Leistungen liegt. Das ist zugleich ren können!) der Grund, warum die Instrumente der Gesundheits- reform zur Mengenbegrenzung konsequent umge- Daß das Gebot redlicher Argumentation immer wie- setzt werden müssen, insbesondere die Wirtschaft- der ins Hintertreffen gerät, belegt nicht zuletzt die lichkeitsprüfung und die Richtgrößen für ärztlich ver- Opposition. Lassen Sie mich dazu einmal deutlich ma- ordnete Leistungen. Wir können auf diese Maßnah- chen: Angesichts Ihrer Mißerfolge in den 70er Jahren men, die grundsätzlich mit dazu beitragen, die Bei- in der Gesundheitspolitik müßten Sie heute auch und tragssätze — und zwar im Interesse der Versicherten gerade in der Gesundheitspolitik schweigen. Haben und der Arbeitgeber — so lange wie möglich stabil zu Sie denn vergessen, daß sich unter Ihrer Verantwor-- halten, nicht verzichten. tung allein die Ausgaben für die Krankenhauspflege jährlich um bis zu 25 % erhöht haben? All diesen — gewiß nicht leichten — Herausforde- rungen stellen wir uns. Die gesundheitspolitische Ar- ( [CDU/CSU]: Ach, guck beitsgruppe der Koalitionsparteien ist rechtzeitig ins an!) Leben gerufen worden. Wir werden unseren Auftrag Haben Sie denn vergessen, daß sich der Beitragssatz mit aller gebotenen Sorgfalt erfüllen. Daran werden allein zwischen 1971 und 1976 von 8,1 auf 11,3 % uns auch die in den letzten Tagen und Wochen insze- erhöht hat? nierten Störmanöver nicht hindern. Wer glaubt, meine Damen und Herren, diese Arbeit durch Spekulation (Zuruf von der SPD: Haben Sie vergessen, oder durch Indiskretion stören zu können, der wird daß das neun Jahre her ist? — Zuruf von der ebenso scheitern wie diejenigen, die schon bei der CDU/CSU: Wir wissen, daß das weh tut!) 5248 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Bundesministerin Gerda Hasselfeldt — Ich kann ja verstehen, meine Kolleginnen und Kol- gar unmöglich. Warum? — Das hat Ihr sozialpoliti- legen, daß dies zu Unruhe führt. scher Sprecher, der Kollege Dreßler, vor einigen Wo- (Beifall bei der CDU/CSU) chen im „Bericht aus Bonn" persönlich erklärt — ich zitiere — : Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Ministerin, ge- Wir müssen ein Strukturreformkonzept haben, statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirsch- d. h. Strukturen aufbrechen, und das bedeutet ner? auch wettbewerbsähnliche Elemente, nicht den totalen Wettbewerb, aber wettbewerbsähnliche Elemente . . . Gerda Hasselfeldt, Bundesministerin für Gesund- heit: Ja, bitte sehr. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich denke, wir alle können zustimmen, daß selbst bei noch so gutem Willen und noch so genauem Hinhören (SPD): Frau Ministe rin, da Sie nun Klaus Kirschner hier alles andere als irgendeine gesundheitspolitische die angeblichen Erfolge Grundlage zu erkennen ist. Wenn dies Ihr Konzept ist, (Zuruf von der CDU/CSU: Frage!) muß ich sagen: Das sind nichts anderes als Sprechbla- der sogenannten Gesundheitsreform herausstellen sen, wie im übrigen auch das, was in diesen Papieren (Bundesministerin Gerda Hasselfeldt: Ich enthalten ist. habe Ihre Mißerfolge herausgestellt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge und von angeblichen Beitragssenkungen reden, ordneten der FDP) möchte ich Sie doch einmal fragen: Wie weit gehen Auch die Kollegin Titze hat vorhin in ihrem Beitrag diese Beitragssenkungen auf Umschichtungen von ein paar Anregungen gebracht, Anregungen, die aus- der Solidargemeinschaft hin zum Geldbeutel des ein- schließlich, liebe Frau Kollegin, die eine Gruppe im zelnen durch Leistungskürzungen oder durch höhere Gesundheitswesen gegen die andere Gruppe aus- Selbstbeteiligung bei den Versicherten zurück? spielen. Dazu gehört nicht nur nicht viel Phantasie, (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Herr sondern dazu gehört auch ein Stück Glaube an etwas, Kirschner, Sie wissen es doch besser! — Wei was man nicht realisieren kann und was auch unver- terer Zuruf von der CDU/CSU: Sie waren nünftig ist. doch dabei, Herr Kirschner!) Glauben Sie denn im Ernst, daß Sie dadurch, daß Sie eine Gruppe gegen die andere ausspielen, daß Sie Und ist Ihnen entgangen, Frau Ministe rin — das geht ja aus Ihren Pressemeldungen hervor —, daß der ge- der einen Gruppe etwas vorwerfen, wenn Sie bei der setzlichen Krankenversicherung in diesem Jahr ein anderen sind, damit die Situation verbessern können, Defizit von 7 Milliarden DM droht? Können Sie mir die Probleme lösen können? — Ich sage Ihnen: Damit mit Sicherheit nicht. erklären, woher das kommt, wenn ihre Gesundheits- reform angeblich so ein Erfolg ist? Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Minister, ge- statten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Gerda Hasselfeldt, Bundesministerin für Gesund- Dreßler? heit: Erstens, Herr Kollege Kirschner, habe ich gerade nicht von den Erfolgen der Gesundheitsreform ge- sprochen, obwohl da vieles zu sagen wäre, und auch Gerda Hasselfeldt, Bundesministerin für Gesund- nicht von dem, was ich an Beitragssatzsenkungen heit: Ja. noch vorhabe, sondern ich habe von den Mißerfolgen Ihrer Regierungszeit gesprochen. Das war Punkt 1. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Kollege Dreß- ler. (Beifall bei der CDU/CSU) Daß Sie davon gerne durch Ihre Frage ablenken woll- (SPD): Frau Hasselfeldt, nachdem ten, kann ich ja verstehen. Aber trotzdem bleibt die Rudolf Dreßler Sie mich völlig korrekt zitiert haben und der von Ihnen Tatsache bestehen. soeben bereits in die Debatte eingeführte Sachver- Zweitens haben Sie mit Ihrer Frage genau das ge- ständigenrat meine Position in dem Ihnen ja bekann- macht, was ich vorhin der Opposition vorgeworfen ten Gutachten ausdrücklich bestätigt hat, darf ich dar- habe, nämlich durch Fehlinterpretation, durch Halb- aus entnehmen, daß Sie auch dem Sachverständigen- information und durch Halbwahrheiten die Bevölke- rat Sprechblasen vorwerfen? rung wieder verunsichert. - (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei Gerda Hasselfeldt, Bundesministerin für Gesund- der SPD) heit: Lieber Herr Kollege Dreßler, das, was ich zitiert Ich will Ihre sogenannten gesundheitspolitischen habe, mit den Aussagen des Sachverständigenrates Reformvorschläge, die da gelegentlich auftauchen, zu vergleichen, das ist allerdings sehr, sehr weit her- nicht ganz unter den Tisch kehren. geholt. (Uta Titze [SPD]: Als nächstes fragen Sie uns, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) warum wir vor neun Jahren nicht die deut Ich kann es Ihnen noch einmal vorlesen, wenn Sie das sche Einheit vervollkommnet haben!) noch einmal erleben wollen. Allerdings dürfen Sie nicht enttäuscht sein, liebe Kol legin, wenn wir sie nicht in die Tat umsetzen. Das ist, Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie noch offen gesagt, wirklich sehr schwierig, wenn nicht so- eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5249

Gerda Hasselfeldt, Bundesministerin für Gesund- [Nordstrand] [CDU/ heit: Ja. CSU]: Die macht beim Zuhören Fehler!) — Wir lernen das Zuhören auch noch, Frau Titze. Bitte, Kollege Dreß- Vizepräsident Helmuth Becker: (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Gschert!) ler. Keines der vorhandenen aktuellen Probleme darf uns daran hindern, unserem Gesundheitswesen mit Rudolf Dreßler (SPD): Frau Hasselfeldt, darf ich jetzt aus Ihrer Antwort entnehmen, daß Sie bestreiten, daß Stolz zu begegnen. Wir stellen uns den neuen Ent- der Sachverständigenrat die Elemente, von denen wicklungen, den daraus resultierenden Problemen auch ich gesprochen habe, gefordert hat? und den notwendigen Veränderungen. Dabei gilt in jedem Fall eines: Alle Maßnahmen, die zur Eindäm- mung der Ausgabenflut im Gesundheitswesen beitra- Gerda Hasselfeldt, Bundesministerin für Gesund- gen werden, werden drei grundsätzliche Bedingun- heit: So wie Sie das gefordert haben „Strukturen auf- gen erfüllen: brechen, ... das bedeutet auch wettbewerbsähnliche Elemente, nicht den totalen Wettbewerb, aber wettbe- Erstens. Sie werden für alle Leistungserbringer werbsähnliche Elemente ... ", läßt mich das fragen: wirtschaftlich angemessen sein. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Was habt ihr (Zuruf von der SPD: Aha!) denn gegen Wettbewerb?) Zweitens. Sie werden für die Arbeitgeber wirtschaft- Was wollen Sie denn? Wollen Sie Wettbewerb? Wol- lich tragbar sein. len Sie totalen Wettbewerb oder wettbewerbsähnli- che Elemente? Sie eierten hier auf einer Ebene herum, (Zuruf von der SPD: Aha!) auf der nichts Konkretes, aber auch gar nichts Konkre- Drittens. Sie werden für alle Versicherten sozial ver- tes gesagt wurde. träglich sein. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Höher sein als bisher!) Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Minister, ge- — Und schon wieder dieser Einwurf, Herr Vogel. Daß statten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Kollegin bewertet wird, daß interpretiert wird, daß falsch zitiert Titze? — Bitte sehr, Frau Kollegin Titze. wird,

(SPD): Danke. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Höher wer Uta Titze den sie sein!) Frau Hasselfeldt, Sie haben vorhin gesagt, Berner- kungen wie die in meiner Rede geäußerten trägt zur Verunsicherung der Bevölkerung und zu ei- nem schlimmen Klima in unserer politischen Land- (Zuruf von der CDU/CSU: Frage!) schaft bei. — das kommt noch; warten Sie es ab; Sie von der schwarzen Seite sind extrem ungeduldig — würden (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Hans-Jo Unruhe schaffen. Letzte Woche war ich einen Tag chen Vogel [SPD]: Reden Sie doch deutsch: lang beim Bundesgesundheitsamt, beim Deutschen Höher oder niedriger? Klarheit, nicht Rumre Aids-Zentrum und beim RKI-Institut. Auf meine den!) Frage, welche Rechtfertigung es für die Verabrei- Ich möchte den Mitgliedern des Haushaltsaus- chung des HIV-infizierten Blutes an die Bluter gege- schusses für die konstruktive Beratung ganz herzlich gen habe, wurde mir geantwortet: Na ja, wissen Sie, danken. Frau Titze, sonst wären die eben eher gestorben. Hätte man die ohne Blut einfach sterben lassen kön- (Beifall bei der CDU/CSU) nen? Ich frage Sie: Halten Sie das für sinnvoller? Ich darf Sie bitten, die Gesundheitspolitik der Bun- desregierung auch weiterhin zu unterstützen und dem Gerda Hasselfeldt, Bundesministerin für Gesund- Einzelplan 15 zuzustimmen. heit: Liebe Frau Titze, wenn ich Ihnen vorhin gesagt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — habe, daß Sie mit Ihren Äußerungen und Interpreta- Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das geht zu tionen — beispielsweise auch diese Halbzitate aus der weit!) Gesundheitsabgabe — für Unsicherheit in der Bevöl- kerung sorgen, weil Sie nämlich Halbwahrheiten ver- - breiten, dann bitte ich Sie doch, dieses nicht mit der Aids-Problematik zu verbinden Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- (Beifall bei der CDU/CSU) ten Damen und Herren, ich schließe die Ausspra- und schon gar nicht mit Äußerungen von Mitarbeitern che. des Bundesgesundheitsamtes, die hier nicht anwe- Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den send sind und deshalb das, was Sie gesagt haben, Einzelplan 15 in der Ausschußfassung? — Die Gegen- Ihnen weder bestätigen noch dementieren können. So probe! — Stimmenthaltungen? — Der Einzelplan 15 können wir miteinander nicht umgehen. ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen gegen (Beifall bei der CDU/CSU — Uta Titze [SPD]: die Stimmen der SPD-Fraktion, der .Gruppe Bündnis Dann hätten Sie konkreter sagen müssen, 90/GRÜNE sowie der Gruppe PDS/Linke Liste ange- was Sie mit „Unruhe schaffen" meinen! — nommen. 5250 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Vizepräsident Helmuth Becker Meine sehr verehrten Damen und Herren, interfrak- zugeschnittene Verfassung könne auch als ein wichti- tionell ist besprochen worden, daß wir jetzt Tagesord- ges Integrationsinstrument in dieser Übergangszeit nungspunkt VI behandeln. dienen. Ich möchte dazu zwei Bemerkungen machen. Ich rufe Tagesordnungspunkt VI auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Älte- Erstens. Der zeitliche Abstand zur Revolution in der stenrates DDR beträgt mehr als zwei Jahre, und der emotionale Zusammenhang der Verfassungsdiskussion mit die- a) zu dem Antrag der Fraktion der SPD sem umwälzenden Ereignis verliert sich im Bewußt- Weiterentwicklung des Grundgesetzes zur sein der Menschen. Die Probleme des Tages beherr- Verfassung für das geeinte Deutschland schen das Denken. Die aktuellen Nöte des Alltags — Einsetzung eines Verfassungsrates — können wir mit einer Verfassungsänderung nicht lö- b) zu dem Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE sen. Eine gute Verfassung bestimmt die Grundsätze GRÜNEN der gesellschaftlichen Ordnung verbindlich und dau- erhaft. Sie ist nicht der Ort, wo Antworten auf aktuelle Vom Grundgesetz zur gesamtdeutschen Problemlagen detailliert gegeben werden. Dafür ha- Verfassung ben wir die einfache Gesetzgebung. Die Überwin- — Einrichtung und Aufgaben eines Verf as- dung der 40jährigen Trennung, die mitten durch un- sungsrates — ser Volk und die Familien ging, ist eine gewaltige c) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ Aufgabe. Ich glaube aber nicht, daß wir die Verfas- CSU und FDP sung zu einem vorübergehend gebrauchten Hilfsmit- — Einsetzung eines Gemeinsamen Verfas- tel für den Vollzug der inneren Einheit machen kön- sungsausschusses — nen und sollten. — Drucksachen 12/415, 12/563, 12/567, Zweitens. Man hat immer vom provisorischen Cha- 12/787, 12/1590 — rakter des Grundgesetzes gesprochen und auf seine Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der Präambel und Schlußbestimmung hingewiesen. Wir CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 12/1670 können heute feststellen: Für seinen Regelungsgehalt vor. gilt dieser provisorische Charakter nicht. Auch nach Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dem säkularen Ereignis der deutschen Einheit unter die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich höre dem Dach des Grundgesetzes ist keine Verfassungs- und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so be- not entstanden. Es sind nach der Wiedervereinigung schlossen. keine Regelungsdefizite sichtbar geworden, die zu einer grundlegenden Reform drängten. Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner er- teile ich unserem Kollegen Dr. Paul Laufs das Wort. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Die Legitimität des Grundgesetzes als Verfassung Dr. Paul Laufs (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine für ganz Deutschland steht außer Zweifel. Dies ist Damen und Herren! Wir beraten zum zweiten Mal die wahrlich bemerkenswert. Die tragenden Prinzipien Einsetzung eines gemeinsamen Ausschusses von des Grundgesetzes sind gerade durch den Umbruch Bundestag und Bundesrat zur Prüfung von Verfas- im Osten hin zu Bürgerfreiheit, Bürgerrechten und sungsänderungen. Wir sind in der Pflicht, den Auftrag parlamentarischer Demokratie auf eindrucksvolle des Einigungsvertrages zu erfüllen, der in seinem Weise bestätigt worden. Der Ruf „Wir sind das Volk! " Art. 5 den gesetzgebenden Körperschaften des verei- richtete sich gegen den Stasi-Terror und den Unter- nigten Deutschland empfiehlt, sich innerhalb von drückungsstaat DDR. Die Mütter und Väter unseres zwei Jahren mit den im Zusammenhang mit der deut- Grundgesetzes als Überlebende der NS-Schreckens schen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung eit haben aus gleichartiger Erfahrung gerade die oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen. Rechte des einzelnen als einklagbare Freiheits- und Mehr als ein Jahr ist inzwischen verstrichen, und es ist Abwehrrechte gegen die Staatsmacht in aller Klarheit Zeit, diese Aufgabe endlich anzupacken. ausgestaltet. Nun, wo es um die wirkliche Einheit der Deutschland hat seine volle Souveränität wiederge- unterschiedlich geprägten Teile geht: Auch die Ein- wonnen, und seine Einbindung in eine Europäische heitlichkeit der Lebensverhältnisse in ganz Deutsch- Politische Union und in eine neugestaltete Sicher- land ist bereits ein wichtiges Verfassungsgebot des heits- und Friedensordnung der Völker bedarf der Grundgesetzes. -z verfassungsrechtlichen Anpassung unseres Grundge- setzes. Hier sehen wir einen Schwerpunkt unseres (Beifall bei der CDU/CSU) Auftrags. Worin sollte denn die Notwendigkeit zur grundle- Die deutsche Wiedervereinigung hat die Verfas- genden Änderung bestehen? Ich habe bis heute nicht sungsdiskussion in Gang gesetzt. Dabei war der Blick gehört, daß unser Grundgesetz den Prozeß des Zu- vor allem auf die innere Lage gerichtet. Nach dem sammenwachsens zur wirklichen Einheit behindern Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaftsord- würde und daß Verfassungsprobleme notwendig be- nung im Osten kam bei vielen Menschen der Ge- seitigt werden müßten. Gewiß gibt es gewichtige Än- danke auf, diesem Umbruch müsse ein Neuanfang derungsvorschläge zur föderalen Struktur, zur Staats- folgen, für den eine neue deutsche Verfassung für die organsiation oder zur Einführung von Staatszielbe- innere Friedensordnung im zusammenwachsenden stimmungen. Es gibt aber keine zwingenden Revi- Deutschland zu schaffen sei. Die auf die neue Lage sionsanlässe. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5251

Dr. Paul Laufs Unser Grundgesetz enthält einen ausgewogenen Ich danke Ihnen. Ausgleich zwischen Freiheit und Pflichten, Eigentum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Sozialbindungen, Mitwirkungsmöglichkeiten und Repräsentation des Menschen. Es ist die Grund- lage unseres Lebens in Freiheit, Sicherheit und Wohl- stand, ist kurz und knapp, wie schon Bismarck es für Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und eine gute Verfassung gefordert hat, und damit flexibel Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Hans und offen für neue Entwicklungen. Es wird gelebt und Jochen Vogel das Wort. hat sich bewährt. Es ist also Sorgfalt angesagt beim Umgang mit dieser Verfassung wie im Umgang mit- einander in der gemeinsamen Kommission. Verfassungsrichter Dieter Grimm hat einmal ge- Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD): Herr Präsident! sagt: Angesichtes einer geglückten Verfassung ist Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei dem, eine Verfassungsdiskussion immer ein Verfassungs- worüber wir heute entscheiden wollen, handelt es sich risiko. Ich meine, wir müssen in der Tat vorsichtig um einen wichtigen Schritt zur Vollendung der deut- sein, damit wir dem guten Ruf des Grundgesetzes schen Einheit. Wir wissen inzwischen besser als noch nicht durch eine lange polemische und ergebnislos vor einem Jahr, daß die staatliche Einigung nur der endende Diskussion im öffentlichen Parteienstreit Anfang war, daß ihr die soziale und die wirtschaftliche Schaden zufügen. Einigung und vor allem die Einigung im Bewußtsein, d. h. die Herausbildung eines Gemeinschaftsgefühls (Beifall bei der CDU/CSU) und der Überzeugung gleichberechtigter Teilhabe an der Verantwortung für das Gemeinwesen, folgen muß Unsere Arbeit ist auf Konsens angelegt. Wer die und daß dieser Prozeß nach der jahrzehntelangen andere Seite unter Druck setzt und öffentlich vorführt, Trennung schwieriger ist, als wir uns das alle mitein- muß wissen, daß er ihre Einwilligung nicht erzwingen ander vorgestellt haben. kann. Ich sage das an alle Seiten des Hauses, auch an unsere Adresse. Zugleich gilt es, Folgerungen daraus zu ziehen, daß die Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 die volle Sou- (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Richtig! So ist veränität erlangt hat und daß wir — so hoffen wir doch es gut!) zuversichtlich, gerade nach der gestrigen Debatte — Es ist inzwischen außerordentlich viel über die Ver- alle miteinander an der Schwelle des Übergangs von fassung des geeinten Deutschland geschrieben und der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen gesagt worden; man hört nicht mehr viel Neues. Wir Union stehen. sind deshalb überzeugt: Es kann in angemessener In der Beurteilung der sich daraus ergebenden Kon- Zeit politisch entschieden werden, was wir gemein- sequenzen für die Verfassungsordnung unseres Ge- sam ändern wollen. Die Liste der Änderungswünsche, meinwesens gibt es zwischen den Koalitionsfraktio- die wir prüfen wollen, ist gewiß umfangreich. Für eine nen und uns Übereinstimmungen und Gegensätze. derartige Prüfung bedarf es aber keines kolossalen Verfassungsrates. Übereinstimmung besteht offenbar darüber, daß die deutsche Einigung, die Erlangung der vollen Souve- Mit der nun vereinbarten Größe der gemeinsamen ränität und der Übergang zur Europäischen Union Verfassungskommission von jeweils 32 Mitgliedern Herausforderungen von hohem verfassungspoliti- aus Bundestag und Bundesrat halte ich die Grenze der schem Rang darstellen, für deren Bewältigung das Arbeitsfähigkeit dieses Gremiums bereits für erreicht. routinemäßige Verfahren, mit dem das Grundgesetz Für weitere, wenn auch nur beratende Mitglieder in vor dem Einigungsvertrag bisher 35mal geändert wor- diesem Gremium sehe ich keinen Platz und keine hilf- den ist, nicht ausreicht. Nur so ist zu verstehen, daß reiche Funktion. der Einigungsvertrag — das möchte ich besonders unterstreichen — den Grundgedanken des Art. 146, (Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/ demzufolge es Sache des gesamten deutschen Volkes GRÜNE]: Wie ist das denn mit dem Parla ist, in freier Entscheidung eine Verfassung zu be- ment? Ist das nicht arbeitsfähig?) schließen, die dann an die Stelle des Grundgesetzes Berater und auch Mitglieder von Landesparlamenten tritt, nicht etwa gelöscht und getilgt, sondern bekräf- können in den begleitenden Arbeitskreisen der Frak- tigt und in seinem Art. 5 bereits einen Katalog der in tionen und Gruppen mitwirken. diesem Zusammenhang zu behandelnden Fragen aufgestellt hat. - Wichtig ist, daß die gemeinsame Verfassungskom- mission nunmehr ihre Arbeit aufnimmt und in ange- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf messener Zeit zu einem Ergebnis kommt. Der Eini- gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) gungsvertrag hat dem Verfassungsgesetzgeber ne- Für mich, Herr Kollege Laufs, ist das nicht Ausdruck ben dem Inhalt der Prüfung auch den zeitlichen Rah- von Verfassungsnot, sondern von Verfassungsbedürf- men vorgegeben, der am 3. Oktober 1993 endet. Wir nis, also von G estaltungsbedarf. sollten diese Frist nicht wesentlich überschreiten. Das Übereinstimmung, so meine ich, besteht ebenso nun einvernehmlich festgelegte Datum, 31. März darüber, daß sich das 1993, für den Abschlußbericht können wir gerade Grundgesetz in der Vergangen- heit bewährt hat noch mit einigen Bedenken mittragen. Wir stimmen der so geänderten Beschlußempfehlung des Ältesten- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rates zu. der CDU/CSU und der FDP) 5252 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Hans-Jochen Vogel und daß seine wesentlichen Strukturen deshalb auch einigen, die hier in den alten Bundesländern bisher in Zukunft gelten sollen. Es geht nicht um eine Alter- gelebt haben. native zum Grundgesetz; (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von der FDP und des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann Stetten [CDU/CSU]) [Bündnis 90/GRÜNE]) es geht um seine zeitgemäße Fortentwicklung. Das heißt, Kolleginnen und Kollegen — vielleicht rührt daher auch die Ängstlichkeit, die wir ja noch aus (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf einer anderen großen Diskussion kennen — , auch wir gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) in den alten Bundesländern müssen uns ändern, und Dabei — ich hoffe, dies könnte eventuell sogar den die Deutschen in den neuen Bundesländern müssen Beifall des ganzen Hauses finden — sind wir gut bera- intensiv an der Gestaltung der endgültigen Verfas- ten, wenn wir bei der Arbeit, an die wir jetzt gehen, sung mitwirken können, jeweils bedenken, wie wohl die und Mütter Väter des (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Grundgesetzes die jetzt zu entscheidenden Fragen in GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ Kenntnis der heutigen Gegebenheiten beantwortet CSU und der FDP) hätten. unter ihnen vor allem die Kräfte, die die Wende her- Wie sie in der Kernfrage dachten, meine sehr ver- beigeführt haben. ehrten Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, das haben sie durch den Art. 146, der nicht jetzt neu Meine Damen und Herren, wissen wir eigentlich hineingeschrieben worden ist, sondern von den Vä- noch, daß in der Präambel des Einigungsvertrages tern und Müttern des Grundgesetzes stammt, jeden- vom „dankbaren Respekt vor denen" die Rede ist, falls deutlich gemacht. „die auf friedliche Weise der Freiheit zum Durchbruch verholfen haben"? Ich habe manchmal den Eindruck, (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: So ist es! daß wir den Respekt vor den Gruppen, die den Wider- — Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Das interpre stand zunächst verkörpert und die Wende in Gang tieren wir anders!) gesetzt haben, in diesem Hause gelegentlich vermis- Unterschiede und Gegensätze bestehen hinsicht- sen lassen. lich der Folgerungen — zu den Unterschieden komme (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ich jetzt — , die aus den soeben getroffenen Feststel- der PDS/Linke Liste) lungen zu ziehen sind. Insgesamt — das hat gerade auch Ihr Beitrag, Herr Laufs deutlich gemacht — nei- Ich meine aber, gerade hier bei der Verfassungsfrage gen Sie zu restriktiven, um nicht zu sagen: eher ängst- muß sich der Respekt erweisen. lichen Positionen. Deshalb wollten wir — Sie haben recht — einen (Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Restrik Verfassungsrat mit 120 Mitgliedern, um gerade die- tiv ist besser!) sen Kräften, aber auch anderen Persönlichkeiten aus allen Bereichen des politischen, geistigen, kulturel- Den Satz, daß jede Verfassungsdiskussion auf Verf as- len, kirchlichen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens sungsnot hindeutet, halte ich für ein Signal dieser die Mitarbeit zu ermöglichen. Wir hätten vor dieser neuen Ängstlichkeit. Wir vertreten demgegenüber of- Mitarbeit keine Sorge und keine Angst gehabt. fenere Positionen und vertrauen offensichtlich stärker als Sie auf die Kraft und die Vernunft eines breiten Immerhin haben Sie schließlich einer Gemeinsa- demokratischen Diskussionsprozesses. men Kommission von Bundestag und Bundesrat mit 64 Mitgliedern zugestimmt, einer Kommission, die (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ erstmals in dieser Art eingerichtet wird und damit den GRÜNE) Rang der Aufgabe unterstreicht. Sie behaupten gelegentlich — ich bin dankbar, daß (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) Sie es heute nicht getan haben, obwohl ja noch wei- tere Redner folgen —, Wir haben eine breite Zusammenstellung von The- men aufgelistet, die dort behandelt werden sollen, (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ und auch öffentlich vorgetragen. Sie waren zunächst CSU] : Herr Scholz wird das dann schon ma bestrebt, den Katalog möglichst eng zu halten. Aber chen!) inzwischen präsentieren Sie selber eigentlich von Wo- wir wollten eine andere Republik, als sie dem Grund- che zu Woche immer neue Forderungen nach- Verfas- gesetz vor Augen steht. Das ist abwegig. Aber anders sungsänderungen. So wollen Sie beispielsweise — als Sie verschließen wir nicht die Augen davor, daß die diese Aufzählung ist nicht vollständig — zumindest die Art. 16, 87, 87a und 87d ändern. Einigung nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Änderung der Wirklichkeit bedeu- (Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Art. 87 geht auf tet. Sie zurück!) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf — Entschuldigung, auf den Herrn Bundespräsiden- gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) ten, wenn ich es richtig sehe; ja; nein; auch? Aber den darf man nicht erwähnen; ich weiß, das hören Sie Die fünf neuen Bundesländer, Kolleginnen und Kolle- nicht gern. gen, und die 16 Millionen, die in ihnen leben, sind doch nicht einfach im Wege der Addition, sondern nur (Dr. Paul Laufs [CDU/CSU]: Im Zusammen im Wege der Integration endgültig mit denen zu ver hang mit den Asylverfahren!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5253

Dr. Hans-Jochen Vogel — Ich darf in Erinnerung rufen, Herr Kollege Laufs: sehen, daß dies mit der Formel von dem Respekt nur Die Forderung zu Art. 87 hängt mit den Fluglotsen mäßig vereinbar ist. zusammen. Sie hängt mit den Vorstellungen zusam- Ein drittes Problem berührt nicht den Bundestag, men, die Sie in bezug auf die Post und die Bundesbahn sondern den Bundesrat. Es handelt sich um die Frage, haben. Aber darüber können wir in der Kommission ob die Länder nur durch diskutieren. Mitglieder der Landesregie- rungen oder auch durch Repräsentanten der Land- Sie wissen genau, daß wir einigen dieser Forderun- tage vertreten sein sollen. Für meine Person sage ich, gen nicht zustimmen werden. Aber warum sträuben daß ich mit der entsprechenden Forderung der Lan- Sie sich dann, wenn wir verlangen, daß beispielsweise desparlamente, der sich inzwischen auch das Land über die Festschreibung des Verzichts auf ABC-Waf- Nordrhein-Westfalen angeschlossen hat, durchaus fen in der Verfassung, über konkrete Staatsziele, über sympathisiere. einen Gleichstellungsauftrag, über das kommunale (Beifall bei der SPD) Ausländerwahlrecht, daß auch Sie inzwischen für die EG-Ausländer wollen — die EG erweitert sich in der Aber ich sage genauso deutlich: Die Lösung dieses Perspektive Gott sei Dank — , über eine unmittelbare Problems liegt beim Bundesrat als dem Organ der Volksbeteiligung und darüber gesprochen wird, ob Länder. wirklich die Regierung und nicht das Parlament über (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf den Bündnisfall und damit über Krieg und Frieden gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE] und des entscheidet? Ich halte das für eine zentrale Frage. Abg. Detlef Kleinert [Hannover] [FDP]) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Ich hätte überhaupt keinen Einwand dagegen, GRÜNE) wenn die Länder die beiden Sitze, die ihnen jeweils Es darf doch auf Dauer nicht sein, daß — während zustehen, zwischen Landesregierung und Landtag der Golfkrise haben wir das ja als offizielle Stellung- nach ihrem eigenen Ermessen und nach Vorschlag nahme des Bundeskanzlers gehört — , wenn das Bun besetzten. Aber das ist von ihnen zu entscheiden. Weil desgebiet angegriffen wird, der Bundestag über Krieg wir das jetzt nicht im einzelnen abstimmen konnten, oder Frieden entscheidet, und dann, wenn es sich um spreche ich hier nur für meine Person. den Bündnisfall und den Krieg in weiten Entfernun- Abschließend gebe ich — ungeachtet aller fortbe- gen handelt, die Regierung ohne jede Einschaltung stehenden Bedenken — unserer Bef riedigung dar- des Parlaments soll entscheiden können. Das darf über Ausdruck, daß die Arbeiten an der Erneuerung doch nicht wahr sein. unserer Verfassungsordnung jetzt beginnen können. Meine Fraktion wird sich konstruktiv an diesen Arbei- In der Beschlußvorlage gibt es noch zwei problema- ten beteiligen und alles tun, damit diese Arbeit von tische Fragen. Wir haben der ursprünglichen Absicht einer breiten öffentlichen Diskussion begleitet wird, widersprochen, den Zeitraum für die Arbeit der Kom- die am Ende den Entscheid des Volkes auch sinnvoll mission auf ein Jahr, nämlich bis zum 31. Dezember und legitim erscheinen läßt. 1992, zu begrenzen. Der Einigungsvertrag spricht in Art. 5 von einem Zeitraum von zwei Jahren. Meine (Lebhafter Beifall bei der SPD) Damen und Herren, dieser Zeitraum kann doch sinn- vollerweise erst beginnen, wenn die Kommission ins Leben getreten ist. Sonst wären die zwei Jahre ja auch verstrichen, wenn gar nichts zustande gekommen Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt un- wäre. serem Kollegen Dr. Rupert Scholz das Wort. Nach dem Änderungsantrag soll die Frist bis zum 31. März 1993 verlängert werden. Das ist ein kleiner Fortschritt. Dennoch sage ich: Die Regelung ist für uns Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Herr Präsident! nur deshalb hinnehmbar, weil es sich um eine Soll Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich meine, Bestimmung handelt und die Kommission daher letz- nachdem es ja einige Zeit gebraucht hat, bis wir zu- ten Endes selber in Verantwortung darüber entschei- sammengekommen sind und einen gemeinsamen det, wann sie glaubt, daß der Abschluß ihrer Arbeiten Weg für die Arbeiten gefunden haben, daß es mit die Vorlage rechtfertigt, und zwar — wie Sie zu Recht Nachdruck zu begrüßen ist, daß wir Einvernehmen in verlangt haben — mit Zweidrittelmehrheit. bezug auf die Arbeit dieser gemeinsamen Verfas- Wir hätten es außerdem begrüßt, wenn einer be- sungskommission herstellen konnten, daß wir -die nö- grenzten Zahl von Persönlichkeiten, die weder dem tigen Kompromisse geschlossen haben. Ich glaube, es Bundestag noch dem Bundesrat angehören, die Mit- ist für die bevorstehende, außerordentlich zentrale arbeit ohne Stimmrecht ermöglicht worden wäre. Die Aufgabe von großer Bedeutung, daß wir den prozedu- Ziffer 9 engt den Spielraum dafür übermäßig ein. Ich ralen Konsens gefunden haben; denn Verfassungspo- erinnere noch einmal an das, was ich über die Kräfte litik fordert nicht nur ein Höchstmaß an inhaltlichem gesagt habe, die die Wende vor allem herbeigeführt Konsens, sondern auch ein besonderes Maß an proze- haben. Ohne das erzielte Ergebnis in Frage stellen zu duralem Konsens. Deshalb ist es zu begrüßen, daß wir wollen: Man wird genau sehen, wer eigentlich von heute so weit gekommen sind. diesen Kräften, denen Sie hier durch Beifall Respekt Es gibt eine letzte offene Frage — Herr Kollege Vo- erwiesen haben, unter den 64 Mitgliedern sein wird. gel hat sie soeben angesprochen — , nämlich die Soweit ich sehe, werden es höchstens einer oder zwei Frage, wie es mit den Landtagen steht. Ich glaube, das oder zweieinhalb oder drei von 64 sein. Ich bitte zu ist in der Tat eine wichtige Frage. Ich will sie aus mei- 5254 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Rupert Scholz ner Sicht genauso beantworten, wie Sie es getan ha- denke, letztlich nehmen auch Sie sie nicht ernst —, ben, Herr Vogel. sind sie im Grunde Utopie oder Kosmetik. (Zustimmung bei der SPD und des Abg. Det (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge lef Kleinert [Hannover] [FDP]) ordneten der FDP) Es ist eine Frage der Länder selbst. Aus der Sicht des Ich stimme voll mit dem, was Sie gesagt haben, Herr Bundestages geht es darum, daß die Verfassungsor- Vogel, überein: zeitgemäße Fortentwicklung, so ha- gane Bundestag und Bundesrat in ihrer entsprechen- ben Sie es formuliert. In der Tat geht es um Moderni- den gleichberechtigten Position Markierungen vor- sierung, und zwar dort, wo es nötig ist. Dazu gibt es nehmen. Wir werden sehen, wie der Bundesrat zu die- eine Fülle von Fragen. ser Frage steht. Sie haben aus dem Katalog Streitiges genannt, Sie Der Auftrag ist ebenfalls bestimmt. Ich erkenne haben Punkte angesprochen, in denen wir überein- nach wie vor, daß hier unterschiedliche Töne im Spiel stimmen. An dieser Stelle möchte ich vor allem den sind. Bei Herrn Vogel war es soeben deutlich spürbar: Föderalismus betonen. Unser Föderalismus muß ge- Er sprach wiederum davon, daß es darum gehe, die stärkt werden. Das werden wir nicht nur aus dem endgültige Verfassung zu formulieren oder zu akzep- Kreis des Bundesrats, von den Ländervertretern, hö- tieren oder zu formieren, wie immer man will. Die ren, sondern das müssen wir auch selbst begreifen. endgültige Verfassung der Bundesrepublik Deutsch- Wir müssen diesen Bundesstaat Bundesrepublik land, des wiedervereinigten Deutschlands ist das Deutschland auch für Europa rüsten. Wir wollen das Grundgesetz. Europa der Regionen; wir wollen ein föderatives Eu- Ich widerspreche noch einmal sehr deutlich Ihrer ropa. Das setzt aber voraus, daß wir unseren Födera- Interpretation, Herr Vogel, zu Art. 146 des Grundge- lismus dafür zunächst wieder wirklich stabil und wi- setzes. Ich glaube nicht, daß wir die Debatte fortsetzen derstandsfähig gestalten. sollten, indem wir immer wieder versuchen — nach- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dem der Weg, wie Sie genau wissen, über Art. 23 des Grundgesetzes gegangen ist —, Art. 146 des Grund- Wir stehen unmittelbar vor der Konferenz von gesetzes, das damit die gesamtdeutsche legitime Ver- Maastricht. Was soll denn die Politische Union für fassung geworden ist, sozusagen „von hinten durch Europa bringen? Sie soll uns im Grunde den Verfas- die Brust" zu zitieren. sungsstaat „Union Europa" bringen. Auch dafür muß das Grundgesetz vorbereitet werden. Wir werden Wir werden uns über die Frage auseinanderzuset- über Art. 24 GG, über singuläre Souveränitätsver- zen haben, was nach Abschluß unserer Arbeiten zu zichte, über das Verfahren, das uns zur Wirtschaftsge- geschehen hat, nachdem sich Bundestag und Bundes- meinschaft geführt hat, nicht imstande sein, alles das rat mit den Ergebnissen der Kommission auseinander- verfassungsrechtlich zu legitimieren und vorzuberei- gesetzt haben, d. h., ob es dann noch eine Befragung ten, was notwendig ist, wenn wir den Weg nach Eu- des Volkes o. ä. geben soll. Aber mit Art. 146 hat das ropa hin zur Politischen Union wirklich wollen. sicherlich nichts zu tun. Ich glaube, daß hier ganz entscheidende Dinge an- Was wir wollen, ist folgendes — ich glaube, insofern stehen. Und es gibt darüber hinaus viele Detailfragen, sind wir uns einig — : Wir brauchen den offenen, den wenn man sie so nennen will. Aber vielleicht werden öffentlichen, den sicherlich auch streitigen Verfas- sie auch erst im Licht einer solchen Kommission zu sungsdiskurs. Sie dürfen sicher sein: Wir werden ihn Detailfragen, weil wir über sehr viel Grundsätzliches nicht mit Ängstlichkeit führen; denn wir werden die- reden werden. Eigentlich sind es ja sehr zentrale und ses Grundgesetz auch dort verteidigen, wo manche es sehr wesentliche Fragen, wie z. B. Privatisierung von in Frage stellen wollen, wo wir aber der Meinung sind, Post und Bahn; alles das, was Sie angesprochen ha- daß sich das Grundgesetz auf Dauer bewährt hat. ben, Herr Vogel. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir werden uns auf einen schwierigen, einen inten- Wir wollen keine Totalrevision des Grundgesetzes. siven Arbeitsweg zu begeben haben. Ich glaube, daß es richtig ist, daß wir uns auch über eine Befristung Wir wollen auch keine Überforderung unserer Ver- verständigt haben. Sie zweifeln daran, ob wir die Frist fassung mit Utopismen, mit Verfassungskosmetik nachher einhalten werden. Ich meine, wir sollten mit oder schlichter Verfassungslyrik. dem Vorsatz an die Arbeit gehen, die Frist einzuhal- (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Wer will das ten. Denn eine permanente Verfassungsdiskussion- denn?) führt zur verfassungsrechtlichen und verfassungspoli- tischen Verunsicherung. Verfassung braucht Verläß- Eine Verfassung muß ernst genommen werden. Eine lichkeit, braucht Rechtssicherheit. Deshalb sollte jede Verfassung muß das Vertrauen des Bürgers haben. Verfassungsdiskussion ehrlich, gründlich aber auch Das Vertrauen des Bürgers beginnt dort, wo eine Ver- mit dem Mut zum zeitlichen Abschluß geführt wer- fassung einlösbar ist, wo der Bürger begreifen kann, den. daß das, was in der Verfassung gewährleistet wird, auch wirklich eingelöst werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der FDP) So werden wir uns sicherlich darüber streiten, wie das mit jenen sozialen Staatszielbestimmungen aus- Ich freue mich auf die Diskussion, ich freue mich auf sehen soll. Wenn man sie ernst nimmt, sind sie Sy- unsere Arbeit. Ich denke, wir werden — wenn wir das stembruch. Wenn man sie nicht ernst nimmt — ich Maß dessen, was wir gemeinsam wollen, gemeinsam Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5255

Dr. Rupert Scholz verwirklichen können — für unser Land und für un- Länder, kann nur im Konsens entstehen. Wir sollten sere Verfassung Gutes bewegen. uns ständig daran erinnern. Ich danke Ihnen. Erlauben Sie mir zum Schluß noch, auf eine Schwie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rigkeit einzugehen, die ich persönlich bei der Abstim- mung haben werde. Ich kann natürlich nicht dem Punkt III der Beschlußempfehlung auf Drucksache Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat jetzt 12/1590 zustimmen, den Antrag der Gruppe Bünd- unser Kollege Dr. Wolfgang Ullmann. nis 90/GRÜNE abzulehnen. Im übrigen gehe ich mit der Beschlußempfehlung einig. Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Ich bin ausgesprochen dankbar, daß die neue zeit- Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe heute liche Vorgabe der 31. März 1993 ist. Das ist ein Schritt abend nur eines vor, nämlich zu begründen, warum in die richtige Richtung. Damit wird die Zweijahres- die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE an ihrem Antrag fest- frist eingehalten. gehalten hat. Danke. Ich denke, wir haben heute vormittag gezeigt, daß (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei das nicht an mangelnder Konsensbereitschaft liegt; der SPD) wir sind auch nicht unbelehrbar. Ich denke, das ist auch unter Beweis gestellt worden. Wir sind gewiß kooperationsbereit, auch wenn der neue Herr Bun- Das Wort hat jetzt desinnenminister seine Kooperation nur den Fraktio- Vizepräsident Helmuth Becker: unser Kollege Detlef Kleinert. nen dieses Hauses angeboten hat. (Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Das kann nicht sein; da haben Sie nicht rich Detlef Kleinert (Hannover) (FDP): Herr Präsident! tig hingehört!) Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Es ist Warum halten wir also an unserem Antrag fest? Wir doch etwas eigentümlich, daß das Grundgesetz all- legen Wert darauf, daß in den Protokollen des Deut- seits und von jedermann, in den meisten Fällen gera- schen Bundestages dokumentiert ist, daß in diesem dezu mit Emphase als eine besonders gelungene Ver- Hause nicht in Vergessenheit geraten ist — Herr Vo- fassung gelobt wird und anschließend die gerade des- gel hat das soeben in wünschenswerter Klarheit doku- halb etwas gequälte Diskussion beginnt, warum man mentiert — , daß sich das Grundgesetz der Bundesre- es bei dieser Gelegenheit insgesamt ändern müßte. publik Deutschland auf eine konkrete historische Das paßt erkennbar schwer zueinander. Daraus er- Epoche bezieht, in der Deutschland geteilt und ein schließt sich auch die Problematik des Art. 146 in die- Teil der deutschen Länder verhindert war, an der Ge- sem Zusammenhang. Es ist eben nicht die Lage, die

staltung eines demokratischen Gemeinwesens teilzu- sich die Verfassungsmütter und - väter seinerzeit vor- nehmen. gestelit haben, daß nämlich alles so ganz neu ist und (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei daß man etwas ganz umfassend Neues gestalten der SPD) müßte. Wir sollten uns sehr davor hüten. Es redet in Wirklichkeit auch niemand in diese Richtung. Ich Das ist jene Übergangszeit, an deren Ende dieses habe das nicht mißverstanden. Aber deshalb ist die Grundgesetz einen gemeinsamen verfassungsgeben- Anwendbarkeit dieses Artikels in diesem Zusammen- den Akt aller Länder verlangt, der das Grundgesetz in hang zweifelhaft. — Das ist die Eingangssituation. eine deutsche Bundesverfassung transformiert. Das haben sich nicht einige Leute ausgedacht, Herr Laufs, Das, was Herr Vogel hier vorgetragen hat, betrifft das verlangt das Grundgesetz. Sowenig wie die zum erheblichen Teil Fragen, die mit den 35 Komple- Hauptstadtfrage kann eine vierzigjährige Selbstver- xen sehr vergleichbar erscheinen, die hier früher ein- ständlichkeit aus aktuellem Situationsinteresse plötz- zeln abgehandelt worden sind, weil die Zeit gerade lich für obsolet gehalten werden. Das Grundgesetz reif dafür war. Wenn man bei dieser Gelegenheit ei- hindert uns nicht, es beauftragt uns. Wir wollen, daß nige der aufgelaufenen Probleme zusammenfassen das Ausmaß dieses Auftrags in den Protokollen des kann, ist das gut. Aber wenn man die Gelegenheit Deutschen Bundestages dokumentiert werde. gebraucht, um so zu tun, als ob jetzt der ganz große Tag gekommen sei, an dem wir alle noch einmal eine Wieso ist ein Verfassungsrat nicht mehr arbeitsfä- ähnliche Anstrengung vollbringen und ähnliches lei- hig, wenn er 164 Mitglieder hat? Dann bewegt sich sten müßten wie bei der Schaffung des Grund- dieses Hohe Haus offenbar weit jenseits aller Grenzen - gesetzes — — der Arbeitsfähigkeit. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — (Dr. Uwe Küster [SPD]: Der Hauch der Ge Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Wir ha schichte! — Weiterer Zuruf von der SPD: ben Ausschüsse, kleine Ausschüsse!) Wen meinen Sie?) Ich denke, Bündnis 90/GRÜNE steht nicht allein mit — Ich meine einige Vertreter der Sozialdemokratie. dieser Auffassung. Der Antrag der SPD hat das eben- Ich kann Ihnen das gleich noch etwas genauer sa- falls gezeigt. Herr Vogel hat schon auf die Stellung- gen. — Hier ist nur von Einzelfragen geredet worden, nahme von Nordrhein-Westfalen hingewiesen. Ich über die aus diesem Anlaß sehr wohl gesprochen wer- bin mit Ihnen ganz einer Meinung, Herr Laufs: Eine den kann und sehr wohl gesprochen werden sollte. Verfassung, vor allen Dingen die Verfassung der (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Deutsche neuen Bundesrepublik, des Bundes aller deutschen Einigung, ein alltägliches Ereignis?) 5256 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Detlef Kleinert (Hannover) — Es ist in Ordnung, sehr in Ordnung, aus dem Anlaß nen. Das schadet der Verfassung. Solche Gedanken der deutschen Einigung diese Dinge zusammenfas- sind in Ihren Kreisen des öfteren besprochen und auch send zu betrachten. Wenn aber der Versuch gemacht öffentlich vorgetragen worden, allerdings nicht von wird, hier mit der Einführung von Staatszielen, Recht denjenigen, die heute hier gesprochen haben. Das auf Wohnung, Recht auf Arbeit habe ich zu Beginn schon gesagt. (Zuruf von der SPD: Unerhört!) (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Was sind das und dergleichen, verlorene Parlamentsschlachten zu- für geheimnisvolle Persönlichkeiten? Wo rückliegender Jahre hinterher zu gewinnen, dann ist treffen Sie denn die Leute, Detlef?) das etwas, was unsere Verfassung und was dieser — Ich werde eine Dokumentation zusammenstellen, Anlaß nicht verdient haben. die dann hoffentlich einigermaßen den Ansprüchen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gerecht wird, die man in führenden SPD-Kreisen an Schriftwerk zu stellen pflegt. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Klei- (Heiterkeit) nert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmude? Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Klei- nert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Detlef Kleine rt (Hannover) (FDP) : Die politischen Dr. Ullmann? Schlachten müssen hier nach den dafür vorgesehenen Wahlen und auf Grund der sich dadurch bildenden Detlef Kleinert (Hannover) (FDP): Herr Ullmann, Mehrheiten, auch auf Grund von Mehrheiten, um die bitte. in der Zwischenzeit hier immer wieder gerungen wer- den muß, geschlagen werden. Wir können nicht auf Bitte sehr, Herr dem Weg über Staatsziele, vielleicht auch Grund- Vizepräsident Helmuth Becker: Dr. Ullmann. rechte, in den Bürgern die Idee hervorrufen, sie könn- ten jetzt besondere Vergünstigungen erwarten, aus denen dann nichts wird. Auf diese Weise geschähe Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Herr etwas, was für die Verfassung dann sehr gefährlich Kleinert, erlauben Sie mir, obwohl Sie nur die SPD wäre. angesprochen haben, daß ich öffentlich zugebe, daß ich darüber laut gesprochen habe und es jederzeit Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Klei- wieder tun werde? nert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei Schmude? der SPD — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Jetzt hat er einen!) Detlef Kleine rt (Hannover) (FDP): Ich bitte darum, Herr Schmude. Detlef Kleinert (Hannover) (FDP) : Ich danke Ihnen. Und dennoch waren Sie nicht der einzige, Herr Ull- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr, Kollege mann. Schmude. (Heiterkeit und Beifall) Es wird also mit dem dazugehörigen Ernst und mit Dr. Jürgen Schmude (SPD): Lieber Herr Kleinert, der nötigen Offenheit über alle vor uns liegenden Ein- könnten Sie es noch klarer machen und uns sagen: zelfragen zu sprechen sein, auch über Fragen der Wer hier in diesem Hause will Rechte oder Grund- Finanzverfassung — das ist hier noch nicht angespro- rechte auf Arbeit oder Rechte oder Grundrechte auf chen worden. Ich sehe erhebliche Probleme darin, daß Wohnung, wer will das? wir immer mit den Ländern verhandeln, die Kommu- nen aber im Geiste mitmarschieren und anschließend Detlef Kleinert (Hannover) (FDP): Sie mit Sicherheit bei den meisten Folgewirkungen dessen, was aus dem nicht. Wir haben uns darüber unterhalten. Da ich mich Zusammenwirken von Bundestag und Bundesrat mit verschiedenen anderen noch nicht darüber unter- schließlich herauskommt, auf das Wohlwollen der halten habe, möchte ich vorbeugen. Länder angewiesen sind. Wenn man da einen ge- (Heiterkeit — Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: scheiten Weg finden könnte, die Folgen in ihrer Aus- Es handelt sich um eine Vorbeugerede! — wirkung vorher zu definieren, dann würde das, Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Sie haben ei glaube ich, manche Reformbestrebung in diesem Be- - nen Ballon aufgeblasen, um ihn abzuste reich verbessern können. chen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) —Das mit dem Ballon habe ich hier schon einmal viel Das ist eine von mehreren Fragen, die hier sicherlich besser von Herrn Schiller gehört. unsere Aufmerksamkeit verdienen. Aber es ist ein Schuft, der mehr verspricht, als er Weil ich gerade davon spreche, möchte ich auch geben kann. Ich bleibe, sei es vorbeugend oder in sagen — wie der Zufall so spielt, habe ich das heute Ansehung des einen oder anderen, der diesen Gedan- morgen in diesem Hause schon einmal sagen dür- ken in sich trägt — — fen — , daß wir den Föderalismus für eine sehr wich- (Siegfried Scheffler [SPD]: Peinlich für den tige Sache halten und daß wir deshalb, wenn es mög- Deutschen Bundestag!) lich ist, zu Klarstellungen beitragen wollen. — Es ist nicht in Ordnung, solche Vorstellungen zu Dann darf ich aber auch einmal etwas Praktisches erwecken und dann hinterher das nicht leisten zu kön fragen: Was nützen uns denn Klarstellungen in der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5257

Detlef Kleinert (Hannover) Verfassung, wenn sich hinterher Menschen finden, Ruhe besprechen sollten. Ich möchte sie heute abend die, weil das Bare lockt, sich in Unternehmen der nicht abschließend beurteilen, Gemeinschaftsfinanzierung und der Gemeinschafts- (Zuruf von der SPD: Das ist nett! Das ist wirk aufgaben hineinlocken lassen und die Trennung und lich zu gütig!) die Eigenart ihrer Aufgaben sofort vergessen, nur da- mit sie einen Kostenmitträger finden? Das ist ja wohl sondern zunächst einmal meine Zweifel anmelden. ein Stück Verfassungswirklichkeit, das sich inzwi- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. schen sehr weit ausgebreitet hat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Zuruf von der FDP: Leider wahr!) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und An dieser Stelle mehr Klarheit herbeizuführen wäre Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen sicherlich recht verdienstvoll, zumal man als Parla- Dr. Gerhard Friedrich. mentarier bedenken sollte, daß alle diese Gemein- schaftsaufgaben und Gemeinschaftsfinanzierungen die interessante Folge haben, daß sich die Verwal- Dr. Gerhard Friedrich (CDU/CSU): Herr Präsident! tungsbeamten beider Seiten treffen, das alles ausma- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe mir chen und dann einerseits im Deutschen Bundestag, zu der Frage, wie weit die Revision unserer Verfas- andererseits in den jeweils zuständigen Landtagen sung gehen soll, einige Zitate herausgeschrieben und erklären, das wäre schon alles so vereinbart, nun müß- habe heute genau mit verfolgt, wie Herr Kollege Vo- ten die parlamentarischen Körperschaften zustimmen gel formuliert hat. Ich stelle da ganz bemerkenswerte — eine Methode, die ursprünglich nicht unbedingt so Unterschiede fest. Die Frau Kollegin Däubler-Gmelin vorgesehen war und die in vielen Fällen für die dabei hat im Frühjahr 1991 im „Spiegel" mitgeteilt: Beteiligten und auch für die Bürger nicht erfreulich Wir meinen, das vereinigte Deutschland ist keine ist. Fortsetzung der alten Bundesrepublik, sondern ein neues Gebilde. Das Grundgesetz hat sich nur Zur Verteidigung ist hier von den Vorrednern eini- in der alten Bundesrepublik bewährt. Die Logik, ges gesagt worden. Ich halte auch das für sehr wichtig. an die wir uns gewöhnen sollten, lautet: Ein Es ist einer dieser mehreren Punkte, von denen man neues Gebilde braucht eine neue Verfassung. sagen kann, daß sie gerade durch die deutsche Eini- gung eine zusätzliche Bedeutung erfahren haben, so Der Kollege Vogel hat sehr viel vorsichtiger formuliert daß sie in diesem Zusammenhang der zusätzlichen und gesagt, die wesentlichen Strukturen des Grund- Verantwortung unseres Landes in außenpolitischer gesetzes müssen erhalten bleiben. — Wenn das so ist, und damit in verteidigungspolitischer Hinsicht ange- dann haben wir natürlich keine neue Verfassung. Die sprochen und hoffentlich auch möglichst vernünftig Sätze kann man nicht miteinander verbinden. Die behandelt werden sollten. Sätze der Frau Kollegin Däubler-Gmelin kann man auch nicht mit dem verbinden, was der Kollege Pen- Wieweit wir bei dem, was wir innerstaatlich über ner einmal in einer Presseerklärung gesagt hat. Er hat föderalen Aufbau diskutieren werden, auch nützliche formuliert: Wege finden können, unsere Stellung in Europa auch Nach meiner Einschätzung ist das Bonner Grund- unter diesem Gesichtspunkt zu festigen und möglichst gesetz längst zum normativen Gütesiegel des po- selbständig zu erhalten, statt daß wir uns hier gegen- litischen Lebens in der Bundesrepublik Deutsch- über den Bundesländern um eine Fülle von ausgefeil- land geworden. ten Regeln besorgen, während wir in Europa in völlig Niemand kann verstehen, weshalb wir dann eine anderen und nicht sehr geordneten Strukturen mit der neue Verfassung brauchen. Eigenart der zugehörigen Länder untergehen, wird die weitere Diskussion erweisen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Was sich geändert hat, ist das Staatsgebiet und ist die Die Frage der Frist ist in Vorgesprächen wirklich ein Zahl der Staatsbürger. Das ist eine rein quantitative hochinteressanter Punkt gewesen. Nun haben wir uns Veränderung. um drei Monate anders entschieden. Wir werden hin- terher feststellen, was wir schon vorher wußten: daß (Dr. Uwe Küster [SPD]: Na, na, das sehe ich es entweder gut läuft — dann werden wir gerne einige aber anders, Herr Kollege!) Monate zulegen — oder, was ich nicht hoffen will, — Ich sehe nicht ein, Herr Kollege, daß eine Verfas- schlecht — dann werden wir uns einige Monate früher sung, die sich im Fichtelgebirge bewährt hat,- plötz- als vorgesehen verbittert voneinander trennen. lich, wenn sie im Erzgebirge gilt, völlig falsch sein soll. (Heiterkeit) Meine Damen und Herren, der Kollege Vogel hat uns aufgefordert, mehr Respekt gegenüber den Kräf- Das sind zwei Möglichkeiten, die sich hier abzeich- ten zu haben, die die friedliche Revolution in der da- nen. maligen DDR, muß man sagen, ausgelöst haben. Ob zum Schluß die Entscheidung des Volkes — bei (Zuruf von der SPD: Diesen Respekt sollten den konkreten Punkten, die sich abzeichnen, und bei Sie haben!) dem nun gewählten und anerkannten Verfahren der — Den Respekt habe ich. Hier geht es um so etwas wie Zweidrittelmehrheit — die Krönung des ganzen Wer- Dankbarkeit für die Vergangenheit. Ich glaube nicht, kes sein soll, das ist eine Frage, die wir sicher noch in meine lieben Kolleginnen und Kollegen aus der Op- 5258 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Gerhard Friedrich position, daß Sie aus Dankbarkeit gegenüber dem Gerlinde Hämmerle (SPD): Herr Dr. F riedrich, ich Bundeskanzler für seine Leistungen in den letzten nehme die Gelegenheit wahr, Sie hier an dieser Stelle zwei Jahren den Bürgern empfehlen werden, ihn wie- zu fragen, ob Sie auch die Genfer Flüchtlingskonven- derzuwählen. In Wahlen — das wissen wir doch — tion ändern wollen, die zwar nichts mit unserer Ver- geht es nicht um Dank für die Vergangenheit, sondern fassung zu tun hat, aber in diesen Kontext gehört. um die Rezepte für die Zukunft. Ich könnte Ihnen hier (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Nun, wer vorlesen, welche Rezepte z. B. prominente Vertreter weiß! — Weitere Zurufe von der SPD) des Neuen Forums verkündet haben, und die Bürge- rinnen und Bürger haben entschieden, daß diese Re- zepte für die Zukunft falsch sind. Nicht wir Abgeord- Dr. Gerhard Friedrich (CDU/CSU): Frau Kollegin, nete ernennen weitere Abgeordnete, sondern derje- die Änderung nige, der in diesen Bundestag oder in ein Gremium (Zuruf der Abg. Renate Schmidt [Nürnberg] hineinwill, muß sich bei den Wählern um Stimmen [SPD]) bewerben. — Ich soll doch antworten, Frau Kollegin Schmidt, Meine Damen und Herren, wir haben gerade in der dann können Sie doch keine Zwischenrufe machen. letzten Zeit eine Diskussion zu den Stichworten Asyl (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Ja, bitte, das und Grundgesetz gehabt. Ich habe als ein CSU-Politi- wäre nett!) ker das zweite Mal in den letzten Monaten festge- Ich kann doch nur Ihnen zuhören oder Ihrer Kollegin stellt, daß Formulierungen entweder mißverständlich antworten. waren oder mißverstanden wurden. (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Hören Sie mir (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was tun Sie dage zu, Herr Friedrich!) gen? — Weiterer Zuruf von der SPD: Ihre For Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Genfer Flücht- mulierungen waren mißverständlich!) lingskonvention ist in sehr vielen Staaten gültig. In Ich habe letzten Mittwoch in der „Welt" gelesen, daß keinem anderen Staat gibt es aber ein Grundrecht auf hier möglicherweise ein Schwenk Asyl. Daraus schließe ich, daß wir, wenn wir das (Zuruf von der SPD: Ein was?) Grundrecht auf Asyl streichen, — ein Schwenk — in der Union und in der Asylpolitik (Lebhafte Zurufe von der SPD: Streichen! stattfindet. Aha! Jetzt ist die Katze raus!) wenn wir es durch eine institutionelle Garantie erset- (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Herr zen, überhaupt keine Notwendigkeit sehen, diese Schäuble ist umgeschwenkt! — Weitere Zu Flüchtlingskonvention in Frage zu stellen. rufe von der SPD) — Regen Sie sich doch nicht so auf. — Deshalb möchte ich für die CSU-Politiker, nicht nur für die in Bonn, Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Fried- sondern auch für die in München, feststellen, daß wir rich, eine Sekunde bitte. in der Asylpolitik nicht umschwenken. Wir sind bisher Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt natürlich der Meinung und werden es auch in Zukunft sein, daß eine Menge Zwischenrufe. Das darf man auch alles die Probleme ohne eine Verfassungsänderung nicht machen, aber überwiegend müssen wir den Redner lösbar sind. noch verstehen können. Ich bitte also deswegen um etwas Ruhe. — Bitte! (Zuruf von der SPD: Sie sollten eine andere Zeitung lesen!) (CDU/CSU): Ich darf meinen Wir sind der Auffassung, daß derjenige, der den Dr. Gerhard Friedrich letzten Satz, den ich von mir aus vorgetragen habe, Zuzug wirksam begrenzen will, nicht umhin kommt, noch einmal wiederholen. das Grundrecht auf Asyl durch eine institutionelle Garantie abzulösen. Wie wissen natürlich, daß es für unsere Vorstellun- gen keine verfassungsändernden Mehrheiten gibt. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Das wollen Deshalb erkläre ich auch, daß wir an weniger weitge- die Bayern! Das will noch nicht einmal die henden Korrekturen oder Ergänzungen unserer Ver- Union!) fassung in Sachsen Asyl mitwirken werden. Der An- — Doch, man muß Klartext reden, sonst verwirrt man laß, bei dem dies geschieht, ist für uns absolut zweit- die Bürger. rangig, ob wir uns in diesem Verfassungsausschuß auf eine vernünftige Regelung einigen oder ob das anläß- Wir wissen allerdings auch, daß wir für diesen Vor- - schlag in absehbarer Zeit keine Zweidrittelmehrheit lich der Ratifizierung irgendeines europäischen Ver- bekommen, weder im Bundestag noch im Bundes- trages geschieht, ist für uns absolut zweitrangig. rat. (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was wollen Sie eigentlich sonst noch streichen? — Freimut Duve [SPD]: Für wen sprechen Sie?) Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege — Ich spreche hier für die CSU-Landesgruppe in die- Dr. Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage der sem Punkt und für die CSU in München. Kollegin Hämmerle? (Zurufe von der SPD: Aha!) Meine Damen und Herren, für mich und meine Kol- legen im Innenausschuß des Deutschen Bundestages Dr. Gerhard Friedrich (CDU/CSU): Bitte sehr. ist es eine Selbstverständlichkeit, daß wir unsere In- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5259

Dr. Gerhard Friedrich nenpolitik z. B. mit unserem bayerischen Innenmini- Chance haben müssen — daß das wichtig ist — , ihre ster abstimmen. Wir stellen immer wieder erfreut fest, Rechte wahrzunehmen, aber auch Pflichten auszu- daß wir uns in kürzester Zeit völlig einig sind. üben, um das Gemeinwesen mitzugestalten, damit (Lachen bei der SPD) wir in diesem Gebiet keine Entwicklungen bekom- men, daß Menschen sagen, dann wollen wir uns auf Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ab- eine andere Weise Gehör verschaffen? schließend noch zu zwei, drei Anmerkungen des Kol- legen Vogel etwas sagen. Sie haben, Herr Kollege (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Vogel, gesagt GRÜNE) (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Ob der Schäuble mit Ihnen einverstanden ist, heute Dr. Gerhard Friedrich (CDU/CSU): Herr Kollege, ich abend?) gebe zu, daß es schwierig ist, hier einen richtigen es sollte doch die Gelegenheit genutzt werden, z. B. Begriff zu finden. Gast wäre zu wenig, und bei dem das Ausländerwahlrecht in unserer Verfassung zu Wort Mitbürger habe ich nur deshalb ein bißchen Vor- verankern. behalte, weil man das sozusagen als Mitstaatsbürger verstehen kann. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Ja, das kom munale!) (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Na und?) — Das kommunale Ausländerwahlrecht. Aber darüber können wir uns sicherlich unterhal- ten. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Vorsicht, das hat die CSU auch verlangt im Europaparla Ich möchte abschließend nur noch sagen: Wenn ment!) sich diejenigen, die unsere Nachbarn sind, in ihren eigenen Ländern genauso für das Ausländerwahl- —Herr Kollege Vogel, ich sage, was die CSU will. Das recht auf kommunaler Ebene wie bei uns einsetzen will ich lieber selber formulieren. würden, dann wäre ich bereit, auch bei uns sehr viel Sie haben in diesem Zusammenhang auf europäi- offener über die Dinge zu diskutieren, weil dann die sche Entwicklungen hingewiesen. Diesen Aspekt un- Gegenseitigkeit gewährleistet wäre. terstütze ich. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der Bündnis 90/GRÜNE — Dr. Hans-Jochen Vo CDU/CSU: Darauf kommt es an, Herr Kol gel [SPD]: Gut!) lege!) Aus einer europäischen Staatsbürgerschaft wird sich natürlich so etwas wie ein kommunales Wahlrecht der europäischen Staatsbürger entwickeln, egal wo sie Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und sich aufhalten. Bloß, wenn ich die Forderungen Ihrer Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Abgeordneten Partei nachlese, dann stelle ich fest, daß Sie das Aus- Dr. das Wort. länderwahlrecht in den Kommunen nicht — sozusa- gen — verankern wollen an dem Punkt EG-Staatsbür- Dr. Gerhard Riege (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- gerschaft oder EG-Mitgliedschaft, sondern Sie wollen dent! Meine Damen und Herren! Wir können nicht das Ankoppeln an eine Mindestaufenthaltsdauer in sagen, in der Bundesrepublik hat die Wiedervereini- einer Kommune, unabhängig von der Frage, ob es sich gung nichts bewirkt; wir machen so weiter, als wären um einen — Mitbürger kann man nicht ganz sagen — nur ein paar Quadratkilometer Land und ein paar Mil- Gast handelt, unabhängig von der Frage, ob derjenige lionen arme Verwandte dazugekommen, und sonst aus der EG kommt oder aus anderen Ländern. hat sich nichts verändert. Das ist nicht so. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Österreicher (Beifall des Abg. Dr. Burkhard Hirsch [FDP] z. B., Schweizer, Liechtensteiner, alle, die wir — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [FDP]: draußen haben!) Die PDS gehört aber nicht zu den Armen, —Ich möchte meinen letzten Satz vielleicht doch noch sondern zu den sehr Reichen!) in Ruhe sagen. — Ich habe Sie zitiert, Herr Kollege Hirsch. Sie haben (Abg. Freimut Duve [SPD] meldet sich zu ei das am 20. Juni gesagt, und ich glaube, Sie haben ner Zwischenfrage) damals den Beifall im gesamten Haus für diese Aus- — Bitte. sage gefunden. Weil das so ist, möchte ich sagen, daß dieses- Bild etwas variiert; denn daß das, was im Siebengebirge Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und möglich war und als positiv anerkannt worden ist, für Herren Abgeordneten, wir haben die Zeit schon weit das Erzgebirge genauso gelten muß, trifft nicht zu, überschritten. Deswegen meine ich, Sie sollten jetzt weil es nicht um die Gebirge geht. — Er geht um die bitte zum Schluß kommen, Herr Dr. F riedrich. Menschen mit ihrer Herkunft, mit ihrer Befindlichkeit, mit ihren Erfahrungen, die Unterschiedliches erlebt, gestaltet haben und auch Unterschiedliches einbrin- Freimut Duve (SPD): Herr Kollege, Sie haben eben gen können. für einige Millionen Steuerzahler bei uns das Wort Mitbürger abgelehnt. Ist es nicht richtig, daß Men- (Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt) schen, die hier bei uns über Jahrzehnte Steuern zah- Wenn ich mir jedoch vor Augen führe, wie stark das len, also zum Gemeinwesen beitragen, auch eine Bemühen der Regierungsparteien ist, den Umstand 5260 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Gerhard Riege der Veränderung in der realen Verfassung der Bun- Ich würde dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/DIE desrepublik, des vereinigten Deutschland, zu ver- GRÜNEN meine Zustimmung geben. drängen, dann gewinne ich den Eindruck, daß das, (Beifall bei der PDS/Linke Liste) was die Erfahrungen des Umgestaltungsprozesses auf dem Gebiet der DDR oder auch früher waren, doch sehr negiert wird. Wenn ich von der realen Verfassung Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit schließe ich spreche, dann meine ich sowohl die inneren Aspekte die Aussprache. als auch die äußeren Existenzbedingungen des verei- Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst nigten Deutschland. über den Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD und der FDP auf der Drucksache Immerhin, wir haben uns vor 196 Tagen im Reichs- 12/1670. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — tag in erster Lesung mit diesem Thema beschäftigt. Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist Soviel Zeit ist inzwischen verstrichen, und nach der dieser Änderungsantrag mit einer übergroßen Mehr- deutschen Einheit ist ein Jahr ins Land gegangen, und heit angenommen. wir diskutieren dieses Thema eigentlich am Rande einer Haushaltsdebatte, zu einem Zeitpunkt, zu dem Jetzt stimmen wir über die Beschlußempfehlung es nicht selten ist, daß hier die Redebeiträge zu Proto- des Ältestenrats auf Drucksache 12/1590 mit der so- koll gegeben werden. Das, glaube ich, ist dem Thema eben beschlossenen Änderung ab, und zwar zunächst nicht adäquat. Die Interessenlagen, wie ich zu wissen nur über Nr. I, II und IV. Wer stimmt dafür? — Wer glaube, vieler Bürger im Osten wie im Westen unseres stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei wenigen Landes sind anders. Da Verfassungsfragen Lebensfra- Enthaltungen ist diese Beschlußempfehlung dann so gen und doch nicht enge juristische Probleme sind, angenommen. gehört die Diskussion darüber nicht allein in kleine Jetzt stimmen wir noch über Nr. III der Beschluß- Expertenrunden. Vielmehr muß die Öffentlichkeit empfehlung ab. Dabei handelt es sich um den Antrag einbezogen sein, sie muß die Möglichkeit haben, sich der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN. Wer stimmt zu artikulieren, den Prozeß anregend, kritisierend be- für Nr. III der Beschlußempfehlung? — Wer stimmt fördern. Dort wird sich dann auch beweisen, ob ange- dagegen? — Nr. III der Beschlußempfehlung ist damit sichts der sozialen Prozesse, der Arbeitslosigkeit, das angenommen, und damit ist der Antrag der Gruppe Recht auf Arbeit eben nur Lyrik ist oder ob es nicht Bündnis 90/DIE GRÜNEN abgelehnt worden. auch in einer Weise gefaßt werden kann, die dem Menschen behilflich ist, in seinem Leben zurechtzu- kommen. Wir setzen nun die Haushaltsberatungen fort. Ich rufe auf: Die grundrechtliche Verankerung von sozialökono- Einzelplan 17 mischen Aspekten halte ich für ein ganz legitimes und Geschäftsbereich des Bundesministers für notwendiges Problem. Das vielleicht mit einer These Frauen und Jugend über ein Recht auf Sonnenschein zu vergleichen, — Drucksachen 12/1417, 12/1600 — würde ich nicht für adäquat halten. Ich glaube auch nicht, daß hinter Vorschlägen in dieser Richtung Mo- Berichterstattung: tive stehen könnten, verlorene Parlamentsschlachten Abgeordnete Susanne Jaffke im nachhinein wieder zu gewinnen. Ina Albowitz Dr. Konstanze Wegner Die Aufgaben, die von der Verfassungskommission Hierzu ist gebeten worden, daß — abweichend von zu lösen sein werden, unserer Geschäftsordnung — einige Reden zu Proto- koll gegeben werden sollen. Ich darf fragen, ob Ein- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Keine „Kommis verständnis besteht, daß die Reden der Kollegin Jaffke sion" !) und von Frau Bundesministerin Merkel zu Protokoll gegeben werden? — Es besteht Einverständnis.*) lassen sich keinesfalls auf die Punkte des Einigungs- Das Wort hat nun zu dem Einzelplan 17 die Kollegin vertrags einschränken. Denn selbst wenn ich davon Konstanze Wegner. absehe, daß es sich ausdrücklich um eine exemplari- sche Aufzählung handelt, wird schon bei den Diskus- (Beifall bei der SPD) sionen im Bundesrat deutlich, daß aus der Sicht der Länder Fragen zu beraten sind, die weit über diese - Dr. Konstanze Wegner (SPD): Frau Präsidentin! Liste hinausgehen. Immerhin wurde es in diesem Gre- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Politikbereich, mium des Bundesrates für wert erachtet, z. B. die so- der sich mit Frauen, Jugend und Senioren befaßt zialen Grundrechte und das kommunale Ausländer- — gemeinhin mit „Familienpolitik" bezeichnet — hat wahlrecht zu thematisieren. Die in Punkt 5 der jetzi- bei Politikern aller Parteien einen sehr hohen Stellen- gen Vorlage benannten Aufgaben der gemeinsamen wert. Verfassungskommission sind nicht abschließend for- muliert, sie lassen insofern zwar ein breiteres Spek- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ trum von erörterungswürdigen Themen zu, drücken GRÜNE) nach meiner Überzeugung jedoch eine auf Grund der In Sonntagsreden, in Wahlkämpfen rangiert das im veränderten Situation des vereinigten Deutschlands mer an erster Stelle. Wenn es aber dann um die Bera- und der Lage im Lande nicht zu rechtfertigende the- matische Selbstbescheidung aus. *) Anlage 4 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5261

Dr. Konstanze Wegner tung des Haushalts im Deutschen Bundestag geht, Helmut Wieczorek (Duisburg) (SPD): Frau Kollegin dann stehen diese Einzelpläne an letzter Stelle. Wegner, würden Sie der Kollegin sagen, daß wir als Es passiert dann folgendes: Auch wenn alle Bericht- Haushälter um diese Zeit regelmäßig erst zur zweiten erstatterinnen geduldig gewartet haben, wird noch zu Form auflaufen? später Stunde eine — zugegebenermaßen wichtige — (Heiterkeit bei der SPD) Verfassungsdebatte eingeschoben, (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Auf Dr. Konstanze Wegner (SPD): Lieber Kollege Wunsch der SPD!) Wieczorek, das will ich ihr nicht sagen. Es ist Ihnen und dann ertönt der vielfache Wunsch, man möge sei- überlassen, ihr das selbst zu demonst rieren. nen Text doch zu Protokoll geben. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Die beiden Ministerinnen haben dies getan — ich vermute, ganz gerne, weil ihnen das auch erspart, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin unter Umständen etwas Unangenehmes zu hören. Die Wegner, würden Sie eine dritte Zwischenfrage des Kolleginnen Berichterstatterinnen von der Koalition Kollegen Diller zulassen? Ich würde Ihnen empfehlen, sind gefolgt. Ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann keine mehr zuzulassen. ziehe meinen Beitrag nicht zurück, Dr. Konstanze Wegner (SPD): Lieber Karl, laß mich (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und meine Rede halten! dem Bündnis 90/GRÜNE) und zwar tue ich das nicht etwa, — Karl Diller (SPD) : Frau Kollegin, erachten Sie es mit mir nicht als einen Skandal, daß auf der Regierungs- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin bank da drüben weder ein Staatssekretär noch ein Wegner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Parlamentarischer Staatssekretär oder gar die Mini- Kollegin Roitzsch? sterin sitzt und daß wir sie eigentlich herbeirufen müßten? Dr. Konstanze Wegner (SPD): — weil ich mich für (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und eine so begnadete Rednerin halte — ich will nur mei- dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeord nen Satz beenden —, neten der CDU/CSU und der FDP — Dr. Nils (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Warum Diederich [Berlin] [SPD]: Frau Merkel ist in das Understatement? — Weitere Zurufe von der Berlin-Vertretung und präsentiert sich der SPD) der Presse!) sondern weil es mir darum geht, deutlich zu machen, daß diese Politik für uns einen hohen Stellenwert hat Dr. Konstanze Wegner (SPD): Ich halte dies in der und daß das auch im Parlament verbal zum Ausdruck Tat für einen Skandal. Das habe ich schon zu Anfang kommen sollte. zum Ausdruck gebracht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, anläßlich der er- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und sten Lesung des Haushalts sind hier bereits die allge- dem Bündnis 90/GRÜNE) meinen Standpunkte ausgetauscht worden. Das will Bitte sehr. ich nicht wiederholen; vielmehr will ich etwas zu den Streitpunkten der Diskussion im Haushaltsausschuß Ingrid Roitzsch (Quickborn) (CDU/CSU) : Frau Kol- sagen. legin Wegner, können Sie sich vorstellen, daß die Kol- (Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben doch leginnen der CDU/CSU und der FDP ihre Reden unter nicht gestritten!) anderem auch deshalb zu Protokoll gegeben haben, weil sie über 100 Mitarbeiter des Bundestages nicht Zunächst zum Thema Zivildienst. Laut mittelfristi- weiter bis tief in die Nacht aufhalten wollen? ger Finanzplanung will der Finanzminister die Zu- schüsse im Bereich Schwerstbehindertenbetreuung (Oh-Rufe bei der SPD — Ing rid Matthäus und mobile soziale Hilfsdienste abschaffen. Die Zivis Maier [SPD]: Das war nichts!) leisten dort, wie wir alle wissen, hervorragende Arbeit mit der Betreuung von Schwerstbehinderten. Sie tun Dr. Konstanze Wegner (SPD): Frau Kollegin dies auf eine unbürokratische, menschliche und auch Roitzsch, einmal im Jahr wird von den Haushälterin- kostengünstige Weise. nen und Haushältern zu diesem Punkt gesprochen. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke- Ich finde, diese Gelegenheit sollte man wahrnehmen. Liste) Es hat schon spätere Debattenzeitpunkte gegeben Ich habe in mehreren Presseerklärungen darauf und Themen mit weniger Stellenwert, über die hier hingewiesen, was uns hier ins Haus steht. Ich habe diskutiert worden ist. schon einen beträchtlichen Rücklauf an Briefen von (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Zivildienststellen bekommen. Allein bei 20 Zivil- dem Bündnis 90/GRÜNE) dienststellen sind etwa 700 Zivis in den Bereichen „Mobile Soziale Hilfsdienste" und „Individuelle Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin Schwerstbehindertenbetreuung" tätig. Sie betreuen Wegner, es gibt eine zweite Zwischenfrage, und zwar dort mehr als 2 300 Personen. Für diese Hilfe müssen des Kollegen Wieczorek. nur 4 bis 15 DM pro Stunde bezahlt werden. Übereinstimmend haben die Verbände festgestellt: Dr. Konstanze Wegner (SPD): Bitte. Wenn diese Zuschüsse abgeschafft werden, müssen 5262 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Dr. Konstanze Wegner sie sich aus diesen Bereichen zurückziehen. Das Kommen Sie mir jetzt nicht mit dem Föderalismus würde bedeuten: Es wird zu zahlreichen Heimeinwei- und der angeblichen Zuständigkeit von Ländern und sungen und letztlich zu beträchtlichen Kosten für die Kommunen! Solange es keine bundesgesetzliche Fi- Kommunen kommen. nanzierung von Frauen- und Mädchenhäusern gibt, Erfreulicherweise hat die Koalition im Haushalts- bleiben Bundesmittel nötig, um Frauenhausinitiativen ausschuß unseren Antrag angenommen, der sichert, zu unterstützen. daß diese Dienste zumindest bis 1993, 1994 fortge- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und führt werden können. dem Bündnis 90/GRÜNE) (Beifall bei der SPD) Es ist aber keine müde Mark in diesem Haushalt für Ich muß meine Rede ein wenig kürzen, damit ich sie Frauenhäuser vorgesehen. Unseren Antrag, den zu Ende bringen kann. ohnehin mickrigen Frauentitel entsprechend aufzu- stocken, haben Sie abgelehnt. Der eigentliche Konflikt steht uns im Haushalt 1993 bevor. Dann geht es darum, die 80 Millionen DM in (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sau den Haushalt bzw. in die mittelfristige Finanzplanung erei!) einzustellen, um die Fortführung dieser Dienste zu Ein Frauenhausfinanzierungsgesetz ist überfällig. ermöglichen. Ich hoffe, daß Sie von der Koalition dann Wenn Sie hier Ihre Hausaufgaben machen, brauchen weiter mutig sind und uns unterstützen. wir keine Bundesmittel mehr für eine Anschubfinan- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist zierung. uns von Geburt an eigen!) Der Haushalt des Bundesministeriums für Frauen Denn bei allem Zwang zum Sparen, Herr Kollege und Jugend insgesamt ist gegenüber 1991 um etwa Austermann, geht es nicht an, daß sich der Finanzmi- ein Drittel geschrumpft, weil er keine Zuschüsse des nister auf Kosten der Schwächeren in unserer Gesell- Bundes zu den Kinderbetreuungseinrichtungen mehr schaft entlastet enthält. Die Koalition wehrt sich gegen einen solchen Zuschuß mit Hinweis auf die Länderkompetenz. Da- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das bei vergißt sie, daß wir derzeit Anschubfinanzierun- macht er nicht!) gen in vielen Bereichen leisten, wo der Bund eigent- — doch, das tut er — und die Kosten schließlich den lich nicht zuständig ist. Kommunen zuschiebt, die dann weit größere Aufwen- Der Zusammenbruch der Kinderbetreuungseinrich- dungen haben. tungen ist bisher nicht eingetreten; nicht zuletzt dank (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke des Bundeszuschusses. Aber die Furcht vor Schlie- Liste) ßungen besteht in der Bevölkerung weiterhin; zumal ein Kindergartenplatz heute vier- bis fünfmal so teuer Für den Bereich der Zivis haben Sie Einsicht ge- ist wie vor der Wende. Es besteht durchaus die Gefahr, zeigt. daß arbeitslos gewordene Mütter ihre Kinder zu (Bundesminister Dr. Theodor Waigel bet ritt Hause behalten und damit zum weiteren Abbau der den Saal und nimmt auf der Regierungsbank Einrichtungen beitragen. Platz — Beifall im ganzen Hause — Bartholo Wir bedauern es außerordentlich, daß Sie unseren mäus Kalb [CDU/CSU]: Beifall des ganzen Antrag, die Kindergärten in Ostdeutschland — ich Hauses!) sage das als Haushälterin — für eine bestimmte Zeit — Respekt, Herr Finanzminister! Sie waren auch bei und degressiv zu unterstützen, bis Länder und Kom- meiner vorigen Rede anwesend. Ich empfinde das als munen in der Lage sind, diese Einrichtungen voll Zeichen persönlicher Zuneigung. selbst zu finanzieren, abgelehnt haben. (Heiterkeit im ganzen Hause — Bundesmini (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und ster Dr. Theodor Waigel erhebt sich und ver dem Bündnis 90/GRÜNE — Ing rid Mat beugt sich zur Rednerin hin — Beifall im gan thäus-Maier [SPD]: Grüß die einmal alle!) zen Hause — Dietrich Austermann [CDU/ — Ich freue mich herzlich, hier auch die Koalitionskol- CSU]: Höflich! Nicht so schlimm wie beim legen aus dem Haushaltsausschuß zu sehen. vorigen Mal!) (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ Ganz und gar uneinsichtig waren Sie, lieber Finanz- CSU: Wir sind schon lange hier!) minister, und Ihre Koalition aber leider, was die An- - schubfinanzierung von Frauenhäusern in den neuen Die Kollegin Männle hatte ich sogar mit einem Zitat Ländern angeht. bedenken wollen, aber das habe ich jetzt gekürzt, weil sie nicht da war. (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Nein!) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li ste) — Dann kennen Sie Ihren eigenen Haushalt nicht. Auf Ihre Jugendpolitik sind Sie sehr stolz, aber lei- (Heiterkeit bei der SPD) der ist hier keine klare Konzeption erkennbar, son- 90 Frauenhäuser gibt es dort bisher. Angesichts des dern nur eine hektische Folge von Sonderprogram- steigenden Bedarfs bilden sich ständig neue Initiati- men. 1991 gab es das Programm „Sommer der Begeg- ven. Alle Frauenhäuser sind überfüllt. Die meisten nung" ; jetzt kommt das mit 20 Millionen DM ausge- leben mit finanziell ungesicherter Zukunft. stattete Sonderprogramm „Zielgruppenorientierte Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5263

Dr. Konstanze Wegner Prävention". Das ist so ein richtig schöner gesamt- che, sondern Halbherzigkeit und Ideenarmut im Mini- deutscher Ohrwurm. sterium. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ein sehr gu (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und tes Programm!) dem Bündnis 90/GRÜNE) Zum Schluß ein Zitat. Ich zitiere den Informa- Und nun kommt plötzlich mit 50 Millionen DM noch tionsdienst der Katholischen Frauengemeinschaft ein „Aufbauprogramm" für die neuen Länder hinzu. Deutschlands; sicher kein sozialistisches Kampfblatt. Dieses Programm kam in der Bereinigungssitzung auf den Tisch, aber nur die nackten Zahlen, ohne jeden (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Gott sei Hinweis, ob dieses Programm dezentral oder allein Dank, nein!) vom Ministerium her gefahren werden sollte. Er schreibt in seiner Septemberausgabe: (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das neh Trotzdem muten 20 Millionen angesichts sonsti- men Sie sofort zurück!) ger Haushaltskosten und der oft miserablen Si- tuation der Frauen — nicht nur in den neuen Bun- Wir werfen Ihnen nun nicht vor, daß Sie Geld für die desländern — wie ein Taschengeld an. ... die Jugendarbeit in den neuen Ländern zur Verfügung Frauen müssen wieder einmal erkennen, was sie stellen; im Gegenteil: Alle Kenner der Materie stim- — neben schönen Worten — der Bundesregie- men überein, daß weit höhere Mittel nötig wären, rung wirklich wert sind. sowohl in den alten wie in den neuen Ländern im Ich habe dem nichts hinzuzufügen und danke für investiven Bereich und für die Verbandsarbeit. Ihre Geduld. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und (Lebhafter Beifall bei der SPD, der PDS/ dem Bündnis 90/GRÜNE) Linke Liste, dem Bündnis 90/GRÜNE sowie des Bundesministers Dr. Theodor Waigel — Wir kritisieren aber — und da sollten Sie gut zuhö- Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Zugabe!) ren — Ihre hektischen Einmal-Programme — sie wei- sen keine ausreichende Vorbereitung und Verzah- nung auf — und dienen vor allem dem einen Zweck, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich darf mich der das Ministerium in den Blickpunkt zu rücken. Kollegin Konstanze Wegner anschließen und meiner Zufriedenheit darüber Ausdruck verleihen, daß den Ich hatte noch einige Bemerkungen zur Otto-Be- Beratungen über den Einzelplan 15, den Haushalt für necke-Stiftung vorbereitet. Ich kürze diesen Teil Frauen und Jugend, der Bundesfinanzminister und jetzt der Staatssekretär für Wirtschaft beiwohnen. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Schade!) FDP — Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was heißt denn „beiwohnen"?) und will mich auf nur zwei Bemerkungen beschrän- ken. Ich hoffe sehr, daß es die Koalition nicht bereut, — Herr Kollege Austermann, wenn Sie hier irgendwie daß sie unseren Antrag abgelehnt hat, zwei Drittel der alltäglichen Sexismus im Parlament praktizieren wol- Mittel in den Titeln qualifiziert zu sperren, aus denen len, würde ich Ihnen raten, das nicht zu tun. die Otto-Benecke-Stiftung Zuschüsse erhält. Mehr (Heiterkeit — Beifall bei der SPD, der PDS/ möchte ich dazu nicht sagen. Linke Liste und beim Bündnis 90/GRÜNE) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Nun möchte ich das Parlament um seine Zustim- GRÜNE) mung bitten, daß die Kollegin Uta Würfel ebenfalls ihre Rede, abweichend von unserer Geschäftsord- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nung, zu Protokoll geben darf. Darf ich Ihr Einver- Ich habe auf eine generelle Betrachtung der Frauen- ständnis dazu erbitten? — Nachdem keine gegenteili- politik verzichtet. gen Wortmeldungen da sind, ist das so beschlossen. (Zurufe von der CDU/CSU: Das war gut Als nächste hat die Kollegin Petra Bläss das Wort. so!) Aber Sie werden mir zum Schluß eine Bemerkung all- Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! gemeiner Art gestatten. Ein Frauentitel von 20 Millio- Meine Damen und Herren! Auf der Jahrestagung des nen DM ist angesichts eines Gesamtvolumens unseres Deutschen Frauenrates vergangenes Wochenende- in Haushalts von 422 Milliarden DM absolut kümmer- Berlin verkündete Bundesfrauenministerin Merkel, lich. die heute unsere Debatte leider nicht verfolgt, (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sie ist in (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Gedanken bei uns!) dem Bündnis 90/GRÜNE) Frauenpolitik und insbesondere die Vereinbarkeit Außerdem hat das Ministe rium immer noch Probleme, von Familie und Beruf würden zum Prüfstein bei der diesen Titel überhaupt richtig auszugeben. Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. Fürwahr deutliche Worte, die sich frau hinter (Dietri ch Austermann [CDU/CSU]: Ja?) den Spiegel stecken sollte. Wenn dieser Titel auf Dauer so jämmerlich ausgestat Meine Damen und Herren, gegen eine Anglei- tet bleibt, so ist letztlich nicht Geldmangel die Ursa- chung der Lebensverhältnisse in Ost und West haben 5264 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Petra Bläss wir durchaus nichts einzuwenden. Aber schon ein schaft eher erschwert denn fördert, diese schmerz- Blick in die Arbeitsmarktstatistiken der neuen Bun- hafte Erfahrung müssen Frauen, für die in der DDR desländer legt den Verdacht nahe, daß darunter bei- weitaus bessere Konditionen selbstverständlich wa- spielsweise verstanden wird, fortan bei der Frauener- ren, jetzt machen. So deutet sich schon jetzt an, daß werbstätigkeitsrate und dem damit verbundenen die vielgepriesene Verlängerung des Erziehungsur- Grad an ökonomischer Eigenständigkeit der Frau alt- laubs nach der Geburt eines Kindes ab Januar 1992 als bundesrepublikanische Maßstäbe anzulegen. Im Freibrief für die Reduzierung von Kinderkrippenplät- Klartext heißt das: schrittweise Angleichung der Frau- zen mißbraucht wird. Auf welcher Grundlage, wenn enerwerbstätigkeitsquote Ost von ehemals 91 % an nicht auf dieser, ist beispielsweise der Beschluß der die Quote West von 54%. Stadtverordnetenversammlung Nordhausen in Thü- ringen zustande gekommen, ab Januar 1992 Kinder (Unruhe) unter zwei Jahren nur noch in Ausnahmefällen in — Darf ich vielleicht einmal anmerken: Die Lautstärke Krippen aufzunehmen? Zweifellos kommt man auf zeigt mir, welche Bedeutung Sie der Frauenpolitik in diese Art und Weise sehr schnell zu der erwünschten diesem Lande hier überhaupt beimessen. Bedarfssenkung. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Das Hauptmittel aber, Frauen aus dem Erwerbsle- GRÜNE — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] ben herauszudrängen, ist ihre einseitige Festlegung [FDP]: Nicht der Frauenpolitik, sondern Ih auf die traditionelle Mutter- und Hausfrauenrolle. nen!) Der berühmt-berüchtigte Schandparagraph 218, der nach dem Willen der CDU/CSU jetzt auch den Frauen Zweifellos sind es Frauen, die zuerst das zweifel- in den neuen Bundesländern übergestülpt werden hafte Privileg haben, die angestrebte Angleichung der soll, Lebensbedingungen am eigenen Leibe erfahren zu dürfen. Sie sind die ersten, die aus Betrieben und (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Gewöh abzuwickelnden Institutionen entlassen werden, und nen Sie sich bitte einmal daran, daß wir eine die letzten, die eine neue Stelle bekommen. Die 60- demokratische Verfassung haben!) %-Marke beim Arbeitslosenanteil ist längst über- tut dies mittels strafrechtlicher Sanktionierung des schritten, und die Wiedervermittlungsrate bleibt kon- Schwangerschaftsabbruchs. stant niedrig. Angleichung der Lebensverhältnisse um den Preis An diesen Fakten ändern auch die mittlerweile für der Aufgabe des Selbstbestimmungsrechts über den jede Sonntagsrede obligatorisch gewordenen Be- eigenen Körper? Das, denke ich, haben Frauen in den kenntnisse zum Gleichheitsgrundsatz nichts. neuen Bundesländern wohl als allerletztes erwartet, als sie auf eine Veränderung ihrer bisherigen Lage (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Heute hofften. ist Donnerstag!) Welchen tatsächlichen Stellenwert die Bundesre- Der Frauenerwerbslosigkeit und der damit drohen- gierung der Politik für Frauen und Jugend einräumt, den Frauenarmut kann nur begegnet werden, wenn das macht sich letztlich an den Finanzen fest. Da sie als erstrangiges Problem behandelt und eine dem- spricht die rasante Kürzung um ein Drittel einschließ- entsprechende Struktur- und Beschäftigungspolitik lich der Begründung, daß die Ursache für diesen Ein- betrieben wird. schnitt nur die jetzt wegfallenden Bundeszuschüsse Bisher sind dafür höchstens in Brandenburg — erin- für den Erhalt der Kindereinrichtungen in den neuen nert sei hier an die besondere finanzielle Förderung Bundesländern sind, schon Bände. Wohlgemerkt, dies von Ausbildungsplätzen für Mädchen und an die För- alles ist der Hintergrund für die Debatte über den derung modellhafter Projekte gegen Frauenarbeitslo- sogenannten Schutz des ungeborenen Lebens. sigkeit — oder in Berlin mit dem Programm der Sena- (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Was heißt torin Bergmann „Arbeitsplätze für Berlin" Ansätze denn hier „sogenannt"?) erkennbar. Da der Schrumpfhaushalt des Einzelplans 17 unse- Gerade auf dem Arbeitsmarkt erweist sich eine ver- res Erachtens in keiner Weise den Ansprüchen an eine bindliche Quotenregelung als unabdingbar; denn nur wahrhaft frauen- und jugendfreundliche Gesellschaft mit ihrer Hilfe können Frauen bei Platzvergaben ent- gerecht wird, wird die PDS/Linke Liste ihm die Zu- sprechend ihrem Anteil an der erwerbstätigen Bevöl- stimmung verweigern. kerung tatsächlich berücksichtigt werden — dank Danke. nach wie vor perfekt funktionierender patriarchali- - scher Strukturen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie der Abg. Christina Schenk [Bündnis 90/ (Zuruf von der CDU/CSU: Na, na!) GRÜNE]) Aber einem solchen Mittel zum Zweck haben die Kol- leginnen und Kollegen auf der Regierungsbank be- Nun hat sich der reits mehrfach eine klare Abfuhr erteilt. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Duve zu einer Kurzintervention gemeldet. Angleichung an westliche Standards für Frauen aus den östlichen Bundesländern, heißt das fortan, gleich ihren Schwestern jenseits der Elbe die Früchte der Freimut Duve (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- Bonner Frauen- oder besser: Familienpolitik ernten ginnen und Kollegen! Ich möchte mich an uns, an Sie zu dürfen? Daß diese entgegen allen Bekundungen wenden. Frau Roitzsch, Sie hatten eben in durchaus eine Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Eltern- verständlicher Weise in einer Frage an die Kollegin Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5265

Freimut Duve Wegner gemeint, auch sie solle ihre Rede zu Protokoll Ende der Rednerliste zu diesem Einzelplan angekom- geben men. (Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Wir kommen nun zur Abstimmung. Wer stimmt für Nein!) den Einzelplan 17 in der Ausschußfassung? — Gegen- — oder sie möge es tun — und beachten, daß die Mit- probe! — Enthaltungen? — Damit ist der Einzel- arbeiter jetzt noch sehr lange zu tun hätten. plan 17 angenommen. Ich denke, wir sollten in dieser Frage sehr behutsam miteinander umgehen. Es geschieht nicht oft, daß wir Ich rufe nun den Einzelplan 18 und den heute mor- wichtige Debatten führen. Wir sind ein Parlament, gen aufgesetzten Zusatzpunkt auf: und das Zuprotokollgeben liegt ausschließlich in der Einzelplan 18 Entscheidung eines jeden einzelnen. Wir sollten es wirklich würdigen, wenn wir hier gemeinsam arbei- Geschäftsbereich des Bundesministers für ten, und wir sollten unsere gemeinsame Arbeit im Par- Familie und Senioren lament und die Redeform nicht noch mehr durch sol- — Drucksachen 12/1418, 12/1600 — che Zwischenbemerkungen und solche Hinweise sel- Berichterstattung: ber beschneiden. Ich bitte sehr darum, daß wir wirk- Abgeordnete Irmgard Karwatzki lich Beratungen haben und die Beratungen auch ernst Dr. Sigrid Hoth nehmen. Dr. Konstanze Wegner (Beifall bei der SPD, der FDP und dem Bünd Beratung des Antrags der Abgeordneten Ga- nis 90/GRÜNE) briele Iwersen, Dieter Maaß (Herne), Siegfried Scheffler, weiterer Abgeordneter und der Frak- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zu einer weiteren tion der SPD Kurzintervention erteile ich der Frau Kollegin Roitzsch Wohnen im Alter das Wort. — Drucksache 12/1571 — Überweisungsvorschlag: Ingrid Roitzsch (Quickborn) (CDU/CSU): Herr Kol- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau lege Duve, wenn Sie mir richtig zugehört hätten, dann (federführend) hätten Sie bemerkt — Sie können es hinterher im Pro- Ausschuß für Familie und Senioren tokoll auch nachlesen —, daß ich die Kollegin Wegner Es wurde der Wunsch geäußert, die Reden zum Ein- gefragt habe, ob sie sich vorstellen könnte, daß die zelplan 18 zu Protokoll zu geben, und zwar von den Kolleginnen der CDU/CSU und der FDP ihre Reden Kolleginnen Frau Dr. Wegner, Frau Dr. Hoth, Frau aus den und den Gründen zu Protokoll gegeben ha- Ministerin Rönsch, Frau Karwatzki und Frau Höll. Ich ben. Das habe ich gesagt; ich habe die Kollegin Weg- bitte Sie um Zustimmung zu dieser Abweichung von ner nicht aufgefordert, Ihre Rede zu Protokoll zu ge- unserer Geschäftsordnung. Wird die Zustimmung er- ben. teilt? — Das ist der Fall.*) (Beifall bei der CDU/CSU) Weitere Wortmeldungen zu diesem Einzelplan lie- Nun muß ich in diesem Zusammenhang sagen — gen mir nicht vor. Deshalb kommen wir sofort zur ich habe das gegenüber der Frau Präsidentin erklärt; Abstimmung. Sie hat das leider nicht weitergegeben — , daß es eine Wer stimmt für den Einzelplan 18 in der Ausschuß- Vereinbarung mit Haushälterkollegen der SPD gege- fassung? — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? ben hat, die gesagt haben: Wir geben die Reden eben- — Damit ist der Einzelplan 18 so angenommen. falls zu Protokoll. Der Antrag der Fraktion der SPD zum Wohnen im (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! — Alter auf Drucksache 12/1571 soll zur federführenden Zurufe von der SPD) Beratung an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwe- — Das können Sie unter sich ausmachen. sen und Städtebau und zur Mitberatung an den Aus- schuß für Familie und Senioren überwiesen werden. (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Nein, das Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre keinen Wi- gibt es nicht! Geschäftsführer ohne Auftrag, derspruch. Dann ist es so beschlossen. das ist doch nicht möglich!) — Ich habe doch nicht von Geschäftsführern gespro- chen. Hier wurde moniert, daß die Minsterinnen nicht Nun rufe ich auf: anwesend sind. Sie haben sich auf die Absprache ver- Haushaltsgesetz 1992 - lassen, und wir haben ihnen gesagt, daß sie nicht — Drucksachen 12/1601, 12/1602 — anwesend sein müßten. Ich meine, Schuldzuweisun- gen bringen uns nicht weiter. Wir sollten hier mit die- Berichterstattung: sen Schuldzuweisungen aufhören. Abgeordnete Jochen Borchert Adolf Roth (Gießen) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Helmut Wieczorek (Duisburg) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Dies zeigt uns, Helmut Esters daß das Parlament in seinen Entscheidungen frei ist, Eine Aussprache ist dafür nicht vorgesehen. Wir und dies war einmal mehr zu beweisen. kommen deshalb gleich zur Abstimmung. Wer stimmt Wir sind damit, da mir keine weiteren Wortmeldun- gen zur Beratung zum Einzelplan 17 vorliegen, am *) Anlage 5 5266 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Vizepräsidentin Renate Schmidt für das Haushaltsgesetz 1992 einschließlich des Ge- Eine Aussprache ist auch dafür nicht vorgesehen. samtplans in der Ausschußfassung? — Wer stimmt Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung über die dagegen? — Enthaltungen? — Das Haushaltsgesetz Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf 1992 ist damit in zweiter Beratung angenommen. Drucksache 12/1629. Der Ausschuß empfiehlt, von der Unterrichtung durch die Bundesregierung Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- Ich rufe nun Tagesordnungspunkt V aus: lung des Haushaltsausschusses? — Gegenprobe! — Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Beschlußemp- haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- fehlung so angenommen. richtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1991 bis 1995 Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deut- — Drucksachen 12/1001, 12/1329, 12/1629 — schen Bundestages auf morgen, Freitag, den 29. No- Berichterstattung: vember 1991, 9 Uhr ein. Ich wünsche einen schönen Abgeordnete Jochen Borchert Abend und eine gute Nacht. Adolf Roth (Gießen) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Die Sitzung ist geschlossen. Helmut Wieczorek (Duisburg) Helmut Esters (Schluß der Sitzung: 21.44 Uhr)

Berichtigung

60. Sitzung, Seite 5120 C, zweiter Absatz: In der 4. Zeile muß es statt „Eurokomputer" „Neurokompu- ter" heißen.

In der 5. Zeile ist statt „neu" „verstärkt" zu lesen. Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5267*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 sen, stützt sich im wesentlichen auf einen Prüfungsbe- richt des Bundesrechnungshofes vom Juli 1991, den Liste der entschuldigten Abgeordneten der Rechnungsprüfungsausschuß einstimmig - also mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen - zur entschuldigt bis Kenntnis genommen hat. Der Rechnungshof kritisiert, Abgeordnete(r) einschließlich daß die Bundespost bzw. die TELEKOM bei der Vor- bereitung der Beteiligung an der bundesweiten Grün- CDU/CSU 28. 11. 91 Bargfrede, Heinz-Günter dung und Initiierung von regionalen Kabel-Service- Dr. Däubler-Gmelin, SPD 28. 11. 91 gesellschaften von erkennbar zu günstigen Absatz- Herta zahlen ausging. Die Beteiligungskonzeption ent- Doppmeier, Hubert CDU/CSU 28. 11. 91 sprach nicht den Markterfordernissen, die Annahmen Eymer, Anke CDU/CSU 28. 11. 91 über Marktvolumen und deren Erschließungsmög- Dr. Funke-Schmitt-Rink, FDP 28. 11. 91 lichkeiten durch regionale Kabel-Servicegesellschaf- Margret ten haben sich als völlig unzureichend erwiesen. Das Dr. Glotz, Peter SPD 28. 11. 91 Ziel der vom Hause Schwarz-Schilling betriebenen Politik der forcierten Breitbandverkabelung, nämlich CDU/CSU 28.11.91 Haschke die Steigerung der Anschlüsse ans Netz, mit deren (Großhennersdorf), Hilfe die Wirtschaftlichkeit des ganzen Projekts er- Gottfried höht werden sollte, ist auch nach Ansicht des Rech- Dr. Haussmann, Helmut FDP 28. 11. 91 nungshofes wirtschaftlich gescheitert. Die Breitband- Dr. Holtz, Uwe SPD 28. 11. 91 * verkabelung zählt zu den gewissermaßen „verläßli- Huonker, Gunter SPD 28. 11. 91 chen" Verlustposten der TELEKOM. Koschnick, Hans SPD 28. 11. 91 Die TELEKOM verfügt nicht über die im Postverfas- Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 28. 11. 91 sungsgesetz festgelegte Eigenkapitalquote von 33 Günther des ausgewiesenen Geamtkapitals. Um diesen Pro- Kubicki, Wolfgang FDP 28. 11. 91 zentsatz zu erreichen, müßten 10 Milliarden DM zu- Lenzer, Christian CDU/CSU 28. 11. 91 * * sätzlich bereitgestellt werden. Mittlerweile machen Meißner, Herbert SPD 28. 11. 91 bei der TELEKOM die Kapitalkosten 50 % des Ge- Mischnick, Wolfgang FDP 28. 11. 91 samtaufwandes aus. Rechnet man die Personalkosten hinzu, dann kommt man auf einen Anteil von 68 % am Dr. Müller, Günther CDU/CSU 28. 11. 91 * * Etat der TELEKOM, der durch Kapital- und Personal- Nolte, Claudia CDU/CSU 28. 11. 91 kosten gebunden ist. Dr. Paziorek, Peter Paul CDU/CSU 28. 11. 91 Reddemann, Gerhard CDU/CSU 28. 11. 91 * Um Herrn Schwarz-Schillings ehrgeizige Projekte Rempe, Walter SPD 28. 11. 91 verwirklichen, d. h. finanzieren zu können, muß eine steigende Netto-Neuverschuldung in Kauf genom- CDU/CSU 28. 11. 91 Repnik, Hans-Peter men werden; die Neuverschuldung bei der TELE- Dr. Scheer, Hermann SPD 28. 11. 91 KOM hat sich von 6 Milliarden DM im Jahre 1990, auf Schuster, Hans Paul FDP 28. 11. 91 15 Milliarden DM in 1991 erhöht. Im kommenden Jahr Hermann wird sich die TELEKOM mit weiteren 17 Milliarden Seidenthal, Bodo SPD 28. 11. 91 DM verschulden. Bei Beibehaltung der ergebnisunab- Dr. Soell, Hartmut SPD 28. 11. 91 * * hängigen Ablieferung an den Bundeshaushalt, die Dr. von Teichman FDP 28. 11. 91 * 10 % des Umsatzes beträgt, würde die Eigenkapital- Cornelia quote der TELEKOM von 29 % im Jahre 1990 auf 20 % im Jahre 1998 sinken. Da der Bund als Eigentümer der 28. 11. 91 Voigt (Frankfurt), SPD TELEKOM zuschußpflichtig ist, wird der Finanz- Karsten D. minister weitere Kreditaufnahmen in einem Schatten- Wollenberger, Vera Bündnis 28. 11. 91 haushalt unterbringen müssen, um die im Bundes- 90/GRÜNE haushalt ausgewiesene Netto-Neuverschuldung in * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Höhe von rund 45 Milliarden DM beibehalten zu lung des Europarates können. * * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union - Der von Herrn Schwarz-Schilling ins Werk gesetzte Ausbau des Kabel-Fernsehens wird der TELEKOM im kommenden Jahr einen Verlust von mehr als 1 Milli- Anlage 2 arde DM bescheren; die Kabelfernseh-Kunden dürfen sich schon jetzt auf eine 24 %ige Gebührenerhöhung Zu Protokoll gegebene Rede freuen. zur Beratung des Einzelplans 13 - Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunika Um sich und seine ehrgeizigen Verkabelungspläne tion - international gebührend würdigen zu lassen, hat der Minister in seinem Etat 300 000 DM für die Beteili- Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Li gung an Messen und Ausstellungen veranschlagen ste): Die Kritik, die wir am Einzelplan 13 üben müs- lassen. International soll die Bundesrepublik als „füh- 5268* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 rende Post- und Telekommunikation" gefeiert wer- appellieren, sich mit der gleichen Offenheit an dem den, national wird sie mit Gerichtsverfahren auf Gelingen dieser Aufgabe zu beteiligen. Grund von Neuregelungen im Telekommunikations- bereich überzogen, die eine Erhöhung des entspre- chenden Haushaltstitels um 100 % erforderlich ma- chen. Die 3,2 Millionen DM, die für Forschungsauf- träge und Untersuchungen ausgegeben werden sol- Anlage 4 len, stehen in einem direkten Zusammenhang mit der Regulierung des Kommunikationsmarktes à la Zu Protokoll gegebene Reden Schwarz-Schilling. Die Erhöhung der Kosten für inter- zur Beratung des Einzelplans 17 — Geschäftsbereich nationale Tagungen und Konferenzen um 200 000 auf des Bundesministers für Frauen und Jugend 550 000 DM, die der NATO, d. h. dem dortigen Pla- nungsausschuß für zivilen Fernmeldeverkehr und dem „Alliierten Amt für Fernmeldeverkehr" zugute (CDU/CSU): Erfahrungsgemäß—Susanne Jaffke ist kommen sollen, sind auch nicht geeignet, uns für eine das Plenum nicht nur zu vorgerückter Stunde leer, Zustimmung zum Einzelplan 13 zu erwärmen. Herr sondern auch beim Thema „Frauen und Jugendpoli- Bundesminister, für diesen Etat gilt: „Annahme ver- tik". Das ist recht bedauerlich; denn allgemein wird weigert" bzw. alternativ: „Zurück an den Absen- — ganz besonders von der Opposition — dieses der! " Thema populistisch in der Öffentlichkeit verkauft. Es zeigt einmal mehr, daß sowohl Frauen als auch Ju- gendliche andere Strategien entwickeln müssen, wenn sie in der deutschen Gesellschaft ernster ge- nommen werden wollen. Leider erfahren wir — besonders in letzter Zeit — Anlage 3 nachhaltig Aktivitäten von Jugendlichen, die unse- Zu Protokoll gegebene Rede rem Volk schlecht zu Gesicht stehen. Wer eine solche zur Beratung des Einzelplans 15 „Beweglichkeit" entwickelt, warum, mit welchem — Geschäftsbereich des Bundesministers Hintergrund und woher die Finanzen dafür kommen, sollte uns doch sicherlich im Fachausschuß gesondert für Gesundheit — interessieren. Sicher ist aber, daß aus dem Staatshaus- halt keine Gelder für „gesellschaftliche Entgleisun- Dr. Dieter Thomae (FDP): Ich bin der festen Überzeu gen" fließen! gung, daß die Umstellung der gesetzlichen Kranken- Wobei wir beim heutigen Thema wären: Verab- kassen vom Sachleistungs- zum Kostenerstattungs- schiedung des Haushalts Einzelplan 17 in der Aus- prinzip zur Entscheidung ansteht, denn auf Dauer schußfassung. Sicher, es ist nicht nur das Recht, son- wird das Sachleistungsprinzip nicht zu halten sein. dern auch die Pflicht der Opposition, alles in Frage zu Ich bin froh, daß der Sachverständigenrat für die stellen. Besondere Schwerpunkte nehmen nun mal Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen die Über- Kindergärten und Frauenhäuser ein. Unumstritten ist legungen der FDP aufgegriffen hat und die Abkehr auch, daß unsere politischen Intentionen diesbezüg- von der Planwirtschaft fordert und die marktwirt- lich gar nicht so weit auseinanderdriften. Es sind die schaftlichen Anreizsysteme nach den Vorstellungen unterschiedlichen Wege und Zuständigkeiten, die uns der FDP in den Mittelpunkt der Überlegungen stellt. den Streit in der Sache bescheren. Ich halte sozial ausgewogene Anreizsysteme für we- Berufstätigkeit und Kinderbetreuung zu verknüp- sentlich sozialer und erträglicher, als die Versicherten fen ist für manche Frauen schwer. Andere wollen ent- und im übrigen auch die Arbeitgeber Jahr für Jahr mit weder das eine oder das andere nicht. Man muß es als den Zusatzkosten zu belasten, die durch Unwirt- gegeben hinnehmen. Deshalb sind die diesbezügli- schaftlichkeiten in unserem Gesundheitswesen ent- chen Zuständigkeiten eben nicht zentral, sondern re- stehen. Ich halte ein solches Anreizsystem im übrigen gional vergeben worden. Und die Länder, die diesbe- auch für sozial ausgewogener als eine Politik der Lei- züglich die Verantwortung tragen, sind in allen ande- stungsbegrenzung oder der Leistungsdeckelung. ren Bereichen mehr als selbstbewußt. Warum sollten Denn zu solchen Notwendigkeiten kommen Sie sie deshalb eigentlich nicht in der Lage sein können, zwangsläufig, wenn wir nicht heute die Vorausset- ihrer Verantwortung nachzukommen? zungen für eine solide Finanzierung der Leistung von - morgen schaffen. Gleiches trifft auch für die Problematik der Frauen- häuser zu. Dennoch gibt es auch in diesem Haushalt Mit der Verabschiedung des Einzelplanes 15 für das wieder Hilfen für Maßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsministerium werden wir heute zugleich rechtlichen und sozialen Stellung der Frau. den Grundstein für eine erfolgreiche Gesundheits- politik im Jahre 1992 legen. Den zweifellos schwieri- Schwerpunkte dieser Förderung sind mit 7,1 Millio- gen Diskussionen über den richtigen Kurs dafür ste- nen DM „Verbesserung der Situation von Mädchen hen wir Liberalen in den kommenden Wochen und und Frauen in den neuen Bundesländern" als größtem Monaten vorbehaltlos und aufgeschlossen gegen- Posten von 20 Millionen DM. Mit 6,8 Millionen DM über. rangiert hier an zweiter Stelle die Position „Wieder- eingliederung von Frauen nach der Familienphase". Lassen Sie uns die Vorschläge des Gutachtens in die „Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt" Überlegungen einbeziehen. Ich kann nur an Sie alle — eben auch Förderung von Frauenhäusern — um- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5269* faßt ein Volumen von 1,25 Millionen DM bundessei- schen immer mehr verbreite. Dazu drei Klarstellun- tig. gen. Bei voller Ausnutzung aller Verantwortlichkeiten, Erstens: Kinderbetreuungseinrichtungen. Wir sind denke ich, sollte es recht gut möglich sein, in Zusam- froh, daß die sozialistische Vorstellung von Kinderbe- menarbeit mit Ländern und Kommunen gute begon- treuung ein für allemal ein Ende gefunden hat. Viel- nene Arbeiten weiterzuführen. leicht unterscheiden wir uns darin von der SPD: Ich Lassen Sie mich nun ein paar Worte zum Thema hoffe aber, daß das nicht so ist. Richtig ist, daß das Jugendpolitik vorbringen: Hier hat sich in der Bun- Angebot von Einrichtungen in der DDR flächendek- desrepublik Deutschland der Bundesjugendplan als kend war. hervorragendes Instrument zur zentralen Förderung Nicht verstehen kann ich Herrn Kloses Behauptung, freier Jugendverbände gut bewährt. Es steht für mich wir hätten nichts getan, ein bedarfsdeckendes Ange- dennoch außer Frage, daß durch die deutsche Einheit bot zu sichern. Vielleicht hat die SPD-Fraktion aber bezüglich Jugendpolitik ebenfalls eine neue Situation nur versäumt, ihren neuen Vorsitzenden richtig zu entstanden ist. Deshalb darf eben nicht geschehen, informieren. Die Bundesregierung hat 1 Milliarde DM die Mittel des Bundesjugendplans prozentual der Ein- zur Verfügung gestellt, um die Einrichtungen zu heit zu erweitern — wenn es auch für manche Ver- sichern. Es wird auch großer Anstrengungen der Län- bände einfach wäre. Nein, wir müssen neue Dinge tun der bedürfen, die Kosten in den Haushalten aufzu- — neu und jugendgemäß. bringen. Aber das Problem Kinderbetreuung ist als Auch Inhalte der Förderung bedürfen einer drin- eine politische Herausforderung erkannt worden. genden Reformierung. Aus diesem Grunde haben wir Deshalb ist die von der SPD prophezeite Welle der im Rahmen dessen die Möglichkeit geschaffen, freien Zusammenbrüche und Schließungen ausgeblieben. Trägern für neue Maßnahmen ein Volumen von Und es waren und sind CDU-geführte Länder 5,3 Millionen DM anzubieten. — Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen —, die den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz festge- Auch die von mir eingangs erwähnten Problemfel- schrieben haben. Ich wäre froh, wenn Sie hier mittei- der Gewalt von Jugendlichen gegen „Schwache" len würden, daß auch SPD-regierte Länder diesen oder „Andere" in unserem Land wurden besonders Schritt tun. gewertet. 20 Millionen DM stehen in einem Aktions- programm „Zielgruppenorientierte Prävention" dies- Zweitens: Frauenarbeitslosigkeit. Ich stimme Ihnen bezüglich den Verbänden zur Verfügung. zu, wenn Sie die hohe Frauenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern beklagen. Dies ist eines der Ein besonderes Anliegen ist es nach wie vor, Ju- dringlichsten Probleme, die wir lösen müssen. Herr gendverbandsstrukturen in den neuen Bundeslän- Klose weiß so gut wie ich, daß der wesentliche Grund dern aufzubauen. Ich freue mich deshalb ganz beson- darin liegt, daß Frauen in der Planwirtschaft in erster ders, daß es der Koalition gelungen ist, für 50 Millio- Linie in Industriezweigen eingesetzt waren, die un- nen DM ein Sonderprogramm für 1992 zu begründen. produktiv arbeiteten, veraltete Strukturen hatten und Mit einer qualifizierten Sperre wollen wir auch in die- die in einer Konkurrenzsituation nicht mehr aufrecht- sem Zusammenhang erreichen, daß es eben kein erhalten werden können. Deshalb dient ein großer „Überschwappen" der „alten" Strukturen aus den Teil unserer Bemühungen dem Chancenausgleich für „alten" Bundesländern gibt. Wir wollen den Jugend- Frauen. lichen in den neuen Bundesländern die Chance ge- ben, eigene Ideen zu verwirklichen. Damit das auch Die Bundesregierung hat mit der Bundesanstalt für geschieht, behält sich der Haushaltsausschuß die Arbeit festgelegt, daß Frauen bei den Arbeitsbeschaf- Kontrolle des Ministeriums vor. Bleibt nur zu hoffen, fungsmaßnahmen ihrem Anteil an den Arbeitslosen daß von den vielfältigen Möglichkeiten rege Ge- entsprechend berücksichtigt werden sollen. In Um- brauch gemacht wird. schulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen sind Frauen entsprechend ihrem Arbeitslosenanteil vertre- Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn ten. Von Januar bis Oktober haben 400 000 Frauen an auch die Kollegin Dr. Wegner hier wieder viele, aus- beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen teilgenom- schließlich kritische Worte finden mußte, möchte ich men; im Oktober waren es allein 54 000. Das sind mich dennoch bei ihr und natürlich bei der Kollegin 59,4 % aller beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen. Albowitz herzlich für die gute, konstruktive Zusam- menarbeit bedanken. Hinzu kommt, daß ein besonderer Anreiz geschaf- fen wurde, AB-Maßnahmen für Frauen einzurichten. Dank gilt auch dem gesamten Haus, das es sicher Wenn überwiegend Frauen an einer Maßnahme be- nicht besonders schwer hat, denn es ist ein übersicht- - teiligt werden, können zur Zeit 100 % der Lohnkosten liches und leicht zu durchschauendes Ministerium. als Zuschuß übernommen werden. Aber das macht die Sache an sich auch interessant und erfolgreich. Und erfolgreich werden wir die be- Ich danke Norbert Blüm und der Bundesanstalt für währte Politik weiterführen. Arbeit. Sie haben sich, wenn es um die Interessen der Frauen geht, außerordentlich kooperativ gezeigt. Dr. Angela Dorothea Merkel, Bundesministerin für Unsere Sorge dokumentiert sich insbesondere ge- Frauen und Jugend: Der neue Vorsitzende der SPD- genüber älteren Frauen. Ich halte es für einen bedeu- Bundestagsfraktion hat gestern in seiner Jungfern- tenden Erfolg unserer Sozialpolitik, daß inzwischen rede behauptet, die Bundesregierung habe die Frauen das durchschnittliche Rentenniveau für Frauen in den in den neuen Bundesländern im Stich gelassen und neuen Ländern 90 % von dem in den alten erreicht lasse es zu, daß sich die Gewalt unter jungen Men hat. 5270* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Mit den arbeits- und beschäftigungspolitischen rungen gegeben: Junge Menschen haben vor allem Maßnahmen der Bundesregierung überbrücken wir mit veränderten Rahmenbedingungen, Normen und die jetzt schwierige Zeit des Wechsels von einem zum Erwartungen im Bereich von Schule und Ausbildung anderen System. Es ist aber nicht nur die Bundesre- zu tun. Für viele ist es nicht einfach, sich in der Vielfalt gierung gefordert. Auch die Tarifpartner dürfen in neu zu orientieren. Hinzu kommt: Altes ist weggebro- ihren Anstrengungen nicht nachlassen. Noch immer chen, und Neues entsteht erst. sind Frauen bei Neueinstellungen unterrepräsentiert. Ich bitte auch die Arbeitsverwaltung, bei ihren Ver- Frauen sind vom Strukturwandel in besonderem mittlungen darauf zu achten, daß Frauen nicht unter- Maße betroffen. Ob Arbeitslosigkeit oder Umschu- durchschnittlich berücksichtigt werden. lung, ob Fragen der Kinderbetreuung oder der Schule, ob der Wandel des Familienbildes oder auch die Ver- Drittens: Aggression und Gewalt. Gewalt ist kein änderungen in den Alltäglichkeiten des Lebens, Phänomen, das uns nur in den neuen Bundes- Frauen in den neuen Ländern sind gefordert, sich da- ländern begegnet. Gewalt gab und gibt es auch in mit auseinanderzusetzen, sich auf den tiefgreifenden den alten Bundesländern. Als Hamburger dürfte Wandel einzustellen und oft auch noch Männern und Herrn Klose das aus der Hafenstraße nicht unbekannt Kindern bei der Umstellung zu helfen. sein. In der Jugendpolitik stehen der Aufbau einer lei- Die gewalttätigen Ausschreitungen insbesondere stungsfähigen Jugendhilfe in den neuen Ländern und gegenüber ausländischen Mitbürgern in ganz die Unterstützung freier Träger in der Jugendarbeit Deutschland müssen wir sehr ernst nehmen. Aber wir im Vordergrund. Schon in diesem Jahr ist der Zu- dürfen auch nicht vorschnell urteilen, um dann wo- wachs des Bundesjugendplans in Höhe von 48 Millio- möglich falsche Konsequenzen zu ziehen. Wir müssen nen DM nahezu ausschließlich den neuen Ländern vielmehr genau hinsehen, um der Gewalt zu begeg- zugute gekommen. Auch für 1992 werden die Zu- nen. wächse im Haushalt in erster Linie in den neuen Län- dern verwandt. 1992 wird das BMFJ 20 Millionen DM für ein Ak- tionsprogramm gegen Aggression und Gewalt einset- Dabei stehen zwei Programme im Vordergrund: zen. In enger Zusammenarbeit mit den neuen Bundes- zum einen unser Aktionsprogramm gegen Aggression ländern, den jeweils örtlichen Jugendhilfeinstitutio- und Gewalt. Zum zweiten freue ich mich sehr, daß der nen und mit wissenschaftlicher Begleitung wollen wir Haushaltsausschuß insgesamt 50 Millionen DM für dort, wo bestimmte Schwerpunkte der Gewalt in den ein Programm zum Aufbau und Ausbau von Trägern -neuen Bundesländern liegen, konkrete Präventions der freien Jugendhilfe in den neuen Ländern — AFT- und Hilfsmaßnahmen durchführen. Wir wollen in ein- Programm — bewilligt hat. zelnen Regionen wissen, wo genau die jeweiligen Ur- sachen für die Gewalt von Jugendlichen liegen, und Die Bundesregierung hat immer wieder deutlich wir wollen Wege und Maßnahmen aufzeigen, wie jun- gemacht, daß für sie freie Träger Vorrang haben. Die gen Menschen eine aussichtsreiche Perspektive ver- öffentliche Jugendhilfe allein kann den großen und mittelt werden kann. dringenden Bedarf nicht decken. Die wenigen Träger der freien Jugendhilfe sind zumeist noch nicht so weit Den bundeszentralen freien Trägern und Dachver- entwickelt, daß sie bereits voll wirksam sein könnten. bänden haben wir die vorgesehenen Brennpunkt-Re- Allerdings haben viele Verbände, Vereine und Initia- gionen mitgeteilt. Ich hoffe darauf, daß sie sich vor Ort tiven begonnen, sich zu formieren. Sie haben zum beteiligen. So wird sich auch die freie und plurale Ziel, Probleme, vor denen sie stehen, selbst anzupak- Jugendhilfestruktur in den neuen Ländern entwik- ken und zu lösen. Vor allem wollen sie die Vertretung keln. der eigenen Interessen nicht länger anderen überlas- sen. Wichtig erscheint mir die Frage, aus welchen Grün- den eigentlich insbesondere jüngere Leute unserem Hier ist eine neue soziale und politische Kultur im Staat und der Politik insgesamt so reserviert gegen- Werden, die wir unterstützen müssen. Hierin sehe ich überstehen und sich nicht mehr vertreten fühlen. Viel- einen der wichtigsten Beiträge, die wir in der Jugend- leicht liegt ein Grund darin, daß wir das Ritual des politik — das gilt auch für die Frauenpolitik — leisten Gegeneinanders mehr pflegen als die vorhandenen können und müssen. Gemeinsamkeiten. Viele Menschen haben gerade heute das Gefühl, daß zur Schaffung der Einheit ge- Das AFT-Aktionsprogramm unterstützt Träger der meinsame Anstrengungen wichtiger sind als partei- freien Jugendhilfe vor Ort und gibt organisatorische- politische Profilierung. Deshalb hätte ich mich über Hilfe und Beratung. Darüber hinaus soll es zu einer mehr konstruktive Hinweise aus der SPD-Fraktion Vernetzung der Beratung und der gewonnenen Erfah- gefreut. rungen beitragen. Wie in allen anderen Politikbereichen stehen auch Ebenso wie in der Jugendpolitik kommt es auch in in der Jugend- und in der Frauenpolitik die Fragen der der Frauenpolitik wesentlich darauf an, daß möglichst inneren Einheit unseres Landes im Vordergrund. Dem schnell eine Verbandsstruktur entsteht, mit deren trägt der Haushaltsentwurf für 1992 Rechnung. So- Hilfe sich die spezifischen Interessen von Frauen arti- wohl Frauen als auch junge Menschen in den neuen kulieren und Gehör verschaffen können. Bundesländern brauchen unsere besondere Aufmerk- samkeit. Für sie hat es in so gut wie allen Lebensbe- Die Bereitschaft ist groß, sich zusammenzuschlie- reichen grundlegende Umwälzungen und Verände ßen. Als die Bundesregierung in diesem Jahr ein Son- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5271* derprogramm zur Förderung der Frauenverbandsar- Anlage 5 beit in den neuen Ländern in Höhe von 3,8 Millionen Zu Protokoll gegebene Reden DM auflegte, gingen dazu mehr als 1 400 Anträge mit zur Beratung des Einzelplans 18 einem Volumen von rund 36 Millonen DM ein. Im- — Geschäftsbereich des Bundesministers für Familie merhin konnten mehr als 500 Bewilligungen für Ver- und Senioren — und anstaltungen und Geschäftsstellen ausgesprochen Beratung des Antrags betr. Wohnen im Alter werden. Die Zahl der Anträge zeigt, wie groß das Interesse ist. Deshalb werden wir hier in den kom- menden Jahren weiter helfen und unsere Unterstüt- zung in gleicher Höhe fortsetzen. Irmgard Karwatzki (CDU/CSU): Die Bundesregie rung hat seit 1982 die Familie als die beständigste Davon, daß in den neuen Ländern möglichst schnell Form menschlichen Zusammenlebens in den Mittel- eine vielfältige Verbandslandschaft entsteht, hängt es punkt ihrer Politik gerückt. Familienleistungen wer- ab, ob die pluralistische Demokratie nicht nur als ein den ausgehend vom Gedanken der Gleichwertigkeit vom Westen übernommenes oder sogar übergestülp- von Erwerbs- und Familienarbeit anerkannt und ge- tes System empfunden wird. Davon hängt ab, ob sich fördert. Den Menschen wird es ermöglicht, Beruf und ein demokratisches Staatsverständnis entwickelt, das Familie besser miteinander zu vereinbaren. Familien- den Staat nicht länger als Institution versteht, die von fördernde Hilfen erleichtern die Entscheidung für die oben herab alles regelt und bestimmt. Familie und ein Leben mit Kindern. Die Bundesregie- rung hat damit die Voraussetzungen für eine familien- Demokratie ist ebenso wie auf leistungsfähige Ver- und kinderfreundlichere Gesellschaft geschaffen. bände selbstverständlich auch auf Bürger und Bürge- rinnen angewiesen, die ihre Rechte und Pflichten ken- Die für die Familie erreichten Verbesserungen stel- nen und wahrnehmen. Frauen müssen über die neuen len für die Bundesregierung eine Verpflichtung für Chancen, die sich ihnen bieten, Bescheid wissen. In die Zukunft dar. Sie wird ihre erfolgreiche Familien- jedem neuen Land wurde inzwischen eine Beratungs- politik der vergangenen Jahre weiter ausbauen. Ihren stelle für Frauen eröffnet, die sie in ihrer Lebenssitua- sichtbaren Ausdruck findet diese Politik für uns Haus- tion umfassend beraten soll. Diese Beratungsstellen hälter in steigenden Haushaltsansätzen. Mit rund verfügen jeweils über einen Kleinbus, damit auch 32 Milliarden DM ist der Haushalt des Bundesmini- Frauen, die weiter entfernt leben, erreicht werden sters für Familie und Senioren einer der größten des können. Insgesamt fördern wir den Aufbau von Bera- Bundes mit der von allen Ressorts größten Steige- tungseinrichtungen mit 7 Millionen DM über drei rungsrate für das Jahr 1992. Jahre. Bevor ich zu den Einzelheiten komme, lassen Sie Ein weiteres wichtiges Thema ist die Gewalt gegen mich bitte vorneweg zwei Dinge sagen: Frauen und Kinder. In der DDR war dieses Thema ein Tabu, obwohl es diese Gewalt gab. Schon bald nach Erstens. Jede staatliche Leistung muß nicht nur der Wende haben Fraueninitiativen damit begonnen, sachlich vernünftig, sondern vor allem auch finanzier- sich der betroffenen Frauen und Kinder anzunehmen. bar sein. Nicht alles, was nützlich und wünschenswert Inzwischen gibt es rund 90 Initiativen zur Gründung ist, ist auch machbar, sprich: finanzierbar. Nun kann von Frauen und Kinderschutzhäusern. die Alternative aber nicht „alles oder nichts" lauten. Weniger ist bekanntlich mehr als gar nichts. Ich Schon in diesem Jahr haben wir ein Sonderpro- möchte damit sagen, daß es wenig Sinn macht, Maß- gramm in Höhe von 1,2 Millionen DM durchgeführt. nahmen allein deshalb in ein schlechtes Licht rücken Damit haben wir 47 Frauenhaus-Projekten eine An- zu wollen, weil sie mit Rücksicht auf haushaltspoliti- schubfinanzierung gegeben. Um die Finanzierung sche Sachzwänge vielleicht zunächst noch hinter dem von Frauenhäusern in ganz Deutschland auf eine so- zurückbleiben, was letztlich als notwendig erkannt worden ist. Es ist gerade ein Verdienst dieser Bundes- lide Grundlage zu stellen, halte ich ein Rahmengesetz regierung, daß sie die wichtigen familienpolitischen für erforderlich. Die Gespräche mit den Ländern ha- Leistungen wie den dualen Familienlastenausgleich, ben begonnen. das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub auch in finanzpolitisch schwierigen Zeiten ständig weiter- - Ich habe nur auf wenige Punkte hingewiesen. Über entwickelt und verbessert. das Gleichberechtigungsgesetz, dessen Referenten- entwurf zur Zeit entsteht, werden wir in diesem Hause Zweitens. Staatliche Familienpolitik wird auch un- im kommenden Jahr ausführlich diskutieren. ter günstigen Voraussetzungen letzlich nie alles das ausgleichen können, was allein oder gemeinsam er- In der Jugendpolitik haben wir die Weichen für ziehende Mütter und Väter an Verantwortung und einen raschen Aufbau einer leistungsfähigen Jugend- Verzicht und an Pflichten und Lasten für die Familie hilfe und Jugendarbeit gestellt. Daß dies möglich ist, und die Kinder insgesamt auf sich nehmen. Der Staat ist vor allem den aufgeschlossenen und konstruktiven kann aber — und dies ist das Anliegen der Bundesre- Beratungen im Haushaltsausschuß zu danken. Ich gierung — mit gezielten familienfördernden Maßnah- möchte insbesondere den Berichterstatterinnen für ih- men einen wichtigen Beitrag dazu leisten, daß Erzie- ren Einsatz Dank sagen. hungsaufgaben und Familienarbeit mehr Anerken- 5272* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

nung finden und insoweit sich Menschen leichter für Im Haushalt 1992 kommt die erstmalig voll wirksam die Familie und das Leben mit Kindern entscheiden werdende Verlängerung des Bezugszeitraumes von können. 18 Monaten zum Tragen. Ein weiterer großer famili- enpolitischer Fortschritt zeichnet sich ab, wenn ab Zu den herausragenden familienpolitischen Lei- 1993 das Erziehungsgeld erneut um 6 Monate auf stungen gehört der duale Familienlastenausgleich, dann insgesamt 24 Monate und darüber hinaus schon mit dem die Bundesregierung ihre Wertschätzung für ab 1992 der Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsga- die Familie unterstreicht. Sie erkennt damit an, daß rantie um 1 1/2 auf insgesamt 3 Jahre verlängert wer- häusliche Versorgungsleistungen für Kinder zusätzli- den. Dabei wäre es sehr wünschenswert, wenn über che finanzielle Belastungen darstellen, die zumindest die besonders familienfreundlichen Bundesländer wie teilweise ausgeglichen werden müssen. Es geht inso- Bayern, Baden-Württemberg, Berlin und Rheinland weit vorrangig um einen Einkommensausgleich zwi- Pfalz hinaus sich endlich auch die anderen Bundes- schen kinderlosen Ehepaaren und Eltern mit Kindern länder zu ergänzenden Landeserziehungsgeldgeset- und nicht etwa um eine Umverteilung innerhalb der zen entschließen könnten. Familien, so wie es wohl den Vorstellungen der SPD entspräche. Kindergeld und Kinderfreibeträge als die Einen großen Fortschritt zur Verbesserung der wirt- zwei tragenden Säulen des Familienlastenausgleichs schaftlichen Situation Schwangerer ist schließlich das ermöglichen eine differenzierte, an den Erfordernis- von der CDU/CSU vorgeschlagene Familiengeld in sen der Bedarfs- und der Steuergerechtigkeit orien- Höhe von 1 000 DM. tierte Förderung der Familie. Eine Zusammenfassung Unmittelbar lebensschützende Bedeutung kommt zu einer einheitlichen Leistung würde demgegenüber dem staatlichen Unterhaltsvorschuß zu, der nach dem zu sozial unausgewogenen Ergebnissen führen. Willen der Bundesregierung ab 1993 durch Heraufset- Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jah- zung des anspruchsberechtigenden Kindesalters von ren den dualen Familienlastenausgleich ständig aus- 6 auf 12 Jahre und Verdoppelung der Bezugsdauer gebaut. Sie wird an diesem erfolgreichen Konzept von 3 auf 6 Jahre weiter verbessert werden soll. Die auch in Zukunft festhalten. werdende Mutter hat damit die Gewißheit, daß der Unterhalt des Kindes auch bei Ausfall der Unterhalts- Der unter Berücksichtigung der Beschlüsse des zahlungen des Vaters unabhängig von Einkommen Bundesverfassungsgerichts von 1990 für das kom- und Vermögen auf jeden Fall aus öffentlichen Mitteln mende Jahr beschlossenen Erhöhung des Erstkinder- gesichert ist. geldes von 50 DM auf 70 DM sowie der Anhebung des steuerlichen Kinderfreibetrages auf 4 104 DM werden Ich begrüße es, daß bereits zum 1. Januar 1992 die in den neuen Bundesländern noch geltende Unter- weitere Verbesserungen folgen. haltssicherungsverordnung abgelöst werden soll. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Diskussion Dies bringt den dort betroffenen Müttern eine wesent- um die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs liche Erleichterung, da damit das im Beitrittsgebiet möchte ich jetzt die Aufmerksamkeit auf solche Maß- bislang ausnahmslos geltende Titelerfordernis ent- nahmen im Haushalt des Bundesministers für Familie fällt. In der Praxis ist außerdem eine wesentliche Er- und Senioren lenken, die gerade auch für den Schutz weiterung des Kreises der Leistungsberechtigten zu des ungeborenen Lebens von Bedeutung sind. erwarten. Anspruchsberechtigt sind künftig nämlich auch diejenigen, die wegen aussichtsloser Rechtsver- Ich denke, daß bei allen Meinungsverschiedenhei- folgung keinen Unterhaltstitel erlangen und deshalb ten über strafrechtliche Fragen in diesem Hause Ei- von der Unterhaltssicherungsverordnung nicht erfaßt nigkeit darüber besteht, daß der Schutz menschlichen wurden. Lebens eine für Staat und Gesellschaft alles überra- gende Aufgabe ist und mit allen der Politik zur Verfü- In den alten Bundesländern macht dieser Personen- gung stehenden Mitteln versucht werden muß, die kreis etwa die Hälfte der nach dem Unterhaltsvor- Entscheidungsbedingungen für ein Leben mit Kin- schußgesetz Berechtigten aus. dern zu verbessern. Keine Frau soll allein deswegen, Ich verkenne allerdings nicht die Schwierigkeiten, weil sie ein Kind erwartet, in eine wirtschaftliche Not- die sich in Einzelfällen im Hinblick auf die Rückfüh- lage geraten, aus der sie nur durch einen Schwanger- rung der bisherigen nach der Unterhaltssicherungs- schaftsabbruch herauszukommen glaubt. Maßnah- verordnung geltenden Altersgrenze von 18 Jahren auf men zum Schutz des ungeborenen Lebens stehen in 6 bzw. ab 1993 auf 12 Jahre ergeben können. Eine enger Verbindung zur Familienpolitik. längere Übergangsregelung, wie sie vom Bundesrat Als zentrale Verbesserungen der Entscheidungssi- und wohl auch von der SPD gefordert wird, wäre- aber tuation von Frauen haben sich Erziehungsgeld und haushaltspolitisch nicht zu verantworten. Ziel muß es Erziehungsurlaub sowie die Anerkennung von Erzie- sein, möglichst rasch zu familienpolitisch einheitli- hungszeiten im Rentenrecht erwiesen. Damit ist es chen Verhältnissen zu kommen. Ich denke, daß vor gelungen, die Bedingungen für die Betreuung und dem Hintergrund der genannten Rechtsverbesserun- Erziehung des kleinen Kindes in der ersten Lebens- gen und dem erheblich größeren Leistungsumfang phase spürbar zu verbessern und Müttern und Vätern des Unterhaltsvorschußgesetzes mit der einjährigen wieder mehr Wahlfreiheit zwischen Familien- und Er- Besitzstandswahrung im Ergebnis ein tragfähiger werbstätigkeit zu eröffnen. Erziehungsgeld stellt auch Kompromiß gefunden worden ist. für Alleinerziehende eine echte zusätzliche Hilfe dar, Beispielhaft für die dem Schutz des ungeborenen da es nicht auf andere Sozialleistungen wie Ausbil- Lebens dienende Politik der Bundesregierung ist die dungsförderung, Wohngeld, Arbeitslosenhilfe oder 1984 errichtete Bundesstiftung „Mutter und Kind Sozialhilfe angerechnet wird. — Schutz des ungeborenen Lebens". Die ergänzende Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5273*

Unterstützung schwangerer Frauen in Not durch ein- wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau. Die Ableh- zelfallbezogene bedarfsorientierte Individualhilfen nung unseres Antrags ist unverständlich, weil der In- hat sich als ein richtiges und wichtiges Instrument standsetzungsbedarf in den neuen Ländern riesig ist zum Schutz des ungeborenen Lebens erwiesen. Für und von den Kommunen allein ohne Mitwirkung der die Stiftung stehen auch 1992 wieder 140 Millionen Freien Träger gar nicht bewältigt werden kann. DM zur Verfügung. Am falschen Ende gespart haben Sie auch bei der Für die neuen Bundesländer hat die Bundesregie- Kürzung der Mittel für die Wohlfahrtsverbände zur rung einen speziellen Hilfsfonds für schwangere Betreuung von Flüchtlingen und Aussiedlern. Zuerst Frauen in Not über 40 Millionen DM eingerichtet. Ich war eine Kürzung des ursprünglichen Ansatzes um 22 begrüße es außerordentlich, daß aus diesem Hilfs- Millionen geplant, in der Bereinigungssitzung haben fonds auch Maßnahmen zur Wohnraumsanierung und Sie dann auf Druck der Verbände hin wieder um 10 zum Erwerb kindgerechten Wohneigentums geför- Millionen erhöht, allerdings mit kw-Vermerk für 1993. dert werden. Dies ist ein gelungenes Beispiel, wie Es paßt nicht zusammen, über die ständig steigende einem besonders drängenden Problem in den neuen Flüchtlingsflut zu jammern und gleichzeitig die Mittel Bundesländern gezielt und unbürokratisch begegnet für die Betreuung dieser Flüchtlinge zu kürzen. Auch werden kann. die Aussiedlerzahlen werden sich vermutlich schon in Kürze wieder erhöhen. Die Wohlfahrtsverbände ha- Positiv unterstreichen möchte ich schließlich — und ben ihre Betreuungsprogramme für Flüchtlinge und damit schließe ich den Bereich der dem Schutz des Aussiedler auf mehrere Jahre angelegt, eine derartig ungeborenen Lebens dienenden Familienpolitik ab — drastische Kürzung zwingt sie jedoch, Entlassungen die Leistung des Bundes beim Aufbau eines flächen- vorzunehmen. Solche Maßnahmen, für die letztlich deckenden Netzes von Schwangerschaftsberatungs- Regierungspolitik die Verantwortung trägt, sind we- stellen, die noch bis Ende 1992 zu 90 % vom Bund der christlich noch sozial. getragen werden. Damit wird auch in den neuen Bun- desländern sichergestellt, daß sich künftig Schwan- Auch beim Familienlastenausgleich wird weiter ge- gere über alle persönlichen und sozialen Fragen im spart, entgegen dem Votum des Bundesverfassungs- Zusammenhang mit einem Schwangerschaftskonflikt gerichts. Auf der Herbsttagung des Familienbunds umfassend beraten lassen können. der Deutschen Katholiken wurde festgestellt: Die An- hebung des Kindergelds nur für das erste Kind und die Erhöhung des Kinderfreibetrags auf 4 104 Mark stelle Dr. Konstanze Wegner (SPD): Im Grunde ist es wi einerseits nur auf ein Existenzminimum von Kindern dersinnig, die Bereiche Frauen, Jugend, Familie, Se- ab, das an der unteren Grenze des Sozialhilfebedarfs nioren in getrennten Reden zu behandeln, denn sie ansetze, und schreibe andererseits die bedenkliche gehören der Sache nach zusammen. Die Teilung die- Präferenz für Freibetragslösungen im Familienlasten- ser Bereiche des alten Familienministeriums war ge- ausgleich weiter fest. Dieses Signal gehe eindeutig in gen jede Vernunft, und ich prophezeie Ihnen, wenn die falsche Richtung. — Besser kann man die sozial- die Sozialdemokraten an die Regierung kommen, demokratische Kritik am Familienlastenausgleich wird das wieder rückgängig gemacht. nicht zusammenfassen, obgleich es keine Sozis sind, Die Folgen der Teilung sind auch im Personalbe- die so urteilen! reich negativ spürbar. Die Leitungsebene der beiden Die Familienverbände betonen mit Recht immer Ministerien wurde zwar entsprechend ausgestattet, wieder, daß es bisher noch gar nicht um die Entla- aber unten, im Servicebereich, ist es eng, und das geht stung der Familien, sondern erst einmal um die Her- zu Lasten der dort Beschäftigten. Hier muß im kom- stellung von Steuergerechtigkeit geht. Noch immer menden Haushalt noch etwas geschehen, um die Ar- kassiert der Finanzminister verfassungswidrig pro beitsfähigkeit und Arbeitsverteilung in beiden Mini- Jahr von Ledigen etwa 500 Mark und von Verheirate- sterien zu verbessern. ten etwa 1 000 Mark zu viel an Steuern. Weitere Kla- Im Gegensatz zu den letzten Haushaltsberatungen gen der Betroffenen vor dem Verfassungsgericht sind waren meine Berichterstatterkolleginnen von der Ko- deshalb absehbar, hier steckt eines der zahlreichen alition diesmal unzugänglich und haben alle vernünf- Haushaltsrisiken, mit denen die mittelfristige Finanz- tigen Änderungsvorschläge der Opposition abge- planung dieser Regierung belastet ist. lehnt. Mitunter hätten Sie wohl ganz gerne zuge- Locker geht Ihnen das Geld dagegen von der Hand, stimmt, aber Sie waren fest an die Leine des Finanz- wenn es um Ideologietransfer geht wie im Rahmen ministers und Ihrer Haushaltsgruppe gelegt und durf- des Programms „Zukunft der Familie" oder um die - ten sich kaum bewegen. Beratung zum Schutz des ungeborenen Lebens. Für So haben Sie z. B. unseren Antrag abgelehnt, den Schwangerschaftsberatungsstellen in den neuen Län- Revolving Fonds zur Förderung von Einrichtungen dern, wurden 1990 8 Millionen, 1991 15 Millionen und der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege um 1992 25 Millionen zur Verfügung gestellt. Beratung 25 Millionen aufzustocken und mit einer Verpflich- kann gewiß sehr sinnvoll sein, nur sollte sie aus unse- tungsermächtigung von 175 Millionen bis 1994 auszu- rer Sicht nicht ausschließlich dem Schutz des ungebo- statten. Dieser Fonds erlaubt den Verbänden, zinslos renen Lebens dienen, sondern auch den Gedanken Kredite aufzunehmen und damit rasch und unbüro- der Prävention und die Gesamtsituation der Frau mit kratisch Sanierungsmaßnahmen in Krankenhäusern, inbeziehen. -e Alten- und Pflegeheimen vorzunehmen. Der Revol- Mit der im Einigungsvertrag festgelegten weltan- ving Fonds ist ein seit Jahrzehnten erprobtes Instru- schaulichen Pluralität der Beratungsstellen ist es aller- ment der Sozialpolitik; er refinanziert sich, ähnlich dings nicht weit her. Das Familienministerium hat 5274* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 lange Zeit die kirchlichen Träger und das in der ehe- len. Diese Mittel kommen den Berechtigten direkt maligen DDR fest etablierte Rote Kreuz bevorzugt und zugute. hat weltanschaulich neutrale Träger wie Arbeiter- Den Schwerpunkt staatlicher Leistung im Rahmen wohlfahrt und Pro Familia, die mangels vorhandener der gesetzlichen Regelungen bilden das Kinder- und Strukturen Anlaufschwierigkeiten haben, in kleinli- das Erziehungsgeld. cher Weise benachteiligt. Erst nach intensiven parla- mentarischen Nachfragen und massiven Protesten der Zum Letztgenannten möchte ich einige Anmerkun- benachteiligten Verbände soll es jetzt 14 Beratungs- gen machen. stellen der Pro Familia und drei der Arbeiterwohlfahrt Mit der beschlossenen Gesetzesänderung beim Er- geben. Derzeit gibt es insgesamt rund 130 Beratungs- ziehungsgeldgesetz wird der Bezugszeitraum des Er- stellen in den neuen Ländern, davon sind mehr als die ziehungsgeldes für Kinder, die nach dem 31. Dezem- Hälfte kirchlich orientiert — das ist angesichts einer ber 1992 geboren werden, von derzeit 18 auf 24 Mo- weitgehend säkularisierten Gesellschaft noch immer nate verlängert. Dies bedeutet erhebliche zusätzliche keine ausgeglichene Struktur. Mittel, die wir für Familien mit Kindern bereitstellen, Die Mittel für die Altenpolitik werden in diesem insgesamt 8,05 Milliarden DM. Haushalt verdoppelt. Das ist zu begrüßen, vorausge- Darüber hinaus haben wir die Anspruchsvorausset- setzt, sie werden für etwas Vernünftiges eingesetzt. zungen dahingehend geändert, daß künftig auch Vä- Bisher bleiben die Konturen Ihrer Altenpolitik jedoch ter von nichtehelichen Kindern mit Einverständnis der nebulös. Das vielbejubelte Kernstück dieser Alten- Mutter Erziehungsgeld beziehen können. politik, der sogenannte Bundesaltenplan, ist für 1992 mit 5 Millionen bestückt und soll mittelfristig erheb- Im Rahmen der Gesetzesänderung haben wir zu- lich aufgestockt werden. Die Unterlagen zum Bundes dem vereinbart, daß sich die Behinderten-Pauschale altenplan, die ich zum Berichterstattergespräch er- und das Mutterschaftsgeld nicht mehr leistungsmin- hielt, waren jedoch mehr als dürftig. Sie enthielten dernd auswirken. lediglich einige allgemeine Ausführungen über die Mindestens so wichtig wie die zusätzlichen finanzi- alternde Gesellschaft und eine Liste von Projekten ellen Mittel scheint mir die Verlängerung des Erzie- ohne nähere Präzisierung. Auf meine Bitte um weiter- hungsurlaubs zu sein. Für Kinder, die nach dem führende Erläuterungen erhielt ich zwei Monate spä- 31. Dezember dieses Jahres geboren werden, beträgt ter zur Bereinigungssitzung das gleiche Papier noch- er nun drei satt vorher zwei Jahre. mals zugestellt. Für die Dauer des Erziehungsurlaubes besteht Kün- Auf dieser Informationsbasis vermag ich dem Pro- digungsschutz. Außerdem besteht der Anspruch auf jekt keine Etatreife zu bestätigen. Falls doch schon Erziehungsurlaub auch bei nicht leiblichen Kindern. konkretere, auch schriftlich fixierte Vorstellungen be- Das von der Regierung erweiterte Gesetz ermöglicht stehen sollten, wie mir nach der Sitzung aus dem Mi- es Eltern noch besser als bisher, ihre Kinder in den nisterium gesagt wurde, warum läßt man dann dieses ersten Lebensjahren selbst betreuen zu können. Material den Berichterstattern nicht zugehen? Zu den Leistungen für die Familie gehören auch die Notwendig ist eine Altenpolitik, die der Wandlung Einlagen in die Stiftungen „Mutter und Kind — Schutz des Altersbegriffs Rechnung trägt, den demographi- des Ungeborenen Lebens". Für 1992 sind zur Unter- schen Wandel berücksichtigt, die gleichberechtigte stützung dieser Arbeit 140 Millionen DM vorgesehen. Teilhabe der Älteren an der Gesellschaft sichert und Dadurch können werdenden Müttern, die sich in einer versucht, den potentiellen Konflikt der Generationen Konfliktlage befinden und sich vorher an eine aner- zu entschärfen. Falls dies auch das Ziel einer künfti- kannte Beratungsstelle gewandt haben, finanzielle gen Altenpolitik der Regierung sein sollte, wird sie die Hilfen gewährt werden. Unterstützung der Opposition finden, bisher finden In den neuen Bundesländern werden entspre- sich hier aber keine Klarheiten, sondern lediglich chende Hilfestellungen 1992 in Form von Zuschüssen mehr oder weniger nebulöse Schlagworte. bei Beratungsstellen und durch den Hilfsfonds für schwangere Frauen in Not geleistet. Dr. Sigrid Hoth (FDP): Die Familie ist die zentrale Insgesamt belaufen sich die Aufwendungen für Einheit, der Kern jeder Gesellschaft. Ihrem Schutz und diese beiden Einrichtungen auf 65 Millionen DM. der Erleichterung ihrer Lebensverhältnisse kommt besondere Bedeutung zu. Familienpolitik darf jedoch Die notwendige Neuregelung des Paragraphen 218 nicht als Einflußnahme seitens des Staates verstanden wird bewirken, daß die Ausgaben in diesem- Bereich werden, sondern als staatliches Angebot, bei der indi- auf Grund der in allen bekannten Gesetzesvorschlä- viduellen Entscheidungsfindung zu helfen oder be- gen geforderten flankierenden Maßnahmen erheblich reits vollzogene Entscheidungen zu unterstützen. Die steigen werden. jüngst verabschiedete Gesetzesänderung des Bun- Ich begrüße dies ausdrücklich, denn je mehr Mittel deserziehungsgeldgesetzes ist Beleg dafür, daß wir wir hier als gesetzliche Leistungen bereitstellen kön- genau in diesem Sinne handeln. nen, desto mehr Frauen können sich für ein Kind ent- scheiden — genau dies ist unser Ziel. Darüber besteht Der Haushalt des Bundesministers für Familien und — bei aller Gegensätzlichkeit der einzelnen Gesetz- Senioren hat im kommenden Jahr ein Volumen von entwürfe — wohl Einvernehmen. knapp 32 Milliarden DM. Aus haushälterischer Sicht ist besonders hervorzuheben, daß davon allein Wenn wir die Entscheidung der Frau und ihres Part- 31,4 Milliarden DM auf gesetzliche Leistungen entfal ners für ein Kind erleichtern wollen, muß die Betreu- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5275* ung des Kindes jedoch auch nach dem dritten Lebens- des Kindes Väter und Mütter selbst darüber entschei- jahr sichergestellt werden. Dies wollen wir durch un- den, in welcher Familienkultur sie leben wollen. Auch sere Forderung nach einem Rechtsanspruch auf einen die materielle Situation von Familien wird durch die Kindergartenplatz bis zum Eintritt ins schulpflichtige gewährte Erhöhung des Etats, insbesondere die Ge- Alter sicherstellen. währung des Kindergeldes und Erziehungsurlaubes, nicht wesentlich verbessert. Es ist offensichtlich, daß Meine Damen und Herren, die bisherigen Ausfüh- in der Bundesrepublik Deutschland die höchstens zu rungen belegen — ebenso wie die mit dem Steuerän- zahlende Summe von 600 DM Erziehungsgeld allen- derungsgesetz 1992 vorgesehene Erhöhung des Kin- falls eine unterstützende Wirkung auf die materielle dergeldes für das erste Kind von 50 auf 70 D-Mark —, Situation von Familien und Alleinerziehenden haben daß die Bundesregierung auch in finanzpolitisch an- kann. Eine wirkliche Verbesserung der familiären gespannten Zeiten die Förderung der Familie höchste materiellen Situation ist auf diese Weise nicht zu errei- Priorität genießt. chen. Denn dies würde erfordern, das Leben mit Kin dern in der Gesellschaft tatsächlich zu ermöglichen, Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Das Bundes anzuerkennen als eine besondere Leistung, die geför- haushaltsgesetz 1992 für den Einzelplan 18 — Familie dert werden muß, welche aller Unterstützung der Ge- und Senioren — sieht ein Gesamtvolumen von 32,43 sellschaft bedarf. Und eine Förderung kann wohl doch Milliarden vor. Das bedeutet eine Steigerung um 4,14 erst da beginnen, wo die unmittelbaren Bedürfnisse Milliarden gegenüber dem Vorjahr. befriedigt werden können, zumindest die materielle Existenz abgesichert ist. Hier sei nur auf den Famili- Prinzipiell begrüßt die PDS/Linke Liste die Erhö- enlastenausgleich verwiesen. Desweiteren betonte hung dieses Haushaltstitels. Trotzdem bleibt natürlich Frau Ministerin Rönsch die Möglichkeiten der Hilfe der Etat, den die Bundesregierung für den Bereich der zur Selbsthilfe. Familien- und Seniorenpolitik zur Verfügung stellt, ein lächerlich geringer im Vergleich z. B. zum Rü- In diesem Zusammenhang kann ich nur mit Ver- stungsetat. Werden diese — wenn auch bescheidenen wunderung fragen, mit welcher Berechtigung die — Mittel nun tatsächlich entsprechend den drei Säu- Bundesregierung die ohnehin schon knapp bemesse- len bundesdeutscher Familienpolitik eingesetzt? Fa- nen Mittel zur Förderung zentraler Maßnahmen und milienpolitik, die Frau Ministerin Rönsch in einer Organisationen der Selbsthilfe weiter kürzt. Selbst- Presseerklärung vom 27. August 1991 wie folgt defi- hilfeförderung gilt als Teil des sozialen Netzes, das nierte: „Wir fördern eine plurale Familienkultur, ver- angesichts der vielfachen sozialen Probleme — wie bessern die materielle Situation der Familien und lei- Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnsituation, fehlende sten Hilfe zur Selbsthilfe. Auf diesen drei Säulen be- Betreuungseinrichtungen für Kinder, unzureichende ruht unsere Familienpolitik." kulturelle Angebote für Kinder, Pflegenotstand — mehr als gebraucht wird. Sozialstaatliches Handeln Meiner Meinung nach hat die Bundesrepublik gebietet hier nur Aufstockung. Deutschland in allen drei Bereichen einen großen Nachholbedarf. Plurale Familienkultur kann noch Ebenso unverständlich ist mir die gegenüber 1991 nicht vorhanden sein, und verschiedene Ansätze wer- unveränderte Ansetzung von 7,76 Millionen für die den nicht gleichberechtigt von der Gesellschaft ak- Förderung von Hilfen für Behinderte. Wenn wir den zeptiert und gefördert. Die materielle Situation der realen Nachholbedarf bei der Standardausrüstung Familien ist bei weitem nicht so gut, wie man es in von Behindertenhilfen in den neuen Bundesländern einem hochindustrialisierten reichen Land wie der nach dem Maßstab der Altbundesländer in Rechnung Bundesrepublik vermuten könnte. stellen, dann ist eine wesentliche Erhöhung des Haus- haltsansatzes vonnöten. Und ich nehme an, die Defi- Sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland leben zite z. B. an behindertengerechten Zufahrten, Ver- insbesondere Familien mit Kindern und Alleinerzie- kehrslösungen wie akustische Ampeln, Ausgestaltun- hende mit Kindern oft in direkter Abhängigkeit von gen von öffentlichen Geländen — Verwaltungen, Mu- der Sozialhilfe. Und Hilfe zur Selbsthilfe läßt sich nur seen, Theater — sind ein längerfristiges Haushalts- in bestimmtem Maße realisieren. Man könnte nun problem. Jedoch muß es zügig und kontinuierlich an- vermuten, daß insbesondere die Erhöhung des Etat- gegangen werden. ansatzes dazu dienen soll, auf alle drei Bereiche der Familienpolitik fördernd einzuwirken. Es zeigt sich Und ein letztes beschämendes Problem. Gegenüber jedoch, daß fast die gesamte Erhöhung des Etats 1991 werden die Zuschüsse an die Wohlfahrts- und zweckgebunden ist an die Erhöhung des Kinder- und Vertriebenenverbänden für die Betreuung von Aus- Wochengeldes. siedlern und ausländischen Flüchtlingen um -22 Mil- lionen gekürzt. Auch wenn die Ausschußempfehlung Dies bedeutet erstens, daß es auch 1992 nicht gelin- lautet, die 22 Millionen für 1992 wieder zuzuschlagen, gen wird, bedeutende Defizite in diesen drei Säulen reicht das nicht aus, um die Probleme zu bewälti- der Familienpolitik zu beseitigen, als auch zweitens, gen. daß insbesondere der zwar begrüßenswerte Ausbau der Kinder- und Wochengeldregelung doch eben ei- Angesichts der zugespitzten sozialen und politi- ner pluralen Familienkultur deutlich entgegensteht, schen Konflikte in solchen Krisengebieten wie dem da die gesetzlich beschlossene Erhöhung der Kinder- Nahen Osten, Jugoslawien, aber auch Osteuropa oder geld- bzw. Erziehungsgeldzahlung ab 1992 u. a. ohne in den sogenannten Dritte-Welt-Ländern ist doch viel- die gleichzeitige Erörterung und finanzielle Förde- mehr mit Kostenanstieg zu rechnen. Dieser haushalts- rung und Sicherstellung von Kinderbetreuungsein- politische Schritt läßt mich die Bundesregierung fra- richtungen eben nicht gewährleistet, daß im Interesse gen: Soll hier im Zusammenhang mit dem Abbau des 5276* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991

Asylrechts zu Lasten von Flüchtlingen gespart wer- in ihrer nicht hoch genug einzuschätzenden Wir- den? kung Insgesamt muß die PDS/Linke Liste dem Haushalt — für den Lebensschutz ungeborener Kinder, für die Bereiche Familie und Senioren in der vorlie- — zur Ermöglichung der in der Familie erbrachten genden Form ablehnen, da er wesentlichen gegen- Erziehungsleistung und wärtigen Anforderungen nicht entspricht. — als Instrument der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit. Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Das Haushaltsjahr 1992 wird das Jahr Daß wir hiermit richtig liegen, zeigen eindrucksvoll der Familien und der älteren Menschen in Deutsch- die inzwischen vielfachen Betriebs- und Unterneh- land. Mit einer Steigerungsrate von 12,9 % läßt die mensvereinbarungen. Auf der Grundlage des gesetz- Bundesregierung trotz höchster haushaltspolitischer lichen Erziehungsurlaubs sehen sie Rückkehrmög- Enge diesen beiden Gruppen im nächsten Jahr wie lichkeiten für Mütter und Väter in den Beruf nach oft nie zuvor Förderung und solidarische Zuwendung zu- erst sieben, acht oder gar zehn Jahren vor. teil werden. Das wundert mich zwar nicht, wenn ich Zum Schutz des ungeborenen Lebens haben wir als die 70er und den Anfang der 80er Jahre zum Ver- Bundesfamilienministerium in diesem Jahr zudem gleich heranziehe. Doch selbst gegenüber unseren weitere, nachhaltig wirkende Verbesserungen er- eigenen, schon in der Vergangenheit vorbildlichen zielt: Anstrengungen legen wir jetzt nochmals kräftig zu. Einen Gesamtetat von knapp 32 Milliarden DM nenne — Allein bis zum August konnten mit finanzieller ich eine ausgezeichnete Ausgangssituation, um wei- Unterstützung des Bundes in den neuen Ländern tere entscheidende Schritte zugunsten der Familien 127 Schwangerenberatungsstellen in breiter plu- mit Kindern und zugunsten der Senioren tun zu kön- raler Trägerschaft eingerichtet werden (sieben nen. verschiedene freie und 14 kommunale Träger). Die seit September verantwortlichen Länder haben Ich verweise an dieser Stelle auf: diese Arbeit fortgesetzt und weitere Träger in die Förderung einbezogen. — den Schutz des ungeborenen Lebens und die er- heblich verbesserte Lebensperspektive für Eltern — Aus dem mit 40 Millionen DM ausgestatteten mit Kindern auf der einen Seite und Hilfsfonds für schwangere Frauen in Not haben bis Anfang November weit über 2 200 Schwangere in — die noch stärkere Angleichung der Lebensverhält- den neuen Bundesländern direkte Lebenshilfe von nisse der Familien wie der Älteren im Osten und im durchschnittlich mehreren tausend DM erhalten. Westen unseres Landes. Die derzeit noch über 1 000 Anträge ermutigen Als Familienministerin kommt es mir darauf an, den mich, dieses Programm im nächsten Jahr fortzu- Müttern und Vätern mit Kindern materiell wie ideell führen. den Rücken zu stärken. — Die oft katastrophalen Wohnverhältnisse junger Ab 1992 werden die Familien daher ein deutlich Familien in den neuen Ländern sind leider nur all- erhöhtes Erstkindergeld und einen wesentlich höhe- zuoft ein entscheidender Grund für einen Schwan- ren Kinderfreibetrag erhalten. Der duale Familienla- gerschaftsabbruch. Kindgerechten Wohnraum für stenausgleich füllt die Taschen der Familien im kom- Schwangere und ihre Familien in Selbsthilfe zu menden Jahr nach unserem Willen mit einem Netto- schaffen, das ist daher das Ziel unseres im Oktober plus von '7 Milliarden DM. Wir haben eben echt was angelaufenen Wohnraumsanierungsprogramms. übrig für Kinder und deren Eltern. Genau gesagt, sind Bis heute konnten wir in rund 200 Fällen Sanie- es allein aus dem Familienlastenausgleich 38 Milliar- rungszuschüsse von durchschnittlich 11 000 DM den DM, die den Familien in Deutschland 1992 zugute gewähren. Auch dieses erfolgreiche Programm kommen sollen. Wir unternehmen damit deutlich setzen wir 1992 fort. mehr als die SPD, die für die Familienpolitik nichts Indem wir den Lebensschutz und die Familien in zusätzlich ausgeben will. Sie will lediglich umschich- Deutschland stärken, leisten wir zugleich einen wich- ten und den einen Familien geben, was Sie den ande- tigen Beitrag zur Angleichung der Lebensverhältnisse ren nehmen will. Damit spielt sie die Familien gegen- zwischen Ost und West. Dieser Aufgabe habe ich mich einander aus. Das nenne ich unredlich. insbesondere auch als Bundesseniorenministerin ge- Unser Klassenziel haben wir auch beim Erziehungs- stellt. Ältere Menschen können eben nicht lange auf urlaub und beim Erziehungsgeld erreicht. Für ab 1992 bessere Zeiten warten, sie brauchen und verdienen geborene Kinder können Mütter oder Väter drei Jahre unsere rasche und spürbare Solidarität. Wir sind da Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen, für ab Januar auf einem guten Weg, wie ich meine, denn die Haus- 1993 geborene Kinder beträgt der Anspruch auf Erzie- haltsmittel 1992 (27,85 Millionen DM) werden gegen- über diesem Jahr fast verdoppelt (14,5 Millionen DM), hungsgeld volle zwei Jahre. Ich habe mich sehr ge- freut, daß Sie von der Opposition schließlich dieser gegenüber 1989 (9,2 Millionen DM) sogar verdrei- Gesetzesvorlage der Bundesregierung zugestimmt facht. haben. Die Früchte des bisher Geleisteten können sich sehr gut sehen lassen: Um so weniger verstehe ich, daß Sie jetzt Nachhut- gefechte führen. Denn Erziehungsgeld und Erzie- — 1 500 Altenheime und Behinderteneinrichtungen hungsurlaub sollten doch eigentlich unumstritten sein in den neuen Ländern haben aus dem Soforthilfe- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 61. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. November 1991 5277*

programm der Bundesregierung Mittel zur Behe- nur 120 DM monatlich gezahlt werden. Dies aller- bung akuter Notlagen erhalten. dings bei einem teilweise erschreckend niedrigen Standard. Weil wir diesen Standard auf das Niveau — Gemeinsam mit den Verbänden der freien Wohl- der westlichen Bundesländer erhöhen wollen und fahrtspflege wurden bis heute mehr als 700 ambu- müssen, führt an kostendeckenden Pflegesätzen lant arbeitende Sozialstationen aufgebaut. Dafür kein Weg vorbei. Aber dies bedeutet auch, daß die gebührt den Verbänden mein herzlicher Dank, meisten — und am Schluß werden es fast alle insbesondere da wir davon ausgehen können, daß sein — der Heimbewohner in den neuen Ländern die ambulante Versorgung mit Sozialstationen in- Sozialhilfeempfänger werden. Die Bundesregie- nerhalb des nächsten Jahres flächendeckend si- rung hat deshalb durch Verordnung festgesetzt, chergestellt wird. Das ist ohne Zweifel eine außer- daß ab 1. Oktober dieses Jahres jeder über 60jäh- ordentliche Aufbauleistung in sehr kurzer Frist. rige Sozialhilfeempfänger 4 500 DM eigenes Ver- — Ein deutliches und dauerhaftes altenpolitisches mögen behalten darf. Dadurch kommt es nicht zu Zeichen setzen wir ab 1992 auch mit dem Bundes einer völligen vermögensmäßigen Auszehrung. altenplan. Sein Finanzvolumen soll mittelfristig Letztlich werden die Probleme allerdings nur von zunächst 5 Millionen DM (1992) auf minde- durch die Pflegeversicherung gelöst werden, die stens 15 Millionen DM (1995) steigen. Der Bundes wir dringend brauchen. altenplan fördert mit einem breiten Spektrum spe- Ich habe vor, im kommenden Jahr eine umfassen- zieller Instrumente die gesellschaftliche Teilhabe dere Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes vor- der älteren Generation und ist somit ein wichtiger zulegen, und werde dazu in Kürze Vertreter der Bun- Ansatz zur Bewältigung der demographischen desländer zum Gespräch einladen. Das Bundessozial- Herausforderung der kommenden Jahre und Jahr- hilfegesetz ist seit den 70er Jahren nicht mehr generell zehnte. novelliert worden. Es gibt dazu Vorschläge des Deut- schen Vereins. In eine solche Gesetzesnovelle könn- — Große Sorge bereitet mir allerdings die Situation in den Alten- und Pflegeheimen sowie den Einrich- ten auch vorliegende Vorschläge der Ministerpräsi- tungen für Behinderte in den neuen Bundeslän- denten und der Sozialminister der Länder einbezogen werden. Um den auch durch die deutsche Einigung dern. Wir wissen inzwischen, daß etwa 40 % dieser Einrichtungen nach ihrer Bausubstanz abrißreif, gewachsenen Anforderungen an die Sozialhilfe und 30 % dringend sanierungsbedürftig, 20 % kurzfri- die freie Wohlfahrtspflege gerecht zu werden, habe ich zum 1. Oktober in meinem Ministerium hierzu stig sanierungsfähig sind und nur etwa 10 % dem Mindeststandard entsprechen. eine eigene Abteilung eingerichtet. Einer entspre- chenden Entschließung des Deutschen Bundestages Hier besteht mittelfristig ein recht hoher Investi- wurde damit ebenfalls Genüge getan. Die hier zu lei- tionsbedarf. Bei meinem Magdeburger Treffen mit stende, aus Sicht der Betroffenen bisweilen unpopu- den Sozialministern der neuen Länder im Septem- läre Arbeit — oft in schwieriger Abstimmung mit den ber waren wir uns darin einig, daß ein Gesamtsa- ausführenden Ländern und Kommunen — kann gar nierungsprogramm für die Alten- und Altenpflege- nicht hoch genug eingeschätzt werden. heime in einer Größenordnung von voraussichtlich mehr als 10 Milliarden DM notwendig ist und al- Ich will daher zum Abschluß meines Beitrages die lein die Finanzkraft der neuen Bundesländer auf Gelegenheit nutzen, absehbare Zeit übersteigen wird. Mit den Sozial- — den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des von ministern, den Spitzenverbänden der freien Wohl- mir geleiteten Ministe riums, fahrtspflege und den kommunalen Spitzenverbän- den erarbeitet derzeit mein Ministerium eine ge- — den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuß für naue Bedarfsanalyse mit dem Ziel, weitgehend ge- Familie und Senioren sowie sicherte Grundlagen für ein solches Programm zu — in besonderer Weise den Berichterstatterinnen und erhalten. Mitgliedern des Haushaltsausschusses — Die finanzielle Situation der in den Feierabend- sehr herzlich zu danken für ihre Mithilfe bei der Auf- und Pflegeheimen lebenden alten Menschen in stellung des Bundeshaushalts 1992 und ihre stets ko- den neuen Ländern ist durch die Erhebung kosten- operative, oft freundschaftliche Haltung. deckender Pflegesätze, die überall im Gange ist, schwieriger geworden. Wenn auch die Mindest- Ich bitte Sie alle, dem Haushalt des Bundesfinanz- rente in der früheren DDR mit 330 DM beschä- ministeriums für Familie und Senioren zuzustim-- mend niedrig war, so mußten in den Heimen doch men.