Plenarprotokoll 12/123

Deutscher

Stenographischer Bericht

123. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Inhalt:

Tagesordnungspunkt III: Hinrich Kuessner SPD 10511B Fortsetzung der zweiten Beratung des SPD 10512B von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes über die Andrea Lederer PDS/Linke Liste 10512D Feststellung des Bundeshaushaltsplans Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ für das Haushaltsjahr 1993 (Haushalts- DIE GRÜNEN 10515 A gesetz 1993) (Drucksachen 12/3000, 12/3541) Ortwin Lowack fraktionslos 10517 C

Einzelplan 04 Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 10519B Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes (Drucksa- Namentliche Abstimmung 10520 B chen 12/3504, 12/3530) Einzelplan 05 Hans-Ulrich Klose SPD 10451B Geschäftsbereich des Auswärtigen Am- tes (Drucksachen 12/3505, 12/3530) Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU 10458D Ernst Waltemathe SPD 10522 D Dr. F.D.P. 10465 A Dr. Klaus Rose CDU/CSU 10525 B Dr. PDS/Linke Liste 10469A SPD 10526 C Dr. BÜNDNIS 90/ Dr. Sigrid Hoth F.D.P. 10528 A DIE GRÜNEN 10471 D Dr. PDS/Linke Liste 10529B Dr. , Bundeskanzler BK 10474A Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10530C Ingrid Matthäus-Maier SPD 10487 C Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA 10531 D Dr. F.D.P. 10491 B Ortwin Lowack fraktionslos 10534 A Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU 10491D Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD 10535 C Dr. Wolfgang Bötsch CDU/CSU 10492D Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/ Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. 10496C, 10503 D CSU 10538 C

Rolf Schwanitz SPD 10500D, 10503 D Einzelplan 14 Geschäftsbereich des Bundesmini- CDU/CSU 10504 A sters der Verteidigung (Drucksachen 12/3514, 12/3530) Rudolf Dreßler SPD 10506D

Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 10510D in Verbindung mit

II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Einzelplan 35 Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 10554 B Verteidigungslasten im Zusammen- Jürgen Koppelin F.D.P. 10556 B hang mit dem Aufenthalt ausländischer SPD 10556 D Streitkräfte (Drucksache 12/3527) Ingrid Matthäus-Maier SPD 10557 C in Verbindung mit Dieter Heistermann SPD 10558 A Tagesordnungspunkt III 17: Jürgen Koppelin F.D.P. 10559A Beratung der Beschlußempfehlung und Karl Stockhausen CDU/CSU 10561 B des Berichts des Verteidigungsaus- schusses zu der Unterrichtung durch die Rudi Walther (Zierenberg) SPD 10562 A Bundesregierung: Bericht über den Volker Rühe, Bundesminister BMVg 10562D Stand der Verhandlungen mit den Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD NATO-Entsendestreitkräften über die 10567A Schließung des Luft-Boden-Übungs- Walter Kolbow SPD 10567 D platzes „Nordhorn-Range" (Drucksa- chen 12/537, 12/3691) Dr. F.D.P. 10568A

in Verbindung mit Namentliche Abstimmung 10568 C Ergebnis 10573 C Tagesordnungspunkt III 18: Einzelplan 23 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsaus- Geschäftsbereich des Bundesministers schusses zu dem Antrag der Abgeordne- für wirtschaftliche Zusammenarbeit ten , Dr. Walter Franz (Drucksachen 12/3521, 12/3530) Altherr, Hans-Dirk Bierling, weiterer Einzelplan 06 Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Geschäftsbereich des Bundesministers Günther Friedrich Nolting, Dr. Werner des Innern (Drucksachen 12/3506, Hoyer, Dr. Sigrid Semper, weiterer 12/3530) Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Privatisierung der Heimbe- in Verbindung mit triebsgesellschaft mbH der Bundes- Einzelplan 33 wehr (Drucksachen 12/1292, 12/3693) - Versorgung (Drucksache 12/3526) in Verbindung mit in Verbindung mit Tagesordnungspunkt III 19: Einzelplan 36 Beratung der Beschlußempfehlung und Zivile Verteidigung (Drucksachen des Berichts des Haushaltsausschusses 12/3528, 12/3530) zu der an den Haushaltsausschuß zurückverwiesenen Entschließung auf Rudolf Purps SPD 10569 C Nummer II der Beschlußempfehlung des Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD 10570 D Haushaltsausschusses zum Entwurf ei- nes Gesetzes über die Feststellung des CDU/CSU 10575 D Bundeshaushaltsplans für das Haus- F.D.P. 10578 A haltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) (Drucksachen 12/100, 12/494, 12/531, CDU/CSU 10580 C 12/3758 [neu]) Ina Albowitz F.D.P. 10582B, 10589B Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD 10542A Günter Graf SPD 10583 B Helmut Esters SPD 10545 C , Bundesminister BMI 10586B Hans-Gerd Strube CDU/CSU 10546A Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD 10546B, 10548A Nächste Sitzung 10590 C Karl-Ludwig Thiele F.D.P. 10548 B Anlage 1 Jan Oostergetelo SPD 10548D Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD 10550B, Liste der entschuldigten Abgeordneten . 10591* A 10563 C Andrea Lederer PDS/Linke Liste 10551A Anlage 2 Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord DIE GRÜNEN 10552 C nungspunkt II 20 — Einzelplan 23, Ge-

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 III

schäftsbereich des Bundesministers für Geschäftsbereich des Bundesministers des

wirtschaftliche Zusammenarbeit — Innern —, III 22 — Einzelplan 33, Versor- gung —, III 23 — Einzelplan 36, Zivile Helmut Esters SPD 10591* B Verteidigung — Dr. Christian Neuling CDU/CSU 10593* A Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10600* C Werner Zywietz F.D.P. 10595* C Dr. PDS/Linke Liste 10596* C Angela Stachowa PDS/Linke Liste 10602* B

Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ PDS/Linke Liste 10603* B DIE GRÜNEN 10597 B Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 10598* A

Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 10599* D Anlage 4

Anlage 3 Erklärung des Abgeordneten Helmut Schä- fer (Mainz) F.D.P. zur namentlichen Ab- Zu Protokoll gegebene Reden zu den Tages stimmung über den Änderungsantrag der ordnungspunkten III 21 — Einzelplan 06, Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3811 10605*

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123. Sitzung

Bonn, den 25. November 1992

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, tisch Andersdenkende, sogar Behinderte. Das ist eine liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröff- schreckliche, eine beschämende Entwicklung, eine net. Entwicklung, meine Damen und Herren, die gestoppt Wir setzen die Haushaltsberatungen Punkt III — werden muß, ganz dringlich und wirksam. Aber fort: wie? Zweite Beratung des von der Bundesregierung Es ist wichtig, daß wir uns zu den Vorgängen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über äußern, wir, die Menschen in Deutschland, ob wir nun die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für prominent sind oder nicht, ob organisiert oder nicht, das Haushaltsjahr 1993 (Haushaltsgesetz ob Deutsche oder Ausländer. Es muß hier und im 1993) Ausland deutlich werden, daß wir nein zu Haß und — Drucksachen 12/3000, 12/3541 — Gewalt und ja zu Menschlichkeit und Menschen- würde sagen. Beschlußempfehlung und Bericht des Haus- haltsausschusses (8. Ausschuß) (Beifall im ganzen Hause) Ich war sehr glücklich, daß die Menschen vorge- Ich rufe dazu Punkt III 13 auf: stern spontan auf die Straße gegangen sind: Schüler, Einzelplan 04 Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen. Das war wich- Geschäftsbereich des Bundeskanzlers- und des tig, so wie die Demonstrationen in den vergangenen Bundeskanzleramtes Wochen wichtig und richtig waren. — Drucksachen 12/3504, 12/3530 — Nicht richtig ist es, wenn Menschen, die angegriffen werden oder sich bedroht fühlen, jetzt ihrerseits Berichterstattung: androhen, sie würden sich zum Zwecke der Selbstver- Abgeordnete Rudi Walther (Zierenberg) teidigung bewaffnen. Ich verstehe solche Reaktionen. Dietrich Austermann Ich verstehe sie sogar sehr gut. Aber es kann nicht der Carl-Ludwig Thiele richtige Weg sein, daß jetzt das friedenstiftende Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Gewaltmonopol des Staates aufgegeben wird. Viel- Ich weise darauf hin, daß wir über diesen Einzelplan mehr müssen die Verantwortlichen im Bund und in im Anschluß an die Aussprache namentlich abstim- den Ländern alles tun, um den Gewalttätern mit den men werden. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat Mitteln des Rechtsstaates entgegenzutreten. So leid sind für die Aussprache fünf Stunden vorgesehen. — es mir tut: Ich habe nicht den Eindruck, daß das Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so geschieht. Ich habe im Gegenteil den Eindruck, daß es beschlossen. insbesondere im justitiellen Bereich an der notwendi- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- gen Entschlossenheit fehlt. Im Klartext: Wer Brandfla- ordnete Herr Klose. schen in bewohnte Häuser wirft, ist nicht wegen Sachbeschädigung, sondern wegen versuchten Tot- Hans-Ulrich Klose (SPD): Frau Präsidentin! Meine schlags oder Mordes zu bestrafen. Damen und Herren! Die Morde von Mölln in der (Beifall im ganzen Hause) Nacht vom 22. zum 23. November haben uns alle erschüttert. Drei Menschen sind Opfer eines Brandan- Ich füge hinzu: Der Ruf nach schärferen Gesetzen ist schlags geworden, zwei türkische Frauen und ein ernst zu nehmen, wenn die bestehenden Gesetze Mädchen, das hier in Deutschland geboren wurde. angewandt worden sind und sich dabei als nicht Mit diesen drei Toten sind es jetzt insgesamt 16 Men- ausreichend erwiesen haben. Wenn das belegbar ist, schen, die allein in diesem Jahr Opfer politisch moti- wenn also der Ruf nach schärferen Gesetzen nicht nur vierter rechtsextremistischer Gewalt geworden sind. Ausdruck von Hilflosigkeit ist, kann man auch mit uns 16 Tote, über hundert Verletzte, Tausende, die über gesetzgeberische Maßnahmen reden. beschimpft, beleidigt und physisch oder psychisch Wichtiger freilich erscheint mir eine bessere perso- angegriffen wurden: Asylbewerber, Ausländer, poli nelle Ausstattung von Polizei und Verfassungsschutz. 10452 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Hans-Ulrich Klose Mir ist klar, daß ich mit diesem Hinweis weniger den Damit will ich sagen: Mit der vollen Härte des Bund als vielmehr die Länder anspreche. Es geht aber Gesetzes reagieren ist das eine. Wenn es nicht nicht anders. Sicherheit bietet im konkreten Fall nur geschieht, sind die Innen- und Justizminister gefor- der Polizist vor Ort, der Streife geht und sich den dert, etwas zu tun. Gefordert sind aber auch die Angreifern in den Weg stellt. Es genügt nicht, den Kultusminister — sie vor allem —, die Lehrer, die Dienst dieser Polizisten verbal anzuerkennen. Wir Hochschullehrer, die Geistlichen, die Gewerkschaf- müssen alles tun, damit genügend gut ausgebildete ter, die Vereinsfunktionäre und am Ende jeder ein- und motivierte Beamte bereitstehen, um den einzel- zelne, wo immer er tätig ist. nen und die Allgemeinheit zu schützen, wie es ihre (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aufgabe ist. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke F.D.P., dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Liste) sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Die Kultusminister und Lehrer habe ich übrigens ganz Liste) bewußt zuerst genannt. Denn mich beschäftigt schon Auch über uns, die Politiker, müssen wir reden. seit längerem die Frage, ob wir nicht im Zuge der Nicht daß ich jetzt der allgemeinen Politikerschelte notwendigen und insgesamt erfolgreichen Bildungs- opportunistisch nachgeben wollte. Das nicht. Wenn reform allzu konsequent vom Erziehungsgedanken das aber — um ein Wort des Bundeskanzlers aufzu- Abschied genommen haben. greifen — die Stunde der Wahrheit ist, in der nicht nur (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dies, sondern auch die Wahrheit gesagt wird, dann BÜNDNSSES 90/DIE GRÜNEN sowie lebhaf muß man wohl folgendes feststellen: Nicht die Tatsa- ter Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — che, daß wir über das Asylproblem gestritten haben [CDU/CSU]: Das richtet sich und streiten, sondern die Art und Weise, wie wir das aber an die SPD selbst!) getan haben und tun — häufig ohne Bezug zur Realität und zumindest teilweise ohne den erkennbaren Wil- Ist nicht die Erziehung zu Anstand und Toleranz, zur Achtung vor den Mitmenschen und zu wechselseiti- len zur sachlichen Problemlösung — hat das Klima in ger Rücksichtnahme doch von zentraler Bedeutung, Deutschland vergiftet. genauso wichtig wie die Selbstfindung und -entwick- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE lung des einzelnen Menschen? GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/ (Beifall im ganzen Hause) CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste) Sind nicht einige der Sekundärtugenden, wie Höflich- Ich sage es bewußt so allgemein und zurückhaltend, keit und Fairplay, doch primäre Werte für das friedli- meine Damen und Herren, weil ich es bei dieser einen che Zusammenleben unserer Gesellschaft? Bemerkung zu diesem Thema belassen möchte. Mehr wäre heute nicht gut. Vielleicht sind wir in einer, zwei (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der - oder drei Wochen weiter. Ich hoffe es. F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE Im übrigen widerspreche ich, wenn das Thema GRÜNEN) Gewalt und Gewaltbereitschaft vor den Toren der Politik abgeladen wird, als wäre es allein Aufgabe der Kein Anlaß für Selbstgerechtigkeit, meine Damen Politik, dieses Thema, auf welche Weise auch immer, und Herren, eher schwierige Fragen, in Ordnung zu bringen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der denen ich eine weitere hinzufüge, und zwar deshalb, F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜND weil in den Kommentaren, die ich am Montag abend NISSES 90/DIE GRÜNEN) gesehen und gehört habe, ein Aspekt gar nicht Wir Politiker sind beteiligt, aber es geht auch und vor beleuchtet wurde: Welche Rolle spielen die Me- allem um ein gesellschaftliches Problem. Die Gewalt- dien? täter, soweit wir sie bisher kennen, agieren nicht auf (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Grund einer selbständig gebildeten Überzeugung. Es F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS/ sind zumeist haltlose, fehlgeleitete, wertelose junge Linke Liste) Menschen, viel zu jung, um eine eigene fundierte Ich frage dies nicht, um Medienschelte zu betreiben; Überzeugung zu haben. Sie reagieren auf das, was in aber Tatsache ist doch, daß die Gewaltdarstellung in ihrer Umgebung gedacht und gesagt wird. Diese den Medien kaum noch Grenzen kennt. jungen Menschen leben nicht allein. Sie haben Eltern, Lehrer, Ausbilder, Freunde, Arbeitskollegen, Nach- (Beifall im ganzen Hause) barn. Hier und da gibt es sicher Drahtzieher im Wie denn auch, wenn heute nach falschen medienpo- Hintergrund, die die Uninformiertheit, den Problem- litischen Entscheidungen allein die Einschaltquote druck und die dumpfe Gewaltbereitschaft dieser jun- über den Wert eines Programms entscheidet! gen Menschen für ihre Zwecke mißbrauchen. Im gesellschaftlichen Umfeld aber liegt das eigentliche (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Problem. Deshalb ist das, was heute in Deutschland der CDU/CSU und der F.D.P.) geschieht, so gefährlich. Die Gewaltbereitschaft ein- Gewalt, meine Damen und Herren, ist unterhalt- zelner hat einen breiteren, breiigen Untergrund, der sam, egal, ob es um tatsächliche oder vorgebliche nicht von heute auf morgen wegzuräumen ist; das Berichterstattung geht. Es hat keinen Sinn, das zu dauert länger. leugnen. Ein Skinhead, der Gewaltparolen absondert, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10453

Hans-Ulrich Klose ist für die Einschaltquote wichtiger als eine Parla- könnten. Ich finde, dies ist keine grüblerische Frage, mentsdebatte. sondern die zentrale politische Frage für unser frei- heitliches System. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das ärgert uns alle, aber so ist es eben; denn auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hier geht es am Ende nach den Regeln des Marktes, Sie richtet sich an alle Demokraten: Was können wir, den zu ordnen in diesem Fall schon deshalb schwierig jeder einzelne und die Politik, tun, um die Demokratie ist, weil sich zwei Wertebenen überlagern: die ökono- in Deutschland auf Dauer zu sichern und ihr jenes Maß mische und die Ebene der Pressefreiheit. Die Politik an Stabilität zu geben, das andere Völker uns durch kann deshalb kaum etwas ausrichten. Die Medien- Tradition voraus haben? bosse selbst sind aufgefordert, das Problem zu beden- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da sollte ken. Sie sollten es tun. man bei sich anfangen!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Diese Frage stellt sich schon deshalb mit so großer F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜND Dringlichkeit, meine Damen und Herren, weil sich NISSES 90/DIE GRÜNEN) unsere deutsche Wirklichkeit dramatisch verändert Zwei weitere Punkte sind mir in diesem Zusammen- hat. Deutschland, zuvor geteilt, ist heute wieder ein hang wichtig. Die Demokratie gewinnt ihre Stärke Land, aber ein Land mit zwei Lebenswirklichkeiten, nicht aus Worten, so gut und richtig Worte auch sein der des Westens und der des Ostens. Die Unterschied- mögen. Probleme werden gelöst durch Worte und lichkeit dieser Wirklichkeiten und die Gegensätzlich- Taten. Wohnungsprogramme, Wirtschaftsförderungs- keit von Erwartungen und Verpflichtungen in Ost und programme, Ausbildungsprogramme — sie müssen West hat ein Klima erzeugt, in dem die Hoffnungen entworfen, begründet und umgesetzt werden. Die der ersten Stunde längst von den Sorgen und Ängsten materielle Seite der Demokratie, das Sichkümmern des Alltags aufgefressen sind. um die Probleme und Sorgen der Menschen, ist Die Stimmung ist schlecht in Deutschland, und beinahe noch wichtiger als die Norm, jedenfalls daran, Herr Bundeskanzler, tragen Sie — nicht allein, genauso wichtig wie diese. aber ganz wesentlich — die Schuld. Aus sozialdemokratischer Sicht füge ich hinzu: Wer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten glaubt, er könne die Sicherung der materiellen Seite des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) allein oder weitestgehend den Kräften des Marktes überlassen, und wer in diesem Zusammenhang die Sie haben bei der Gestaltung der deutschen Einheit Leistungsgesellschaft ideologisch überhöht, wie es bei nicht einfach Fehler gemacht, wie Sie jetzt freimütig Liberalen gelegentlich festzustellen ist, der verkennt eingestehen — was Sie ehrt —, nein, Sie haben den die gesellschaftlichen Wirkungsmechanismen. Menschen in Ost und West die Unwahrheit gesagt. Eben dies ist der entscheidende Grund für die (Beifall bei der SPD) schlechte Stimmung in Deutschland. - Wer den Verdienst des einzelnen allein an der Lei- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist stung mißt, endet auf jeden Fall im Konflikt. Es ist doch Unsinn!) keineswegs ausgemacht, daß bei der Austragung dieses Konflikts die Spielregeln eingehalten wer- Ihre Schuld, Herr Bundeskanzler, nicht Erblast! den. Jetzt sagen Sie, dies sei die Stunde der Wahrheit. Ludwig Erhard wußte das. Er sprach von Sozialer Wie schön, Herr Bundeskanzler, wenn Sie jetzt nicht Marktwirtschaft. In heutiger Zeit wird das Wort sozial nur dies, sondern tatsächlich die Wahrheit sagen entweder sehr leise oder gar nicht mehr ausgespro- würden, die Wahrheit über die tatsächliche Lage, über chen. die anstehenden Aufgaben, über die vorgesehenen Maßnahmen und über die anfallenden und von uns (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der allen zu tragenden finanziellen Lasten! Was, Herr CDU/CSU) Bundeskanzler, hindert Sie denn, einen solchen wahr- Wie denn auch, wenn allen Ernstes erwogen wird, heitsgemäßen Be richt zur Lage der Nation abzuge- zum Zwecke der Haushaltskonsolidierung zuallererst ben, wozu wir Sie mehrfach aufgefordert haben? und massiv bei jenen anzusetzen, die schon jetzt (Beifall bei der SPD und des Abgeordneten benachteiligt sind: bei den Sozialhilfeempfängern. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und GRÜNEN] ) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vor den Menschen draußen im Lande, wie Sie zu So wird innerer Frieden nicht gestiftet, sondern zer- sagen pflegen, brauchen Sie sich doch nicht zu fürch- stört, und dazu werden wir Sozialdemokraten die ten. Die sind klüger, als Sie denken. Die wissen, was Hand nicht reichen. auf sie zukommt. Und wir, die Opposition im Deut- schen Bundestag, könnten Sie doch gar nicht kritisie- (Beifall bei der SPD) ren, wenn Sie endlich sagen würden, was Sache ist. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Nachsicht, daß ich dem Thema Gewalt und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gewaltbereitschaft so viel Raum gewidmet habe, Täten Sie das, dann täten Sie genau das, was wir seit mehr als üblich und erwartet. Aber mich bewegt, ich langem fordern. Über Details, wichtig genug, über gestehe es, zunehmend mehr die Frage, ob wir Deut- einzelne Maßnahmen und Fragen der gerechten schen vor der Geschichte nicht einmal mehr versagen Finanzierung würden wir sicher streiten; aber den 10454 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Hans-Ulrich Klose Ansatz könnten und würden wir nicht kritisieren, weil Sechstens. De utschland steht am R ande einer wir, was Sie jetzt Solidarpakt nennen, schon seit Rezession. Der im Sommer 1991 begonnene Ab- langem im Interesse der Menschen und zur Beförde- schwung der Konjunktur in Westdeutschland hat sich rung der gemeinsamen Sache fordern, die wir beschleunigt. Die Grundtendenz der gesamtwirt- Deutschland nennen. schaftlichen Produktion ist abwärtsgerichtet. Ange- sichts der zunehmenden Verunsicherung von Ver- (Beifall bei der SPD) brauchern und Investoren droht die Konjunkturab- Wir Sozialdemokraten sind, weswegen uns manch schwächung in eine sich selbst verstärkende und einer belächelt, viel zu staatstragend, vielleicht sollte länger andauernde Rezession mit katastrophalen ich sagen: patriotisch veranlagt, um eine Opposition à Konsequenzen für den ohnehin schwachen Wirt- la Sonthofen zu praktizieren. Wir sind bereit, uns an schaftsaufschwung im Osten der Repubik einzumün- einem Solidarpakt, der diesen Namen verdient, zu den. beteiligen, weil wir wollen, daß sich die Verhältnisse Es ist hohe Zeit gegenzusteuern. Aber der mit der in Deutschland, vor allem in den neuen Ländern, zum wachsenden Staatsverschuldung verbundene Anstieg Besseren wenden. der Zinsbelastung macht den Staat beinahe hand- (Beifall bei der SPD) lungsunfähig. Lag die Zinsbelastung im Jahr 1982 Wir unterstellen, daß auch Sie das wollen, und fordern noch bei 50,4 Milliarden DM, so müssen die öffentli- Sie auf, nicht mehr zu zögern und zu schwanken, chen Haushalte 1992 für ihre Schulden 128,3 Milliar- sondern endlich Klartext zu reden und entschlossen zu den DM Zinsen zahlen. Das bedeutet einen Anstieg handeln — jetzt, nach zweijähriger Schönrednerei um 155%. und Lähmung. (Zuruf von der F.D.P.: Das sind auch die (Zurufe von der CDU/CSU: Na, na!) Länder!) Die Zinsbelastung der Haushalte, die 1982 bei 13,8 % Meine Damen und Herren, wie ist die Lage in Deutschland? lag, ist heute, 1992, auf 18,6 % hochgeschnellt. Heute muß fast jede fünfte Steuermark für Zinsen ausgege- Erstens. Die Arbeitslosigkeit hat eine besorgniser- ben werden. regende Höhe erreicht. In den neuen Bundesländern sind 1,1 Millionen Menschen ohne Arbeit; weitere (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: NRW!) 1,7 Millionen befinden sich in arbeitsmarktpolitischen Dies ist, meine Damen und Herren, in dürren Worten, Maßnahmen. Von den rund 10 Millionen Arbeitsplät- die Sie nicht gem hören, die Lage. Es ist Ihre Bilanz, zen, die es Ende 1989 dort gab, sind heute noch etwa Herr Bundeskanzler. 5,6 Millionen vorhanden. Dies bedeutet einen Rück- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gang um 44 %. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Und in den alten Bundesländern? Dort sind derzeit Sie reden angesichts dieser Lage — semantisch 1,8 Millionen Menschen ohne Arbeit — steigende nicht ungeschickt — gern von Erblast. Sie wollen Tendenz. Damit sind insgesamt in ganz Deutschland damit andeuten, daß Sie für alle geschilderten und gar gegenwärtig rund 4,6 Millionen Erwerbspersonen nicht zu leugnenden Probleme nichts können, da Sie ohne regulären dauerhaften Arbeitsplatz. doch alles geerbt hätten, und zwar nach 40 Jahren Zweitens. Die Einkommensentwicklung zwischen Sozialismus, wie Sie so gern formulieren, den verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Deutsch- (Zurufe von der CDU/CSU) land verläuft immer ungerechter. Der Anteil der Einkommen aus unselbständiger Arbeit am Volksein- um jedenfalls semantisch auch die Sozialdemokraten kommen insgesamt ging von 72,7 % im Jahr 1981 auf ins Boot des Erblassers zu ziehen. Es sind immer 66,2 % im Jahr 1992 zurück. dieselben Tricks, die aber auch nicht helfen, sondern nur noch zur allgemeinen Verwirrung beitragen. Drittens. Die Armut in Deutschland nimmt drastisch Hören sie auf mit solchen Tricks. Sagen Sie endlich die zu. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger in den alten Wahrheit. Bundesländern ist von 2,3 Millionen im Jahr 1982 auf über 4,2 Millionen im Jahr 1992 angestiegen. Bei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Einbeziehung der neuen Länder und unter Berück- DIE GRÜNEN) sichtigung der Dunkelziffer umfaßt die Armut in Deutschland heute mindestens fünf bis sechs Millio- nen Menschen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Klose, gestat- Viertens. Die Steuer- und Abgabenbelastung steigt ten Sie eine Zwischenfrage? immer weiter an; von 40,5 % im Jahr 1990 ist sie in diesem Jahr auf rund 44 % angestiegen. Fünftens. Dramatisch ist die Staatsverschuldung. (SPD): Nein. — Entscheidend für Unter der Regierung Kohl ist die Staatsverschuldung Hans-Ulrich Klose um 1 Billion DM angestiegen. 1982 betrug sie noch die wirtschaftliche Zukunft ist die Finanzpolitik. Zuständig für die Finanzpolitik ist der Kollege Waigel, 675 Milliarden DM. 1992 beträgt sie rund 1,7 Billionen der persönlich ein netter Mensch sein mag, DM. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß der Bundesregierung in diesem Zeitraum mehr als (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Ist! - 100 Milliarden DM Bundesbankgewinne zugeflossen Heiterkeit — Bundesminister Dr. Theodor sind. Waigel: Das ist schon etwas!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10455

Hans-Ulrich Klose aber als Finanzminister und zugleich als CSU-Vorsit- — dies auch unter dem Gesichtspunkt größerer Effek- zender offenbar überlastet ist. tivität — (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN — Zurufe von der SPD: Über bis hin zur Kürzung von Steuersubventionen bieten fordert! Er ist überfordert!) sich viele Möglichkeiten. Es gibt bei uns keine abge- — Ich hatte hier „überfordert" stehen, wollte aber nett schlossene Liste. sein. (Zuruf von der F.D.P.: Das stimmt!) (Heiterkeit) Wir finden aber, daß jetzt erst einmal die Regierung Dabei will ich gerne hinzufügen, Herr Kollege dran ist, uns konkret zu sagen, wo und was gespart Waigel, daß der Job des Finanzministers zum einen werden soll und wer dadurch belastet wird. Es ist nicht derzeit nicht besonders attraktiv ist und zum anderen die ausschließliche Aufgabe der Opposition, Verkün- der Bundeskanzler, der doch die Richtlinien der Poli- der schlechter Nachrichten zu sein. tik bestimmen soll, Ihnen den Job nicht eben erleich- (Beifall bei der SPD) tert; statt klarer Richtlinien gibt es Schweigen oder Daß wir bereit sind, im Rahmen eines Solidarpakts offenkundig falsche Signale. Jüngstes Beispiel: die ein Konsolidierungspaket mitzutragen, habe ich Ankündigung von Steuererhöhungen — welche bereits gesagt. Dabei gibt es für uns nur zwei Kriterien, eigentlich?, in welcher Höhe? — ab 1995. Es besteht an denen wir uns orientieren: Es muß wirtschaftspoli- gar kein Zweifel, daß dies die Bürger und die Wirt- tisch vernünftig und sozial ausgewogen sein. Die schaft weiter verunsichert und damit der Konjunktur Gerechtigkeitslücke muß beseitigt werden. Solidari- schadet. — Während der Kanzler den Kopf schüttelt, tät ohne Gerechtigkeit gibt es nicht. müßten Sie eigentlich nicken, Herr Kollege Waigel. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang 90/DIE GRÜNEN) Schäuble [CDU/CSU]: Sind Sie nun dafür oder dagegen?) Was wir für den Solidarpakt vorschlagen, haben wir mehrfach öffentlicht vorgestellt, zuletzt mit der Frak- Wenn Steuererhöhungen schon unvermeidbar sind tionserklärung vom 20. Oktober und dem auf dem — wir Sozialdemokraten haben das immer gewußt außerordentlichen Parteitag der SPD beschlossenen und auch, vor der letzten Bundestagswahl, gesagt —, Sofortprogramm. Vorrangig sind folgende Punkte: dann nicht zuletzt aus Gründen der Haushaltskonso- lidierung jetzt gleich. Erstens. Wir brauchen ein langfristig angelegtes und finanziertes Zukunftsinvestitionsprogramm Ost Interessant ist übrigens, daß — von Graf Lambsdorff zum Aufbau der wirtschaftlichen, sozialen, ökologi- abgesehen — kaum jemand an die Ankündigung des schen und kulturellen Infrastruktur sowie für den Bundeskanzlers, Steuererhöhungen erst ab 1995, Wohnungsneubau, für die Stadt- und Dorferneuerung glaubt. - und den Erhalt der historischen Bausubstanz. (Heiterkeit bei der SPD — Ingrid Matthäus- (Beifall bei der SPD) Maier [SPD]: Der glaubt das auch nicht!) Im Unterschied zu den bisherigen, eher kurzatmigen Jedenfalls ergab eine Meinungsumfrage kurz nach Investitionsprogrammen schlagen wir eine Laufzeit dem Bundesparteitag der CDU, daß 83 % der Bevöl- von zehn Jahren und ein Volumen von 10 Milliarden kerung Steuererhöhungen schon vor 1995 erwarten. DM pro Jahr vor, um die Planungssicherheit der So geht das, Herr Bundeskanzler, mit der vielzitierten öffentlichen Investoren und der ausführenden Unter- Glaubwürdigkeit. Man hat sie, oder man hat sie nicht. nehmen zu verbessern. Ein solches Zukunftsinvesti- Für Sie gilt letzteres. tionsprogramm erhöht sowohl die Beschäftigungssi- cherheit mittelständischer Unternehmen, insbeson- (Beifall bei der SPD) dere der Bauindustrie, als auch durch die Verbesse- Die Konsolidierung der Staatsfinanzen ist derzeit rung der Infrastruktur die Standortattraktivität Ost- das dringlichste Problem. Nur wenn dies gelingt, wird deutschlands. Zu diesem Zukunftsinvestitionspro- sich die Bundesbank entschließen können, ein weite- gramm gehört die Wiedereinführung der Ende 1991 res Zinssignal nach unten zu geben, worauf nicht nur ausgelaufenen, aber bewährten Investitionspau- die deutsche Wirtschaft wartet. Um den Weg für mehr schale für Städte und Gemeinden. Investitionen und Mehr Arbeitsplätze freizumachen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS muß das Zinsniveau aber dauerhaft gesenkt und der 90/DIE GRÜNEN) Wechselkurs auf ein Niveau gebracht werden, das der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entspricht. Zu- Zweitens. Wir wollen die Investitionsförderung mindest ein Teil der jüngsten DM-Stärke ist künstlich vereinfachen und verbessern. Dazu sollen die Zula- produziert und nicht real. gen von 8 auf 20 % angehoben oder alternativ bessere Abschreibungsbedingungen angeboten werden. Ge- Die Konsolidierung des Haushalts erfordert einen fördert werden sollen der gewerblich-industrielle und energischen und klugen Sparkurs; „klug" soll sagen: der handwerkliche Sektor sowie Neugründungen Die Konjunkturlage muß bedacht, deflatorische durch Ortsansässige, Effekte müssen unbedingt vermieden werden. Was aus unserer Sicht gleichwohl möglich ist, haben wir (Zuruf von der CDU/CSU: Abgeschrieben!) benannt. Von der Kürzung der Verteidigungsausga- Drittens. Im Westen Deutschlands müssen neue ben, über die Verkleinerung des Regierungsapparats Schritte zur Markthilfe für Ostdeutschland getan 10456 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Hans-Ulrich Klose werden, z. B. bei Ausschreibungen durch Präferenzen mit Ihrer Mehrheit allenfalls noch fähig, Haushaltsbe- für solche Unternehmen, die in Regionen mit hoher ratungen zu erzwingen und einen Haushalt zu verab- Arbeitslosigkeit tätig sind. schieden, von dem allein Sie noch glauben, er wäre (Zuruf von der CDU/CSU: Abgeschrieben!) solide, während die gesamte Öffentlichkeit darüber lacht. Um Osteuropa und die GUS-Staaten wieder als Absatzmarkt zu gewinnen, sind Gemeinschaftsein- (Beifall bei der SPD) richtungen zu schaffen, die Tauschgeschäfte organi- sieren. Finanzhilfen für diese Staaten sind an Abnah- Erlauben Sie mir, was die ökonomische Situation meverpflichtungen für ostdeutsche Güter und Dienst- angeht, noch eine zusätzliche, eher grundsätzliche leistungen zu koppeln. Bemerkung. Ich habe bisweilen den Eindruck, daß wir Deutschen oftmals ein bißchen kleinkariert nur dar- (Zuruf von der CDU/CSU: Ebenfalls abge über reden, wie wir den einen kleinen Kuchen gerech- schrieben!) ter verteilen könnten. Dagegen ist auch gar nichts zu Viertens. Die weitere Entindustrialisierung Ost- sagen, weil Gerechtigkeit ein wichtiges Ziel der deutschlands muß verhindert werden. Ohne den Politik ist und bleiben muß; aber wir sollten auch Erhalt wichtiger Industriestandorte ist eine nachhal- darüber reden, ob und wie wir den Kuchen, über tige Stärkung der ostdeutschen Industrie kaum reali- dessen Verteilung wir streiten, größer und schmack- sierbar. Im Rahmen einer zukunftsorientierten markt- hafter backen könnten. wirtschaftlichen Industriepolitik müssen deshalb Be- triebe, die jetzt nicht privatisierbar, langfristig aber (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) sanierungsfähig und volkswirtschaftlich förderungs- Das wird nur gehen, wenn wir mehr und besser und würdig sind, saniert werden. anders produzieren und verkaufen. Beides ist wich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS tig! 90/DIE GRÜNEN) (Zustimmung des Abg. [CDU/ Dazu muß die Treuhand endlich gleichrangig zu dem CSU] — Zuruf von der CDU/CSU: Eben Privatisierungsauftrag einen gesetzlichen Sanie- haben Sie doch nur verteilt!) rungsauftrag bekommen. Fünftens. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik ist jeden- Wir dürfen, wenn wir über die wirtschaftliche Ent- falls für eine längere Übergangszeit unerläßlich, bis wicklung im Osten und im Westen reden, nicht immer ausreichend private Betriebe entstanden sind. nur in den Kategorien der Bestandssicherung denken, wozu wir alle neigen — schon immer und ganz (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS besonders heute. Strukturbrüche nach dem Prinzip 90/DIE GRÜNEN — Siegfried Hornung der kreativen Zerstörung zu bewältigen, das war [CDU/CSU]: Und wann soll das nach Ihrer tatsächlich nie unsere Methode, weder bei der Kohle Meinung sein?) - noch bei der Stahl- noch bei der Werftenkrise. Die Instrumente der Arbeitsmarkt- und Regionalpoli- tik müssen miteinander verzahnt werden. In diesem (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Na, Zusammenhang sage ich es noch einmal klar und na!) deutlich: Die von der Koalition be triebene 10. AFG- Immer wurde politisch abgefedert und interveniert. Novelle muß zurückgenommen werden! Das muß auch heute bei der viel größeren Strukturauf- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste gabe im Osten Deutschlands geschehen; aber wir sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES müssen auch immer unter dem Stichwort Innovation 90/DIE GRÜNEN — Dr. Wolfgang Schäuble über neue Produkte nachdenken, über die Produkte [CDU/CSU]: Sobald man mit dem Sparen der nächsten Generation. anfängt!) Ich freue mich sehr, daß es jetzt in Eisenach ein Bei einigen Punkten, z. B. bei der Investitionszu- modernes Automobilwerk gibt, wahrscheinlich das lage, aber auch bei dem Sanierungsauftrag für ost- modernste in ganz Westeuropa. Ich wüßte nur zu gern, deutsche Unternehmen, ist die Bundesregierung jetzt wieviel von der eingesetzten Automatik und Elektro- offenbar bereit, sich zu bewegen. Ein bißchen spät, nik, die so hohe Produktivität gestattet, „made in meine Damen und Herren, aber immerhin! Immer " ist oder auch nur „made in Europe". Ich noch besser, Sie folgen unseren Vorschlägen spät, als fürchte, der größte Teil ist „made in Japan". Weil das gar nicht! so sein wird, sage ich Ihnen: So wichtig die Rückge- (Beifall bei der SPD) winnung der Märkte in Osteuropa auch ist, beinahe noch wichtiger für die Zukunftssicherung Deutsch- Freilich darf ich Sie in diesem Zusammenhang an lands und Europas ist unsere Fähigeit, erfolgreich Gorbatschows Wort erinnern: Wer zu spät kommt, den auch auf den ostasiatischen Märkten zu konkurrie- bestraft - nein, in Ihrem Fall nicht das Leben, sondern ren. der Wähler, so hoffe ich! (Beifall bei. der SPD) (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ CSU: Ja, wer sagt's denn? — Wie denn? Doch Die Wähler wissen, was in der Vergangenheit gelau- nicht mit Ihrer Politik!) fen ist, und sie wissen schon heute, daß ohne die SPD nichts mehr läuft, wenn denn überhaupt etwas läuft. Ich fürchte, wir sind dabei, diese Fähigkeit zu verlie Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, sind ren. Ich plädiere daher für eine Industriepolitik, die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10457

Hans-Ulrich Klose sich nicht auf Nischen, sondern auf die Märkte der Andererseits hat er nach, wie wir lesen, heftiger und Zukunft einrichtet. unfreundlicher Diskussion innerhalb der Union erklärt, weitergehende, ja sogar Kampfeinsätze der (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ Bundeswehr könnten durch einfaches Gesetz gere- CSU: Industriepolitik?) gelt werden. Eine solche Industriepolitik geht nur in Zusammen- Ich kann Sie, meine Damen und Herren von der arbeit beider, der Industrie und der Politik. Die Wirt- Union, vor diesem Kurs nur warnen. Die Bundeswehr schaft hat das übrigens längst begriffen, nur Sie noch ist das Machtinstrument des Staates. Bei der Frage, nicht! was die Bundeswehr darf, genauer: was die Politik mit (Beifall bei der SPD — Lachen bei Abgeord der Bundeswehr tun darf, kann und darf es keinerlei neten der CDU/CSU) Meinungsverschiedenheiten und keine Grauzonen Denen übrigens, die bei solchen Perspektiven öko- geben. logische Bauchschmerzen haben, gebe ich zu beden- (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und dem ken, daß in Japan der Energie- und Rohstoffverbrauch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) signifikant unter dem Westeuropas liegt. Wir sollten Es ist unerträglich, vor allem für die beteiligten darüber nachdenken, woran das liegt. Soldaten, auf verfassungsrechtlich unsicherer Grund- (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Weng lage in militärische Einsätze geschickt zu werden. [Gerlingen] [F.D.P.]: Fragen Sie mal nach (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten den Lebensumständen dort!) der F.D.P.) Meine Damen und Herren, über einen weiteren Das jedenfalls ist unverantwortlich! Das wissen Sie Punkt, bei dem sich ohne die SPD nichts bewegt, auch, Herr Kollege Rühe. Und es ist, wie ich hinzu- haben Sie in der Koalition in den letzten Tagen in den füge, absolut unakzeptabel, die Verfassung als politi- eigenen Reihen diskutiert, wie üblich streitig. Ich sches Spielfeld zu benutzen. spreche von den künftigen Einsätzen der Bundeswehr im Rahmen der UNO. Wie gesagt — Sie wissen das (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ auch —, auch bei diesem Punkt geht es nicht ohne die DIE GRÜNEN) SPD, Die Verfassung ist zu kostbar, als daß man ihre (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Doch, das Verbindlichkeit nach Belieben bejahen oder vernei- geht!) nen könnte. Tun Sie das nicht, Herr Kollege Rühe! Bleiben Sie bei der — wie der Kollege Genscher 1980 jedenfalls dann nicht, wenn die derzeitige Bundesre- formulierte — vorsichtigen und auf Achtung verfas- gierung den Grundkonsens aller früheren Bundesre- sungsrechtlicher Bedenken ausgerichteten Politik frü- gierungen akzeptiert, daß nämlich die Bundeswehr herer Bundesregierungen! Riskieren Sie nicht den lediglich zum Zwecke der Verteidigung eingesetzt offenen Verfassungsbruch! werden darf, zur Verteidigung des eigenen -Territori- ums oder im Rahmen von NATO und WEU zur (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ kollektiven Verteidigung im Bündnis. DIE GRÜNEN) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da geht Warten Sie zumindest ab! Vielleicht bringt ja die für aber der Streit in Ihren Reihen genauso! — das nächste Frühjahr erwartete Entscheidung des Gegenruf von der SPD: Sie sind schlecht Bundesverfassungsgerichts über den Adriaeinsatz informiert!) Klarheit. Die derzeitige Bundesregierung will, daß die Bun- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Hof deswehr künftig darüber hinaus — ob im Rahmen der fentlich!) UNO und/oder der WEU, ist unklar — als Interven- Ich finde es übrigens nach wie vor bedauerlich, daß tionsstreitmacht zur Verfügung steht. Meinungsver- wir, die Politiker, diese Frage nicht allein entscheiden schiedenheiten gibt es offenbar bei der Frage, ob es konnten, sondern das Ge richt anrufen mußten. dazu einer Verfassungsänderung bedarf oder nicht. Während die Union inzwischen mehrheitlich der vom (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ja, das Kollegen Schäuble vertretenen Auffassung zuneigt, liegt doch an Ihnen! Lesen Sie doch Ihren es gehe auch ohne Verfassungsänderung, Parteitagsbeschluß! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Recht hat er!) Das ist um so bedauerlicher, als die Regierung niemals hält die F.D.P. an der Rechtsauffassung früherer auch nur den Versuch unternommen hat, sich politisch Bundesregierungen fest. So jedenfalls verstehe ich mit uns zu verständigen. das, was ich in den letzten Tagen aus den Reihen der F.D.P. gehört habe. (Dr. Peter Struck [SPD]: Das stimmt!) Wann hat denn die Verfassungskommission je über (Zuruf von der SPD: Wie lange noch?) den Blauhelm-Antrag der SPD beraten? Welche Auffassung der Oberbefehlshaber der Bun- deswehr, der Verteidigungsminister, vertritt, ist der- (Zurufe von der SPD: Genau! — Sehr rich zeit nicht völlig klar. Einerseits hat er dem in der Adria tig!) mitschwimmenden Zerstörer eine Teilnahme an den Wann hat der Bundesverteidigungsminister, wann der Embargo-Enforcement-Maßnahmen ausdrücklich Bundesaußenminister jemals den Versuch unternom untersagt — aus verfassungsrechtlichen Gründen. men, in offiziellen Verhandlungen mit den Sozialde- 10458 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Hans-Ulrich Klose mokraten über einen erweiterten Auftrag der Bundes- Sicherheit wird auch künftig militärisch definiert wehr zu reden? werden, aber die Zukunft gewinnen wir nur, wenn wir (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sie hal diese eine Welt nicht mehr als Schauplatz von Krie- ten doch nichts davon!) gen, sondern als Überlebensort der gesamten Menschheit annehmen und gestalten, Die Wahrheit ist doch: Sie wollten nicht mit uns verhandeln, weil Sie Gemeinsamkeit immer nur zu (Beifall bei der SPD) Ihren Konditionen meinen, sonst nicht! kooperativ, solidarisch und voller Zuversicht, daß es eine bessere Zukunft geben könnte, wenn wir es nur (Beifall bei der SPD) wollen. Daß der Kompromiß eine demokratische Tugend ist, Bill Clinton hat dies, bezogen auf sein Land, die müssen Sie erst noch lernen. USA, wie folgt formuliert: (Beifall bei der SPD) Die Menschen in unserem Land haben immer an Daß andererseits die UNO einen solchen Kompro- zwei große Ideen geglaubt: erstens, daß die miß begrüßen würde, hat deren Generalsekretär erst Zukunft besser sein kann als die Vergangenheit, jüngst erklärt. Eine Beteiligung der Deutschen an und zweitens, daß jeder von uns eine persönliche, Blauhelmaktionen wäre hilfreich, sagte er. eine moralische Verantwortung hat, dazu beizu- tragen. Lassen Sie uns doch jetzt gemeinsam beschließen, was jetzt gemeinsam geht. Daß die Bundeswehr vor Meine Damen und Herren, von dieser Zuversicht und dem Jahr 2000 an Kampfeinsätzen teilnehmen dieser Art Patriotismus sollten wir uns eine Scheibe könnte, haben doch auch Sie, Herr Kollege Rühe, abschneiden. Wir brauchen beides. Denn — um zum ausgeschlossen. Was soll also die Rechthaberei in Anfang zurückzukehren — der Erfolg rechtsextremer einem Streit, der für die Realität auf absehbare Zeit Menschenfänger hat immer auch zu tun mit der überhaupt keine Bedeutung hat? Unfähigkeit der Demokraten, eine zukunftsstarke Perspektive, eine Reformidee zu entwickeln. Junge (Beifall bei der SPD) Menschen vor allem brauchen eine solche Vision. Der Außenminister meint, er brauche die volle Wenn wir, die Politiker, kleingläubig zurückzuk- Beteiligung der Bundeswehr, weil er sonst im Kreise ken, wer könnte uns glauben, daß wir die Zukunft der Verbündeten „außen vor" sei. Wäre er das wirk- meistern? lich, wenn eine Grundgesetzänderung entsprechend dem Beschluß des außerordentlichen Parteitages mei- (Beifall bei der SPD) ner Partei zustande käme? Wären damit nicht 90 % der Die Zukunft Deutschlands zu gestalten, ein besseres derzeit möglichen Einsatzfälle der Bundeswehr im Gesamtdeutschland aufzubauen, die Einheit Europas Rahmen der UNO abgedeckt? voranzubringen mit den Menschen, nicht gegen sie, Im übrigen frage ich Sie, meine Damen und- Herren Mitverantwortung zu übernehmen bei der Entwick- von der Koalition, ganz leise: Glauben Sie wirklich, lung einer neuen, gerechten Ordnung für die eine daß die Welt von dem Wunsch getrieben ist, die Welt, in der wir leben — das ist die Vision. Diese Vision Deutschen mögen doch bitte ganz schnell an die sollte uns beflügeln. militärischen Fronten zurückkehren? (Anhaltender Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich erteile jetzt Wir Deutschen sind verläßliche Partner im Rahmen Herrn Dr. Wolfgang Schäuble das Wort. von WEU und NATO und wollen es bleiben. Unserer Verantwortung im Rahmen der UNO werden wir gerecht durch Beteiligung an Blauhelmaktionen und durch verstärkte Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsiden- Umwelt- und der Entwicklungspolitik, der ich für die tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich künftige Friedensordnung der Welt ohnehin eine würde gern wieder einmal versuchen, das zu tun, was größere Bedeutung zumesse als dem allzu schnellen eigentlich der Sinn einer Debatte ist, nämlich auf das Rückgriff auf militärische Zwangsmaßnahmen. einzugehen, was mein Vorredner, der Kollege Klose, gesagt hat, obwohl Sie, Herr Kollege Klose, eine (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/DIE merkwürdig gespaltene Rede gehalten haben. GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Mir wäre wohler, wir könnten mehr tun für die der F.D.P.) Entwicklungsländer des Südens und des Ostens. Die Probleme dort lassen sich, wenn überhaupt, Sie haben sich an das, was Sie im ersten Teil Ihrer Rede — mit dem wir weitgehend übereinstimmen, (Zuruf von der CDU/CSU: Aber dort herrscht dem auch meine Fraktion zugestimmt hat — gesagt Krieg!) haben, an das, was Ihre Schlußfolgerungen für das nur durch ökonomische Zusammenarbeit lösen, nicht Verhältnis der Politiker untereinander und das Reden mit militärischen Mitteln. Zu ihrer Lösung beitragen der Politiker mit- und übereinander betrifft, im näch- müssen wir aber, denn sie berühren uns unmittelbar sten Teil Ihrer Rede überhaupt nicht gehalten, son- und nachhaltig. Ich nenne nur zwei: die Umweltpro- dern wieder das genaue Gegenteil gemacht. bleme und die Migration. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10459

Dr. Wolfgang Schäuble Das aber zeigt — und es geht j a vielen Menschen so —: Ich möchte zu einem zweiten Punkt etwas sagen. Sie Es ist offenbar leichter, gute Vorsätze zu fassen, als sie haben behauptet, die Asyldiskussion habe das Klima zu halten. vergiftet. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und (Zuruf von der SPD: Hat sie doch auch!) der F.D.P. — Zurufe von der SPD: Das wissen Ich fürchte, am allermeisten das Klima vergiftet hat die Sie selber, ja?) Tatsache, daß die Menschen in Deutschland zuneh- — Ich sage ja, es geht uns allen so. mend den Eindruck haben, Politiker würden nur reden und nicht handeln. ( [Köln] [SPD]: Kein Grund, eine schlechte Rede zu halten!) (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord neten der F.D.P.) — Nein. Ich würde gerne bei dem ansetzen, — — Ich will diese Debatte heute nicht führen. Aber Ihr Vorsitzender hat dazu einen Satz gesagt, und deshalb (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Sagen Sie doch darf ich auch einen Satz dazu sagen. — Wenn Sie mal was Eigenständiges, Herr Schäuble! — vielleicht einmal so zuhören, wie wir Herrn Klose Gegenrufe von der CDU/CSU) zugehört haben, — Es ist schon furchtbar! Sie können nicht einen Satz (Zuruf von der SPD: Das hat sich auch lang zuhören. Aber lassen wir das mal. gelohnt!) Ich würde gerne zunächst einmal etwas zu dem dann kommen wir noch zu einer Debatte und zu einem schrecklichen Kreislauf von Gewalt, Gewaltbereit- vernünftigen Gespräch miteinander. schaft, gewalttätigen Anschlägen, minderheitsfeindli- chen Parolen, Morden, Brandanschlägen und all dem, Es fällt manchem von uns, auch mir, schwer, zu was sich durch unser Land zieht, sagen. Es ist über- ertragen, daß Sie jetzt das für richtig halten, was wir haupt keine Frage, daß wir dem mit aller Entschieden- seit Jahren fordern, wofür Sie uns über Jahre hinweg heit entgegentreten müssen, mit Wort und Tat, beschimpft und diffamiert haben. Dennoch sage ich um der Sache willen, daß ich hoffe, daß wir nun (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der endlich, spät genug, viel zu spät, zu einem Ergebnis SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie kommen, und ich hoffe, daß sich alle auf allen Seiten bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste) ihrer Verantwortung bewußt sind. Das Reden reicht mit entschlossener Verurteilung und mit entschlosse- schon lange nicht mehr. Wir müssen handeln, drin- nem Handeln. Ich finde es gut, Herr Kollege Klose, daß gend! Sie heute zum ersten Mal — wenn ich es richtig (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord verstanden habe -- gesagt haben: Wenn es dann neten der F.D.P.) notwendig ist, müssen auch neue Gesetze sein. — Wir fordern das seit langem. - Jeder Tag länger ist nicht mehr zu verantworten. (Zurufe von der SPD) Sie haben zu Recht gesagt, daß wir das Gewalt- thema und die Gewaltbereitschaft nicht allein bei der Ich finde, die Erfahrungen der letzten Tage zeigen, Politik abladen können — auch dem stimme ich zu — daß es keines weiteren Belegs bedarf. Wir brauchen und daß das auch nicht nur eine Frage nur von Polizei, zusätzliche Gesetze, Gesetzen und innerer Sicherheit ist, sondern daß das (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr rich viel mit Bildungspolitik, mit Erziehung, mit Autorität tig!) und auch mit der Rolle der Medien zu tun hat. zusätzliche Instrumente. Ich möchte den Fragen, die Sie gestellt haben, weitere anfügen — es sind Fragen, auf die wir (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord gemeinsam Antworten suchen müssen —: Hat es nicht neten der F.D.P.) auch damit zu tun, daß wir uns in den zurückliegenden Meine Damen und Herren von der sozialdemokrati- Jahren und Jahrzehnten zu wenig mit den Grundla- schen Bundestagsfraktion, Ihr Vorsitzender hat eben gen unseres staatlichen Gemeinwesens, unserer gesagt — ich habe es mir aufgeschrieben —: Wenn Identität, dessen, was unsere nationale Gemeinschaft belegt ist, daß wir neue Gesetze brauchen, dann bildet, befaßt haben? Haben wir die Menschen nicht sollten wir sie auch machen. zu wenig mit der Frage „Was ist eigentlich das Gemeinsame, was uns als deutsche Nation verbin- (Zurufe von der SPD) det?" beschäftigt? Haben wir uns nicht zu lange zu Ich denke, die Erfahrungen der letzten Tage, Wochen sehr mit wirtschaftlichem Wachstum und sozialen und Monate belegen, daß wir unseren Polizeiorganen Verteilungskämpfen beschäftigt? Haben wir viel- und -beamten die notwendigen gesetzlichen Instru- leicht dadurch eine Haltung gefördert und sie daraus mentarien abgeleitet, die eben bei jeder Diskussion — selbst dann, wenn Herr Klose so gut anfängt wie heute (Zurufe von der SPD) morgen — alsbald, wenn es konkret wird, sofort zur Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und Kri- wieder in das Verteidigen von Besitzständen und zu minalität an die Hand geben müssen. der Einstellung führt, (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord (Zuruf von der SPD: Das stimmt doch neten der F.D.P.) nicht!) 10460 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Wolfgang Schäuble daß nichts angetastet werden darf? Hat das nicht etwas mit einer Entwicklung zu tun, in der nur noch Werte von Konsum und Freizeit die (Widerspruch bei der SPD — Zuruf von der entscheidende Rolle spielen, SPD: Besser aufpassen!) (Zuruf von der SPD: Wer hat sie denn gepre Wir werden mit den Aufgaben im vereinten digt?) Deutschland und nach dem Ende des Ost-West in der nur noch von Rechten und nicht mehr von Konflikts und der europäischen Teilung nicht fertig Pflichten geredet wird? Müssen wir da nicht einen werden, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, Zusammenhang sehen? wenn es uns nicht gelingt, aus dem Verteidigen von Besitzständen, aus der Erstarrung, in die jede sozial-, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wirtschafts- und finanzpolitische Diskussion in Springen wir bei der Suche nach den Ursachen von Deutschland sofort führt, ein Stück weit herauszukom- Gewalt und Gewaltbereitschaft nicht viel zu kurz, men. wenn wir diese Fragen nicht stellen? (Zustimmung bei der CDU/CSU — Zurufe (Zuruf von der SPD: Was ist denn Ihre Ant von der SPD) wort?) Wir können nicht mehr alle Verteilungskonflikte nur Hat das Ganze nicht vielleicht auch damit zu tun, aus dem Zuwachs lösen, daß wir uns in der Bundesrepublik Deutschland unse- rer außenpolitischen Verantwortlichkeiten über (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord lange Jahrzehnte nicht hinreichend klar bewußt neten der F.D.P.) gewesen sind, daß wir in den Jahren der Teilung natürlich in einer Nische gelebt und es uns darin ganz sondern werden ernsthafter und ehrlicher darüber zu schön bequem gemacht haben? Bemerkenswert ist ja reden haben, daß wir Prioritäten — und das heißt auch, daß viele im Bereich der intellektuellen Linken immer auch: Posterioritäten — neu setzen müssen. — diejenigen, die sich für intellektuell halten und Das können wir nicht leisten, wenn wir uns nicht klar deswegen links sind, oder umgekehrt, wie auch sind, daß es Grundlagen unserer nationalen Gemein- immer — schaft gibt, die vor Angebot und Nachfrage stehen und weit darüber hinausgehen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) ihre nostalgische Identifikation mit der sogenannten (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Bonner Republik und mit Bonn erst entdeckt haben, neten der F.D.P. — Zurufe von der SPD) als die Einheit Deutschlands gekommen war. — Vielleicht denken Sie einmal für einen Moment mit; (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord es ist ja eine Chance. neten der F.D.P.) Hat diese Entwicklung in den zurückliegenden- Herr Kollege Klose, was Sie im letzten Teil Ihrer Jahrzehnten nicht etwas damit zu tun, daß wir bei Rede zum Thema des Beitrags der Bundesrepublik steigender Lebenserwartung und sinkenden Gebur- Deutschland zur Friedenssicherung gesagt haben tenzahlen einen Prozeß kollektiven Alterns in unserer und was Ihr Parteitag dazu beschlossen hat, ist natür- Gesellschaft durchmachen? Das Durchschnittsalter lich eine Fortsetzung der Realitätsverweigerung, die nimmt ja immer mehr zu. Haben Sie einmal über die die Sozialdemokraten zu lange betrieben haben. psychologischen Folgen nachgedacht, (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord (Zuruf von der SPD: Haben Sie es getan?) neten der F.D.P.) Es wird auch in der Zukunft Frieden und Freiheit nicht die dann entstehen, wenn das Durchschnittsalter zum Nulltarif geben, immer höher wird, wenn eine Gesellschaft immer älter wird? (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Wer sagt denn das?) (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Wer zahlt denn die Renten? — Weitere Zurufe von der SPD — sondern wir werden auch in Zukunft Frieden und Gegenruf des Abg. Dr. Jürgen Rüttgers Freiheit schützen müssen durch aktives Eintreten, [CDU/CSU]: Haltet doch mal das Maul! Blö (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Klar!) des Volk!) durch Bündnisfähigkeit. Es gehört doch zu den Haben Sie einmal darüber nachgedacht, daß es für Grundwidersprüchen, die die Menschen nicht mehr Zukunftsmotivation, für Innovation, für die Bereit- ertragen wollen, daß der Ost-West-Konflikt zu Ende schaft, neue Wege zu suchen, für Zukunftsmut ver- ist, daß wir von der europäischen Einheit reden und heerende Folgen haben muß, wenn der Anteil der daß heute mitten in Europa, ein paar hundert Kilome- Älteren immer größer und der Anteil der Jungen ter von uns entfernt, ein brutaler Krieg geführt wird immer kleiner wird, daß man so Zukunft nicht gewin- und daß Europa unfähig ist, diesen Krieg zu beenden. nen kann? Und haben wir einmal über die Frage Europa darf nicht unfähig bleiben, diesen Krieg zu nachgedacht, was denn die Ursache sein muß, wenn beenden und künftige Kriege zu verhindern. Dies ein Volk nicht mehr so viele Kinder haben mag, wie es heißt Bündnisfähigkeit für die Bundesrepublik notwendig wäre, um das Verhältnis der Generationen Deutschland. Und dies heißt, daß wir unseren Beitrag einigermaßen stabil zu halten? werden leisten müssen, weil wir nicht mehr, wie in der Vergangenheit, die Friedenssicherung in erster Linie (Zurufe von der SPD) anderen überlassen können, gegen die wir dann Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10461

Dr. Wolfgang Schäuble notfalls zu Hunderttausenden für den Frieden demon- [SPD]: Wie war denn die bisherige Auffas strieren; das kommt ja noch hinzu. sung der Bundesregierung?) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — Die bisherige und die heutige Auffassung der Bundesregierung — ich habe der Bundesregierung Solange wir dies unseren Menschen nicht sagen lange genug angehört — ist die, daß verfassungsrecht- und solange wir nicht sagen „Wir brauchen diesen lich die Einsatzmöglichkeiten bestehen, daß aber Staat auch dafür, daß er uns Frieden und Freiheit in politisch eine Klarstellung wünschenswert ist. Zukunft sichert; dazu müssen wir unseren Einsatz leisten." , so lange sagen wir den Menschen auch nicht (Andrea Lederer [PDS/Linke Liste]: Nein!) die Wahrheit und so lange leben wir auch sicherheits- Deswegen würden wir mit Ihnen ja gern das Grund- politisch über unsere Verhältnisse. gesetz so klarstellen, Herr Kollege Klose, ich bin ja für Kompromiß und für (Dr. Peter S truck [SPD]: Dann machen wir Gespräche. Nur, wenn Sie auf Ihrem Parteitag doch Blauhelm-Einsätze!) beschließen, daß Sie die Einsatzmöglichkeiten der aber nicht einschränken. Weil Sie dazu nicht bereit Bundeswehr durch eine Grundgesetzänderung be- und in der Lage sind, muß Karlsruhe das — Sie haben schränken wollen — darum geht es nämlich, wenn Sie ja die Klage eingereicht — klären. sagen, daß sie in Zukunft nur noch für Blauhelm Wir werden eine solche Einschränkung der außen- Einsätze eingesetzt werden darf —, dann sage ich politischen Handlungsmöglichkeiten der Bundesre- Ihnen: Für eine solche Grundgesetzänderung werden publik Deutschland — darum geht es —, damit der Sie die Stimmen der Unionsfraktion nicht bekom- Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland men. und damit der Fähigkeit der Bundesrepublik Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge land, Frieden und Freiheit für die Zukunft zu sichern, ordneten der F.D.P. — Hans-Ulrich Klose nicht mitmachen. Da können Sie ganz sicher sein. [SPD]: Das ist doch eine Erweiterung!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) — Nein, Herr Kollege Klose. Das haben Sie immer noch nicht begriffen. Das heißt, Sie persönlich haben Der Krieg in Jugoslawien wird nicht der letzte nach es ja schon im Januar 1991 begriffen gehabt. Damals dem Ende des Ost-West-Konflikts sein, sondern der haben Sie einen langen Aufsatz — veröffentlicht in erste von weiteren, die in Europa drohen, wenn es den einer großen deutschen Tageszeitung — geschrieben. Europäern nicht rasch gelingt, diesen Krieg entschie- Darin steht das genaue Gegenteil von dem, was Sie dener zu Ende zu bringen. Dazu wird ein größerer heute gesagt haben. Das ist Ihr persönliches Pro- Beitrag von der Bundesrepublik Deutschland gefor- blem. dert sein, als ihn die Sozialdemokraten zu leisten imstande sind. (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Ich erkläre es Herr Klose, der Satz „Ohne die SPD läuft nichts in - Ihnen noch einmal!) dieser Frage. " Es spricht ja nicht gegen Sie als Person. Sie müssen (Zuruf von der CDU/CSU: Beschämend!) sich den Beschlüssen Ihres Parteitags und Ihrer Frak- tion beugen, die — das wissen wir ja — gegen Sie ist Gott sei Dank nicht richtig; denn wenn es nach der zustande gekommen sind. Aber ich sage Ihnen: Die SPD ginge, wäre es um den Frieden in Europa nach CDU/CSU-Fraktion macht das nicht. Ihren Parteitagsbeschlüssen schlecht bestellt. (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der Die verfassungsrechtliche Lage ist klar. Verfas- SPD: Unglaublich! — Peter Büchner [Speyer] sungspolitisch — das haben wir immer gesagt — [SPD]: Brandstifter! — Gegenrufe von der wünschen wir eine Klarstellung, damit ein Streit, den CDU/CSU: Unglaublich!) Sie aus politischen Gründen führen wollen, nicht fortgesetzt wird, schon gar nicht auf dem Rücken unserer Soldaten. Aber die verfassungspolitisch wün- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das geht nicht. schenswerte Klarstellung machen wir nicht um den (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist Preis einer dramatischen Einschränkung der Hand- lungsmöglichkeiten der Bundesrepublik Deutsch- unglaublich!) land. Nach den Regeln unseres Hauses ist so etwas im Sinne von persönlichen Beleidigungen nicht möglich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P. — Hans-Ulrich Klose (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Unglaub [SPD]: Worin liegt denn die Einschrän lich! Pöbelt hier nur rum! — Weitere Zurufe kung?) von der CDU/CSU) — Darf ich uns vielleicht gemeinsam bitten: Wir haben — Die Einschränkung liegt darin, daß Sie die Einsatz- im ersten Teil eine Diskussion mit nachdenkenswer- möglichkeiten der Bundeswehr auf Blauhelm-Ein- ten Reden gegen Gewalt geführt. Was jetzt abläuft, sätze beschränken wollen. Das steht nicht im Grund- fördert diese Diskussion im Lande nicht. gesetz. Sie haben es nie gelesen. Lesen Sie einmal Art. 24 des Grundgesetzes. Dann wissen Sie ganz (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. bestimmt — — sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Zurufe (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist doch unter von der SPD: Wer provoziert uns denn? — Niveau, Herr Schäuble! — Hans-Ulrich Klose Aufhören! )

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Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Zu der Verun- nationalen Gemeinschaft, für die wir uns einsetzen sicherung, die die Menschen in unserem Lande emp- und engagieren sollen? Dazu müssen wir diese Dis- finden, kussion stärker führen. (Zuruf von der SPD: Aufhören!) Aber dazu gehört natürlich auch, daß wir die Einheit gehört doch ganz gewiß die Tatsache, daß die Men- der Deutschen so rasch wie möglich vollenden. Wir schen begreifen, daß sich in Deutschland und Europa haben diese Einheit der Deutschen in einem europäi- mehr verändert, als wir heute schon absehen können. schen Prozeß gewonnen. Wir schulden Europa, daß Wir können nicht absehen, wohin das führt. wir die deutsche Einheit vollenden und damit auch (Abg. Freimut Duve [SPD] meldet sich zu einen Beitrag zur Überwindung der Teilung Europas einer Zwischenfrage) leisten. Wenn in Deutschland die Überwindung der Folgen von 40 Jahren Teilung und Sozialismus nicht gelänge, wie soll sie denn dann im europäischen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Schäuble, Maßstab gelingen? gestatten Sie eine Zwischenfrage? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Nein, Frau Deswegen bleibt es dabei, daß die Vollendung der Präsidentin. Ich bin von der SPD-Fraktion so viel Einheit unsere vorrangige Aufgabe ist. Ein französi- gestört worden, daß ich nun wenigstens gern die scher Beobachter hat vor einiger Zeit geschrieben: Chance nutzen möchte, ein paar Gedanken ohne Deutschland ist vereint, aber die Deutschen noch Unterbrechung vorzutragen. nicht. Daran ist viel Wahres. (Beifall bei der CDU/CSU) Das hat viel mit der Überwindung der politischen Zu den Veränderungen, die stattfinden, gehört eben Lasten der Vergangenheit zu tun. Das ist nicht nur auch, daß die alte Lage Deutschlands in der Mitte eine Frage von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wir Europas wieder aufgelebt ist. Mit dem Ost-West müssen die Last von 40 Jahren Teilung und totalitärem Konflikt, mit der Mauer und dem Eisernen Vorhang Sozialismus im vereinten Deutschland gemeinsam waren wir am Rande, und im Rücken war die Wand, tragen und auch gemeinsam überwinden, aber nicht war die Mauer. Jetzt — ich sage: Gott sei Dank — sind mit der Selbstgerechtigkeit, mit der Vergangenheits- wir wieder mitten in Europa. Die Türen und Fenster bewältigung immer nur beim jeweiligen politischen sind nach allen Seiten wieder offen. Aber es zieht von Gegner betrieben wird. Das wird uns nicht weiterfüh- allen Seiten auch kräftig herein in unser deutsches ren. und in unser europäisches Haus. Deshalb müssen wir es wetterfester machen, als es heute schon ist. (Freimut Duve [SPD]: Dann wäre es besser, (Beifall bei der CDU/CSU) Sie nähmen den Satz von vorhin zurück, Herr - Schäuble!) Deswegen ist die europäische Einigung so wichtig. Deswegen ist es gut, daß wir in der kommenden — Welchen meinen Sie? Woche gemeinsam Maast richt ratifizieren werden. (Freimut Duve [SPD]: Daß wir den Frieden in Deswegen ist unser Beitrag zu einer gemeinsamen Europa nicht gewahrt hätten bzw. wahren Außen- und Sicherheitspolitik für ganz Europa so würden!) unerläßlich notwendig. Deswegen müssen wir bes- sere Antworten auf die Herausforderungen finden, die — Ich will ihn gern erläutern, damit es kein Mißver- uns Osteuropa mit seiner historischen Wende seit den ständnis gibt, Herr Kollege Duve. letzten drei Jahren stellt. Ohne solche Antworten würden wir die geschichtliche Chance nicht nutzen, (Freimut Duve [SPD]: Es wäre gut, wenn Sie die uns der Wandel in Osteuropa bietet. Aber dazu das täten!) wird mehr von uns gefordert, als wir bis heute Herr Kollege Duve, ich habe nicht gesagt und wollte leisten. schon gar nicht sagen, daß die Sozialdemokraten den Natürlich gehört dazu auch, daß wir Deutsche Frieden nicht wollen und sich nicht für den Frieden unsere nationale Gemeinsamkeit, die Frage danach, engagieren. Ich sage, Ihre Politik und Ihre Parteitags- was das ist, was unsere Nation trägt und gründet, beschlüsse zu den Möglichkeiten des Bundeswehr- klären. Unsere europäische Aufgabe ist es, mitten in einsatzes reichen zur Friedenssicherung nicht aus. Europa auszugleichen zwischen Süd und Nord, Ost (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge und West, was immer die Rolle Deutschlands in ordneten der F.D.P.) Europa war, ob wir es denn wollten oder nicht. Wir liegen nun einmal in der Mitte, und jede Entwicklung Ich hoffe, daß das damit klargestellt ist und da kein im Osten Europas wird uns Deutsche in der Mitte Mißverständnis bleibt. Meine Kritik an Ihren falschen Europas mit betreffen. Unsere Freunde im Westen Entscheidungen soll nicht dazu führen, daß ich so sollten uns dabei nicht allein lassen. verstanden werde, als würde ich Ihre Motive, Ihre Je eher wir begreifen, daß es mehr unsere Aufgabe guten Absichten nicht akzeptieren. als die anderer ist, zur Überwindung der europäi- (Zuruf von der SPD) schen Teilung, die ja auch noch fortlebt, beizutragen, desto eher finden wir vielleicht auch Antworten, die — Wenn wir uns gegenseitig die guten Absichten wir den Menschen geben müssen. Die Menschen nicht absprechen, kommen wir weiter. Aber ich bin fragen nämlich: Was ist denn die Grundlage unserer von Ihnen gelegentlich mindestens so schlecht behan- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10463

Dr. Wolfgang Schäuble delt worden wie Sie von mir. Insofern haben wir uns da Der Fehler der Sozialdemokraten ist immer gewe- gegenseitig nicht viel vorzuwerfen. sen, daß sie glauben, nur der Staat könne die Pro- bleme lösen. (Beifall bei der CDU/CSU — Ingrid Mat thäus-Maier [SPD]: Sie meinen doch nicht (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Jawohl! — mich?) Freimut Duve [SPD]: Erläutern Sie den Bür gern doch einmal, was Sie machen wollen, — Ich meine Ihre Fraktion als Ganzes. und erläutern Sie den Bürgern nicht immer, was Sie nicht wollen!) Zur Überwindung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen von 40 Jahren Teilung gehört natürlich auch, — Ich bin gleich dabei. daß wir nicht nur bei den Überschriften und den guten Sie haben davon gesprochen, daß man nachdenken Vorsätzen bleiben. Herr Kollege Klose, alles, was Sie müsse, welche Produkte man in der Zukunft brauche. an zusätzlichen Forderungen genannt haben, ist dis- Wer soll darüber nachdenken? Ich warne davor, daß kutabel; das meiste ist übrigens in vielen Vorschlägen dieses Nachdenken den Politikern vorbehalten bleibt. meiner Fraktion und der Bundesregierung längst Das sollen die Unternehmer machen. Die können es enthalten. Aber es geht auch darum, konkret zu besser. werden. Sie sagen, die Steuer- und Abgabenbela- stung sei hoch, und anschließend fordern Sie weitere (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Steuererhöhungen. Was wir brauchen, ist eine Verstärkung der privat- wirtschaftlichen Auftriebskräfte in den neuen und (Dr. Peter Struck [SPD]: Die haben Sie doch übrigens auch in den alten Bundesländern. Deswegen gefordert!) müssen wir den Mittelstand in den neuen Bundeslän- Sie sagen, es müsse gespart werden, aber sobald wir dern stärken, deswegen die Verstärkung der Investi- irgendeine konkrete Sparmaßnahme vorschlagen tionszulage, oder durchsetzen, wie die 10. AFG-Novelle, sagen Sie, (Detlev von Larcher [SPD]: Endlich!) Sie seien dagegen. So kann man sich den Pelz nicht waschen, ohne naß zu werden. Das geht nicht zusam- deswegen weitere Hilfen für den selbständigen Mit- men. telstand, deswegen eine Verstärkung vor allen Din- gen der Möglichkeiten für den Wohnungsbau, aber in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erster Linie nicht im Sinne von öffentlichem Woh- nungsbau, sondern von Privatisierung der Wohnun- Es hilft überhaupt nichts: Wir haben in dem Haus- gen. Wir wollen die Wohnungsgesellschaften dazu halt 1993, den wir in dieser Woche beraten und bringen, daß sie die Wohnungen privatisieren und verabschieden, wichtige Weichen gestellt, um die nicht immer weiter horten, damit die Menschen in den wirtschaftlichen Hilfen für die neuen Bundesländer Neubau, in die Modernisierung von Wohnungen weiter zu verstärken. Es mutet einen schon grotesk an. selbst mehr investieren. Das ist der richtige Weg. Ich habe mich gewundert, Herr Bundesfinanzmi-- nister, wie Sie die Forderung nach einem Zukunftsin- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vestitionsprogramm von zehnmal 10 Milliarden DM Um die notwendigen Mittel für diese Maßnahmen jährlich an öffentlichen Investitionen ertragen haben. zusätzlich zu erwirtschaften, brauchen wir weitere Herr Kollege Klose, es ist ein Vielfaches dieser Einsparungen. Weitere Einsparungen werden wir Beträge an öffentlichen Investitionen für die ostdeut- aber nicht durchsetzen, wenn wir schon bei den ersten schen Länder im Bundeshaushalt 1993 längst enthal- Schritten versagen. Die Sozialdemokraten stimmen, ten. wie gesagt, immer schon gegen die ersten Schritte. (Dr. Peter Struck [SPD]: Aber nicht zusätz Es macht auch keinen Sinn, davon zu reden, daß die lich!) Armut in Deutschland immer mehr zunehme, und dann zu sagen, wir hätten 5 Millionen Sozialhilfeemp- — Wir haben 92 Milliarden DM Leistungen für die fänger. Die Sozialhilfe in Deutschland ist zum Glück neuen Bundesländer im Haushalt 1993. so angelegt, daß es rein wirtschaftlich — Armut ist nicht nur eine Frage von Mark und Pfennig — nach Die öffentlichen Investitionen sind in den neuen dem Bundessozialhilfegesetz keine Armut gibt; denn Bundesländern nicht das Problem. das Existenzminimum — das ist relativ üppig — ist (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Richtig! — durch das Bundessozialhilferecht gesichert. Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Auch!) (Widerspruch bei der SPD) Die öffentlichen Investitionen in den neuen Bundes- Deswegen ist es falsch, wenn man argumentiert, wie ländern sind pro Kopf der Bevölkerung wesentlich Sie es getan haben: Wir haben 5 Millionen Sozialhil- höher als die öffentlichen Investitionen in den alten feempfänger, deshalb haben wir 5 Millionen Men- Bundesländern. Das ist auch richtig so, das ist unsere schen in Armut in Deutschland. Das ist genau der gemeinsame Politik. Das Problem ist vielmehr, daß die falsche Weg. privaten Investitionen in den neuen Bundesländern (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — im Verhältnis zur Bevölkerung nicht einmal halb so [SPD]: Die Armut wird weg hoch sind wie in den alten Bundesländern. Deswegen definiert!) müssen wir die privaten Investitionen verstärken. Deswegen ist es auch falsch, Einsparmöglichkeiten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) von vornherein zu tabuisieren. 10464 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Wolfgang Schäuble Das entscheidende Problem, das wir haben, ist, daß Wer jeden gedanklichen Ansatz, Korrekturen zu die Bereitschaft zu Arbeit und Leistung nicht wächst, ergreifen, von vornherein so tabuisiert, wie Sie das sondern abnimmt. machen, der hat nach wie vor nicht begriffen, welches das Gebot der Stunde ist. (Peter Harald Rauen [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Das entscheidende Problem ist, daß sich immer mehr ordneten der F.D.P.) Menschen bei hoher Arbeitslosigkeit auch in den neuen Bundesländern schwertun, die angebotene Herr Kollege Klose, Sie haben ja recht, wenn Sie Arbeit anzunehmen, sagen, wir müßten den Kuchen vergrößern. Aber das heißt, daß wir die wirtschaftlichen Auftriebskräfte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stärken müssen. Das geht nicht auf dem Weg, daß wir daß auch in den neuen Bundesländern Handwerks- alles, was in Westdeutschland Besitzstand geworden betriebe, beispielsweise im Baugewerbe, bei hoher ist, für tabu erklären und sagen, möglichst schnell muß Arbeitslosigkeit keine Arbeitnehmer finden. das Anspruchsniveau in Ostdeutschland auf dieses Niveau gebracht werden, und der Rest ist uns egal. So (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — können wir nicht weitermachen. Freimut Duve [SPD]: Das ist aber traurig! — Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — GRÜNEN]: Die sind faul!?) Dr. Peter Struck [SPD]: Das sagt doch kei ner!) — Das hat mit faul nichts zu tun, es hat mit Fehlsteue- rungen und mit Demotivierung in unserem Sozialsy- Es hat übrigens auch damit zu tun — Jürgen stem zu tun. Rüttgers hat gestern davon gesprochen —, daß wir einmal darüber nachdenken müssen, daß Grundla- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) genforschung in Deutschland allein nicht ausreicht. Wir tun den Menschen keinen Gefallen, wenn wir Vielmehr müssen wir moderne Forschungsergebnisse die sozialen Systeme so einrichten, daß ein erhebli- auch in der Praxis anwenden. Wir haben uns gemein- cher und wachsender Teil den Sinn nicht mehr ein- sam vorgenommen, das Gentechnikgesetz so zu refor- sieht, aus einem Lohnersatzverhältnis wieder in ein mieren, daß gentechnische Forschungsergebnisse in Arbeitsverhältnis zu wechseln. Deutschland in der chemischen und pharmazeuti- schen Industrie auch wieder angewandt werden kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nen. Wir müssen in der Energiepolitik darüber nach- Wir müssen bereit sein, darüber unvoreingenommen denken, daß der Strom vielleicht doch nicht nur aus miteinander nachzudenken, zu reden und dann auch der Steckdose kommt. zu entscheiden. Wir können Umweltpolitik nicht begreifen, wenn Wir können in Deutschland nicht so weitermachen. wir nicht auch bereit sind, auf moderne Technologien Die Probleme haben nicht nur mit den neuen- Bundes- auch in der Energiepolitik zu setzen. Wir können uns ländern zu tun. nicht weiter leisten, daß die Genehmigungsverfahren immer noch länger dauern. (Zuruf von der SPD: Sie müssen aufhören zu Als der Bundesverkehrsminister Günther Krause reden!) zunächst einmal nur für große Verkehrsinvestitionen Wir haben in Deutschland — ich will einmal einige in den neuen Bundesländern ein Vereinfachungsge- Zahlen nennen — 30 Tage gesetzlichen Urlaub. Wir setz vorgeschlagen und durchgebracht hat, haben Sie haben im Durchschnitt aller Beschäftigten 20 Tage dagegen gestimmt. Ich hoffe, daß Sie sich für die Krankheit. Wir haben 15 gesetzliche Feiertage. Das Zukunft eines Besseren belehren lassen; denn es war macht 65 Tage. Die Woche zu fünf Tagen gerechnet, in der Tat nur ein erster Schritt. So schwerfällig, wie d. h. 13 Wochen pro Jahr, ein Viertel des ganzen wir geworden sind, werden wir in einer Welt, in der Jahres, wird im Durchschnitt aller Beschäftigten in der Wettbewerb härter wird und die Probleme größer Westdeutschland nicht mehr gearbeitet. werden, nicht an der Spitze der Wohlstandspyramide Wir haben mit das höchste Eintrittsalter in das bleiben können. Deswegen ist Umdenken gefordert. Erwerbsleben — wir haben inzwischen mehr Archi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — tekturstudenten als Maurerlehrlinge —, und wir Anke Fuchs [Köln] [SPD]: „Geistig-morali haben das jüngste Austrittsalter aus dem Erwerbsle- sche Wende" !) ben bei steigender Lebenserwartung. — Frau Fuchs, Sie haben auch schon bessere Reden (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nach zehn Jahren gehalten, als Ihre Zwischenrufe heute sind. Kohl-Regierung!) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Wir werden auf diesem Wege unsere wirtschaftlichen, CDU/CSU) finanziellen und sozialen Probleme nicht lösen kön- Wenn Sie, Herr Kollege Klose, davon sprechen, daß nen. man den Menschen die Wahrheit sagen soll, würde ich (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU) dazu raten, nicht immer nur den anderen zu sagen, sie sollten die Wahrheit sagen. Vielmehr muß jeder für Wir sind dabei, mehr und mehr über unsere Verhält- seinen Teil versuchen, die Wahrheit zu sagen. nisse zu leben. Ich, Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen ( [Wiesloch] [SPD]: Und und Herren, habe versucht, einige unangenehme das nach zehn Jahren Kohl!) Wahrheiten am Beginn dieses zweiten Tages unserer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10465

Dr. Wolfgang Schäuble Haushaltsdebatte zu sagen. Ich lade Sie ein, unvorein- stischen Sünden der Vergangenheit zurück, die doch genommener, als Ihre Reaktion jetzt in dieser Debatte längst überwunden schienen. war, auf diese und andere Fragen einzugehen. Nach innen muß sich das demokratische Deutsch- Je schneller wir gemeinsam nachdenken und je land genauso bewähren wie nach außen. Der Rechts- besser wir gemeinsam handeln, um so besser sind die staat steht auf dem Prüfstand. Die Radikalen von links Chancen für die Zukunft der Deutschen und um so und rechts wollen die Verunsicherung der Menschen mehr haben wir eine Chance, gerade auch jungen nutzen, und sie gewinnen Zulauf. Das ist das Menschen die Überzeugung zu vermitteln, daß es sich Schlimme. Selbst vor Mord und Totschlag scheuen sie lohnt, sich für diesen Staat und für unsere Freiheits- nicht zurück. ordnung zu engagieren, und daß es sich lohnt, jenen Dem müssen wir jetzt Einhalt gebieten — nicht — was unsere gemeinsame Aufgabe ist — Widerstand durch radikale Reaktionen, aber mit aller Konsequenz zu leisten, die an Stelle von Freiheit und Engagement und mit aller Strenge, mit aller Härte der Gesetze, die Haß und Gewalt säen. uns zu Gebote stehen. Der Ruf nach neuen Gesetzen Vielen Dank. ist erst dann gerechtfertigt, wenn die Gesetze ausge- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und schöpft werden. der F.D.P.) (Hans-Ulrich Klose [SPD]: So ist es!) Ich kann nicht erkennen — da stimme ich Ihnen zu, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Herr Klose —, daß die Gesetze mit der Härte, die der Abgeordnete Dr. Hermann Otto Solms. notwendig ist, ausgeschöpft würden; (Beifall bei Abgeordneten der SPD) denn wenn die Leute wegen Mordes angeklagt wür- (F.D.P.): Frau Präsidentin! Dr. Hermann Otto Solms den, wäre das die s trengste Form der Klage, die Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dem möglich ist. Da helfen auch neue Gesetze nicht. Kollegen Klose dankbar, daß er im ersten Teil seiner Rede versucht hat, einen Ansatz zu finden, der den Jetzt ist eine Bewährungsprobe für alle demokrati- Konsens der demokratischen Fraktionen und Parteien schen Kräfte gekommen. Jetzt müssen die demokrati- stützt und trägt. Auch seine Gedanken zum Stellen- schen Kräfte und Parteien in unserem Land zeigen, wert der Erziehung kann ich nur voll unterstreichen. daß sie diesen Herausforderungen gewachsen sind. Ich weiß, daß er seinen Parteifreunden damit einiges Es hilft nicht mehr, in schönen und wohlklingenden zumutet. Deswegen ist es eigentlich verständlich, daß Erklärungen zum Handeln aufzurufen. Wir müssen er dann im zweiten Teil seiner Rede auf die alten gemeinsame Konzepte erarbeiten und Lösungen sozialdemokratischen Pflichtübungen zurückgekom- anbieten; denn sonst wird die Bevölkerung dem nicht men ist. mehr lange zusehen. Aber ich glaube, es ist heute nicht die -Zeit in Ich glaube, die Demonstration in Berlin, deren Deutschland, in diese alten Rituale zurückzuverfal- Organisation teilweise mißlungen war, war trotzdem len, ein ermutigendes Zeichen. Denn es ist nichts Leichtes (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) und nichts Einfaches, daß 350 000 Menschen aus freiem Antrieb aus allen Teilen der Republik zusam- sondern wir sind aufgerufen, darüber zu reden, wie menkommen, um für die Menschenrechte zu demon- wir den größten Herausforderungen, die sich der strieren. Ich glaube, das ist auch eine Basis, die den Bundesrepublik Deutschland stellen, seit sie existiert, Gemeinsinn in der Bevölkerung schafft. begegnen. Das ist eine Frage, die sich stellt im Hinblick auf die Pflichten, die wir zu erledigen haben Das erschütterte Vertrauen der Bürger kann nur und auch die Verantwortung, die wir zu tragen haben, wiederhergestellt werden, wenn wir gemeinsam, und und zwar die demokratischen Parteien gemeinsam zwar jeder da, wo er selbst Verantwortung trägt, und nicht gegeneinander. handeln und entscheiden und nicht den anderen die Verantwortung zuschieben. Die alten, gewohnten Strukturen, die alten Auf ga- ben und Pflichten haben sich doch geändert. Nach (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) außen muß das souveräne Gesamtdeutschland seine Gerade die demokratischen Parteien müssen eine Aufgaben neu definieren. Zu einem veränderten gemeinsame Basis da finden, wo es um die Grund- Europa ohne Eisernen Vorhang mit offenen Grenzen werte unserer demokratischen Rechtsordnung geht. kommt diesem Land in der Mitte zwischen Ost und Wir sind aufeinander angewiesen, denn wir brauchen West — in Wirklichkeit in der Mitte zwischen Arm und allein rechnerisch einander. Die SPD hat die Mehrheit Reich — eine ganz besondere Verantwortung zu. im Bundesrat, sie stellt die meisten Ministerpräsiden- Dieser Verantwortung können wir nur gemeinsam ten. Die Koalition hat die Mehrheit im Bundestag. Das gerecht werden und nicht, indem wir uns gegenseitig zeigt ja schon, daß bei den meisten Gesetzen Über- vorhalten, was jeweils der andere zu tun hat. einstimmung erzielt werden muß. (Beifall bei der F.D.P. und des Abg. Dr. Wolf Wir müssen gemeinsam da handeln, wo unsere gang Schäuble [CDU/CSU]) Bürger von uns Lösungen erwarten. Die Bürger sind es Die Blöcke und das Blockdenken haben sich aufge- leid, nicht enden wollende Diskussionen ertragen zu löst. Die alten Denkstrukturen verlieren ihre Veranke- müssen, als habe sich nichts geändert. Demokratische rung. Das Machtvakuum löst Ängste aus, und zwar Streitkultur ist gut in Einzelfragen, aber der Grund- überall in Europa. Die Völker fallen in die nationali konsens ist noch notwendiger. Wir müssen nun end- 10466 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Hermann Otto Solms lieh aufhören, gegeneinander anzureden, ohne einan- europäische Asylkonvention zu erreichen. Dafür muß der zuzuhören, übereinander anstatt miteinander zu die einheitliche Norm gelten, die die Genfer Flücht- reden, aneinander vorbeizureden, anstatt in gemein- lingskonvention und die Europäische Menschen- samen Gesprächen Lösungsansätze zu suchen und rechtskonvention bieten. Denn das sind die Normen, diese auch weiterzuentwickeln. die in Europa allgemein anerkannt sind. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P.) Die Geduld der Bürger ist erschöpft. Wenn wir nicht Auch hierfür müssen wir die verfassungsrechtli- gemeinsam handeln, werden sie bei der nächsten chen Voraussetzungen finden. Zuwanderungsdruck Wahl gegen uns entscheiden. und Mißbrauch des Asylrechts zwingen zu gemeinsa- (Zustimmung bei der F.D.P.) men wirksamen Lösungen. Humane Flüchtlings- und Integrationspolitik muß damit verbunden sein. Der Das müssen wir in Erinnerung behalten. Wir haben es Entschließungsantrag, den die Koalitionsparteien hier in der Hand. Wir müssen diesen Grundkonsens her- im Deutschen Bundestag vorgelegt haben, ist die beiführen. Das ist die persönliche Verantwortung gemeinsame Gesprächsgrundlage für die Gespräche aller, die wir im Bundestag sitzen. mit den Sozialdemokraten. Ich bin dankbar, daß uns (Beifall bei der F.D.P.) die Sozialdemokraten durch ihren Beschluß auf ihrem Sonderparteitag entgegengekommen sind und sich Ich möchte drei Beispiele der gewachsenen Verant- uns genähert haben. Dafür habe ich im Namen meiner wortung der Bundesrepublik anführen. Das eine sind Fraktion seit Monaten geworben, wissend, daß wir nur die gewachsene Verantwortung in der Welt und zu Ergebnissen kommen, wenn wir hier eine gemein- insbesondere die Fragen, die im Zusammenhang mit same Plattform finden. der Stärkung der Vereinten Nationen stehen. Wir sind Mitglied der Vereinten Nationen, und zwar mit vollen (Beifall bei der F.D.P.) Rechten und Pflichten. Es geht nicht, daß wir nur die Dabei muß klar sein — das habe ich damals auch Rechte in Anspruch nehmen. Wir müssen uns auch ausgeführt — , daß das Asylrecht für wirklich politisch den Pflichten stellen. Das heißt, wir müssen bereit Verfolgte gesichert werden muß, daß aber auch die sein, uns an UN - Einsätzen, und zwar friedenserhal- hohe Zahl der unbegründeten Asylantragstellungen tenden wie friedensstiftenden Einsätzen, zu beteili- zurückgeführt werden muß, nämlich dadurch, daß gen. diese Asylbewerber sehr schnell, in wenigen Tagen, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden kön- Das heißt, wir müssen bereit sein, die verfassungs- nen. Wenn wir das nicht erreichen — und das ist das rechtliche und die verfassungspolitische Klarstellung politische Ziel, das die Bürger von uns erwarten —, herbeizuführen. Wer hier zu kurz springt, Herr Klose, wäre die gemeinsame Anstrengung vergebens. oder sich an verfassungspolitischen Notwendigkeiten (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne vorbeimogeln will — wie andere —, wird- dieser ten der CDU/CSU) Verantwortung nicht gerecht. Denn nur so läßt sich der Anreiz, hierherzukommen, (Beifall bei der F.D.P.) mindern, und nur so kann dem Schlepperunwesen die Wir sind das ja allein schon unseren Soldaten, die wir Geschäftsgrundlage entzogen werden. Es geht also da einsetzen wollen, schuldig, daß wir den Grundkon- darum, hier sehr schnell zu Lösungen zu kommen, und sens herstellen, damit sie wissen, daß ihr Einsatz von ich freue mich — wir sind ja kurz vor den Gesprä- dem Konsens, dem Vertrauen und der Übereinstim- chen —, daß auch Sie, Herr Klose, gesagt haben, daß mung der wesentlichen demokratischen Kräfte in wir möglichst noch in diesem Jahr, also in den diesem Land getragen ist. Sie sollen ja schließlich in nächsten drei Wochen, die vor uns liegen, zu Ergeb- diesen Missionen ihr Leben einsetzen, und deswegen nissen kommen müssen. verdienen sie diese Unterstützung. Meine Damen und Herren, wir sind in der Haus- Aber, meine Damen und Herren, auch die Land- haltsdebatte, und deswegen muß man auch über die karte Europa hat sich geändert. Wir brauchen eine Finanzen und die Wirtschaft etwas sagen. Das ist der eindeutige Erklärung der Bundesrepublik — und das Kern der Diskussion, die wir hier führen. wollen wir ja in der nächsten Woche vollziehen —, daß Die ökonomische Situation in Deutschland ist von wir uns endgültig und entschieden in Europa einbrin- einer konjunkturellen Abflachung gekennzeichnet, gen. Es muß für alle Europäer klar sein, daß es von diese überlagernden strukturellen Fehlentwick- deutsche Sonderwege nicht geben wird. Es muß lungen und von den großen Problemen, die mit dem endgültig klar sein, daß wir nächste Woche Maastricht Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung in den verabschieden. Ich freue mich, daß es in dieser Frage neuen Bundesländern verbunden sind. Die industri- eine volle Übereinstimmung gibt, auch wenn der Weg elle Produktion in den neuen Bundesländern sta- dorthin schwierig war, aber weniger zwischen den gniert. Aber die Entwicklung ist nicht so schlecht, wie Parteien als zwischen den Verfassungsorganen Bun- sie allgemein dargestellt wird. Es gibt Beispiele dafür, destag und Bundesrat. daß es erhebliche Zuwächse auch im industriellen Schließlich — drittens — haben wir auch eine Bereich gibt, etwa in der Bauwirtschaft, bei Steine, gemeinsame Verantwortung in den Fragen zu über- Erden, Stahl, Leichtmetall, Schienenfahrzeugen, nehmen, die mit den entstandenen Völkerwanderun- Druckereien, im Vervielfältigungsgewerbe und im gen und mit der Asylproblematik zusammenhängen. Ernährungsgewerbe. Hier hat sich die Entwicklung Hier brauchen wir eine gemeinsame Lösung, um eine deutlich verbessert. Darüber hinaus sind der gesamte Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10467

Dr. Hermann Otto Solms Dienstleistungsbereich und der Bereich der freien wenn Sie sich gerade den großen öffentlichen Sektor Berufe sehr schnell in Schwung gekommen. Nicht anschauen, und es gibt ja in diesem Land immer noch übersehen werden darf, daß auch die Privatisierungs- Leute, die glauben, daß man mit weniger Arbeit mehr anstrengungen der Treuhand große Erfolge gezeitigt leisten könnte. haben, wenn wir auch wissen, daß hier noch einiges zu Herr Klose, Sie haben vorhin die Einstellung der wünschen übrig bleibt. F.D.P. zur Leistung angesprochen. Ich nehme das gern Die deutliche Belebung bei den gewerblichen Inve- auf mich. Wir sind der Meinung, daß man mehr Ertrag stitionen hat mittlerweile immerhin ein Volumen von nur durch mehr Leistung erzielen kann, 60 Milliarden DM angenommen. Das ist mehr, als es (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) am Anfang des Jahres aussah. Die Verbesserung der Infrastruktur, insbesondere was Verkehr und Tele- und diesem Thema stellen wir uns. Ich bin allerdings kommunikation anbetrifft, ist sehr weit vorangeschrit- auch der Meinung, daß die Leistungsfähigeren in der ten. Jetzt geht es darum, diese Entwicklung zu unter- Gesellschaft auch einen höheren Beitrag zu den stützen und zu beschleunigen. sozialen Lasten zu tragen haben. Was bisher in der Diskussion in den Hintergrund (Beifall bei der SPD) getreten ist, sind die vielfältigen Hemmnisse, die auf Das haben wir ja auch in unserem progressiven Grund der komplizierten Verwaltungsvorschriften Steuersystem verankert mit dem Ergebnis, daß 3 % und Verwaltungsanordnungen und der Einspruchs- der Steuerzahler 30 % des Aufkommens bei den möglichkeiten entstanden sind. Schon im Sommer direkten Steuern erbringen. Das zeigt ja, daß die haben wir, die F.D.P., uns mit Nachdruck für eine Leistungfähigeren deutlich herangezogen werden. Herbstoffensive „Aufschwung Ost" eingesetzt. Dabei möchte ich ausdrücklich hervorheben: Die Arbeiten, Der negative Wettbewerbsfaktor Arbeitszeit wird die seitdem durch das Kabinett und die Arbeitsgrup- in keiner Weise durch entsprechend längere Maschi- pen der Koalitionsfraktionen geleistet worden sind, nenlaufzeiten kompensiert. Auch hier ist ein Ansatz haben zu einem ganzen Bündel von Vorschlägen zu einer besseren wirtschaftlichen Struktur. Um lei- geführt. Wichtig ist, daß die administrativen Hemm- stungsfähigen Wettbewerb zu erreichen, müssen wir nisse abgebaut werden und daß in einem Artikelge- zu einer Flexibilisierung und zu einer durchschnittli- setz, das noch im Dezember eingebracht wird, hier chen Senkung der Lohnstückkosten kommen. Dies wichtige Maßnahmen angegangen werden. gilt auch für die gesetzlich verursachten Lohnkosten- bestandteile. (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]) Die Tarifpolitik muß flexibler werden. Die Differen- zierung der Löhne muß je nach Erfordernis möglich Ich bin ganz sicher, daß wir in der Bundesrepublik das sein. Das heißt, wir brauchen Tariföffnungsklauseln. Wirtschaftswunder nach dem Kriege niemals ge- Wir brauchen flexiblere Anpassungsmechanismen. schafft hätten, wenn wir ein solches Bündel an Vor- schriften und Hemmnissen in unserer Gesetzgebung- Wenn sich die Tarifvertragsparteien dieser Frage und Verwaltung etabliert hätten, wie das heute der nicht stellen, werden die Betriebe, die Geschäftsfüh- Fall ist. Hier brauchen wir einen Befreiungsschlag. rung und die Mitarbeiter, ihre Lösung selbst finden. Auch hier müssen natürlich die Länder mitwirken; Das zeigt sich in den neuen Bundesländern bereits denn diese sind Herr der Verwaltung. Der Bund kann deutlich. Es führt dazu, daß die Organisationsstruktu- das nur durch Vorgaben bei den Gesetzen. ren kaputtgehen. Die Strukturprobleme, die die Bundesrepublik Dies bleibt nicht isoliert auf die neuen Bundesländer schon lange vor der Wiedervereinigung hatte, werden konzentriert; das wird natürlich von dort aus in den natürlich jetzt, wo wir in eine konjunkturelle Abfla- Westen überschwappen. Deswegen müssen die chung kommen, deutlicher sichtbar. Deswegen müs- Gewerkschaften ihren Widerstand dagegen schon aus sen wir alles tun, um die strukturelle Anpassung zu gesundem eigenen Interesse aufgeben. erleichtern. Das heißt, daß wir alles, was dem entge- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne gensteht, vermeiden müssen: keine höheren Steuern, ten der CDU/CSU) keine höheren Abgaben, keine höheren Belastungen, Die Konjunkturflaute mehr Flexibilität, mehr Entlastung. Das ist das Zei- in der Bundesrepublik kann nur überwunden werden, wenn die chen der Zeit, und dem müssen wir folgen. Finanzpolitik mit drastischen Einsparungen und einer deutlichen (Beifall bei der F.D.P.) Dämpfung des Ausgabenanstiegs ernst macht, wenn Das gilt natürlich auch für die Lohnkosten. Die Lohn- ein weiterer Anstieg der Steuer- und Abgabenbela- kosten — nicht nur die direkten, sondern auch die stung vermieden wird, wenn der Lohnkostendruck Lohnnebenkosten — sind zu hoch, zusammen die spürbar abgeschwächt wird, wenn als Folge dieser höchsten in der Welt, die Arbeitszeiten sind die Maßnahmen die Geldpolitik gelockert werden kann niedrigsten in der Welt. Herr Schäuble hat das ein- und wenn die privaten Investitionen für die neuen drucksvoll ausgeführt. Es kann so nicht weiterge- Bundesländer intensiviert werden. hen. Meine Damen und Herren, um all dies zu unter- stützen, hat die Bundesregierung, der Bundesfinanz- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und die Pro minister, einen ausgeglichenen Haushalt vorgelegt, duktivität ist am höchsten!) der die Eckpunkte erfüllt, die wir gefordert haben, — Die Produktivität ist da, wo gearbeitet wird, hoch. nämlich Begrenzung des Ausgabenanstiegs auf Aber es wird eben nicht überall produktiv gearbeitet, 2,5 Prozentpunkte und Senkung der Nettoneuver- 10468 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Hermann Otto Solms Schuldung auf das Volumen, das wir ursprünglich zukommt, Steuererhöhungen nicht vermeidbar sein angepeilt hatten, nämlich auf unter 45 Milliarden werden. Wir werden bereit sein, diese mit zu beschlie- DM. ßen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) (Zustimmung des Abg. Michael Glos [CDU/ Die Finanzpolitik der öffentlichen Hände insge- CSU]) samt kann aber nur einen erfolgreichen Beitrag lei- Meine Damen und Herren, allein das vernünftige sten, wenn die Bundesländer und Gemeinden ihren Verhalten der öffentlichen Haushalte aber wird nicht Beitrag dazu erbringen. ausreichen; denn wir müssen die Tarifvertragspar- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der teien daran erinnern, daß in erster Linie sie die CDU/CSU) Verantwortung für die Beschäftigung in diesem Lande tragen. Es ist unser entscheidendes Ziel, die Men- Das zeigt, daß alle zusammen diese Aufgabe zu schen in Brot und Arbeit zu bringen. erfüllen haben. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Wir haben die Länder aufgefordert, ihre Ausgaben Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber nicht auf 3 % zu begrenzen. Jeder, der sich die Haushalts- über Abgaben!) entwürfe der Länder anschaut, weiß, daß dies nir- gends eingehalten wird. Das heißt, daß sich die Tarifvertragsparteien an dieser gesamtstaatlichen Aufgabe beteiligen müssen. (Zuruf des Abg. Hans-Ulrich Klose [SPD]) Die Bundesregierung führt Gespräche, um einen — Das ist viel schwerer, weil ihr Personaletat viel solchen Solidarpakt zu erreichen. Es kann nicht höher ist; zugegeben. gutgehen, daß die Tarifauseinandersetzungen wie in Wir müssen in gemeinsamen Gesprächen mit den den letzten beiden Jahren geführt werden mit Ergeb- Ländern zu Ergebnissen kommen, die dieses ermög- nissen, die ökonomisch unvernünftig sind und die lichen. Wir müssen auch in Bereichen, wo Bundesge- zwingend dazu führen, daß die Zahl der Arbeitslosen setze geändert werden müssen, mitwirken, um ihnen steigt. die Einsparungen zu ermöglichen. Wir müssen in der Öffentlichkeit immer wieder (Zustimmung des Abg. Dr. Jürgen Rüttgers darauf hinweisen, wer hier die Verantwortung trägt. [CDU/CSU]) Nur wenn alle Beteiligte, Bund, Länder, Gemeinden Der Bundesfinanzminister führt die Gespräche mit und Tarifvertragsparteien, eine vernünftige Politik den Länder- und Gemeindevertretern, um gemein- betreiben, wird es der Bundesbank möglich sein, auch same Einsparmöglichkeiten zu eröffnen, um die an der Zinsfront etwas zur Erleichterung beizutra- gesamtstaatliche Finanzpolitik auf den Weg zu brin- gen; gen, der notwendig ist. (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!) - (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) denn die Zinsen sind natürlich ein wichtiger Kosten- Meine Damen und Herren, natürlich wird immer faktor in der Wirtschaft. Nur dann kann das Ganze wieder die Frage gestellt: Wie sieht es mit den Steuern gelingen. Deswegen sollte jeder in dem Bereich, in aus? Kann man nicht die Steuern erhöhen, um uns dem er Verantwortung trägt, daran mitwirken. diese Aufgabe zu erleichtern? Ich bin strikt dagegen. (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!) Wer in dieser Situation den leichten Weg sucht, wird den richtigen Weg nie erreichen können. Otto Schlecht schrieb dieser Tage zu Recht, daß die vielbeschworene und oft zitierte Gerechtigkeitslücke (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne in Wahrheit eine Investitions-, eine Beschäftigungs- ten der CDU/CSU) lücke ist. Es geht nicht darum, anderen, wem auch Selbst das wirtschaftswissenschaftliche Institut der immer, die Schuld zuzuschieben, Gewerkschaften hat in einem kürzlich vorgelegten d Matthäus-Maier [SPD]: Auch er ist für Gutachten mitgeteilt, daß es in dieser konjunkturellen (Ingri eine Ergänzungsabgabe!) Situation, in dieser Abschwungphase, Steuererhö- hungen für das falsche Mittel hielte. sondern es geht darum, daß jeder seinen Beitrag leistet, damit die Investitions- und Beschäftigungs- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aber sie for lücke gedeckt wird, damit wir wieder zu Vollbeschäf- dern ausdrücklich die Ergänzungsabgabe!) tigung kommen und damit wir den schärferen Wettbe- — Ja, aber nicht in dieser Situation. werb im gemeinsamen Markt bestehen können. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Doch! Aus (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) drücklich!) Es liegt jetzt an uns, daß jeder in seinem Bereich Das wirtschaftswissenschaftliche Institut der Gewerk- seiner Verantwortung gerecht wird. Die Bundesregie- schaften hat genau davor gewarnt. rung und die Koalitionsparteien werden vorangehen Deswegen sage ich hier auch für meine Fraktion: und die Beschlüsse auf den Tisch legen, die wir für Wir sind gegen Steuererhöhungen in dieser Situation. notwendig erachten. Wir wollen, daß mehr für die Wir wissen allerdings, daß zum Abtragen und zum neuen Bundesländer getan wird. Wir wollen dafür Ausgleich der Erblast, die uns die Kommunisten einen Nachtragshaushalt einbringen. Wir wissen hinterlassen haben, des riesigen Fehlbetrags von über aber, daß dies nur vernünftig finanziert werden kann, 400 Milliarden DM, der ab 1995 auf den Haushalt wenn dafür vernünftige Deckungsvorschläge nicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10469

Dr. Hermann Otto Solms nur gemacht werden, sondern wenn sie auch durch- Lassen Sie mich bei der Suche nach Gründen mit gesetzt werden. der falsch gelaufenen Vereinigungspolitik anfangen: Das heißt, es kann nur durch die intensive Zusam- Die deutsche Einheit wurde als Beitritt der Ostdeut- menarbeit zwischen Bund und Ländern gelingen. Die schen zur Bundesrepublik Deutschland vollzogen. Sozialdemokratische Partei steht damit genauso in der Damit wurde von Anfang an die Vorstellung ver- Verantwortung wie die regierungstragenden Par- knüpft, daß die Bundesrepublik Deutschland nur teien. Wir gemeinsam müssen uns der Aufgabe stel- größer geworden sei, mehr Immobilien und mehr len; wir müssen sie gemeinsam lösen. Nur dadurch Einwohnerinnen und Einwohner besäße. werden wir den Fragen, die sich uns stellen, gerecht. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie hätten Es muß jetzt Schluß sein mit den Auseinandersetzun- es lieber anders gehabt!) gen, wie wir sie auch gestern in der Haushaltsdebatte wieder erlebt haben. Wir müssen gemeinsam unsere Der Maßstab, der demzufolge an die Ostdeutschen Verantwortung für Deutschland übernehmen. Darum angelegt wurde, enthielt zwei Prämissen. Zunächst bitte ich Sie, und dazu rufe ich Sie auf. einmal galten sie als jene, die unbedingt in die Bundesrepublik Deutschland aufgenommen werden Vielen Dank. wollten. Das bedeutet, daß sie sich entsprechend (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) einzuordnen haben. Andererseits war damit die For- derung an die Ostdeutschen verbunden, sich so Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- schnell wie möglich zu Westdeutschen zu entwickeln, ordnete Dr. Gregor Gysi. da eine Akzeptanz nur dann zu erreichen ist. Dieser gesamte Ansatz ist Ausdruck einer fast Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! unbeschreiblichen Selbstgerechtigkeit eines Teils der Meine Damen und Herren! Millionen Arbeitslose, westdeutschen politischen Klasse, der die öffentliche eine Wirtschaft, die sich in den neuen Bundesländern Meinung im wesentlichen bestimmt. Zu keinem Zeit- nach wie vor im freien Fall befindet, Rezession im punkt bestand die Bereitschaft, die Ostdeutschen in Westen, 2,5 Millionen fehlende Wohnungen, immer ihrer eigenständigen Entwicklung, mit ihren eigenen mehr Obdachlose, 4,2 Millionen Menschen, die durch Leistungen, in ihrer eigenständigen Kultur anzuneh- Sozialhilfe mittlerweile unter die Armutsgrenze men und dies als Bereicherung für das Entstehen einer gedrückt wurden, Unzählige, denen die Lebensper- neuen Bundesrepublik Deutschland zu begreifen. spektive und die Kultur genommen wurden, jetzt auch Die aktuellen Vorstellungen zum Rechts- und noch Tag für Tag und Nacht für Nacht Überfälle und Demokratie-, zum Sozial- und Kulturabbau in der Brandanschläge auf Flüchtlinge, auf Juden, auf Aus- Bundesrepublik Deutschland sind allerdings nicht länder, fünf rassistische Morde allein in der letzten neu. Sie gibt es seitens der Koalition bereits seit Woche, 18 seit Jahresanfang, Pogrome gegen die Jahren. Aber noch nie war die Chance so groß, sie Asylbewerberinnen und Asylbewerber, eine Regie- durchzusetzen, und zwar immer mit der Begründung, rung und eine große Oppositionspartei, die in dieser daß Ostdeutschland anders nicht aufzubauen sei. Das Situation nichts Besseres zu tun haben, als die Grund- nenne ich Instrumentalisierung der Ostdeutschen zur rechte für die Opfer dieser Verbrechen einzuschrän- Durchsetzung einer reaktionären Politik. ken — was ist das für ein Land? Deutschland ist seit dem 3. Oktober 1990 nicht nur größer geworden, es ist Fangen wir mit der Aufarbeitung der Geschichte auch gröber geworden. der DDR an. Zu keinem Zeitpunkt waren die in der Ich will versuchen, eine Bilanz zu ziehen, die die Bundesrepublik herrschenden Kräfte daran interes- Verantwortung der Regierung, die auch die Verant- siert, eine Aufarbeitung zu erreichen, die das Leben in wortung eines großen Teils der Medien nicht auslas- der DDR mit allen Nachteilen, aber auch Vorzügen sen kann. Um eines kann sich niemand herummogeln: wirklich erklären konnte, eine Aufarbeitung, die die Das Blut der türkischen Opfer von Mölln und das Blut historischen Bezüge herstellte, wonach die Entwick- des jungen Antifaschisten Silvio aus Berlin klebt nicht lung der DDR und der Bundesrepublik Deutschland nur an den Händen derjenigen, die die Brandsätze ohne den deutschen Faschismus, ohne den von geworfen und die Messerstiche verübt haben, Verant- Deutschland geführten Zweiten Weltkrieg, ohne die wortung tragen viele in der Gesellschaft, auch die Besetzung Deutschlands nicht erklärbar sind, eine Regierung und nicht weniger Medienvertreter. Das Aufarbeitung, die verdeutlicht, daß der Kalte Krieg mag noch soviel Betroffenheit nicht wegwischen. von beiden deutschen Staaten geführt wurde, daß er Opfer auf beiden Seiten kostete und daß es erforder- Die unselige Asyldebatte, die Panikmache mit poli- lich ist, die Opfer auf beiden Seiten zu rehabilitieren, tisch motivierten Statistiken, das Gerede von Asylmiß- eine Aufarbeitung, die die Abhängigkeit der beiden brauch und Überfremdung haben den Attentätern die deutschen Staaten von den jeweiligen Supermächten, Brandflaschen in die Hand gedrückt. Es wird mit aber auch voneinander gezeigt hätte, eine Aufarbei- falschen Zahlen operiert, statt der Panikmache entge- tung, die belegt hätte, daß die wirtschaftliche Schwä- genzutreten. che der DDR nicht nur Ergebnis einer Fehlpolitik der Ich sage es noch einmal: 1990 gab es in der DDR-Führung war, sondern auch ein verwirklichtes Bundesrepublik Deutschland 1,7 Millionen Zuwande- Ziel westdeutscher Politik. rungen. 1992 werden es etwa 900 000 sein. Hinzu kommen aber 600 000 Auswanderungen, so daß die (Zuruf von der SPD: Das ist doch Quatsch, Differenz viel weniger gewichtig ist als in den Jahren was Sie da sagen!) zuvor. Also könnte man beruhigen; statt dessen wird Eine solche Aufarbeitung, die zu kritischen und Panikmache betrieben. selbstkritischen Einschätzungen im Osten und We- 10470 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Gregor Gysi sten geführt hätte, die ein Nachdenken übereinander, Dabei wird nicht einmal davor zurückgeschreckt, eine gegenseitige Akzeptanz, eine gegenseitige Aus- falsche Zahlen zu benutzen. Immer wieder werden in einandersetzung und damit auch einen Neubeginn die entsprechenden Summen Zahlen eingefügt, die ermöglicht hätte, ist von vornherein abgelehnt wor- nichts, aber auch gar nichts mit einer Sonderausgabe den. Das hätte in der DDR nichts verharmlost, schon für Ostdeutschland, sondern einfach mit einem gar nicht die Aufdeckung diktatorischer Strukturen. Rechtsanspruch zu tun haben, z. B. Kindergeld, Erzie- hungsgeld, Arbeitslosenunterstützung und anderes Aber statt dessen, ist die Aufarbeitung der mehr, worauf Bürgerinnen und Bürger auch in den der DDR von Anfang an als ein Akt der Geschichte alten Bundesländern unter den entsprechenden Vor- fast aller ostdeutschen Bürgerinnen und Demütigung aussetzungen Anspruch haben, ohne daß man ihnen Bürger angelegt gewesen. das als Sonderleistungen berechnet. Letztlich kom- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Dummes men aus den Bundesmitteln netto 13 Milliarden DM Zeug!) für den Osten Deutschlands heraus; aber diese Zahl wird verschwiegen. Fast jede und jeder Ostdeutsche fühlt sich heute verpflichtet — das können Sie nicht leugnen —, sich Aber das Ganze hat ein Ziel. Es hat nämlich das Ziel, für seine Biographie zu rechtfertigen, den Nachweis die Bundesrepublik zu verändern. Da es keinen Wett- anzutreten, daß sie bzw. er anders war als die anderen bewerb der Systeme mehr gibt, soll sie ihre Rolle als Ostdeutschen, daß er den heutigen westdeutschen demokratisches und soziales Musterländle der westli- Maßstäben genügt habe. chen Welt verlieren. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber Sie Es geht darum, in Konkurrenz zu den USA, zu Japan können das nicht!) und zu anderen EG-Staaten Marktvorteile zu errei- Die Aufarbeitung der Geschichte dient so der Zer- chen, die Reichen im Lande permanent zu begünsti- störung von Menschen. Es ist eine bedauerliche gen und die sozialen Unterschiede weiterhin wachsen Begleiterscheinung, daß in nicht wenigen Fällen zer- zu lassen. störte Menschen dann auch die Würde anderer nicht Ich wundere mich sehr, daß hier gerade Herr mehr achten, da sie ihre eigene verloren haben. — Schäuble gegen Besitzstände polemisiert; denn wenn, Wenn Sie mir vorwerfen, daß ich das nicht kann, dann dann versucht doch wohl die CDU/CSU immer wie- kann ich Ihnen nur sagen, daß ich zumindest ahne, der, Besitzstände zu sichern, allerdings derjenigen, wie Sie in der DDR gelebt hätten, wenn Sie dort gelebt die besonders viel besitzen. hätten — auch im Unterschied zu mir. Ich finde es auch ziemlich ungeheuerlich, den (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Arbeitslosen zumindest indirekt vorzuwerfen, daß sie Die psychische Demütigung der Ostdeutschen wird nicht bereit seien zu arbeiten. durch die ökonomische, soziale und kulturelle (Beifall bei der PDS/Linke Liste) ergänzt. - Wer wie wir, die Abgeordneten hier im Deutschen Wenn die DDR ein einziger negativer Koloß war, Bundestag, solche Diäten kassiert, dem müßte es dann können eben auch ihre Jugendklubs und ihre eigentlich die Schamröte ins Gesicht treiben, den Kulturhäuser, ihre Kindereinrichtungen und ihre Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfän- Ferienlager sowie ihre Menschen, d. h. ihre Künstle- gern vorzuwerfen, daß sie üppig leben. Das, glaube rinnen und Künstler, ihre Sportlerinnen und Sportler, ich, geht einfach zu weit. ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Arbeiterinnen und Arbeiter, nichts getaugt haben. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Dann können natürlich auch ihre Betriebe nichts getaugt haben. Dann muß man fast alles, was es auf Ich finde, daß die zehnte Novelle zum Arbeitsför- diesem Gebiet gab, negativ bewerten und schlie- derungsgesetz so schnell wie möglich vom Tisch muß, ßen. denn hier sollen riesige Sozialleistungen gestrichen werden, indem die Möglichkeiten des Bundesamtes (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Nein, das für Arbeit wesentlich eingeschränkt werden. lag an der SED, nicht an den Menschen!) Außerdem plant die Bundesregierung tatsächlich Seit dem 3. Oktober 1990 wird auf die von mir Einsparungen gerade bei der Sozialhilfe, d. h. bei den beschriebene Art und Weise nicht versucht, die Ein- Ärmsten in der Gesellschaft. Sie hofft darauf, daß mit heit zu vollenden, sondern die Spaltung zu vertiefen. den Ärmsten niemand solidarisch sein wird. Es vergeht kein Tag, an dem die Bundesregierung nicht auf die hohen Kosten der deutschen Einheit Die Bundesregierung will den Gewerkschaften hinweist. einen entscheidenden Schlag zufügen, indem sie die Tarifautonomie aufheben will. Der Kündigungs- Wer glaubt denn im Ernst, daß eine solche Betonung schutz für Menschen mit Behinderungen soll ausge- tatsächlich zur Vollendung der Einheit führt? Eine höhlt werden, wie überhaupt die Deregulierung ange- solche Polemik ist geeignet, daß viele Westdeutsche sagt ist. Die Frauen sollen auch im Osten zurück an von den Ostdeutschen allmählich bedient sind, den Herd und keine selbstbestimmte Entscheidung (Zuruf von der CDU/CSU: Nur wir von über eine Schwangerschaft treffen können. Die deut- Ihnen!) sche Einheit gestaltet sich also frauenfeindlich, und die Ostdeutschen fühlen sich als ewig Nehmende (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Freiheits gedemütigt. kämpfer Gysi!) Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10471

Dr. Gregor Gysi erzeugt neue Armut und vertieft die sozialen Unter- Alles stand still in dieser Bundesrepublik, und die schiede. Bundesregierung hat dies begrüßt. — Sie dürfen ja doofe Zwischenbemerkungen machen, aber nicht Eine zweite Seite des deutschen Einheitsprozesses unverschämte. besteht — leider — da rin, daß der Nationalismus in Deutschland wieder salonfähig wurde. Deutschland (Michael Glos [CDU/CSU]: Wo war denn die ist wieder wer. Dazu gehört, daß ein Sitz als Ständiges Zufluchtsstätte der Terroristen? Ihr habt Mitglied im Sicherheitsrat beantragt wird. Dazu ihnen Pässe gegeben usw.! — Dr. Wolfgang gehört, daß es immer intensivere Bestrebungen gibt Bötsch [CDU/CSU]: Ihr habt sie geschützt!) — das ist heute wieder bestätigt worden —, die Inzwischen haben die Rechtsextremisten 18 Men- deutsche Bundeswehr inte rnational einzusetzen. schen ermordet. Kaum ein Tag vergeht, ohne das neue Denn was ist Deutschland, wenn nicht auch sein Opfer benannt werden. Ich wünsche mir einen immer Militär international präsent ist? lauter und stärker werdenden Protest dagegen. Des- halb fordern wir dazu auf, daß die Gewerkschaften zu (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie waren einer 15minütigen Arbeitsniederlegung aufrufen und präsent, was Sie nicht hätten sein sollen!) daß die Bundesregierung dies wie damals unter- Dazu gehört, daß immer unverholener eine Vorherr- stützt. schaftsrolle in Europa angestrebt wird. Dazu gehört, (Beifall bei der PDS/Linke Liste) daß ein Bonner Staatssekretär die Schirmherrschaft Aber die Bundesregierung befindet sich hier wohl in für den Jahrestag des Einsatzes der V2-Raketen im einer schwierigen Situation, denn sie ist es ja, die seit Zweiten Weltkrieg übernehmen wollte und daß er von Monaten und Jahren eine immer schärfer werdende asylantenfreien Zonen in München sprechen konnte, Debatte gegen Flüchtlinge führt. Wer eine solche ohne — das ist das Entscheidende — daß ihn die Atmosphäre schürt, hat dann natürlich Schwierigkei- Bundesregierung sofort entläßt ten, die Täter, die die gleichen Vokabeln benutzen, (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Das überzeugend zu kritisieren und erst recht ihnen das haben wir doch vor vier Wochen schon im Handwerk zu legen. Programm gehabt!) Der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland wird nicht wirksam bekämpft. Er wird oder daß sich für seine Entlassung eine Mehrheit in bagatellisiert, erklärt und partiell gefördert. Das Ver- diesem Bundestag finden würde. ständnis mit den Tätern überwiegt bei weitem das Dazu gehört, daß unser Antrag nach Hoyerswerda, Verständnis für die Opfer. Wir alle werden immer eingebracht für eine breite Aufklärungskampagne abgestumpfter. Das erste Opfer des Rassismus löst gegen Rassismus und Rechtsextremismus, ein Jahr noch Entsetzen aus; bald werden viele von uns nur lang nicht behandelt wurde, noch zählen. Herr Bundeskanzler, es geht mir nicht darum, wie (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Reden -Sie einmal von den Verbrechen der SED! Damit das Ansehen Deutschlands im Ausland abgebaut haben Sie genug zu tun! — Michael Glos wird; das ist eine Folgeerscheinung. In erster Linie [CDU/CSU]: So ist es! Reden Sie einmal von geht es doch darum, wie sich die Bundesrepublik den Schüssen an der Mauer!) Deutschland tatsächlich entwickelt. Die Tendenz weist viele unangenehme Adjektive auf: kinderfeind- dann zugesichert wird, daß die Mittel dafür bereitge- lich und frauenfeindlich, rassistisch und antisemitisch, stellt werden und diese Mittel bis heute gesperrt sind, behindertenfeindlich und unsozial. Das alles wäre also die Kampagne nicht stattfindet. nicht nötig gewesen. Die deutsche Einheit hätte auch Dazu gehört, daß die CSU in Bayern und die CDU in anders gestaltet werden können. Es ist spät, aber es ist Berlin sich in ihren Vorschlägen zur Überwachung nicht zu spät. und zum Verbot der PDS permanent abwechseln. Herr Bundeskanzler, leiten Sie eine Kurskorrektur Dazu gehört vor allem der deutlich zunehmende der politischen, ökonomischen, juristischen, sozialen, Rassismus und Antisemitismus in dieser Bundesrepu- kulturellen und psychischen Entwicklung in der Bun- blik Deutschland. desrepublik Deutschland ein! Beenden Sie eine Poli- tik, die die Bundesrepublik in die Weimarer Republik Es geht nicht mehr nur um Parolen. Es gibt inzwi- zurückführt! schen Morde, und es werden jeden Tag mehr. Der Bundesregierung wird vielfach — wie ich meine, zu (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Klaus Recht — Heuchelei vorgeworfen, weil sie die Vorfälle Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Zurück zum in Worten bedauert, aber praktisch nichts Ernsthaftes SED-Staat!) dagegen unternimmt. Im Gegenteil, auch diese Ent- scheidungen werden wieder instrumentalisiert und Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Herr mißbraucht, um lange gewünschte Strafprozeßrechts Abgeordnete Dr. Wolfgang Ullmann. änderungen durchzusetzen, die Bürgerrechte ein- schränken sollen. Als der ehemalige Arbeitgeberprä- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sident Hanns-Martin Schleyer ermordet wurde, haben Dr. Wolfgang Ullmann die Gewerkschaften in der Bundesrepublik zu einer NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! mehrminütigen Arbeitsniederlegung aufgerufen. Angesichts der Flammen von Mölln und der Blutspu- ren von Berlin diskutiert der Deutsche Bundestag den (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und Sie Haushalt 1993. Wir sind das Parlament eines Landes, haben gelacht!) in dem der Frieden seiner Bewohner und Bewohne- 10472 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Wolfgang Ullmann rinnen gebrochen worden ist. Darum muß in dieser Verfassungsänderung beschlossen, aber kein Wort Haushaltsdebatte die Frage gestellt werden: Wie über ihren Inhalt gesagt wurde. haben wir — wir, nicht die Medien oder irgend jemand Ich will auf diese Debatte nicht wieder zurückkom- draußen — mit dem kostbaren Gut des Friedens, wie men, sondern weise nur deshalb auf sie hin, weil auch haben wir mit den Chancen unserer Freiheit hausge- halten? Auf dem Hintergrund dieser Situation mutet in ihrem Verlauf die Tendenz der Regierung offenbar wurde, die eigene Verantwortung zu handeln mittels es für mich schon in höchstem Grade befremdlich an, was ich den Herrn Kollegen Schäuble hier vorhin über einer abwegigen Verfassungdebatte auf das Parla- Frieden und Sicherheit habe vortragen hören. ment abzuschieben, eine Tendenz, die der Öffentlich- keit schon auffiel, als die damalige Ausländerbeauf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, tragte ein Jahr lang vergeblich Gehör beim Bundes- der SPD und der PDS/Linke Liste) kanzler suchte. Aber wahrscheinlich sind das die Ergebnisse einer Keine der Aufgaben im Rahmen des europäischen Philosophie, in der es möglich ist, die Armut per und des deutschen Einigungsprozesses ist auch nur definitionem abzuschaffen und das Problem der annähernd gelöst. Europa ist nicht zu einem Europa Arbeitslosigkeit im wesentlichen auf die Faulheit der Bürgerinnen und Bürger geworden, sondern gilt je zurückzuführen. länger desto mehr als Alptraum einer Mammutbüro- kratie. Die Bundesregierung hat es nicht fertigge- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Trotz dieser bracht, sich an die Spitze einer Aktion aller deutschen Armut kommt die ganze Welt zu uns!) Länder in Richtung auf Europa zu stellen. Sie streitet Es ist gut, daß sich der Deutsche Bundestag schon sich höchstens mit diesen Ländern um Kompetenzen mehrfach durch den Mund seiner Präsidentin an die und einigt sich mit ihnen auf das kleinste gemeinsame Seite der Angegriffenen, Mißhandelten und Ermorde- Vielfache. ten gestellt hat. Aber gerade das verpflichtet uns auch Was haben wir in bezug auf die sogenannte Euro- zu einer kritischen Frage an uns selbst. Es mag um die päisierung des Asylrechts alles zu hören bekommen! Medien bestellt sein wie auch immer, wir müssen uns Welche Losungen sind da — vor allen Dingen von der selbst die Frage stellen: Hat dieses Parlament alles Bundesregierung — ausgegeben worden. Sie erwei- getan, was die Gesetzgebung denen schuldig ist, die sen sich nach dem letzten Beschluß des Straßburger aus anderen Völkern und Kulturen kommen und Parlaments mehr als eine Entfernung von Europa und schon Jahrzehnte unter uns wohnen oder erst jetzt aus auch von der Genfer Flüchtlingskonvention als eine aktuellem Anlaß, aus aktueller Not Zuflucht bei uns Annäherung. suchen? Es ist nicht so, meine Damen und Herren Kollegen, daß wir diese Frage guten Gewissens beja- Was die Finanzen anbelangt, so reißt die Kette hen können. Schon seit Jahren ist klar, daß die abweichender oder gar konträrer Äußerungen der Bundesrepublik Deutschland zu einem Einwande- Regierung seit der Sommerpause nicht mehr ab. Ich rungsland geworden ist, will jetzt nicht über Nähe oder Ferne eines Nachtrags- haushalts spekulieren, sondern nur in Erinnerung (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Weil wir so rufen, daß im Herbst 1982 wegen geringerer Schul- arm sind!) denprobleme eine Bundesregierung zerbrach, was in ob wir es begrüßen oder nicht. einer Demokratie übrigens ein normaler Vorgang ist, und daß die Partei des heutigen Bundesfinanzmi- So ist schon seit langem eine Gesetzgebung erfor- nisters wegen einer weit geringeren Staatsverschul- derlich, die in Form eines Flüchtlings-, Einwande- dung nach Karlsruhe ging, um die Verfassungsge- rungs- und Niederlassungsgesetzes Wege eröffnet, mäßheit des Verhältnisses von Kreditaufnahme zu mit denen der Zustrom gesteuert und die Integration Investitionsausgaben laut Art. 115 Abs. 1 Grundgesetz oder auch Rückwanderung auf humane Wege hätte überprüfen zu lassen. geleitet werden können. Aber noch immer klafft die riesige Lücke zwischen dem Asylrechtsartikel des Was soll nun eigentlich angesichts des mittlerweile Grundgesetzes und einer nicht mehr abzuleitenden aufgelaufenen Schuldenberges der jetzigen Regie- Flut von Flüchtlingen. rung noch geschehen? Glaubt wirklich jemand, die mehr oder weniger heftig geäußerten Irritationen in In manchen unserer Kommunen sieht es aus wie auf unserer Gesellschaft hätten mit diesem Bild desorga- der Kreuzung einer Großstadt, auf der die Verkehrs- nisierter Finanzen gar nichts zu tun? Um so schlimmer regelung zusammengebrochen ist. Nicht nur, daß m an ist es, wenn auch die Innenpolitik, die seit Hoyers- sich wechselseitig im Andrang behindert; immer mehr werda weiß, daß sie sich völlig neu orientieren muß, versuchen, die Ampeln nach ihrem Willen leuchten zu noch nicht einen einzigen Schritt in die neue Richtung lassen oder auch nicht. Es kommt buchstäblich nicht getan hat, genausowenig wie wir den Herrn Innenmi- nur zu Unfällen, sondern auch zu Mord und Tot- nister in einem der Zentren gewalttätiger Auseinan- schlag. dersetzungen haben auftauchen sehen. Statt der zutiefst beunruhigten Bevölkerung mit Noch immer wird dem völlig antiquierten Terroris- Konzepten politischer Ordnung und Gestaltung zu muskonzept der 70er Jahre gefolgt. Damals handelte helfen, haben wir — damit meine ich das Parlament als es sich um Angriffe auf einzelne hochrangige Reprä- Ganzes — eine übel angebrachte, das Thema verfeh- sentanten von Staat und Gesellschaft. Jetzt handelt es lende und das Parlament bis zu jenem schmählichen sich um diffus ausschwärmende Gruppen, die andere, Entschließungsantrag der Regierungskoalition er- zu Feinden erklärte Gruppen ebenso diffus, aber eben niedrigende Asylrechtsdebatte geführt, in dem eine darum um so gefährlicher angreifen. Die Aufgabe Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10473

Dr. Wolfgang Ullmann besteht darin, die angegriffenen Gruppen durch Aber das mag als politisch entscheidende Frage Gebrauch der staatlichen Gewalt wirksam zu schüt- jetzt — leider — offenbleiben. Ich kann darum an zen und angreifende Gewalt abzuwehren, dieser Stelle nicht schließen und muß davon ausge- hen: Dieser Moment, meine Damen und Herren Abge- (Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ordneten, der Moment des offenkundigen und feind- NEN) seligen Angriffs auf die Demokratie und den Frieden nicht aber nur kräftige Worte zu gebrauchen, wenn unserer Gesellschaft ist die Stunde des Parlaments. wieder ein Mord oder eine Brandstiftung passiert Denn er ist die Probe auf das Exempel unserer ist. Demokratie. Es ist die Verantwortung des Parlaments, die Fronten hier klar zu ziehen. Zwei der Schwerpunktministerien unserer Regie- Es ist übrigens, meine Damen und Herren, das rung sind in vollem Umfang handlungsunfähig. Der genaue Gegenbeispiel zur Situation von 1977. Die Bundeskanzler weiß das ebenso lange wie die deut- RAF-Provokation mußte an einer Regierung schei- sche Öffentlichkeit. Aber was tut er? Er philosophiert tern, die sich nicht erpressen ließ. Die unsrige bietet öffentlich über Staatsnotstand, statt in seinem Kabi- das traurige Schauspiel, prinzipiell zu jeder Verfas- nett die Funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Muß sungsänderung erpreßbar zu sein. Wenn das nicht so der Regierung erst vom Parlament gesagt werden, daß recht funktionieren will, dann werden Umgehungsge- das so nicht bleiben kann? setze geplant, oder es wird die Ausrufung des Staats- Aber was kann sie denn tun? Es gibt nicht allzu viele notstands angedroht. Möglichkeiten, doch es gibt einige. Der Kanzler Einzig der Generalbundesanwalt hat endlich als könnte das Kabinett umbilden und auf der Grundlage erstes der Verfassungsorgane die richtige Perspektive eines Konzeptes von Sofortmaßnahmen die Vertrau- gewiesen, weil er den Möllner Brand als Gefährdung ensfrage laut Art. 68 des Grundgesetzes stellen. Aber unserer inneren Sicherheit identifizierte und darum woher soll bei dieser Regierung — wie sie sich jetzt die Verfolgung an sich zog. Etwas Entsprechendes angesichts der Haushaltsdebatte zeigt — ein Konzept muß von den Parlamenten erwartet werden, allen kommen? voran von dem Deutschen Bundestag. Dann bleibt noch eine Große Koalition. Hierzu fehlt Die Angriffe auf unsere Demokratie müssen ernst aber doch wirklich jede Alte rnative. genommen werden. Mord, Totschlag, Körperverlet- zung, Brandstiftung sind bekannte Tatbestände, Die Rede, Herr Klose, die Sie vorhin gehalten gegen die mit allen Konsequenzen des Strafrechts haben, war die Rede einer Sperrminorität und nicht vorzugehen ist. die Rede einer Opposition. Die CDU kann darauf Die Hitler-Grüße, die in Mölln die Brandstiftung natürlich jederzeit reagieren, indem sie sich als die kommentierten, signalisieren eine neue Qualität. Sie Sperrmajorität betätigt. Das, meine Damen und Her- sind eine bewußte Provokation der Öffentlichkeit, sie ren, ist die sicherste Methode, die Handlungsfähigkeit- kündigen den Grundkonsens und damit den Frieden eines Parlaments zu paralysieren. unserer Gesellschaft; sie tun es, indem sie die Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schenrechte von Mitbürgern außer Kraft setzen. Dar- auf muß reagiert werden. Neue Wahlen werden von anderer, auch sehr weit Wir müssen diese Kriegserklärung zur Kenntnis rechter Seite erwogen. Angesichts der geschilderten nehmen und denen, die sie aussprechen, klarmachen: Lage unserer Innenpolitik kann die für eine Bundes- Wir diskutieren nicht mit ihnen; wir machen ihnen tagswahl vorauszusetzende politische Mindeststabili- vielmehr klar, daß ihnen die Grundrechte der Demo- tät nicht mehr als gegeben angesehen werden. So kratie nicht mehr zur Verfügung stehen, denn das, bliebe als ehrlicher Ausweg nur das konstruktive was sie tun, geht über §§ 86 und 86a StGB hinaus. Mit Mißtrauensvotum nach Art. 67 des Grundgesetzes. ihren Symbolen und Hitler-Grüßen bekennen sie sich Daß die heutigen Daten des Haushaltsentwurfs noch als Komplizen von Verbrechen gegen die Menschlich- sehr viel lauter als 1982 nach einem solchen rufen, keit und gegen den Frieden. habe ich schon gesagt. Das aber ist eine Aufforderung an das Parlament, Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, bitte sich an das Bundesverfassungsgericht zu wenden, fassen Sie es nicht als einen Spaß auf, wenn der Schritte zur Anwendung von Art. 18 des Grundgeset- Angehörige einer kleinen Gruppe danach fragt, denn zes einzuleiten, in dem es um die Verwirkung von er wendet sich gerade an Sie, in der Überzeugung, daß Grundrechten geht. die CDU nicht nur aus Helmut Kohl und seinen Es ist, meine ich, ebenso ein Appell an das Straß- Freunden besteht, sondern eine Partei ist, der das burger Parlament, in dieser Sache tätig zu werden. Wohl der Demokratie nicht weniger am Herzen liegen muß als mir.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Helmut Kohl Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter, Ihre auch!) Redezeit ist abgelaufen. — Das setze ich voraus. Ich frage nur, ob er in der Lage ist, das durchzusetzen. Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Michael Glos [CDU/CSU]: Wo ist da der NEN): Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, Widerspruch?) „videant consules" zu rufen, damit es die Demokratie 10474 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Wolfgang Ullmann ist, die das Heft des Handelns endlich wieder an sich und alle meine Amtsvorgänger mitgearbeitet haben, reißt. das alle miterworben haben. Danke. Herr Abgeordneter Gysi, niemand von denen, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diese Wegstrecke gestaltet haben, braucht ausgerech- sowie bei Abgeordneten der SPD und der net von Ihnen einen Hinweis, wie man Demokratie PDS/Linke Liste) gestaltet. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile Herrn Bundes- kanzler Dr. Helmut Kohl das Wort. Trotz aller Probleme und mancherlei Sorgen glaube ich, daß wir allen Grund zur Zuversicht haben, zu der Zuversicht, daß wir die vor uns liegende Herausforde- Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Herr Präsident! rung meistern können. Es gehört ja zu den Ungewöhn- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die lichkeiten unserer Tage, daß außerhalb der deutschen Debatte über den Haushalt des Bundeskanzlers ist Staatsgrenzen jeder ganz selbstverständlich unter- traditionsgemäß auch die Generaldebatte über den stellt: Die Deutschen werden es schaffen. Oder wie es Gesamthaushalt. Sie ist — darin stimme ich Ihnen, François Mitterrand vor einigen Monaten formuliert Herr Kollege Klose, ausdrücklich zu — eine gute hat: Es ist wahr, die Deutschen haben große Probleme, Chance, eine nüchterne Bestandsaufnahme zu ma- aber sie werden sie lösen, und sie werden dann stärker chen: Wie ist die Lage der Nation heute? sein als je zuvor. Da diese Debatte wenige Wochen nach dem 1. Ok- Das Wort „stärker" ist in diesem Zusammenhang tober stattindet, ist sie sicherlich auch eine gute nicht der Begriff, den wir verwenden, aber wir wissen, Gelegenheit, einen kurzen Rückblick auf die zehn daß wir die Probleme bewältigen können. Dies ist Jahre seit der Übernahme der Regierungsverantwor- möglich, wenn wir im Bereich der Ökonomie und der tung durch die Koalition der Mitte vorzunehmen. Gesellschaftspolitik von einer konsequenten Politik (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — der Sozialen Marktwirtschaft ausgehen und wenn wir damit die notwendigen wirtschaftlichen Vorausset- [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstbeweihräucherung!) zungen schaffen. Herr Kollege Klose, es geht um die Soziale Marktwirtschaft. Es geht nicht um Reagano- Ich glaube, Sie tun sich schwer, meiner Bemerkung mics und Thatcherismus, wie es mir gelegentlich zuzustimmen, aber sie ist dennoch richtig: Es waren empfohlen wurde und wie Sie mir unterstellt haben, zehn gute Jahre für Deutschland. sondern ich will mit der Koalition der Mitte ein treuer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Anhänger Ludwig Erhards bleiben. Es ist richtig und es ist wichtig — ich finde, der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nachdenkliche Grundtenor der heutigen Debatte war Diese Politik der letzten zehn Jahre hat in der alten gut —, jetzt ganz einfach die Frage zu stellen: Was ist Bundesrepublik zu gewaltigen Erfolgen geführt. Sie jetzt notwendig, wenn wir im Blick auf die finanzielle hat vor allem zu einem Wohlstand und zu einem und wirtschaftliche Situation eine Standortbestim- Wachstum geführt, das von vielen inzwischen als ganz mung für Deutschland vornehmen? Aber diese Frage selbstverständlich betrachtet wird. Die Erkenntnis muß nicht nur im Blick auf das Materielle gestellt — das hat überhaupt nichts mit Ellenbogengesell- werden, sondern auch im Blick auf unsere Denkge- schaft zu tun —, daß dieser Wohlstand und das wohnheiten. Wachstum, das eine Voraussetzung für den Wohl- Am Samstag sind es genau drei Jahre, seit ich hier stand ist, täglich neu erarbeitet werden müssen, ist in im Hohen Haus das 10-Punkte-Programm für den weiten Kreisen abhanden gekommen. Weg zur Vollendung der staatlichen Einheit Deutsch- Ich selbst stelle mir durchaus auch als Parteivorsit- lands aufgezeigt habe. zender die Frage, ob nicht auch wir — aber alle Wenn ich die Ereignisse und auch die Erfahrungen anderen auch —, wenn wir über den Wohlstand während dieser drei Jahre bedenke, dann stelle ich geredet haben, zuwenig über die Notwendigkeit der fest, daß hier Ereignisse und Herausforderungen bin- Erarbeitung dieses Wohlstands gesprochen haben. nen kürzester Zeit zusammengekommen sind, die sonst in Generationen auf Menschen zukommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es ist in diesen drei Jahren vieles gut gelungen, Das Gebot der Stunde — und hier ist die Stunde der anderes ist nicht gelungen; wir haben Erfolge gehabt, Wahrheit, meine Damen und Herren — ist, daß wir bei wir haben uns aber auch hier und da getäuscht, ich einer nüchternen Bestandsaufnahme ganz einfach auch. Deswegen finde ich, ist es ganz richtig, nüch- sagen: Wir stehen vor der Notwendigkeit eines tief- tern, aber mit der Emotion des Herzens darüber zu greifenden Umdenkens. Wenn wir nicht umdenken sprechen. und dementsprechend handeln, werden wir unser Ziel Wir alle wissen, daß die Zustimmung all unser nicht erreichen. Nachbarn und Partner zur Wiedervereinigung unse- Zu dieser Wahrheit gehört zuerst — das kann man res Landes nicht ohne das Vertrauen möglich gewe- nicht oft genug sagen, auch im Blick auf die Lands- sen wäre, das sich das demokratische Deutschland in leute in den neuen Ländern —: Auch ohne die der Welt in 40 Jahren erworben hat. Es war ein deutsche Wiedervereinigung wäre die Bundesrepu- Vertrauen, meine Damen und Herren, an dem alle blik Deutschland heute dringend gezwungen, von demokratischen Parteien, alle Bundesregierungen vielen Bequemlichkeiten und Gewohnheiten Ab- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10475

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl schied zu nehmen, Verkrustungen und Erstarrungen zum Ausdruck bringen und dem türkischen Volk aufzubrechen. meine besondere Sympathie übermitteln. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die erste Konsequenz aus den Erfahrungen dieser Woche muß sein, daß Gewaltanwendung, von wel- Die Frage, die sich uns stellt, lautet: Wollen wir uns cher Seite auch immer sie kommt, in unserer Gesell- bequem zurücklehnen und weiter der Illusion anhän- schaft stets ein Tabu bleiben muß. Für Gewalt gibt es gen, wir könnten so weitermachen wie bisher? Oder keinerlei Rechtfertigung, aus welchen Motiven her- erkennen wir im November des Jahres 1992 im Blick aus sie auch geschieht und gegen wen auch immer sie auf die vor uns liegenden Jahre an der Schwelle zum sich richtet. nächsten Jahrhundert die Zeichen der Zeit und neh- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der men die Herausforderungen an? SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Natürlich will ich die Notwendigkeit des Wechsel- Die zweite Konsequenz muß lauten: Das Gewaltmo- spiels zwischen Regierung und Opposition nicht nopol des Staates darf von niemandem angetastet leugnen, wenn ich folgendes sage — selbstverständ- werden. Wer dies versucht, muß die ganze Härte des lich will ich mich dabei schon gar nicht aus der Gesetzes zu spüren bekommen. Verantwortlichkeit des Amtes stehlen —: Ich finde nur Herr Abgeordneter Klose, wir sollten jetzt nicht in — so begrüße ich auch den ersten Teil Ihrer Ausfüh- den Streit darüber eintreten, ob es neue Gesetze rungen, Herr SPD-Fraktionsvorsitzender Klose —, daß geben sollte oder nicht. Laßt uns doch nüchtern eine es eine Reihe von Bereichen gibt, nicht allein bei den Bilanz aufstellen — ich will es wenigstens teilweise notwendigen Verfassungsänderungen — das wäre hier versuchen — und ergründen, inwieweit die mir zuwenig —, bei denen es sich lohnt, im Interesse bestehenden Gesetze ausreichen, wenn sie konse- unseres gemeinsamen Staates miteinander zu spre quent ausgeschöpft würden, und wieweit wir darüber chen. Dies gilt um so mehr, als wir ja in der föderalen hinaus aus den konkreten Erfahrungen, die wir jetzt Ordnung unseres Gemeinwesens nicht nur eine machen, bereit sein müssen, bestehende Gesetze zu Gewaltenteilung, sondern auch eine beachtliche ändern, Machtteilung haben. Ich spreche jetzt nicht nur von Mehrheiten im Bundesrat, sondern ich spreche auch Die Frage der inneren Sicherheit des Landes ist eine hat den von dem breiten Feld kommunaler Verantwortung Frage des inneren Friedens, und der Staat nach außen und im Innern zu schützen. Ein und all jenen, die in unserer Gesellschaft Verantwor- Frieden Klima der Einschüchterung würde zu einer zuneh- tung tragen. menden Bedrohung unserer freiheitlichen Gesell- schaft. Wir müssen den Anfängen wehren — alle. Das Deutsche Einheit, europäische Einigung, der tief- - kann man nicht nur an die Polizeibeamten oder an die greifende Wandel in unserer Gesellschaft — dies alles Justiz delegieren, sondern alle Bürger unseres Landes muß uns doch eigentlich aufrütteln. Deutschland, meine Damen und Herren, ist, was immer in diesen müssen sich entschlossen und überall gegen jede Tagen geredet wird, weiterhin eine gute, eine erst- Form von Gewalt wenden. klassige Adresse in der Welt. Das gilt für die Wirt- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der schaft unseres Landes, das gilt für die Wissenschaft SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und für die Forschung, das gilt nicht zuletzt — ich Meine Damen und Herren, die Blitzlichtaufnahme, möchte es eigentlich sogar an erster Stelle nennen — die hier zu machen ist, ist bestürzend, weil sie ein Bild für den kulturellen Reichtum unseres Landes. Daß vermittelt, das nicht nur zur Nachdenklichkeit, son- dies so bleibt, setzt voraus, daß wir bei all dem, was dern dringend zum Handeln auffordert. Ich gehöre positiv zu vermelden ist, nicht die Augen vor jenen nicht zu denen, die dieses jetzt unnötig dramatisieren. Hindernissen verschließen, die den Weg in die Aber ich gehöre zu denen — ich denke, die allermei- Zukunft verbauen könnten. Wir müssen viel mehr als sten hier erfahren das gleiche —, die im täglichen bisher auch Fragen in den Mittelpunkt stellen, die Gespräch mit unseren Mitbürgerinnen und Mitbür- außerhalb des bloß Materiellen liegen. gern die bange Frage vernehmen: Ist dieser Staat, unser Staat, ein starker Rechtsstaat, der im besten Wir müssen die Sorgen der Menschen ernst neh- Sinne des Wortes Recht und Ordnung und damit die men. Das hat nichts mit Populismus zu tun; denn das ist Freiheit aller schützt? eine der Aufgaben, denen sich die Politik stellen muß. Deswegen finde ich es gut, daß in dieser Debatte über Die Zahl der von Straftaten Betroffenen nimmt den Haushalt die Frage der inneren Sicherheit so ständig zu. Die Entwicklung ist dramatisch. Die Zahl eingehend behandelt wurde und wird. der erfaßten Straftaten im ersten Halbjahr 1992 liegt schon bei fast 3 Millionen. Das bedeutet eine Der mörderische Brandanschlag von Mölln ist für Zunahme um 22 % gegenüber dem Vorjahr. Mehr als uns alle ein bedrückendes Signal zunehmender die Hälfte der Straftaten sind Diebstähle — eine Gewalt in unserem Land. Drei wehrlose Menschen, Zunahme um 12 % . Die Zahl der Straftaten mit Schuß- Ausländer, die mitten unter uns lebten, sind diesem waffengebrauch stieg um über 18 %. Bei den Raubde- abscheulichen Verbrechen zum Opfer gefallen. Ich likten haben wir — das ist eine wichtige Zahl — in den will noch einmal für die Bundesregierung unser alten Ländern der Bundesrepublik eine Zunahme um besonderes Mitgefühl für die Angehörigen der Opfer 30 %. Auch an dieser Zahl zeigt sich, wie töricht das 10476 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Gerede ist, das alles sei im wesentlichen ein Problem Haftrecht muß seine Schutzfunktion auch wirklich in den neuen Ländern. Im Alltagssprachgebrauch erfüllen können. redet man mittlerweile in einer unerhört verharmlo- senden Weise von „Alltagskriminalität", wenn man (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. von Wohnungseinbrüchen, von Kfz-Diebstählen und sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS ähnlichem spricht. Im ersten Halbjahr 1992, meine SES 90/DIE GRÜNEN) Damen und Herren, stieg die Zahl der Kfz-Diebstähle Dies sind wir vor allem unseren Bürgern schuldig. in der Bundesrepublik Deutschland um 36 %, in den alten Ländern sogar um sage und schreibe 80 % Aber wir sind es — und das muß, meine Damen und binnen zwölf Monaten. Herren, dann eben mehr als ein Halbsatz in einer solchen Bundestagsrede sein — vor allem unseren Dies alles ist natürlich überhaupt nicht hinnehmbar, Polizeibeamten schuldig. Die Art und Weise, wie genausowenig wie die immer stärker werdende hierzulande nicht zuletzt in den Medien — und ich Bedrohung unseres Gemeinwesens durch die Mafia, nenne hier bewußt vor allem die elektronischen durch das organisierte Verbrechen, insbesondere im Medien — über die Arbeit und den Einsatz unserer Bereich des Drogenhandels. Der amerikanische Präsi- Polizeibeamten berichtet wird, ist dem Ziel nicht dent hat in seinem diesjährigen Drogenbericht das dienlich, diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die Gesamtvolumen des weltweiten Drogenhandels auf den Einsatz für uns alle leisten, die notwendige 300 Milliarden US-Dollar geschätzt. Jeder von uns Autorität zu geben. weiß: Ein Hauptziel der internationalen Drogenmafia ist inzwischen die Europäische Gemeinschaft gewor- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. den. Ich fürchte, den meisten von uns — auch in sowie bei Abgeordneten der SPD) diesem Saal — ist die wahre Dimension der daraus Sie verdienen unseren Dank, sie verdienen unsere erwachsenden Gefahren immer noch zu wenig Anerkennung, sie verdienen vor allem auch unsere bewußt. Unterstützung. Ein Staat, meine Damen und Herren, der das Recht nicht mehr durchsetzt, verliert das Vertrauen seiner Wenn ich dies alles so sage, dann weiß ich natürlich, Bürger. Wo die Sicherheit der Bürger gefährdet ist daß die Androhung von Strafe allein in gar keiner oder wo sie den Eindruck haben — auch das ist ja von Weise ausreichend ist, um Menschen zu rechtmäßi- politischem Gewicht —, ihre Sicherheit sei gefährdet, gem Handeln zu bewegen. Viel wichtiger als das steht immer auch die Freiheit auf dem Spiel. Strafrecht — auch davon ist schon gesprochen wor- den — ist die Stärkung jener Institutionen, die jungen Es ist wahr: Viel zu lange ist Kriminalität bei uns Leuten Halt und Orientierung geben können, die sie bagatellisiert worden. Das hat teilweise zu einer zu eigenständigen und eigenverantwortlichen Per- unerträglichen Erosion des Rechtsbewußtseins ge- sönlichkeiten erziehen können. Hier tragen die Fami- führt, im übrigen teilweise auch zu einem Stück lien, die Schulen, die Kirchen eine ganz besondere Entwaffnung des Rechsstaates. - Verantwortung. Ihre Bedeutung kann gar nicht hoch Wir wollen gemeinsam — und das ist hier ja gesagt genug eingeschätzt werden. Aber man muß ihnen im worden — durch strenge Anwendung der bestehen- Alltag unserer Gesellschaft auch den Raum lassen, den Gesetze dem Recht den nötigen Respekt verschaf diese Verantwortung tatsächlich wahrzunehmen. fen. Aber — und das füge ich hinzu, weil wir. in Herr Kollege Klose, ich bin mit Ihnen der Meinung anderem Zusammenhang im Augenblick viel über — das hat nichts mit Journalistenschelte und gar föderale Strukturen diskutieren — hier ist nicht nur nichts mit Einschränkung von Pressefreiheit zu tun —, — Herr Klose, Sie haben recht — der Bund gefordert, daß es das Gebot der Stunde ist, die Verantwortlichen hier ist vor allem auch der ganze Einsatz der Bundes- bei privaten und öffentlichen Medien daran zu erin- länder gefordert. Der Föderalismus steht auch in der nern, welche spezielle Verantwortung sie in diesem Frage der inneren Sicherheit auf dem Prüfstand. Felde haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des Wer zuständig ist, hat auch die Pflicht zum Handeln. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Bundesregierung — das will ich noch einmal klar aussprechen — wird alles tun, um hier ihren Beitrag zu Es genügt eben nicht, meine Damen und Herren, leisten und im Gespräch mit den Ländern auch die daß Bund und Länder und viele verdienstvolle private notwendige Unterstützung zu geben und dort — ich Institutionen große Enqueten über Gewalt in den sage es noch einmal —, wo wir gemeinsam zu dem Medien und ihre Wirkung vor allem auf junge Leute Ergebnis kommen, daß das geltende Recht nicht veranstalten, wenn daraus nicht Konsequenzen gezo- ausreicht, die notwendigen Veränderungen vorzu- gen werden. Ich finde, es gehört auch zu unseren nehmen. Pflichten, daß wir gemeinsam — es ist ja nicht bestreit- bar, daß auch die politischen Parteien im Bereich der Wir können und dürfen nicht tatenlos zuschauen, Medien Verantwortung mittragen — diese Herausfor- wenn beispielsweise die Mafia in Deutschland dabei derung nicht nur sehen, sondern endlich auch anneh- ist, Planungszentren zu errichten, weil Verbrecher bei men. der Vorbereitung ihrer Taten bei uns weniger als anderswo befürchten müssen, beobachtet zu werden. Meine Damen und Herren, die Erosion des Rechts- Wir können es auch nicht hinnehmen, daß nur jede bewußtseins hat insbesondere auch dazu geführt, daß hundertste bei einer Demonstration begangene sich rechts- und linksextremistische Gewalttäter zur Gewalttat zu einer Verurteilung führt. Das Straf- und Konfrontation mit dem Staat ermutigt fühlen. Ich lege Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10477

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Wert darauf, beide zu nennen: rechts- und linksextre- das Bruttosozialprodukt in Deutschland bei weitem mistische Gewalttäter. geringer, als es tatsächlich ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ich warne vor jener Verharmlosungstendenz, wie wir sowie bei Abgeordneten der SPD und des sie gerade eben von diesem Pult aus erlebt haben, daß BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Zahlen der Toten, die solchen Verbrechen zum Wahr ist auch, meine Damen und Herren, daß viele Opfer gefallen sind, gegeneinander aufgerechnet dieser Ausländer auf Arbeitsplätzen sind, die die werden. Diese Republik ist weder auf dem rechten Deutschen längst nicht mehr annehmen. Dazu gehört noch auf dem linken Auge blind, und diese Republik ja inzwischen vielfach auch schon die Alten- und ist nicht Weimar. Darin sind wir uns einig. Dies ist ein Krankenpflege, die angesichts der Überalterung freiheitlicher Rechtsstaat, der sich mit seiner ganzen unseres Landes in den letzten Jahren an Bedeutung Kraft gegen alle Feinde der Republik zur Wehr gewonnen hat. Ausländische Arbeitnehmer erarbei- setzt. teten 1991 im Westen unseres Landes nach Angaben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschafts- sowie bei Abgeordneten der SPD und des forschung 9 % unseres Bruttosozialprodukts, also über BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 230 Milliarden DM. Wer den tumben, dumpfen Paro- len des Ausländerhasses nachläuft, der soll, wenn er Unser Staat muß auch in den Augen seiner Bürger schon sonst nichts begreifen will, wenigstens erken- handlungsfähig sein. Ich will jetzt nicht viel zu dem nen, daß ohne die Arbeit dieser ausländischen Arbeit- folgenden Thema sagen, weil ich meine Hoffnung nehmer in unserem Land sein Wohlstand gar nicht darauf setze, daß die Gespräche zum Erfolg führen. möglich wäre. Aber wenn wir die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger wirklich ernst nehmen — ich spreche nicht von (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der jenen, die hysterisch reagieren, sondern von den SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vielen besonnenen, die ihren Beitrag zum Bau der Bundesrepublik Deutschland in Jahrzehnten geleistet Ich bin sicher, daß die weit überwiegende Mehrheit haben —, dann müssen wir einfach zur Kenntnis unseres Volkes das weiß. Deswegen sage ich auch: Es nehmen, daß in der Frage des Asylmißbrauchs die ist zutiefst ungerecht — egal, wo es geschrieben wird: Grenze der Belastbarkeit für viele überschritten ist. diesseits oder jenseits des Atlantiks, diesseits oder Das ist in der Tat keine parteipolitische Frage. Sie jenseits unserer Grenzen —, den Bürgern unseres brauchen darüber nur mit Bürgermeistern, Landräten Landes pauschal Fremdenfeindlichkeit zu unterstel- und mit in kommunaler Verantwortung stehenden len. Persönlichkeiten, Männern und Frauen, zu sprechen, und Sie werden überall das gleiche hören. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des Die Situation hat sich dramatisch zugespitzt. Wenn BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht gehandelt wird, besteht die Gefahr einer wirk- lich tiefgehenden Vertrauenskrise gegenüber dem Zu einer ehrlichen Lagebeschreibung gehört aber demokratischen Staat. Die Menschen erwarten end- auch das, was Wolfgang Schäuble schon angespro- lich Lösungen. Sie sagen: Ihr habt lange genug, zu chen hat. Das ist wiederum ein Problem der alten lange geredet. Sie wollen Lösungen, die wirklich Bundesrepublik, nämlich die demographische Ent- greifen und dem Mißbrauch einen wirksamen Riegel wicklung. Heute sind mehr als 20 % der Gesamtbevöl- vorschieben. Alle, die von der Sache etwas verstehen, kerung in Deutschland über 60 Jahre alt. Die Zahl der wissen natürlich, daß das, was jetzt diskutiert wird, für über 85jährigen steigt in den nächsten acht Jahren, bis sich allein das Problem nicht löst. Auch das muß man zum Jahre 2000, auf 1 500 000 Bürger. Es ist eine klar und deutlich aussprechen. höchst erfreuliche Tatsache, daß die Lebenserwar- tung durch die moderne Medizin und vieles andere Ich hoffe sehr, daß die in dieser Woche beginnenden mehr steigt. Aber kein Mensch kann die Augen davor Gespräche möglichst rasch zu einer Übereinstimmung verschließen, daß diese Entwicklung notwendiger- führen. Ich will deutlich sagen, daß wir seitens der weise zu einer völlig veränderten Situation etwa für Bundesregierung bei diesen Gesprächen den Fraktio- unsere sozialen Sicherungssysteme führt. Es wird viel nen jede von ihnen gewünschte Unterstützung zuwenig darüber gesprochen, was es für die Renten- geben. versicherung heißt, wenn immer weniger Beitrags- Lassen Sie mich ein grundsätzliches Wort über das zahler immer mehr Rentnern gegenüberstehen. 1985 Zusammenleben von Deutschen und Ausländern standen 100 Beitragszahlern 54 Rentner gegenüber. sagen. Wir Deutschen leben bis auf wenige Ausnah- In drei Jahren, 1995, werden es schon 59 sein. Die men friedlich und nachbarschaftlich mit rund 6 Millio- Entwicklung geht so weiter. Im Jahre 2030 — wir nen Menschen zusammen, die aus dem Ausland zu haben nicht die Ausrede, das gehe uns heute nichts an uns gekommen sind. Wir vergessen niemals, daß wir — wird es deutlich mehr Rentner als Beitragszahler sie selbst hierhergeholt haben. Wir haben sie gebeten, geben. Das hat enorme Wirkungen in allen Bereichen. zu uns zu kommen. Von den 1,9 Millionen ausländi- Wir müssen darüber reden, auch wenn es ans Sparen schen Arbeitnehmern in den alten Bundesländern geht, Herr Kollege Klose, ob wir jetzt sagen: Die nach arbeiten knapp eine Million in der Industrie und im uns sollen das machen, oder ob wir in einer ehrlichen Bergbau, knapp eine halbe Million am Bau, im Handel Bestandsaufnahme sagen: Wir müssen schon heute und im Gastgewerbe. Wenn Sie nicht da wären, wäre weiterdenken. Niemand ist aus der Verpflichtung 10478 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl entlassen, den Menschen in diesem Land die Wahr- Ich halte das für ausgeschlossen. Ich finde es einfach heit zu sagen. überfällig, daß die Länder zu einer Vereinbarung kommen, damit wir in dieser Frage eine gemeinsame (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Linie haben, und nicht nur untereinander über die Zu einer Bestandsaufnahme der Kultur- und Export- Zuschüsse des Bundes für den Hochschulbau reden. nation Deutschland gehört auch die Beschreibung der Lage unseres Bildungswesens. Ich lehne es strikt ab, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. mich auf eine Arbeitsteilung einzulassen — bei aller sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS Anerkennung der föderalen Struktur unserer Verfas- SES 90/DIE GRÜNEN ) sungsordnung — und zu sagen: Das geht den Bund Meine Damen und Herren, eine weitere entschei- überhaupt nichts an. Die Folgen einer verfehlten dende Herausforderung, die wir bestehen müssen, um Politik in diesem Feld sind Folgen für den Gesamt- als eine der großen Wirtschaftsnationen der Welt staat. Wenn wir davon ausgehen, daß in wenigen unsere Spitzenposition im internationalen Wettbe- Wochen, am 1. Januar 1993, der Europäische Binnen- werb halten zu können, be trifft die Frage nach der markt kommt und daß nach menschlichem Ermessen Qualifikation unserer Arbeitnehmer und die Frage 1995 Österreich, Finnland und Schweden — auch nach dem Einsatz und der Ausnutzung von Maschi- Norwegen und die Schweiz, wie ich hoffe; wenn nicht nen. Jeder von uns weiß, daß die Kosten-Nutzen- dann, so wenige Jahre später — der Gemeinschaft Relation für Maschinen in den letzten Jahren ungün- beitreten; daß sich die Gemeinschaft in späteren stiger geworden ist. Herr Abgeordneter Klose, Sie Jahren, vielleicht zu Beginn des nächsten Jahrhun- haben gefragt: Welche Vorschläge haben Sie? Wir derts, um die Tschechische Republik, die Slowakische müssen uns darüber unterhalten — und zwar nicht mit Republik, Ungarn und Polen erweitern wird; dann abgegriffenen Vokabeln wie „Sozialabbau" —: Was müssen wir dafür sorgen, daß die jungen Leute aus kann man tun, damit die Maschinenlaufzeiten in Deutschland im Wettbewerb um qualifizierte Arbeits- deutschen Unternehmen, gemessen an denen in der plätze innerhalb Europas bestehen können. Wir lei- EG, nicht noch weiter abfallen? Dies ist eine Grund- sten uns die längsten Ausbildungszeiten für Akademi- frage der Wohlstandsentwicklung in unserem Land. ker. Im Durchschnitt verlassen 27 % der Studenten die Ich war am letzten Dienstag in Schwerin in einem Hochschule ohne Abschluß. In manchen Bereichen großen Betrieb eines großen Konzerns. Wenn es jetzt sind es jetzt bis zu 50 %. Das kann nicht nur an den in Mecklenburg-Vorpommern — jedenfalls für eine jungen Leuten liegen. Das System ist der Aufgabe Übergangszeit — möglich ist, daß die Maschinenlauf- offensichtlich nicht mehr gewachsen. zeit in diesem Betrieb fast ein Drittel länger ist als in vergleichbaren Betrieben im Westen, dann frage ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. mich: Warum können wir nicht aus den neuen Bun- sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS desländern wirklich Positives für die alten Bundeslän- SES 90/DIE GRÜNEN) der übernehmen? Dort ist es doch offenkundig mög- Deswegen müssen wir darüber reden. Denn -die jun- lich. gen Deutschen haben einen Anspruch, von der deut- schen Politik — nicht nur von den Politikerinnen und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Politikern im Bund, sondern auch in den Landtagen Ich bin im übrigen davon überzeugt, daß eine und den Landesregierungen sowie im kommunalen Abkehr von den starren Arbeitszeitregelungen sich Bereich — Antwort auf die Frage zu bekommen: Wie nicht nur wirtschaftlich rechnet, sondern auch mehr stellt ihr euch die Zukunft vor? Freiheitsräume für die Menschen öffnet. Ich will versuchen, im nächsten Jahr alle im Bereich (Zuruf von der PDS/Linke Liste) der Bildungspolitik Verantwortlichen zu Gesprächen Zu diesem Punkt gehört natürlich auch die Frage über dieses Thema zusammenzubringen. Ich mag den der Lebensarbeitszeit. Wolfgang Schäuble hat die Begriff „Bildungsgipfel" nicht. Es soll aber ein Treffen Zahlen schon genannt. Glaubt denn wirklich jemand werden, bei dem wir darüber reden, was jede Seite zu bei uns, es sei ein Zugewinn für das ganze Land, wenn tun hat. Ein solches Treffen macht allerdings nur dann immer jüngere Jahrgänge vorzeitig in den Ruhestand Sinn, wenn jeder bereit ist, die notwendigen Änderun- gehen? Ich halte es für eine Fehlentwicklung — auch gen vorzunehmen. Wenn wir lediglich den jetzigen wenn ich es jetzt aus Gründen der Arbeitsmarktlage Zustand beibehalten wollen, können wir uns Zeit und und der betrieblichen Situation manchmal schon ver- Mühe für ein solches Treffen sparen. stehen kann —, wenn jetzt im Westen — zu den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Landsleuten in den neuen Ländern sage ich gleich in der F.D.P.) anderem Zusammenhang noch etwas — Leute mit 55 Jahren in den Ruhestand gehen. Das sind ja im Meine Damen und Herren, im Bereich der Hoch- Regelfall nicht gebrechliche Zeitgenossinnen und schulen geht es um Leistungsfähigkeit und Effizienz. Deswegen müssen wir zu einer Straffung, zu einer Zeitgenossen. Ihre Lebenserfahrung und das, was sie einbringen können, auch ihre dynamische Kraft, das wirklichen Reform der Studiengänge fähig sein. Auch alles fällt dann weg, und wir können nicht erwarten, eine Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur ist unumgänglich. Wir sind jetzt im dritten Jahr der daß die nachrückende Generation das gleiche Maß an deutschen Einheit. Niemand kann im Ernst erwarten, Lebenserfahrung einbringt. nachdem wir in der alten Bundesrepublik gegenüber Die Geschichte aller zivilisierten Völker, die Kultur- allen anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft eine geschichte der Menschheit weiß etwas davon, daß die Sondersituation hatten, daß jetzt die neuen Bundes- Dynamik der Jüngeren und die Weisheit der Älteren länder die Zeit bis zum Abitur um ein Jahr verlängern. in einer vernünftigen Verbindung stehen müssen. Wir Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10479

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl sind dabei, diesen Schatz zu verspielen. Ich halte das Damen und Herren, in den neuen Bundesländern ist für falsch. dies absolut unverzichtbar. Wenn der Aufschwung Ost eine Chance haben soll, darf er nicht im dichten (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und Netz von Vorschriften und Regelungen steckenblei- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben. Dies ist für eine Aufbruchsituation in keiner Spitzenleistungen in Forschung und Entwicklung Weise angemessen. sind entscheidende Voraussetzungen für die Zukunft. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) In einer ganzen Reihe von wichtigen Bereichen haben wir hier immer noch eine Spitzenstellung. Ich Deshalb ist mein Ziel, nicht irgendwann, sondern wünschte mir gelegentlich, daß auch in schwierigen jetzt, in diesen Wochen, in den Gesprächen über den Zeiten der eine oder andere aus dem Unternehmerla- Solidarpakt gemeinsam mit den Bundesländern Ver- ger nicht nur auf die schwierige Situation hinweist, in waltungs - und Rechtsvereinfachungen durchzuset- der wir uns befinden, sondern auch darauf, daß die zen. Mein Vorschlag zur Güte ist: Wenn es viele in den Leistungen deutscher Forscher, Ingenieure, Unter- alten Ländern nicht glauben, dann laßt uns doch nehmer und Arbeitnehmer dazu geführt haben, daß einmal einen Pakt der Vernunft für die neuen Länder wir in einer Reihe von wichtigen Bereichen nach wie schließen! Ich sage Ihnen voraus: In drei, vier Jahren vor Spitzenleistungen in der Welt erbringen. werden wir das, was wir dann dort erprobt haben und was dann sehr viel mehr an Erhards Zeit als an unsere Aber es ist alarmierend, wenn in solchen Bereichen Zeit erinnert, gern auch in der ganzen Bundesrepublik beispielsweise Forschungsinstitute ins Ausland ver- übernehmen. Die Bundesregierung wird in ihrer Sit- legt werden, weil Regelungsdichte und Bürokratie zung in der nächsten Woche die notwendigen Initia- bei uns den Fortschritt bremsen. Wir sind uns sicher tiven beschließen und dafür auch die notwendige einig, ich hoffe das jedenfalls: Es gilt, daß nicht alles, Zustimmung des Parlaments erbitten. was technisch machbar ist, auch verwirklicht werden darf, daß hier Gebote zu beachten sind, die weit über Ich will in diesem Zusammenhang ein Thema das Materielle hinausgehen. Aber es kann doch nicht ansprechen, das, wie ich glaube, zu wenig beachtet angehen, daß bei uns neue Produkte, die wünschens- wird. Genehmigungsverfahren ziehen sich bei uns wert sind und Chancen haben, ein schier undurch- auch deshalb oft unerträglich in die Länge, weil die dringliches Dickicht von Zulassungsverfahren und zuständigen Behörden trotz aller Genehmigungs- Verträglichkeitsprüfungen passieren müssen. Es ist chancen die Ermessensspielräume nur zaghaft nut- die Wahrheit. Wir haben in über 40 Jahren auch zen. Meine Damen und Herren, ich bin weit davon Ballast angesammelt, und wir sollten jetzt im Zusam- entfernt, jetzt — was ja in Deutschland üblich ist — menhang mit der deutschen Einheit einen neuen alles auf die Beamten abzuschieben und die Beamten Anfang machen und diesen Ballast abwerfen. zu beschimpfen. Die Erfahrung in unserem Staat, der ein Rechtsstaat ist und der sich auf den Weg des (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und Rechtsmittelstaates begeben hat, ist, daß eben jeder dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Genehmigungsbescheid möglicherweise vor Gericht Wir hatten kürzlich im Bundestag die Debatte über die mit einer Vielzahl von Einsprüchen und Klagen ange- Novellierung des Gentechnikrechts. Wenn die Ge- fochten wird. Diejenigen, die vor Gericht als die nehmigung einer Anlage zur technischen Herstellung Beklagten, als die Vertreter der Behörden erscheinen von Humaninsulin bei uns sechs Jahre braucht, dann müssen, machen oft die Erfahrung, daß sie als die brauchen wir uns über Konkurrenznachteile gegen- ausgemachten Bösewichter der Nation betrachtet über anderen Ländern nicht zu wundern. werden. Das ist doch die Wahrheit. Es kann doch hier im Raum niemand ernsthaft glauben, daß der notwen- Hinzu kommt noch etwas, das meistens totge- dige rasche Aufbau in den neuen Ländern mit einer so schwiegen wird, daß nämlich die Rahmenregelungen zögerlichen Verhaltensweise möglich ist. des Bundes regional ganz unterschiedlich ausgelegt Ein Großteil derer, die hier sitzen und zuhören, hat werden. noch — zumindest aus unserer Schüler- und Studen- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist tenzeit — die Erfahrungen aus der Zeit unmittelbar es!) nach dem Krieg vor Augen. Es steht doch außer Frage, Herr Kollege Klose: Wenn der Hamburger Bürgermei- Meine Damen und Herren, es ist doch ein absurder ster jener Jahre oder der rheinland-pfälzische Mini- Zustand, wenn wir ab 1. Januar 1993 den Europäi- sterpräsident Altmaier oder Georg August Zinn in schen Binnenmarkt haben und in der nationalen Hessen oder Hans Ehard in Bayern — ich könnte viele Genehmigungspraxis bei wenigen Kilometern Di- nennen — oder die damalige Bundesregierung eine stanz zwischen den Landeshauptstädten derartige solche Verhaltensweise hingenommen hätte, wäre am Unterschiede von Bundesland zu Bundesland beste- Ende der zehn Jahre nach der Währungsreform, am hen. Wir waren hier gemeinsam der Meinung — je- Ende der 50er Jahre nicht von einem deutschen denfalls die große Mehrheit —, daß die Novellierung „Wirtschaftswunder" die Rede gewesen. Es war ja des Gentechnikrechts etwas mit der Verbesserung der eigentlich auch kein Wunder. Es war die Schaffens- Standortbedingungen für die Produktion in Deutsch- kraft des Landes, es war die Hilfe des Marshallplans, land zu tun hat. Das gilt genauso wie der Obersatz, daß es war die großartige Bereitschaft der Menschen, die Wahrung des Schutzes der Menschen und der zuzupacken, weil sie Zukunftshoffnung hatten und Umwelt oberstes Gebot bleibt. Weniger Bürokratie nicht geistig auf der Couch des Psychiaters Platz und der Verzicht darauf, auch noch das letzte Detail genommen hatten, regeln zu wollen, ist für uns alle in den neuen und in den alten Bundesländern notwendig; aber, meine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 10480 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl weil sie entscheidungsfreudig waren und das auch gegenwärtig laufenden GATT-Verhandlungen zu von ihrer Verwaltung zu Recht erwarteten, die das einem guten Ende zu bringen. Wir alle brauchen das ermöglicht haben. GATT. Allerdings vermisse ich in der deutschen Ich begrüße es — und ich möchte Sie herzlich bitten, Diskussion darüber die Umstellung der Reihenfolge, das zu unterstützen —, daß im Haushaltsausschuß des wie es moralisch richtig wäre: Nicht nur die Industrie- Bundestages über alle Fraktionsgrenzen hinweg nationen brauchen das GATT, sondern viel dringen- Einigkeit bestand und besteht, dem entscheidungs- der brauchen die Länder der Dritten Welt ein positives freudigen und verantwortungsbewußten Beamten Ergebnis der GATT-Verhandlungen. und der entscheidungsfreudigen und verantwor- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der tungsbewußten Beamtin politisch den Rücken zu SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stärken. Nunmehr geht es darum, in einer gemeinsa- men Entschließung durch den ganzen Deutschen Meine Damen und Herren, wir können die Haus- Bundestag die Botschaft auszusenden: Wenn jetzt in halte für Entwicklungshilfe so hoch aufstocken, wie den neuen Ländern investiert wird, wenn jetzt Ver- wir wollen: Wir kämen mit noch so vielen Steuermit- waltungsentscheidungen getroffen werden müssen, teln — aus Deutschland oder aus anderen Ländern — bei denen völliges Neuland beschritten wird, dann nicht annähernd in den Bereich der erforderlichen müssen die Verantwortlichen etwas wagen. Sie müs- Hilfe, den ein freier Welthandel erreicht. Deswegen ist sen von der politischen Klasse — ich mag das Wort es ganz wichtig, daß wir sagen: Wir wollen einen nicht —, von den demokratischen Parteien, vom positiven Abschluß der GATT-Verhandlungen auch Parlament, den Regierungen, auch von der Bundesre- als Hilfe für die Dritte Welt. Wir wollen ihn aber auch gierung ermutigt werden: Handelt! Riskiert etwas, für uns als eine der großen Industrienationen. Wer auch wenn manchesmal ein besonderes Risiko dabei glaubt, er könne sich in den 90er Jahren in die ist! Schützengräben vergangener Zeiten zurückziehen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. und dort einen transatlantischen Handelskrieg über- sowie bei Abgeordneten der SPD) stehen, der lebt an der Wirklichkeit vorbei. Das hätte schlimmste Konsequenzen für breite Schichten auf Meine Damen und Herren, die weltwirtschaftliche beiden Seiten des Ozeans. Entwicklung und damit auch die Konjunktur in Deutschland sind in ein schwieriges Fahrwasser gera- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der ten. Wenn man hier den Herrn Vorsitzenden der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) SPD-Fraktion gehört hat, könnte man meinen, die Bundesregierung sei dafür verantwortlich, daß wir Meine Damen und Herren, deswegen füge ich jetzt eine weltweite Rezession haben. hinzu: Ich erwarte, daß beide Seiten zu Kompromissen bereit sind. Wir haben sie. Sie hat uns in Deutschland, wenn wir ehrlich sind, später erreicht, weil wir auch in dieser (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Waren sie - Hinsicht — ökonomisch gesehen, und zwar bedingt doch!) durch die deutsche Einheit — Glück hatten. Folgendes möchte ich zu Äußerungen aus Teilen der Öffentlich- Ich hätte mir gewünscht, Kompromißfähigkeit wäre keit und der Wirtschaft sagen: Die deutsche Wirtschaft auf beiden Seiten des Ozeans schon früher gezeigt hat an der deutschen Einheit ungewöhnlich gut ver- worden. Wenn das, was jetzt auf dem Tisch liegt — das dient. sage ich mit Bedacht —, schon im Juli auf dem (Beifall im ganzen Hause) Weltwirtschaftsgipfel in München auf dem Tisch gele- gen hätte, dann hätten wir das damals an einem Manches Unternehmen stellt jetzt Vergleiche an und Abend abschließen können. Auch das ist die Wahr- stellt fest, daß sein Ertrag gegenüber den letzten heit. beiden Jahren gesunken ist. Unternehmen der Auto- mobilindustrie z. B. sollten aber daran denken, daß Ebenfalls finde ich es nicht gut — auch das sage ich die Menschen in Leipzig nicht jedes Jahr ein neues nicht ohne Grund —, daß wir den GATT-Abschluß Auto kaufen. zwar nachdrücklich bejahen, unseren Beitrag dazu leisten und auch die EG-Kommission in ihrer Haltung (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der ermutigen, gleichzeitig aber die Gelegenheit wahr- SPD) nehmen, diejenigen Partner in Europa, die das in Bis zur deutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozial- besonderer Weise betrifft, sozusagen mit einem union hatten sie zehn Jahre auf ein Auto warten besonders negativen Soupçon zu versehen. Denn wir müssen. Jetzt können sie sich zwar eines leisten, aber können in Europa das Ziel nur in Partnerschaft errei- es ist eine deutsche Angewohnheit, ein Auto beson- chen. Deswegen hoffe ich — auch wenn die Konse- ders liebevoll zu pflegen und es nicht gleich nach quenzen für die einzelnen Länder unterschiedlich einem Jahr wieder abzugeben. Also, es ist eine völlig sind — auf die Zustimmung unserer französischen törichte Diskussion, die im Zusammenhang mit dem Freunde. Aber ich bitte auch darum, für die Lage der Nachfragerückgang bei uns stattfindet. Franzosen Verständnis zu haben. Meine diesbezügli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge che Bitte schließt auch die deutschen Bauern ein. ordneten der F.D.P.) Meine Damen und Herren, das, was ich in diesen Wir haben die Folgen dieser weltweiten Rezession Wochen in diesem Zusammenhang gehört habe, ist zu verkraften. Deswegen ist es wichtig, daß wir alles für mich inakzeptabel. Ich kenne keine Gruppe in der tun — ich selber habe das mir Mögliche get an —, die deutschen Bevölkerung, die auf Grund der EG-Politik Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10481

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl vergleichbare Einkommenseinbußen hat hinnehmen denkt, dann ist das eigentlich ganz verständlich. müssen wie die Bauern. Vielleicht haben wir zuwenig darüber nachgedacht, daß unsere Lebenserfahrungen, unsere Biographien (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eben grundverschieden sind. Wenn ich daran denke, wie sich ganz selbstverständ- lich „Größtkoalitionen" quer durch das Haus bilden Es war eben ein Unterschied, daß ich mit 18 Jahren — dafür habe ich Verständnis und viel Sympathie —, 1948 in Ludwigshafen und nicht in Leipzig lebte. Es ist wenn es um die Kohle und um die Bergarbeiter geht, ein Unterschied, daß ich in völlig freier Entfaltung wenn ich sehe, wie geheimnisvolle Kräfte walten, die leben konnte und nicht unter der Herrschaft des sozusagen dem Meer entsteigen, wenn es um die SED-Regimes, unter der Allgegenwart der Stasi leben Erhaltung von Werften geht, dann empfinde ich es als mußte. Deswegen warne ich uns, die wir das Glück eine große Heuchelei, wenn bei dem Thema „Bauern" hatten, im Westen in Freiheit zu sein, davor, über alle so tun, als gehe sie das überhaupt nichts an. Biographien von Zeitgenossen aus der früheren DDR herablassend zu urteilen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Zuruf (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] SPD und dem Bündnis 90/DIE GRÜNEN) [F.D.P.]) Wir brauchen jetzt mehr Geduld. Vorhin ist gesagt — Lieber Herr Kollege Weng, ich weiß, daß die worden: Wir müssen mehr miteinander als übereinan- Gruppe der Apotheker noch kleiner ist als die der der reden. Wir müssen mehr — und hier müssen wir, Bauern. die wir im Westen leben, den größeren Schritt tun — (Heiterkeit) aufeinander zugehen und unsere Landsleute nehmen, wie sie sind. Wir dürfen sie nicht in ein Bild umformen, Aber, Herr Kollege Weng, es gibt gewisse Einkom- das wir hier gewonnen haben. So können sie auf mensunterschiede, wenn ich mir diese Bemerkung Grund ihrer Lebenserfahrung gar nicht sein. erlauben darf. (Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU, der Das gilt, ich betone es noch einmal, vor allem für die F.D.P., der SPD und dem Bündnis 90/DIE Menschen in den alten Bundesländern. Aber das gilt GRÜNEN) natürlich bis zu einem gewissen Grad auch umge- kehrt: So wie die Bundesrepublik heute ist, hat sie sich Wegen der Flut der B riefe, die ich daraufhin jetzt nicht über Nacht entwickelt; das ist vielmehr das bekomme, Ergebnis einer vierzigjährigen Entwicklung. Es wäre (Heiterkeit) schon viel gewonnen, wenn wir uns immer daran erinnerten, daß die neuen Länder in einer ganzen füge ich gleich hinzu, daß ich natürlich auch den Reihe von wichtigen ökonomischen Daten nicht mit Apothekern ihr Einkommen gönne. den Ländern der alten Bundesrepublik im Jahre 1992, Meine Damen und Herren, der Sachverständigen-- sondern in den 50er Jahren zu vergleichen sind. rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht in dem neuen Jahresgutachten Ich sage dennoch, daß ich nicht den geringsten davon aus — ich denke, das müssen wir sehr ernst Zweifel daran habe, daß wir in den neuen Ländern auf nehmen —, daß die westdeutsche Wirtschaft erst in dem richtigen Weg sind, und daß die positiven Ver- der zweiten Hälfte des kommenden Jahres wieder änderungen und Zeichen des Aufbruchs — ungeach- wesentliche Wachstumskräfte entwickeln wird. Das tet aller Schwierigkeiten — unübersehbar sind. Aber alles hat enorme Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, das alles kann nicht verhindern, daß dann, wenn in der auf das Steueraufkommen und auf vieles andere, was Nachbarstadt die Arbeitslosigkeit auf 40 % steigt, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Deswe- Übergangsschwierigkeiten, Sorgen und Nöte in den gen sollten wir jetzt nicht nur feierlich erklären, es sei Vordergrund rücken, von denen die wenigsten der nicht die Zeit der Verteilungskämpfe, sondern diese heute in der alten Bundesrepublik Lebenden eine auch einstellen; alles andere bringt uns nichts. Vorstellung haben. Deswegen sollten wir weniger von Solidarität reden als vielmehr Solidarität leben und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den Landsleuten in den neuen Ländern die notwen- Jetzt geht es darum, Wachstum zu mobilisieren und dige Zeit für die Eingewöhnung geben, Zeit, die ihnen die Konjunktur wieder in Schwung zu bringen. Ohne im Materiellen Sicherheit und Zuversicht für die einen wirtschaftlichen Aufschwung in den alten Län- Zukunft gibt. dern werden wir überhaupt nicht die Mittel haben, um Es gibt — neben anderem — Positives zu berichten. in den neuen Ländern das Notwendige zu tun. Gerade Ich freue mich besonders darüber, daß es schon in die große Aufgabe der Vollendung der inneren Ein- diesem Jahr gelungen ist, denjenigen in den neuen heit in Deutschland fordert jetzt verantwortungsvolles Ländern, die eine Lehrstelle wollten, eine solche zu Handeln. verschaffen, ihnen ein Ausbildungsangebot zu ma- Aber bevor ich etwas zum Materiellen sage, will ich chen. Wir sind in diesem Jahr in den neuen Ländern feststellen: Wichtiger als Geld, Gesetze usw. ist, daß bereits in einer Situation, die wir in der alten Bundes- wir uns bewußt werden, daß die deutsche Teilung in republik erst in den späten 50er Jahren erreicht 40 Jahren tiefere Spuren hinterlassen hat, als viele von hatten, daß nämlich die Zahl der betrieblichen Aus- uns — ausdrücklich sage ich: auch ich — geglaubt bildungsplätze prozentual wesentlich höher ist als die haben. Wir haben uns in nicht wenigen Bereichen der überbetrieblichen, was unserer Vorstellung vom weit auseinandergelebt. Wenn man darüber nach dualen System entspricht. 10482 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Die Bundesregierung setzt das Instrumentarium der doch so gut wie ich, daß die Entwicklung hier sehr aktiven Arbeitsmarktpolitik in einem bisher nie dramatisch gewesen ist. gekannten Ausmaß ein. Es geht darum, diesen Ich hoffe sehr, daß die SPD in den Landtagen der Umstrukturierungsprozeß sozial zu begleiten. Die neuen Länder — auch dort, wo sie in der Landesre- Arbeitsmarktpolitik hat also eine wichtige Brücken- gierung ist — dazu beiträgt, daß man dieses Konzept funktion. Bis zur Schaffung von neuen, dauerhaften gemeinsam vernünftig aushandelt. Es ist mein drin- Arbeitsplätzen sollen Arbeitnehmer Chancen zur gender Wunsch, daß dieses Konzept nicht hier in beruflichen Fortbildung und zur sinnvollen Weiterbil- Bonn, sondern im Gespräch mit den Landesregierun- dung erhalten. Dazu dienen die neuen Bestimmungen gen, mit den Gewerkschaften, mit den Unternehmern im Arbeitsförderungsgesetz, die Zehntausenden von und mit der Treuhand vor Ort entworfen wird. Wenn Arbeitnehmern zugute kommen. Mit unserem Kon- wir schon gesamtdeutsche Entwicklungen haben, so zept „Arbeit statt Arbeitslosigkeit" kann erstmals ist eine davon auf einem bestimmten Gebiet jedenfalls Arbeitslosengeld in Lohnkostenzuschüsse umgewan- auch in den neuen Ländern längst eingetreten: alle delt werden. Verantwortung dort, wo sie unangenehm ist, auf Bonn Ein deutliches Zeichen für bessere Entwicklungen abzuschieben. Das ist eine wirklich gesamtdeutsche im wirtschaftlichen Umfeld ist der kräftige Anstieg der Entwicklung geworden; jeder spürt das. gewerblichen Investitionen. Die Investitionsausga- ben werden 1993 um 20 % zunehmen. Das Konzept Meine Damen und Herren, mit der Entwicklung in setzt auf Investitionen, weil nur auf diesem Weg die den neuen Ländern ist der Abbau von Personal verbunden. Wir erleben, daß der Schrumpfungspro- erforderlichen neuen, wettbewerbsfähigen Arbeits- plätze entstehen können. Die entschlossene Unter- zeß an Grenzen stößt. Deswegen bekenne ich mich zu diesem Konzept, das ich hier soeben angesprochen stützung des Aufbaus zukunftsträchtiger Produktions- stätten ist nach meiner festen Überzeugung der ein- habe. zige wirklich erfolgversprechende Weg zu einem Wir müssen jetzt — das war die Debatte von gestern, modernen Industriestandort Ostdeutschland, und an die ich nicht neu aufnehmen will — zusätzliche Mittel dieser Strategie halten wir fest. für die neuen Länder gewinnen. Das ist der Sinn des Die massive Investitionsförderung, meine Damen von entworfenen föderalen Konsolidie- und Herren, wird fortgesetzt und weiter aufgestockt. rungskonzeptes. Dabei geht es um notwendige Spar- Hier müssen wir vor allem an den industriellen maßnahmen, es geht um Umschichtungen, und es Mittelstand denken. Man muß sich immer wieder geht um die gesamtstaatliche Verantwortung. darüber klar sein, daß zu den schlimmsten Erblasten Ich muß Ihnen ganz offen sagen: Ich verstehe die des SED-Regimes gehört, daß die mittelständischen Kritik, die Sie in diesem Zusammenhang am Finanz- Strukturen, die beim Aufbau der alten Bundesrepu- minister geübt haben, überhaupt nicht, und in einem blik in den frühen 50er Jahren entscheidend dazu Punkt — das ist jetzt eine neue Variante, um ihm zu beigetragen haben, den Aufbau zu schaffen, weitge- schaden — finde ich sie besonders unangemessen. Es hend zerstört worden sind, daß wir heute verglichen wird gesagt: „Der ist doch Parteivorsitzender", als mit den westlichen Bundesländern — in den östlichen stünde irgendwo geschrieben, daß ein Parteivorsit- Bundesländern im besten Fall ein Viertel der mittel- zender nicht Finanzminister sein darf. Meine Damen ständischen Existenzen haben; in manchen Fällen ist und Herren, wenn wir dieses Kriterium an die deut- die Zahl noch sehr viel geringer. Deshalb wollen wir sche Politik in den letzten 40 Jahren angelegt hätten, zusätzlich zu den bisherigen umfangreichen Hilfen hätten viele Personalentscheidungen anders ge troffen Sonderinvestitionszulagen schaffen. werden müssen. Wir sollten das seinlassen. Theo Wir werden darüber hinaus — da haben wir dazu- Waigel macht eine gute Arbeit. Er verdient unser gelernt, das ist wahr; ich habe kein Problem, das klar Vertrauen. und deutlich auszusprechen — in Gesprächen mit der (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — Treuhand, mit den Landesregierungen, mit Arbeitge- Beifall bei der F.D.P. — Widerspruch bei der bern und Gewerkschaften dafür Sorge tragen, daß das SPD) — das Wort gefällt mir zwar nicht, aber es wird jetzt häufig gebraucht —, was man industrielle Kerne Die Kollegen von der SPD können ihre Ritualübun- nennt, in den neuen Ländern erhalten bleibt. gen mit jeweiligen Rücktrittsaufforderungen ruhig fortsetzen. Meine Damen und Herren, ich war in (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der diesem Haus sieben Jahre Oppositionsführer und SPD und dem Bündnis 90/DIE GRÜNEN — erinnere mich, wie oft wir eine Erklärung oder eine Zurufe von der SPD) Entscheidung der damaligen Bundesregierung mit — Ich weiß nicht, warum Sie unruhig sind; das ist eine der Formel aufgenommen haben: „Die CDU/CSU vernünftige Entwicklung. Die Entwicklung wäre lehnt diesen Vorschlag mit Abscheu und Empörung natürlich anders verlaufen — aber das haben Sie ab! " — So machen Sie es auch; aber Sie können es sich sowenig gewußt wie ich , wenn die Sowjetunion sparen, es bringt überhaupt nichts. Niemand in die- noch existierte, wenn Michail Gorbatschow noch im sem Land liest es. Und wenn es doch jemand tut, denkt Amt wäre und seine Zusage über einen Warenaus- er: Die haben alle nichts dazugelernt. Das ist doch die tausch im Umfang von 25 Milliarden DM für 1991/92 Erfahrung! hätte einhalten können. Dann wäre es eben möglich, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) daß eine der führenden Waggonfabriken Europas, die ihren Sitz in den neuen Ländern hat, ihre Produkte auf Da ich vom Sparen gesprochen habe, möchte ich Sie der alten Spur wie bisher dorthin liefert. Sie wissen darauf hinweisen, daß das für uns keine Verbalübung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10483

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl ist; um die Mittel für die neuen Länder zu gewinnen, Wir haben allein auf Grund der Entscheidung des müssen wir jetzt tatsächlich das Sparen in die Praxis Bundesverfassungsgerichts für das Saarland und für umsetzen. Bremen Sonderregelungen zu treffen, und die sind Im übrigen ist ein weiterer Beweis für meine These, eben nur zu treffen, wenn wir gemeinschaftlich mit- daß die wahren Probleme in Deutschland nicht primär einander wirken. Angesichts der drastisch verringer- Probleme im Zusammenhang mit der deutschen Ein- ten Verteilungsspielräume müssen wir über die Prio- heit sind, die Tatsache, daß es in anderen Ländern, die ritäten einig werden. Jeder muß beim Solidarpakt diese Probleme nicht haben, genauso ist. Was seinen Beitrag leisten. geschieht denn gegenwärtig in Italien, in den Nieder- Ich nenne ein paar Kernfragen, die hier anstehen. landen? Das sind vergleichbare Länder, in denen Das ernüchternde Ergebnis von 40 Jahren SED- übrigens, wenn ich recht unterrichtet bin, ein Partei- Wirtschaft ist ein Schuldenberg in der Größenord- vorsitzender der Sozialisten Finanzminister ist, und nung von 400 Milliarden DM. Er besteht aus dem zwar ein ganz besonders qualifizierter. Das möchte ich Defizit der Treuhandanstalt und den Schulden des bei dieser Gelegenheit gern sagen. Die niederländi- Kreditabwicklungsfonds. Wir wollen dafür 1995 einen sche Regierung hat zum zehnten Amtsjubiläum mei- Erblastfonds einrichten. Warum wir ihn so nennen? nes Kollegen und Freunden Ruud Lubbers dazu ein- Weil doch die falschen Propheten schon überall im geladen, mit den Gewerkschaften ein Gespräch über Land unterwegs sind, meine Damen und Herren. Ich Lohnstopp zu führen, meine Damen und Herren. So weiß doch, wer in Instituten und sonstwo schon feierte man dort diesen Jahrestag! unterwegs ist — ein Prachtexemplar hat doch vorhin (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und hier schon gesprochen —, der F.D.P.) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

In Frankreich — allein das zu nennen, bringt einem um dann im Jahre 1994 oder 1995 zu sagen: Das sind den Vorwurf des brutalen Eingriffs in die Tarifautono- nicht die Schulden von Herrn Honecker und von mie ein — folgt die Lohnerhöhung im öffentlichen Herrn Ulbricht, nein, das sind die Schulden von Theo Dienst der sehr niedrigen Preissteigerungsrate von Waigel und Helmut Kohl. derzeit 2,7 %. (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke In Schweden — einem Land, das jahrelang, jahrzen- Liste) telang als beispielhaft in allen Bereichen vorgestellt wurde — hat die Regierung mit der sozialdemokrati- — Sie sehen, es ist wie bei den Pawlowschen Versu- schen Opposition gleich zwei drastische Einsparpa- chen; kete vereinbart. Herr Kollege Klose, da Sie früher (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der F.D.P., der — das waren noch andere Zeiten — oft und gern nach SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schweden gefahren sind, um dort Erfahrungen zu gewinnen: Fahren Sie doch einmal mit dem Fraktions- die Reaktion kommt sofort. vorstand hin und lassen sich dort darüber beraten, was Jeder in Deutschland muß wissen, worum es geht. man gemeinsam machen könnte. Jeder muß wissen, daß dieses System b ankrott war (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und und daß man der Welt vorgegaukelt hat — leider der F.D.P.) haben es zu viele geglaubt —, als habe m an es hier mit einer der großen Industrienationen zu tun gehabt. Meine Damen und Herren, ungeachtet der Gefahr, daß ich jetzt wieder gescholten werde, ich redete in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Tarifautonomie hinein — ich will das überhaupt Das heißt: Wir müssen jährlich mindestens 40 Milli- nicht —, muß doch der Satz gelten, daß bei einem arden DM für diese Erblast aufbringen. Und ich frage: Gespräch über Gemeinsamkeit und Deutschlands Warum sollen wir das nicht so nennen? Warum sollen Zukunft, über einen Solidarpakt auch Arbeitgeber wir die Zahlung dieser Mittel nicht strecken? Sind wir und Arbeitnehmer, Gewerkschaften und Unterneh- uns eigentlich darüber im klaren, was in den frühen mer ihre Verantwortung haben und daß gemeinsames 50er Jahren in einer vorbildlichen Arbeit der Demo- Handeln notwendig ist. kraten mit Blick auf die Konsequenzen aus der Nazi- Die SPD hat auf ihrem Parteitag vor ein paar Tagen barbarei in den Wiedergutmachungsvereinbarungen erklärt — ich zitiere hoffentlich korrekt —: geleistet wurde? Wir zahlen jetzt noch dafür und stoßen gerade an die 100-Milliarden-Grenze. ... im Rahmen einer Gemeinschaftsinitiative ein umfassendes Paket zur konjunkturgerechten Damals haben Adenauer, Ollenhauer, Carlo Konsolidierung der Staatsfinanzen und zur Stär- Schmid und andere gesagt: Das ist eine so gewaltige kung der wirtschaftlichen Entwicklung mitzutra- Aufgabe; die müssen wir etwas strecken. — Ich kann gen. eigentlich nicht erkennen, warum wir nicht das glei- che auch hier angesichts dieser einmaligen Heraus- Ich lade Sie ausdrücklich dazu ein, das gemeinsam forderung sagen sollten. mit uns zu gestalten. Ob das dann ein Mittragen wird, ist eine noch offene Frage. Ich sage auch noch einmal, (Zustimmung bei der CDU/CSU) ich will nicht die Verantwortlichkeiten verwischen; Ab 1995 werden die neuen Bundesländer in den ich will keine Überkoalition. Wir haben eine gut Finanzausgleich einbezogen. Wir dürfen doch funktionierende Koalition: die braucht keinen Ersatz. — wenn ich die Verschuldungsentwicklung in den Aber wir brauchen eine Mithilfe; denn es geht ja auch neuen Ländern sehe — diese nicht in kurzer Zeit in um die Länderhaushalte. eine Lage bringen, daß sie für ihre zukünftige Ent- 10484 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl wicklung keinerlei landespolitische Handlungsspiel- Sie werden genau erfahren, was auf uns, auf den räume mehr haben. Dies wäre kein wirklicher Föde- einzelnen Bürger zukommt. ralismus, sondern ein Föderalismus, der am Bonner (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und warum Tropf hinge. Das kann auf die Dauer doch keine nicht heute, in der Haushaltsdebatte?) gesunde Struktur für die neuen Länder sein. — Aber, verehrte Frau Kollegin, wir stehen mitten in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den Gesprächen mit den Ländern. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie wären Finanzminister — das ist ja eine Meine Damen und Herren, wir müssen also ein- Vorstellung, die Sie sicherlich haben; schneidende Sparmaßnahmen, Umschichtungen, den Abbau von Steuersubventionen, Finanzhilfen und die (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der Anpassung im Bereich von Sozialleistungen vorneh- F.D.P.) men. Ohne diese Maßnahmen ist das, was ich soeben dagegen ist auch gar nichts zu sagen — und einer von gesagt habe, nicht zu leisten. Ohne diese Maßnahmen uns würde Ihnen in einem Zeitpunkt, in dem Sie als werden wir auch die ab 1995 anstehende jährliche Finanzminister mitten in Gesprächen mit den Landes- Belastung von möglicherweise 90 bis 100 Milliarden finanzministern sind — Sie wissen ja, wie es da zugeht; DM aus Erblast und Finanzausgleich der Länder nicht es geht um Geben und Nehmen, niemand will was bewältigen können. rausrücken —, hier im Saal sagen: Aber Sie müssen Was jetzt nottut, ist, daß diese Entscheidungen bald heute sagen, wie Sie in die Verhandlungen hineinge- getroffen werden. Ich lege mich jetzt nicht auf einen hen! — Was würden Sie dann sagen? Wie ich Sie Tag oder eine Woche fest, aber unter „bald" verstehe kenne, wären Sie viel unfreundlicher als ich jetzt im ich, daß möglichst viel vor Weihnachten geregelt wird. Augenblick. Was das angeht, was im Bund-Länder-Verhältnis (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und besprochen werden muß — da sind wir ja nicht allein der F.D.P) Herr des Verfahrens —, so sollte das nicht über den Januar hinausgeschoben, sondern so früh wie möglich Natürlich ist das, worum es jetzt geht, auch abhän- abgeschlossen werden. Aus meinem Gespräch mit gig vom Ergebnis der Verhandlungen mit den Län- dem Kollegen Engholm in diesen Tagen und mit dern. Wissen Sie eigentlich genau, Frau Kollegin, ob anderen habe ich den Eindruck gewonnen, daß das nicht die Länder dann zum Bund kommen und sagen: eine Sicht ist, die nicht nur von mir, sondern auch von Können wir nicht auch ein bissel was an Steuererhö- anderen Verantwortlichen geteilt wird. Wir brauchen hungen machen, die unseren Kassen zugute kom- gerade in dieser schwierigen Wirtschaftslage bere- men? Das ist doch, wie jeder erkennen kann, der chenbare Daten für die deutsche Wirtschaft, Zusammenhang. Es ist doch die normalste Sache der Welt, daß man erst miteinander spricht und dann zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ergebnissen zu kommen versucht. berechenbare Daten über das, was an Belastungen auf Bei dem Gerede, das man hier und da hört und von die Bürger zukommt und was an Belastungen für die dem man liest, erscheint mir etwas anderes in diesem Wirtschaft zu erwarten ist. Zusammenhang viel wichtiger, nämlich einmal zu sagen, daß die deutsche Volkswirtschaft jährlich mehr Vorhin ist kritisiert worden, daß ich — als sei das ein als 3 000 Milliarden DM erwirtschaftet. Daß ange- Konjunkturhemmnis — auf dem letzten Parteitag der sichts einer solchen Leistungskraft das, was auf uns CDU mit Zustimmung des Parteitages mit Blick auf zukommt, nicht zu leisten sein soll, verstehe ich den Erblastfonds erklärt habe: Um die über 40 Milli- überhaupt nicht. arden DM jährlich an Zins und Tilgung tragen zu (Beifall bei der CDU/CSU) können, müssen wir ab 1995 die Steuern erhöhen. — Ja, meine Damen und Herren, Sie haben doch immer Wir sollten klar und deutlich sagen: Die deutsche gesagt, ich solle den Menschen ehrlich sagen, wie die Volkswirtschaft, vor allem eine flottgemachte deut- Lage sei, und wir haben es gesagt. sche Volkswirtschaft, die in der Lage ist, auch welt- wirtschaftlich ihren Part zu spielen, ist sehr wohl in der (Zuruf von der SPD: Aber zu spät!) Lage, den auf sie zukommenden Herausforderungen gerecht zu werden. — Entschuldigung, Ihr Rezept ist doch, daß Sie schon jetzt die Steuern erhöhen wollen. Unser Rezept ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eben, das in dieser Phase der Rezession nicht zu tun; Meine Damen und Herren, wenn ich über den denn es wäre Gift für die Konjunktur, jetzt steuerliche Solidarpakt spreche, muß ich ein Wort zum Beitrag der Belastungen vorzunehmen. Tarifpartner sagen. Der Beitrag kann darin bestehen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß die Tarife den veränderten Bedingungen, der schwierigen Situation in den jeweiligen Branchen und Damit es klar ausgesprochen ist: Ich werde der Regionen angeglichen werden. Dabei ist eines für Koalition vorschlagen, die Entscheidung über Steuer- mich ganz klar, und das kann ich gar nicht oft genug erhöhungen — auch über die Größenordnung — sagen: Unser Interesse — erlauben Sie mir, das jetzt ebenfalls in den ersten Wochen und Monaten des auch als Parteivorsitzender zu sagen — besteht nicht neuen Jahres zu treffen und sie dann in das Gesetz- darin, die Position der Gewerkschaften zu schwächen. gebungsverfahren einzubringen. Sie sollen nicht die Es ist im staatspolitischen Interesse dieser Republik in Möglichkeit haben, durchs Land zu ziehen und zu höchstem Maße erwünscht, daß die Gewerkschaften behaupten: Die sagen ja gar nicht, was wirklich ist. — starke Gewerkschaften sind und wirkliche Sprecher Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10485

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl ihrer Mitglieder. Wenn Sie sehen, daß auch Gewerk- den —, daß die europäische Politik stärker denn je schaften einen erheblichen Mitgliederschwund ha- gefordert ist. Europa ist heute genauso wie in den ben, dann sehen Sie auch erhebliche Veränderungen. vergangenen Jahren — in einer anderen Weise, aber Deshalb möchte ich, daß wir in vernünftigen Gesprä- genauso — auf das enge Zusammenwirken mit den chen zu vernünftigen Ergebnissen kommen. Vereinigten Staaten angewiesen. Die deutschameri- kanische Freundschaft ist eine wesentliche Voraus- Aber es ist doch einfach überfällig — da wir ja die setzung für die Zukunft Deutschlands in Frieden und Mitbestimmung haben, sind viele der Verantwortli- Freiheit. Wir wollen dieses enge Zusammenwirken. chen in den Aufsichtsräten und kennen die Daten in Ich will es auch mit dem neugewählten Präsidenten den einzelnen Unternehmen besser als wir —, und es der Vereinigten Staaten. In unserem ersten Telefonat ist doch in höchstem Maße erwünscht, daß wir jetzt haben wir darüber gesprochen. Ich denke, wir werden einmal fragen: Was für Konsequenzen ziehen wir im bald nach seiner Amtseinführung ein Treffen haben. Metallbereich angesichts der Situation bei Stahl, Es geht ja darum, die Linie, die sich bewährt hat, angesichts der Situation in der Autoproduktion? Wir konsequent fortzusetzen. können doch nicht so tun, als sei dies alles nicht so gewesen. Das gilt noch mehr für die Entwicklung der Meine Damen und Herren, wir haben heute aber neuen Länder. auch allen Grund, dem in ein paar Wochen aus dem Aber ich denke, das gilt auch für die Wirtschaft. Ich Amt scheidenden Präsidenten George Bush zu dan- erwarte, daß sich die deutsche Wirtschaft zu einer ken. mehrjährigen Ausbildungsgarantie für junge Leute in (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der den neuen Ländern bereit findet. Ich glaube, daß kann SPD) man abfordern. Wir haben das in den frühen 80er Jahren fertiggebracht. Das muß auch heute möglich Er hat uns in einer schwierigen Zeit — der Kollege sein. Genscher weiß das aus vielen Besprechungen in den Ich hoffe auch, daß wir verstärkte Anstrengungen Zwei-plus-Vier-Verhandlungen; ich sage das, ohne erleben, daß westdeutsche Großunternehmen einen anderen zu nahe zu treten — mehr geholfen als viele größeren Teil ihrer Lieferungen aus den neuen Bun- andere. Er hat aus seiner Freiheitsidee heraus zu desländern beziehen und daß sie sich dazu verpflich- keinem Zeitpunkt gezögert, die Deutschen zu unter- ten — so daß das nicht eine vage Ankündigung ist und stützen. sie in einer konkreten Situation nicht nur Vorteilsre- Wir vertrauen darauf, daß auch die künftige ameri- geln wahrnehmen —, hier bewußt aus gesamtstaatli- kanische Regierung — beim Präsidenten bin ich ganz cher, aus patriotischer Gesinnung ihre Aufträge ent- sicher — und der Kongreß an dieser Politik festhalten. sprechend zu plazieren. Zu dieser Politik gehört auch eine substantielle Prä- Das gilt aber auch für die öffentliche Hand. Ich bin senz amerikanischer Soldaten in Europa. Sie sind uns nicht sicher, daß alle Bundesbehörden, Landesbehör- in Deutschland herzlich willkommen, und sie sollen den und Kommunalbehörden die Notwendigkeit- bleiben. eines solchen Denkens schon begriffen haben. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, daß sie es begrei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) fen. Das atlantische Bündnis bleibt Sicherheitsanker für (Beifall bei der CDU/CSU) ganz Europa. Es wird diese Funktion aber nur dann ausüben können, wenn wir uns auf die neuen Gege- Mit einem Wort, meine Damen und Herren: Es geht benheiten einrichten. Die Bereitschaft der Allianz, im uns, es geht mir darum, daß wir in diesen nächsten Rahmen der KSZE auf Ersuchen der Vereinten Natio- Wochen, in wenigen Monaten mit Blick auf den nen zur Erhaltung des Friedens in Europa beizutra- Solidarpakt zu einem Gesamtpaket kommen, indem gen, ist dazu ein wichtiger Schritt. Wir, die Deutschen, die einzelnen ihren Beitrag leisten, indem wir im dürfen bei der Durchführung dieser neuen Aufgaben besten Sinne des Wortes „Neues Denken" praktizie- von NATO und WEU nicht abseits stehen. ren, indem althergebrachte Gewohnheiten nicht fort- geschrieben werden, sondern indem wir den Standort Nicht zuletzt die Probleme im Hinblick auf die Deutschland unter besonderer Berücksichtigung auch deutsche Beteiligung am UN-Embargo gegen Ser- der neuen Länder und unserer Landsleute in den bien-Montenegro haben deutlich gemacht, daß die neuen Ländern für die Zukunft einrichten. grundsätzliche Klärung, Herr Abgeordneter Klose, der deutschen Position in dieser Frage überfällig ist. Aber in dieses Bild Deutschlands gehört, daß wir Wir können nicht unsere Freude über die wiederge- endlich damit aufhören, eine Nabelschau zu be treiben und uns kaum mehr um die Welt um uns herum zu wonnene deutsche Einheit zum Ausdruck bringen kümmern. Das Schicksal unseres Landes — der Satz und gleichzeitig nicht davon sprechen — andere sprechen noch viel mehr davon —, daß Deutschland ist genau so richtig wir früher — wird auch in Zukunft jetzt eine andere entscheidend von der Außen- und Sicherheitspolitik Funktion in der Welt wahrzunehmen bestimmt. In dieser gewaltig veränderten Welt kön- hat — nicht in dem Sinne „Wir sind wieder wer", sondern ganz einfach deshalb, weil wir auf Grund nen wir nicht die bisherige Politik einfach fortschrei- unserer politischen, geographischen und ökonomi- ben. Wir bauen gemeinsam mit unseren Partnern den schen Lage diese Verantwortung zu tragen haben. Wir Weg in die Zukunft. können uns, wenn die Unwetter der Geschichte her- Das heißt vor allem — ich sage dies, obwohl wir in einbrechen, nicht abwenden und sagen: Das geht uns der nächsten Woche die große Debatte haben wer nichts an. 10486 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Als Mitglied der Vereinten Nationen dürfen wir wer es war, der im Sommer 1989 den Eisernen nicht nur unsere Rechte, sondern müssen wir auch Vorhang öffnete und unsere Landsleute freiließ. unsere Pflichten wahrnehmen. Deswegen muß das, (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der was jetzt ansteht, geklärt werden. Ich halte einen SPD) deutschen Sonderweg auch in diesen Fragen für völlig inakzeptabel. Der Besuch der polnischen Ministerpräsidentin hat gezeigt, daß wir in den vergangenen zwei Jahren Gott (Dr. [CDU/CSU]: Sehr rich sei Dank beachtliche Fortschritte im Verhältnis zu tig!) Polen erreicht haben, daß wir die intensiven Bezie- Deswegen sage ich Ihnen auch, Herr Kollege Klose, hungen fortsetzen wollen, daß wir vor allem — was daß der Beschluß Ihres Parteitags — das wissen Sie ganz wichtig ist, auch für die neuen Länder — selbst am allerbesten — in dieser Form nicht ausrei- grenzüberschreitend zwischen Polen und den ande- chend ist. Ich habe sehr viel Sinn dafür, daß Sie auf ren Nachbarländern der Bundesrepublik eine sehr dem Parteitag andere Probleme hatten und daß die intensive regionale Zusammenarbeit aufbauen wol- Diskussion hierüber deshalb zu kurz gekommen ist. len. Aber wenn Sie es mir schon nicht glauben — ich darf Ich will in diesem Zusammenhang hinzufügen: Im dies hier einmal so sagen —, dann sollten Sie es Ihrem Verhältnis zu Polen ist dabei immer auch die Lage der verstorbenen Ehrenvorsitzenden glau- deutschen Minderheit ein wichtiger Gradmesser. ben, der zu dieser Frage in den letzten Monaten eine Dabei müssen wir aber darauf achten, daß die erreich- Position bezogen und das auch öffentlich immer ten Fortschritte durch altes Mißtrauen und neue wieder geäußert hatte, die jedenfalls mehr der Posi- Mißverständnisse im Verhältnis der deutschen Min- tion der Bundesregierung als der Position entspricht, derheit zu den Polen nicht wieder in Frage gestellt die Sie auf dem Parteitag zum Ausdruck gebracht werden. haben. Nachdem die Entwicklung in der CSFR jetzt so Meine Damen und Herren, wir dürfen uns nicht mit verlaufen ist, wie sie verlaufen ist — das ist eine halbherzigen Lösungen ins Abseits begeben. Wenn Entscheidung, die Slowaken und Tschechen zu treffen wir im Westen Europas — um auch das noch zu hatten —, wollen wir alles tun, meine Damen und sagen — auf Dauer Frieden und Freiheit erhalten Herren, daß auch in der Nachfolge die neu aufgebau- wollen, dann gehört dazu auch, daß wir als Europäer ten guten Beziehungen fortbestehen. Wir gehen unseren Beitrag zu der Verbesserung der sozialen und davon aus, daß der deutsch - tschechoslowakische der politischen Verhältnisse in Mittel - , Ost - und Vertrag auch im Verhältnis zu den beiden Nachfolge- Südosteuropa leisten. republiken der CSFR gelten wird. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wohl Meine Damen und Herren, ein Kernelement deut- wahr!) scher Politik ist natürlich die Entwicklung der Bezie- Ich beklage — das sage ich ausdrücklich —,- daß viele hungen zu Rußland. Die Beziehungen zwischen Deut- in Europa immer noch nicht beg riffen haben, daß schen und Russen habe eine grundlegende Bedeu- Europa nicht an Oder und Neiße endet, tung für Europa. Dieser Bedeutung entspricht es, daß wir Rußland und den anderen Republiken der ehema- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ligen Sowjetunion Hilfe und Unterstützung in großem daß nicht nur im Blick auf die Erweiterung der Umfang gewährt haben. Angesichts der jetzt stattfin- künftigen Europäischen Union die Oder-Grenze nie- denden Reise des Finanzministers und auch meiner mals die Ostgrenze der Europäischen Union werden eigenen Reise muß ich aber ebenso klar sagen: Die darf. Die Völker, die vor kurzem neu ihre Freiheit Bundesrepublik Deutschland ist auch in dieser Frage gewonnen haben, die jetzt den Weg der parlamenta- an der Grenze ihres Leistungsvermögens angelangt. rischen Demokratie, des Pluralismus gehen, brauchen Wir wollen Präsident Jelzin und seinen Reformkurs unsere Unterstützung. stützen, und wir wollen vor allem auch bei dieser So, wie wir aufgerufen sind, im eigenen Land zu „Rückkehr nach Europa" helfen. Für unser Verhältnis helfen, sind wir auch aufgerufen, denen zu helfen, die ist dabei die Frage nach der Zukunft der Rußlanddeut- jetzt viel größere Schwierigkeiten als wir haben und schen wichtig. Das ist ein Punkt, an dem wir endlich die im übrigen unsere Klagen schwer verständlich weiterkommen müssen. finden. Jeder meiner Amtskollegen oder- kolleginnen Zu den bedrückenden Kapiteln gehört die Lage im aus diesen Ländern, der zu mir kommt, hört mir bei ehemaligen Jugoslawien. Wir sind Zeugen, wie dort diesem Thema zwar höflich zu, hat aber, gemessen an Menschen vor den Augen der Weltöffentlichkeit den Sorgen im eigenen Land, nur sehr bedingt Ver- ermordet oder vertrieben werden. Wir wissen, daß ständnis für unsere Sorgen. Ich denke hierbei vor hier vor allem die serbische Seite die Verantwortung allem an die unmittelbaren Nachbarn. trägt. Wir sehen bisher keine Zeichen, keine wirkli- Wir haben ein geschichtlich besonders belastetes chen Zeichen guten Willens. Die Sanktionen und die Verhältnis zu Polen. Wir haben gemeinsam versucht, Isolierung von Serbien/Montenegro müssen deshalb das, wie bei der CSFR, durch Nachbarschaftsverträge in Kraft bleiben. Das wird mein Hauptgesprächsthema mit Blick auf eine gute Zukunft in Ordnung zu bei dem morgigen Besuch des Ministerpräsidenten bringen. Panie sein. Das Verhältnis zu Ungarn war immer frei von Meine Damen und Herren, deutsche und europäi- historischen Belastungen. Wir wollen nie vergessen, sche Haltung müssen eindeutig sein. Das Verhältnis Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10487

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Europas zu Serbien/Montenegro mißt sich vor allem einem realistischen Optimismus. In diesem Sinne an der Bereitschaft Serbien/Montenegros zu territo- bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zu dieser Politik. rialen Rückzug, zur Wiedergutmachung und zu einer (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU, friedlichen Lösung des blutigen Konflikts. Solange anhaltender Beifall bei der F.D.P.) eine politische Lösung aussteht — auch das gehört zu dem, was wir zu leisten haben —, ist es ein oberstes humanitäres Gebot, den Menschen in Not zu helfen. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Ingrid Die EG und ihre Mitglieder haben wichtige Verant- Matthäus-Maier, Sie haben das Wort. wortung übernommen, und wir Deutschen — das sage ich, wenn ich an den Beitrag denke, den wir aus guten (Zuruf von der CDU/CSU: Wo sind die roten Gründen, zu denen ich stehe, geleistet haben — Rosen?) brauchen uns nicht zu verstecken.

Meine Damen und Herren, für uns Deutsche ist bei Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Präsident! alledem, was ich hier sage, die Frage der europäi- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bun- schen Integration die Schicksalsfrage. Der Kollege deskanzler, Sie haben mehrere Politikbereiche ange- Schäuble sprach soeben von der geograpisch-geopo- sprochen, in denen wir uns in diesem Bundestag um litischen Lage unseres Landes. Wir sind mehr als alle gemeinsame vernünftige Lösungen bemühen sollten. anderen von unseren Nachbarn abhängig. Alles, was Dem stimme ich ausdrücklich zu. in Deutschland geschieht — das spürt man ja bei dem Das gibt mir Gelegenheit, die Öffentlichkeit viel- negativen Bild, das gegenwärtig ins Ausland hinein leicht einmal auf folgendes hinzuweisen: Mehr als transportiert wird —, reflektiert sich dort in einer 70 % der Gesetze werden in diesem Deutschen Bun- besonderen Weise. Unsere Geschichte steht jeden destag einvernehmlich verabschiedet. Das heißt: Es Tag neu vor uns. gibt in den meisten Fällen Übereinstimmung und Deswegen ist es nicht gleichgültig, welchen Weg gemeinsames erfolgreiches Ringen. Europa geht, ob wir als Deutsche uns unwiderruflich Aber darüber dürfen wir nicht vergessen, daß es auf den politisch-wirtschaftlichen Zusammenschluß natürlich einen Teilbereich gibt, über den wir streiten. festlegen oder ob wir in eine nationale bis nationali- Daß wir in diesem Parlament mehr streiten, als die stische Rivalitätssituation zurückfallen. Die alten 70 % gemeinsam verabschiedeter Gesetze nach Gespenster in Europa sind überall noch präsent. außen zeigen, ist auch deswegen wichtig, weil sich an Niemand soll glauben, daß jetzt das Paradies auf diesen 20 % bis 30 % oft auch zeigt: Wo steht die eine Erden angebrochen ist. Partei, wo steht die andere, und was sind Unterschiede zwischen ihnen? Darauf komme ich gleich noch zu Die Kernfrage der jetzigen Diskussion — neben sprechen. allen wichtigen Details in der Europapolitik und in Aber lassen Sie mich nun zwei Punkte aufgreifen, in bezug auf den Vertrag von Maastricht — ist, ob wir auf - denen, wie ich finde, gemeinsames Handeln dringend Dauer Freiheit, Frieden und Wohlfahrt für die Völker erforderlich ist: Europas garantieren können. Erstens. Herr Bundeskanzler, Sie haben wenig zu Wenn wir jetzt nicht die Europäische Union schaf- dem dringend notwendigen Konzept der Zuwande- fen, versagen wir vor der Zukunft, und wir verspielen rung gesagt. Wir wollen doch gemeinsam bald zu die Zukunft. Deswegen stehen die Bundesregierung einem Ergebnis kommen. und — dafür bin ich dankbar — die große Mehrheit in (Beifall bei Abgeordneten der SPD) diesem Haus zum Vertrag von Maastricht. Aber wenn es so ist, daß wir gemeinsam handeln Ich sage noch einmal: Dies ist eine Politik, die alle wollen, dann ist es in unser aller Interesse, daß dieser meine Amtsvorgänger in dieser Richtung vorange- Wille zum gemeinsamen Handeln über Parteigrenzen bracht und getragen haben. Sie entspricht dem Auf- hinweg nicht durch einige Scharfmacher aus Ihren trag unseres Grundgesetzes, als gleichberechtigtes Reihen oder durch das gefährliche Gerede über einen Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der angeblichen Staatsnotstand durch Asylbewerber zer- Welt zu dienen. stört wird. (Beifall bei der SPD) Das ist die Vollendung einer Vision — es wird j a oft gefragt: Habt ihr eigentlich noch Visionen? —, die Wir werden das Vertrauen in die Handlungsfähig- viele von uns, die hier im Saal sitzen, als ganz junge keit der demokratischen Parteien nur dann zurückge- Menschen gleich nach dem Kriege hatten und die die winnen, wenn wir bis Ende des Jahres zu gemeinsa- großen Gründergestalten wie Robert Schuman oder men Vorschlägen zu einem Gesamtkonzept für die Paul Henri Spaak, Alcide De Gaspe ri oder Konrad Begrenzung der Zuwanderung kommen. Art. 16 ist Adenauer uns damals vorstellten. Was man als Visio- dazu nur ein Mosaikstein. nen betrachtete, war in Wahrheit der wirkliche Rea- (Beifall bei der SPD — Siegf ried Hornung lismus. Es waren Männer und Frauen, die weit über [CDU/CSU]: Das hätten Sie längst schon tun den Tag hinaus schauten und die etwas auf den Weg können!) brachten, das wir heute vollenden müssen. Zweitens. Ich darf die ruhige Atmosphäre, die Auch mit Blick auf diese Erfahrung der letzten entstanden ist, nutzen, um noch einiges zu dem 40 Jahre bei der Einigung Europas, beim Werden des Kriminalitätsproblem zu sagen, das Sie, Herr Bundes- neuen Europa haben wir, denke ich, allen Grund zu kanzler, angesprochen haben. Auch hier erwarten die 10488 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Ingrid Matthäus-Maier Menschen, glaube ich, daß wir mehr gemeinsam Jetzt frage ich Sie, Herr Bundeskanzler, da Sie so oft handeln, um sie zu schützen. den Hamburger Bürgermeister zitieren — ich nehme diesmal nicht den ehemaligen, Klose, sondern den Drei Dinge will ich nennen. Das erste ist — ich jetzigen, Voscherau —: Warum können wir uns nicht glaube, Sie sprachen darüber —, die Einstellung zu gemeinsam auf ein Konzept einigen, das den Drogen- unseren Sicherheitskräften. Sie zeigt sich auch daran, süchtigen hilft und das uns hilft, die Beschaffungskri- wie wir sie bezeichnen. Ich muß Ihnen sagen: Daß in minalität zurückzudrängen? Teilen dieser Gesellschaft Polizisten nur noch „Bul- len" heißen, halte ich für einen Skandal. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was Sie da sagen, glauben Sie doch selber nicht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Michael Glos [CDU/CSU]: Bisher diskutieren wir in den fast schon ideologischen Auf welcher Seite denn? Wer hat denn das Alternativen „Drogenfreigabe ja" oder „Drogenfrei- angefangen?) gabe nein" . Warum kann man nicht einen vernünfti- gen Mittelweg wählen? Ich will keine generelle Dro- — Ich darf Sie bitten, mir auch in dem zweiten Punkt genfreigabe mit dem Ergebnis, daß nachmittags oder zuzustimmen: vormittags in der Pause die Dealer auf den Schulhof Noch immer nicht haben wir das Gewinnaufspü- kommen und meinen Kindern das anbieten. rungsgesetz gemeinsam verabschiedet, das endlich Aber warum können wir nicht sagen: Diejenigen, Geldwäschern das Handwerk legen soll. Geldwäscher die krank sind, die süchtig sind und die kriminell sind der Dreh- und Angelpunkt, warum die Drogen- werden, weil sie sich das beschaffen müssen, was sie mafia überhaupt existieren kann. Der Grund, warum brauchen, bekommen vom Arzt kontrolliert täglich die wir im Deutschen Bundestag in den Ausschüssen nicht Ration im Krankenhaus, beim Arzt, die sie brau- zusammenkommen, Herr Bundeskanzler, ist, chen? (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Eure Halb (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Muß man herzigkeit!) dem so entgegenkommen? Das ist ja ein daß Sie nach wie vor auf Schwellenwerten für die Witz!) Gewinnaufspürung bei den Kreditinstituten bestehen, Das drängt die Beschaffungskriminalität mit Sicher- die z. B. viel höher sind als in Amerika. heit zurück und trocknet die Drogenmafia aus. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Siegfried Hornung Da drängt sich schon der Eindruck auf, daß Ihnen das [CDU/CSU]: Das grenzt an Schizophrenie!) Bankgeheimnis vielleicht doch wichtiger ist als der Herr Bundeskanzler, allgemeine Ausführungen Schutz unserer Kinder vor Drogenkriminellen und über Gemeinsamkeit bei der Kriminalitätsbekämp- Drogenhändlern. fung zu machen ist gut, aber gemeinsam mit uns im - (Beifall bei der SPD — Siegfried Hornung Deutschen Bundestag zu handeln ist das andere, und [CDU/CSU]: Unsinn!) dazu fordere ich Sie auf. Wenn das nicht der Fall ist, gehen Sie auf unsere (Beifall bei der SPD) Vorschläge, was die Grenzen angeht, endlich ein, Der nächste Punkt: Ich finde, Sie haben heute die damit dieses Gesetz als ein wichtiger Beitrag zur Chance nicht ausreichend genutzt — es gab nur Kriminalitätsbekämpfung vor Weihnachten verab- Andeutungen —, uns endlich zu sagen, was in diesem schiedet werden kann! Solidarpakt wirklich konkret stehen soll. In diesen (Beifall bei der SPD) Tagen stand in der „Fr ankfurter Allgemeinen Zei- tung": „Kohl fordert weitere Hilfen für Ostdeutsch- Ein letztes: Wir müssen dann auch — Herr Bundes- land. " Herr Kohl, Sie mißverstehen Ihre Rolle. Vor kanzler, ich spreche Sie ganz persönlich an, weil Sie lauter Aussitzen haben Sie vergessen: Sie sind die viele Minuten darauf verwendet haben — zu unkon- Bundesregierung; Sie können nicht fordern, Sie müs- ventionellen gemeinsamen Lösungen kommen. Ich sen handeln; und die Menschen warten darauf. glaube, das ist möglich. Sie sprachen über die enorme Zunahme der Alltagskriminalität: Kraftfahrzeugdieb- (Beifall bei der SPD) stähle, Einbruchdiebstähle, Handtaschenraub und Es ist ganz sicher unser gemeinsamer Wille, die ähnliches. Sie haben ja Recht. Nur, alle Fachleute, die deutsche Einheit auch im Innern zu verwirklichen. von der CDU wie die von der SPD, sagen uns, die Wenn aber jemand auch moralisch dafür ganz beson- enorme Zunahme gehe zu einem großen Teil auf die ders in der Pflicht steht, dann sind Sie es, Herr Beschaffungskriminalität von Drogensüchtigen zu- Bundeskanzler, der Sie den Menschen in Ostdeutsch- rück. land in zwei bis drei Jahren ein blühendes Land (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Bei versprochen haben. Handeln Sie wenigstens jetzt! Autos?) Den von Ihnen angekündigten Solidarpakt brau- — Nicht nur bei Autos, sondern auch bei Einbruch- chen wir dringend: zum Aufbau im Osten, zur diebstählen, sagen uns alle Fachleute und sagte auch Bekämpfung der Wohnungsnot in Ost und West und das BKA vor kurzem. für eine gerechte und solide Finanzierung. Wir Sozial- demokraten haben einen solchen Solidarpakt lange (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Herr Lambsdorff, angemahnt. Leider haben Sie immer und immer das ist so!) wieder nein gesagt. Kostbare Zeit wurde vertan. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10489 Ingrid Matthäus-Maier Heute haben Sie in der Frage der Erhaltung von nach oben zu betreiben. Ich bedanke mich für die industriellen Standorten endlich Bewegung gezeigt. Korrektur. Das ist gut. Aber, Herr Bundeskanzler, können Sie nicht etwas früher aus Ihrer Neinsagerecke kommen? (Siegrfried Hornung [CDU/CSU]: Das glaubt Zu unseren Vorschlägen immer erst nein zu sagen und kein Mensch mehr! — Eduard Oswald [CDU/ sie nur dann aufzugreifen, wenn Sie mit dem Rücken CSU]: Immer das gleiche!) an der Wand stehen, das hilft den Menschen nicht. Was wir brauchen, sind endlich konkrete Maßnah- (Beifall bei der SPD) men zum Aufbau im Osten und eine Korrektur der investitionsfeindlichen Eigentumsregelungen. Herr Seit der Ankündigung des Solidarpakts ist nun fast Bundeskanzler, Sie haben die Wahnsinnsbürokratie wieder ein Vierteljahr verstrichen, und Konkretes beklagt, die auch im Osten aufgebaut werden muß. liegt immer noch nicht auf dem Tisch. Die Öffentlich- Ich gebe Ihnen recht. Aber bevor Sie über alles keit wird zunehmend unruhiger. Die „Süddeutsche mögliche sprechen: Machen Sie sich doch an diese Zeitung" schreibt z. B.: Eigentumsregelung! Wenn in einer Stadt wie Qued- linburg mit 29 000 Einwohnern 30 000 Rückgabean- Da finden täglich neue Spitzen- und Geheim- sprüche existieren, dann wird es noch bis zum Jahr gespräche über jenen Solidarpakt statt, von dem 2000 dauern, bis das abgewickelt ist. Diese Bürokratie diese Bundesregierung offenbar eine ähnlich kann man am besten dadurch auflösen oder verrin- klare Vorstellung hat wie Fritzchen vom Ch rist- gern, daß man eine Korrektur der Eigentumsregelung kind. vornimmt.

Eines ist allerdings klar, Herr Bundeskanzler: Wir Wir brauchen selbstverständlich mehr p rivate Inve- Sozialdemokraten werden uns unter dem Stichwort stitionen, aber dann reicht die von Ihnen vorgesehene Solidarpakt an einer weiteren Entsolidarisierungsak- Aufstockung der Investitionszulage auf 20 %, die wir tion nicht beteiligen. begrüßen, nicht aus, wenn sie ausschließlich auf Investitionen bis 1 Million DM beschränkt wird. Wir (Beifall bei der SPD) müssen selbstverständlich auch größere Investitionen Wenn Sie unsere Befürchtungen nicht teilen, dann in den neuen Ländern mit einer höheren Investitions- darf ich doch die Befürchtung zitieren, die Professor zulage unterstützen. Wir brauchen drittens eine Wolfram Engels in der „Wirtschaftswoche" nieder- Absatzförderung für ostdeutsche Produkte, und wir geschrieben hat: brauchen viertens das von meinem Fraktionsvorsit- zenden Klose bereits genannte Zukunftsinvestitions- In der Not muß ein Solidarpakt her. Der wäre auch programm Ost über zehn Jahre mit einem jährlichen bitter nötig. Den Gewerkschaften wird dabei ein Volumen von 10 Milliarden DM z. B. für den Aufbau Lohnstopp, Öffnungsklauseln in den Tarifverträ- und Ausbau der Infrastruktur und für Abwasseranla- gen, Karenztage, höhere Beiträge zur Sozialver-- gen und Kläranlagen. sicherung bei gleichzeitiger Senkung der Körper- schaftsteuer und der Einkommensteuer auf Ich muß insbesondere die Ost-Abgeordneten in der Unternehmensgewinne zugemutet. Ein Gewerk- CDU und F.D.P. fragen: Warum können Sie sich in der schaftsführer, der das akzeptierte, könnte auch Koalition nicht endlich durchsetzen, daß die Investi- gleich Harakiri begehen. Damit haben wir die tionspauschale für die Kommunen, die im Jahr 1991 Zutaten: eine Vereinigungsstrategie, die die so segenreich war, spätestens 1993 wieder eingeführt Finanzlasten ins Ungemessene steigen läßt, eine wird? Steuerpolitik, die die Konjunktur ruiniert, und (Beifall bei der SPD) eine Einkommenspolitik, die den sozialen Frie- den gefährdet. Das Ganze mit einem kräftigen Und wir brauchen endlich den gesetzlichen Sanie- Schuß Rechtsradikalismus verrührt, gibt einen rungsauftrag für die Treuhand. Die einseitige Festle- gefährlichen Brandsatz für die Wirtschaft und für gung auf die Privatisierung ist volkswirtschaftlicher den Wohlstand. Nicht die Lage ist bedrohlich, Unsinn. In Westdeutschland haben wir VW, VEBA sondern die Politik. und Salzgitter auch erst jahrzehntelang saniert, bevor wir sie privatisiert haben. Warum muß denn das, wofür (Michael Glos [CDU/CSU]: Der Engels hat wir uns im Westen Jahrzehnte Zeit genommen haben, auch schon viel Unfug geschrieben! — Sieg nun im Osten in drei Jahren über die Bühne gehen, fried Hornung [CDU/CSU]: Wo ist sein Kon meine Damen und Herren? zept? Und wo ist Ihres?) Schließlich: Wer vor allem die Treuhandanstalt für Herr Bundeskanzler, wenn Sie sagen, wir haben die Entindustrialisierung verantwortlich macht, sucht keine Zeit für Verteilungskämpfe, dann gebe ich sich den falschen Schuldigen. Ihnen ausdrücklich recht. Aber dann hören Sie end- lich auf, Umverteilung von oben nach unten zu (Beifall bei der SPD) betreiben, wie wir es in allen Steuergesetzen gesehen haben! Politisch verantwortlich ist der Eigentümer und Dienstherr der Treuhand, nämlich die Bundesregie- (Zurufe von der CDU/CSU: Umgekehrt!) rung. Ich bleibe dabei, Herr Finanzminister: Wenn sich z. B. Herr Waigel mit der gleichen Energie der — Jetzt habe ich mich versprochen. Ich meine natür Treuhandanstalt zuwenden würde, mit der er sich für lich: Dann hören Sie auf, Umverteilung von unten den Bau des Jägers 90 einsetzt, dann wären wir im 10490 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Ingrid Matthäus-Maier Osten Deutschlands weiter, meine Damen und Her- verstehen. Sie werden das ändern müssen, Herr ren. Bundeskanzler. (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei (Beifall bei der SPD) Abgeordneten der CDU/CSU — Zuruf von Ich sehe, daß Sie offensichtlich in Kontakt mit Ihrem der CDU/CSU: Das ist unter allem Niveau!) Finanzminister treten, weil Sie das selber nicht glau- ben können, Herr Bundeskanzler. Auch ich habe es gehört auch eine solide und Zum Solidarpakt nicht geglaubt, bis ich es schwarz auf weiß gesehen gerechte Finanzierung. Voraussetzung dafür ist der habe. Kassensturz. Herr Bundeskanzler, Sie haben auf Ihrem Bundesparteitag von der „Stunde der Wahr- Wir haben den Vorschlag einer vernünftigen Anhe- heit" gesprochen, und das „Handelsblatt" spottete bung des Grundfreibetrags gemacht, und wir haben darüber: „Die vom Kanzler ausgerufene Stunde der Ihnen mit unserem Vorschlag einer ökologischen Wahrheit kommt rund 25 000 Stunden zu spät." Steuerreform die Finanzierung gleich mitgeliefert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Am tollsten treiben Sie es aber mit ihrem Maßnah- menpaket für den Aufbau im Osten. Bis zu 20 Milli- Aber nicht nur das, meine Damen und Herren, auch arden DM sollen es angeblich sein. Zusätzliche Kosten diese Stunde der Wahrheit war wieder nur eine für den Bundeshaushalt 1993 sollen aber angeblich Stunde der Halbwahrheit. Denn noch am gleichen nicht entstehen. Beides zusammen kann ja wohl nicht Tag hat Verkehrsminister Krause eine allgemeine wahr sein. Autobahngebühr auch für Pkws für 1994 angekün- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ja, doch!) digt. Und die Erhöhung der Mineralölsteuer ist ja auch schon eine ausgemachte Sache, wenn sich der Finanz- Nein, alle Welt weiß bis in die Koalition hinein, daß minister gestern auch noch nicht traute, es öffentlich dieser Bundeshaushalt nicht zu halten ist. Der einzige, zu sagen; aber in seinem Redemanuskript stand es ja der Tag und Nacht unverdrossen weiter erzählt, er drin. habe den Haushalt im Griff, ist der Finanzminister. Aber bei dem Finanzminister werden die Verfallsda- Nein, meine Damen und Herren, nach den leidvol- ten seiner Finanzprognosen immer kürzer. Auf dem len Erfahrungen mit Ihren Steuerversprechungen in CDU-Parteitag hieß es mittwochs noch, von Haus- den letzten Jahren weiß jeder, daß diese Bundesregie- haltslöchern könne keine Rede sein. Am Freitag rung schon vor 1995 die Steuern anheben wird. Herr darauf fehlten bereits 5 Milliarden DM, am Montag Kohl, hören Sie doch auf, die Leute zu verkohlen, die darauf fehlten bereits 7 Milliarden DM, und am sind nicht so dumm, wie Sie sie dafür halten. Dienstag fehlten schließlich 10 Milliarden DM. Ich (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Bötsch meine, einen Finanzminister, dessen Zahlen man so [CDU/CSU]: Der Vergleich ist nicht rich wenig trauen kann, kann sich unser Land nicht länger tig!) leisten, meine Damen und Herren. - (Beifall bei der SPD) Die Haushaltsdebatte heute hat etwas Gespensti- sches. Jeder weiß, daß es 1993 dicke Etatlöcher gibt. Ich weiß, Herr Bundeskanzler, Sie werden Ihren Sie geben es ja selber zu, indem Sie einen Nachtrags- Finanzminister nicht entlassen, denn schließlich ist er haushalt ankündigen. Warum brauchen Sie einen ja Parteivorsitzender der CSU. Nachtragshaushalt, wenn Ihr Haushalt in Ordnung ist, (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Warum meine Damen und Herren? sollte ich es auch tun! — Dr. Wolfgang Bötsch (Widerspruch und Zurufe von der CDU/ CDU/CSU: Weil er ein guter Mann ist!) CSU) Jedermann weiß, daß Ihnen der Machterhalt in dieser Koalition wichtiger ist als solide Staatsfinanzen, meine Kosten Risiko Nummer eins sind die zunehmenden Damen und Herren. der Arbeitslosigkeit; zweitens, täglich neue Schrek- kensmeldungen über das Defizit der Bahn; drittens Es ist ja schon schlimm genug, daß wir einen ein offensichtlich überzogener Optimismus bei den Bundeskanzler haben, der von Finanzen nicht ganz so Steuereinnahmen. viel versteht, sage ich mal höflich. Viertens — Herr Bundeskanzler, auch hier spreche (Zuruf von der CDU/CSU: Aber, aber!) ich Sie persönlich an —: Sie haben für die Steuerbe- Aber das dieser Bundeskanzler auch noch einen freiung des Existenzminimums beim Grundfreibetrag Finanzminister hat, der die Finanzen nicht im Griff zu wenig Geld eingesetzt. Jedermann weiß, Karlsruhe hat, bringt das Faß zum Überlaufen. Und deswegen hat sie dazu verurteilt. Sie haben jetzt aber eine sind Sie heute ein Standortnachteil Nummer eins, unzureichende Regelung vorgeschlagen. Sie müssen meine Damen und Herren. wissen, ich habe mich viele Jahre dafür eingesetzt, (Beifall bei der SPD) daß Paare ohne Trauschein gegenüber anderen nicht benachteiligt werden. Aber daß nun in Ihrer Regelung Für die Finanzierung der Einheit versuchen Sie Paare ohne Trauschein eine Steuerfreiheit von 24 000 jetzt dauernd neue Dukatenesel zu finden: Investi- DM erhalten, während Ehepaare — mit Trauschein — tionsanleihe, Zwangsanleihe, Deutschlandanleihe. eine Steuerfreiheit von nur 19 000 DM haben, ist Wie wäre es denn, wenn Sie einmal eine Anleihe beim offensichtlich verfassungswidrig. Und für einen Bun- finanzwirtschaftlichen Sachverstand nehmen wür- deskanzler, der dauernd das Wort von der heilen den, dann würden Sie nämlich merken: Es gibt nur Familie im Munde führt, ist das wirklich nicht zu drei Arten, wie der Staat an Geld kommen kann: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10491

Ingrid Matthäus-Maier Sparen, Steuererhöhungen oder Schulden machen. völlig egal. Wenn aber ein solcher Mann, der ja nicht Der Weg über eine noch höhere Schuldenmacherei ist Mitglied der SPD, sondern der CDU ist, ein solches weitestgehend verbaut, meine Damen und Herren. Wort in den Mund nimmt, dann zeigt das, wie tief Schon jetzt ist der Staat bis über die Halskrause besorgt er über die Staatsschulden in diesem Lande verschuldet. 1,7 Billionen DM be trägt der Schulden- ist, und das sollten Sie ernst nehmen und nicht die berg bereits heute. Frage, ob er es in der „Bild"-Zeitung oder im „Spie- Meine Damen und Herren — und das geht vor allem gel" sagt. an die Zuschauer—: Viele von Ihnen meinen, sie seien schuldenfrei. Das Häuschen ist abbezahlt — schulden- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Die Ant- frei. Das ist nicht der Fall. Auf jeden Bürger dieses wort war nicht so befriedigend, daß er Sie nicht noch Landes lasten Staatsschulden von 21 000 DM. einmal fragen möchte. (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Dann muß ich das CSU) zurücknehmen. Das bedeutet für eine vierköpfige Familie eine Schul- denlast von 84 000 DM. Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Darf ich daraus Sie haben einmal gesagt, Herr Bundeskanzler, Ihr schließen, verehrte Frau Kollegin, daß Sie für unsere Markenzeichen sei, daß Sie keine Schulden ma- Debatte die Zitate überall da sammeln, wo Sie ihnen chen. gefallen? (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ (Bundesminister Dr. Waigel: Wie ist das in Nordrhein-Westfalen?) CSU) Nein, Ihr Markenzeichen ist, daß Sie weit mehr Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ich sammle Zitate da, Schulden machen als alle Ihre Vorgänger. wo sie stimmen, Graf Lambsdorff, und aus der Tatsa- Schon in diesem Jahr muß die öffentliche Hand che, daß Sie an diesem Punkt immer wieder nachfra- 128 Milliarden DM Zinsen auf diese Staatsschulden gen, schließe ich, daß Sie das nervös macht. Herr zahlen. Jeden Tag 350 Millionen DM Zinszahlungen Zavelberg ist von Gesetzes wegen verpflichtet, auf die der öffentlichen Hand auf den öffentlichen Schulden- Staatsfinanzen und darauf zu achten, ob die Politik berg. Das ist fast jede sechste Steuermark und 1996 und die Regierung ordentlich damit umgehen. Wenn fast jede fünfte Steuermark. ein solcher Mann das Wort „Währungssreform" in den (Widerspruch bei der CDU/CSU) Mund nimmt, dann zeigt das seine enorme Sorge darüber, daß Sie die Finanzen nicht mehr in den Griff Wenn der Präsident des Bundesrechnungshofes, bekommen. Das sollte Ihnen ein Warnsignal sein und ein sehr besonnener Mann, sogar vor einer Währungs- nicht ein Grund, über ihn zu spotten. reform warnt, meine Damen und Herren, dann ist das das verzweifelte Signal an die Regierung, mit ihrer Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- Schuldenpolitik nicht so weiterzumachen und das geordnete, ich muß Sie auf die Gefechtslage aufmerk- Ruder in der Finanzpolitik endlich herumzureißen. sam machen. Graf Lambsdorff möchte noch eine (Beifall bei der SPD) Zwischenfrage stellen, Herr Abgeordneter Die Bundesrepublik erfüllt wegen ihrer maßlosen Dr. Schäuble ebenfalls. Sind Sie bereit, beide zu Schuldenpolitik übrigens nicht einmal die Stabilitäts- beantworten? kriterien von Maas tricht für die Europäische Wäh- rungsunion. Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja, sicher. Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Darf ich Ihnen nur Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- sagen, verehrte Frau Kollegin, daß wir in einem Punkt geordnete Matthäus, Graf Lambsdorff möchte Ihnen durchaus übereinstimmen, nämlich bei Ihrer Feststel- gern eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, sie zu lung, daß Nervosität einer der Grundzüge meines beantworten? Wesens ist? (Heiterkeit) Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Fra- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Dann bitte gezeichen denkt sich jeder hinzu. Nun kommt Herr schön. Dr. Schäuble.

(CDU/CSU): Frau Kollegin Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Frau Kollegin Dr. Wolfgang Schäuble Matthäus-Maier, sind Sie in der Tat der Ansicht, daß Matthäus-Maier, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu es ein Zeichen von Besonnenheit des Präsidenten des nehmen und gegebenenfalls zu bestätigen, daß der Bundesrechnungshofs ist, uns ausgerechnet im „wäh- Präsident des Bundesrechnungshofs ausdrücklich rungspolitischen Fachteil" der „Bild"-Zeitung die erklärt hat, daß er in dem genannten Fachblatt völlig bevorstehende Währungsreform anzudrohen? falsch zitiert worden ist und daß er im Zusammenhang mit unserer derzeitigen Lage den Begriff der Wäh- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rungsreform überhaupt nicht für angebracht hält? Heiterkeit) Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Wo sich der Präsident Schäuble, ich muß dem widersprechen. Ich habe die des Rechnungshofs äußert, ist mir, Graf Lambsdorf, Auseinandersetzung zwischen der Koalition und dem 10492 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Ingrid Matthäus-Maier Präsidenten des Rechnungshofs sehr genau verfolgt. 4,5 Milliarden DM über die Kürzungen im Verteidi- Der Präsident des Rechnungshofs hat schriftlich ein gungshaushalt, über die Kürzungen bei der bemann- Interview herausgegeben, in dem ausdrücklich steht ten Raumfahrt, bei den EG-Agrarexportsubventionen — wenn Sie es wünschen, werde ich es Ihnen gern und bei den Steuersubventionen. Können Sie, Herr holen; aber ich zitiere aus dem Kopf —, daß er eine Waigel, eigentlich jemandem erklären, warum in Währungsreform nicht unmittelbar bevorstehen sieht unserem Lande Schmiergelder steuerlich absetzbar — was ja offensichtlich nicht der Fall ist —, daß er diese sind? Lassen Sie uns das gemeinsam ändern. Das aber nicht ausschließen kann, wenn die Finanzpolitik allein bringt 100 Millionen DM. das Ruder nicht endlich herumreißt. Ich wundere (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Warum mich, warum Sie immer wieder versuchen, dieses haben Sie es nicht geändert, als Sie in der Wort aus der Debatte zu bringen. Regierung waren?) (Zuruf von der CDU/CSU: Weil es Unsinn — Darüber können wir gern sprechen. Aber Sie sind ist!) jetzt zehn Jahre dran, Herr Waigel. Deswegen lassen Warum kann es nicht für uns alle ein Signal sein, daß Sie uns das gemeinsam abschaffen. wir in der Finanzpolitik endlich den Weg der maßlo- Mein vorletzter Punkt: Auch beim Jager 90 werden sen Schuldenerhöhung nicht weitergehen? wir nicht lockerlassen. (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Wir (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Zehnmal wollen Sie daran hindern, weiter Unsinn zu haben Sie das gefordert!) reden, aus reiner Fürsorge für Sie!) — Ja, zehnmal habe ich das gefordert, und dann hat Herr Rühe versprochen, er wolle den Jäger 90 einstel- Meine Damen und Herren, es gibt den schönen Satz: len. Ein Vierteljahr später hat dann diese Bundesre- Eltern haften für ihre Kinder. Ich sage Ihnen: Hier ist es gierung gesagt: Nein, den Jäger 90 wollen wir zwar umgedreht. Mittlerweile haften unsere Kinder und nicht, aber wir haben jetzt eine Billigversion. Was sogar unsere Enkel für den maßlosen Schuldenberg, verstehen Sie denn eigentlich unter „billig"? Auch die den wir anhäufen. Das darf nicht so weitergehen. Billigversion des Jäger 90 soll pro Stück 90 Millionen (Beifall bei der SPD) DM kosten. Für 90 Millionen DM kann ich tausend Sozialwohnungen bauen. Dieses Land braucht Sozial- Herr Kollege Schäuble, mein Eindruck ist, daß Sie wohnungen, nicht den Jäger 90 und auch nicht einen — auch wenn der Kanzler sagt: Steuererhöhungen Jäger light. erst ab 1995; ich bin sicher, sie kommen vorher — nach dem Motto handeln: Nach uns die Sinntflut. Offen- (Beifall bei der SPD) sichtlich haben Sie sich schon damit abgefunden, daß sie nach 1994 nicht mehr die Bundesregierung stellen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- Denn Sie verschieben die Steuererhöhung auf 1995, geordnete, Sie hatten dankenswerterweise angekün- Sie verschieben die enormen Zinszahlungen auf die - digt, daß Sie zum Schluß kommen. Ich wäre Ihnen Zeit danach, Sie machen die maßlose Schuldenpolitik dankbar, wenn Sie sich daran halten würden. ebenfalls für die Zeit danach. Mein Eindruck ist der: Herr Bundeskanzler, wenn Sie und Ihr Finanzminister weiter so maßlos Schulden machen wie bisher, dann Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Bundeskanzler, braucht der nächste Bundeskanzler keinen Finanzmi- den letzten Punkt kann ich Ihnen nicht ersparen. Er nister, sondern einen Konkursverwalter. bringt keine Milliarden. Er bringt ungefähr 10 bis 20 Millionen, wenn Sie anfangen. Aber ich frage Sie: (Beifall bei der SPD — Dr. Karl-Heinz Ho rn Wie können Sie eigentlich hierherkommen, die Men- hues [CDU/CSU]: Wenn Sie nicht so maßlos schen zum Maßhalten auffordern, die Mitarbeiter im übertrieben, würden wir Sie ernst nehmen! öffentlichen Dienst zum Maßhalten auffordern und — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) gleichzeitig bei 62 Staatssekretären bleiben? Sie hät- Meine Damen und Herren, es gibt Leute, die mei- ten heute ankündigen können, diese Zahl um 20 zu nen, in dieser konjunkturpolitischen Lage dürfe man reduzieren. Es ist eine Schande, daß Sie das nicht unbegrenzt neue Schulden machen. getan haben. (Beifall bei der SPD) (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Das heißt also, Sie werden es nicht?) Das wäre ein Signal für die Zukunft gewesen: für solide Finanzen, für gerechte Finanzen und für den Aber Sie befinden sich in einer selbstgestellten Schul- Aufbau Ost. denfalle. Denn in den zehn Jahren, die Sie im Amt Ich danke Ihnen. waren, hatten wir weltweit eine gute Konjunktur, und Sie haben diese Zeit trotz der 100 Milliarden DM (Anhaltender Beifall bei der SPD — Zurufe Bundesbankgewinn nicht genutzt, um öffentliche von der CDU/CSU) Schulden zurückzufahren, geschweige denn um sich eine Reserve für schlechtere Zeiten anzulegen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Das Zeichen der Zeit ist Sparen, ist Umschichten, ist nunmehr dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Bötsch das Maßhalten. Aber — und damit komme ich zum Wort. Schluß —, Herr Bundeskanzler: Wir Sozialdemokra- ten haben zahlreiche Sparvorschläge gemacht. Sie Dr. Wolfgang Bötsch (CDU/CSU): Herr Präsident! kennen sie: von dem Verzicht auf die Senkungen bei Meine Damen und Herren, die Sie im Saal bleiben der Gewerbe- und Vermögensteuer in Höhe von wollen! Auch diejenigen, die den Saal verlassen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10493

Dr. Wolfgang Bötsch wollen, seien von mir noch freundlich zum Abschied Politik und zu einer vernünftigen Mitarbeit zurück- gegrüßt. Mein Kollege aus dem Wahlkreis bleibt kehren. jedenfalls hier. Das zeigt unsere persönliche Verbun- (Beifall bei der CDU/CSU) denheit. Es war immerhin bemerkenswert, daß Sie den Meine sehr verehrten Damen und Herren Zuhörer, Jäger 90 heute erst nach zwölf Minuten Ihrer Redezeit auch wenn die Opposition in den letzten Tagen und gebracht haben; normalerweise leiten Sie Ihre Bei- auch heute wieder versucht, die Leistungen der Bun- träge allüberall, wo Sie Gelegenheit haben zu spre- desregierung, insbesondere des Bundesfinanzmini- chen, damit ein. Sie sind dann noch einmal am Schluß sters, zu diffamieren: Tatsache bleibt: Der Bundes- auf den Jäger 90 in einer A rt und Weise zurückge- haushalt 1993 steht in der Kontinuität einer verant- kommen, die den Verteidigungsnotwendigkeiten wortungsvollen Finanzpolitik, mit der diese Koalition unseres Landes und den Sicherheitsbedürfnissen seit Beginn der deutschen Einheit die gewaltigen unserer Piloten nicht gerecht wird. Darauf muß man finanziellen Herausforderungen gemeistert hat. hinweisen. Daran führt kein Weg vorbei. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, es ist doch kein Hobby, Um das nachzuvollziehen, bräuchte die Opposition wenn wir uns um die Verteidigung Sorgen machen eigentlich nur ein ganz kurzes Gedächtnis. Denn am und hier die notwendigen Beschlüsse treffen. Das gilt 14. November 1990, also noch vor der letzten Bundes- für die Landesverteidigung, für die Seestreitkräfte tagswahl, wurden die Eckwerte des Haushalts 1991 und natürlich auch für unsere Luftwaffe. Hier kann es und für die Finanzplanung vorgelegt. Das war schon kein abgestuftes Sicherheitskonzept für unsere Solda- eine Leistung an sich. Aber damit nicht genug: Diese ten geben. Wir müssen das tun, was notwendig ist, und Eckwerte konnten sogar noch erheblich unterboten verantwortlich danach h andeln. werden. So hat es sich für den Haushalt 1992 fortge- Frau Matthäus-Maier, als Sie über Schuldenma- setzt, und so setzt es sich auch für den Haushalt 1993 chen gesprochen haben, ist mir das Beispiel von dem fort. Im ursprünglichen Finanzplan war für das Jahr Bernhardiner eingefallen, der einen Wurstvorrat anle- 1993 eine Neuverschuldung von 45,1 Milliarden DM gen will. Meine Damen und Herren, bevor Sozialisten vorgesehen. Dies wird jetzt um 2,1 Milliarden DM mit Geld umgehen können, kann der Bernhardiner unterboten. Darauf muß immer wieder hingewiesen wirklich einen Wurstvorrat anlegen. Das kann man werden. angesichts Ihrer Haushalts- und Finanzpolitik, die Sie (Beifall bei der CDU/CSU) jahrzehntelang betrieben haben, wirklich sagen. (Beifall bei der CDU/CSU) Für diese solide Arbeit danke ich dem Bundesfi- nanzminister, der dafür die vorderste Verantwortung Ich weiß auch nicht, warum Sie nach der auf trägt. Ich bedanke mich beim Bundeskanzler, aber Zusammenarbeit angelegten Rede des Bundeskanz- auch bei der gesamten Bundesregierung, weil nur die lers in dieser Form geantwortet haben. Einsicht aller Ressorts zu einer so soliden Haushalts- (Hans Klein [CDU/CSU]: Das Manuskript politik führen kann. Denn jeder mußte ja bei seinen war schon fertig!) Wünschen Abstriche in den einzelnen Bereichen hinnehmen. Entweder war es schon notiert, oder Sie wollten bewußt einen Akzent setzen, um innerparteilich die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sache gegenüber jedenfalls großen Teilen der Rede Ihres Fraktionsvorsitzenden wieder auszugleichen. Ich kann verstehen, wenn sich die SPD nicht mehr an ihre Haushaltspolitik in den 70er Jahren erinnert Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie wissen doch oder auch nicht erinnern lassen will. Daß Sie, verehrte ganz genau, daß die Vorwürfe, die Sie gegenüber der Frau Kollegin Matthäus-Maier, ein so kurzes Bundesregierung oder personifiziert gegenüber dem Gedächtnis haben und sich beispielsweise nicht mehr Bundesfinanzminister ausgesprochen haben, daß die an das Jahr 1990 erinnern können, wundert mich Finanzprobleme so sind, wie sie sind, Unsinn sind. Sie schon. Nein, Sie ziehen es vor, Verunsicherung zu wissen es doch besser. Sie wissen doch um die streuen, zur Verunsicherung beizutragen. katastrophale Mißwirtschaft in der ehemaligen DDR durch die PDS, die inzwischen den Saal verlassen hat, (Zuruf von der CDU/CSU: Das alte Spiel!) und ihre Vorgängerpartei SED, um die dadurch Hier muß ich Ihre Äußerungen der letzten Tage, von bedingten gewaltigen Reparaturarbeiten, die diesen vorgestern etwa, einordnen, wo Sie wieder neue Haushalt und die weiteren Maßnahmen so stark Haushaltslöcher entdeckt haben wollen. Hier muß ich anspannen, und die Erblast, die dieses marode System hinterlassen hat. auch Ihre heutige Rede einordnen, die ich im Grunde genommen nur unter der Rubrik „Panikmache " able- Der Bundesfinanzminister und die anderen Redner gen kann. haben gestern im Detail Ausführungen dazu gemacht. Es wird an Hand der Einzelpläne Gelegenheit geben, (Beifall bei der CDU/CSU) dazu noch etwas zu sagen. Diese Rede verunsichert die Menschen, sie verunsi- Meine sehr verehrten Damen und Herren, der chert die Wirtschaft und ist damit der notwendigen Fraktionsvorsitzende der SPD hat seine Rede damit konjunkturellen Entwicklung abträglich. Sie sollten eingeleitet, daß er Abscheu und Empörung über den zu einer sachlichen Darstellung, zu einer sachlichen feigen Brandanschlag in Mölln geäußert hat. Wir alle 10494 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Wolfgang Bötsch haben ihm mit gutem Grund zugestimmt. Ich glaube, ... auch für den NPD-Lehrer gilt der Grundsatz wenn die drei türkischen Mitbürger, die dort umge- „gleiches Recht für alle". bracht worden sind, an unserem geistigen Auge So weit, so gut. vorüberziehen, dann muß das jeden mit Trauer und Abscheu erfüllen. Unser Mitgefühl gilt den Familien- Auch bei ihm kommt es, angehörigen. — das war natürlich für einen Radikalenerlaß anderer Ich sage: Jeder, der sich in Deutschland aufhält, der Art gedacht — in Deutschland lebt, der unter uns lebt, auch derje- wie bei jedem anderen, auf sein dienstliches nige, der sich hier möglicherweise unberechtigt auf- Verhalten an, nicht darauf, was er auf irgendwel- hält, hat das gleiche Anrecht auf Integrität, auf Sicher- chen politischen Veranstaltungen zum besten heit seines Lebens wie jeder andere Mitbürger. gibt. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Meine Damen und Herren, als ob man trennen könnte, SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenn ein Lehrer Vorbild sein soll, wo und in welcher Form er sich zu unseren Fragen der Menschenwürde Es ist die vornehmste Aufgabe des Staates, diese und ähnlichem äußert. Sicherheit tatsächlich zu gewährleisten. Gerhard Schröder, damals Bundesvorsitzender der Insofern habe ich mich über das, was Kollege Klose Jusos: „Besondere Treueverpflichtungen" der Beam- heute zu den Fragen der inneren Sicherheit und zur ten dem Staat gegenüber seien „überflüssig" ; der Erziehung unserer Kinder auch in der Schule Beamte brauche nur „im Dienst" Gesetze und Grund- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und in der gesetze einzuhalten. — Nein, wir erwarten eine Familie!) Treuepflicht gegenüber dem Staat allüberall. Das unterscheidet uns. gesagt hat, gefreut. Ich kann Ihnen aber nicht erspa- ren, an einiges zu erinnern, was in der Vergangenheit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zu diesen Themen von Ihrer Partei geäußert worden Es kommt aber noch schlimmer. Mit der Entschei- ist. dung im März 1991, den Verfassungsschutz um 36 % (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Bis zum zu verringern, hat gerade Schleswig-Holstein ein heutigen Tag!) unverständliches und falsches Zeichen gegeben. Sie haben heute davon gesprochen, der Verfassungs- Ich erinnere mich z. B. daran, daß in der Koalitions- schutz müsse mehr eingesetzt werden. Erst kürzlich, vereinbarung der SPD und der AL in Berlin vom im Oktober, hat die Landtagsmehrheit in Niedersach- 8. März 1989 folgendes gefordert wurde — ich sen gegen die Stimmen von CDU und F.D.P. ein neues zitiere —: Verfassungsschutzgesetz beschlossen, mit dem das Aufgabengebiet des Verfassungsschutzes erheblich Die Beobachtung extremistischer Bestrebungen beschnitten wird. ist auf das enge Maß zu beschränken, das sachlich und rechtsstaatlich unabweisbar ist. Meine Damen und Herren, es geht nicht darum, Beschneidungen vorzunehmen, sondern möglicher- Es muß eine „Überprüfung der Führungsstrukturen weise auch den Verfassungsschutz in die Lage zu und der Strukturen der Einsatzabteilungen" der Poli- versetzen, beispielsweise im Vorfeld die Polizei zu zei vorgenommen werden. Es darf „keine Sonderein- warnen, wenn terroristische Aktivitäten, von welcher heiten" geben. Es muß ein „Abbau von Feindbildern Seite auch immer, zu befürchten sind. Das ist die auf allen Seiten" stattfinden. Aufgabe. Meine Damen und Herren, welches Feindbild hat (Beifall bei der CDU/CSU) die Polizei eigentlich abzubauen? Die Polizei hat kein Feindbild. Sie hat die Aufgabe — die sie von uns Meine Damen und Herren, für CDU und CSU gibt es erhält —, die Sicherheit der Bürger zu gewährlei- in der Bekämpfung von Radikalen keinen Unter- sten. schied, egal, ob von links oder von rechts. Herr Klose, ich war so fair und habe nicht zitiert, was (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie im Jahre 1978 als Hamburger Bürgermeister im „... so wenig sichtbare Polizeipräsenz wie möglich", Vorfeld der hessischen Landtagswahl zu den Fragen heißt es in dieser Vereinbarung. — Alles mit der SPD des Radikalenerlasses in einem ausführlichen Inter- in Berlin damals so beschlossen. view mit „Konkret" gesagt haben. Nachdem Sie mich Die „Berliner Morgenpost" meldete am 21. Septem- aber auffordern, will ich dazu schon noch etwas ber 1989: sagen. Meine Damen und Herren, es bleibt dabei: Gewalt Der parlamentarische Hauptausschuß im Berliner ist wirklich durch nichts zu rechtfertigen, gegenüber Abgeordnetenhaus hat mit den Stimmen der niemandem, auch nicht gegenüber Sachen. Wer erin- rot-grünen Koalition Kürzungen von etwa 5 Mil- nert sich nicht an die juristischen Seminare, in denen lionen DM im Polizeihaushalt vorgenommen. So lange nachgewiesen wurde oder doch darüber nach- wurden u. a. die Mittel zur Intensivierung von gedacht wurde, ob man nicht gegen Sachen doch Fahndungsmaßnahmen um 150 000 DM ge- etwas Gewalt anwenden könnte, auch wenn Gewalt kürzt. gegen Personen nicht zu wünschen sei? Wer früher Kollege Lafontaine, der Herr Ministerpräsident, hat zwischen Legitimität und Legalität — in dieser Form laut „Spiegel" vom 1. Juli 1985 angemerkt: jedenfalls — unterschieden hat, der muß für sich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10495

Dr. Wolfgang Bötsch selber über die Verantwortung, die er möglicherweise vorgenommen hat. Wir sollten gemeinsam darauf an der Entwicklung trägt, Rechenschaft ablegen. zurückkommen. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU — Eduard Oswald Meine Damen und Herren, manchmal standen wir [CDU/CSU]: Hoffentlich bleiben sie nicht auf da schon allein. Es grenzt schon an Heuchelei, wenn halbem Weg stehen!) das konsequente Vorgehen der Polizei beim Weltwirt- Meine Damen und Herren, ich stelle in der SPD schaftsgipfel in München als politischer Mißbrauch Widersprüche auch in den Fragen der inneren Sicher- der Polizei gegeißelt wird und wenige Wochen später heit und der Rechtspolitik fest. Am 3. September hat in Rostock dann mit Recht gefordert wird, daß die der SPD-Vorsitzende Engholm in einer deutschen Polizei einzugreifen hat. Es gilt in beiden Fällen, daß Illustrierten gesagt: die Polizei die Sicherheit der Bürger und die Sicher- Der Staat muß sich gegen Gangster wehren heit unserer Gäste zu gewährleisten hat. Man kann können, auch mit versteckten Kameras und Anla- nicht in einem Fall so und im anderen Fall so operie- ren. gen. Aber er hat sich jedenfalls bisher gegenüber seiner (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Partei offenbar nicht durchsetzen können; denn in ordneten der F.D.P.) dem sogenannten SPD-Sofortprogramm von letzter Jeder Mordversuch ist unfaßbar und ist schrecklich. Woche findet sich dazu kein Wort. Wer so etwas will oder billigend in Kauf nimmt, dem fehlt die Achtung vor der Würde und dem Leben des (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ja, da Menschen, jedes Menschen. drin!) ist es nicht Wenn Sie, Herr Kollege Klose, heute davon gespro- Unzureichend ist auch — ich will auch darauf nur chen haben, man müsse wieder mehr den Erziehungs- kurz eingehen —, was Sie als Vorschlag zur Novellie- gedanken hereinbringen, dann kann ich nur sagen: rung unseres Asylrechts vorgelegt haben. Vielleicht Das ist eine fundamentale Kritik an über zwei Jahr- erinnert sich der eine oder andere oder hat es gelesen, zehnten Pädagogik der SPD. daß ich hier in der Debatte zur Asylgesetzgebung, die wir geführt haben, zu unserem Entschließungsent- (Beifall bei der CDU/CSU) wurf schon gesagt habe, daß ich befürchte, daß sich Die von vielen SPD-Kultusministern befürwortete der Duft vom Petersberg bald wie schwaches Parfüm antiautoritäre Erziehung und die sogenannte Erzie- verflüchtigen könnte. Wenn ich mir den Beschluß des hung zur Kritikfähigkeit waren im Grunde genommen Parteitags der SPD ansehe, dann hat sich diese meine Synonyme für Nichterziehung, wenn man sich das Befürchtung leider bewahrheitet; ich habe hier leider genau anschaut. Recht gehabt. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wollen Sie Doch ich bin guten Mutes: Der Parteitagsbeschluß kann in unserer repräsentativen Demokratie, für die keine kritischen Bürger?) - wir gemeinsam stehen, sicherlich nicht das Maß aller SPD und GEW haben hier Vorreiter gespielt, lange, Dinge sein. Herr Kollege Klose, ich will ausdrücklich lange bevor es die GRÜNEN überhaupt gegeben Ihr Bemühen anerkennen, sich im Vorfeld der Ver- hat. handlungen auch für die Fraktion den Rücken freizu- (Zuruf von der CDU/CSU: Leider heute halten. Deshalb will ich doch hoffen, daß wir in der noch!) Sache ein richtiges Ergebnis bekommen. Als die CDU damals in den 70er Jahren einen (Beifall bei der CDU/CSU — Franz Müntefe Kongreß unter dem Titel „Mut zur Erziehung" durch- ring [SPD]: Das sagt die CSU!) geführt hat, — Ja, die SPD hat sich in der Sache bewegt. Aber bis (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Rich dato hat sie sich leider noch nicht genügend bewegt, tig!) um zu einem sachgerechten Ergebnis zu kommen. Es bleibt dabei! traf sie auf das Hohngelächter der SPD und ihrer Kultusminister. (Beifall bei der CDU/CSU — Franz Müntefe ring [SPD]: (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Und jetzt das Wort an die F.D.P., Schäuble [CDU/CSU]: Von allem, was links Herr Bötsch!) und rot war!) — Zur F.D.P. unterscheiden wir uns in den Fragen nur Hauptantreiber waren damals der SPD-Kultusmini- noch marginal. ster von Hessen, Herr Friedeburg, mit den berühmten (Lachen bei der SPD) hessischen Rahmenrichtlinien — unser Ehrenvorsit- Sie sollten hier bitte nicht in die falsche Richtung zender Dr. Dregger war als hessischer Landesvorsit- weisen, nach der Methode: Haltet den Dieb! zender ein Hauptkämpfer gegen diese Rahmenricht- linien — und sein Parteifreund Herr von Oertzen in Meine Damen und Herren, noch ein Wort zur Frage Niedersachsen, der ihm in dieser Reihe gefolgt ist. der Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Maßnahmen der UNO zur Erhaltung oder Schaffung (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Die von Frieden. Dazu vertritt die SPD durch ihren Partei- roten Barone!) tagsbeschluß eine Position, die uns inte rnational so Ich sage Ihnen: Ich freue mich über den Kurswechsel, isolieren würde, wie sich die SPD inzwischen inner- den die SPD nach Ihrer Rede in dieser Frage jetzt halb der Sozialistischen Internationale selbst isoliert 10496 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Wolfgang Bötsch hat. Das hat eine Veranstaltung der Friedrich-Ebert- ausreichend ist. Ich rede nur von der politischen Stiftung vor zwei Wochen ganz deutlich gezeigt. Notwendigkeit. Herr Kollege Klose, wenn Sie hier den Generalse- (Franz Müntefering [SPD]: Herr Bötsch, kretär der UNO genannt haben, dann müssen wir sagen Sie auch noch etwas zum Haushalt?) schon vollständig das zitieren, was er gesagt hat. Im Meine Damen und Herren, in den Fragen der „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" vom 20. No- Wirtschafts- und Finanzpolitik, in der sonstigen vember 1992 hat er ein Interview gegeben. Da heißt Innen- und der Außenpolitik ist unsere Fraktion es: bereit, die ihr vom Wähler übertragene Verantwor- Ich würde die Teilnahme Deutschlands an UNO- tung wahrzunehmen, diese Bundesregierung auch in Truppen sehr begrüßen, dies wäre ein sehr wich- Zukunft in ihrer Arbeit zu unterstützen. Mit einem tiger Beitrag. Sie haben ja schon ein paar Ärzte in Wort: Wir haben vor, auch in Zukunft gemeinsam Kambodscha, unsere Pflicht zu tun. Vielen Dank. — na, da haben wir ein bißchen mehr — (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und ich hoffe, daß die Verfassungsschwierigkei- ten überwunden werden können, so daß eine größere Beteiligung an Friedenssicherungsope- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort rationen überall auf der Erde möglich ist. Dabei hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Otto Graf Lambs- meine ich nicht nur Soldaten; die Deutschen dorff. können Ingenieure und Ärzte schicken, sie kön- nen durch Lufttransport logistische Hilfe leisten. Es gibt viele Möglichkeiten. In den letzten fünf Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Präsident! Jahren gab es genauso viele Friedensmissionen Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr wie in den 45 Jahren davor. Bundeskanzler, für die F.D.P. möchte ich Ihnen in einem Punkte ausdrücklich zustimmen: Das waren Dann die Frage: zehn gute Jahre für Deutschland. Größere Beteiligung würde aber auch das Ent- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) senden von bewaffneten Einheiten der Deut- Wir haben von 1982 bis 1989 die finanz-, wirtschafts- schen bedeuten. und haushaltspolitischen Dinge und die sozialpoliti- BUTROS-GHALI: Diese wären äußerst willkom- schen Fragen in einer Weise angepackt und in Ord- men. nung gebracht, wie es kaum einer erwartet hätte. Herr Kollege Klose, hier ist keine Rede von Blauhel- Dann kam die deutsche Einheit. Das war ein histo- men oder von der Beschränkung auf Blauhelme. Da rischer Glücksfall. Er ist von Ihnen und dem Außen- müssen wir schon alles durchlesen. minister Hans-Dietrich Genscher meisterhaft aufge- griffen worden. Und jetzt haben wir Probleme. Aber Herr Kollege Klose, Sie haben am 25. Januar 1991 wer von uns hätte nicht lieber Probleme, die von — der Herr Kollege Dr. Schäuble hat das kurz ange- Erfolgen herrühren, anstelle von Problemen, die aus sprochen — in einer großen Zeitung einen längeren Mißerfolgen stammen? Beitrag geschrieben, in dem u. a. in bezug auf den Golfkrieg folgendes steht — ich kann nur einen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) kleinen Auszug zitieren —: Die Schwierigkeiten, die wir im wirtschaftlichen Bereich jetzt haben, sind uns neulich noch einmal vom Denn wo waren denn die Deutschen, Sachverständigenrat aufgeschrieben worden. Eine — alles original Klose — Belastung, so heißt es dort, für die konjunkturelle als es darauf ankam, eine einheitliche Linie zu Entwicklung erwuchs aus einer um sich greifenden entwickeln für die Zeit vor dem Krieg, für den Fall Verunsicherung darüber, ob die Politik überhaupt noch in der Lage ist, mit den anstehenden Herausfor- des Krieges und für die Zeit danach? Und wo waren die Beiträge der deutschen Sozialdemo- derungen fertig zu werden. — Hier liegt nach meiner kratie? Sie hat Resolutionen produziert und Überzeugung in der Tat ein entscheidender Punkt. anfänglich nicht einmal gemerkt, daß sie auch in Wir haben es nicht in erster Linie oder gar ausschließ- den eigenen Reihen, bei den Bruder- und Schwe- lich mit einer Bedarfskrise zu tun. Wir haben es auch sterparteien, nicht nur Europas, isoliert war. Die nicht in erster Linie oder gar ausschließlich mit einer französischen Sozialisten, Labour, die spanische Finanzkrise zu tun. Wir haben es vielmehr — leider — PSOE, die holländischen, dänischen Sozialdemo- mit einer tiefsitzenden Vertrauenskrise zu tun. Wie- ande viel schlechter kraten/Sozialisten — sie alle haben eine andere der einmal ist die Stimmung im L Position als die SPD und sind dennoch keine als die Lage. Die Frage ist, ob es dabei ausschließlich Kriegstreiber. Muß uns das nicht nachdenklich um die Wirtschafts- und Finanzpolitik geht stimmen? (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Beifall bei der CDU/CSU) oder ob die Malaise nicht viel tiefer sitzt. Meine Damen und Herren, es sollte Sie nachdenk- (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Ja!) lich stimmen, aber nicht nur Sie, Kollege Klose, Nach meiner Meinung geht es um die Frage, ob sondern Ihre Fraktion und Ihre Partei insgesamt. Es unsere demokratischen Institutionen der gestellten sollte Sie wirklich nachdenklich stimmen, ob das, was Probleme noch Herr werden können. Anders gefragt, Sie auf dem Parteitag beschlossen haben, wirklich und zwar über Deutschland hinaus: Werden die par- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10497

Dr. Otto Graf Lambsdorff lamentarischen Demokratien westlicher Prägung Gemeinschaft — ich bin ganz vorsichtig — nicht immer schwerer regierbar oder gar unregierbar? gerade gemehrt. Eigentlich, verehrte Kollegen, ist es doch eine Pe rver- Europäische Gemeinschaft und Jugoslawien: Das sion der parlamentarischen Kontrolle, daß heute nicht betrachtet die Welt als ein Trauerspiel von Versagen die Parlamente, sondern die Regierungen auf Konso- und Uneinigkeit; lidierung und Ausgabenbegrenzung drängen. Ich formuliere dabei ausdrücklich in der Mehrzahl, will (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist so!) mich aber an Selbstkritik nicht vorbeimogeln. — häufig, Frau Matthäus-Maier, zu Unrecht, denn wer Die Meinungsumfragen im Lande zeigen deutlich, kennt ein Heilmittel gegen die furchtbaren Folgen was die Menschen zur Zeit von der Bundesregierung dieses schrecklichen Nationalismus? Es ist leicht zu halten: sehr wenig. Sie zeigen auch, was sie von der sagen „Wir verurteilen das ", aber es ist sehr schwer zu Opposition halten: noch weniger. sagen, welches andere Rezept man denn mit Aussicht auf Erfolg und unter hinnehmbaren Kosten — Kosten (Franz Müntefering [SPD]: Na? — Konrad heißt hier: Menschenopfer — empfehlen könnte. Gilges [SPD]: Das stimmt nicht!) Jacques Delors sagte vorgestern wörtlich: Die EG Nur, meine Damen und Herren, das kann keinen befindet sich in einer schweren Krise. — Er sagte freuen, und das kann niemandem zu Hohngelächter weiter, ein Flicken auf dem Holzbein mache dasselbe Anlaß geben, denn die Unzufriedenen neigen sich nicht lebendig. Ich kann ihm bestätigen, daß er recht Leuten zu, die wir nicht hier im Parlament sitzen hat. haben wollen, und das ist unser Problem. (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU CSU) sowie des Abg. Klaus Lennartz [SPD]) Das kann aber auch kein Verkehrsprogramm für Ich habe in der Mehrzahl formuliert, weil man all die 100 Milliarden ECU, die er gar nicht hat. Politik mit Länder, in denen der Vertrauensverlust ebenso groß OPM, mit other people's money, wie die Amerikaner ist wie der, den wir bei uns feststellen, sagen, d. h. Politik mit anderer Leute Geld, das wird nicht funktionieren. Wer soll das denn bezahlen? (Konrad Gilges [SPD]: Und wie ändern wir das?) (Zuruf von der CDU/CSU: Immer die ande ren Leute!) ja gar nicht aufzählen kann. Bei unseren französischen Freunden hat es fast eine Mehrheit gegen Maastricht Politik werde heute von Politikern gemacht, nicht gegeben, obwohl die Mehrheit der Franzosen für von Staatsmännern oder Staatsfrauen, hat William Maastricht ist. In London stimmte die Labour-Opposi- Pfaff in der vorigen Woche in der „Herald Tribune" tion gegen Europa, weil sie zwar für Europa, aber geschrieben. Das mag hart sein; vielleicht ist es zu gegen John Major ist. In Japan sieht es nicht besser hart. — Ja, Herr Bundeskanzler, ich will Sie dabei auch gar nicht ansprechen. aus. Auf der Bestsellerliste in den USA steht- ein Buch mit dem schönen Titel: „ Why americans hate politics" , (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Ich habe an d. h. warum die Amerikaner die Politik hassen. Ob die der Stelle auch keine Probleme!) Wahl des neuen Präsidenten eine Veränderung brin- Es mag zu hart sein, aber ist es deshalb falsch? gen wird? Wir wünschen es ihm, wir wünschen es den Amerikanern, und wir wünschen es uns. (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: In der glei -c hen Zeitung lesen Sie das seit 50 Jahren!) (Zustimmung bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD) — Das stimmt nicht. In der gleichen Zeitung hat es sehr positive Ausführungen über Sie gegeben. Da Ich will die Gefahren und Risiken im Osten Europas müssen Sie ein paar Nummern überschlagen nur der Vollständigkeit halber erwähnen. Wenn es haben. nicht gelingt, den Weg zu Demokratie, Rechtsstaat- lichkeit und Marktwirtschaft zu öffnen, dann werden (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ wir alle, aber die Deutschen zuerst und zumeist, die CSU) Folgen zu spüren bekommen. Bisher konnten wir den Die Unzulänglichkeiten der Kommunikation, d. h. Menschen über die Wintersnöte hinweghelfen, mehr des Sich-Verstehens, nicht die technischen Unzuläng- nicht. Nicht einmal die Zeitbombe der gefährlichen lichkeiten, wachsen. Einander jagende Gipfel und Kernkraftwerke in den früheren Ostblockstaaten Räte, Telefon und Fax reichen nicht, wenn der Wille haben wir entschärft. zur Übereinkunft, wenn die Bereitschaft zum Kompro- miß und wenn allerdings auch die Basis für Visionen, (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Sehr gut!) zum Entwickeln von Konzepten nicht ausreichend Nicht einmal das haben wir geschafft! gegeben ist. Liegt es daran, daß mit dem Ende der Teilung der Welt die Bedrohung als Bindemittel nicht Der Bundeskanzler hat die europäische Integration und den Weg zur Europäischen Union gepriesen. Das nur im Bereich der äußeren Sicherheit entfallen ist? ist gut so. Wir sind in dieser Hinsicht einer Meinung. Die F.D.P. sieht diese gesamtpolitische Entwicklung Aber ich kann mich nicht erinnern, daß je eine durchaus nicht ohne Sorge. Deswegen, Herr Bundes- Präsidentschaft — die britische — von einem Mitglied- kanzler, begrüßen wir ausdrücklich Ihre Absicht, alle staat so beschimpft worden ist, wie das dieser Tage der nur erdenklichen Mühen darauf zu verwenden, die Fall war. Der unendliche Streit um die Uruguay bestehenden internationalen Institutionen zu stärken Runde des GATT hat das Ansehen der Europäischen und zu festigen. 10498 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Otto Graf Lambsdorff Aber diese Aufforderung richtet sich ebenso an die Meine Damen und Herren, in der deutschen Wirt- Opposition. Deutschl and darf sich nicht der SPD schaft werden — der Bundeskanzler hat das heute wegen verweigern müssen, seine internationale Ver- besprochen — konstitutionelle Schwächen sichtbar: antwortung — etwa im Bereich der kollektiven Sicher- Sie zeigen sich beim Export, sie zeigen sich bei der heit — wahrzunehmen. Preis- und Kostenentwicklung, sie zeigen sich im (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) umfassenden Verteilungskonflikt oder im falschen „policy-mix" von Geld-, Finanz- und Lohnpolitik. Sie sind mit Ihrem Parteitagsbeschluß international Wirtschaftspolitischer Aktionismus macht sich breit nicht handlungsfähig und national nicht regierungsfä- und vermindert die Vertrauensbasis. Das, Frau Mat- hig. thäus-Maier, ist der Grund, warum wir richtigerweise (Konrad Gilges [SPD]: Quatsch! Dummes sagen: Steuererhöhungen nicht vor 1995; in 1995 aber Zeug!) wohl unvermeidlich, damit die Leute wissen, woran Wenn es hier vorhin ein Zwischenspiel über die sie sind. Position der F.D.P. gab, dann ist klar, daß wir im Jahre (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wir werden 1991 beschlossen haben, die Verfassung zu ändern, sehen!) und zwar für Blauhelm-Einsätze und für militärische Ebenso ist es richtig, Steuermindereinnahmen nicht Einsätze unter der Oberaufsicht der Vereinten Natio- durch weitere Einsparungen, sondern durch zusätzli- nen. che Kreditinanspruchnahme zu beheben, weil man (Konrad Gilges [SPD]: Dummes Zeug!) sonst prozyklisch handeln würde; das bestätigt uns Im übrigen führen Sie in der SPD ein Schattenboxen das Wirtschaftsinstitut des Deutschen Gewerkschafts- auf, wenn Sie Unterschiede zwischen Blauhelm bundes. Einsätzen und anderen Einsätzen machen. Sprechen Weiterhin haben wir gesagt — wir verhehlen es ja Sie einmal mit Ihrem sozialdemokratischen Kollegen gar nicht; es ist auch notwendig, es zu sagen —, daß Lord Owen, der mir vor drei Wochen auseinanderge- eventuell, wenn die Straßenverkehrsabgaben, über setzt hat, was Blauhelm-Einsätze in Jugoslawien an die wir in Brüssel verhandeln, bei der Bahnreform Lebensgefahr bedeuten und daß es bei Blauhelm nicht ausreichen, eine Erhöhung der Mineralölsteuer Einsätzen bisher 750 tote Soldaten auf der Welt für den Zweck der Reform von Bundesbahn und gegeben hat. Worüber debattieren Sie eigentlich? Sie Reichsbahn notwendig ist, jedenfalls nicht ausge- führen da halbe Scharaden auf! schlossen werden kann. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Unsere Aufforderung zur Stärkung der Institutionen Das werden wir nicht verschweigen. gilt auch für die Vereinten Nationen, die finanzpoli- Ich will Ihnen noch eines sagen — da haben Sie tisch und institutionell handlungsfähiger gemacht recht, Frau Matthäus-Maier —: Wir wollen die Inve- werden müssen. Unter diesem Gesichtspunkt- müssen stitionspauschalen für die Kommunen 1993 erneu- auch deutsche Wünsche gesehen werden. Das gilt ern, auch für die NATO, die wir brauchen und deren Ziele und Grundlagen erneuert werden müssen. Ich möchte (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!) ausdrücklich unterstreichen, was heute morgen über aber — ich verweise auf das, was der Bundeskanzler die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den Ver- vorhin gesagt hat — mit den Ländern zusammen. Alles einigten Staaten und über die Aufrechterhaltung nur aus der Kasse des Bundes allein zu finanzieren amerikanischer Truppenpräsenz in Europa gesagt geht nicht! worden ist. (Franz Müntefering [SPD]: Jetzt können Sie Das gilt noch mehr für die Europäische Gemein- die Lambsdorff-Kurve wieder wegschik schaft, deren Fortschritte doch unverkennbar sind, die ken!) aber trotzdem an Anziehungskraft und an Prestige bei — Das ist nicht meine Kurve; ich bin nicht das den Europäern verliert. If o-Institut. Um eine Vertrauenskrise geht es auch in der Angesichts der Kostendynamik und angesichts der deutschen Wirtschaft und in unserer Konjunktur. Der finanzpolitischen Anspannung kann sich eine Lage seit Jahren bewährte und respektierte Test des Ifo- zusammenbrauen, die den Alptraum der Ökonomen Instituts über die Geschäftserwartungen der deut- darstellt: Rezession bei steigenden Preisen und Zin- schen Unternehmen zeigt das mit erschreckender sen, höhere Steuern und höhere staatliche Kreditauf- Deutlichkeit. Ich habe Ihnen diese Grafik einmal nahme. Dann würden die Haushaltsprobleme unlös- mitgebracht, um zu zeigen, daß ich keine Schwarzma- bar. Dann, Herr Schäuble, würden wir — wie Sie heute lerei betreibe. Ich habe in der Zeit, in der ich Wirt- morgen mit Recht befürchtet haben — noch höhere schaftspolitik be treibe, eine so abfallende Kurve noch Zahlen von Arbeitslosen — die zum Teil ohnehin ins niemals gesehen und bitte deswegen, das nicht auf die Haus stehen — zu erwarten haben. leichte Schulter zu nehmen. Dabei stellt sich die Frage, jedenfalls für mich (Franz Müntefering [SPD]: In der Grafik ist — erlauben Sie mir einen Augenblick eine Abschwei- viel blau und gelb! Ist das die Lambsdorff fung von den Problemen Deutschlands —: Werden die Kurve?) Marktwirtschaften weltweit eigentlich überhaupt mit — Es geht ins Lila hinein; es entspricht etwa der Farbe der Arbeitslosigkeit fertig? 30 Millionen bis 35 Millio- Ihrer Jacke. nen Arbeitslose in der Europäischen Gemeinschaft; Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10499

Dr. Otto Graf Lambsdorff überall, wo Sie hinsehen, entweder verdeckte Meine Damen und Herren, es ist wichtig, festzustel- Arbeitslosigkeit — Beispiel Japan — oder offene len, daß die Kapitalmärkte ihr Vertrauen in die Arbeitslosigkeit und steigende Arbeitslosigkeit: USA. deutsche Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht verlo- Schaffen es die Marktwirtschaften? Die Staatswirt- ren haben. Aber das Vertrauen muß jetzt auch hono- schaften haben es jedenfalls nicht geschafft. riert werden, und nicht zuletzt von uns. Bundesregie- rung und Koalition haben reagiert. Ich weiß, daß Oder, meine Damen und Herren — hier komme ich unsere Vorschläge nicht populär sind; sie können es auf das zurück, was Herr Schäuble heute bedenkens- auch nicht sein. Aber sie sind notwendig, damit werterweise gesagt hat —, überfordern wir allesamt Schaden auf Dauer vom Deutschen Volke abgewandt mit unseren Ansprüchen — noch vor dem Hintergrund wird. einer Bevölkerungsexplosion mit wachsenden Men- schenzahlen — die Leistungsfähigkeit und das Brutto- Nicht nur der Bund ist gefordert; Länder und sozialprodukt, das, was überhaupt erwirtschaftet wer- Gemeinden müssen eingebunden werden. Die An- den kann? Werden wir weitere Arbeitslosigkeit pro- strengungen des Bundesfinanzministers auf diesem duzieren, wenn wir uns nicht endlich etwas mäßigen, Gebiet, Herr Waigel, haben unsere volle Unterstüt- nicht nur in Deutschland, auch anderswo, bei uns zung. Zur Hilfe, zur Unterstützung der neuen Bundes- aber, glaube ich, zuerst? länder sind zur Zeit unkonventionelle Maßnahmen erforderlich. Aber entgegen weit verbreiteter Ansicht (Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ behaupte ich — und dies mit Nachdruck —: Es gibt nur DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der eine Unausgewogenheit, und es gibt nur eine Gerech- CDU/CSU) tigkeitslücke, und das ist die viel zu hohe Arbeitslo- Es muß nicht zu einem solchen Horrorszenarium sigkeit. kommen. Zum größten Teil haben wir die Dinge selbst Wenn der Solidarpakt am Ende daraus bestehen in der Hand. soll, daß keiner dem anderen mehr weh tut als der Umkehr ist geboten, vor allem in der Lohnpolitik, andere dem einen, dann wird dabei nichts an Ergebnis vor allem aber auch in der Finanzpolitik, nicht in erster und nichts an Wirkung erzielt werden. Nach dem Linie der des Bundes — da ist die Umkehr eingelei- Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht tet —, wohl aber bei Ländern und Gemeinden. Ord- naß" ist diese Operation nicht zu haben, meine Damen nungspolitische Konsistenz und wirtschaftspolitische und Herren. Verläßlichkeit müssen wieder den Kurs prägen. Die viel zu hohe Arbeitslosigkeit ist die Gerechtig- Die Dimension der öffentlichen Transfers aus dem keitslücke. Was der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Westen Deutschlands in den Osten Deutschlands wird dient, das müssen wir tun. Was die Bekämpfung der im historischen Vergleich deutlich: Wir transferieren Arbeitslosigkeit verhindert, das muß unterbleiben. heute 80 % des Bruttoinlandprodukts der fünf neuen Umkehr ist deshalb auch in der Lohnpolitik geboten. Bundesländer. Die Marshallplanhilfe lag damals im Die Ankündigungen der Gewerkschaften geben zum Westen bei 2 % des Bruttoinlandproduktes der- alten Teil Anlaß zur Hoffnung. Bundesrepublik. Das sind im historischen Vergleich Es geht den Deutschen — meine Damen und Her- unsere Leistungen, die wahrlich nicht unter den ren, stellen wir das hier doch einmal fest — seit Scheffel gestellt werden müssen. 40 Jahren fast ununterbrochen gut und immer wieder Herr Klose — er ist jetzt leider nicht hier — hat besser. beklagt, es gebe zuwenig private Investitionen. Ich (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — teile diese Klage. Aber private Investitionen können Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Ja!) Sie nicht befehlen; die Leute investieren nur, wenn sie Aussicht auf Ertrag haben, denn investieren heißt, Es ist vielleicht kein Trost, aber doch ein nötiger sein eigenes Geld zu riskieren. Hinweis, daß Finnen, Schweden, Japaner, ganz zu schweigen von Polen, Ungarn und Tschechen reale Ich empfehle Herrn Klose, bevor er über die Anwen- Einkommensverluste hinnehmen müssen, die weitaus dung japanischer Technologie im Opel-Werk in Erfurt höher sind als das, was uns vielleicht bevorstehen in Klagen ausbricht, sich auf die Reise zu machen und könnte. dorthin zu gehen. Ich habe aber vorsichtshalber nach seiner Rede angerufen: Wie in allen Automobilfabri- Im übrigen müssen wir jetzt zum erstenmal in der ken wird in der Frage der Arbeitsabläufe, der Arbeits- Geschichte des demokratischen Deutschland bewei- organisation heute auf japanische Beispiele zurück- sen, daß unsere Demokratie Einkommenseinbußen gegriffen; das habe ich in der vorigen Woche bei Seat (Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Nein, nur in Barcelona gesehen, und das können Sie auch in Stillstand!) Erfurt sehen. ebenso standhält wie rechten und linken Gewalttä- (Zurufe von der SPD: Ich dachte, das sei in tern . Eisenach! — Wo haben Sie denn jetzt ange rufen?) (Beifall bei der F.D.P.) — Angerufen habe ich in Rüsselsheim; es ist immer Diesen Test haben wir nämlich noch nicht bestan- den. besser, man ruft in der Zentrale an. — Sie haben recht: natürlich in Eisenach. Sie können sich dort ansehen, Die Gewalt in Deutschland erschreckt tief. Herr daß bei dieser Neuinvestition in erster Linie bewährte Bundeskanzler, Sie haben leider nicht recht, wenn Opel-Technologie angewandt worden ist. man es ganz wörtlich nimmt. Deutschland — so haben 10500 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Otto Graf Lambsdorff Sie gesagt — ist immer noch eine erste Adresse in der grenzen und den Anpassungsprozeß im Osten voran- Welt. zubringen. Er kann gelingen, wenn jeder seine Ver- antwortung wahrnimmt: die Tarifpartner für die In der vorigen Woche war ich in Bangkok; die Löhne und für die Beschäftigung und der Staat für Touristen sagen ihre Reisen hierher ab, weil sie Angst günstige gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingun- haben zu kommen. Der deutsche Mitarbeiter eines gen. Wenn beide so verfahren, dann gibt es auch Unternehmens fürchtet seine Rückversetzung in die Raum für Entspannung in der Geldpolitik, für sin- Heimat, weil er Angst hat, seiner afrikanischen Ehe- kende Zinsen. frau könnte in Deutschland etwas zustoßen. Und nun der dreifache Mord von Mölln. Nach dem zehnjährigen, durch Stabilität geprägten Aufschwung im Westen Deutschlands sind die Struk- Wer jetzt noch erklärt, meine Damen und Herren, turen bei uns nicht aus dem Lot geraten. Es ist wichtig, wer jetzt gar noch entschuldigt, der macht sich mit das festzuhalten. Das gibt Anlaß, mit Zuversicht nach Mördern gemein. vorne zu blicken. (Beifall bei der F.D.P. und der PDS/Linke Wir werden die deutsche Einheit vollenden können, Liste — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das wenn wir an der wachstumsorientierten Wirtschafts- hat mit Entschuldigung nichts zu tun!) politik festhalten: mehr produzieren und danach mehr Ich bitte alle unsere Mitbürger: Helfen Sie der verteilen — nur in dieser Reihenfolge geht es —, nicht Polizei bei der Bekämpfung der Verbrechen, beim die Staatswirtschaft fortsetzen, sondern Privatisierung Aufspüren der Verbrecher. Ich begrüße es dankbar und Marktwirtschaft durchsetzen. Das ist das Rezept, — vielleicht hätte auch ein Unternehmen mit deut- das der Bundesrepublik in der Zeit seit 1948 so großen schen Eigentümern auf den Gedanken kommen kön- Erfolg beschert hat. nen —, daß die Firma „Opel" zur Ergreifung der Täter Die Soziale Marktwirtschaft und eine liberale Wirt- 100 000 DM ausgesetzt hat. schaftspolitik haben den Menschen in Westdeutsch- Im übrigen, Herr Bundeskanzler, haben Sie die land ein Ausmaß von Wohlstand und sozialer Sicher- Kriminalität beklagt. Ich will Ihnen das nur an einem heit gebracht, von dem unsere Eltern und Großeltern Beispiel vorexerzieren dürfen, nämlich beim Kfz zu träumen nie auch nur gewagt hätten. Das werden Diebstahl, der unglaublich zugenommen hat. Erstens: wir mit dem Fleiß der Arbeitnehmer, der Initiative der Die Kraftfahrzeugindustrie weigert sich, die notwen- Unternehmer und einer verantwortungsbewußten digen technischen Vorkehrungen einzubauen, weil Politik der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. auch für die Autos, die es heute gibt, dadurch teurer und das wiedervereinte Deutschland schaffen. Dann, Herr wettbewerbsunfähiger werden. Bundeskanzler, werden auch die nächsten zehn Jahre gute Jahre für Deutschland sein. Zweitens. Das Kraftfahrt-Bundesamt läßt diese so Ich bedanke mich fürs Zuhören. ungenügend gesicherten Fahrzeuge trotzdem als für den Verkehr sicher zu. Die Versicherungswirtschaft (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) bietet an, ein Auto, das vor Ablauf von zwei- Jahren nach dem Kauf geklaut wird, zum vollen Neuwert zu Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile ersetzen. Folglich werden nur Autos geklaut, die nicht nunmehr dem Abgeordneten Rolf Schwanitz das älter als 18 Monate sind. Das Bundesaufsichtsamt für Wort. das Versicherungswesen hält sich für unzuständig, dagegen etwas zu unternehmen. Der Bundesgrenzschutz — Herr Bundeskanzler, das Rolf Schwanitz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr sind wir — bewacht die Grenze nach Polen, über die verehrten Damen und Herren! Mein Fraktionskollege diese Waren verschoben werden — es heißt ja: heute Rudi Walther hat gestern in der Geschäftsordnungs- gestohlen, morgen in Polen —, nicht ausreichend. debatte in seiner ihm — vielleicht auch als Haushäl- Gehen Sie bitte in die Mitte von Frankfurt an der Oder, ter — eigenen Bescheidenheit und Vornehmheit und sehen Sie sich den Straßenübergang an der gesagt, daß der Haushalt 1993 zuwenig Mittel für die Oderbrücke an! Lassen Sie sich von dem wachhaben- neuen Bundesländer beinhaltet. Sie werden verste- den Polizeioffizier erzählen, wie dort die Autos reihen- hen, daß ich als ostdeutscher Abgeordneter die Situa- weise über die Oder nach Polen gefahren werden und tion ein wenig dramatischer sehe. die Polizei überhaupt keine Möglichkeit hat, weil ihr Die Bundesregierung hat einen Haushalt vorgelegt, die technischen Vorrichtungen fehlen, dem abzuhel- bei dem klar ist, daß er nur wenige Monate so fen! unverändert bleiben wird, bei dem klar ist, daß zuwenig Zeit für wichtige Detailfragen war. Ich Wir sollten nicht immer nur über alles klagen, wir möchte beispielsweise auch gern wissen, was der sollten uns endlich mit den Betroffenen zusammenset- CDU-Kollege Dehnel den Menschen in seinem Wahl- zen, um dieser Biesterei abzuhelfen. Ich habe es kreis sagt, wenn er dort begründen muß, daß für den neulich auch im Bundesvorstand meiner Partei Aufbau Ostdeutschlands die Mittel aus dem Etat der gesagt: Was sind wir eigentlich für eine Regierung, in Wismut-Anstalt um 200 Millionen DM gekürzt wer- was für einem Staat leben wir eigentlich, daß wir den. Das sind Fragen, die natürlich besprochen wer- diesen Zustand einfach so weitersausen lassen? den müssen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Diesen Haushalt verkauft die Bundesregierung in ten der SPD) der Öffentlichkeit gleichzeitig — da wird es für mich Meine Damen und Herren, der Solidarpakt ist natürlich interessant — als Wohltat für die neuen darauf angelegt, die wirtschaftlichen Gefahren einzu- Bundesländer. Dies alles geschieht — ich sage das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10501

Rolf Schwanitz ohne Polemik — vor dem Hintergrund, daß der sanierungsfähig eingestuft worden war? Wie viele Bundeskanzler auf dem CDU-Parteitag von der Leute sind dadurch auf die Straße geflogen, daß sich Stunde der Wahrheit geredet hat. der Käufer des Unternehmens nicht an die vertraglich vereinbarten Arbeitsplatzgarantien gehalten und die (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Es war ja Treuhandanstalt tatenlos zugesehen hat? auch nur eine Stunde!) Die Bürger im Land — ich meine die Bürger in Was sagen wir den Leuten in Gera, wo heute der beiden Teilen unseres Landes — haben diese Ankün- größte Arbeitgeber die öffentliche Verwaltung ist? Wo digungen sehr aufmerksam verfolgt. Ich bin sicher, liegt dort noch der industrielle Kernbereich? Was daß der Umfang an Enttäuschung und das Ausmaß an sagen wir den noch Beschäftigten in der Zwischenzeit, Politikverdrossenheit in der Bevölkerung noch nicht hat doch Herr Hintze die Umstrukturierung, dieses so groß sind, daß wir die nationale Herausforderung, Umsteuern an den noch ausstehenden Nachtrags- wie sie sich beim Aufbau Ostdeutschlands stellt, nicht haushalt geknüpft? Das soll ja laut der „Frankfurter mehr bestehen können. Allgemeinen Zeitung" von gestern wohl erst im Mai 1993 stattfinden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Was wird in der Zwischenzeit? Einem Tickerdienst Die Menschen haben nicht die Mentalität eines Drük- von heute morgen 6 Uhr ist zu entnehmen, daß der kebergers, wie ich dies heute so halb den Worten des Sprecher der Treuhandanstalt 70 000 Entlassungen Bundeskanzlers entnehmen konnte. Ich weigere bis zum Jahresende angekündigt hat. Ist das die mich, dies verallgemeinernd anzunehmen. Es geht Wahrheit über die Ankündigung der Sanierung? darum, für die Menschen Chancen zu schaffen. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung, und dies muß (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Was soll er geleistet werden. denn tun?) Wenn diese Stunde der Wahrheit aber nun erneut Herr Bundeskanzler, die Botschaft kann nur heißen: eine Worthülse bleibt und nicht zu einer Kraftanstren- Ja, wir wollen die Sanierung der noch verbliebenen gung neuer Qualität sowie einem gerechten Aufteilen sanierungsfähigen Unternehmen, und wir tun in der der Lasten führt, wird nicht nur das Solidaritätsgefühl Zwischenzeit alles, um zu halten, was noch zu halten der Deutschen nachhaltig beschädigt. Unvermeidbar ist. Der Absturz in Ostdeutschland muß verhindert sind dann auch soziale Spannungen in Ostdeutsch- werden. Das wäre eine Botschaft, die die Arbeitneh- land in einem bisher nicht dagewesenen Ausmaß. mer aus dieser Debatte als Hoffnung mitnehmen Ich begrüße deshalb ausdrücklich die nun angekün- könnten. digte Umkehr zur Wahrhaftigkeit und warne gleich- Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist zeitig vor einem neuerlichen Versagen vor den Augen zu dieser und anderen dringend erforderlichen der Menschen, so wie sich das mit dem Haushalt, den Umsteuerungen jedoch nicht bereit. Die Vorausset- wir heute beraten, offensichtlich anbahnt. zung hierfür wäre u. a. eine endgültige Beseitigung Zur Stunde der Wahrheit gehört mehr als der bloße der Investitionsblockade bei den offenen Vermögens- Umgang mit dem Wort. Das Bekenntnis zur Wahrheit fragen. Noch immer ist das Restitutionsdogma ein verpflichtet in erster Linie zur nüchternen Analyse, Bremsklotz für die Entwicklung der Kommunen und zur ungeschminkten Bestandsaufnahme dessen, was des ostdeutschen Mittelstands sowie eine Ursache für war und was versäumt worden ist. Da steht für mich an überhöhte Verwaltungskosten. erster Stelle eine verfehlte Treuhandpolitik. Die Treu- Noch immer wartet der Bundestag gemeinsam mit handanstalt ist in Ostdeutschland zu einem Synonym den Tausenden von Anspruchsberechtigten auf das für Arbeitsplatzabbau, für Entindustrialisierung und schon im Einigungsvertrag angekündigte Entschädi- für Plattmachen von ostdeutschen Indus trien gewor- gungsgesetz. Wann wird, Herr Bundeskanzler, dieses den. Dauerthema der offenen Vermögensfragen wenig- Die Angestellten der Treuhandanstalt werden als stens vollständig mit einer rechtlichen Regelung aus- Gegner der Belegschaft in Treuhandbetrieben emp- gefüllt sein? Hierauf hätten die Menschen im Lande funden. Dabei setzen sie ja nur um, was die politische gern eine Antwort gehabt. Instanz — in diesem Fall der Bundesfinanzminister — Eine Umsteuerung findet ferner bei der Arbeits- dort als Marschroute vorgegeben hat. marktpolitik nicht statt. Im Gegenteil: Statt unseren Die Theorie, daß allein durch eine schnelle Privati- Ansatz der stärkeren Verzahnung der Arbeitsmarkt- sierung die ostdeutsche Wirtschaft gesunden könne und Strukturpolitik endlich konsequent aufzugreifen und man deshalb die Betriebe nur kurzfristig mit und ein Programm „Arbeit statt Arbeitslosigkeit" geringfügigen Transfusionen am Leben erhalten vorzulegen, soll das Ins trument des Arbeitsförde- müsse, hat sich als tragischer Irrtum erwiesen. Natür- rungsgesetzes ab 1. Januar 1993 gekürzt werden, und lich begrüßen wir es, wenn CDU-Generalsekretär dies bei anhaltend hohen Arbeitslosenzahlen im Hintze, wie gestern im „Handelsblatt" nachzulesen Osten und bei einer wachsenden Arbeitslosigkeit im war, nun auch industriepolitische Maßnahmen vor Westen Deutschlands. allem für sogenannte industrielle Kernbereiche Natürlich hat die Bundesanstalt für Arbeit einen ankündigt. Was sagen Sie aber, Herr Bundeskanzler, zusätzlichen Milliardenbetrag verausgabt, der durch den Tausenden von Arbeitslosen, für die dieser Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt gedeckt werden Umkehrungsprozeß zwei Jahre zu spät kommt? mußte. Die Bundesregierung bräuchte sich jedoch nur Wie viele Arbeitsplätze sind in Treuhandbetrieben dazu durchzuringen, eine Arbeitsmarktabgabe für abgebaut worden, obwohl das Unternehmen als Selbständige, Beamte, Minister und Abgeordnete zu 10502 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Rolf Schwanitz erheben, um dieses Haushaltsloch sozial gerecht zu gezwungen werden. Dies kommt für die Mieter einer schließen. Vor dieser Wahrheit, Herr Bundeskanzler, Erpressung gleich nach dem Motto: Kauf' deine Woh- verschließen Sie jedoch nach wie vor die Augen. nung, oder sie wird verkauft. Für Wohnungsunterneh- men werden dadurch Investitionsmittel gebunden, sie Noch einige Bemerkungen zu einer existentiellen werden blockiert. Es muß in die Vergangenheit, nicht Frage für die Menschen in unserem Land, zur Woh- in die Zukunft investiert werden. nungsfrage. Finanzminister Waigel hat gestern zu den Altschulden der ostdeutschen Wohnungswirtschaft Da der Kapitaldienst verständlicherweise von den ein paar interessante Bemerkungen gemacht. Er hat Wohnungsunternehmen nicht vollständig als Mieter- sinngemäß gesagt, daß die Altschulden, die einen höhung weitergegeben werden kann, wird die Eigen- Betrag von 350 DM pro Quadratmeter übersteigen, an kapitalausstattung der ostdeutschen Wohnungswirt- einen Fonds gegeben werden sollen. Dieser Fonds soll schaft angegriffen. Die gestern vollmundig angekün- dann bezüglich seiner Zinslast durch den Bund und digte Aufstockung der Kreditanstalt für Wiederaufbau die neuen Bundesländer ausgeglichen werden. Die läuft ins Leere, wenn diese Unternehmen durch feh- Tilgung soll durch die Unternehmen erfolgen, wobei lende Eigenmittel die Fördertöpfe nicht mehr in eine Privatisierung der Wohnungen als Quelle für Anspruch nehmen können. diese Tilgungsleistungen empfohlen wurde. Meine Damen und Herren, es gibt keine Alternative Das soll offensichtlich heißen, daß nicht nur die zur Entschuldung der ostdeutschen Wohnungsunter- Schulden bis 350 DM pro Quadratmeter bei den nehmen. Die notwendigen Mieterhöhungen — wir ostdeutschen Wohnungsunternehmen bleiben. Nein, alle wissen ja, daß sie mit Bitterkeit getragen werden auch über diese Grenze hinaus bleiben die Unterneh- und daß dies ein entscheidender Einschnitt in die men für die Tilgung und damit für den Schuldenberg Lebensgrundlage der Menschen dort ist — müssen in verantwortlich. Der Bund denkt offensichtlich nur an eine Sanierung fließen und nicht zu den westdeut- eine befristete Unterstützung bei einem Teil der schen Banken. Nur wenn die Menschen auch den Zinsen. Mieterhöhungen für diesen notwendigen Verbleib der Mietsteigerungen sehen können, wenn Kapitaldienst — etwa ab 1995, wie das schon gestern die Verbesserungen der desolaten Wohnbedingun- in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" angedeutet gen spürbar sind, sind die Menschen zu höheren worden ist — wären dann wohl unvermeidbar. Belastungen bereit und können diese verkraften. Statt dessen empfiehlt der Finanzminister hierfür Über ein solches Entschuldungsmodell sollte der weitere Privatierungen, also einen Kapitaldienst aus Bundesfinanzminister nachdenken. Davon ist jedoch der Substanz der Wohnungswirtschaft. Ich sage ganz nicht die Rede gewesen, und davon war nichts zu klar: Jawohl, privatisiert werden muß, aber bitte do rt, spüren. Ich kann nur hoffen, Herr Bundeskanzler, daß wo es sinnvoll und notwendig ist. dieser Ansatz, der gestern von Finanzminister Waigel präsentiert worden ist, nicht das abgestimmte Konzept (Beifall bei der SPD) der Bundesregierung ist. Wenn dies jedoch der Fall Ich darf Sie in diesem Zusammenhang an die sein sollte, dann sage ich: Sozialer Friede in Ost- Äußerungen des Präsidenten des Gesamtverbandes deutschland ade. der Wohnungswirtschaft erinnern, die er unlängst in Die Stunde der Wahrheit heißt, nicht nur eine Erfurt getan hat. Er sagte, daß von den 1991 insgesamt ehrliche Analyse der bisherigen Fehlentscheidungen angebotenen Wohnungen 87 000 für Privatisierung vorzunehmen, sondern eine Politik der Wahrheit heißt ganze 7 135 Wohnungen verkauft worden sind, an die für mich, auch das auszusprechen, was zweifellos bisherigen Mieter ganze 614 Wohnungen. Diese Woh- unbequem ist, was jedoch Wahrheiten sind, ohne die nungen sind nicht verkaufbar, weil ein unüberblick- wir nicht mehr auskommen können. Ich bin froh, daß barer Sanierungsaufwand in diese Wohnungen der Bundeskanzler heute erstmals klarere Worte gesteckt werden müßte und die Leute, die in diesen gefunden hat. Dies gibt mir ein wenig Hoffnung. Dies Wohnungen wohnen, natürlich die Mängel am besten kann jedoch nur der Anfang sein. Ich will deshalb kennen. auch dafür werben, diese bitteren Wahrheiten inner- Diese Wohnungen sind nicht verkaufbar, weil sie in lich anzunehmen, diesen Realitäten nicht weiter Neubaugebieten stehen, in denen nach der Platten- davonzulaufen. mit einer katastrophalen Infrastruktur bauweise War es nicht so, daß die deutsche Einheit 1990 und gebaut worden ist, weil dies potentielle Gebiete sind, 1991 auch ein Konjunkturprogramm für den Westen wo sich sozial Schwächere ansiedeln werden, da sich Deutschlands war? Ist denn der Eindruck falsch, daß diejenigen, die besser betucht sind, aus diesen Gebie- sich die Wirtschafts- und Währungsunion für Unter- ten herauskaufen können. Zurück bleiben diejenigen, nehmen aus der Altbundesrepublik in erster Linie in die das Geld nicht haben. Wer den Glauben daran hat, einer Ausdehnung des Absatzmarktes niedergeschla- dies wäre ein denkbares Käuferpotential, hat entwe- gen hat, daß neue Arbeitsplätze im Westen entstan- der keine Ahnung oder lügt sich selbst in die den sind, daß die Unternehmen hohe Umsätze mach- Tasche. ten und auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene (Beifall bei der SPD) in Westdeutschland hohe Einnahmen verbucht wer- den konnten? Das Fazit der Waigelschen Vorschläge zu den Altschulden von gestern kann offensichtlich nur hei- Gewiß, die Konjunkturlage hat sich seitdem im ßen: Die Mieter sollen für die Altschulden durch eine Westen verändert. Aber wir müssen den Menschen Erhöhung der Miete bezahlen, die Wohnungsunter- die volle Wahrheit sagen. Dazu gehört auch der nehmen sollen zu einer weiteren Privatisierung Hinweis darauf, in welchem Umfang in diesem Land Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10503

Rolf Schwanitz bereits Nutzen aus der deutschen Einheit gezogen den ist, zu wesentlich preisgünstigeren Modalitäten worden ist, nicht nur im Osten, sondern auch im aufgebaut, als das heute in Ostdeutschland machbar Westen. Nur wenn wir den Menschen sagen, was sie sein wird. davon hatten und daß gerade im inneren Zusammen- Deshalb ist eine Konstruktion, wie wir sie vorge- wachsen unsere Zukunft liegt, nur wenn die Men- schlagen haben — ein Zukunftsinvestitionspro- schen nicht weiterhin durch ein einseitiges Betonen gramm —, unumgänglich. Mit diesem Zukunftsinve- von vermeintlichen Gruppeninteressen gegeneinan- stitionsprogramm können nicht nur wichtige infra- der ausgespielt werden, können das notwendige Soli- strukturelle, ökologische und arbeitsmarktpolitische daritätsgefühl und die Teilungsbereitschaft gefördert Effekte erzielt werden. Es bietet darüber hinaus das werden. Instrument der Investitionspauschale. Graf Lambs- Zu diesen Wahrheiten gehört auch, daß sich politi- dorff, ich bin sehr dankbar, daß heute aus Ihrer sches Handeln an den unabweisbaren Bedürftigkei- Richtung das Signal kam, daß dieses Instrument nicht ten orientieren muß. Für mich gehört auch wegen des vollständig zu den Akten gelegt worden ist. Denn das fortschreitenden industriellen Niedergangs in Ost- ist gerade das Instrument, das uns alle Kommunalpo- deutschland vor allem die Entwicklung der kommu- litiker in Ostdeutschland unabhängig von ihrem Par- nalen Infrastruktur in den Bereich der dringenden teibuch als das segensreichste, das am schnellsten Handlungen. Die Entwicklung der Infrastruktur ist wirksame und das effektivste beschreiben. Es bietet nicht nur eine Frage der Lebensqualität, sondern auch eine Gewähr dafür, daß die Mittel konzentriert nach eine handfeste strukturpolitische Frage. Wenn hierbei der Dringlichkeit vor Ort eingesetzt werden können; nicht in absehbarer Zeit entscheidende Fortschritte denn unten wird entschieden, wo die Prioritäten gelingen, bleibt Ostdeutschland auch für industrielle sind. Neuansiedlungen größtenteils unattraktiv. Es sind diese beiden Prüfsteine — die rückhaltlose Die hier vor uns stehenden Bedürftigkeiten sind Analyse des Vergangenen und das Ausrichten des freilich enorm. Experten schätzen allein den Investi- Regierungshandelns an den dringlichsten Bedürftig- tionsbedarf im Bereich der kommunalen Pflichtaufga- keiten —, woran sich Ihre Taten, Herr Bundeskanzler, ben im Vergleich zu westdeutschen Kommunen, also nun messen lassen müssen, wenn Sie von der Stunde bei der Trinkwasserversorgung, bei der Abwasser- der Wahrheit reden. Mit diesem Haushalt jedenfalls frage, bei der Abfallwirtschaft, auf ca. 400 Milliarden und auch mit den gestrigen Ankündigungen zum DM. Damit wir uns richtig verstehen: Es sind keine Aufbau Ost werden Sie trotz aller Schönrederei diesen Luxusinvestitionen dabei, die für den Aufbau oder die Anforderungen nicht gerecht. Attraktivität beispielsweise im Fremdenverkehr in (Beifall bei der SPD) Ostdeutschland natürlich auch erforderlich wären. Will man diesen Nachholbedarf, also diesen eng- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer sten Bereich, in ca. 25 Jahren ausgleichen, so müßten Kurzintervention erteile ich dem Grafen Lambsdorff durchschnittlich 16 Milliarden DM pro Jahr allein in - das Wort. diesem Bereich investiert werden — und dies von ostdeutschen Kommunen, die schon eine beträchtli- (F.D.P.): Herr Präsident! che Pro-Kopf-Verschuldung mit sich herumschleppen Dr. Otto Graf Lambsdorff Meine Damen und Herren! Ich hatte den Kollegen müssen. Schwanitz im Anschluß an seine Bemerkung über die Über die Schulden der Kommunen in Ostdeutsch- Verschuldung einiger Gemeinden, die er zitiert hat, land haben wir heute überhaupt noch nicht geredet. fragen wollen: Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege Schwa- So beträgt die Verschuldung beispielsweise im thürin- nitz, ob diese Gemeinden wirklich bereit sind, alle gischen Waltershausen schon 2 000 DM pro Kopf. Das Möglichkeiten der privaten Finanzierung für Infra- ist mit westdeutschen Kommunen durchaus ver- struktur, für Stadtwerke, für Wasserversorgung und gleichbar. Die notwendigen Aufwendungen für Zin- für Wasserentsorgung in Anspruch zu nehmen, um sen und Tilgung haben zwar schon Westniveau ihren eigenen Verschuldungsrahmen möglichst zu erreicht, die Steuereinnahmen der Kommunen wer- schonen, oder gehören diese Gemeinden auch zu den jedoch auch nach der Steuerschätzung 1993 noch denjenigen, die auf private Finanzierung verzichten, nicht einmal ein Viertel der Pro-Kopf-Größe einer alles aus öffentlichen Mitteln — sprich: aus öffentli- Westkommune ausmachen. cher Kreditaufnahme — finanzieren möchten, um anschließend zu klagen, daß sie nicht bewegungsfä- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- hig sind? geordneter Schwanitz, der Abgeordnete Graf Lambs- dorff möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen. Sind Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Der Red- Sie bereit, sie zu beantworten? ner hat das Recht zu erwidern. Bitte sehr, Herr Abgeordneter Schwanitz. Rolf Schwanitz (SPD): Ich möchte gern fortfahren. (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt hat Das ist die Realität. Diese Probleme sind weder von er aber keinen Zettel mehr zum Ablesen!) den Kommunen allein noch durch den bisherigen Förderungsansatz der Bundesregierung zu bewälti- Rolf Schwanitz (SPD): Das wird je nach der Situation gen. Wir haben in diesem Zusammenhang übrigens der einzelnen Kommunen ganz unterschiedlich zu überhaupt noch nicht von Teuerungsraten geredet. beurteilen sein. Meine Zahl bezog sich auf Walters Denn natürlich wurde die Infrastruktur, die über drei hausen. Sie wurde vom dortigen Stadtkämmerer in oder vier Jahrzehnte in einer Westkommune entstan einer kommunalpolitischen Konferenz genannt. Für 10504 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Rolf Schwanitz mich ist das ein seriöser We rt. Pauschal läßt sich das Schauen wir uns einmal die Relation zwischen dem aber nicht sagen. Bruttosozialprodukt in der Bundesrepublik insge- Ich will Ihnen noch ein Zweites entgegnen. Wenn samt und dem in den neuen Bundesländern an. Das wir an die blockierten Vermögen denken, unter denen Bruttosozialprodukt in den neuen Bundesländern eine Kommune auch zu leiden hat, an die zum Teil beträgt 195 Milliarden DM. Die Zuschüsse des Bun- immer noch offenen Übertragungen von Eigentum an des, also die Transferleistungen in die neuen Bundes- die Kommune, an die Streitigkeiten im Energiebe- länder, werden im nächsten Jahr allein bei 110 Milli- reich — es gab vor kurzem einen Vergleichsvorschlag arden DM liegen. Mehr als 50 % Zuschüsse sind also des Bundesverfassungsgerichts —, so gehe ich davon nötig, um dieses Bruttosozialprodukt zu ermögli- aus, daß die Möglichkeiten der Privatisierung für chen. ostdeutsche Kommunen mit denen, die eine westdeut- Ich glaube, es ist richtig, darauf hinzuweisen, daß sche hat, auf keinen Fall vergleichbar sind. wir in den letzten Jahren die Ausgaben im Sozialbe- reich gewaltig gesteigert haben. Nach mir spricht der Kollege Dreßler. Er wird versuchen, ein anderes, ein Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort schwarzes Bild zu malen. hat nunmehr der Abgeordnete Die trich Auster- mann. (Zuruf von der CDU/CSU: Ein rotes!) — Ein rot-schwarzes Bild. — In der Tat sieht es so aus, daß die Sozialausgaben von 1982 mit 528 Milliarden Dietrich Austermann (CDU/CSU): Herr Präsident! DM auf 900 Milliarden DM in diesem Jahr angestie- Meine Damen und Herren! Der junge Kollege Schwa- gen sind. Höhere Leistungen für Familien und Allein- nitz, dem ich für seinen Vortrag Respekt zolle, hat erziehende waren fällig und sind auch gezahlt wor- dazu aufgefordert, zur Wahrheit zurückzukehren. den. Man hat bei Darstellungen gerade aus den neuen Bundesländern gelegentlich den Eindruck, als gäbe Oder sehen wir uns die Renten an. Die Entwicklung es die Bereitschaft, zur alten Idylle zurückzukehren, der Renten im Osten ist ein deutliches Beispiel für die und als wäre der Zustand, den wir 1989 und 1990 positive Entwicklung. 1989 gab es 16,7 Milliarden vorgefunden haben, ideal gewesen. Ich möchte dem Ost-Mark für die Rentner. Im mächsten Jahr werden entgegenhalten, Herr Kollege Schwanitz, daß auch im es 53,5 Milliarden West-Mark sein. Das spricht eine Kreis der ostdeutschen Gewerkschafter die Situation deutliche Sprache. anders beschrieben wird, als Sie das sagen. Man (Beifall bei der CDU/CSU) wünscht sich manchmal, daß es die Gelegenheit gäbe, einen Ausschnitt eines der sogenannten hervorragen- Wir haben in den alten Bundesländern zehn gute den Industriebetriebe unter eine Käseglocke zu stel- Jahre hinter uns. Wir sammeln jetzt alle Kräfte für gute len und ihn sich nach drei oder fünf Jahren noch Jahre in ganz Deutschland. Mit dieser Situationsbe- einmal anzusehen. schreibung sollen nicht die Schwierigkeiten, die da In Ost-Berlin trafen sich Bet riebsräte von ostdeut- sind, vernebelt werden. Aber die neuen Aufgaben schen Unternehmen und haben versucht, über können natürlich nur von denen bewältigt werden, die gemeinsame Maßnahmen zu entscheiden. Dabei in der Vergangenheit gezeigt haben, daß sie die alten wurde auch das Thema Treuhand angesprochen lösen können, und die sich dafür qualifiziert haben. — die Kritik haben Sie heute wiederholt —: „Selbst Die neuen Aufgaben will ich kurz beschreiben. Sie wenn es einen ,Kontrollrat' gäbe, in dem auch Arbeit- liegen vor allem in einer weiteren Verstärkung des nehmer die Entscheidungen der Treuhand mit zu Wiederaufbautempos in den neuen Bundesländern. begutachten hätten, könnten sie sich Sachzwängen Das ist es, was die Bürger dort erwarten. Dazu leistet nicht entziehen", betonte der DGB-Kreisvorsitzende der Haushalt 1993 einen wichtigen Beitrag. aus Rostock. Zum Schluß heißt es, „mit den Anforde- rungen an Produktivität, Kostensenkung, Preis- und Sie liegen in einem tatkräftigen Vorgehen gegen Marktfähigkeiten seien die ostdeutschen Betriebe Asylmißbrauch und gewalttätige Kriminalität, für überfordert." Wenn die Situation so ist, daß es die mehr innere Sicherheit. Sie liegen in einer antizykli- Marktfähigkeit noch nicht gibt, dann ist klar, wo schen Reaktion auf die weltweite Konjunkturflaute, unterstützt werden muß und weshalb es heute die in Deutschland erst später wirksam geworden ist, Schwierigkeiten gibt. d. h. auch in der Herstellung der Konkurrenzfähigkeit — ein ganz wichtiger Punkt — für die unsere Bürger Wir sind angetreten, um heute in der Haushaltsde- auch bereit sind — das hört man bei allen Gesprä- batte und insbesondere in der Diskussion über den chen —, Opfer zu erbringen. Die Herstellung der Einzelplan 04, der auch eine Bilanz des in zehn Jahren Konkurrenzfähigkeit der Bundesrepublik insgesamt Geleisteten darstellt, entschlossen den Blick nach ist eine wichtige Voraussetzung für eine positive vorne zu richten. Es war richtig, daß der Bundeskanz- Gestaltung der Zukunft. ler darauf hingewiesen hat: Die letzten zehn Jahre waren zumindest für den alten Teil der Bundesrepu- Meine Damen und Herren, ich glaube auch, daß wir blik gute Jahre. Sie waren erfolgreiche Jahre. Das eine Neuaufteilung der föderalen Lasten im Länder- kann man an vielen Daten festmachen, angefangen finanzausgleich brauchen. Sparen hat natürlich beim vom Faktum des längsten Aufschwungs der Nach- Abbau der Neuverschuldung Vorrang, aber alle sind kriegszeit über ein inzwischen verdoppeltes Bruttoso- gefordert. Um diese Aufgaben zu meistern, muß jeder zialprodukt bis zum verdoppelten Geldvermögen pri- seinen Beitrag leisten, Regierung, Opposition, Bund, vater Haushalte. Länder und Gemeinden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10505

Dietrich Austermann Es kann nicht so sein wie im Frühjahr 1992. Da Die SPD zögert bei der Frage der Eingrenzung der haben wir alle miteinander zusammengesessen und Sozialleistungen für Asylbewerber. Beschlüsse gefaßt, einen wesentlichen Schritt zum Wie sieht es in Sachen aus? Auch Aufbau in den neuen Bundesländern zu tun; und dann innere Sicherheit hier ein Beispiel aus Schleswig-Holstein. Am 10. No- mußten wir gegen den Widerstand der SPD im Ver- vember legt die dortige Opposition, die CDU, ein mittlungsausschuß, mit Hilfe von Herrn Stolpe, gegen Konzept für die Änderung der Rechtsgrundlagen vor. Widerstand auch der Mehrheit im Bundesrat, bis an Der Innenminister des Landes Schleswig-Holstein die Grenze des Machbaren den Bund belasten, um der — übrigens früher ein Datenschützer — lehnt dies ab, dortigen Mehrheit Zugeständnisse für die neuen Bun- weil er die Sorge hat, wir würden uns in einen desländer abzutrotzen. Dies war die Situation im autoritären Staat verwandeln. Dies zeigt doch, wo die Frühjahr 1992. Jeder glaubte, die wesentlichen Schritte seien geleistet, aber offensichtlich immer Probleme sind. Ich sage als Abgeordneter ganz klar: gegen den Widerstand der SPD. Ich erwarte auch von der F.D.P., von der Justizmini- sterin, daß sie innerhalb des nächsten halben Jahres Das Zögern der SPD in Sachen Asyl kostet die eine Bilanz dessen vorlegt, was notwendig ist, um deutschen Steuerzahler in diesem Jahr etwa 5 Milli- Rechtsvorschriften zur Herstellung der inneren arden DM. Wenn wir die Entscheidung, die wir jetzt Sicherheit zu ändern. Es hat keinen Zweck, daß wir miteinander herbeiführen wollen, schon vor einem darüber miteinander laut nach draußen diskutieren, Jahr gehabt hätten, wären wir ein ganzes Stück weiter aber die Ergebnisse dann nicht auch in Regierungs- und hätten vor allem, was ja interessant ist, bei den handeln umgesetzt werden. Sozialhilfekosten die Landeshaushalte wesentlich entlastet. Meine Damen und Herren, die wirtschaftliche Situation ist in den letzten Wochen und Monaten Diese Milliarden fehlen in den neuen Bundeslän- eindeutig verbessert worden. Wir haben die Leistun- dern; diese fünf Milliarden pro Jahr fehlen der Ent- gen für die neuen Bundesländer verstärkt, aber wir wicklungshilfe, fehlen der Dritten Welt. Wer darüber müssen auch in einem Bereich, der wenig finanzielle jammert, daß dort die Mittel fehlen, sollte nach den Anstrengungen erfordert, Wesentliches ändern. Dies Ursachen suchen. ist nicht nur, wie heute mehrfach gesagt wurde, Meine Damen und Herren, die SPD ist eine Aufgabe der Politik. Ich stelle mit Bedauern fest, daß Schnecke, aus Schulgesetzen einzelner Bundesländer inzwi- schen der Erziehungsauftrag verbannt worden ist. Ich (Helmut Esters [SPD]: Was?) stelle fest, daß man dort mehr von Selbstverwirkli- — ja, lieber Helmut Esters —, eine Schnecke, die chung und antiautoritär redet. Der liberale Strafvoll- zunächst immer die falschen Positionen vertritt und zug geht inzwischen so weit, daß Gerichte nicht mehr dann hinterherkriecht. Dafür gibt es eine Legion von in der Lage sind, Untersuchungshäftlinge für die Beispielen, vom Thema EG über NATO, Wiederverei- Dauer von mehr als einem halben Jahr in Gewahrsam nigung, Hilfen für die Bundesländer, Asyl, Blauhelme,- zu halten. Man mußte in Hamburg — das gilt sicher Adriaeinsatz, innere Sicherheit. Immer erst hinterher, auch für andere Bundesländer — mehrere Schwerst- ein oder zwei Jahre später ist man bereit, die Lösung verbrecher entlassen, weil Fristen verstrichen waren. mitzutragen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das gilt aber nicht Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. für Bayern !) Bedauerlicherweise war ja der Bundesrat heute den ganzen Tag über nicht vertreten. Auch dies ist ein Gebiet, auf dem gehandelt werden muß. Ich stelle fest, daß man rechtswidrige Maßnah- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Doch, ein men, wie Hausbesetzungen, nach wie vor duldet. Ich Senator und auch ein Pressesprecher der stelle fest, daß in der Medienlandschaft Tabubruch bayerischen Regierung waren da!) und Gewaltverbreitung nach wie vor eine wichtige — Ich meine Mitglieder der Regierungen. Ich hätte Rolle spielen. Wenn dann im letzten Jahr in Schles- sonst gern dem Ministerpräsidenten des Landes wig-Holstein aus dem Schulgesetz die Möglichkeit Schleswig-Holstein vorgehalten, daß er sich im gestrichen worden ist, einen Schüler, der sich schlecht schleswig-holsteinischen Landtag zu einem Asylkom benimmt, zu tadeln, zeigt das, daß viele auf dem promiß bereitgefunden hat — gemeinsam unterzeich- falschen Weg sind. net mit der dortigen Opposition, der CDU —, aber Spätestens nach den Morden von Mölln will der nicht in der Lage war, diesen Kompromiß auf dem Bürger Taten sehen, und ich frage alle: Leistet jeder Bundesparteitag seiner Partei durchzusetzen. seinen Beitrag, Maßnahmen vorbeugender Art auch (Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! gegen kriminelle Gewalttäter von rechts und links zu Kaum zu fassen!) ergreifen? Wenn dies nicht geschieht, können wir die volle Anwendung der Härte des Gesetzes fordern; Ich sage auch: Nicht jeder Kompromiß ist ein Ergeb- wenn die Richter aber nicht dazu bereit oder nicht in nis. Wenn jetzt Kompromisse ausgehandelt werden, der Lage sind, sind wir kein Stückchen weiter. die keine Spuren hinterlassen, wird das demokrati- sche System insgesamt in Gefahr geraten. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich weniges zum Thema Finanzen sagen. Wenn heute über die SPD: Wie ist es denn mit der (Zuruf von der hohe Neuverschuldung gesprochen wird, die im übri- Koalition?) gen ja unter der „normalen" des Jahres 1982 liegt, — Sie haben doch die Entschließung am 15. Oktober wird allerdings verkannt, durch welche Ausgaben- hier mitbekommen. blöcke die Neuverschuldung bedingt wird, welche sie 10506 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dietrich Austermann umfaßt. Von den 150 Milliarden DM Neuverschul- schlag reden sollten, jedenfalls nicht, solange die ÖTV dung aller öffentlichen Hände — Bund, Länder und mit polnischen Billigarbeitern ihre neue Verwaltung Gemeinden — sind etwa 120 Milliarden DM „eini- in Stuttgart errichtet, gungsbedingt", vom Fonds Deutsche Einheit über den (Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/ Kreditrahmen der Treuhandanstalt bis zur Förderung CSU]) der Ostgemeinden. Von den neuen Schulden sind also aber trotzdem 50 Millionen Defizit hat. Dies gilt auch 120 Milliarden DM einigungsbedingt. Ohne die von für die Medien, die nicht nur Depression und Pessi- uns herbeigesehnte Wiedervereinigung hätte der mismus verbreiten sollten. Dies gilt auch für die Bund in diesem Jahr keine neuen Schulden machen Banken und die Zinspolitik. müssen. Wer die notwendige Neuverschuldung kriti- siert, sollte sein Verhältnis zur Wiedervereinigung Zum Abschluß möchte ich kurz etwas zu Graf überprüfen! Lambsdorff und seiner Grafik sagen. Graf Lambsdorff, die erfolreichen Bemühungen zur Einsparung sind Meine Damen und Herren, unsere Position ist ganz geeignet, die Konjunktur wieder stärker zu beleben. klar. Die Neuverschuldung wird weiter zurückge- Dies bestätigt auch die neue Steuerschätzung, die den führt, und wir erwarten, daß im föderalen System jeder Ländern im alten Bundesgebiet immerhin für das dafür seinen Teil übernimmt. nächste Jahr eine Einnahmesteigerung von 5,7 % Der Kern der bundesstaatlichen Verfassung ist die bringt. Dabei ist schon die steuerliche Entlastung beim Finanzverfassung. Die Haushaltswirtschaft von Bund, Grundfreibetrag, bei Lohn- und Einkommensteuer Ländern und Gemeinden ist im Grundgesetz klar von gut 2 Milliarden DM berücksichtigt. Der Bund definiert. Der Bund ist für die Erfordernisse des zieht damit Konsequenzen aus dem jüngsten Urteil gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts verantwort- des Bundesverfassungsgerichts für Geringstverdie- lich. Seine Grundsätze gelten für Bund und Länder ner. gemeinsam. Es kann nicht sein, daß einzelne Länder, Es zeichnet sich ab, daß die Finanzpolitik durch ihre alte Bundesländer und die SPD in Bonn die hohe restriktive Handhabung zu einer Beruhigung des Verschuldung beklagen, dann durch die alten Bun- Preisniveaus, einer gemäßigten Lohnrunde und damit desländer ziehen und ständig neue Forderungen zu einer Geldpolitik führt, die Optionen für Zinssen- erheben. Der SPD-Vorsitzende hat in seinem Bundes- kungen öffnet. Wir haben es also in der Hand, mit dem land zu seinem Landeshaushalt erklärt: Die Forderun- richtigen Signal zur Haushaltspolitik auch für eine gen aus Bonn machen Schleswig-Holstein zu einem Option für Zinssenkungen und für eine Belebung der Schwellenland. Man muß sich das einmal vorstel- Wirtschaft zu sorgen. Wenn wir in den letzten zehn len! Jahren vieles gemacht haben, dann war vor allem richtig, daß wir deutlich darauf hingewiesen haben, (Zuruf von der CDU/CSU: Nicht zu fassen!) daß uns nicht Miesmacherei und Pessimismus voran- Ich glaube also, daß manch einer der Regierungschefs bringen, sondern Optimismus und das schnelle Reali- in den alten Bundesländern auf den Teppich- zurück- sieren und Anerkennen dessen, was wir für richtig kehren muß. Wenn die Forderung erhoben wird, es gehalten haben. Deshalb wird diese Wirtschaftspolitik müsse mehr gespart werden, so sage ich ganz bewußt: auch Erfolge haben. Das ist richtig, und wir sparen längst noch nicht in (Beifall bei der CDU/CSU) allen Bereichen der öffentlichen Hand. Nein, meine Damen und Herren, eine Alternative zu Wir haben im Haushaltsausschuß einen wesentli- dieser Politik gibt es weder in konzeptioneller noch in chen Beitrag geleistet. Wir haben bei den Fraktionen personeller Hinsicht durch die SPD. Mit dem Haushalt und den Parteistiftungen angefangen. Ich gebe zu, 1993 richten wir den Blick entschlossen nach vorn und daß manch einer wie ich davon überzeugt ist, in der sind bereit zu tun, was der Bürger von uns erwartet. Regierung, im Parlament, in den einzelnen Haushal- Wenn alle ihre Arbeit tun, geht es unter einer CDU- ten des Bundes, der Länder und der Gemeinden geführten Bundesregierung in weitere gute Jahre. könne noch mehr gespart werden. Ich glaube, kein Vielen Dank. einziger Empfang, keine öffentliche Darstellung ist in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge der letzten Zeit ausgefallen. Wenn ich dann allerdings ordneten der F.D.P.) lese, daß die Stadt Hannover von der Stadt Magde- burg Kredite aufnimmt, um ihre laufenden Ausgaben Vizepräsident Dieter-Julius-Cronenberg: Ich erteile zu decken, dann ist das ein Beispiel in viele Richtun- nunmehr dem Abgeordneten Rudolf Dreßler das gen. Es kann doch nicht richtig sein, daß wir in den Wort. alten Bundesländern zum soundsovielten Male das Pflaster in der Fußgängerzone der Stadt X aufnehmen und mit neuen Farben gestalten und in den neuen Rudolf Dreßler (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Bundesländern, die Investitionen nicht vorankommen und Herren! Nach mehr als fünf Stunden Debatte über oder nicht die Möglichkeit besteht, sie umzusetzen. den Einzelplan 04, den Haushalt des Bundeskanzlers, die Politik des Bundeskanzlers, bleiben Fragen über (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Fragen. Ich stelle fest, daß es der CDU/CSU nicht ordneten der SPD) einmal mehr auffällt, daß sich ihr Bundeskanzler Unser nächster Schritt nach dem Sparen auf allen unentwegt Fragen stellt — hingegen auf Antworten, die geboten wären, weitgehend verzichtet. Ebenen muß die Verantwortung jedes einzelnen für die ihm zugewiesenen Aufgaben sein. Das gilt für die (Zuruf von der CDU/CSU: Ihr macht bei Tarifparteien, die nicht länger vom sozialen Kahl des!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10507

Rudolf Dreßler Ich frage Sie: Sehen Sie eigentlich nicht oder wollen Sie nennen das „Arbeit statt Arbeitslosigkeit". Sie nicht sehen, daß diese Zeit eben Antworten verlangt, daß Ihrer Regierung nach zweijähriger Es kann Ihnen, Herr Kohl, doch nicht entgangen Amtszeit so viele Frage vorliegen, die einer Beantwor- sein, daß Sie und Ihre Regierung noch vor wenigen tung bedürfen, daß das Aufwerfen weiterer Fragen Tagen keine 25 Millionen DM zur Erlangung des durch den, der Antworten zu geben hat, ein unüber- Hauptschulabschlusses zur Verfügung stellen woll- sehbares Zeichen von Ratlosigkeit, ja von Schwäche ten, sich aber gleichzeitig innerhalb dieser Haushalts- ist? Ich will mich entgegen meiner Absicht vier Bemer- debatte ca. 500 Millionen DM für die Werbung Ihrer kungen aus der Rede des Bundeskanzlers zuwen- eigenen Bundesregierung genehmigen wollen. Das den. paßt einfach nicht zusammen. Ich beginne mit dem Rentenexperten Helmut Kohl. Hinzu kommen die Unterhaltungsebenen innerhalb Er trägt heute morgen dem Deutschen Bundestag der Koalition. Der Bundesfinanzminister erklärt Daten über den Altersaufbau vor, die Grundlage für öffentlich, er habe keinen finanzpolitisch kompeten- das Parlament 1988 waren, ein Rentenreformgesetz ten Gesprächspartner bei der F.D.P. gefunden. Herr zu verabschieden. Es wirft die Frage auf: Will er diesen Möllemann nennt das „ungeheuerlich" . Es bleibt Konsens nun aufkündigen, oder wollte er diesen offen, was er denn nun mit „ungeheuerlich" meint. Konsens heute morgen bekräftigen? Wir lesen, daß Fraktionschef Hermann Otto Solms (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Das ist von der F.D.P. ankündigt, es könne noch vor Weih- doch absurd!) nachten ein Nachtragshaushalt im Bundestag einge- Ich wende mich zweitens dem Maschinenlaufzeit- bracht werden. Unsereiner fragt sich, über was wir experten Helmut Kohl zu. Er besucht einen Betrieb in hier eigentlich diskutieren, reden und abstimmen Schwerin, läßt sich Geschichten erzählen und findet sollen. diese spannend genug, sie dem Parlament zu berich- ten. Das gipfelt dann heute morgen in der Forderung, Wir lesen in der Zeitung, daß Herr Schäuble seinen auch in Westdeutschland flexiblere Maschinenlauf- Stellvertreter Geißler und den Abgeordneten Pflüger zeiten einzuführen. der CDU als unerträglich in ihren Aussagen zum Asyl bewertet. (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Ja, Gott sei Dank!) Wir lesen in der Zeitung, daß der Generalsekretär Ich frage: Kann es möglich sein, daß einem Bundes- der CDU — was immer er auch mit der Regierung im kanzler das Höchstmaß an bestehender flexibler einzelnen zu tun haben mag — öffentlich ankündigt, Maschinenlaufzeit und Arbeitszeit, zwischen Be- diese würde einen Nachtragshaushalt bis Mai kom- triebsräten, Unternehmensleitungen und Gewerk- menden Jahres vorlegen. schaften in den letzten Jahren verabschiedet, wirklich unbekannt ist? — Es scheint so. - (Zuruf von der CDU/CSU: Dreßler macht den Pausenfüller!) Das dritte Beispiel — der Lebensarbeitszeitexperte Helmut Kohl. Er philosophiert über eine Verlänge- Wir lesen gleichzeitig in der Zeitung — ich zitiere —: rung der Lebensarbeitszeit, und ich frage mich: Kann Es waren außer Geißler und Pflüger Rita Süssmuth es einem Bundeskanzler wirklich entgangen sein, daß und . Sie berichteten, sie hätten, wäh- vor knapp elf Monaten rend sie sprachen, in der CDU/CSU-Fraktion Pogrom- stimmung gespürt. Sie würden das ohne Groll sagen, (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Das hat er hätten sie doch ihrerseits erkannt, daß die Abgeord- ja gesagt!) neten der CDU/CSU verstört, erschreckt und einge- dazu ein Gesetz in Kraft getreten ist, das diesen schüchtert von der aufgebrachten Stimmung in ihren Themenkomplex hinreichend beantwortet? Wahlkreisen und Kreisverbänden nach Bonn gekom- Das vierte Beispiel ist der Arbeitsförderungsgesetz men seien. experte Helmut Kohl. (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sie sollten (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wir sind wirklich nicht alles glauben, was in der doch nicht beim Frühschoppen!) Zeitung steht!)

Er trägt dem Parlament heute vor, das Konzept seiner Vergleichbares habe sich vorher nie ereignet. Politik sei: Arbeit statt Arbeitslosigkeit. Entfernt, frage ich mich, das hilfreiche Umfeld des Bundeskanzlers Der CSU-Vorsitzende in Bayern im Bezirk Nieder- die Arbeitslosenstatistik aus den Drucksachen und bayern, Alfred Dick, erklärt die Steuerpolitik der Zeitungsausschnitten, die ihm eigentlich vorgelegt Bundesregierung als Verschaukelungs- und Täu- werden sollten? schungspolitik. Das CSU-Organ „Bayernkurier" wirft Vor wenigen Tagen hat Ihre Bundesregierung, Herr der Schwesterpartei CDU vor, sie schrecke die Wähler Kohl, Milliardenbeträge aus dem Arbeitsförderungs- ab. gesetz gestrichen. „ 150 000 Arbeitslose mehr als untere Grenze" ist die Antwort der Experten. Manche (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Hört! Hört!) sagen sogar: 200 000 bis 250 000 Arbeitslose mehr. Herr Geißler sieht in der CDU eine schwere Glaub- (Julius Louven [CDU/CSU]: Wie rechnen Sie würdigkeitskrise, und Herr Stoiber nennt Herrn Kin- das denn?) kel ein Sicherheitsrisiko. 10508 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Rudolf Dreßler Meine Damen und Herren, unter diesen gesamm- erreicht hat, sind nicht erkennbar. Einen stabilisieren- telten Prämissen glaube ich, feststellen zu dürfen, den Beitrag Deutschlands zur Neuordnung der in (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Fleißige Bewegung geratenen politischen Landschaft Europas Mitarbeiter! — Eduard Oswald [CDU/CSU]: konnten wir aus der Rede des Bundeskanzlers nicht Große Materialsammlung!) erkennen. Der innere Zusammenhalt unseres Volkes ist bedroht, noch bevor er nach der deutschen Verei- daß man den in zunehmendem Maße in der Publizistik nigung überhaupt gefunden wurde. M an kommt zu Vergleiche anstellenden Journalisten, die den Zu- dem Ergebnis, daß Deutschl and ziemlich führungslos stand der Koalition zwischen SPD und F.D.P. aus dem in immer größere Zerreißproben schlittert, und die Jahre 1982, als sie zu Ende ging, also ihrer Endphase, politische Philosophie, die die Grundlage für das heranziehen heutige Regierungsbündnis von Anfang an bildete, (Zuruf des Abg. H ans-Joachim Fuchtel hat auf beängstigend konsequente Weise jene Situa- [CDU/CSU]) tion heraufbeschworen, in der sich unser Land derzeit befindet. Unser Volk wird die Geister nicht mehr los, und damit Verwandtschaftsbeziehungen zum heuti- die diese Regierung gerufen hat. gen Zustand der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. aufwerfen, antworten muß: Man muß sich schützend (Zuruf von der CDU/CSU: Was ist das für eine vor die damals Beteiligten von bis niveaulose Rede!) Hans-Dietrich Genscher stellen. M an muß sie vor derartig ehrenrührigen Vergleichen in Schutz neh- Denn der desolate innere Zustand, in dem sich men. Das, was damals 1982 in der Koalition passierte, unsere Gesellschaft und mit ihr die ganze Republik war im Verhältnis zu dem, was bei Ihnen heute los ist, befindet, hat seine Ursache nur vordergründig in geradezu ein freundschaftlich zugewandtes Liebes- aktuellem politischen Versagen oder Unvermögen. Er verhältnis. ist vielmehr auch in der von dieser Regierung bei ihrem Amtsantritt eingeleiteten schleichenden Um- Bei Ihrem Amtsantritt haben Sie großsprecherisch wertung der gesellschaftspolitischen Grundlagen Ziele verkündet. Diese Ziele sind zu einem Zerrbild begründet. Zehn Jahre dieser Bundesregierung verkommen. Sie haben sie in ihr Gegenteil verkehrt. haben in der Tat tiefgreifende Spuren hinterlassen, Sie haben auch heute wieder in dieser Debatte deut- vor allem in den Köpfen. Der kaum verdeckte Appell, lich gemacht, daß Sie handlungsunfähig sind, daß Sie immer wieder geäußert, an den wirtschaftspolitischen nicht in der Lage sind, dem deutschen Parlament mit und wirtschaftlichen Egoismus des Einzelnen hat ein dieser Haushaltsdebatte Problemlösungen aufzuzei- Bewußtsein geschaffen, dessen Folgen wir heute gen. Der heute zur Beratung anstehende Bundeshaus- tragen müssen. Zehn Jahre Politik ohne identitätsstif- halt widerspricht in allen seinen Aussagen den Gebo- tende Signale zur gesellschaftlichen Zusammengehö- ten einer geordneten Finanzpolitik. Er verkehrt die rigkeit, zehn Jahre Politik, in denen gesellschaftliche Verpflichtung zur Haushaltswahrheit und Haushalts- Solidarität fast als etwas Verunglimpfenswertes dar- klarheit ins Gegenteil. Er widersp richt den elementa- - gestellt wurde, lassen sich nicht durch ein paar hohle ren Regeln einer ehrlichen politischen Bilanz. Er Phrasen zur nationalen Einigkeit, wie sie immer vermittelt weder politische Orientierung noch ökono- wieder verkündet werden, überwinden. mische Perspektive. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dieser Haushalt, meine Damen und Herren, ist schlicht ein Dokument der politischen Wirrnis, ein Wenn das alles ernst gemeint ist, dann müßten Zeugnis regierungsamtlichen Unvermögens. Er ist vielmehr Taten diese Worte untermauern und politi- eine traurige Bestätigung des schlechten Rufes, den sches Vorbild vorgelebt werden. Beides ist bei dieser die Bundesregierung derzeit hat. Regierung nicht zu sehen. Jetzt in einer Zeit, in der nichts mehr gefordert ist als Zusammenstehen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Julius Solidarität, nichts mehr als eine gerechte Verteilung Louven [CDU/CSU]: Nicht mal die SPD hört der Lasten, die gemeinsam zu schultern wären, wird zu!) die Politik dieser Regierung von ihren eigenen ideo- Die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. geht nun in logischen Verirrungen und ihren Fehlern eingeholt. ihr elftes Amtsjahr. Die natürlichen Verschleißer- scheinungen, denen ein solches Bündnis naturgemäß Da hieß es und heißt es immer wieder: Leistung muß unterworfen ist, haben sich bei dieser Regierung sich wieder lohnen — seit 1982. Früher nannte man mittlerweile auch für Oppositionspolitiker beängsti- das: Freie Bahn dem Tüchtigen. Beide Parolen hören gend gesteigert — und das angesichts politischer sich gut an; aber beide Parolen sind politisch unhalt- Herausforderungen, die in der deutschen Nachkriegs- bar. Die eine ist wertlos, wenn nicht gar diskriminie- geschichte ohne Beispiel sind. rend, weil sie eine Antwort darauf verweigert, wie die weniger Tüchtigen in die Gesellschaft einbezogen Die oberste Aufgabe jeder Politik, gleiche Lebens- werden, damit auch sie sich ihr zugehörig fühlen, und verhältnisse im geeinten Deutschland zu schaffen und die andere Parole ist zynisch, weil sie kaum verhüllt den Aufbau der ostdeutschen Bundesländer zu begin- Leistung einseitig an ökonomischen Kategorien mißt nen, ist heute ebenso ungelöst wie am 3. Oktober und zudem diejenigen ausgrenzt, die leisten wollen, 1990. aber nicht können oder dürfen, etwa weil sie keinen (Beifall bei der SPD) Arbeitsplatz haben. Ich stelle nach der Rede des Bundeskanzlers fest: Dies sind gesellschaftspolitisch vergiftende Parolen. Mittel und Wege zur Überwindung der wirtschaftli Eine Politik, die sich wie die der Bundesregierung seit chen Rezession, die auch unsere Volkswirtschaft nunmehr zehn Jahren solche Parolen zu eigen macht, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10509

Rudolf Dreßler sie gleichsam inhaliert, organisiert nicht den gesell- mich, warum Sie sich so verhalten, als sei sie es doch. schaftlichen Ausgleich, sondern den Verteilungs- Nichts gegen ein gesundes Verhältnis zur Macht! Sie kampf, organisiert die Ellenbogengesellschaft. ist auch in der Demokratie unverzichtbar; aber die (Beifall bei der SPD) Menschen stößt es ab, wenn sie nicht zum Zwecke der Lösung ihrer Probleme eingesetzt wird, sondern um Ich will hinzufügen: Eine solche Politik zerstört der Sicherung des Wahlerfolges Ihrer Partei willen. einen jener Grundwerte, ohne die keine gerechte Gesellschaft existieren kann, nämlich das, was die (Beifall bei der SPD) Angelsachsen unübersetzbar mit dem Wort „compas- Gerade die letzte Methode hat diese Regierung fast sion" bezeichnen. Gemeint ist jene Fähigkeit der perfektioniert. Da war die Wählertäuschung über Menschen, füreinander dazusein und mitzufühlen. Ich notwendige Steuererhöhung vor der Bundestagswahl will nichts idealisieren; aber ohne eine Grundausstat- nur ein trauriger Höhepunkt. Ich denke, es ist hinzu- tung an „compassion" ist eine humane Gesellschaft zufügen: Wer langfristig in Wahlen erfolgreich sein nicht denkbar. will, sollte eher die Losung beherzigen: Wahlerfolg (Beifall bei der SPD) nur durch Problemlösung. Dieser Koalition wird diese Erfahrung 1994 ziemlich sicher zuteil werden. Füreinander einzustehen bedeutet nun einmal mehr, als füreinander im Notfall zu zahlen. Was könnte das (Beifall bei der SPD) deutlicher unter Beweis stellen, als der bisher reich- Herr Bundeskanzler, Sie haben die Entscheidungen lich mißratene Prozeß der gesellschaftspolitischen der Regierung in einem Ausmaß auf Ihre Person Vereinigung von West- und Ostdeutschen? konzentriert, daß man das ganze Verfahren als eine Im übrigen: „Leistung muß sich wieder lohnen" Art demokratischen Absolutismus bezeichnen heißt doch auch, sie vorwiegend nach dem persönli- könnte. Bemerkenswerterweise gilt hingegen: Diese chen ökonomischen Erfolg zu werten, gesellschafts- Regierung ist dennoch ohne Führung. Das zeigt, politisch wertvolle Arbeit, die sich eben nicht in Führung, auch in der Demokratie ein unerläßliches ökonomischen Kategorien fassen läßt, zu diskriminie- Prinzip, braucht mehr als Entscheidungen, sie braucht ren. Überzeugungskraft. Herr Bundeskanzler, nach mei- (Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn!) ner Wahrnehmung können Sie nicht mehr überzeu- gen. Die Menschen glauben Ihnen nicht mehr viel, Das ist, höflich gesagt, Ausdruck geistiger Anspruchs- weil Sie sie zu oft getäuscht haben, und die Menschen losigkeit. wissen: Dieser Bundeskanzler war mit Versprechun- (Beifall bei der SPD) gen schnell bei der Hand, aber ebenso schnell dabei, sich über sie hinwegzusetzen. Das alles sind denkbar Ihre Zwischenrufe bestätigen das. schlechte Voraussetzungen für zielgerichtetes Regie- (Zuruf von der CDU/CSU: Im Gegenteil, ren in einer schwierigen Zeit. - nichts wird bestätigt!) Aber es ist nicht nur die gesellschaftspolitische Deshalb will ich hinzufügen: Eine Politik, die sich Philosophie dieser Regierung, die in die Irre führt; es daran orientiert, zeugt von intellektueller T ristesse, sind nicht nur die grundlegenden Rahmenbedingun- jedenfalls nicht von geistig-moralischer Führung oder gen für das Regierungshandwerk, die nicht stimmen. gar Erneuerung, die die Deutschen seit 1982 angeb- Die Koalitionsparteien sind in sich tief zerstritten. Es lich beglücken sollen. kann ja kein Zufall sein, wenn ein Abgeordneter der F.D.P. den bayerischen Innenminister einen Extremi- (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das die Alter sten im öffentlichen Dienst nennt, und es kann auch native, was Sie sagen?) kein Zufall sein, wenn der Bundesfinanzminister dem Manche, meine Damen und Herren, behaupten, die Wirtschaftsminister die Kompetenz abspricht, und das Deutschen seien ein Volk der Dichter und Denker. alles in einer Regierung. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich frage mich: Glauben Ich weiß nicht, ob diese Behauptung stimmt. Sie ernsthaft, Sie könnten in einem solchen Zustand der Öffentlichkeit noch Geschlossenheit vorgaukeln? (Zuruf von der SPD: Für das Volk ja!) Wissen Sie eigentlich vor lauter Beschäftigung mit Daß mittlerweile, meine Damen und Herren, Herr sich selbst und mit eigenen Krisen noch, was eigent- Möllemann Stellvertreter des Bundeskanzlers gewor- lich in Deutschland vor sich geht? den ist, kann diese Behauptung auch nicht erhär- (Widerspruch bei der CDU/CSU) ten. Ich will das noch in einigen Punkten zusammenfas- (Heiterkeit bei der SPD) sen. Wir registrieren Firmenzusammenbrüche zuhauf Politik insgesamt hat in den zehn Jahren der Amts- in den ostdeutschen Ländern — heute an Problemvor- zeit dieser Regierung das Vertrauen vieler Menschen schlag: Nichts! Wir registrieren dramatische Einbrü- verloren, das, so fürchte ich, so schnell auch nicht che in der westdeutschen Konjunktur — in der Rede wieder zurückgewonnen werden kann. Eine der Ursa- des Bundeskanzlers keine Antwort! chen für den Vertrauensverlust liegt in der Art und Weise, wie diese Regierung, vor allem aber der (Zuruf von der SPD: Haben wir auch nicht Bundeskanzler, Macht ausübt, die ihm von den Men- erwartet!) schen anvertraut wurde. Herr Bundeskanzler, wenn Wir registrieren drohende Kurzarbeit bei den Kon Macht auch für sie kein Selbstzweck ist, frage ich zernen der Automobilindustrie als schrilles Wa rn- 10510 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Rudolf Dreßler signal — in der Rede des Bundeskanzlers keine Sagen Sie doch endlich die Wahrheit! Sagen Sie den Antwort! Menschen, wie es um Deutschland steht! Nennen Sie die Probleme, unterbreiten Sie ihre Lösungsvor- (Zuruf von der F.D.P.: Wo waren Sie eigent schläge! Sie haben die Mehrheit in diesem Hause lich heute morgen?) nicht erhalten, um sich in stürmischen Zeiten auf Wir registrieren steigende Massenarbeitslosigkeit — Grund zu legen oder sich in den eigenen Widersprü- keine Stellungnahme! Wir registrieren einen dramati- chen zu verfangen. schen Ansehensverlust Deutschlands in der Welt — Deshalb sagt die sozialdemokratische Bundestags- kein Konzept, um dem zu begegnen! Ständig mehr fraktion: Unser Land braucht endlich einen neuen Menschen fragen sich, wohin diese Republik treibt, Anfang. oder sollte man sagen: diese Regierung sie treiben (Beifall bei der SPD) läßt. Wir brauchen erstens einen Kassensturz, um zu Statt mit den Krisen im Lande beschäftigt sich diese einer geordneten Finanzpolitik zurückkehren zu kön- Regierung mit den von ihr selbst verursachten Krisen nen. im eigenen Haus. Wir brauchen zweitens eine wirtschaftspolitische (Beifall bei der SPD) Bilanz, um endlich realistische Perspektiven für den Ich will hinzufügen: Nach parlamentarischem Ver- Aufbau im Osten gewinnen zu können. Die Menschen ständnis haben Sie die Pflicht, Deutschland zu regie- dort brauchen Licht am Ende des Tunnels. ren und vor Schaden zu bewahren. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Das machen wir Wir brauchen drittens einen entschlossenen, einen schon!) starken Rechtsstaat, der nicht auf einem Auge blind ist, sondern die gewalttätigen Sumpfblüten von Ich registriere, daß Sie in Wirklichkeit die Dinge rechts treiben lassen und in Ihrer eigenen Handlungsunfä- higkeit zu ersticken drohen. Wo wirken Sie denn (Zuruf von der CDU/CSU: Und links!) eigentlich noch aktiv gestaltend? Im Sommer haben ebenso entschlossen in die Schranken weist, wie er die Sie sich zum drittenmal in Fortsetzung über die Terroristen von links in die Schranken gewiesen Pflegeversicherung geeinigt — ein dringendes sozia- hat. les Problem, das gelöst werden muß. Bis heute hat (Beifall bei der SPD) diese Regierung es nicht fertiggebracht, einen Gesetz- entwurf vorzulegen. Seit über einem Jahr liegt ein Wir brauchen viertens gerade in schwierigen Zeiten Gesetzentwurf der SPD im Ausschuß für Arbeit und eine Sicherung des Sozialstaates. Statt weiteren will- Sozialordnung. Die Koalition verweigert sich trotz kürlichen Abbau benötigen wir einen qualitativen mehrfacher Aufforderung einer parlamentarischen Umbau. - Gemeinschaftsinitiative. Ich frage: Soll man das denn Wir brauchen fünftens eine Arbeitsmarktpolitik mit politische Gestaltung nennen? Perspektive, die endlich die Qualifizierung der Men- schen finanziert statt deren Arbeitslosigkeit. (Beifall bei der SPD) Sechstens brauchen wir einen neuen Staat für eine Seit langer Zeit fordert nicht nur die SPD, endlich Politik des sozialen Wohnungsbaus. Jeder muß sein den Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung" bei Recht auf eine menschenwürdige und bezahlbare der Eigentumsregelung im Osten Deutschlands Wohnung auch verwirklichen können. umzukehren, um ein gewichtiges Investitionshinder- Wir brauchen letztlich auch einen neuen Anlauf in nis zu beseitigen. Die Koalition stellt sich taub, obwohl der Umweltpolitik, der der fortschreitenden Vernich- erkennbar ist, daß diese Umkehrung zwingend vorge- tung der Umwelt wirklich Einhalt gebietet. nommen werden müßte. Soll das etwa politische Gestaltung sein? Vor allem aber, meine Damen und Herren, brau- chen wir die Wiederherstellung von Glaubwürdig- Seit langer Zeit erweist sich ein klarer gesetzlicher keit und Vertrauen in der Politik wie in der Gesell- Sanierungsauftrag für die Treuhandanstalt als dring- schaft. Sie sind das Fundament, auf dem Deutschland lich. Es geschieht nichts. Die Bundesregierung rührt zusammenfinden kann. Nur dann wird es gelingen, sich nicht. Nennt man das etwa politische Gestal- die Herausforderungen zu bestehen. Eine Regierung, tung? die dazu nicht die Kraft hat, die diesem grundlegen- Das drohende Verkehrschaos auf Deutschlands den Auftrag im Wege steht, müßte eigentlich ihr Straßen, ständig steigende Wohnungsnot in Ost und Mandat an ihren Auftraggeber zurückgeben, denn die West, Verschärfung der ökologischen Krise, anhal- Wohlfahrt des Landes hat allemal Vorrang. tende Ungerechtigkeit in der Besteuerung von Fami- (Beifall bei der SPD) lien — in keinem dieser gewichtigen Problemfelder ist die Regierung mit Lösungsvorschlägen an Deck, meine Damen und Herren. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für Arbeit und Sozial- (Beifall bei der SPD) ordnung, Dr. Norbert Blüm, das Wort. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen. Sie haben den Menschen mehr als einmal die Unwahrheit gesagt. Glauben Sie wirklich, wenn Sie Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und zur Zeit nichts sagen, sei das die Alternative dazu? Sozialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10511

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Herren! Herr Kollege Dreßler, Sie sind schwächer Es ist eine gigantische Leistung der deutschen geworden. Rentenversicherung, daß sie vier Millionen neuen (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Rentnern so schnell ihren Rentenbescheid geben Früher haben Sie Ihre Beschimpfungen noch auswen- konnte. Ich gebe zu, daß es noch nicht überall klappt. dig gelernt, jetzt müssen Sie sie schon vorlesen. Dann sollten Sie diesen Rentnern sagen, sie sollten nicht warten, sondern sich einen Vorschuß abholen. (Erneute Heiterkeit bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Eine Aneinanderreihung von demagogischen Kalau- ern — zur Sache nichts gewesen! Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Gestatten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Sie eine Zusatzfrage, Herr Minister? ordneten der F.D.P.) Deshalb antworte ich zur Sache: Die von Ihnen Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und beschworene Regierung Schmidt hat sich mit einer Sozialordnung: Ich will noch hinzufügen: Sie sehen, Kürzung des Sozialhaushaltes um 10 % verabschiedet. wie wichtig die Mittel für die Aufklärung sind, die wir Dieser Sozialhaushalt steigt um 8,7 % . in unserem Haushalt haben. Wir haben die Renten stabilisiert; Sie haben die (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Renten manipuliert, den Bundeszuschuß gekürzt und willkürliche Anpassungen vorgenommen. Die Rente Noch nicht einmal die Abgeordneten der SPD kennen ist wieder stabil. Wir stehen zum Konsens. das Rentenrecht. Wir werden ihnen eine Broschüre kostenlos zuschicken. Sie haben nach den zehn Jahren gefragt. Ich nenne nur ein Stichwort, über das Sie 13 Jahre geredet und (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU bei dem wir gehandelt haben: Erziehungszeiten im sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) Rentenrecht. Endlich erhalten die Mütter ihr Recht, endlich bekommen sie ihre Kindererziehungszeiten. Hinrich Kuessner (SPD): Herr Bundesminister, diese (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Frage ist viel zu ernst, als das wir darüber albern sollten. Der Beitragssatz in der Rentenversicherung ist so niedrig wie seit 1972 nicht mehr. Wir haben die Renten (Beifall bei der SPD) stabilisiert trotz der großen Anstrengungen, an der Sie Ich kenne dieses Problem seit langem und habe Sie mitgewirkt haben, unser Rentenrecht als gesamtdeut- schon im Haushaltsausschuß gefragt und darauf auch sches Rentenrecht darzustellen. Die ersten Gewinner eine Antwort bekommen. Wissen Sie, daß der der deutschen Einheit sind unsere älteren Mitbürger Abschlag für manche Rentner in einer Höhe liegt, bei in den neuen Bundesländern, und sie haben es auch der sie Schwierigkeiten haben, zur Zeit damit fertig- verdient. zuwerden? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie haben am meisten mitgemacht. Die Durchschnitts-- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und rente hat sich dort verdoppelt. Sozialordnung: Die Rentenversicherung bemüht sich, Deshalb vertraue ich darauf, daß die Millionen, die diesen Vorschuß in der Nähe der zu erwartenden uns zuhören, sich nicht an der heißen Luft des Herrn Rente zu halten. Ich will hier vor dem Deutschen Dreßler, sondern an den Fakten dieser Regierung Bundestag sagen: Es ist eine Glanzleistung, daß wir orientieren. Dann haben wir gewonnen. innerhalb von 14 Tagen die ostdeutschen Renten umgestellt haben und fähig waren, im Zusammen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hang mit der Sozialunion dieses Rentenrecht auch anzuwenden. Ich finde, daß ist ein großes Glanzstück, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mini- an dem Hunderte, Tausende, Zehntausende mitge- ster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen wirkt haben. Kuessner? Aber nun noch zum Experten Dreßler, dem Exper- ten für Arbeitsmarktpolitik. Wir steigern die Ausga- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und ben für den Arbeitsmarkt in den neuen Bundeslän- Sozialordnung: Ja. dern vom Haushalt 1992 auf 1993 von 30 Milliarden auf 34 Milliarden DM. Wenn ich richtig rechnen kann — Elementarunterrricht —, sind das 4 Milliarden DM Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte schön. mehr. Und das nennt Dreßler Kahlschlag. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ist es doch Hinrich Kuessner (SPD): Herr Bundesminister, wis- auch!) sen Sie, daß viele Rentner in den neuen Ländern noch — 4 Milliarden DM mehr nennen Sie Kahlschlag? — immer auf ihren Rentenbescheid warten? Fuchs, du hast schon öfter nicht nur die Gans gestoh- len, sondern die Rechnung verwechselt. Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Sozialordnung: Dann sollten Sie diesen Rentner sagen Es hieß weiter: 150 000 Arbeitslose mehr auf Grund — das hätte Ihnen Herr Dreßler schon sagen kön- der Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes. Die nen —, daß sie einen Vorschuß erhalten können. Sie Bundesanstalt geht in ihrem Haushaltsentwurf von brauchen auf keinen Pfennig zu warten. Wir handeln 370 000 AB-Maßnahmen aus, wir von 350 000. Das schnell. ergibt einen Unterschied von 20 000. Gegenüber dem 10512 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundesminister Dr. Norbert Blüm I Höchststand ist das ein Unterschied von 40 000. Nicht hat —: Stimmt es, daß in den Reihen der Koalition erwähnt haben Sie, Experte Dreßler, daß wir den derzeit Überlegungen dahin gehend angestellt wer- Rückgang bei ABM kompensieren und mehr als den, die Arbeitslosenhilfe aus dem Bundeshaushalt ausgleichen durch das neue Instrument „Arbeitsför- herauszunehmen, sie der Bundesanstalt für Arbeit derung Ost". Jetzt sind schon Megaprojekte für die anzulasten und dafür die Beitragssätze zu erhöhen? Braunkohle-Arbeitnehmer in Höhe von 15 000 Betei- ligten, für Umweltschutz in Höhe von 10 000 verein- bart. Wir sind dabei, für die Chemiearbeiter Projekte Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und in Höhe von 7 000 zu vereinbaren. Weitere kommen Sozialordnung: Ich kenne solche Überlegungen nicht. hinzu. Ich würde mich immer gegen solche Überlegungen Herr Dreßler, es wäre besser, hier vor der deutschen wenden, weil die Beitragszahler nicht für die Arbeits- Öffentlichkeit Aufklärung über die Hilfen zu betrei- losenhilfe zuständig sind. ben, statt im Gegenteil Verunsicherungen zu schaf- (Zuruf von der SPD: Vorsichtig!) fen. Sie würden den Bürgern mehr helfen. — Vorsichtig? — Ich bin nicht nur vorsichtig; ich bleibe (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auf der ordnungspolitischen Linie, die Sie immer Der Experte Dreßler kritisiert, daß wir die Förde- verlassen. Das ist richtig. rung des Hauptschulabschlusses im Arbeitsförde- (Beifall bei der CDU/CSU) rungsgesetz für solche gestrichen haben, die ihn nicht Zur Pflegeversicherung nur soviel: Ich bin sicher geschafft haben. Jetzt frage ich den Experten Dreßler: — ich hoffe, dieses Haus mit all seinen Fraktionen ist Wieso soll der Beitragszahler die Folgen einer verfehl- sich darüber einig —, daß die Pflegeversicherung zu ten Schulpolitik finanzieren? Das sollen gefälligst die den bevorzugten, zu den dringendsten Fragen tun, die eine Schulpolitik betreiben, wie sie in Nord- gehört. rhein-Westfalen betrieben wurde. Den höchsten Anteil derjenigen, die den Hauptschulabschluß nicht (Zurufe von der SPD) geschafft haben, gibt es in Nordrhein-Westfalen. — 13 Jahre haben Sie regiert, und 13 Jahre haben Sie (V o r s i t z: Vizepräsident Helmuth Becker) nichts gemacht. Wir haben im Gesundheits-Reform- Ich frage Sie: Wieso soll denn eigentlich der Hand- gesetz zum erstenmal überhaupt für die ambul ante werksmeister, der Stahlarbeiter, der Stahlkocher die Pflege eine sozialstaatliche Lösung im Rahmen der Sozialversicherung zur Verfügung gestellt. verfehlte Schulpolitik des Herrn Schwier bezahlen? — Herr Rau soll zusehen, daß die Hauptschule ihre (Beifall bei der CDU/CSU) Funktion wirklich erfüllt. Dann ist der Steuerzahler Sie haben immer eine gewisse Verspätung. und nicht der Beitragszahler dran. Wir schützen die Meine Damen und Herren, ich will die Sache gar I Arbeitnehmer. nicht verschärfen. Ich arbeite mit allen an der Durch- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) setzung eines ordentlichen Pflegekonzepts. Sie kön- Soviel Verwechslung im Gehirn eines Experten- — das nen ganz sicher sein: Die Rentner können sich, wie ist wirklich eine Uraufführung. Sie haben einen bisher, weiterhin auf diese Regierung verlassen. schlechten Tag gehabt, lieber Kollege Dreßler. Ich lade Sie ein, an dem Konsens festzuhalten, den (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und wir gemeinsam beschlossen und getragen haben. der F.D.P.) Auf bessere Tage, Herr Dreßler! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Herr Minister, Vizepräsident Helmuth Becker: ordneten der F.D.P.) gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Diller? Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Herren, ich erteile jetzt der Frau Kollegin Andrea Sozialordnung: Bitte. Lederer das Wort.

Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Kollege Diller. Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht nur eine Anmer- Karl Diller (SPD): Herr Minister, nachdem Sie heute kung, Herr Minister, zu Ihrem Beitrag: Verschonen Sie Ihre Rede von gestern wiederholen —, die Menschen in den neuen Bundesländern mit wei- teren Hochglanzbroschüren! Die lösen dort nämlich Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und nur allseitiges bitteres Lachen aus. Sozialordnung: Man kann die Wahrheit nicht oft (Beifall bei der PDS/Linke Liste) genug vortragen. Wir waren gerade in Mecklenburg-Vorpommern und (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) konnten diese Erfahrung machen. Ich habe Ihnen gestern schon gesagt: Ich bin auf die Herr Bundeskanzler — ich freue mich, daß Sie noch Wahrheit vereidigt, und ich werde die Wahrheit hier hier sind —, ich möchte vorab eine Bemerkung zu vortragen. Ihrem Beitrag machen, weil entgegen parlamentari- scher Gepflogenheit dem Kollegen Gysi keine Gele- Karl Diller (SPD): — möchte ich Sie fragen — damit genheit zu einer Kurzintervention gewährt wurde. das Haus einmal etwas erfährt, was Neuigkeitswert Obwohl er sich normalerweise ganz gut allein wehren Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10513

Andrea Lederer kann, möchte ich etwas dazu sagen, weil es die Politik Das wird von uns auch nicht geleugnet. Dazu gibt es der ganzen Gruppe angeht. im übrigen unsererseits sehr viel mehr tiefgehende Beiträge, als von Ihrer Seite geleistet wurden. Erstens. Herr Bundeskanzler, Sie haben dem Kolle- gen Gysi vorgeworfen, daß er nicht berechtigt sei, Aber wir werden uns dennoch gegen diese Legende Ihnen und anderen deutschen Politikern Belehrungen von der Erblast wenden, und zwar mit gutem in Sachen Demokratie zu erteilen. Recht. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Eine Ver Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig! — brecherbande, sonst nichts!) Sehr wahr!) Der geringste Teil der jetzt von Herrn Waigel aus dem Einmal abgesehen davon, daß in dem Beitrag keine Hut gezauberten Rechnungen in Höhe von mehr als Belehrungen zu vernehmen waren — wenngleich ich 400 Milliarden DM kann überhaupt als DDR-Erblast sie angesichts der Lage in diesem Lande für durchaus bezeichnet werden. angebracht hielte —, Die Inlandsverschuldung der DDR, die Teil des (Zurufe von der CDU/CSU: SED-Ableger!) Kreditabwicklungsfonds geworden ist, betrug am 3. Oktober rund 28 Milliarden DM. Auslandsschulden geht es ja um eine ganz andere Frage. Wenn Sie Herrn von 55,6 Milliarden DM standen Forderungen in Höhe Gysi oder anderen Mitgliedern unserer Gruppe das von — — untersagen (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Da haben (Zurufe von der CDU/CSU) Sie die gefälschten Zahlen von Herrn — das sage ich Ihnen als jemand, die aus Westdeutsch- Modrow übernommen!) land kommt —, dann untersagen Sie gleichzeitig — Sie fälschen die Zahlen! In jedem politischen Millionen von Bürgern und Bürgerinnen der ehemali- Bereich versuchen Sie, die Öffentlichkeit mit manipu- gen DDR, sich zu diesen Fragen zu äußern, lierten Zahlen zu betrügen und nicht die Wahrheit zu sagen. (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Der Herr und zwar allein auf Grund der Tatsache, daß sie in Modrow hat die Zahlen gefälscht! — Weitere diesem Land gelebt haben. Genau gegen diese Art der Zurufe von der CDU/CSU) Demütigung und diese Art selbstgefälliger Westarro- ganz wenden wir uns, wendet sich Herr Gysi, wendet Die Nettoverschuldung der DDR gegenüber dem sich unsere Gruppe und mit uns gemeinsam eine Ausland betrug demnach 19,3 Milliarden DM und die ganze Menge von Bürgern in den neuen Bundeslän- Verschuldung der DDR insgesamt zuletzt 47,3 Milliar- dern. den DM. Das sind die richtigen Zahlen. Die Verschul- dung pro Kopf der Bevölkerung ist seit der deutschen (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf- von Einheit für die Menschen in den neuen Bundeslän- der CDU/CSU: Und die SED auch!) dern enorm gewachsen. Zweitens. Sie haben ferner den Vorwurf gemacht, Das zum Thema Erblast-Legende. daß Herr Gysi die Opfer von links und rechts gegen- einander aufrechne. Das ist mit keiner Silbe gesche- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Die alten hen. Wenn Sie wirklich zugehört haben, wissen Sie kommunistischen Sprüche, sonst nichts!) das. Ich komme jetzt auf die Debatte des heutigen Tages Unser Vorschlag lautet — wie 1977 nach der zu sprechen. Die heutige Debatte hat in der Tat Ermordnung von Hanns Martin Schleyer —, auch einiges Erschütternde an sich. angesichts der Tatsache, daß wir heute 18 Opfer (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Ihre alten rassistischer Übergriffe beklagen müssen, eine 15mi- kommunistischen Sprüche können Sie sich nütige Arbeitsniederlegung durchzuführen. Der DGB sparen!) möge dazu aufrufen, und die Bundesregierung möge diesen Vorschlag unterstützen. Wovor Sie sich Ich muß hier leider — er ist jetzt nicht im Raum — an gedrückt haben, ist, hierzu Stellung zu nehmen. Das erster Stelle die Rede von Herrn Schäuble nennen. vermißten wir in Ihrer Rede. (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Er ist nicht (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zurufe von mehr im Raum, seit Sie sprechen!) der CDU/CSU) Die Rede hat eine nationalistische, eine chauvinisti- Drittens. Sie haben den Vorwurf gemacht, daß wir sche, jetzt und in Zukunft dahin gehend polemisierten, daß (Widerspruch bei der CDU/CSU — Dr. Wolf die gegenwärtige wirtschaftliche und soziale Situa- gang Bötsch [CDU/CSU]: Ihre kommunisti tion Ergebnis der Politik der Bundesregierung sei. In schen Sprüche können Sie sich sparen!) der Tat hat die Politik des SED-Regimes natürlich eine sozial brutale Linie für die künftige Politik der einige negative Folgen gehabt. CDU/CSU entworfen. Ausgerechnet in einer Zeit, in (Lachen bei der CDU/CSU — Zuruf von der der tagtäglich Morde und brutale Ang riffe auf Flücht- CDU/CSU: Einige? — Dr. Wolfgang Bötsch linge und Ausländer passieren, wagt es Herr [CDU/CSU]: Einige negative Folgen? Eine Schäuble, hier an ein Nationalbewußtsein anzuknüp- Verbrecherbande war das !) fen, dem erste Priorität einzuräumen sei, und das auch 10514 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Andrea Lederer noch von ihm so genannten sozialen Verteilungs- gebracht haben, dann muß heute festgestellt werden, kämpfen gegenüberzustellen. daß dieses Vertrauen massiv mißbraucht wurde. Das spiegelt sich in allen Kommentaren ausländischer (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben doch Medien und mittlerweile auch einiger ausländischer überhaupt kein Bewußtsein!) Politiker wider — und das zu Recht. Darin steckt nicht nur die Zumutung gegenüber sozial Benachteiligten dahin gehend, diese auf Heimatmu- Da offenkundig allein das Ansehen dieses Landes sikabende zu verweisen, statt tatsächlich eine Besse- für die Bundesregierung und die großen Parteien rung ihrer sozialen Situation in Angriff zu nehmen; relevant ist, wenn es darum geht, auch nur winzige darin steckt vor allem erneut das Fördern, das Schüren Schritte im Kampf gegen Rassismus zu tun, kann ich eines Bewußtseins, das u. a. Basis genau für die nur einen flehentlichen Appell an das Ausland rich- Angriffe und Überfälle ist, die wir leider in der ten: Richten Sie Ihr Augenmerk auf die Entwicklung in heutigen Zeit Tag für Tag erleben. diesem Land! Machen Sie deutlich, daß dies wohl kaum der Vorzeigestaat für eine europäische Ent- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Schämen wicklung sein kann — so wie er sich momentan Sie sich! — Weiterer Zuruf von der CDU/ entwickelt und gebärdet, auch im europäischen Pro- CSU: Unverschämtheit!) zeß! Unterstützen Sie alle diejenigen, die — wie heute Insofern stimme ich mit der SPD darin überein, daß in Mölln und in Berlin — — die Rede von Herrn Schäuble eine brandstifterische Übrigens: Vergessen Sie auch nicht immer den Tod Rede gewesen ist. des Antifaschisten Silvio, eines Opfers in Berlin! Silvio (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Schämen ist jemand, der nicht erst am 8. November, sondern Sie sich! — Weiterer Zuruf von der CDU/ bereits sehr viel früher erkannt hat, daß es darum geht, CSU: Unerhört!) sich tatsächlich zu engagieren. Es stimmt, was der Bundeskanzler sagte: Es gibt (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE

eine — und zwar verfassungsrechtlich verankerte — GRÜNEN]: Der von euch verfolgt worden ist! Friedenspflicht nach innen und nach außen. Gegen Das ist schamlos! Er war jemand, der gegen diese Friedenspflicht wird hier tagtäglich durch die die SED gekämpft hat! — Beifall bei Abge Politik der Bundesregierung eklatant verstoßen; nach ordneten der CDU/CSU) innen vor allem durch die unsägliche sogenannte Asyldebatte, durch das Beschneiden von Rechten der — Ach hören Sie doch auf mit diesem Gequatsche! Es Opfer dieser Ang riffe und durch eine Abschottung ist lächerlich, was Sie sagen. Er ist jemand, der mit uns nach außen. in Rostock-Lichtenhagen auf der Straße war. Das hat etwas damit zu tun, daß die PDS sehr wohl genau diese Unsere Fraktion hat in der letzten Woche in Meck- Politik, die jemand wie Silvio mit betrieben hat, mit lenburg- Vorpommern einen Arbeitsbesuch durchge- aufgreift. führt und mit zahlreichen Kommunalpolitikern- und Kommunalpolitikerinnen in Flüchtlingsunterkünften (Zurufe von der CDU/CSU) Gespräche geführt. Es sind nicht die Grenzen der Ich will noch auf einen anderen Aspekt eingehen, Belastbarkeit erreicht; vielmehr ist es so, daß die Politik der Bundesregierung künstliche Grenzen (Zuruf von der CDU/CSU: Noch einen?!) zieht, indem sie die Kommunen allein läßt, indem sie ihnen nicht die Mittel zur Verfügung stellt, um für eine und zwar was die soziale Demontage anbelangt, die menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge zu Herr Schäuble hier so eindrucksvoll beschrieben hat. sorgen. Er hat den Beweis dafür erbracht, daß Sozialabbau und Demokratieabbau zwei Seiten ein und derselben (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Medaille sind. Abgeordneten der SPD) Das ist die hohe Verantwortung, die Sie für genau Herr Schäuble erdreistet sich hier wirklich allen diese Situation tragen. Ernstes, davon zu reden, daß Menschen nicht bereit seien, Arbeitsangebote anzunehmen; sie seien nicht Sie schaffen diese Grenzen auch in ideologischer motiviert zur Arbeit. Das ist grenzenloser Zynismus. Hinsicht, indem Sie sich weigern, eine absolut not- ich hoffe wirklich nur eines: daß dies die Menschen in wendige Aufklärungskampagne durchzuführen und den neuen Bundesländern gehört haben, die in Orten darin über Hintergründe und Ursachen von Flucht leben, in denen zum Teil 60 %, 70 %, 80 % Arbeitslo- aufzuklären. Ich weiß auch, was der Grund für diese sigkeit herrscht und in denen die Frauen nicht die Verweigerungshaltung ist. Sie müßten sonst nämlich geringste Chance haben, überhaupt irgendeine eine Bankrotterklärung abgeben angesichts der Tat- Arbeit zu finden. Ich hoffe, daß Sie eine mehr als sache, daß Sie es wagen, heute den Haushalt für deftige Quittung für eine derartige Arroganz und Entwicklungshilfe zu kürzen, statt ihn aufzustocken, einen derartigen Zynismus erhalten. und zwar entgegen Ihren ständigen Beteuerungen, Sie würden Fluchtursachen bekämpfen. Statt dessen (Beifall bei der PDS/Linke Liste) also kürzen Sie den Haushalt, der genau dazu mit Ich hoffe etwas Weiteres, nämlich daß in den alten beitragen müßte. Bundesländern genau vernommen wurde, daß Herr Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, von dem Vertrauen Schäuble das Verkehrsbeschleunigungsgesetz als sprechen, daß die Nachbarländer der Bundesrepublik Modell für Ost und West predigte, was nur eines heißt: bei der Gewährung der vollen Souveränität entgegen- Der Demokratieabbau, das Mitbestimmungsdefizit, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10515

Andrea Lederer das Verweigern der Mitbestimmung der Bevölke- heute zum Kronzeugen zu machen. rung, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Zurufe von der CDU/CSU) sowie der Abg. Ingrid Matthäus-Maier was Sie einführen, indem Sie den Osten dafür instru- [SPD]) mentalisieren, sollen nach Ihrer Vorstellung das künf- Er war Wehrdienstverweigerer und hat Gewalt immer tige Modell Deutschland kennzeichnen. Auch hierfür abgelehnt, bis zuletzt; so sagen es seine Freunde. möge Ihnen tatsächlich die Rechnung präsentiert In Mölln verbrennen zwei türkische Mädchen und werden. Hier mögen Sie tatsächlich auf den erbitter- eine Frau nach einem rechtsradikalen Brandan- ten Widerstand der Bevölkerung und der Opposition schlag. treffen. In München wird ein Pater der Barmherzigen Brü- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) der von Rechtsradikalen geschlagen und eine Treppe hinuntergestoßen, weil er mit einem Af rikaner unter- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- wegs war. ten Damen und Herren, wir nähern uns der nament- In Wuppertal verletzten rechte Radikale einen lichen Abstimmung, und der Geräuschpegel wird Mann lebensgefährlich, von dem jemand gesagt natürlich größer. Ich bitte Sie alle aber trotzdem, dafür hatte, daß er Jude ist, und zünden das sterbende Opfer zu sorgen, daß sich Rednerinnen und Redner ver- an. ständlich machen können. Nächster Redner ist jetzt der Abgeordnete Konrad Meine Damen und Herren, ich habe Verständnis für Weiß. die Entschlossenheit meines Freundes Ralph Gior- dano und anderer Überlebender der Shoah, sich und ihre Angehörigen notfalls selbst zu verteidigen. „Nie Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wieder" — so hat Ralph Giordano dem Bundeskanzler Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wohin geschrieben — „werden wir Überlebenden des Holo- treibt Deutschland im Herbst 1992? Wohin lassen wir causts unseren Todfeinden wehrlos gegenüberste- es treiben, drei Jahre nach dem gewaltfreien deut- hen." Ist es nicht eine Schmach für uns alle, daß es in schen Herbst, zwei Jahre nach der Wiedervereini- Deutschland soweit gekommen ist? Manchmal denke gung? ich, wir sollten den Einsatz von UNO-Blauhelmen in Die Verantwortung für das, was in Deutschland Deutschland erbitten. geschieht, tragen wir alle, alle Bürgerinnen und Ich schlage vor, vor dem Deutschen Bundestag eine Bürger dieses Landes und auch die Politiker und auch Stele mit den Namen der Opfer der rechten und der die Regierung — auch, aber nicht nur. Es ist zu billig, linken Gewalt zu errichten — uns Abgeordneten und wenn sich angesichts der alltäglichen Gewalt Bürger allen Bürgerinnen und Bürgern, die hierherkommen, und Politiker, Opposition und Regierung die Verant- zur Mahnung und Erinnerung an unsere erste Pflicht, wortung immer nur gegenseitig zuschieben, so als die Würde des Menschen zu schützen. gäbe es eine einfache Antwort. - Viele Menschen in Deutschland leben heute in Verändern werden wir nur dann etwas, wenn wir Angst, Ausländer wie Deutsche. Die Bedrohung ist gemeinsam die nicht dulden und wenn wir Gewalt vielfältig und real. Die Bedrohung ist lähmend. Ich gemeinsam und entschieden gegen Gewalt vorgehen. weiß es; denn — gestatten Sie mir diese persönliche Ich wage diesen Appell an die Gemeinsamkeit der Bemerkung — auch ich habe Angst, mehr Angst, als Demokraten erneut, vielleicht ein letztes Mal, aus ich je in der DDR gehabt habe. Dort war die Bedro- meiner Erfahrung heraus, aus der Erfahrung der hung kalkulierbar. Heute werde ich von den einen als Bürgerbewegungen des Herbstes 1990 mit der Macht „Judensau" beschimpft und mit Vergasen oder Auf- der Gewaltlosigkeit. Diese Gemeinsamkeit soll keine hängen bedroht und von den anderen beschmutzt und Gegensätze und Widersprüche verschleiern, aber sie entwürdigt, und man will mir in altbewährter SED- soll uns zu wirksamem Handeln befähigen. Manier verbieten, das zu sagen, was ich denke. Wer (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bücher verbrennt, wer Gedanken verbietet — das Deutschland, meine Damen und Herren, ist zu sollten sich die Autoren einer bestimmten Zeitung einem Land der alltäglichen Gewalt geworden, zu sehr zu Herzen nehmen —, wird eines Tages auch einem Land der Gewaltreden, der Gewalttaten, der Menschen verbrennen. — Das hat Brecht gesagt. Gewaltpolitik. Ausländer und Deutsche, Juden und Auch Rufmord ist Mord. Moslems, Ostdeutsche und Westdeutsche, Frauen und Nein, ich wiederhole es hier und sage es: Jede Kinder sind Opfer dieser alltäglichen Gewalt. Angst Gewalt, ob von rechts oder von links, ist Unrecht und und Hilflosigkeit — ich kann dem Bundeskanzler da ist ein Verbrechen. nur recht geben — machen sich in Deutschland breit. Die Meldungen des vergangenen Wochenendes klin- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der gen wie Meldungen aus einem Bürgerkriegsland: F.D.P.) In Berlin wird Silvio Meier in der U-Bahn erstochen, Wer als Linker den Protest gegen rechte Gewalt ein Mann, der zur Oppositionsbewegung der DDR verhindern will, macht sich zum H andlanger der gehörte. Frau Kollegin Lederer, es ist schamlos von Faschisten. Ihnen, von Ihrer Partei, diesen jungen Mann, den Sie (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) verfolgt haben, Zur Tradition der Bürgerbewegungen des BÜND (Zuruf der Abg. Andrea Lederer [PDS/Linke NIS 90 gehört die Verurteilung jeder Gewalt. Wir Liste]) können nur glaubwürdig bleiben, wenn wir ange- 10516 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Konrad Weiß (Berlin) sichts der massiven und überwältigenden Gewalt von radikale Gewalttäter zu Wort kommen, die Mittel rechts auch die Gewalt der Linksradikalen nicht entzogen werden. verharmlosen. Dies muß Teil unserer politischen Kul- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge tur bleiben. ordneten der F.D.P.) Nicht die Angst soll unser Handeln bestimmen, Ich schließe mich der Forderung der Bürgerinitiati- sondern die Entschlossenheit, die Würde und Freiheit ven an, Gewaltdarstellung in den Medien ebenso wie des Menschen zu verteidigen. Dies ist die alltägliche Pornographie zu indizieren. Das meint eben nicht den Aufgabe eines jeden und einer jeden, wie es auch Agatha-Christie-Film oder den „Tatort", sondern jene Aufgabe des Staates ist. Viele Bürgerinnen und Bür- unendlich entmenschten Grausamkeiten, die inzwi- ger haben in den letzten Wochen und Monaten schen auch skrupellos gesendet werden. Bei den oftmals entschlossener gehandelt als der Staat und Privaten muß die Ausstrahlung solchen Schunds zur seine Diener, deren Aufgabe es doch zuerst wäre, für Entziehung der Lizenz führen. Als Filmemacher sage das Leben und die Freiheit eines jeden Menschen in ich in aller Deutlichkeit: Nicht die Freiheit der Medien unserem Land einzustehen. ist das höchste Gut, sondern die Würde des Men- Was ist das Gewaltmonopol des Staates wert, meine schen. Kolleginnen und Kollegen, wenn wir es nicht ent- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der schieden und konsequent gebrauchen? Wir brauchen, F.D.P.) denke ich, nicht ein einziges neues Gesetz, sondern wir brauchen entschlossenes Handeln von Bundes- Daran haben auch wir Medienmacher uns zu hal- und Landesregierungen, von Polizei und Justiz. Das ten. entschiedene Vorgehen der brandenburgischen Lan- Es könnte ein ermutigendes Zeichen sein, wenn die desregierung — an ihr ist das BÜNDNIS 90 beteiligt — deutschen Fernsehsender in der Adventszeit und gegen jene, die den Friedhof der Kriegsopfer in Halbe Weihnachtszeit freiwillig auf die Darstellung von entweihen wollten, hat die Rechtsradikalen nach- Gewalt verzichteten. drücklich in die Schranken gewiesen. Viele, nicht alle Gewalttaten hätten sich so im Vorfeld verhindern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) lassen. Ich ermutige alle Fernsehzuschauer, das von ihren Zum entschlossenen Handeln der Demokraten Sendern zu verlangen. Ich fordere die Medien erneut gehört aber auch, daß die Allgemeinheit vor radikalen auf, nicht der Berichterstattung über Gewaltakte und geschützt wird. Wer Gewalt angewendet Straftätern Radikale das größere Gewicht zu geben, sondern der hat, darf eben nicht nach Feststellung seiner Persona- Berichterstattung über den vielfältigen Widerstand lien freigelassen werden und sich dadurch zu erneu- der Bürgerinnen und Bürger dagegen. Diejenigen, ten Straftaten ermutigt fühlen; die sich schützend und mutig vor Ausländer stellen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU- und verdienen das öffentliche Interesse, nicht die feigen der F.D.P.) und hinterhältigen Schufte, die Asylbewerberheime angreifen. aber genau das ist die Realität. Radikale, die Men- schen bedrohen, verletzen oder töten, nur weil sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. anders sind, müssen gesellschaftlich geächtet werden sowie bei Abgeordneten der SPD) und auf Jahre ins Gefängnis kommen. Wer faschisti- Nicht wir Politiker, die wir monatelang ohne Ergebnis sche Symbole gebraucht oder andere Menschen in über wirksame Maßnahmen debattieren, sollten „Ta- Wort oder Tat diskriminiert, muß spürbar bestraft gesthemen" und „ heute-j ournal" füllen, sondern Bür- werden. gerinnen und Bürger, die vor Ort etwas tun. Das würde Es ist unerträglich, daß inzwischen widerstandslos auch den Widerstand stärken. hingenommen wird, wenn rechts- oder linksradikale Meine Bitte richte ich auch und besonders an die Wirrköpfe oder Verführer in den Medien ihre unsäg- Korrespondenten der ausländischen Medien. Als ich liche Volksverhetzung betreiben. Radikale haben in kürzlich in den Vereinigten Staaten war, war jeder- Talk-Shows nichts zu suchen. mann über die rechtsradikalen Ausschreitungen bestens informiert. Aber daß es in Deutschl and Wider- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge stand dagegen und zahllose tapfere Bürgerinitiativen ordneten der F.D.P.) gibt, das wußte niemand und wollte mir auch niemand Ein Sender, eine Zeitung, die etwas auf sich hält, sollte glauben. sich konsequent weigern, verfassungsfeindliche Aus- Der Radikalismus, meine Damen und Herren, ist lassungen zu verbreiten. Das gehört jedenfalls nach nicht nur ein sozialtherapeutisches Problem. Keine meinem Verständnis nicht zur Informationspflicht der noch so schwierige Kindheit, keine Arbeitslosigkeit, Medien. keine soziale Entwurzelung rechtfertigt die Gewalttä- tigkeit gegen andere Menschen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.) Wenn das Gespür dafür den Journalisten verlorenge- gangen ist, sollten Zuschauer, Zuhörer und Leser Auch die tiefgreifenden Vereinigungsprobleme in agieren. Ich schlage vor, daß den öffentlich-rechtli- den östlichen Bundesländern können radikale Gewalt chen Anstalten für jede Minute Sendezeit, in der nicht entschuldigen. Doch es muß uns bewußt sein, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10517

Konrad Weiß (Berlin) daß sich durch den Zusammenbruch der DDR und mit politische Credo aller Demokraten sein, insbesondere der Vereinigung gerade für viele junge Menschen, derer, die sich auf den Bergprediger berufen — dazu übrigens auch im Westen, das gesamte Wertesystem zähle ich mich auch —, Flüchtlingen und Fremden, total verändert hat oder aber total in Frage gestellt Bedrängten und Armen in unserem reichen Land eine worden ist. Neue Koordinaten lassen sich nicht durch Zuflucht und die Chance zu einem menschenwürdi- Appelle schaffen. Halt können Menschen nur in der gen Leben zu geben. Vernünftige Gesetze für Asylbe- Gemeinschaft gewinnen und nur, wenn sie Ideale, werber, Flüchtlinge und Einwanderer — nicht gegen Maßstäbe und Vorbilder haben. An all dem mangelt sie — und entschlossenes H andeln sind das beste es. Mittel gegen Ausländerfeindlichkeit und Gewalt. Eines der größten Probleme aber ist die massenhafte Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Arbeitslosigkeit der Eltern, die immer auch schlimme (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche hat. Des- SPD und der F.D.P.) halb muß unsere wichtigste Investition die in die Jugend sein. Es ist sträflich, wenn wir junge Menschen in dieser Umbruchsituation allein lassen und vernach- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und lässigen. Statt jede Initiative großzügig zu fördern, die Herren, es gibt jetzt nur noch zwei kurze Beiträge. Wir Kindern und Jugendlichen Schutzraum und Halt bie- werden in etwa 15 Minuten zur Abstimmung kom- tet, sind Clubs und Freizeiteinrichtungen für Kinder men. und Jugendliche reihenweise geschlossen worden. Nächster Redner ist unser Kollege Ortwin Lo- Statt den Erhalt von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen wack. zu fördern, finanzieren wir Provisorien und Profit. Viele junge Menschen in Ostdeutschland fühlen sich als Ausländer im eigenen Land. Sie haben ihre Iden- Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident! Kolle- tität als Deutsche oder gar als Europäer noch nicht ginnen und Kollegen im Deutschen Bundestag! Meine gefunden, und ich fürchte, viele werden sie lange Damen und Herren! Ich räume ein, daß es nach dem nicht finden, denn unsere Jugendpolitik ist ebenso letzten Redebeitrag schwer ist, wieder zum Kanzler- unentschieden und hilflos wie unsere Ausländerpoli- etat und zur allgemeinen Aussprache zu kommen. tik. Hier wie dort haben wir über die eigentlich doch Ich wollte eigentlich der SPD ein Kompliment dafür augenfälligen Probleme lange hinweggesehen. machen, daß sie versucht, der Regierung aus der Eine Mehrheit in diesem Hohen Haus will Art. 16 Patsche zu helfen, ohne zu wissen, was hinterher Abs. 2 unseres Grundgesetzes ändern. Sie werden ihn herauskommt. Aber täuschen Sie sich nicht: Wenn Sie ändern, aber Sie ändern damit nichts. Schlimm ist nur, nicht mehr gebraucht werden, wird man Sie auch ganz daß damit die Hoffnung geweckt wird, die große schnell wieder fallenlassen. Sozialdemokraten hatten Anzahl von Asylbewerbern lasse sich so vermindern meistens die Funktion, als Alibi eingesetzt zu werden. und das Zusammenleben von Deutschen und -Auslän- Karsten Rohwedder oder Konrad Porzner sind viel- dern harmonisieren. Die Ernüchterung wird schlimm leicht Beispiele, auch Dreßler hat heute eine Kost- sein, und ich fürchte, das wird den Rechten zu Buche probe dessen bekommen. schlagen. Auch ein Kanzler Engholm wird aus Aber die Frage ist doch zunächst einmal: Wie ist es Deutschland keinen Hort der Solidarität und Friedfer- so weit gekommen, daß heute in Deutschland — hier tigkeit machen, und — um Zwischenrufen vorzubeu- müßten eigentlich alle zustimmen — alles immer gen — auch ein Kanzler aus dem BÜNDNIS 90 könnte chaotischer und unübersichtlicher wird, daß sich dies nicht. Schuldenberge auftürmen, die uns zunehmend den Aber die Bürgerbewegungen haben Ihnen seit Raum für politisches Handeln nehmen und uns zu Monaten ein Konzept vorgeschlagen, das von der ersticken drohen, vor allen Dingen, daß die deutsche realen Situation ausgeht und wirkliche Alternativen Einheit zu einem unsäglichen langen Leiden und fast bietet. Wir wollen keine offenen Grenzen; das ist nur zu einer täglichen Qual verkommt, daß die Kräfte der wohlfeiles und mittlerweile unverantwortliches Ge inneren Sicherheit in Deutschland zunehmend verun- schwätz. Mit unseren Gesetzesvorschlägen wollen wir sichert werden, daß die Bundeswehr ihren Platz in der die Voraussetzungen schaffen, daß die seit Jahren in Gesellschaft, im Bündnis und in der internationalen Deutschland als Bürger zweiter Klasse lebenden Aus- Gemeinschaft immer weniger kennt, daß junge Men- länder endlich gleichberechtigte Bürgerinnen und schen immer orientierungsloser werden und daß vor Bürger in Deutschland werden. Wir wollen neben der allen Dingen die Radikalität von links und rechts so engen und überstrapazierten Tür des Asylrechts eine gewaltig zunimmt? Ich mache gar keinen Hehl daraus, Tür für Flüchtlinge und eine für Einwanderer schaffen meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Ich und damit eine geregelte Immigrationspolitik ermög- behaupte, daß das, was sich heute im rechten Spek- lichen. Wir wollen nur die rechtliche Grundlage für trum abspielt, auch eine Reaktion auf das ist, wie man etwas schaffen, das es in der Realität doch längst jahrzehntelang linke Chaoten auf unseren Straßen hat gibt. gewähren lassen. Ich kann Ihnen unser Konzept nur erneut anbieten. Wie der Bundeskanzler heute den Weg zu 170 bis Ich bin aber überzeugt, daß eine verantwortliche 200 Milliarden DM Zinsen pro Jahr für öffentliche Einwanderungspolitik, die viele von Ihnen scheuen Schulden schon fast lächerlich gemacht hat, müßte wie der Teufel das Weihwasser — warum eigent- eigentlich Entsetzen in seiner eigenen Partei auslö- lich? — zur Entspannung der gegenwärtig unerträgli- sen. chen Situation beitragen könnte. Es muß doch das (Zuruf von der SPD: Das stimmt!) 10518 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Ortwin Lowack Daß es nicht schlimmer kommt, verdanken wir — Gott Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Einen sei Dank — einer starken Verfassung, aber nicht der Moment, Herr Kollege Lowack! — Meine Damen und politischen Arbeit der Bundesregierung. Herren, ich bitte hinten im Saal um etwas mehr Franz Josef Strauß hat über Helmut Kohl einmal Ruhe. gesagt: Ortwin Lowack (fraktionslos): Der Zeitpunkt des Er ist total unfähig, ihm fehlen die charakterli- Abkommens über die Währungs-, Wirtschafts- und chen, die geistigen und die politischen Vorausset- Sozialunion wurde durch den Wahlkampf bestimmt, zungen, ihm fehlt alles dafür. der in diesem Jahr stattfinden sollte. Ich weiß, wovon Die derzeitige Entwicklung gibt Franz Josef Strauß, ich rede. Der Einigungsvertrag war so nicht notwen- der nicht immer recht hatte, so fürchte ich, recht. Dazu dig, wie er durchgezogen wurde. Er war ein Instru- einige Beispiele. Im letzten „Deutschland-Union- ment des Bundeskanzleramtes, um einen Keil zwi- Dienst" berichtet der Bundeskanzler über die neuen schen den Kanzlerkandidaten der SPD und der SPD- Bundesländer — ich zitiere wörtlich —: „Die wirkliche Fraktion im Deutschen Bundestag und in der Volks- Lage ist erst nach und nach an das Tageslicht getre- kammer zu treiben. Ich behaupte, daß auch das ten. " Ich behaupte, das ist eine grobe Unwahrheit. 80 - Milliarden - Paket an die marode Sowjetunion Über den Zustand der DDR bestand lange Klarheit, nicht so notwendig war. Ich bin gespannt, was unsere und die Regierung Kohl war aus der Diskussion unter Recherchen mal darüber ergeben werden, wo allein der Überschrift „Der Sozialismus besiegt nur sich die Transferrubelguthaben alle verblieben sind. selbst" Mitte der 70er Jahre und danach verstärkt Jetzt eilt der Bundeskanzler nach Schwerin und eingehend darüber informiert, was los war. bietet dort ein neues Programm für die Entwicklung Liebe Kolleginnen und Kollegen, vergessen Sie des Ost - Mittelstandes an. Wenn man dann nachliest nicht: Die Bundesregierung hat aus dem Haushalt — ich nehme die „Schweriner Volkszeitung" her —, etwa eineinhalb Milliarden DM für Autobahnen an was er angeboten hat, so sind das befristete Lohnzu- schüsse, gezielte Exportsubventionen, ohne daß vor- das DDR - Regime bezahlt, obwohl diese Kosten gar nicht angefallen waren. Es kam der Zwangsumtausch her geklärt wurde, ob das rechtlich überhaupt möglich dazu. 6,25 Milliarden DM betrug der Kredit 1983. Und ist. er wurde gegeben, weil die DDR damals bereits pleite Dann kommt am Schluß eine geradezu abenteuer- war. 3,5 Milliarden DM hat die Bundesregierung für liche Darstellung des Bundeskanzlers. Ab 1995, so den sogenannten Häftlingsfreikauf ausgegeben. heißt es da, würden sicher Finnland und Norwegen zu Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele wissen nicht, den EG-Staaten gehören, ein paar Jahre später mög- daß sich mit der Regierung Helmut Kohl eine gera- licherweise auch Polen und Ungarn. Damit würden dezu gespenstische Situation abgezeichnet hat. Die sich gerade auch für Mecklenburg-Vorpommern gute Zahl der politischen Häftlinge in der alten DDR war Wirtschaftschancen ergeben. Donnerwetter, wenn 1982 noch bei 293, 1983 betrug sie bereits 648, 1984 das die Lösung der Probleme in den neuen Bundes- bereits 1 672, mit steigender Tendenz. Das heißt, man ländern ist! Da wollen wir mal abwarten. hat Hatz auf Menschen gemacht, um sie dann mit Dann gibt es eine Maastricht - Lüge, meine sehr einer Strafe von über einem Jahr ohne Bewährung als verehrten Kolleginnen und Kollegen, indem behaup- Häftlinge anbieten zu können, damit das marode tet wird, Stillstand sei Rückschritt. Ich halte das für System an Geld herangekommen ist. eine bodenlose Dummheit. Zunächst sollten wir erst 8,6 Milliarden DM betrug das Paket, das Wolfgang einmal den Europäischen Binnenmarkt vollenden. Da Schäuble im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler fehlen noch über 200 Gesetze. Wir sollten da erst Ende 1988/Anfang 1989 ausgehandelt hat, weil die weiterarbeiten. Wir sollten erst einmal europäische alte DDR pleite war und weil das bekannt war. Stabilitätspolitik betreiben, bevor wir über eine gemeinsame Währung sprechen können, statt große Ich behaupte, es ist eine grobe Unwahrheit, daß die Transferzahlungen in andere Richtungen zu geben, Einheit Deutschlands so hätte laufen müssen, wie sie die uns dann für die deutsche Einheit nicht zur gelaufen ist. Der Bundeskanzler hat vorhin auf sein Verfügung stehen. Zehn - Punkte - Programm hingewiesen. Aber die, die im alten Deutschen Bundestag waren und die sich das Ich frage den Bundeskanzler: Warum wurde eigent- heute einmal durchlesen, wissen, daß das gerade kein lich die Chance nicht genutzt, im Zusammenhang mit Zehn-Punkte-Programm für die deutsche Einheit oder den GATT-Verhandlungen darauf zu drängen, daß den Aufbau Deutschlands war. Es war unter dem die deutschen Leistungen zum Agrarfonds abgebaut Druck zustandegekommen, daß sich drei Tage später werden und wir die Möglichkeit erhalten, den deut- Gorbatschow und Bush in Malta treffen würden, und schen Landwirten mit nationalen Beihilfen unter die unter dem Druck, daß bis dahin eine offizielle Erklä- Arme zu greifen. Das wäre die richtige Konzeption rung des deutschen Bundeskanzlers zur Einheit über- gewesen. Nichts ist davon angesprochen worden. haupt nicht vorgelegen hatte. Wer das nicht mehr Aber es ist immer das gleiche: Der Bundeskanzler weiß, soll es bei Teltschik nachlesen, da ist es ziemlich entscheidet, und egal ob richtig oder falsch — oft genau beschrieben. falsch —, und dann wird es zum „nationalen Inter- esse" hochgespielt. Dann sagt man in der eigenen Ich behaupte, die Wirtschafts - - , Währungs und Fraktion, eine Niederlage des Bundeskanzlers wäre Sozialunion war so auch nicht notwendig. Sie hat zur eine Niederlage der Union oder der Fraktion, und das Zerstörung der DDR-Wirtschaft geführt — Dinge, die gilt es mit allen Mitteln zu verhindern. Und die armen wir heute kaum noch in den Griff bekommen. Abgeordneten der zweiten Kategorie, die einfachen (Anhaltende Unruhe) Abgeordneten, die kann man notfalls noch damit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10519

Ortwin Lowack bedrohen, daß es möglicherweise zu Neuwahlen Ich möchte als unabhängiger Abgeordneter in die- käme. Und wenn es dem Bundeskanzler nicht einfällt, ser Zeit der deutschen Pogrome und des industriellen dann fällt es dem Edmund Stoiber ein, und dann kann Kahlschlags im Osten zwei konkrete, hilfreiche Anre- sich der Bundeskanzler in aller „Brutalität" davon gungen zur Politik dieser Bundesregierung und dieses distanzieren. Aber die Sache ist natürlich in der Bundeskanzlers geben. Diskussion. Die erste Anregung: Herr Bundeskanzler, stellen In die Zeit des Bundeskanzlers fallen fürchterliche Sie sich endlich an die Spitze einer hoffentlich mäch- Ereignisse aus dem extremistischen Bereich. Aber ich tigen öffentlichen Bewegung gegen Rassismus, gegen frage: Ist das wirklich rein zufällig? Da verlangt die Antisemitismus, gegen Ausländerfeindlichkeit! Das CDU, deren Vorsitzender der Bundeskanzler ist, eine ist überfällig. Warum waren Sie übrigens am Tag nach — ich zitiere — „entschiedene Verfolgung und harte dem Anschlag in Mölln nicht an der Stätte dieses Bestrafung der Gewalttäter", offenbar aus dem rech- Anschlags? ten Bereich. Aber ich frage: Was ist mit den über 6 Millionen registrierten Vergehen und Verbrechen, (Zurufe von der CDU/CSU) den über 100 000 Autodiebstählen, die wir allein in diesem Jahr zu erwarten haben, der 16fachen Quote Beenden Sie insbesondere das mindestens grob pro Person im Bereich von Raub und Gewaltkrimina- fahrlässige Spiel mit der Duldung bzw. der Förderung lität, wenn sich hier jemand hinstellt und zum ersten- — denken Sie an den Beitrag von Herrn Schäuble mal sagt, das sei zu bekämpfen, er aber seit über zehn heute hier! — eines Wiederauflebens des deutschen Jahren die politische Verantwortung trägt und nichts Nationalismus und nationalsozialistischer Gespen- getan hat? ster. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gäbe Stellen Sie sich endlich vor die betroffenen Men- sehr viele Punkte anzusprechen, die ich leider nicht schen, vor Flüchtlinge, vor Asylbewerber, vor auslän- vortragen kann. Aber eines scheint mir schon wichtig dische Arbeiter und Arbeiterinnen, vor die Angehöri- zu sein, Ihnen kurz als einen Hinweis zu geben. gen bedrohter religiöser und ethnischer Minderhei- Vaclav Havel hat einmal gesagt: „Der Westen kann ten! Unter unseren jüdischen Mitbürgern und Mitbür- mit seinem Sieg über den Kommunismus nichts anfan- gerinnen herrscht Angst vor dem alten/neuen deut- gen. " Er hat gefordert, daß diese Hilfe sich nicht nur schen Antisemitismus — gerade nach den jüngsten auf Geld beschränkt, sondern vor allen Dingen politi- besonders brutalen politischen Morden. Es herrscht scher, moralischer und sogar geistiger Natur sein Angst unter den zwei Millionen türkischen Mitbürge- solle. Ich frage: Wo ist diese Hilfe gegeben, wo haben rinnen und Mitbürgern, die um ihre Kinder auf dem wir entsprechende außenpolitische Richtlinien? Schulweg fürchten müssen. Ich möchte es zusammenfassen: Ich hatte als junger Sorgen Sie deshalb dafür, daß der recht Sumpf Abgeordneter einmal vehement für die Wahl Helmut endlich ausgehoben wird! Lassen Sie die Polizei die Kohls zum Bundeskanzler gekämpft — und ich bleibe neonazistischen Strukturen und ihre Infrastruktur von dabei —, als die gesamte CSU-Spitze damals noch Waffen- und Drucksachenlagern, von militärähnli- nicht so vehement dafür gekämpft hat. Heute weiß ich, chen Übungsplätzen, von sogenannten Wehrsportan- daß es ihm genauso gehen wird, wie es Genscher und lagen und Wehrsportgruppen, von Büros, von Ver- anderen gegangen ist, die immer nur die Staatskunst sammlungsstätten und sonstigen Organisationsein- so gesehen haben, daß es wichtig wäre, selbst an der richtungen endlich ausheben! Leiten Sie ein und Macht zu bleiben. Sie werden in kürzester Zeit ver- beschleunigen Sie Verbotsverfahren in bezug auf gessen sein. Mental, ideell, visionär und positiv- rechtsradikale Organisationen und Parteien! emotional haben sie ihrem Volk, den Menschen draußen und auch anderen Völkern nichts hinterlas- (Unruhe — Glocke des Präsidenten) sen. Insoweit kann ich Franz Josef Strauß mit dem vorhin zitierten Statement nur bestätigen. Das ist überfällig. Wirken Sie darauf hin, daß der für politische Morde, für politische Ver- Danke. Strafrahmen letzungsdelikte und für Volksverhetzung voll nach oben ausgeschöpft wird! Fordern Sie die Bevölkerung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine zur gesellschaftlichen und sozialen Achtung rechtsra- Damen und Herren, wir haben jetzt noch einen dikaler Personen und Gruppen auf! Geben Sie mit Beitrag des Kollegen Dr. Ulrich Briefs, den ich aufrufe. Ihrer Partei — ich weiß, daß das schwerfällt — dafür Dann kommen wir zur Abstimmung. ein Beispiel! Gehen Sie voran!

Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! Herr Bundeskanzler, aber auch Herr Klose und Herr Meine Damen und Herren! Schäuble, die Rechtsradikalen und ihre Sympathisan- tenszene sind keine dummen Jungs, sie sind nicht (Zunehmende Unruhe) bemitleidenswerte Opfer einer verhängnisvollen so- zialen Entwicklung. Sie sind brutale politische Gesin- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich bitte nungstäter, die eine andere Republik als die halbwegs auch noch für diese paar Minuten um Ruhe. liberale, halbwegs offene Bundesrepublik, die wir bisher gehabt haben, wollen, bis Hoyerswerda vor Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Ich nehme zunächst mehr als einem Jahr ein ernstes und verhängnisvolles einmal an, daß Sie, wenn Sie so zahlreich kommen, Signal setzte. Sie haben mehr als ein Jahr versäumt, dann sicherlich zu einem der Höhepunkte dieser Herr Bundeskanzler. Versäumen Sie keinen weiteren Debatte kommen wollen. Tag mehr! 10520 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Ulrich Briefs Die zweite Anregung, in eine ganz andere Rich- Uns liegt das von den Schriftführern und Schriftfüh- tung. Herr Schäuble hat in einem Punkt recht: Das rerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Ab- Problem im Osten sind die privaten Investitionen, stimmung über den Einzelplan 04, Geschäftsbereich nicht so sehr die öffentlichen. In den zwei Jahren seit des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes, der Einigung sind von Privaten etwa 1 000 Milliarden vor. Abgegebene Stimmen: 586, ungültige Stimmen: DM in neue produktive Anlagen investiert worden keine. Mit Ja haben gestimmt: 365, mit Nein haben — 1 000 Milliarden DM! —, davon nur ca. 6 % im gestimmt: 221. Osten. 1 Million DM öffentlicher Investitionen stehen im Westen 9 Millionen DM privater Investitionen gegenüber. Im Osten stehen 1 Million DM öffentlicher Endgültiges Ergebnis Dr. Friedrich, Gerhard Investitionen nur 670 000 DM p rivater Investitionen Fritz, Erich G. gegenüber. Abgegebene Stimmen: 585; Fuchtel, Hans-Joachim davon: Ganz (St. Wendel), Johannes Nur: Welche Konsequenzen zieht der Bundeskanz- Geiger, Michaela ja: 365 ler aus dieser richtigen Einsicht? Er verharrt in einer Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy merkwürdigen Untätigkeit gegenüber den für die nein: 220 Geis, Norbert Gerster (Mainz), Johannes enthalten: 0 privaten Investitionen Verantwortlichen. Er hofft, er Gibtner, Horst appelliert, er appelliert, er hofft. Das ist aber vor Glos, Michael Dr. Göhner, Reinhard diesem Hintergrund im Interesse der Menschen im Ja Osten nicht genug. Göttsching, Martin Götz, Peter Entwickeln Sie schnellstmöglichst ein Konzept für CDU/CSU Gres, Joachim konkrete Investitionsabsprachen mit der Wirtschaft Grochtmann, Elisabeth Dr. Ackermann, Else Gröbl, Wolfgang —ich wundere mich, daß noch niemand auf diese Idee Adam, Ulrich Grotz, Claus-Peter gekommen ist —, insbesondere mit dem verarbeiten- Dr. Altherr, Walter Franz Dr. Grünewald, Joachim den Gewerbe, also mit der Indust rie und dem Hand- Augustin, Anneliese Günther (Duisburg), Horst werk! Nehmen Sie die unternehmerischen Spitzen- Augustinowitz, Jürgen Harries, Klaus Austermann, Dietrich Haschke (Großhennersdorf), verbände in die Pflicht! Lassen Sie sich konkrete Bargfrede, Heinz-Günter Gottfried Rahmenzusagen für eine erhebliche Aufstockung der Dr. Bauer, Wolf Haschke (Jena-Ost), Udo privaten Investitionen in „Fünebu", in den fünf neuen Baumeister, Brigitte Hasselfeldt, Gerda Bundesländern geben! Nutzen Sie die traditionell Bayha, Richard Haungs, Rainer Belle, Meinrad Hauser (Esslingen), Otto guten Kontakte konservativer Parteien zum Wirt- Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Hauser (Rednitzhembach), schaftsestablishment! Machen Sie endlich entspre- Bierling, Hans-Dirk Hansgeorg chend ihren jüngsten Einsichten und Äußerungen Dr. Blank, Joseph-Theodor Hedrich, Klaus-Jürgen ernst mit der Industriepolitik! Sie kommt spät, viel- Blank, Renate Heise, Manfred Dr. Blens, Heribert Dr. Hellwig, Renate leicht zu spät. Aber angesichts der perspektivlosen Bleser, Peter Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Arbeitslosigkeit im Osten darf kein Mittel unversucht Dr. Blüm, Norbert Hinsken, Ernst bleiben. Trotz der Rezession werden auch- im Jahre Böhm (Melsungen), Wilfried Hintze, Peter 1993 etwa 500 Milliarden DM von der privaten Wirt- Dr. Böhmer, Maria Hörsken, Heinz-Adolf Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Hörster, Joachim schaft in Deutschland investiert werden. Dr. Bötsch, Wolfgang Dr. Hoffacker, Paul Zum Schluß noch einmal: Treten Sie dem alten Bohl, Friedrich Hollerith, Josef neuen deutschen Rassismus und Nationalismus ent- Bohlsen, Wilfried Dr. Hornhues, Karl-Heinz Borchert, Jochen Hornung, Siegfried gegen! Sorgen Sie für Rechtssicherheit, um Investoren Brähmig, Klaus Hüppe, Hubert zu Investitionen in Ostdeutschland zu ermutigen! Breuer, Paul Jäger, Claus Brudlewsky, Monika Jaffke, Susanne (Beifall der Abg. Vera Wollenberger [BÜND Brunnhuber, Georg Jagoda, Bernhard NIS 90/DIE GRÜNEN]) Bühler (Bruchsal), Klaus Dr. Jahn (Münster), Büttner (Schönebeck), Friedrich-Adolf Hartmut Janovsky, Georg Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- Buwitt, Dankward Jeltsch, Karin ten Damen und Herren, ich schließe die Ausspra- Carstens (Emstek), Manfred Dr. Jobst, Dionys Dehnel, Wolfgang Dr.-Ing. Jork, Rainer che. Dempwolf, Gertrud Dr. Jüttner, Egon Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- Deres, Karl Junghanns, Ulrich plan 04 in der Ausschußfassung. Deß, Albert Dr. Kahl, Harald Diemers, Renate Kalb, Bartholomäus Die Fraktion der SPD verlangt namentliche Abstim- Dörflinger, Werner Kampeter, Steffen mung. Ich eröffne die namentliche Abstimmung. — Doss, Hansjürgen Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Dr. Dregger, Alfred Karwatzki, Irmgard Meine Damen und Herren: Haben jetzt alle Mitglie- Echternach, Jürgen Kauder, Volker der des Hauses ihre Stimmkarte abgegeben? — Dann Ehlers, Wolfgang Keller, Peter schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftfüh- Ehrbar, Udo Kiechle, Ignaz rer, mit der Auszählung der Stimmen zu beginnen. Für Eichhorn, Maria Kittelmann, Peter Engelmann, Wolfgang Klein (Bremen), Günter die dafür erforderliche Zeit wird die Sitzung unterbro- Eppelmann, Rainer Klein (München), Hans chen. Eylmann, Horst Klinkert, Ulrich Eymer, Anke Köhler (Hainspitz), (Unterbrechung von 16.01 Uhr bis 16.10 Uhr) Falk, Ilse Hans-Ulrich Dr. Faltlhauser, Kurt Dr. Köhler (Wolfsburg), Dr. Fell, Karl H. Volkmar Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- Fockenberg, Winfried Dr. Kohl, Helmut ten Damen und Herren, wir setzen die unterbrochene Francke (Hamburg), Klaus Kolbe, Manfred Sitzung fort. Frankenhauser, Herbert Koschyk, Hartmut Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10521

Kossendey, Thomas Rawe, Wilhelm Vogel (Ennepetal), Friedrich Rind, Hermann Kraus, Rudolf Reddemann, Gerhard Vogt (Düren), Wolfgang Dr. Röhl, Klaus Dr. Krause (Börgerende), Reichenbach, Klaus Dr. Vondran, Ruprecht Schäfer (Mainz), Helmut Günther Dr. Reinartz, Bertold Dr. Waffenschmidt, Horst Schmalz-Jacobsen, Cornelia Dr. Krause (Bonese), Reinhardt, Erika Dr. Waigel, Theodor Schmidt (Dresden), Arno Rudolf Karl Repnik, Hans-Peter Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Schmieder, Jürgen Krause (Dessau), Wolfgang Dr. Rieder, Norbe rt Dr. Warnke, Jürgen Dr. Schnittler, Christoph Krey, Franz Heinrich Dr. Riedl (München), Erich Dr. Warrikoff, Alexander Schüßler, Gerhard Kriedner, Arnulf Riegert, Klaus Werner (Ulm), Herbe rt Schuster, Hans Kronberg, Heinz-Jürgen Dr. Riesenhuber, Heinz Wetzel, Kersten Sehn, Marita Dr.-Ing. Krüger, Paul Ringkamp, Werner Wiechatzek, Gabriele Seiler-Albring, Ursula Krziskewitz, Reiner Rode (Wietzen), Helmut Dr. Wieczorek (Auerbach), Dr. Semper, Sigrid Lamers, Karl Rönsch (Wiesbaden), Bertram Dr. Solms, Hermann Otto Dr. Lammert, Norbert Hannelore Dr. Wilms, Dorothee Dr. Starnick, Jürgen Lamp, Helmut Romer, Franz Wilz, Bernd Dr. von Teichman, Cornelia Lattmann, Herbert Dr. Rose, Klaus Wimmer (Neuss), Willy Thiele, Carl-Ludwig Dr. Laufs, Paul Rossmanith, Kurt J. Dr. Wisniewski, Roswitha Dr. Thomae, Dieter Laumann, Karl-Josef Roth (Gießen), Adolf Wissmann, Matthias Timm, Jürgen Lehne, Klaus-Heiner Rother, Heinz Dr. Wittmann, Fritz Türk, Jürgen Dr. Lehr, Ursula Dr. Ruck, Christian Wittmann (Tännesberg), Walz, Ingrid Lenzer, Christian Rühe, Volker Simon Dr. Weng (Gerlingen), Limbach, Editha Dr. Rüttgers, Jürgen Wonneberger, Michael Wolfgang Link (Diepholz), Walter Sauer (Salzgitter), Helmut Wülfing, Elke Wolfgramm (Göttingen), Lintner, Eduard Sauer (Stuttgart), Roland Würzbach, Peter Kurt Torsten Dr. Lippold (Offenbach), Scharrenbroich, Heribert Yzer, Cornelia Würfel, Uta Klaus W. Schätzle, Ortrun Zeitlmann, Wolfgang Zurheide, Burkhard Dr. sc. Lischewski, Manfred Dr. Schäuble, Wolfgang Zierer, Benno Zywietz, Werner Löwisch, Sigrun Schartz (Trier), Günther Zöller, Wolfgang Lohmann (Lüdenscheid), Schemken, Heinz Wolfgang Scheu, Gerhard Louven, Julius Schmalz, Ulrich F.D.P. Dr. Luther, Michael Schmidbauer, Bernd Nein Maaß (Wilhelmshaven), Erich Schmidt (Fürth), Christian Albowitz, Ina Männle, Ursula Dr.-Ing. Schmidt (Halsbrücke), Dr. Babel, Gisela SPD Magin, Theo Joachim Baum, Gerhart Rudolf Antretter, Robert Dr. Mahlo, Dietrich Schmidt (Mülheim), Andreas Beckmann, Klaus Bachmaier, Hermann Marienfeld, Claire Schmidt (Spiesen), Trudi Dr. Blunk, Michaela Marschewski, Erwin Schmitz (Baesweiler), Bredehorn, Günther Barbe, Angelika Marten, Günter Hans Peter Cronenberg (Arnsberg), Bartsch, Holger Dr. Mayer (Siegertsbrunn), von Schmude, Michael Dieter-Julius Becker (Nienberge), Helmuth Martin Dr. Schneider (Nürnberg), Eimer (Fürth), Norbert Becker-Inglau, Ingrid Meckelburg, Wolfgang Oscar Engelhard, Hans A. Berger, Hans Meinl, Rudolf Dr. Schockenhoff, Andreas van Essen, Jörg Bernrath, Hans Gottfried Dr. Meseke, Hedda Graf von Schönburg- Dr. Feldmann, Olaf Beucher, Friedhelm Julius Dr. Meyer zu Bentrup, Glauchau, Joachim Friedhoff, Paul K. Bindig, Rudolf Reinhard Dr. Scholz, Rupe rt Friedrich, Horst Blunck, Lieselott Michalk, Maria Frhr. von Schorlemer, Dr. Funke-Schmitt-Rink, Bock, Thea Michels, Meinolf Reinhard Margret Dr. Böhme (Unna), Ulrich Dr. Mildner, Klaus Dr. Schreiber, Harald Gallus, Georg Börnsen (Ritterhude), Arne Dr. Möller, Franz Schulhoff, Wolfgang Ganschow, Jörg Brandt-Elsweier, Anni Molnar, Thomas Dr. Schulte (Schwäbisch Genscher, Hans-Dietrich Dr. Brecht, Eberhard Müller (Kirchheim), Elmar Gmünd), Dieter Grünbeck, Josef Büchler (Hof), Hans Müller (Wadern), Schulz (Leipzig), Gerhard Grüner, Martin Büchner (Speyer), Peter Hans-Werner Schwalbe, Clemens Günther (Plauen), Joachim Dr. von Bülow, Andreas Müller (Wesseling), Alfons Schwarz, Stefan Dr. Guttmacher, Karlheinz Bulmahn, Edelgard Nelle, Engelbert Dr. Schwarz-Schilling, Hackel, Heinz-Dieter Bury, Hans Martin Dr. Neuling, Christian Christian Hansen, Dirk Caspers-Merk, Marion Nitsch, Johannes Dr. Schwörer, Hermann Heinrich, Ulrich Catenhusen, Wolf-Michael Nolte, Claudia Seehofer, Horst Dr. Hirsch, Burkhard Conradi, Peter Dr. Olderog, Rolf Seesing, Heinrich Dr. Hitschler, Walter Daubertshäuser, Klaus Ost, Friedhelm Seibel, Wilfried Dr. Hoth, Sigrid Dr. Diederich (Berlin), Nils Oswald, Eduard Seiters, Rudolf Dr. Hoyer, Werner Diller, Karl Otto (Erfurt), Norbe rt Sikora, Jürgen Irmer, Ulrich Dr. Dobberthien, Marliese Dr. Päselt, Gerhard Skowron, Werner H. Kleinert (Hannover), Detlef Dreßler, Rudolf Pesch, Hans-Wilhelm Dr. Sopart, Hans-Joachim Kohn, Roland Duve, Freimut Petzold, Ulrich Sothmann, Bärbel Dr. Kolb, Heinrich L. Ebert, Eike Pfeffermann, Gerhard O. Spilker, Karl-Heinz Koppelin, Jürgen Dr. Eckardt, Peter Pfeifer, Anton Spranger, Carl-Dieter Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Dr. Ehmke (Bonn), Horst Pfeiffer, Angelika Dr. Sprung, Rudolf Dr. Graf Lambsdorff, Otto Eich, Ludwig Dr. Pfennig, Gero Steinbach-Hermann, Erika Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Elmer, Konrad Dr. Pflüger, Friedbert Dr. Stercken, Hans Sabine Erler, Gernot Dr. Pinger, Winfried Dr. Frhr. von Stetten, Lüder, Wolfgang Esters, Helmut Dr. Pohler, Hermann Wolfgang Dr. Menzel, Bruno Ewen, Carl Priebus, Rosemarie Stockhausen, Karl Nolting, Günther Friedrich Ferner, Elke Dr. Probst, Albert Dr. Stoltenberg, Gerhard Dr. Ortleb, Rainer Fischer (Gräfenhainichen), Dr. Protzner, Bernd Strube, Hans-Gerd Otto (Frankfurt), Evelin Pützhofen, Dieter Stübgen, Michael Hans-Joachim Fischer (Homburg), Lothar Rahardt-Vahldieck, Susanne Dr. Süssmuth, Rita Paintner, Johann Formanski, Norbert Raidel, Hans Susset, Egon Peters, Lisa Fuchs (Köln), Anke Dr. Ramsauer, Peter Tillmann, Ferdi Dr. Pohl, Eva Fuchs (Verl), Katrin Rau, Rolf Uldall, Gunnar Richter (Bremerhaven), Gansel, Norbert Rauen, Peter Harald Verhülsdonk, Roswitha Manfred Dr. Gautier, Fritz 10522 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Gilges, Konrad von Renesse, Margot Dr. Höll, Barbara Poppe, Gerd Gleicke, Iris Rennebach, Renate Jelpke, Ulla Schenk, Christina Graf, Günter Rixe, Günter Dr. Keller, Dietmar Schulz (Berlin), Werner Haack (Extertal), Roth, Wolfgang Lederer, Andrea Dr. Ullmann, Wolfgang Karl Hermann Schaich-Walch, Gudrun Dr. Modrow, Hans Weiß (Berlin), Konrad Habermann, Michael Schanz, Dieter Philipp, Ingeborg Wollenberger, Vera Hacker, Hans-Joachim Dr. Scheer, Hermann Stachowa, Angela Hämmerle, Gerlinde Schily, Otto Hampel, Manfred Schloten, Dieter Fraktionslos Hanewinckel, Christel Schluckebier, Günter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Hartenstein, Liesel Schmidbauer (Nürnberg), Dr. Briefs, Ulrich Hasenfratz, Klaus Horst Dr. Feige, Klaus-Dieter Henn, Bernd Heistermann, Dieter Schmidt (Aachen), Ursula Köppe, Ingrid Lowack, Ortwin Heyenn, Günther Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Hiller (Lübeck), Reinhold Schmidt-Zadel, Regina Hilsberg, Stephan Dr. Schmude, Jürgen Damit ist der Einzelplan 04 angenommen. Horn, Erwin Dr. Schnell, Emil Huonker, Gunter Schreiner, Ottmar (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Iwersen, Gabriele Schröter, Gisela Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Ein ganz Dr. Schuster, R. Werner Jäger, Renate überraschendes Ergebnis!) Janz, Ilse Schwanhold, Ernst Dr. Janzen, Ulrich Schwanitz, Rolf Meine Damen und Herren, wir setzen nun die Dr. Jens, Uwe Seidenthal, Bodo Beratungen fort. Jung (Düsseldorf), Volker Seuster, Lisa Jungmann (Wittmoldt), Horst Sielaff, Horst Kastner, Susanne Simm, Erika Ich rufe auf: Singer, Johannes Kastning, Ernst Einzelplan 05 Kirschner, Klaus Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Dr. Soell, Hartmut Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes Sorge, Wieland Klemmer, Siegrun — Drucksachen 12/3505, 12/3530 — Klose, Hans-Ulrich Steen, Antje-Marie Dr. Knaape, Hans-Hinrich Steiner, Heinz-Alfred Stiegler, Ludwig Berichterstattung: Körper, Fritz Rudolf Abgeordnete Dr. Klaus Rose Kolbow, Walter Dr. Struck, Peter Koltzsch, Rolf Tappe, Joachim Dr. Sigrid Hoth Dr. Kübler, Klaus Terborg, Margitta Ernst Waltemathe Dr. Thalheim, Gerald Kuessner, Hinrich Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/ Dr. Küster, Uwe Titze, Uta Kuhlwein, Eckart Toetemeyer, Hans-Günther Linke Liste vor. Urbaniak, Hans-Eberhard Lambinus, Uwe Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Lange, Brigitte Vergin, Siegfried von Larcher, Detlev Verheugen, Günter Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Ich Dr. Vogel, Hans-Jochen Leidinger, Robert höre und sehe keinen Widerspruch. Darm ist das so Lennartz, Klaus Voigt (Frankfurt), Karsten D. beschlossen. Dr. Leonhard-Schmid, Elke Wagner, Hans Georg Lohmann (Witten), Klaus Wallow, Hans Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst Dr. Lucyga, Christine Waltemathe, Ernst unserem Kollegen Ernst Waltemathe das Wo rt. Maaß (Herne), Dieter Walter (Cochem), Ralf Mascher, Ulrike Walther (Zierenberg), Rudi Matschie, Christoph Wartenberg (Berlin), Gerd Ernst Waltemathe (SPD): Herr Präsident! Meine Dr. Matterne, Dietmar Dr. Wegner, Konstanze sehr geehrten Damen und Herren! Ich beabsichtige Weiermann, Wolfgang Matthäus-Maier, Ingrid nicht, hier eine übliche Haushaltsrede oder eine Mattischeck, Heide Weiler, Barbara Meckel, Markus Weis (Stendal), Reinhard außenpolitische Rede zu halten. Ich möchte darauf Mehl, Ulrike Weisheit, Matthias hinweisen, daß bis vor zwei oder drei Jahren eine Meißner, Herbert Weißgerber, Gunter immer auch eine Weisskirchen (Wiesloch), Gert Debatte über auswärtige Politik Dr. Mertens (Bottrop), innenpolitische Auseinandersetzung gewesen ist. Franz-Josef Dr. Wernitz, Axel Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Wester, Hildegard Die Welt war klar aufgeteilt in zwei Machtblöcke; Mosdorf, Siegmar Wettig-Danielmeier, Inge Dr. Wetzel, Margrit das war überschaubar. Die Wege zur Überwindung Müller (Düsseldorf), Michael dieser Machtblöcke waren Gegenstand heftiger Aus- Müller (Schweinfurt), Rudolf Weyel, Gudrun Müller (Völklingen), Jutta Dr. Wieczorek, Norbert einandersetzungen parteipolitischer und auch gesell- Müller (Zittau), Christian Wieczorek (Duisburg), Helmut schaftspolitischer Art. Wieczorek-Zeul, Heidemarie Müntefering, Franz Da gab es die Stichworte von den „Ewiggestrigen" Neumann (Bramsche), Volker Wimmer (Neuötting), Neumann (Gotha), Gerhard Hermann und den „kalten Kriegern" auf der einen Seite. Die Dr. Niehuis, Edith Dr. de With, Hans „Moskau-Fraktion", der „Antiamerikanismus" und Dr. Niese, Rolf Wittich, Berthold Wohlleben, Verena ähnliche bombastische Etiketten auf der anderen Oostergetelo, Jan Seite waren beliebte Mittel, um politische Gegner zu Opel, Manfred Wolf, Hanna Ostertag, Adolf Zapf, Uta verdächtigen. „Ausverkauf deutscher Interessen" ist Dr. Otto, Helga gegen die Ostpolitik der Regierung Brandt einge- Paterna, Peter wandt worden. Dr. Penner, Willfried PDS/Linke Liste Peter (Kassel), Horst Aber die Wende vor zehn Jahren hat nicht dazu Dr. Pfaff, Martin Bläss, Petra geführt, daß sich die deutsche Politik nach außen Dr. Pick, Eckhart Dr. Enkelmann, Dagmar grundsätzlich veränderte. Vorher hatte auch die so- Poß, Joachim Dr. Fischer, Ursula Purps, Rudolf Dr. Fuchs, Ruth zialdemokratisch geführte Regierung die Ergebnisse Rappe (Hildesheim), Hermann Dr. Gysi, Gregor der Adenauer-Politik als geschaffene Fakten nicht Reimann, Manfred Dr. Heuer, Uwe-Jens mehr in Frage gestellt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10523

Ernst Waltemathe Heute leben wir nach dem Wegfall des Eisernen Angesichts brennender Häuser und ermordeter tür- Vorhangs, nach dem Wegfall der Aufteilung der Welt kischer Mitbürgerinnen und Kinder ist es wichtig, daß und auch Europas in einen Westblock und einen wir die Achtung der Menschenrechte als einen wich- Ostblock, die sich feindlich gegenüberstanden, in tigen Bestandteil unserer Außenpolitik glaubwürdig einer Zeit des Umbruchs. Aber leider drohen jetzt vertreten. Aber das ist uns nur möglich, wenn wir innenpolitische Verhältnisse zu einer negativen Qua- durch konsequente Anwendung unserer in Gesetzen lität unserer Außenpolitik zu werden. Was nämlich festgelegten rechtsstaatlichen Mittel mit dem Terror durch Deutschland und gegenüber Deutschland als im Innern fertig werden und die Würde, die körperli- Vertrauensbasis in 40 Jahren aufgebaut worden ist, che Unversehrtheit und das Leben aller Menschen, droht durch rechtsextremistische Gewalt, von der hier die in Deutschland sind, sichtbar zu garantieren heute schon mehrfach die Rede war, in ein Bild vermögen. umzuschlagen, das die Zuverlässigkeit Deutschlands (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten als demokratischen, als friedlichen, als toleranten, als der F.D.P.) international zur Zusammenarbeit fähigen Rechts- staat ins Wanken bringt. Es kann und darf nicht sein, daß 35 000 jüdische Deutsche und Millionen von Türken Angst haben Dies sage ich jetzt als Feststellung; es ist kein müssen und einige von ihnen sogar glauben — ich Vorwurf, insbesondere nicht an Sie, Herr Bundesau- glaube das nicht, aber es hat ja einen entsprechenden ßenminister. Sie vertreten Deutschland seit einem Brief an den Bundeskanzler gegeben —, sie könnten halben Jahr nach außen und spüren wie auch wir sich in Deutschland nur schützen, indem sie sich selbst Parlamentarier — beispielsweise vor acht Tagen in bewaffnen. Israel —, daß neues Mißtrauen entsteht, ja, daß sich neue Ängste auftun, die wir überwunden glaubten. Unser Verhältnis zur Türkei — Herr Bundesmini- Ihre Wirkungsmöglichkeit, Herr Bundesminister, die ster, das ist das einzige Land, das ich erwähne, weil es Wirkungsmöglichkeit der Bundesregierung und der gerade in diesen Tagen Anlaß zur Empfindsamkeit Bundesrepublik insgesamt im internationalen Rah- gibt und ich die Empfindsamkeit dieses Parlaments, men ist unmittelbar davon abhängig, ob und wie wir jedenfalls der Opposition, hier zum Audruck bringen mit der neuen Welle rechtsextremistischer Gewalt im möchte — muß behutsam neu geordnet werden. Wir Inland fertigwerden. Unser außenpolitisches Ansehen haben kritisiert — und wir tun das auch weiter —, daß muß ein Anliegen des gesamten demokratischen sich im auswärtigen Etat und auch im Verteidigungs- Parlaments und der übergroßen Mehrheit unserer haushalt immer noch erhebliche Millionenbeträge Bürgerinnen und Bürger sein bzw. wieder werden. befinden, die unter dem Stichwort „NATO-Verteidi- gungshilfe" oder „Rüstungssonderhilfe" Waffenliefe- (Beifall bei der SPD) rungen großen Umfangs ermöglichen. Meine Damen und Herren, keine Angst, ich will (Beifall bei der SPD) nicht die Debatte über den Etat des Auswärtigen In einer Zeit der weltweiten Abrüstung dürfen wir Amtes dazu mißbrauchen, einen innenpolitischen- nicht auf Aufrüstung in Südosteuropa setzen und dazu Beitrag zu leisten. Aber die Einteilung der Haushalts- ermutigen. beratungen in Einzelpläne ist nicht immer geeignet, unmittelbar zusammenwirkende Teile der Gesamt- Es geht aber nicht darum, abgeschlossene vertrag- politik richtig einzuordnen. Deshalb müssen alle liche Verpflichtungen einfach ersatzlos zu stornieren, politischen Bereiche ihren Beitrag dazu leisten, daß sondern darum, in gleichem — oder vielleicht sogar in eine besonnene, auf Vertrauen in die demokratische noch größerem — Umfang das für Rüstungsgüter Zuverlässigkeit der Deutschen beruhende und auf vorgesehene Geld in Hilfsprogramme wirtschaftlicher europäischer Zusammenarbeit beharrende deutsche und kultureller Zusammenarbeit umzuwidmen, die Außenpolitik betrieben werden kann. u. a. der türkischen Bevölkerung unmittelbar zugute kommen, und zwar allen Teilen der türkischen Bevöl- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: kerung. Geistige Höhenflüge sind immer erlaubt, Herr Kollege!) (Beifall bei der SPD) Eine solche Umstellung bisheriger Rüstungshilfe — Ich finde Ihren Zwischenruf, ehrlich gesagt, ein auf zivile Hilfe nützt unserem friedfertigen außenpoli- bißchen zynisch. Ich würde Sie einmal bitten, das so zu tischen Ansehen und der Festigung unserer bilatera- unterstützen, wie wir, alle Parteienvertreter dieses len Beziehungen mit anderen Ländern und ihrer Parlaments, es letzte Woche einvernehmlich gemacht jeweiligen Bevölkerung, die bisher Empfänger von haben, wohlwissend, welche Belastung auf unsere Militärgütern waren. Außenpolitik zukommt, wenn innenpolitisch Häuser brennen. — Im Etat des Auswärtigen Amtes sind die Mittel für humanitäre Hilfsmaßnahmen seit Jahren zu niedrig (Beifall bei der SPD) veranschlagt worden. Tatsächlich wird meist das Dop- Deshalb fordere ich die dafür notwendige Unterstüt- pelte dessen ausgegeben, was im Haushalt zuvor zung aller Fraktionen dieses Hauses. Darum müssen veranschlagt war. wir bei allem politischen Streit und auch bei allem (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: So ist das Schlagabtausch im Innern als Regierung, aber auch bei dieser Regierung!) als Opposition das Ganze im Auge behalten. Der Versuch, den Ansatz von 80 Millionen DM wenig (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Herr Kollege, stens auf einen Betrag von fast 100 Millionen DM Sie haben recht!) anzuheben, der eher in die Nähe von Haushaltswahr- 10524 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Ernst Waltemathe heit und -klarheit käme, ist leider fehlgeschlagen, muß. Aber wir können im nächsten Jahr einen Anfang obwohl der Unterausschuß für Humanitäre Hilfe und machen. Menschenrechte dieses Hauses und auch der Auswär- (Beifall bei der SPD) tige Ausschuß einstimmig eine entsprechende Emp- fehlung ausgesprochen haben und die SPD-Fraktion Im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik sind die im Haushaltsausschuß einen entsprechenden Antrag eigentlichen operativen Mittel des Etats des Auswär- mit dem Angebot, an anderer Stelle des Etats des tigen Amtes konzentriert. Wir hatten ein fast aus- Bundesministers des Auswärtigen eine Einsparung kömmliches Volumen dafür vorgesehen. Leider hat vorzunehmen, gestellt hat. die Koalition vor 14 Tagen eine globale Minderaus- gabe von 30 Millionen DM ausschließlich der auswär- Auch eine geringfügige und maßvolle Erhöhung tigen Kulturarbeit auferlegt. Dies wird einige wichtige des Regelbeitrags an den Hohen Flüchtlingskommis- Projekte des Auslandsschulwesens und der Sprachför- sar der Vereinten Nationen ist von der Regierungs- derung in den Staaten Osteuropas in Gefahr brin- koalition im Haushaltsausschuß erneut abgelehnt gen. worden, Ich habe ferner ausdrücklich zu kritisieren, daß trotz (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Hört! vorheriger weit gediehener Pläne des Auswärtigen Hört!) Amtes selbst und trotz des Ergebnisses der Debatte im Obwohl wir seit nunmehr zwei Jahren von dem Plenum des Bundestages am 8. Oktober keine müde zuständigen Ausschuß und dem Unterausschuß auf- Bundesmark als Zuschuß zur Gedenkstätte für den in gefordert sind, die wachsenden Aufgaben des Hohen der Nazi-Zeit verfolgten und in den Selbstmord getrie- Flüchtlingskommissars zu würdigen und unseren Bei- benen Schriftsteller Walter Benjamin ihren Nieder- trag demgemäß anzupassen. schlag im Etat gefunden hat. (Beifall bei der SPD) (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Unglaub lich!) Für die sture Haltung der Koalitionsfraktionen habe ich in diesem Zusammenhang allein schon deshalb Gerade in einer Zeit, in der neue Ängste in Deutsch- kein Verständnis, weil die begründeten Anliegen der land und wegen Deutschland umgehen, wäre ein SPD die Auffassung aller politischen Richtungen die- Beitrag des Gesamtstaates mehr als nur ein positives ses Hauses wiedergeben und wir ausdrücklich Mög- Symbol gewesen. lichkeiten aufgezeigt haben, diese Gelder aus (Beifall bei der SPD) Umschichtungen im Etat des Bundesministers des Auswärtigen aufzubringen. Ich bedaure auch, daß ich das, was von allen Fraktionen dieses Hauses zu diesem Thema am 8. Ok- Es wäre z. B. auch jetzt noch möglich, aus dem mit tober hier gesagt worden ist, für bare Münze genom- 90 Millionen DM veranschlagten Haushaltstitel für men habe und zuversichtlich war, mit einem Zuschuß Ausstattungshilfe, die zu über 60 % für militärische - von etwa einer halben Million DM, also etwa der Güter nicht waffentechnischer Art vorgesehen ist, Hälfte der Gesamtkosten, eine Einigung mit den einen Betrag von 20 Millionen DM abzuzweigen, um Koalitionsfraktionen herbeiführen zu können. Aber den dringendsten Erfordernissen der Flüchtlingshilfe diese sind unbeweglich und hartherzig geblieben. und humanitären Hilfsmaßnahmen Rechnung zu tra- gen. (Freimut Duve [SPD]: In diesem Fall auch hartherzig gegenüber den eigenen Mitglie (Beifall bei der SPD und des Abg. Gerd Poppe dern!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Das Auswärtige Amt wollte nichts mehr davon wissen, Ich komme jetzt auf etwas Positives zu sprechen: daß es in den Jahren zuvor selbst so verhandelt hat, Wir begrüßen ausdrücklich die Tatsache, daß wir im daß mit einer Mitfinanzierung des Bundes gerechnet Jahre 1993 mit einer ersten bescheidenen Rate von werden konnte und mußte. 10 Millionen DM Abrüstungshilfe an Rußland leisten können. Das heißt konkret: In einem Abkommen Um so mehr begrüße ich heute, daß sich alle zwischen Deutschl and und Rußland — ich sage vor- Bundesländer auf Initiative Baden-Württembergs und weg: Es ist nach dem Beschluß des Bundeskabinetts Hessens bereit erklärt haben, die Gedenkstätte in Port über den Haushaltsentwurf 1993 abgeschlossen wor- Bou nach den Entwürfen des israelischen Künstlers den; dieses Abkommen konnte im Kabinettsentwurf Dani Karawan zu verwirklichen. noch gar nicht berücksichtigt werden, weil es noch (Beifall bei der SPD) nicht abgeschlossen war — ist vorgesehen, Chemie- waffen und Atomraketen, die uns vor einigen Jahren Offensichtlich haben unsere Bundesländer mehr Fee- noch bedroht haben, zu beseitigen und zu entsorgen. ling für das, was gerade jetzt zu den Notwendigkeiten Das Geld, das wir dafür bereitstellen, ist also gut deutscher Politik gehört. angelegt; denn jede tatsächliche Beseitigung chemi- (Beifall bei der SPD) scher und nuklearer Kampfstoffe reduziert auch die Der Etat des Auswärtigen Amtes schließt mit einem Gefahr, daß Waffenhändler mit bedrohlichsten Stof- Gesamtvolumen von rund 3,6 Milliarden DM ab. Die fen die Schwarzmärkte beglücken. auswärtige Politik kostet damit jeden Bundesbürger Die SPD-Fraktion begrüßt deshalb ausdrücklich die etwa 45 DM im Jahr oder knapp 4 DM im Monat. Dafür im Regierungsentwurf noch nicht vorgesehene Schaf- sind wir in zunehmend mehr Staaten der Erde vertre- fung des Haushaltstitels Abrüstungshilfe, der in den ten und können deutsches Ansehen weltweit zu kommenden Jahren sicher noch aufgestockt werden verbessern suchen. Umgekehrt sehen sich unsere Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10525 Ernst Waltemathe Auslandsvertretungen und unsere kulturellen Mittler- überzeugend gestalten. Ich meine damit nicht bloß die organisationen wachsenden Aufgabenstellungen und Politiker, sondern in erster Linie die Vertreter des Verantwortlichkeiten gegenübergestellt. auswärtigen Dienstes. Ich bin der Ansicht, daß dieser Hinsichtlich des Personalaufwandes für den Aus- Dienst nichts von seiner Effektivität verloren hat. wärtigen Dienst ermutigen wir das Auswärtige Amt, (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ist für die zuwachsende Zahl von Botschaften in sich neu wahr!) bildenden Staaten und für möglicherweise noch ein- zurichtende Vertretungen bei internationalen Organi- Wir haben uns in der letzten Zeit bemüht, die Instru- sationen nicht nur das Ins trument zusätzlicher Perso- mente zu schärfen, damit dieser Dienst seine Aufga- nalanforderungen zu benutzen, sondern auch den ben erfüllen kann. Bestand schon existierender Vertretungen zu durch- (Zustimmung bei der CDU/CSU und der forsten und das Personal durch Doppelakkreditierun- SPD) gen bzw. durch Kooperation mit EG-Staaten effekti- ver einzusetzen. Doch auch Ins trumente wie die multilaterale Konfe- renzdiplomatie oder die auswärtige Kulturpolitik hel- (Beifall bei der SPD) fen in deutschem Interesse. Obwohl es eine Reihe von — auch aus unserer Sicht — positiven Ansätzen im Etat des Bundesmini- (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!) sters des Auswärtigen gibt, sehen wir uns insgesamt Der Etat des Auswärtigen Amtes hat folgerichtig, nicht in der Lage, dem Einzelplan 05 zuzustimmen trotz der finanziellen Enge im Gesamthaushalt, einen oder uns diesbezüglich der Stimme zu enthalten. Aus leichten Zuwachs aufzuweisen. Gründen, die ich vorgetragen habe, und aus weiteren Gründen, die mein Kollege noch nach- Ich möchte jetzt auf drei Hauptbereiche intensiver eingehen. tragen wird, werden wir den Einzelplan 05 ableh- nen. Der erste Bereich betrifft — Kollege Waltemathe hat Vielen Dank. es schon erwähnt — die Abrüstungshilfe. Hier handelt es sich um Kosten für einen deutschen Beitrag zur (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Hans Beseitigung ehemals sowjetischer Massenvernich- Modrow [PDS/Linke Liste] und des Abg. tungswaffen. Hierüber sind wir uns alle einig: Dafür ist Gerd Poppe [Bündnis 90/GRÜNE]) jede Mark gut angewendet. Die Ausgaben von 10 Mil- lionen DM im Jahr 1993 sind nur ein erster Anfang. Vizepräsident Helmuth Becker: Nächster Redner ist Rein technisch gesehen und rein finanziell be trachtet unser Kollege Dr. Klaus Rose. ist die Aufgabe lösbar, wenn auch sicher nicht in einem Jahr. Das Schwierige bei diesem Thema ist nach meiner Meinung, die politische Bereitschaft der Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine betroffenen Nachfolgestaaten zum Verzicht auf Atom- sehr verehrten Damen und Herren! Wir konnten heute waffen zu gewinnen. schon den ganzen Tag — auch beim Etat des Bundes- Warum sage ich das? Ich war in der vergangenen kanzleramts — über außenpolitische Fragen diskutie- Woche auf der ersten deutsch-ukrainischen Fachkon- ren. Der Kollege Waltemathe hat einige zusätzliche ferenz in Kiew und habe dort deutlich bemerkt: Zwar Beispiele vorgetragen. Wahrscheinlich deswegen, wird viel von Rüstungskontrolle und vom Abbau des weil wir gemeinsam Berichterstatter zu diesem Ein- strategischen Nuklearwaffenpotentials gesprochen. zelplan sind, fügt es sich, daß auch in speziell auf Wenn man aber — wie das bei der Ukraine z. B. der einige der von ihm bereits angesprochenen Themen Fall ist — große wirtschaftliche Schwierigkeiten und eingehen möchte. Selten zuvor ist der deutschen dazu noch Nachbarschaftsprobleme hat, möchte man Außenpolitik eine solch wichtige Rolle zugekommen, nicht so ohne weiteres seine militärische Bedeutung wie es derzeit der Fall ist. aufgeben. Ich habe deutlich auf die Chance der Kollege Walthemathe, ich stimme mit Ihnen über- Ukraine hingewiesen, durch einen Verzicht auf Atom- ein: Die Außenpolitik kann so gut sein wie sie will, waffen zu einem Nichtkernwaffenstaat zu werden und aber wenn die innenpolitischen Verhältnisse nicht damit so viel internationales Vertrauen zu gewinnen, stimmen, dann können wir uns bemühen wie wir daß die Zusammenarbeit auf anderen Feldern vertieft wollen, wir werden im Ausland dennoch Schwierig- werden kann. keiten haben. Ich fordere auch hier die Bundesregierung auf, die (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Bedeutung dieses 52-Millionen-Volks zu erkennen SPD) und beim Aufbau eines neuen demokratischen Staats- Die schlimmen innenpolitischen Ereignisse in wesens breite Unterstützung zu geben. Daß es, ähn- Deutschland lassen die Welt an uns zweifeln, manche lich wie in Rußland und in Kasachstan, auch in der verzweifeln sogar schon. Hinzu kommen natürlich Ukraine Deutsche gibt — dort wird eine Zahl von ca. auch die unübersichtlichen bis gefährlichen Gescheh- 40 000 genannt —, die eine Brückenfunktion ausfül- nisse in vielen Teilen der Welt, die uns wiederum len können, erwähne ich nur nebenbei. bangen lassen und mit denen wir uns beschäftigen Ich komme damit zu meinem zweiten Hauptpunkt, müssen; denn ein Verdrängen oder gar ein Ausklin- nämlich der Förderung der deutschen Sprache in ken ist nicht möglich. Mittel- und Osteuropa sowie in den GUS-Staaten. Deshalb kommt es auf eine überzeugende Politik Auch dazu ist ein Sonderprogramm entwickelt wor- an. Es kommt aber auch auf diejenigen an, die Politik den. Darüber möchte ich einiges sagen. 10526 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Klaus Rose Noch ist diese Konzeption ausbaufähig. Doch die angesprochen haben. Wir hatten vor einem Jahr im notwendige Zahl der Lehrkräfte scheint schon Haushaltsausschuß andersartige Wortbeiträge. gedeckt zu sein. Damit bietet sich uns die Chance, für Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kolle- Schlesien, für die Tschechische Republik, die Slowa- gen, natürlich dürfen wir das Kurdenproblem dabei kische Republik oder für Memel und St. Petersburg, nicht ausklammern. Unter Freunden darf man für die Gebiete um Omsk, Tomsk und Nowosibirsk in bekanntermaßen jedes Thema ansprechen. Was man Rußland, für Alma Ata in Kasachstan, für Ushgorod, nicht tun sollte, ist das Wägen mit zweierlei Maß und Cherzon und Odessa in der Ukraine eine wesentliche vor allem das Unterschlagen von Fakten. Hilfe zu leisten. Für uns kann dies der Schritt in eine neue Dimension der friedlichen Zusammenarbeit mit Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Rose, den Nachfolgestaaten der Sowjetunion werden. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen In diesem Zusammenhang soll auch auf die über Duve? mehrere Einzelhaushalte verteilte Aufbau - und Bera- tungshilfe in Mittel - und Osteuropa verwiesen wer- Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Ja; bitte. den. Hier sind besonders unsere politischen Stiftun- gen gefordert. In Kiew habe ich mich von der Aufbau- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr, Herr arbeit der Hanns-Seidel-Stiftung überzeugen können. Kollege. Ich meine, daß dort Gutes geleistet wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Freimut Duve (SPD): Herr Dr. Rose, ist Ihnen bekannt, daß der Menschenrechtsausschuß des türki- Ich würde es auch begrüßen, wenn die anderen schen Parlaments heute beschlossen hat, im Anschluß politischen Stiftungen — egal, in welchen Orten — an die Morde von Mölln eine „Inspektionsreise" nach Erfolg haben. Daß darüber hinaus auch die deutsche Deutschland zu veranstalten, und wäre Ihre Fraktion Wirtschaft insgesamt und andere aufgerufen sind mit uns und anderen Fraktionen gemeinsam bereit mitzuhelfen, ist klar. — im Sinn dieser Fragen, die Sie aufgeworfen Im Bundeshaushalt zeigt sich eine dritte gravie- haben —, mit diesem Ausschuß hier in Bonn ein rende Verschiebung, nämlich die abnehmende mili- Gespräch zu führen? tärische Zusammenarbeit mit den NATO - Verbünde- (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: ten Portugal, Griechenland und Türkei. Kollege Wal- Selbstverständlich!) temathe hat auf diese Zurückführung der NATO- Verteidigungshilfe hingewiesen, die mit dem jetzigen Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Das ist gar keine Frage. letzten Dreijahresplan, also ab 1995, endgültig aus- Mit Kollegen reden wir immer, und wenn es um laufen soll. Ich trage dieses mit, obwohl ich auch im Menschenrechtsfragen geht, gilt das erst recht. Wenn nachhinein überzeugt bin — anders als die heutige es jetzt andersherum ist, als es früher war, wo gute Opposition —, daß unsere enge Zusammenarbeit- mit Kollegen aus diesem Hause in die Türkei fuhren, um diesen NATO-Eckpfeilern in den vergangenen Jahr- ihnen zu zeigen, daß sie die Menschenrechte verlet- zehnten im Interesse unserer eigenen deutschen und zen, der europäischen Sicherheit war. (Freimut Duve [SPD]: Mit gutem Grund!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. dann müssen wir jetzt umgekehrt bereit sein, türki- sowie des Abg. Karsten D. Voigt [Frankfurt] sche Kollegen bei uns aufzunehmen, damit sie uns [SPD]) sagen, wie es weitergeht. Was ich nicht bereit bin mitzutragen, ist die unver- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der antwortliche Abkühlung, ja Gefährdung der deutsch- SPD — Freimut Duve [SPD]: Das war der Sinn türkischen Beziehungen. Ich hätte auf dieses Thema meiner Frage!) auch unter anderen Umständen hingewiesen, nicht Ich hatte gerade gesagt, man solle keine Fakten nur jetzt nach den schrecklichen und beschämenden unterschlagen. Ich bitte deshalb alle, auch die Ereignissen von Mölln. Wir Deutschen haben nämlich Medien, die Kurden und die PKK nicht in einen Topf keinerlei Veranlassung mehr, mit dem Moralfinger zu werfen. Nicht jeder Terroranschlag und Mord auf andere zu deuten. Wir kommen auch wieder durch die PKK ist ein Kurdenverbrechen, und nicht soweit, daß wir froh sein müssen, überhaupt noch jede Aktion gegen die PKK ist ein Einsatz gegen die Freunde in der Welt zu finden. Kurden, wie es bei uns leider oft heißt. Das liest man auch in Zeitungen immer wieder. Zu den großen befreundeten Völkern haben immer die Türken gezählt. Gerade jetzt, wo unsere Verbin- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dungen noch stärker gewachsen sind, wo wir wissen, Warum nennt man die kommunistische PKK in den daß jeder dritte Ausländer bei uns ein Türke ist und wo deutschen Medien immer so freundlich „Arbeiterpar- wir auch die Chance eines modernen Zusammen- tei", als wäre sie etwas ähnlich Freundliches wie die wachsens haben, sollen diese engen gewachsenen Sozialdemokraten? Beziehungen plötzlich anders sein? (Heiterkeit — Dr. Wolfg ang Weng [Gerlin gen] [F.D.P.]: Eine Funktionärs- und Lehrer (Ernst Waltemathe [SPD]: Sie haben nicht partei ist das heute! — Freimut Duve [SPD]: gesagt, warum!) Wir wußten gar nicht, daß Sie bei der großen — Nein, das ist kein Bezug auf die heutige Rede. Ich Koalition mitmachen wollen! — Weitere freue mich ja, daß Sie das Thema heute so sachlich Zurufe von der SPD und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10527 Dr. Klaus Rose — Jeder weiß, daß ich z. B. als Kapitän der Fußball- deutsche Universität in Istanbul zu errichten. Ich mannschaft des Bundestages sehr gern auch mit möchte, daß man die Realisierung dieses Signals Sozialdemokraten Pässe spiele. weiterhin verfolgt, allerdings nicht in der Trägerschaft der Bundesregierung, also anders als damals bei dem Warum verschweigt man, daß es für die Kurden im Nordirak keinen Alleinvertretungsanspruch der PKK deutschen Krankenhaus in Istanbul. Es ist natürlich gibt, sondern daß verschiedene demokratische Par- falsch, wenn die Bundesregierung ein Krankenhaus teien Vertreter der kurdischen Sache sind? Ich frage betreibt. Es sollte unter Mithilfe auch deutscher Wis- noch einmal — denn dies ist mir in den letzten senschaftler zu einer echten Zusammenarbeit mit der Monaten abgegangen —: Warum darf die PKK ihre Türkei kommen. Wir sollten diese deutsche Universi- tät in Istanbul in freier Trägerschaft gründen. eindeutig terroristischen Aktivitäten auch in Deutsch- land durchziehen, so daß es schon zu Mordprozessen (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr gut!) kommen mußte? Davon hat man eigentlich nie etwas Jeder von uns weiß, welch wichtige Rolle der Türkei gehört. in Zukunft zukommt. Nicht nur der Balkan brennt; auf Die Türkei hat ihre besonderen Beziehungen zu der anderen Seite der Türkei steht der Kaukasus vor Deutschland; das wissen wir. Müssen wir sie nicht einer Explosion. Der bekannte Südosteuropakenner genauso beurteilen, so frage ich dann, wie unsere Professor Werner Gumpel aus München hat kürzlich freundschaftlichen Beziehungen beispielsweise zum die kriegerischen Konflikte aufgelistet, die es bereits Vereinigten Königreich oder zu Frankreich oder zu jetzt gibt und die alle zu Flüchtlingsströmen in die Spanien? Ich möchte keine neuen Probleme hochre- Türkei führen können. Die Georgier, Armenier und den; aber wir haben zweierlei Maß angewandt. Aserbaidschaner sind uns inzwischen bekannt, auch die Osseten, Abchasen oder Tschetschenen. Kaum Das schließt überhaupt nicht aus, daß wir dringende bekannt sind die Völkerschaften der Avaren, Lesgi- humanitäre Hilfsmaßnahmen für die Kurden im Nord- nen, Darginen, Kumyken, Tabarasanen usw., die alle irak leisten, wie sie z. B. im SPD-Antrag auf Drucksa- von mächtigen Nachbarn in alter kolonialer Art aus- che 12/3719 vom 12. November 1992 gefordert wer- gespielt werden und die deshalb als gefährdet gelten. den. Die Ursachenbeschreibung in diesem Antrag Eine neue „Konföderation Kaukasischer Bergvölker" teile ich voll, weil sie endlich die Verantwortung des will sich für die Unabhängigkeit aller kaukasischen Saddam Hussein und der PKK für die Zerstörung der Völker einsetzen. Ich meine, da ist Hilfe von außen Lebensgrundlagen der Grenzlandkurden nennt. nötig. Das sollten wir in unserem eigenen Interesse Deutschland leistet bekanntlich schon jetzt öffentliche tun. Mittel in be trächtlicher Höhe für die humanitäre Hilfe; dazu kommen private Hilfsmaßnahmen. Wenn man also den Balkan, den Kaukasus, den Iran und den Irak, aber auch den weiteren zentralasiati- Anfang November hatte es im Deutschen Bundes- schen Gürtel der unterschiedlichen Turkvölker tag eine Debatte über den Umfang dieser humanitä- betrachtet, mißt man der Türkei eine neue Rolle zu. ren Hilfe gegeben. Das betrifft neben dem ehemali- Deutschland bekommt eine neue Rolle, und wir rin- gen Jugoslawien nicht bloß Somalia oder das südliche gen um diese Rolle. Deutschland sollte dem alten Afrika und eben den Nordirak, sondern auch andere. Freund Türkei bei seiner neuen Rolle behilflich Dort war vor allem von der Aufnahme von hundert- sein. tausenden Flüchtlingen in Deutschland selbst die Rede. Auch das zählt zur humanitären Hilfe. Mit den sonstigen bewährten Ins trumenten der Außenpolitik, die sich im Einzelplan 05 niederschla- Nicht immer können wir humanitäre Hilfe nur dann gen, bin ich zufrieden. Anders als die Fraktion der geben, wenn woanders etwas falsch gelaufen ist und Sozialdemokraten wird deshalb die CDU/CSU-Frak- dann der deutsche Staat eingreifen soll. Wir müssen tion zustimmen. uns auch darüber unterhalten, was wir tun können, Zum Schluß noch folgende Bemerkung mit einer damit es nicht zu solchen Problemen kommt. entsprechenden Bitte an denjenigen im Auswärtigen Zurückkommend zu den deutsch-türkischen Bezie- Amt, der dafür zuständig ist. Mir wurde heute eine hungen bitte ich die Bundesregierung, das Verspre- Mitteilung über etwas zugespielt, bei dem wir als chen von der Verlagerung der engen Zusammenar- deutscher Bundestag mit dem Verfahren nicht einver- beit von militärischen auf wirtschaftliche Maßnah- standen sein können. wir haben bekanntermaßen im men, auf Bildungs-, Wissenschafts- und Technologie- Etat des Auswärtigen Amtes im Zusammenhang mit zusammenarbeit ehestmöglich einzulösen bzw. das dem Haus der Kulturen in Berlin eine Sperre ausge- fortzusetzen, was sowieso schon vorhanden ist. In der sprochen, damit man sich zwischen dem Betreiber beruflichen Bildung gibt es riesige Chancen. Wir dort bzw. dem Aufsichtsrat oder wer immer es sein haben so viel an Gemeinsamkeiten. mag — dort ist jedenfalls das Auswärtige Amt vertre- ten — und dem Deutschen Bundestag einigt, um für Das können wir ausbauen. Wir können das Potential die Besuchergruppen entsprechende Lösungen zu der Türken in Deutschl and und das der Deutschen in finden. Wir wollen gemeinsam einen Nutzen davon der Türkei und Umgebung nutzen, um diesbezüglich haben. in Zukunft etwas Gutes einzulösen. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: So (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. ist es!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Mir ist heute gesagt worden, daß das nicht so Herr Bundesaußenminister, wir haben uns schon durchgeführt zu werden scheint, daß der Vertreter einmal persönlich über die Chance unterhalten, eine bzw. die Vertreterin des Auswärtigen Amtes dort 10528 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Klaus Rose zumindest nicht im Interesse des Deutschen Bundes- Insbesondere unsere derzeitige innenpolitische tages gehandelt hat. Ich bitte darum, dies aufzugrei- Situation sollte uns Anlaß dafür sein, durch intensive fen und sickt mit der Verwaltung des Deutschen politische und kulturelle Beziehungen, durch mannig- Bundestages abzustimmen. Die Angelegenheit sollte faltige zwischenmenschliche Kontakte und damit per- zu einem guten Abschluß gebracht werden, damit die sönliches Erleben im Ausland deutlich zu machen, daß Entsperrung der Mittel erfolgen kann. Das liegt in die große Mehrheit der Deutschen nicht dem Bild des unser aller Interesse. ausländerfeindlichen und ausländermordenden Un- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) menschen entspricht, das die Medien an Beispielen von schärfstens zu verurteilenden und rigoros zu Insgesamt können wir dem Haushalt zustimmen. bekämpfenden Radikalen zur Zeit in den Schlagzei- Wir wünschen dem Auswärtigen Amt als — das ist len skizzieren. bewußt so gesagt — CDU und CSU viel Erfolg. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Freimut Duve [SPD]: Diese Täter gibt es ja wirklich!) Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt — Ja, natürlich. Deshalb, liebe Kolleginnen und unserer Frau Kollegin Dr. Sigrid Hoth das Wort. Kollegen, sollte man es genauso vermeiden, über d i e Rumänen, die Türken, die Kurden oder die Auslän- der pauschal zu reden. Dr. Sigrid Hoth (F.D.P.): Sehr verehrter Herr Präsi- dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Haushalts- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU beratungen dieses Jahres wurden noch wesentlich sowie bei Abgeordneten der SPD) stärker als im Vorjahr unter dem Gesichtspunkt In diesem Zusammenhang muß man auch die 1995 geführt, die Konsolidierungserfordernisse der öffentli- auslaufende NATO-Verteidigungshilfe für die Türkei chen Haushalte mit den Ausgabenerfordernissen und sehr differenziert betrachten. -wünschen in Einklang zu bringen. Dies erforderte zwingend Umschichtungen und Einsparungen in Ich begrüße es des weiteren sehr, daß man im allen Bereichen. So mußte auch der Etat des Auswär- Auswärtigen Amt bereits jetzt daran arbeitet, die tigen Amtes saldiert um über 19 Millionen DM gekürzt Türkei danach in anderen Bereichen — möglicher- werden; er beträgt nunmehr rund 3,6 Milliarden weise mit der Förderung einer deutsch-türkischen DM. Universität — zu unterstützen. Diese Kürzung stellt das Auswärtige Amt natürlich Die bereits erwähnten notwendigen Umstrukturie- vor erhebliche Probleme, da sich z. B. allein aus den rungen, Umschichtungen und Kürzungen bedeuten Aufgaben in Ost- und Mitteleuropa sowie in den jedoch ebenfalls nicht, daß wir uns irgendwo aus GUS-Staaten ein steigender Finanzbedarf ergibt. Des- unserer internationalen Verantwortung stehlen wol- halb ist es auch außerordentlich zu begrüßen, daß das len. Auch unsere humanitären Hilfeleistungen bele- Auswärtige Amt bereits während dieser Haushaltsbe- gen dies. ratungen Vorschläge entwickelt hat, die es entspre- Unser Hauptaugenmerk gilt dabei nach wie vor den chend den neuen Aufgabenschwerpunkten durch Opfern des Konflikts in Ex-Jugoslawien. Das Finanz- Umstrukturierungen und Einsparungen ermöglichen, volumen beträgt seit August 1991 47,6 Millionen DM mehr personelle und materielle Ressourcen in den aus dem Haushalt des Auswärtigen Amtes. Der Schwerpunktgebieten einzusetzen. Schwerpunkt unserer Hilfe liegt dabei in der Versor- Ich erwarte jedoch, daß auch die Organisationen, gung mit Lebensmitteln und in der medizinischen Institute und Stiftungen, die im Auftrag des Auswär- Betreuung. Für den Bau von Flüchtlingsunterkünften tigen Amtes die Auslandskulturarbeit für die Bundes- wurden im Jahr 1992 50 Millionen DM bereitgestellt. republik Deutschland durchführen, ähnliche Um- Berücksichtigt man die Sachleistungen des Bundes- strukturierungskonzepte vorlegen, die dann in den ministeriums der Verteidigung, die Kosten der Luft- Etat für 1994 eingearbeitet werden können. brücke und den deutschen Anteil an der EG-Hilfe, so Dies bedeutet jedoch nicht, daß wir der Pflege stellte die Bundesrepublik Deutschland bisher über kultureller Beziehungen zum Ausland verminderte 276 Millionen DM bereit. Bedeutung beimessen. Die Bereitstellung von über (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Wohl 1 Milliarde DM für diesen Zweck dokumentiert das wahr!) Gegenteil. Trotz des Prinzips, vorrangig humanitäre Hilfe vor Die veranschlagten Gelder sind z. B. für die Ver- Ort zu leisten, sollen 1 000 Flüchtlinge aus bosnischen gabe von Stipendien und Beihilfen für Studenten, Lagern nach Deutschland geholt werden. Insgesamt Wissenschaftler und Praktikanten aus dem Ausland hat die Bundesrepublik Deutschland bereits über vorgesehen; sie sollen zur Pflege der Beziehungen 250 000 Flüchtlinge aus Jugoslawien aufgenommen. zwischen deutschen und ausländischen Wissenschaft- lern und Institutionen dienen sowie kulturelle Einrich- 1993 sind für die humanitäre Hilfe 80 Millionen DM tungen, Programme und Ausstellungen im Ausland etatisiert. Der Beitrag für die Kosten der EG-Friedens- unterstützen. Allein das für 1993 neu aufgelegte mission in Restjugoslawien ist mit 2,4 Millionen DM Sonderprogramm zur Förderung der deutschen Spra- veranschlagt. Für die UNICEF sind 20 Millionen DM che in Mittel- und Osteueropa sowie in der GUS — um vorgesehen. Der Beitrag zum Hilfsfonds des Hohen nur eine herausragende Position zu nennen — umfaßt Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen soll 45 Millionen DM. 9 Millionen DM betragen. Soweit einige Zahlen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10529

Dr. Sigrid Hoth Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, alle diese ihm erwartet man greifbare Ergebnisse aus der ver- Maßnahmen helfen nur, die Folgen von bestimmten sprochenen Brückenfunktion für Osteuropa. Von ihm Prozessen zu lindern, ohne deren Ursachen zu besei- erwartet man den zugesagten Neuansatz einer gleich- tigen. Deshalb ist es auch notwendig, daß wir schnell- berechtigten Entwicklungspartnerschaft mit den Län- stens über unsere künftige Rolle im Rahmen der UNO dern der Dritten Welt und einen größeren Beitrag zur und im Zusammenhang damit auch über die zukünf- Lösung der globalen Probleme. tigen Aufgaben der Bundeswehr beraten. Die Außenpolitik der Bundesrepublik hat diese Wer die Leistungen des Auswärtigen Amtes allein Erwartungen bisher nicht erfüllt und die gebotenen auf die im Einzelplan ausgewiesenen Mittel reduzie- Chancen kaum genutzt. An dieser Einschätzung ren will, wird jedoch den bevorstehenden Aufgaben ändert auch die Tatsache nichts, daß wir uns in einer nicht gerecht. In der Zentrale in Bonn, gerade aber schwierigen Übergangsphase befinden, in der sich auch vor Ort ist der auswärtige Dienst weit überpro- dieses Deutschl and, der europäische Kontinent und portional in die Bewältigung der Folgen des Zerfalls in die Welt verändern und nicht zur Ruhe gekommen Mittel- und Osteuropa involviert. Vor allem die huma- sind. nitäre Hilfe stellt die beteiligten Menschen vor Her- ausforderungen, die bis an die Grenze der Belastbar- Außenpolitik beginnt im Inneren eines jeden Lan- keit gehen. des. Wer Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhaß bewußt oder unbewußt schürt oder dafür Raum läßt, Bei Stellen- und Mittelkürzungen müssen diese verstößt gegen elementare Grundsätze für das Zusam- Gesichtspunkte in angemessener Form berücksichtigt menleben der Völker. Die bitteren Früchte dieser werden. Ich begrüße in diesem Zusammenhang auch Politik ernten wir jetzt im In- und im Ausland. Scham ausdrücklich die Entscheidung, die Stelle eines genügt hier nicht. Empörung und Zorn über barbari- Beauftragten der Bundesregierung für humanitäre sche Mordbrennerei oder Mord durch Rechtsradikale Hilfe einzurichten. auf der offenen Straße müssen endlich zu einer (Beifall bei der F.D.P.) Beendigung dieser verhängnisvollen Politik führen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich stellen Im dritten Jahr der deutschen Einheit versucht die wir uns auch gänzlich neuen Aufgaben. So wurden Bundesregierung, den Anschein zu erwecken, die während der Haushaltsberatungen 10 Millionen DM zentrale Frage heutiger und künftiger Außenpolitik für die Vernichtung ehemals sowjetischer Massen- der Bundesrepublik sei allein, wann, unter welchen eingestellt. Die Atomwaffen der vernichtungswaffen Bedingungen, wohin und in welcher Formierung ehemaligen Sowjetunion sowie die biologischen und deutsche Truppen im Ausland eingesetzt werden chemischen Kampfstoffe stellen auch nach dem Ende sollen. des Kalten Krieges eine Gefährdung für die ganze Welt dar. Es müssen künftig allein 33 000 Atom- Woher nimmt die Bundesregierung eigentlich das sprengköpfe vernichtet werden. Deutschland wird Recht, so ist doch zu fragen, anderswo mit militäri- zunächst mit Transport-, Schutz- und Sicherheitsma- schen Mitteln die Menschenrechte durchsetzen zu terial sowie mit Meßgeräten helfen. Ferner -können wollen, während sie im eigenen Land ihre Durchset- russische Experten aus- und fortgebildet werden. zung für Ausländer nicht garantieren kann? Wen Diese Aufgabe entspricht unserem ureigenen Sicher- wundert da, daß der Verteidigungsminister sogar heitsinteresse. Wir sollten alles daransetzen, den erklärt, er werde deutsche Einsätze notfalls auch mit Abrüstungsprozeß schnell und wirksam voranzutrei- einem Entsendegesetz, also unter Umgehung des ben. Grundgesetzes, durchführen? Das läßt doch nur den (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne einen Schluß zu: In einer Zeit, da sich grundlegende ten der CDU/CSU) Veränderungen in Europa und in der Welt vollziehen, soll deutsche Machtpolitik aufleben, während ein Der Einzelplan des Auswärtigen Amtes zeigt jedem, friedliches, für alle berechenbares, solidarisches daß wir Verantwortung für die Entwicklungen und Zusammenleben der Völker gefordert ist. Verhältnisse innerhalb und außerhalb unserer Gren- zen übernehmen müssen und wollen. In entscheidenden Bereichen der Außen- und Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Sicherheitspolitik bestehen heute akute Defizite. Die westeuropäische Integrationspolitik schlittert mit dem (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Maastrichter Vertrag wohl offensichtlich in eine Sackgasse. Keine der etablierten Parteien traut sich Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat jetzt heute, aus den Defiziten dieses Vertrags, über die man der Kollege Dr. Hans Modrow. im übrigen Europa sehr offen spricht, was auch bei Referenden sichtbar wird, die notwendigen Folgerun- gen zu ziehen. Die Bundesregierung h andelt hier (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Dr. Hans Modrow mehr nach dem Grundsatz „Augen zu und durch" . Es Meine Damen und Herren! Die politischen Verände- tut mir leid, sagen zu müssen, daß die sozialdemokra- rungen in Europa haben große Hoffnungen der Men- tische Opposition hier wenig entschieden und maß- schen erweckt und waren mit realen Chancen verbun- geblich bremst. den. Sich hier richtig zu entscheiden, darin lag die große Herausforderung und Verantwortung für die Zu den Defiziten gehört, daß bis heute ein Konzept Außenpolitik des nunmehr größeren Deutschlands. für die notwendige gesamteuropäische Integration Von ihm erwartet man einen entsprechenden Beitrag als Antwort auf das Ende des Kalten Krieges und als zur internationalen Entspannung, friedliche Konflikt- Angebot für den Beitrag zur Lösung der osteuropäi- lösung, Rüstungsreduzierung und Abrüstung. Von schen Probleme fehlt. Hier sei daran erinnert, daß uns 10530 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Hans Modrow Professor Geremek im Auswärtigen Ausschuß darauf Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr aufmerksam machte, daß man sehr froh über den Präsident! Meine Damen und Herren! Vaclav Havel Vertrag sei, der unsere Staaten miteinander verbin- nannte in einem Inte rview vor wenigen Tagen die det, daß aber mehr auf dem Papier stehe, als an Eindämmung der nationalistischen Entwicklungen Realitäten geschaffen werde. im ehemaligen sowjetischen Machtbereich eine Auf- Der KSZE-Elan der Bundesregierung, auf den Gip- gabe aller Demokraten dieser Regionen, zugleich feltreffen in Paris und Helsinki noch zu Protokoll aber auch eine Herausforderung für den Westen: gegeben, scheint versiegt, -die angebliche Reformbe- Der Westen ist sich der Dimension dieses Pro- reitschaft der NATO im Lichte des Siegerglanzes blems offenbar noch nicht vollends bewußt .. . zerronnen. So richtig es ist, der ehemaligen Sowjet- Wenn der Westen nicht eingreift und uns nicht union bei der Vernichtung von atomarer Rüstung politisch wirksam hilft, diese Gefahren zu bewäl- Beistand zu geben, so notwendig wäre es, in der tigen, wird es ihm einmal ähnlich ergehen wie NATO selber entschiedener zur atomaren Abrüstung heute Ost- und Südosteuropa .. . überzugehen. Da bereitet sich der Westen, die NATO, auf einen Die Europapolitik der Bundesregierung bleibt globalen Zusammenstoß mit einem riesengroßen westeuropäisch; für die krisengeschüttelte andere Feind vor und steht dann völlig ratlos vor einem Hälfte Europas hat man hier mehr den Platz eines Netz lokaler Konflikte. europäischen Lateinamerikas. Die bisherige Nord- Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, Provinzialismus im Süd-Version der Arbeitsteilung, der ökonomischen Westen spiegeln sich auch im Bundeshaushalt wider: und der politischen Abhängigkeit soll lediglich um Unzureichend sind die Mittel nicht nur für die ostdeut- eine modifizierte europäische West-Ost-Variante un- schen Bundesländer, sondern auch für die neuen ter dominierendem deutschen Einfluß ergänzt wer- Staaten im Osten. Erst wenn es brennt, wenn der den. Es existiert weiterhin keine Abrüstungs- und Völkermord bereits im Gange ist, findet man noch Konversionskonzeption für die eigene Rüstungsin- einige Millionen zum Bau von Notunterkünften für dustrie und Armee, um endlich mit der Erarbeitung Flüchtlinge. der Friedensdividende zu beginnen. Vernachlässigt wird der Beitrag der Bundesrepu- Die humanitäre Hilfe der Bundesrepublik will ich blik zur Lösung der existentiellen Bedrohung vieler nicht geringschätzen. Allein: Sie reicht nicht. Die vom Entwicklungsländer. Auch im globalen Bereich ist Unterausschuß Humanitäre Hilfe und Menschen- kein der Verantwortung der Bundesrepublik als füh- rechte geforderte Aufstockung wurde trotz sinnvoller Deckungsvorschläge vom Haushaltsausschuß mehr- render Wirtschaftsmacht entsprechendes Konzept heitlich abgelehnt, obwohl schon jetzt jeder weiß, daß sichtbar. die Mittel nicht genügen werden. Das grundsätzli- (V o r s i t z: Vizepräsident Hans Klein) chere Problem ist aber, daß oftmals die Folgen von Es ist schon geradezu peinlich, wenn bis in die Versäumnissen der Politik durch humanitäre Hilfe Reihen der Bundesregierung hinein stets von den gemildert werden müssen. „starken und tüchtigen Deutschen" die Rede ist, die Havel sagte in dem erwähnten Interview: infolgedessen bei ihren Nachbarn „unbeliebt" sein müßten, eine Erscheinung, die angeblich nur entsteht, Schon im eigenen Interesse muß Westeuropa die weil man dort die edlen Tugenden der Deutschen Integration suchen und damit dem Osten ein nicht zu schätzen weiß. Ein solches Denken hat Beispiel und Ansporn beim Aufbau demokrati- Deutschland mehr als einmal in die Irre geführt. Die scher Systeme sein. Symptome einer solchen Krankheit sollten nicht wei- Im Klartext heißt das für uns: Trotz der Unverzicht- ter wirken. Statt sich den Herausforderungen in der barkeit humanitärer Leistungen geht es um sie doch Welt wirklich zu stellen, wird ein Kurs verfolgt, der erst in zweiter Linie. Ein viel prinzipielleres Herange- nicht Gefahren begegnet. Er läßt die Lehren der hen ist erforderlich, aus eigenem Interesse der Bun- Vergangenheit außerhalb der Betrachtung. Hier sind desrepublik. Eine gewissermaßen vorbeugende Un- Zukunftsforderung und Überlegung gefragt. terstützung kann dazu beitragen, die Transforma- Da die Außenpolitik der Bundesregierung immer tionsprozesse in Osteuropa zu beschleunigen und zu mehr auf eine militärische Komponente setzt, ver- erleichtern, nationalistische Exzesse zu verhindern schwimmen die Grenzen zwischen beiden Haushal- und so einen Beitrag zur Bekämpfung der Ursachen zu ten. Eine friedensstiftende Außenpolitik könnte wirk- leisten, die zur massenhaften Flucht vor unerträgli- sam zur Verringerung der militärischen Ausgaben chen Lebensumständen führen. beitragen. Der von uns vorgelegte Antrag zielt auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Senkung dieser Ausaben. Während auf Sozialab- sowie bei Abgeordneten der SPD) bau und Senkung der Subventionen orientiert wird, Wenn die zu erwartenden großen Fluchtbewegungen sollen die hohen Ausgaben besonders für Außen- und noch gebremst werden sollen, muß schnell ein umfas- Sicherheitspolitik unangetastet bleiben. sendes Politik- und Wirtschaftskonzept für Osteuropa Einem solchen Haushalt können wir nicht zustim- umgesetzt werden: Dringend notwendig sind Unter- men. stützung bei der Einführung der Marktwirtschaft, (Beifall bei der PDS/Linke Liste) schnelle Einbeziehung in die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine Demokratiehilfe, die diesen Namen verdient. Sinngemäß gilt das natür- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- lich auch für die Staaten der sogenannten Dritten ordnete Gerd Poppe. Welt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10531

Gerd Poppe All das bleibt im Bundeshaushalt 1993 weitgehend EG-Beiträge und bilaterale, direkte Hilfeleistungen unberücksichtigt. Der Vorwurf kann nur zum kleine- hinzuzurechnen sind. Durch eine bewußte Aufstok- ren Teil an die Haushälter gerichtet werden. Verant- kung der Regelbeiträge könnte ein Nachweis für das wortlich ist in erster Linie die Bundesregierung, die Verständnis einer neuen Rolle des vereinten Deutsch- auch drei Jahre nach dem Umbruch immer noch kein land in der Welt erbracht werden, ungeachtet der der veränderten Situation angemessenes Außen- und Feststellung, daß sich die Bundesrepublik für Refor- sicherheitspolitisches Gesamtkonzept vorgelegt hat. men und eine größere Effektivität der UN einsetzen Der Haushaltsentwurf kann aber nur so gut werden, sollte. wie es die politischen Vorgaben sind, die ihm Gespart werden soll nun nach dem Willen der zugrunde liegen. Diese aber sind — euphemistisch Bundesregierung auch beim Botschaftspersonal. umschrieben — nach wie vor äußerst diffus, wenn es Staatssekretär Kastrup nannte das neulich „die Neu- z. B. um den Stellenwert der Menschenrechte, der ordnung der Prioritäten der Präsenz in der Welt". Ich Demokratieentwicklung und der Eindämmung des warne dringend davor, derartige Einsparungsmaß- Nationalismus für die bundesdeutsche Außenpolitik nahmen an der falschen Stelle vorzunehmen, z. B. geht. durch zahlreiche Doppel- und Mehrfachakkreditie- In der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung rungen in den sehr verschiedenen Staaten der ehema- ist der Widerspruch zwischen beschworenem An- ligen Sowjetunion. Gerade der Umstand ihrer unan- spruch und der banalen Wirklichkeit besonders kraß. gemessenen Vereinheitlichung hat die Menschen Exemplarisch dazu ist das Verhältnis zur Volksrepu- dort gegeneinander aufgebracht. blik China zu nennen. Bundesregierung und Koali- Ich will nicht verschweigen, daß es im Einzelplan 05 tionsmehrheit haben über die letzten Jahre hinweg auch Lichtblicke gibt: zum einen die Ausbildungshilfe die chinesische Realität permanenter massenhafter für osteuropäische Länder, zum anderen die Abrü- Menschenrechtsverletzung relativiert und schöngere- stungshilfe, die vor allem der Beseitigung der chemi- det, ohne daß sich in China irgend etwas positiv schen Waffen dienen soll, was wir ausdrücklich begrü- verändert hätte. Weder in der Tibetfrage noch in der ßen. Frage der Demokratieentwicklung haben sich die chinesischen Machthaber auch nur einen Millimeter Dennoch ist dieser Haushalt von einer ausreichen- bewegt. Trotzdem sprach der deutsche Außenminister den Berücksichtigung und konzeptionellen Verarbei- vor wenigen Wochen in Peking davon, daß sich das tung der komplizierten und auch für uns bedrohlichen Verhältnis zu China „normalisiert" habe. Lage in Ost- und Südosteuropa, von der Politik gegen- über menschenverachtenden Diktaturen wie China Ein Beispiel für die Inkonsequenz und Wider- ganz zu schweigen, weit entfernt. sprüchlichkeit im Einzelplan 05: Die unzeitgemäße NATO-Verteidigungshilfe soll zwar in einigen Jahren BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnen den Haushalts- auslaufen. Trotzdem wird es im nächsten Jahr noch entwurf der Bundesregierung ab, vor allem deshalb, neue Verträge geben, auch mit der Türkei, wo ohne weil wir besorgt sind, daß dieser Haushalt mit dazu Rücksicht auf immer größere Opfer unter der Zivilbe- führen kann, daß es uns, wie Havel sagte, eines Tages völkerung in den kurdischen Regionen immer noch so geht wie augenblicklich den Menschen in Ost- und deutsche Waffen im Bürgerkrieg gegen die PKK Südosteuropa. Statt dessen sollten wir dazu beitragen, verwendet werden. Was für eine Türkei soll hier als daß es ihnen bald so geht wie uns heute. Eckpfeiler der NATO unterstützt werden? Warum Ich danke für die Aufmerksamkeit. werden die Mittel für die Türkei nicht wenigstens an nachweisbare Erfolge der türkischen Regierung im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Kampf gegen die Folter, an echte Erfolge der dringend bei der SPD sowie des Abg. Dr. Hans Modrow erforderlichen Demokratisierung der türkischen Ge- [PDS/Linke Liste]) sellschaft geknüpft? Unklar ist auch, was aus der Ausstattungshilfe wird. Zwar soll sie zukünftig vor allem zur Demokratiehilfe Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem verwendet werden. Aber sowohl im Grundsatz als Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel. auch im Detail hat die Bundesregierung bisher offen- gelassen, worin diese eigentlich bestehen soll. So können wir nur von Glück reden, daß uns im Falle der Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Show-Veranstaltung des peruanischen Diktators vom Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie vorigen Wochenende die Peinlichkeit erspart blieb, mir erlauben, beginne ich mit zwei Bemerkungen. das Geld für Wahlurnen oder die Reisen von Wahlbe- obachtern ausgegeben zu haben. Diesem Glück Erstens. Ich danke dem Deutschen Bundestag, dem wurde durch eine sehr gelungene Anhörung des Haushaltsausschuß und insbesondere denjenigen, die Unterausschusses Menschenrechte ein wenig nach- sich in besonderer Weise für die Haushaltsbelange geholfen. des auswärtigen Dienstes eingesetzt haben, sehr herzlich für ihr Engagement und ihre Unterstüt- ( V o r s i t z: Vizepräsident Hans Klein) zung. Andererseits wird an der falschen Stelle gespart. Zweitens. Das Haus der Kulturen in der Welt, Herr Zur auswärtigen Kulturpolitik hat der Kollege Walte- Abgeordneter Rose — ich habe mich gerade sachkun- mathe schon einiges gesagt. Aber auch die für die dig machen lassen — ist kein Problem des Auswärti- Unterorganisationen der UN geleisteten Beiträge gen Amts. Wir sind noch nicht Gesellschafter. Wenn sind realtiv gering, auch wenn gewichtige Anteile der wir Gesellschafter sind — was wohl im Augenblick 10532 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel läuft —, ist es absolut selbstverständlich, daß wir das West-Konfrontation. Die Welt ist im Grunde sicherer Anliegen, das Sie haben, unterstützen. geworden. Gewaltige Kräfte, die durch militärische Konfrontation und Stellvertreterkriege gebunden (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne waren, wurden für neue Aufgaben frei. Vor allem ten der CDU/CSU) aber: Die Freiheit hat über den Zwang, das Recht über Ich würde aus naheliegenden Gründen furchtbar das Unrecht und die Marktwirtschaft über die Plan- gern speziell etwas zur Situation in der Türkei sagen, wirtschaft gesiegt. auch zu alldem, was gesagt worden ist. Man sollte das aber vielleicht aus gegebenem Anlaß auf später ver- Gerade wir Deutschen dürfen uns jetzt von dem schieben. Erschrecken über die neue Gewalt, von den Enttäu- schungen nicht niederdrücken lassen. Das vereinte Meine Damen und Herren, der schreckliche Brand- Deutschland ist doch gerade ein Ergebnis von Hoff- anschlag in Mölln, der Mord an drei unschuldigen nung und Zuversicht, und wir als Deutsche stehen Menschen bedroht alle Werte, zu denen wir uns deshalb ganz besonders in der Verantwortung, der bekennen und die unsere rechtsstaatliche Demokratie Hoffnung auf mehr Sicherheit, Gerechtigkeit und bestimmen. Diese Tat ist aber auch ein weiterer Wohlstand weltweit zum Durchbruch zu verhelfen. Anschlag auf das Ansehen Deutschlands in der Welt Das schulden gerade wir auch auf Grund unserer und damit ein Anschlag auf die Gestaltungsmöglich- Vergangenheit den Menschen, die noch nicht von keit unserer den Menschenrechten und dem Frieden Unrecht und Unterdrückung befreit sind. verpflichteten Außenpolitik. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der sowie bei Abgeordneten der SPD) SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir würden diese Hoffnungen sehr enttäuschen, Die Welt ist bestürzt. Die Zweifel an uns werden wenn es uns nicht gelänge, eine dauerhafte und immer größer. gerechte Friedensordnung für Europa und die Welt Ich war gerade in Israel und habe dort ein paar zu schaffen. Dies ist weniger denn je eine Frage schwierige Stunden erlebt. Die Fragen an mich waren militärischer Gewichte. Die neuen Gefahren sind voller Sorge und Angst. Ich füge hinzu: Beim Staats- nicht mehr primär militärischer Art. Es sind Massen- besuch in Mexiko — von dem ich in Begleitung des wanderungsbewegungen als Folge politischer und Herrn Bundespräsidenten vor drei Stunden zurückge- wirtschaftlicher Verzweiflung, der Schleichhandel mit kommen bin — war es sowohl für den Herrn Bundes- nuklearen und chemischen Massenvernichtungsmit- präsidenten wie auch für mich nicht anders: Es gab teln, die Risiken aus einer unzureichend gesicherten einen unwahrscheinlichen Erklärungsdruck und eine Kernenergieproduktion, Umweltprobleme und die nicht ganz einfache Erklärungsnot. Ja, es ist erheblich Bedrohung durch Drogen, organisiertes Verbrechen schwieriger geworden, die Entwicklung in Deutsch- und Terrorismus. land draußen zu erklären. - Die Mißachtung von Menschen, von Minderheiten- Ich habe dem türkischen Außenminister, der im rechten und des Konfliktpotentials wirtschaftlicher übrigen, wie Sie wissen, Kurde ist und zu dem ich und sozialer Disparitäten hat Auswirkungen, die eben persönlich ein sehr gutes Verhältnis habe, versichert, auch uns in Deutschland treffen. Das wiederverei- daß die 1,6 Millionen Türken — der größte Ausländer- nigte, souveräne Deutschland muß eine engagierte, anteil in der Bundesrepublik — in Deutschland geach- kraftvolle Außenpolitik betreiben, die seiner erhöhten tete Mitbürger sind und natürlich den vollen Schutz Verantwortung gerecht wird. Gerade wir müssen für unserer Gesetze genießen. Diese Garantieerklärung, mehr Integration, Solidarität, Partnerschaftlichkeit die für einen freiheitlichen Rechtsstaat eine wahre eintreten, weil wir eben mehr als andere erfahren Selbstverständlichkeit ist, müssen wir jetzt uneinge- haben, daß damit unseren wohlverstandenen Interes- schränkt gegenüber allen Ausländern einlösen, die sen am besten gedient ist. Wir dürfen uns selbst nicht mit uns in diesem Lande leben. überfordern —ich habe es schon einmal im Deutschen (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Bundestag gesagt —, noch dürfen wir für unsere SPD) Partner unberechenbare Sonderwege gehen. Die Demonstrationen in Berlin, Bonn und anderswo Verantwortungspolitik und richtig verstandene haben gezeigt, daß die überwiegende Mehrheit der Interessenpolitik sind im übrigen keine Gegensätze. Deutschen empört, ja, beschämt ist. Wir dürfen ein- Unsere Außenpolitik muß weiterhin verläßlich, reali- fach nicht zulassen — das ist heute schon mehrfach stisch, prinzipienfest sein, muß gleichermaßen euro- gesagt worden, auch ich als Außenminister sage es päischen und deutschen Interessen gerecht werden. natürlich, und zwar nach draußen gerichtet —, daß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU rechtsradikale Gewalttäter das Vertrauenskapital sowie bei Abgeordneten der SPD) zerschlagen, das wir in über 40 Jahren freiheitlicher Demokratie im Innern und nach außen aufgebaut Die fünf tragenden Elemente sind: haben. Erstens die europäische Integration. Deutschland Meine Damen und Herren, die Welt steht zwischen kann seinen Platz in der Welt nur als Mitglied der Hoffnung und Ernüchterung. Enttäuschung und Europäischen Gemeinschaft finden. Gerade wir wis- Ernüchterung rühren aus dem erneuten Aufflammen sen nach den bitteren Erfahrungen unserer Ge- der Gewalt; die schwärendste Wunde ist zweifellos schichte in diesem Jahrhundert: Eine andere Option der Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Die Hoffnung steht uns im Grunde gar nicht offen. Der Jahreswech- andererseits schöpfen wir aus dem Ende der Ost sel wird die Geburtsstunde des europäischen Binnen- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10533

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel markts und des größeren europäischen Wirtschafts- Lassen Sie mich hinzufügen: Die Erfahrungen der raumes sein. Ich vertraue darauf, daß sich in einigen GATT-Verhandlungen haben deutlich gemacht, wie Tagen dieser Deutsche Bundestag für die Ratifizie- notwendig es ist, auch den euroatlantischen Dialog rung des Maastricht-Vertrages aussprechen wird. Bis auf eine breitere Basis zu stellen. Die NATO kann zum Europäischen Rat von Edinburgh in zwei Wochen angesichts ihrer sich ändernden Rolle nicht der allei- werden dann insgesamt zehn Mitgliedsländer den nige Stützpfeiler der transatlantischen Partnerschaft gemeinsam vereinbarten Zeitplan erfüllt haben. bleiben. Die Einigung Europas wird den Atlantik nur In Edinburgh werden wir über den Finanzrahmen, dann nicht breiter machen, wenn die bisherigen die Weichen für die Aufnahme der EFTA-Staaten, den transatlantischen Bindungen durch ein Geflecht wei- Sitz und die Fragen des Europäischen Parlaments terer politischer und wirtschaftlicher Beziehungen sprechen. Kleinmütig wird allerdings dieses Edin- ergänzt werden. burgh nicht angegangen werden dürfen. Unsere Part- Drittens. Wir müssen vor allem zur Solidarität bereit ner, auch die Briten und die Dänen, sehen ihre sein. Das ist nicht nur Altruismus; es ist auch wohlver- Zukunft in Europa. Allein wird kein europäisches standenes Eigeninteresse, wenn wir zusammen mit Land die auf alle zukommenden wirtschaftlichen und unseren Partnern versuchen, die jungen Demokratien ökologischen Probleme mehr bewältigen können. In von Prag bis Moskau auf ihrem schwierigen Weg zur der Phase des Umbruchs und des Übergangs nach Marktwirtschaft und zum Rechtsstaat zu unterstützen, dem Ende des Ost-West-Konflikts ist das Europa der wenn wir zur besseren Sicherung der Kernkraftwerke EG der Kern, um den herum sich der Aufbau einer im Osten beitragen und den Menschen in der Dritten neuen, stabilen Ordnung vollzieht. Welt zu mehr Lebenschancen verhelfen wollen. Mit Österreich, Finnland, Schweden und der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Schweiz, wahrscheinlich auch mit Norwegen werden sowie bei Abgeordneten der SPD) wir die Beitrittsverhandlungen im nächsten Jahr beginnen. Die mittel- und osteuropäischen Staaten In der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges gilt: — es ist eben erwähnt worden — klopfen an unsere Mehr Sicherheit und Stabilität sind nur durch mehr Tür und drängen; für die Festigung ihrer jungen Solidarität mit den Problemen der anderen zu errei- Demokratie ist Europa eine ganz entscheidende Per- chen, weil eben Menschen, die in Demokratie und spektive. Wohlstand leben, keine Kriege gegeneinander füh- ren. Sie verlassen auch nicht ihre Heimat, um ein (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ungewisses Emigrantenschicksal auf sich zu nehmen. Ich möchte in diesem Zusammenhang nochmals Dies gilt für die Menschen in den Ländern der Dritten darauf hinweisen: Einer Vertragsänderung bedarf es Welt, aber auch für die Menschen in den Reformstaa- nach unserer Meinung nicht, um aufzufangen, was an ten des Ostens. Unzufriedenheiten und berechtigten Sorgen vorge- Rußland steht Anfang Dezember mit dem Kongreß bracht worden ist. der Volksdeputierten vor einer möglicherweise ent- Zweitens die transatlantische Partnerschaft. Die scheidenden Kursbestimmung. Während meines gewaltigen Herausforderungen der 90er Jahre sind Moskaubesuchs habe ich unsere deutsche Bereit- überhaupt nur dann zu bewältigen, wenn die europäi- schaft unterstrichen, mit Rußland dauerhaft, eng und schen und nordamerikanischen Demokratien solida- umfassend zusammenzuarbeiten. Ich habe jedoch risch zusammenstehen und ihre geistigen und wirt- auch klargemacht, daß wir die Grenze unserer finan- schaftlichen Potentiale bündeln. Der nächste Präsi- ziellen Leistungsfähigkeit erreicht haben. Die einma- dent der Vereinigten Staaten, Bill Clinton, hat bekräf- lige Aufgabe, dazu beizutragen, daß dieses Land und tigt, daß die Kontinuität der amerikanischen Außen- seine Nachbarn nicht in wirtschaftlichem Chaos ver- politik gewahrt bleiben wird. Amerika wird Europa sinken, muß alle Industrieländer — auch die USA und und der Welt nicht den Rücken kehren. Beide teilen Japan — angehen. die Überzeugung, daß Demokratie und freie Markt- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der wirtschaft zusammengehören. Das bedeutet: Eine SPD) demokratische und gerechte Weltordnung ist ohne ein freies Weltwirtschaftssystem nicht vorstellbar. Solidarität, meine Damen und Herren, gilt es in diesen Tagen besonders auch mit den leidenden Die Vergangenheit hat gezeigt, welche Sprengkraft Menschen im ehemaligen Jugoslawien zu zeigen. Der Wirtschaftskonflikte auch zwischen Demokratien Konflikt dort ist und bleibt eine der Hauptsorgen der haben können, ebenso natürlich Nationalismus und deutschen Außenpolitik, vor allem aber auch der Protektionismus. Ein erfolgreicher Ausgang der Völkergemeinschaft. Natürlich bedrückt uns alle, zu GATT-Uruguay-Runde ist deshalb für die ganze Welt, sehen, wie gering die Möglichkeiten sind, gerade in gerade auch für die Entwicklungsländer und die diesem geschundenen Land Frieden zu schaffen. Mit Reformstaaten im Osten, von außerordentlicher unserer humanitären Hilfe für die Opfer des Konflikts Bedeutung. Deshalb sage ich klar: Es ist erforderlich, im ehemaligen Jugoslawien haben wir als Bundesre- daß der jetzt erreichte Kompromiß zwischen den USA publik Deutschland einen solidarischen Beitrag und der Europäischen Gemeinschaft rechtzeitig erbracht. Inzwischen hat dort der Winter eingesetzt akzeptiert und die Uruguay-Runde zu einem und bedroht die Menschen noch stärker mit Not und Abschluß geführt wird. Das ist unser fester Wunsch Elend. Wir werden uns diesem Leid nicht verschließen und Wille. und unsere Hilfe fortsetzen. Wir legen jedoch auch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Wert darauf, daß die europäischen Partnerländer sowie bei Abgeordneten der SPD) — soweit nicht schon geschehen — ihre bisherige 10534 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Zurückhaltung aufgeben und ihre Hilfsmaßnahmen Militärische Gewalt allein bleibt letztlich ohnmäch- verstärken. tig, wenn sich ihre Ergebnisse nicht in Chancen der (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der politischen Konsolidierung und wirtschaftlich-soziale SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Entwicklungen umsetzen lassen. Es ist mir ein besonderes Anliegen, daß wir vor (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne allem vor dem Winter diese schrecklichen Lager leer ten der CDU/CSU) bekommen. Wir gehen von 6 000 Menschen aus, die wir aufnehmen müssen. Ich habe in der Europäischen Am Ende werden die Serben, auch die bosnischen g nach Europa antreten. Sie werden Gemeinschaft gedrückt, und ich bin stolz darauf, daß Serben, den Gan Hilfe zum Wiederaufbau suchen, und sie werden die wir — genauso wie die Amerikaner und die Spanier nach uns — bereit sind, 1 000 Menschen aufzuneh- Zusammenarbeit mit Europa dringendst benötigen, men. Wir müssen insgesamt 6 000 unterbringen. Wir um die Zukunft ihrer Kinder zu sichern. Dann ist unser fester Wille entscheidend, die Ergebnisse von Gewalt- werden es schaffen. Ich werde in dem Konklave am politik, Terror und ethnischen Säuberungen eben Freitag in Brüssel nochmals massivst darauf drängen, weil es ja nun wirklich nicht sein kann, daß wir in nicht anzuerkennen. Europa nicht fähig sein sollten, 6 000 Menschen aus (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU diesen Lagern aufzunehmen. sowie des Abg. Karsten D. Voigt [Frankfurt] (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der [SPD]) SPD) Solidarität, meine Damen und Herren, muß aber mehr sein als Aufnahme und Hilfe von Flüchtlingen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, Wir müssen die internationalen Instrumente der Frie- gestatten Sie eine Zwischenfrage? denssicherung besser als bisher in die Lage versetzen, auf der Grundlage des Völkerrechts und der Charta Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: der Vereinten Nationen regionale Konflikte einzu- Bitte. dämmen und zu beenden. Ich weiß, daß die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien viele in ihrem Vertrauen Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Bundesminister, gerade in bezug auf die Rolle der KSZE, der UN und glauben Sie nicht, daß wir hier tatsächlich eine histo- der EG enttäuscht haben, aber dies kann kein endgül- rische Chance hätten, uns die Freundschaft von Völ- tiges Argument dafür sein, sich von diesen Institutio- kern zu erwerben, in denen wir auch einmal unabhän- nen abzuwenden, sondern die Konsequenz muß sein, gig von der Europäischen Gemeinschaft über ein sie zu stärken. Kontingent hinausgehen, das man sich zwar leicht verteilt vorstellen könnte, aber weit mehr zu tun, als (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne wir im Augenblick tun? ten der CDU/CSU und der SPD) (Zurufe von der F.D.P.: Das tun wir doch!- — Unsere Solidarität darf nicht regional, sondern muß Ulrich Irmer [F.D.P.]: 250 000!) global verstanden werden. Das gilt natürlich insbe- sondere für unser Engagement in den Vereinten Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Nationen. Dabei spielt der Sicherheitsrat eine zentrale Ich darf dazu sagen, daß wir in der Bundesrepublik Rolle. Die Auffassung der Bundesregierung zu einem 235 000 Flüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien ständigen Sitz habe ich vor dem Deutschen Bundestag aufgenommen und damit eine Zahl erreicht haben, und auch vor den Vereinten Nationen vorgetragen. die weit über der Zahl derjenigen liegt, die alle Ich will das hier nicht wiederholen. anderen europäischen Länder zusammen aufgenom- men haben. Wir müssen natürlich auch durch die Änderung unserer Verfassung in die Lage versetzt werden, daß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU wir nicht nur alle Rechte, sondern auch alle Pflichten, sowie bei Abgeordneten der SPD) die uns aus den Vereinten Nationen erwachsen, Ich finde, man sollte bei einer solchen Gelegenheit im wahrnehmen können. Deutschen Bundestag auch einmal den Menschen in unserem Land danken, die sich in diesem Zusammen- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne hang ungeheuer hilfsbereit gezeigt haben. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der Dafür brauchen wir eine Grundgesetzänderung und SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) keine Sonderlösung. Wir begrüßen die vom Sicherheitsrat beschlossenen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne verschärften Überwachungen der Sanktionen gegen ten der SPD) Restjugoslawien und die Einschränkungen für den Transitverkehr durch Serbien und Montenegro. Wir Nach dem Parteitag der SPD sollten nun alle zusam- alle wissen: Auch ein schärferes Embargo wird keine men schnell versuchen, mit der Opposition in dieser schnellen Resultate bringen. Es ist in höchstem Maß Frage zu einer Einigung zu kommen. Ich rufe jeden frustrierend — „frustrierend" ist der richtige Ausdruck falls von diesem Pult aus nochmals dazu auf. dafür —, daß Terror und gewaltsamer Eroberung nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne schnell und entschieden ein Ende gesetzt werden ten der SPD) kann. Aber, ich werde nicht müde, allen Europäern immer wieder zu sagen: Das letzte Wort ist in diesem Viertens nenne ich Achtung und Durchsetzung der Zusammenhang noch nicht gesprochen. Menschenrechte. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10535

Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Präsident! nach der Verfassung, das wissen Sie, haben Sie Meine Damen und Herren! Der Kollege Waltemathe jederzeit Rederecht. Nach den fraktionsinternen Ver- hat bereits gesagt: Die SPD ist in zahlreichen Punkten einbarungen ist Ihre Redezeit ein Stück überschrit- mit der Amtsführung des Bundesaußenministers nicht ten. einverstanden. Deshalb wird sie dem Haushalt nicht zustimmen, sondern ihn ablehnen. Aber das ändert Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: nichts daran, daß es in wichtigen Fragen auch Über- 16 Minuten waren mir zugebilligt. Es gab auch eine einstimmung gibt. Zum Beispiel ist es wichtig, daß alle Zwischenfrage. Parteien, die hier im Bundestag vertreten sind, gemeinsam gegen Ausländerfeindlichkeit auftreten und auch gegen Rechtsradikalismus sind. Vizepräsident Hans Klein: Die ist abgezogen wor- den. (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Auch gegen Linksradikalismus!) Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: — Ich habe das gesagt, was ich gesagt habe, Herr Herr Präsident, ich werde mich selbstverständlich Rose. Alle Parteien sind hier gemeinsam gegen daran halten und komme zum Schluß. Aber Sie Rechtsradikalismus. erlauben mir noch zwei bis drei kurze Bemerkun- gen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Erstens: Menschenrechte. Ich möchte gern vor dem der F.D.P.) Deutschen Bundestag — nachdem ich das in verschie- Ob alle gemeinsam auch gegen Linksradikalismus denen anderen Gremien sagen konnte — nochmals sind, weiß ich nicht. Aber gegen Rechtsradikalismus sagen dürfen, daß ich unwahrscheinlich unglücklich sind alle gemeinsam. Diese Gemeinsamkeit gilt es über das Pressebild war, das nach meinem Chinabe- hier auch festzuhalten. Ich halte sie in dieser Stunde such entstanden ist. Sie werden das verstehen. für wichtig. (Zuruf von der SPD: Nicht zu Unrecht!) (Beifall im ganzen Hause) — Hören Sie mir eine Sekunde zu. Ich sage hier, daß Ich möchte Ihnen darüber hinaus, Herr Bundesaußen- ich in sämtlichen Gesprächen in der Volksrepublik China mit allen Gesprächspartnern massivst nach- minister, in drei Bereichen ein Angebot für einen Dialog machen, der meiner Meinung nach alle Frak- weisbar auf die Menschenrechtsfragen eingegangen tionen hier im Haus umfassen sollte. Das meine ich bin. über das Normale hinaus. Dort, wo m an in der (Zuruf von der SPD: Normale Verhält Außenpolitik zusammenarbeiten kann, tut m an dies. nisse!) Das ist ja mehr tagespolitisch orientiert. — Ja, normale Verhältnisse. Ich glaube, in drei Bereichen sind eine Debatte und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)- eine Zusammenarbeit erforderlich: Ich bin auch bereit und sage das hier noch einmal mit Erstens. Wir brauchen eine Debatte über die kon- Nachdruck, jedem einzelnen Mitglied des Deutschen zeptionelle Erneuerung der deutschen Außenpolitik Bundestages über die Einzelfragen, die ich in China nach der Vereinigung. Die deutsche Vereinigung hat im Menschenrechtsbereich besprochen habe, Aus- die Rahmenbedingungen der deutschen Außen-, kunft zu geben. Sicherheits- und Verteidigungspolitik so verändert, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) daß eine Politik des „Weiter so" nicht ausreicht. Ich Es gibt Gründe dafür, manche Dinge nach draußen glaube, daß wir gut beraten wären, neben den Diskus- nicht so darstellen zu können, wie sie sich in der Praxis sionen innerhalb der jeweiligen Fraktionen und inner- abgespielt haben. halb der jeweiligen Parteien einen sehr offenen, zum Ich bitte Sie sehr herzlich, nicht immer nur der Teil aber auch einen internen Dialog darüber zu Presse zu entnehmen, so wie sich die Dinge angeblich führen, welche Konsequenzen sich daraus für uns abgespielt haben, sondern auch ein klein wenig mir zu ergeben. Darin sind sehr viele Chancen, aber auch vertrauen, daß dieses Thema für mich von außeror- sehr große Risiken enthalten. dentlicher Bedeutung ist. Das zweite Thema, von dem ich glaube, daß wir jetzt (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) einen Dialog brauchen, ist das der außenpolitischen Abschließend: Meine Damen und Herren, für Frie- Auswirkungen des Rechtsradikalismus bei uns. Ich den, Gewaltlosigkeit und Menschenrechte können glaube, viele bei uns im Lande haben noch gar nicht wir uns nur dann erfolgreich einsetzen, wenn wir diese begriffen, wie sehr diese rechtsradikalen Erscheinun- Prinzipien bei uns selber uneingeschränkt verwirkli- gen die Handlungsfähigkeit unserer Außenpolitik chen. Nur wenn wir bei der Bekämpfung der Gewalt international verändern, sie beeinträchtigen, ihr scha- erfolgreich sind, wird Deutschland in Europa und in den. Ich glaube, daß wir darüber beraten müssen, weil der Welt eine Rolle finden, die seinen Interessen und die Handlungsfähigkeit Deutschlands in eine Krise seinen Möglichkeiten entspricht. geraten könnte, die dann nicht am Außenminister oder an der einen oder anderen Partei liegt, sondern Ich danke Ihnen. an der Wahrnehmung deutscher Politik. Ich glaube, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) daß wir hierüber einen parteiübergreifenden Dialog brauchen. Das Echo im Ausland ist so dramatisch, daß Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen Kollegen Karsten Voigt. kann. 10536 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Karsten D. Voigt (Frankfurt) Der dritte Bereich: Ich glaube, wir brauchen eine tisch solider als diejenigen, die sich Liberale nen- Debatte über eine Veränderung, eine Erneuerung der nen. außenpolitischen Kultur hier bei uns im Lande. Sie (Zustimmung bei der SPD — Zurufe von der wissen, daß es bei uns in der Fraktion Sorgen über eine F.D.P.: Das ist ja unglaublich! — Das bewei mögliche Militarisierung der Außenpolitik gibt, besonders im Zusammenhang mit der WEU und sen Sie doch mal!) Out-of-area-Einsätzen. Unbeschadet dieser Diskus- Überall in der Welt sind Deutsche Ausländer, und sion glaube ich, daß das Hauptproblem Deutschlands Gewalttaten gegen Ausländer bei uns führen dazu, zur Zeit, wenn ich das überspitzt sagen darf, nicht die daß sich Deutschland von der Mehrheit der Welt Gefahr eines Imperialismus ist, sondern die eines isoliert. Insofern gilt weiterhin, daß die deutschen Provinzialismus. Dieser Provinzialismus paart sich Nationalisten nicht nur dem deutschen Ansehen, häufig mit sehr eindeutigen Urteilen über andere sondern auch den deutschen Interessen am meisten Länder und über Sachverhalte, schaden. Das gilt übrigens nicht zum erstenmal in der deutschen Geschichte, sondern wir haben diese bit- ( [CDU/CSU]: Ja!) tere Erfahrung bereits zweimal in diesem Jahrhundert gemacht. wobei die Eindeutigkeit meist nicht mit Differenziert- heit der Wahrnehmung verbunden ist. Die Realität ist Ich möchte auch ausdrücklich begrüßen, was Kol- eben meist nicht schwarzweiß, sondern grau. Sie lege Rose auf eine Zwischenfrage von Freimut Duve haben das eben in China selber erlebt. Ich glaube also, gesagt hat: Wenn nun der türkische Menschenrechts- daß wir hier eine Verantwortung haben, daß ein Land, ausschuß hierherfährt, dann sollten wir nicht beleidigt das eine so wichtige Rolle im Westen und in der Welt reagieren, sondern diese kritischen Anfragen aus dem spielt — in Europa ohnehin — auch eine außenpoliti- Ausland — selbst dann, wenn sie überspitzt sind — bei sche Kultur wieder entwickelt oder neu entwickelt, uns ernst nehmen, den Leuten a lles bei uns zeigen und die dieser Rolle gemäß ist. Bisher sehe ich dies keine Probleme verstecken oder verharmlosen, sogar jedenfalls nicht. dann, wenn es überzogene Reaktionen im Ausland gibt, und es gibt sie. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Zuruf von der SPD: Ja! Und bei uns gibt es Soweit das Angebot der Zusammenarbeit. sie auch!) Dann sind aber nicht die überzogenen Reaktionen das Sie haben selber über die Probleme des Rechtsradi- Problem, sondern die Mißstände bei uns sind das kalismus und darüber gesprochen, wie sie sich in der eigentliche Problem, und ich möchte nicht, daß man Wahrnehmung deutscher Politik im Ausland nieder- nachher nur über die überzogenen Reaktionen disku- schlagen. Es ist ganz offensichtlich: Wer zur Zeit über tiert und nicht mehr über die Mißstände bei uns. deutsche Außenpolitik reden will, der darf über die Krisenerscheinungen, ja, über die besorgniserregen-- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS den Zustände in der deutschen Innenpolitik nicht 90/DIE GRÜNEN) schweigen. Dabei meinte ich nicht nur den Rechtsra- Dabei möchte ich besonders einen Journalisten dikalismus. zitieren, der häufig zu überzogenen Darstellungen der Verhältnisse bei uns neigt, Herrn Rosenthal, der in der Das Haushaltsdefizit — das sage ich als Außenpoli- „New York Times" schreibt. Er hat heute einen Artikel tiker normalerweise nicht, aber in diesem Zusammen- darüber in der „International Herald T ribune" hang muß es sein — hat mittlerweile einen Umfang geschrieben, und ich möchte einen Vorschlag aufgrei- erreicht und droht weiter zu explodieren und damit zu fen, den er gemacht hat. Er schlägt dort vor, daß man einer Gefährdung der internationalen Finanzpolitik eine internationale Einrichtung schaffen soll — es zu werden; und Deutschland, das einmal ein Stabili- braucht nicht eine Institution zu sein, sondern sie kann tätsfaktor war, wird heute als Faktor der Instabilität in auch eine Dialogstruktur haben —, die sich besonders der Finanzpolitik wahrgenommen. mit der Bekämpfung von nationalsozialistischen beschäftigt: durch Polizei, Gerichte, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Organisationen Gesetzgebung und — das will ich hinzufügen — auch Ich mache dabei der Bundesbank keine Vorwürfe. Erziehung. Er sagt ausdrücklich, das sei nicht allein Sie reagiert auf diese Zustände. Es ist überhaupt keine auf Deutschland bezogen; es gibt so etwas auch in Frage, daß bestimmte Krisenerscheinungen in der anderen Ländern — leider. Ich will auch nicht ver- Europäischen Gemeinschaft und im transatlantischen harmlosen, was in Deutschland passiert, wenn ich Verhältnis eng mit den Krisenerscheinungen im Wäh- sage, daß es auch in anderen Ländern geschieht. Aber rungssystem zusammenhängen und daß diese — nicht ich finde es sehr gut, wenn wir diesen Vorschlag aus allein, aber auch — durch die unsolide Finanzpolitik Amerika aufgreifen. Ich glaube, daß eine internatio- dieser Bundesregierung erklärt werden müssen. nale Diskussion, eine internationale Koordinierung der Bekämpfung des Rechtsradikalismus durchaus (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ angebracht ist, und ich wünschte mir eine Initiative CSU: Aber Sie wollen noch mehr Geld aus der Bundesregierung in dieser Hinsicht. geben!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS — Sie täuschen sich. Es ist genauso wie in den USA: 90/DIE GRÜNEN) Inzwischen sind diejenigen, die sozialliberal sind Wer den Rechtsradikalismus glaubhaft bekämpfen — und das sind die Sozialdemokraten — finanzpoli will, muß natürlich im eigenen Lande vor allem für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10537

Karsten D. Voigt (Frankfurt) Rechtsstaatlichkeit stehen. Nun glaube ich nicht, daß geht um rein politischen Opportunismus, und das ist die Bundesregierung gegen das Prinzip des Rechts- bei solchen Fragen der Verfassung das Schlimmste, staates ist; aber ich sage: Sie macht es den jüngeren was man überhaupt machen kann, Leuten und auch der Opposition bei uns nicht immer (Beifall bei der SPD) leicht, ihren Glauben ernst zu nehmen. Damit meine ich jetzt das Verhalten im Zusammenhang mit den erst recht bei der Frage des Einsatzes der Bundes- Out-of-area-Einsätzen. Sie wissen, daß wir da unter- wehr. schiedliche Rechtsauffassungen haben. Es gibt auch Nun sind wir als Sozialdemokraten auf dem letzten unterschiedliche Rechtsauffassungen über diese Parteitag in Wirklichkeit ein ganzes Stück weiterge- Frage in der Koalition; das ist normal. Wir haben einen gangen, als es nach außen scheint und als Sie offen- Rechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht, und sichtlich wahrgenommen haben. der soll etwas klären; aber wenn so ein Verfahren nicht abgeschlossen ist und man unterschiedliche (Karl Lamers [CDU/CSU]: Da sind wir sehr Rechtsauffassungen hat, dann muß auf jeden Fall der gespannt!) Eindruck vermieden werden, als wollte man die Wir haben gesagt: Bei Kampfeinsätzen ist die Mehr- jeweiligen Rechtsinterpretationen so benutzen, wie heit der Partei skeptisch; das ist klar. sie gerade in die politische Opportunität hineinpas- sen, (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist vornehm formuliert! — Karl Lamers [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Skeptisch? Ausdrücklich abgelehnt haben 90/DIE GRÜNEN) Sie es!) also Recht und Gesetz nach politischer Zweckmäßig- — Nein, wir sind bereit, darüber zu diskutieren; aber keit biegen. wir sind skeptisch. Es geht jetzt gar nicht um die Dinge Das sage ich nun ganz deutlich: Die Bundesregie- im einzelnen; aber wir haben gesagt: Wir sind bereit, rung hat damit, daß sie gesagt hat „Die Schiffe, die in uns an Regelungen zu beteiligen, wenn das Grundge- der Adria liegen, dürfen nicht an den Zwangsmaßnah- setz entsprechend geändert ist, die eine Teilnahme an men teilnehmen", zum Teil unserer Rechtsauffassung Embargos, an UNO-Schutzzonen und auch an Man- stattgegeben — nicht ganz, datsgebieten zu ermöglichen. (Zuruf von der SPD: Halbherzig!) (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Überwachung!) teilweise aber ja. Jede dieser Maßnahmen wäre also — wenn es nach der Meinung der SPD ginge — jetzt bereits möglich. (Zurufe von der CDU/CSU: Sie irren! — Jetzt Das heißt, auf dem Territo rium von Ungarn — die irren Sie!) haben darum gebeten —, auf dem Ter ritorium von — Doch, teilweise ja. Ich sage nun aber: Wenn die Rumänien — die haben darum gebeten —, auf dem Bundesregierung der Auffassung ist, daß die Teil- Territorium von Makedonien hätten schon lange nahme der Bundesmarine an Zwangsmaßnahmen Beobachter, Kontrolleure und UNO-Blauhelme statio- nicht mit der Verfassung in Übereinstimmung zu niert sein können, wenn man die Vorschläge der SPD bringen ist — und der Bundesverteidigungsminister angenommen hätte. Auf diesem Landwege wird das hat dies auch so gesagt —, dann darf er nicht gleich- Embargo am allermeisten verletzt, nicht in der Ad ria, zeitig eine Initiative für ein Entsendungsgesetz vorbe- wo jetzt Kriegsschiffe auf- und abfahren und gele- reiten. gentlich auch Schiffe stoppen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Das heißt, in dem Bereich, wo man etwas hätte tun 90/DIE GRÜNEN) können, wo man am meisten Handlungsbedarf hat, hätte man mit SPD-Hilfe schon lange etwas tun Wenn das eine verfassungswidrig ist, dann ist das können. Es ist Ihre Schuld, daß dort bisher keine andere allzumal Verfassungsbruch. Wenn er aber der Lösungen gefunden wurden; es ist nicht unsere Meinung ist — anders als wir —, die jetzige Verfas- Schuld. sung lasse bereits eine Teilnahme an Zwangsmaßnah- men in der Adria zu, dann muß er — verdammt noch (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ mal! — den Mut haben, das auch gegen die Opposi- CSU) tion zu machen. Dann gibt es einen Rechtsstreit vor Nun sagen Sie auch, Sie wollten mit der SPD in dem Verfassungsgericht; dieser Frage in ein Gespräch kommen. Sie hoffen, daß (Zuruf von der SPD: Richtig!) wir dort dialogfähig sind. Dialogfähig sind wir allzu- mal. Aber es geht doch darum, daß ich überhaupt nicht der wird dann durchgestanden, und dann werden wir weiß, mit welcher Ihrer Vorstellungen ich einen Kom- das endgültig entscheiden; aber es geht nicht, daß promiß schließen soll, wenn Sie ihre Vorstellungen man es einmal so macht und nach der Zweckmäßig- bisher im Parlament überhaupt noch nicht einge- keit in die eine Richtung interpretiert und es, wenn es bracht haben. anders in den Kram paßt, anders interpretiert. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Jeden zweiten Tag gibt es irgendeine öffentliche Was soll denn so eine Art und Weise, mit dem Gesetz Erklärung eines CDU-Mannes, eines F.D.P.-Mannes und der Verfassung umzugehen? Da muß doch bei oder eines CSU-Mannes, der sagt, die und die Vor- jedem Jüngeren der Eindruck entstehen: Hier geht es stellung der SPD passe ihm nicht ganz in den Kram. gar nicht mehr um Gesetz und Verfassung, sondern es Das habe ich sowieso nicht anders erwartet. Aber 10538 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Karsten D. Voigt (Frankfurt) wann gibt es endlich einmal eine gemeinsame Vor- Vielen Dank. lage dieser Regierung für eine Verfassungsände- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung? DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD) PDS/Linke Liste) Seit Monaten warten wir darauf! Es kann doch nicht wieder so sein wie im Maas- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen tricht-Ausschuß, wo bei der Verhandlung über diese Dr. Volkmar Köhler das Wort. wichtigen Europaverträge die Regierung in Deckung geht und dann sozusagen Handlungsfähigkeit aus dem Parlament durch einzelne Abgeordnete von SPD Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) (CDU/CSU): Herr und Koalition hergestellt werden muß. Das geht doch Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kollegen! so nicht! Wo ist denn die Regierung bei dieser wich- Wir bekommen zur Zeit eine schmerzhafte Lektion tigen Frage, über die inneren Zusammenhänge von Innenpolitik (Beifall bei der SPD) und Außenpolitik, und diese Lektion tut uns weh, weil wir wissen, daß Vertrauenswürdigkeit und Verläß- von der sie sagt, daß sie im Ausland eine so große Rolle lichkeit eine der entscheidenden Grundlagen aller spielt? Poltik und auch der Außenpolitik sind. (Freimut Duve [SPD]: Im Bermudadreieck!) Deswegen muß völlig klar sein, daß wir diesen Übrigens, an uns liegt es nicht, daß nicht schon mehr freiheitlichen Rechtsstaat nicht aufgebaut haben, um EG-Monitore in das ehemalige Jugoslawien entsandt ihn nach 40 Jahren zum Spielball rechts- oder links- worden sind, die unbewaffnet sind. Die Zahl der oder sonstiger radikaler Verbrecher werden zu las- Deutschen, die daran beteiligt sind, ist sehr gering. sen. Wir hätten schon lange eine größere Zahl dieser (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der unbewaffneten EG-Monitore gewünscht. Auch dort SPD) hat die Regierung etwas, was sie schon lange hätte tun Dies muß mit äußerster Konsequenz klar sein, und können, nicht getan. zwar nicht durch immer neue Beteuerungen, meine Ich darf zum Schluß noch einen Punkt hinzufügen, Freunde, sondern durch unverzügliche Taten. Das den Sie bezüglich der Häftlinge in den Lagern, über- muß eindeutig sein. wiegend bei den Serben, angeführt haben. Wir haben (Zustimmung bei der CDU/CSU, der F.D.P. ja eine Initiative — der Kollege Stercken ist da — und der SPD) zwischen dem polnischen Parlament, dem französi- schen Parlament und dem deutschen Parlament, Allerdings können uns das Verbrechen von Mölln jeweils in den Auswärtigen Ausschüssen, zur Auf- und andere Verbrechen — und ich hoffe auch da auf nahme von einigen tausend Häftlingen unternom- Ihren Beifall — nicht daran hindern, jetzt, wenn Herr men. Wir haben damals auf Wunsch des ehemaligen Panie aus Belgrad hier zu Besuch ist, auch in aller polnischen Ministerpräsidenten von tausend gespro- Klarheit festzustellen, daß es für uns keinerlei Zögern chen. Der Antrag für eine solche Entschließung liegt geben kann, da hart zu verurteilen und entgegenzu- vor. Ursprünglich sollte sie parteiübergreifend sein. wirken, wo der Genozid zum Prinzip staatlichen Die GRÜNEN und die SPD stehen dazu. Die CDU hat Handelns gemacht wird. sich dann in einer bestimmten Lage zurückgezogen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Ich bitte einfach, daß Sie Ihre Zurückhaltung — ich SPD und der PDS/Linke Liste) sage es vorsichtig — jetzt nach dem Votum des Herr Voigt, Sie haben mich eben in Erstaunen Bundesaußenministers aufgeben und diese gemein- versetzt. same Initiative nun endlich unterstützen. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Ist doch (Beifall bei der SPD) gut, wenn er das kann!) Ich hoffe auch — das sage ich noch einmal als jemand, — Ja, ich habe das gerne, das bedeutet eine gewisse der, wie Sie wissen, in der eigenen Partei durchaus Kurzweil, und die liebe ich. offen für eine volle Beteiligung an UNO-Maßnahmen Im ersten Teil Ihrer Rede haben Sie auch uns — ich ist —, daß wir die ganze Diskussion über die UNO- kann jetzt nur für die Fraktion reden, nicht für die Reform und die neue deutsche Rolle in der Außenpo- Regierung — angeboten, in einen grundsätzlichen litik nicht immer nur an Kampfeinsätzen durchbuch- Dialog über die Grundlagen und Prinzipien unserer stabieren, Außenpolitik in dieser veränderten Lage einzutreten. (Karl Lamers [CDU/CSU]: Das ist wahr! Das Dazu sind wir absolut bereit. tun wir ja auch nicht!) Wir wachsen ja in diese Situation unter den Erfah- rungen der letzten Jahre gemeinsam Schritt für Schritt sondern mehr darüber diskutieren, wo wir krisenvor- hinein. Deswegen hat es mich besonders erstaunt, daß beugend und kriegsverhindernd wirken können. Sie dann mit einer großen Wortgewalt forderten, daß (Beifall bei der SPD) wir diesen Prozeß des gemeinsamen Erarbeitens zeit- weilig unterbrechen, um Sie durch dezidierte Vorla- In dieser Frage haben Sie die SPD mit sich, dort drängen wir, und dort haben Sie einen Handlungs- gen unter Entscheidungszwang zu setzen. und Nachholbedarf. (Lachen bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10539

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) Irgendwie kriege ich das intellektuell nicht auf eine ers Auffassung aus, daß die beste Außenpolitik die Ebene, was Sie da in den beiden Teilen Ihrer Rede Wahrnehmung der eigenen Interessen ist. gefordert haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Lassen Sie mich bitte noch eines sagen: Ein solcher Aber die ist das Dialog hat am meisten Aussichten, wenn wir uns um Definition der eigenen Interessen Entscheidende. ein sehr hohes Maß intellektueller Redlichkeit bemü- hen, Herr Voigt. Dazu gehört auch die Erinnerung (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) daran, daß eine von Ihnen geführte Regierung dieses Land in die Vereinten Nationen geführt hat — ohne Wir wissen, daß die Interessen der Staaten heute so Wenn und Aber. stark miteinander verwoben sind, daß gemeinsames Handeln eine entscheidende Qualität ist. (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Richtig! — Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wir Deutschen haben mehr mittelbare und unmit- Gegen die Stimmen der CDU! — Karsten telbare Nachbarn als jedes andere europäische Volk. D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Ja, die hatte nur Um so klarer muß uns sein, daß wir bei wachsender „Aber" ! ) Stärke dieses Landes um so mehr auch die Interessen unserer Nachbarn einkalkulieren müssen, denn wir — Sie brauchen mich an diese Situation nicht zu sind ja auch von dem, was in Europa um uns herum erinnern. Im Gegensatz zu manchen, die hier sitzen, geschieht, um so stärker betroffen. Ich sage dies mit war ich damals dabei. Blick auf unser Engagement in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Diese Probleme haben doch die direk- Sie haben es ohne Wenn und Aber getan, und testen Auswirkungen auf uns, die man sich nur deswegen müssen Sie sich heute sehr sorgfältig prü- denken kann. fen, wenn Ihnen viele Wenn und Aber einfallen. Über eine UNO-Reform muß man sachlich diskutieren, darf Deshalb ist die politische und die wirtschaftliche das aber nicht mit einer ständigen subkutanen Ver- Stabilisierung Osteuropas eines unserer vordring- dächtigung verknüpfen, es ginge darum, die kriegs- lichsten Ziele. Wir haben ja auch gar keine Alterna- lüsternen Supermächte zu zähmen oder England oder tive; denn wenn uns das nicht gelingt, werden immer die USA endlich zu einer Vernunft zu bringen, die wir mehr Menschen aus den Staaten östlich von uns aus besitzen. nur zu verständlichen Gründen nach Deutschland strömen, und es wird für uns immer schwerer, den (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wahrer sozialen Frieden im Innern zu bewahren. Provinzialismus!) Deshalb ist es eine unserer größten Aufgaben, den So schaffen wir das nicht. Völkern in der Mitte und im Osten unseres Kontinents (Beifall bei der CDU/CSU) bei der Entwicklung zu Demokratie und sozialer Marktwirtschaft — das heißt aber auch, recht verstan- Die Koordinaten der Weltpolitik haben sich- in den den, bei ihrer Zuwendung zum Westen — helfend letzten drei Jahren von Grund auf gewandelt, und die unter die Arme zu greifen. neue Weltordnung muß sich erst noch herauskristalli- sieren. Dies ist eine große politische Aufgabe, bei der (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) wir unseren Part zu spielen haben. Das ist nicht nur und nicht einmal in erster Linie eine Wir haben uns ja auch verändert, meine Damen und Frage des Finanztransfers, so nötig er ohne jeden Herren. Ich spreche hier nicht nur von unserer Wirt- Zweifel ist. Auf die Dauer werden die Staaten Osteu- schaftskraft, um die es ja zur Zeit nicht so toll aussieht, ropas und der früheren Sowjetunion ohnehin nicht als ich spreche auch nicht von den fast 80 Millionen, die Almosenempfänger leben können und wollen. Was wir wieder sind — aber wir sind der volkreichste sie brauchen, sind intelligente Konzepte zur Hilfe bei Nationalstaat in der Mitte Europas —, nein, ich spre- der Selbsthilfe. che auch von der veränderten politischen Qualität, die Dafür gibt es keine Patentrezepte. Wir sollten sich durch die volle staatliche Souveränität ergeben unsere Rolle auch nicht überbewerten; aber wir kön- hat. nen schon auf einen großen Fundus an Erfahrungen Das führt bei uns, aber auch, wie wir täglich spüren, beim Übergang von der Staatswirtschaft in die Markt- um uns herum zu einem Prozeß des sich wandelnden wirtschaft zurückgreifen. Wir haben auf diesem Bewußtseins. So wie andere um uns herum neue Gebiet Erfolge, an die wir uns erinnern können. Aber Erwartungshaltungen an uns richten, erleben wir dort wir haben auch Enttäuschungen und Rückschläge eine Ambivalenz, die wir auch aus den eigenen erlebt, die uns hier sehr oft beschäftigen. Gerade Diskussionen kennen. deswegen können wir auf diesem Gebiet, glaube ich, redlichen Rat anbieten. Auf der einen Seite wird ja von uns gefordert, jetzt stärkere politische Verantwortung zu übernehmen, Wer Rat erteilt, gerät auch mit in die Verantwortung. Wir kennen die Debatte über „westliche Überfrem- auf der anderen Seite gibt es die unüberhörbare Angst dung" in Rußland schon jetzt ganz gut. Um so wichti- vor einem Erstarken dieser Macht im Herzen Europas, ger ist es, alles zu tun, daß dies eine gemeinsame ja, vielleicht sogar vor hegemonialen Attitüden. Aktion der europäischen Nationen, der Vereinigten Ich glaube, daß es deshalb ganz wichtig ist, unsere Staaten sowie der Weltbank und des Weltwährungs- Außenpolitik immer wieder zu erklären und zu defi- fonds ist, damit diese Verantwortung auf genügend nieren. Wir gehen nach wie vor von Konrad Adenau breiten Schultern liegt. 10540 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) Diese Beratung umfaßt im übrigen ja nicht nur Vertrauen, das uns damals erwiesen wurde, wollen wirtschaftliche Fragen, sondern auch Bereiche wie wir und müssen wir weiter rechtfertigen. den Aufbau des Rechtsstaats, der Verwaltung, der Kultur und z. B. auch der Förderung der sprachlichen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Beziehungen. Das Geschenk der gewonnenen Einheit darf nicht Ich freue mich, daß wir hier nach wie vor der Ansicht verspielt werden. Deswegen müssen wir in Zukunft sind, daß die auswärtige Kulturpolitik hohe Priorität auf noch mehr Integration setzen, auch im Interesse hat. Ich weiß von der Sache her, daß wir viel mehr Geld unserer Nachbarn. gebrauchen können, auch wenn ich, Frau Kollegin Je mehr unsere Außenpolitik europäisch, atlantisch Hoth, nicht bestreite, daß etliche Mittlerorganisatio- und global eingebunden ist, um so besser ist gewähr- nen ihre Strukturen prüfen und eventuell straffen leistet, daß der Weg Deutschlands von der Nazi sollten. Doch sind die Aufgaben so groß, daß wir noch Diktatur zu Demokratie, Freiheit und Menschenrech- wesentlich mehr gebrauchen könnten. Ich hoffe, wir ten unumkehrbar ist und daß in der Weltpolitik unsere als Parlament können das in den folgenden Jahren Position glasklar und eindeutig ist. Das ist ja auch der auch ermöglichen. Grund dafür, daß wir uns um die Erweiterung und Auch bei dieser Aktivität kommt es übrigens ent- auch um die Vertiefung der Europäischen Gemein- scheidend darauf an, daß wir deutlich machen: Wir schaft so bemühen. Wir wissen, daß Europa erst gehen keinen Sonderweg in Richtung Osten. Wir dadurch stark gemacht werden wird, die Erweiterung gehen zurück zu dem, was einmal in Europa Norma- um die östlichen Demokratien tragen und verkraften lität war. zu können. Wir wollen unsere Aktivitäten in der übrigen Welt Der Herr Außenminister hat darauf hingewiesen, deswegen nicht verkleinern. Die auswärtige Kultur- daß auf dem Wege zu einer dauerhaften Friedensord- politik ist und bleibt eine der besten Formen der nung im europäischen Haus der Konferenz für Sicher- Vertrauenswerbung für unser Land, um auch Ängste heit und Zusammenarbeit eine tragende Rolle zu beseitigen. zukommt. Das ist wahr. In diesem Zusammenhang ist es für uns von großer Bedeutung, daß die USA Partner (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der KSZE sind. Dies wollen wir auch in Zukunft so Wir betreiben diese Politik nicht als Kulturexport, haben, um eine isolationistische Entwicklung zu ver- sondern auf der Grundlage der Prinzipien von Dialog, meiden. Ich erinnere deshalb ausdrücklich daran, daß kulturellem Austausch und partnerschaftlicher Zu- es in der Anfangsphase der KSZE vor allem Deutsch- sammenarbeit. Diese partnerschaftliche Zusammen- land gewesen ist, das die Teilnahme der Vereinigten arbeit ist ohnedies in vieler Hinsicht das Gesetz der Staaten an einer europäischen Sicherheitskonferenz Zukunft. Wir sollten unseren Willen dazu mit allem zu einer Bedingung für die eigene Mitarbeit gemacht Nachdruck beweisen. Es gibt so viele dringende hat. Probleme zu lösen, die nur in partnerschaftlicher- Eine verbesserte Abstimmung der Sicherheitspoli- Zusammenarbeit gelöst werden können. Die Stabili- tik in Westeuropa ist angesichts der realen Lage sierung Osteuropas habe ich genannt. Ich füge hinzu: unabdingbar. Dies wissen wir. Auch dann, wenn die die Jugoslawien-Krise, der Nahost-Konflikt, die Hun- alten Bedrohungen abgenommen haben und wenn gersnöte in Afrika, der Fundamentalismus in Alge- die USA ihre Streitkräfte möglicherweise in Zukunft rien, die bedrohliche Situation der Maghreb-Staaten. deutlich verringern, steht die Frage einer klugen — Die Aufzählung könnte fortgesetzt werden. Alles langfristigen Sicherheitspolitik nach wie vor auf der dies kann nur durch gemeinsame Anstrengungen der Tagesordnung. Das politische Gefüge in der atlanti- europäischen Staaten geregelt werden. schen Allianz mag sich verschieben. Aber eine Meine Damen und Herren, diese Aufgaben sind so Erosion der Allianz oder eine Renationalisierung der unendlich wichtig, daß ich mich weigere, meine Zeit Verteidigung Europas hätte weitreichende Folgen mit Diskussionen über ein „Hegemonialstreben der und muß vermieden werden. Deutschen" zu vergeuden. Das wäre das Törichteste, Wir müssen in dieser Lage den europäischen Pfeiler was man in diesem Moment anfangen könnte! der atlantischen Allianz in Form der WEU weiter (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: aufbauen und ausbauen. Aber eine substantielle Prä- Allerdings!) senz der USA in Europa bleibt auch in Zukunft das verläßlichste Gegengewicht gegen alle denkbaren, Wir wissen auch ganz klar — unsere Nachbarn vor allem nuklearen Gefahren. sollen es auch wissen —: Unsere Zukunft liegt nicht in einer Sonderrolle oder gar etwa im Osten; viel eher (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wäre die Zukunft des Ostens im Westen zu finden. Wir Der große Gewinner der gegenwärtigen Phase nach stehen zu der Westbindung, zu unserer Tradition, die dem Ende des kalten Krieges sind zweifellos die mit ihren Grundwerten Demokratie und Freiheit im Vereinten Nationen. Sie haben zum ersten Mal in Innern der Garant für politische Stabilität und wirt- ihrer Geschichte wirklich die Chance, politisch mehr schaftlichen Wohlstand dieses Landes und in den Macht auszuüben und mehr Verantwortung zu über- internationalen Beziehungen der Garant für ein nehmen. Die Vision ihrer Gründer, ein Forum zu Zusammenleben in Frieden und Sicherheit ist. schaffen, das den Frieden auf der Welt sichert, die Wir haben nicht vergessen, daß diese Westintegra- Menschenrechte garantiert und wirtschaftliche Pro- tion den erfolgreichen Abschluß der Zwei-plus-Vier- bleme löst, könnte nun Wirklichkeit werden. Aber von Verhandlungen überhaupt erst ermöglicht hat. Das diesem erhabenen Ziel sind die Vereinten Nationen Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10541

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) noch sehr weit entfernt. Viele der Mitglieder sind sich Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt auf: überhaupt noch nicht einig darüber, auf welchem Einzelplan 14 Wege das erreicht werden kann. Geschäftsbereich des Bundesministers der Um so wichtiger ist es, daß wir in den Vereinten Verteidigung Nationen weiterhin einen konstruktiven Part spielen — Drucksachen 12/3514, 12/3530 — und die Vereinten Nationen stärken. Ich muß geste- hen, daß für mich persönlich die Frage eines Sitzes im Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Werner Sicherheitsrat für die Bundesrepublik Deutschland Müller (Wadern) oder eines europäischen Sitzes in diesem Zusammen- Kurt J. Rossmanith hang eine Möglichkeit, aber nicht unbedingt ein Wert Hans-Gerd Strube an sich ist. Carl-Ludwig Thiele Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD) Rudi Walther (Zierenberg) Auf lange Sicht, wenn Deutschland sein Haus Einzelplan 35 bestellt hat — damit darf ich mich auch Ihnen, werter Verteidigungslasten im Zusammenhang mit Herr Kollege Duve, wieder zuwenden —, wenn unsere dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte politische Handlungsfähigkeit ausreicht — dazu haben wir hier noch einige Schularbeiten zu — Drucksache 12/3527 — machen —, können wir mit unseren Partnern gemein- Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Emil sam überlegen, welche Rechte wir dann auch für uns Schnell einfordern. Aber dazu muß unser L and den Zustand Dr. Klaus-Dieter Uelhoff der Normalität seiner Handlungsfähigkeit in der Carl-Ludwig Thiele Völkergemeinschaft erreichen. Dies muß unter uns ausdiskutiert werden. Wir werden nämlich keine Beratung der Beschlußempfehlung und des Rechte bekommen, ohne entsprechende Pflichten zu Berichts des Verteidigungsausschusses übernehmen. (12. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bericht über den Stand der Verhandlungen mit Mit der bisherigen Methode, uns auf das Grundgesetz, den NATO-Entsendestreitkräften über die auf die deutsche Geschichte und auf unser zartes Schließung des Luft-Boden-Übungsplatzes Gewissen zu berufen und dann andere Völker zu „Nordhorn-Range" drängen, für uns die Kastanien aus dem Feuer zu — Drucksachen 12/537, 12/3691 — holen, werden wir in Zukunft nicht mehr durchkom- men. Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Gerd Strube (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Dieter Heistermann Wir wollen diese Außenpolitik in enger Abstim- Beratung der Beschlußempfehlung und des mung mit unseren Partnern betreiben. Das setzt natür- Berichts des Verteidigungsausschusses lich voraus, daß unsere Partner uns auch so zu (12. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordne- akzeptieren bereit sind. Aber die Zukunft für ein ten Ulrich Adam, Dr. Walter Franz Altherr, friedliches Zusammenleben der Völker liegt ohnehin Hans-Dirk Bierling, weiterer Abgeordneter nur in diesem Weg offener und ehrlicher Partner- und der Fraktion der CDU/CSU sowie der schaft, den wir anstreben. Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Ich danke Ihnen. Dr. Werner Hoyer, Dr. Sigrid Semper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Privatisierung der Heimbetriebsgesellschaft sowie bei Abgeordneten der SPD und des mbH der Bundeswehr BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) — Drucksachen 12/1292, 12/3693 — Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Heister- mann Karl Stockhausen Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- che. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst schuß) zu der an den Haushaltsausschuß zur Abstimmung über den Änderungsantrag der zurückverwiesenen Entschließung auf Num- Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache 12/3817. mer II der Beschlußempfehlung des Haushalts- Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — Wer ausschusses zum Entwurf eines Gesetzes über stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für Der Änderungsantrag ist abgelehnt. das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz Wer stimmt für den Einzelplan 05 in der Ausschuß- 1991) fassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der — Drucksachen 12/100, 12/494, 12/531, Einzelplan 05 ist angenommen. 12/3758 (neu) — 10542 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Vizepräsident Hans Klein Berichterstattung: Abgeordnete Hans-We rner Bravo, Herr Minister, 1 000 Stellen weg, eine glän- Müller (Wadern) zende Leistung! Aber wie so oft im Leben verblaßt der Carl-Ludwig Thiele Glanz dieser vollmundigen Erklärung bei näherem Horst Jungmann (Wittmoldt) Hinsehen: Im nächsten Jahr werden im Verteidi- Zum Einzelplan 14 liegen je ein Änderungsantrag gungsministerium sage und schreibe 81 Stellen einge- der Fraktion der SPD und der Gruppe PDS/Linke Liste spart, vor. Über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Der wird im Anschluß an die Aussprache namentlich Minister soll mal zuhören!) abgestimmt. Die namentliche Abstimmung — das im nachgeordneten Bereich fast 10 000. Wir sind sage ich auch für die Kolleginnen und Kollegen, die in gespannt, wann er die Einsparung von 1 000 Stellen ihren Büros sein müssen und die Debatte am Lautspre- erreicht haben wird. cher verfolgen — wird gegen 20.10 Uhr stattfinden. Sicherlich ist es im Ansatz richtig, daß bei veränder- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die ter sicherheitspolitischer Landschaft mit neuen gemeinsame Aussprache zu diesen Punkten zwei Schwerpunkten der Bundeswehraufgaben die Orga- Bonner Stunden vorgesehen. Dagegen erhebt sich nisation des Ministeriums funktionsgerecht neu kein Widerspruch. — Dann ist das so beschlossen. zugeschnitten werden muß. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem (Ernst Waltemathe [SPD]: Er hört trotzdem Kollegen Horst Jungmann. nicht zu! Herr Rühe, hier besteht Zuhör pflicht!) Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Herr Präsident! — Der kommt am Ende und räumt dann alles ab, was Meine Damen und Herren! Vor mehr als 3 000 Jahren andere Leute gar nicht gesagt haben. — Aber eine schlug ein ägyptischer Finanzbeamter vor, die Atem- Strukturreform, die diesen Namen verdient, Herr luft zu besteuern, um so die Lücken im Staatssäckel zu Minister, ist ohne zukunftsorientiertes Konzept nichts füllen. wert. (Zuruf von der SPD: Das fällt dem Waigel (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Unge auch noch ein!) zogen, der Minister!) Es war schon immer das Bestreben vieler Regierender, Eine solche Gesamtkonzeption vorzulegen, ist Ihnen den kleinen Leuten die Luft zum Atmen bzw. das Geld allerdings nicht gelungen. zum Leben zu nehmen. Dabei wäre unter den verschiedensten Fragestel- Diese Regierungskoalition hat sich in den letzten lungen auch eine Antwort auf die Frage zu finden, ob Monaten viel einfallen lassen, um den sozial Schwä- der Blankeneser Erlaß noch zeitgemäß ist. Immerhin cheren immer mehr zur Kasse zu bitten und an den ist dieser über 20 Jahre alt. Selbst wenn er von einem falschen Stellen zu sparen. - anderen Hanseaten, einem bedeutenden Vorgänger (Walter Kolbow [SPD]: Leider wahr!) auf Ihrem Stuhl, nämlich Helmut Schmidt, erlassen Vernünftig ist es doch wohl, dort zu sparen, wo wir uns worden ist, muß man ihn heute in der veränderten das heute am besten leisten können. Wir sind uns sicherheitspolitischen Situation neu überdenken. sicherlich alle darin einig, daß wir als europäischer Ihrer Zielstruktur 1997, Herr Minister, fehlt das Staat in einer größeren Sicherheit leben als noch vor Fundament, nämlich eine auf die Zukunft hin gerich- einigen Jahren und daß wir keiner unmittelbaren tete Konzeption. Sie wären nicht der erste Chef einer Bedrohung ausgesetzt sind. Folgerichtig brauchen wir Großorganisation, der scheitert, weil ihm moderne auch nicht mehr den gleichen Aufwand zu betreiben, Mittel zur Steuerung und Leitung nicht zur Verfügung um uns vor der Bedrohung vergangener Zeiten zu stehen. Großunternehmen ohne Controller sind heute schützen. Dementsprechend lassen sich im Verteidi- schlechterdings undenkbar. Sie aber wollen sich gungsetat Einsparungen vornehmen, ohne daß — wenn ich das richtig sehe — mit einem kümmerli- irgendeine Schicht der Bevölkerung besonders chen Ansatz, einer mickrigen Ausgabenkontrolle in benachteiligt wird und ohne daß dieser Staat irgend- der Abteilung Rüstung, zufriedengeben. welchen Schaden nimmt. Ich muß es mir angesichts der vielen anderen (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: So ist skandalösen Geldausgaben in Ihrem Ressort leider das!) verkneifen, die Zielstruktur 1997 für das Verteidi- Zwar propagiert der Bundesminister der Verteidi- gungsministerium bis ins einzelne zu beleuchten. Deshalb nur ein paar Anmerkungen, quasi als Schlag- gung in der Öffentlichkeit viel Sparsamkeit, doch bei lichter. Demotivierender Frust muß Sie selbst doch näherem Hinsehen stellt man leider fest, daß nicht schon beschleichen, wenn Sie beim Tagesgeschäft, wirklich gespart wird. Seine Propagandareden stellen umgeben von einer überdimensionierten Anzahl von sich letztlich als Blendwerk heraus. Wie man in der Staatssekretären, eingekeilt zwischen frei nebenein- Hochburg der Geldverschwendung im militärischen Bereich, im Verteidigungsministerium selbst, sparen ander schwebenden Sonder- und Stabselementen, das Leitungsdickicht durchstoßen müssen, um zum kann, will ich gleich aufzeigen. breitgefächerten Organisationsspektrum Ihres Hau- Der Verteidigungsminister hat dem Verteidigungs- ses Kontakt aufnehmen zu können. ausschuß ein Papier mit dem hochtrabenden Thema „Zielstruktur 1997 für die Organisation des Bundes- Wenn Ihnen das gelungen ist, muß Sie wohl voll- ministeriums der Verteidigung" vorgelegt. Wer da ends Mutlosigkeit befallen. nicht genau hinsieht, könnte versucht sein zu sagen: (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Richtig!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10543

Horst Jungmann (Wittmoldt) Sie stoßen auf verschiedene Abteilungen, die in einem zeugt, daß eine über die vorliegende Zielstruktur Ministerium überhaupt nichts zu suchen haben, z. B. hinausgehende Stellenverminderung im Rahmen die Personalabteilung. An vielen Stellen ihres Mini- der heutigen Organsiationsstruktur des Bundes- steriums werden Personalprobleme überdacht und ministeriums der Verteidigung nicht möglich ist. bearbeitet sowie Lösungen dazu konzipiert und Insbesondere die Herausverlagerung großer Auf- geplant. Alle Führungsstäbe leisten sich ihre eigenen gabenkomplexe zur Wahrnehmung im nachge- Referate, die Personalbearbeitung machen, und das ordneten Bereich setzt Überlegungen über alter- alles neben einer aufgeblasenen Personalabteilung. native Strukturen voraus. (Zuruf von der SPD: So ist das!) Herr Minister, warum denken Sie denn nicht über eine Bei der Lösung der Probleme muß man allen Ihren alternative Struktur nach? Stäben allerdings Einfallslosigkeit und außergewöhn- (Bundesminister Volker Rühe: Tun wir! liches Beharrungsvermögen sowie Ihnen mangelnden Woher wissen Sie das?) Mut und mangelnde Entscheidungskraft zuerken- nen. Wer hindert Sie daran, eine neue Organisationsstruk- tur im Ministerium zu schaffen, (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Luft ballongeneral!) (Bundesminister Volke Rühe: Keiner!) Aber über die Ideenlosigkeit in dieser Regierung wird die zeitgemäß, effizient und sparsam ist? ja landauf, landab in allen Zeitungen täglich berichtet. Ich komme darauf am Schluß meiner Rede noch Ihr Geschick, bestimmte Ankündigungen presse- einmal zurück. wirksam zu vermarkten, zeigt sich auch an dem Beispiel Jäger 90. Vollmundig haben Sie in Madrid Wozu brauchen Sie dieses duale System im Vertei- auf einer Pressekonferenz festgestellt, der Jäger 90 ist digungsministerium mit Auftrennung in Bedarfsfor- tot. Einige Wochen später verkauften Sie uns einen derung und Bedarfsdeckung wirklich noch? Ist es neuen Jäger, d. h. so neu ist er gar nicht, sondern er nicht viel zeitgemäßer, den Bedarfsplaner und bekommt nur einen neuen Namen, der ein fast bau- Bedarfsdecker im dialogischen Prinzip zusammenzu- gleiches Flugzeug beinhaltet. führen anstatt, wie heute üblich, in rivalisierender Art und Weise einander gegenüberstehen zu lassen? (Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE Nahtlosen Übergang von der Mutlosigkeit zur tiefen GRÜNEN]: Phönix aus der Asche! — Helmut Traurigkeit schafft ein Blick auf die Organisation. Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Aber billiger! Aber wie soll das auch anders sein, wenn das Ziel- Jäger 2000!) strukturpapier 1997 die militärischen Planungsstäbe Nun wäre es ja den Schweiß der Edlen wert, darüber ganz ausklammert, weil dort noch — wie es so schön nachzudenken, ob wir überhaupt einen Jäger brau- heißt — in Einzelfragen Diskussionsbedarf besteht. chen und, wenn ja, zu welchem Preis. Der jetzt der Rührend, diese Feststellung, und auch erklärlich,- Öffentlichkeit präsentierte abgespeckte Jäger 90 ist so wenn man sich die derzeitige Verteilung der Organi- viel billiger, wie Sie uns das vormachen wollen, auch sationsaufgaben in Ihrem Hause ansieht. Die ver- nicht. Sie reduzieren die Leistungsfähigkeit, lassen sprengten Heerscharen der Organisatoren werkeln logistische Komponenten herausrechnen, um das Ein- außerhalb des Organisationsstabs, noch verteilt auf zelexemplar billiger anpreisen zu können. Es ist aber sage und schreibe elf verschiedenen Balkonen Ihres klar, daß diese Komponenten später trotzdem erfor- Hauses, herum. Wenn Sie das selbst nicht so genau derlich werden. wissen, bin ich gerne bereit, Ihnen die elf verschiede- nen Bereiche in einem Gespräch, das wir anschlie- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: ßend führen können, zu nennen. Kampfwertsteigerung!) Gerade diese Vielzahl der organisatorischen Selbst- — Das kennen wir aus der Tornado-Geschichte mit bediener ist die Ursache für die immer wieder zu den dauernden Kampfwertsteigerungen. Aber die beklagende Ineffizienz Ihres Hauses. Hier gibt es Nachrüstungen sind dann erheblich teurer. einen unmittelbaren Zusammenhang, den Sie zu Auf den Trick, die Mehrwertsteuer herauszurech- verantworten haben, weil Sie diese Probleme nicht nen, kann nur jemand kommen, der den wahren Preis lösen, Herr Minister. vor der Öffentlichkeit verschleiern will. Die Konsequenz muß sein: Machen Sie Schluß mit dem Organisationswildwuchs auf der Hardthöhe. Ein (Beifall bei der SPD) Zielstrukturpapier verdient seinen Namen erst dann, Sie glauben doch nicht, Herr Rühe, daß Sie uns und wenn das Ministerium eine organisatorische Verfas- die Bevölkerung mit Ihren Preismanipulationen ver- sung erhält, die Funktionstüchtigkeit schafft, ohne schaukeln können. Sie haben sich dem Druck der fortwährend mit sich selbst konferieren zu müssen. Industrie gebeugt und versuchen, dies vor der Öffent- (Beifall bei der SPD) lichkeit zu kaschieren. Sie stellen sich mit dieser Zielstruktur aber ein (Beifall bei der SPD) Armutszeugnis aus, das in dem Satz gipfelt, der Ihrer In der heutigen Pressemeldung von „dpa" ist nach- Vorlage an den Verteidigungsausschuß zu entneh- zulesen: „Luftfahrtindustrie billigt Pläne Rühes für men ist: neues Jagdflugzeug". Es ist ganz neu, daß die Luft- Ich habe mich in eingehender Diskussion mit den fahrtindustrie Pläne des Verteidigungsministeriums Verantwortlichen in meinem Hause davon über billigt. Ich denke, die Mittel zur Beschaffung werden 10544 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Horst Jungmann (Wittmoldt) im Parlament und nicht von der Luftfahrtindustrie Hier lassen sich erhebliche Summen sparen, ohne bewilligt. daß die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Carl-Ludwig (Beifall bei der SPD) Thiele [F.D.P.]) Dieses Geld können wir für andere dringend notwen- Das zeigt ganz deutlich, wie Sie unter dem Druck der dige Aufgaben, z. B. beim Wohnungsbau, beim Auf- Luftfahrtindustrie eingeknickt sind. bauprogramm der neuen L ander, bei der Standort- konversion und bei der Entwicklungshilfe, verwen- Bei dem luftgestützten, abstandsfähigen Primär- den. Aufklärungs-System — Lapas — haben Sie sich eben- falls nicht gegen den Druck von außen durchsetzen (Beifall bei der SPD) können. Die Mittel für die Beschaffung dieses Flug- Einen weiteren Einsparbereich bieten die Betriebs- zeuges haben Sie gar nicht in den Haushalt 1993 kosten. 75 % des Verteidigungsetats werden nur für aufgenommen, sondern sich von ihren Koalitionsfrak- den Betrieb der Bundeswehr ausgegeben. Gerade im tionen aufdrücken lassen. Bereich der Simulationstechnik, deren Einsatz um- Man muß sich ein solches aberwitziges Unterneh- weltschonend, ökonomisch und zeitsparend ist, men einmal richtig vor Augen führen: Wegen der beginnen Sie die schnelle Einführung von Tiefflugsi- zu verzögern. grundlegenden Veränderung der sicherheitspoliti- mulatoren schen Lage, der explodierenden Kosten für das luft- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ist gestützte, abstandsfähige Primär-Aufklärungs-Sy- wohl wahr!) stem — Lapas — Obwohl der Abschlußbericht der Phase 1 für die (Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Lappas ist Erprobung des Tiefflugsimulators dieses Gerät positiv doch ein Funktionär!) beruteilt, die Einführung und Weiterentwicklung empfiehlt und obwohl sie der Bevölkerung damit eine und der Haushaltsenge für viele Jahre sollte es beim spürbare Entlastung beim Tieffluglärm zukommen Truppenversuchsmuster Lapas bleiben, Herr Kollege ließen, will die Luftwaffe dieses Gerät auf Grund des Strube. Weder die Luftwaffe noch die Rüstungsabtei- Widerstands aus den eigenen Reihen nicht beschaf- lung wollen die Beschaffung dieses Systems. Da fen. kommen Ihre von der Industrie gedrängten Fraktions- kollegen und sorgen mit der Einstellung von zusätz- Aber es sind nicht nur der Segen und die Erleichte- lich 40 Millionen DM für die Beschaffung dieses rung für die Bevölkerung, die so sehr für dieses Gerät Flugzeugs, obwohl vom Ministerium gar nicht sprechen, sondern auch die militärische Notwendig- gewollt. keit, so wie sie in der militärisch-wirtschaftlich-tech- nischen Forderung festgelegt wurde: daß aus Durch die Beschaffung der sogenannten Langläu- ferteile wird — wie in solchen Fällen typisch — die vielerlei Gründen die missionsgerechte Aus- und endgültige Entscheidung vor der Rüstungsklausur Weiterbildung der Kampfbesatzung in Friedens- gefällt. Dadurch wird ein Beschaffungsvolumen von zeiten mit dem Originalwaffensystem in der Luft zunächst „nur" 370 Millionen DM gebunden, aber nicht durchführbar und erreichbar ist. Eine Viel- letztlich ein Millionengrab geschaufelt und die zahl von Missionen können nur bzw. nur ergän- Beschaffung festgeklopft, ohne daß man auf die Nicht- zend zur fliegerischen Ausbildung am Simulator beschaffung zurückgehen kann. geübt werden. Wenn Sie die Beschaffungsvorlage zur Durchführung Darüber hinaus ist bereits durch die Erprobung und dieser militärischen Maßnahme vorlegen, Herr Mini- die Tests beim Truppenversuchsmuster festgestellt ster, werden Sie unsere Unterstützung bekommen. worden, daß schwerwiegende Zweifel an der Brauch- barkeit dieses Systems bestehen. Ich fordere Sie Allgemein sollte im militärischen Bereich von der hiermit auf, wenn Sie nächste Woche die Beschaf- schon vorhandenen Simulationstechnik mehr Ge- fungsvorlage vorlegen, Herr Minister, die entspre- brauch gemacht werden. Bei der Fahrschulausbil- chenden Berichte der Luftflotte über die Erprobung dung z. B. in den Teilstreitkräften bietet sich der mit dem Truppenversuchsmuster Lapas auch dem Einsatz eines schon am Markt vorhandenen Fahr- Parlament vorzulegen. schulsimulators an. Das ist ebenfalls umweltscho- nend, verkehrsentlastend und spart erhebliche Weitere größere Sparmöglichkeiten bieten eine Betriebskosten. Verringerung des Ankaufs von Munition und die Durchführung von Übungen. Sie selbst und die mili- (Zuruf von der CDU/CSU: Welche Firma tärische Führung haben immer wieder betont, daß wir bietet den an?) keiner Bedrohung mehr ausgesetzt sind, wie sie in der — Die Firma kenne ich nicht. Ich kenne das aus Vergangenheit bestand. Darin sind wir uns einig. Österreich. Österreich hat da gute Gesetze. Aber dann brauchen wir auch keine überdimensio- nierte Vorratshaltung an Munition mehr. Ich habe Ihnen einige Beispiele genannt, um zu zeigen, wie gespart werden kann, wo gespart werden (Beifall bei der SPD) muß, ohne daß die Sicherheit der Bundesrepublik Dann brauchen wir auch keine intensiven Übungs- Deutschland beeinträchtigt wird. programme, als ob der Krieg unmittelbar vor der Tür Sie haben einen Haushalt vorgelegt, Herr Minister, stünde. den Sie selbst als Übergangshaushalt bezeichnet Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10545

Horst Jungmann (Wittmoldt) haben, der mit großer Wahrscheinlichkeit schon nach rungsbank auch nur den Vorteil, daß Sie keine Steu- vier Wochen Makulatur ist. Sie besitzen die Stirn, ern zahlen müßten. Ist das nicht eine Idee, meine diesen Haushalt zur Verabschiedung im Parlament Herren? Nein, ich bleibe beim Sparen im Verteidi- vorzulegen, ohne daß Sie die notwendige Planungs- gungsetat. konferenz, die Grundlage für die ganze weitere Aus- Auch Sie, meine Damen und Herren von den rüstung der Bundeswehr sein muß, durchgeführt Regierungsfraktionen, haben mit uns die Möglichkeit, haben. Die legen Sie sinnigerweise auf den 17. De- im Verteidigungsetat zusätzlich zu dem, was wir im zember 1992. Das heißt, alles, was heute beschlossen Verteidigungsetat gespart haben, — — wird, wird höchstwahrscheinlich am 17. Dezember 1992 über den Haufen geworfen werden und damit im (Zurufe von der CDU/CSU: Da will jemand Papierkorb landen. eine Frage stellen!) Dies ist eine Zumutung für das Parlament. Dieser — Sie können so lange dazwischenrufen, wie Sie Einzelplan ist, wie der gesamte Haushalt der Bundes- wollen. Ich habe noch Zeit. regierung, eine Täuschung. Von Haushaltsklarheit (Zuruf von der CDU/CSU: Herr Esters und Haushaltswahrheit kann nicht die Rede sein. möchte Sie etwas fragen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS — Jetzt dürfen Sie Ihre Frage stellen, Herr Kollege 90/DIE GRÜNEN — Zuruf von der CDU/ Esters. CSU: Das nehmen Sie sofort zurück!) Ich hatte eingangs auf Möglichkeiten zur Verbesse- rung der Einnahmen des Staates hingewiesen. Ich Helmut Esters (SPD): Herzlichen Dank, Herr Kol- hatte auch den mangelnden Willen zur Sparsamkeit lege Jungmann. im Verteidigungsministerium kritisiert. Da Sie wahr- scheinlich die Idee der Ägypter, die Atemluft zu Da Sie im Moment bei den Steuern im Zusammen- besteuern, nicht aufgreifen werden, möchte ich eine hang mit dem Einzelplan des Bundesministers der andere Kuriosität aus der Geschichte, wie man den Verteidigung sind: Sind Sie auch bereit, uns noch Bürgern in die Tasche greifen kann, nicht vorenthal- einige Sätze über die Einführung und spätere Ver- ten. Frankreichs berühmter Finanzminister Colbert wendung der Sektsteuer mitzuteilen? mußte sich mit der Idee auseinandersetzen, die menschliche Intelligenz mit Steuern zu belegen. (Heiterkeit und Zurufe von der CDU/CSU) Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Ja, die Sekt- steuer ist einmal unter Admiral Tirpitz für den Bau der — Warten Sie doch einmal ab, Frau Kollegin. So etwas deutschen Hochseeflotte im vorigen Jahrhundert ein- gab es. geführt worden. Das sollte auch nur eine Übergangs- Mit der Idee war die Vorstellung verbunden, die steuer sein. Aber die Steuer besteht heute noch. Untertanen würden sich dann dazu drängen, auf Deswegen rate ich davon ab, die Intelligenzsteuer Grund ihrer Eitelkeit die Kassen des Fiskus zu- füllen. einzuführen. Colbert soll dem Vorschlagenden geantwortet haben: „Trefflich, trefflich, für diesen Vorschlag sollen Sie von (Heiterkeit bei der SPD) der Steuer befreit werden." Meine Damen und Herren von den Koalitionsfrak- tionen, Sie haben die Möglichkeit, mit uns an den richtigen Stellen zu sparen. Im Verteidigungsetat Vizepräsident Hans Klein: Herr Jungmann, gestat- ergibt sich die Möglichkeit, 2,6 Milliarden DM zusätz- ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Esters? lich zu dem, was wir teilweise schon gemeinsam im Haushaltsausschuß gemacht haben, zu sparen. Stim- Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Darf ich den men Sie also unserem Antrag auf der Drucksache Gedanken zu Ende führen, Herr Esters? Dann können 12/3811 zu. wir uns über die Zwischenfrage unterhalten. Ich möchte es aber nicht versäumen, mich bei den (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) Kollegen Berichterstattern für die Zusammenarbeit und bei den Mitarbeitern des Verteidigungsministeri- Meine Herren von der Regierung, wenn Sie diese ums für die Unterstützung bei der Bewältigung der Idee aufgreifen und die Intelligenz besteuern würden, schwierigen Aufgabe, diesen Haushalt ins Plenum zu würde sich für den Finanzminister vielleicht eine bringen, zu bedanken. große Einnahmequelle erschließen. Vielleicht würden Sie, Herr Kollege — — Ich denke, wir werden uns in der nächsten Zeit noch einmal mit dem Verteidigungshaushalt, wenn der (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das Nachtragshaushalt vorgelegt wird, unterhalten. Dann glaube ich nicht! — Zuruf von der CDU/CSU: Lieber Herr Jungmann, seien Sie zurückhal werden wir ja sehen, ob meine Sparvorschläge bei Ihnen auf fruchtbaren Boden gefallen sind, wie Sie ja tender!) schon zwischen der normalen Beratung im Haushalts- — Ich fange noch einmal an, damit auch die SPD- ausschuß und der Bereinigungssitzung einige meiner Fraktion das hört. Es könnte ja sein, daß sie einmal auf Vorschläge dankenswerterweise übernommen ha- der Regierungsbank sitzt. — Meine Herren von der ben. Regierung, wenn Sie diese Idee aufgreifen und die Intelligenz besteuern würden, würde sich für den Ich bedanke mich für Ihre Geduld. Finanzminister vielleicht eine große Einnahmequelle (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS erschließen. Vielleicht hätte das für Sie auf der Regie 90/DIE GRÜNEN) 10546 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hans-Gerd überzeugt, daß das, was Sie vortragen, eine Botschaft Strube, Sie haben das Wort. an die Bundeswehr ist?

Hans-Gerd Strube (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Jungmann, das war eine sehr zahme Rede. Hans-Gerd Strube (CDU/CSU): Davon bin ich fest Eine Botschaft an die Bundeswehr war es nicht. Ich überzeugt. Wenn Sie mir bis zum Ende zuhören, habe mich gefragt: Was soll bloß passieren, wenn Sie werden Sie sicherlich auch zu der Überzeugung und Ihre Freunde einmal in die Regierungsverantwor- kommen. tung kämen? Arme, arme Bundeswehr kann man da (Beifall bei der CDU/CSU) nur sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Für Materialerhaltung und sonstige Betriebsausga- Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Jeden ben — dazu gehört auch der Infrastrukturbereich — falls gäbe es keine Beschaffungsmaßnahmen wird mehr als ein Viertel der Verteidigungsausgaben aus Gefälligkeit gegenüber der Rüstungsin aufgewendet werden müssen. Für die Investitionen dustrie!) bleibt somit erstmalig seit Bestehen der Bundeswehr weniger als ein Viertel des Einzelplans 14. Nur die — Seien Sie vorsichtig. Absenkung der Betriebsmittel setzt Gelder frei. Daher Der Verteidigungshaushalt 1993 sieht nach den frage ich: Brauchen wir alle unsere Flugzeuge in Empfehlungen des Haushaltsausschusses Ausgaben ständiger Bereitschaft? in Höhe von nur noch 50,15 Milliarden DM vor. (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Nein!) (Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit den versteckten Müssen alle unsere Schiffe immer einsatzfähig sein? Verteidigungsausgaben?) (Zurufe von der SPD: Nein!) Das sind fast 2 Milliarden DM oder 3,8 % weniger, als für 1992 bewilligt worden sind. Im Regierungsentwurf Wieviel schweres Gerät kann entsprechend der 1993 waren noch insgesamt 50,8 Milliarden DM Bedrohungslage eingemottet werden? vorgesehen. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Alles Wir haben also im Zuge der parlamentarischen weg!) Beratung die Verteidigungsausgaben um rund Welche Aufgaben können privatwirtschaftlich preis- 700 Millionen DM zurückgenommen. Der Verteidi- werter durchgeführt werden? gungshaushalt trägt nun überproportional zur Stabili- sierung der Gesamtbundesausgaben bei. Nur noch (Zurufe von der SPD: Alle! — Die ganze 11,5 % des Bundeshaushaltes entfallen auf den Ver- Verteidigung!) teidigungsbereich. - — Da sieht man Ihre Gesinnung. Hervorragend, wie (Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/DIE Sie sich wieder darbieten. Das ist Ihre Botschaft an die GRÜNEN]: Das sind 11,5 % zuviel!) Bundeswehr, wie Sie sich hier aufführen. Das ist der niedrigste Anteil am Bundeshaushalt seit (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der Bestehen der Bundeswehr. Ich denke, die Friedensdi- SPD) vidende ist realisiert. Innerhalb des äußerst knappen Rahmens ist es Der Frieden ist insgesamt aber nicht sicherer gewor- notwendig, die Infrastruktur der Bundeswehrliegen- den. Von vielen Konfliktherden geht Gefahr aus. Aus weiterhin dem kalkulierbaren Risiko ist ein vielfach unkalku- schaften in den neuen Bundesländern nachhaltig zu verbessern. Außerdem muß in den lierbares Risiko geworden. Wir brauchen also auch neuen Ländern dringend Wohnraum für Bundeswehr- weiterhin zum Schutz unseres Landes eine starke, angehörige geschaffen werden. leistungsfähige Bundeswehr im Bündnis der NATO. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der SPD: Donnerwetter!) Gewiß, die Bundeswehr muß schlanker werden. Die Als Einstieg in ein Wohnungsbauprogramm sind 1993 Personalstärke muß auf 370 000 Mann heruntergefah- erstmals 50 Millionen DM veranschlagt. Insgesamt ren werden. Gleichwohl wird 1993 mehr als die Hälfte sind 1993 in den neuen Ländern Investitionen in Höhe des Verteidigungsetats, nämlich rund 25,9 Milliarden von 675 Millionen DM beabsichtigt. Zusammen mit DM, für Personalausgaben gezahlt werden. 450 Millionen DM Bauunterhaltung wird in den neuen Ländern für Baumaßnahmen also weitaus mehr als 1 Milliarde DM ausgegeben. Die Infrastrukturausga- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Strube, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Klejd- ben werden daher nicht gesenkt, sondern weiter, und zinski? zwar um 6,3 % aufgestockt. Das bedeutet gleichzeitig ein spürbares, ja ein- Hans-Gerd Strube (CDU/CSU): Ja, bitte schön. schneidendes Absenken der Ansätze für Forschung und Entwicklung um fast 450 Millionen DM wie auch für die Beschaffung um fast 690 Millionen DM. Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD): Herr Kollege, Sie haben vorhin den Beitrag meines Kollegen Jungmann Eine große Unbekannte ist die Finanzierung von damit qualifiziert, daß Sie gesagt haben, es wäre keine humanitären Einsätzen und friedenssichernden Maß- Botschaft an die Bundeswehr. Sind Sie noch immer nahmen im Auftrag der Völkergemeinschaft. Auch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10547

Hans-Gerd Strube wenn sich die SPD zur Zeit noch verweigert und damit sen wir auch weiterhin auf eine Beteiligung der ihre Regierungsunfähigkeit dokumentiert: deutschen Indust rie an Forschungs-, Entwicklungs- und Beschaffungsprogrammen achten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zurufe von der SPD) Wenn auch Verteidigungsaufträge kein Mittel zur Wir werden mit der Bundeswehr an der Seite der Struktur- und Beschäftigungspolitik sein sollen, ihre friedliebenden Völker künftig unseren Beitrag zu Wirkung auf Struktur, Beschäftigung und Konjunktur leisten haben. dürfte aber immer spürbar sein. Dieser Gesichtspunkt kann daher gerade vor dem Hintergrund der progno- (Zuruf von der SPD) stizierten Stagnation der wirtschaftlichen Entwick- Schon jetzt danke ich allen Soldaten im Namen lung nicht nur von untergeordneter Bedeutung sein. meiner Fraktion, die in Sarajevo, Kambodscha oder Wir brauchen eine deutsche Rüstungsindustrie. Denn Somalia ein vorher nie gekanntes Risiko eingehen. der Bedarf für eine strukturgerechte Ausrüstung der Der Haushalt des Verteidigungsministers kann aller- Bundeswehr wird nach einer nur kurzen Denkpause dings solche zusätzlichen Mittel kaum aufbringen, wieder voll befriedigt werden müssen. Wir brauchen zumal deren Höhe kaum kalkulierbar sein wird. eine Bundeswehr. Deshalb müssen wir auch dafür sorgen, daß ihre materiellen Bedürfnisse erfüllt wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den. Vor dem Hintergrund der zusätzlichen Belastungen Wir haben den Verteidigungshaushalt im Rahmen halten wir die Kürzungen des Verteidigungshaus- des gerade noch Vertretbaren gekürzt, müssen uns halts für 1993 für gerade noch vertretbar, vielleicht aber bewußt machen, daß der Verteidigungshaushalt auch im Einzelfall für hilfreich, weil die noch nicht auf Dauer keine weiteren Einsparungen mehr her- abgeschlossene Umstrukturierung der Bundeswehr gibt. insoweit eine Denkpause verträgt, in der neue Ver- träge nur in Ausnahmefällen abgeschlossen werden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sollen. Der Anzug für den Verteidigungshaushalt ist knapp (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) genäht, er kneift etwas und muß möglicherweise Wir sollten aber trotz der Notwendigkeit größtmögli- demnächst etwas geweitet werden. cher Sparsamkeit an Vorhaben von besonderer mili- (Zuruf von der SPD: Oder die Bundeswehr tärischer Bedeutung, wie z. B. Kampfwertsteigerung muß abspecken!) Kampfpanzer Leopard 2, festhalten. Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion Meine Damen und Herren, bestehende Verträge wird diesem Haushalt ihre Zustimmung geben. müssen zwar grundsätzlich erfüllt werden, sollten aber auch auf ihre Strukturgerechtigkeit überprüft (Zurufe von der SPD) und ggf. verändert werden. Ich denke hierbei vor - Ich möchte aber noch fortfahren. Denn in dieser allem an das neue europäische Jagdflugzeug. Wir wissen, daß für die Entwicklung des Jägers 90 lang- Debatte ist der Be richt des Verteidigungsausschusses fristige vertragliche Verpflichtungen bestehen und, zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung, bliebe es bei den bestehenden Verträgen, 1993 weit betitelt „Bericht über den Stand der Verhandlungen mehr als die noch veranschlagten 520 Millionen DM mit den NATO-Entsendestreitkräften über die Schlie- benötigt würden. Wir wollen den Verteidigungsmini- ßung des Luft-Boden-Übungsplatzes ,Nordhorn ster nicht zum Vertragsbruch ermuntern. Vielmehr Range'" , mit aufgerufen. sind wir davon überzeugt, daß der Bundesminister der Meine Damen und Herren, die Bundesregierung Verteidigung zusammen mit allen Partnern der war durch einstimmiges Votum des Auswärtigen Jäger-90-Entwicklung eine Änderung bestehender Ausschusses, des Petitionsausschusses, des Verteidi- Verträge herbeiführt und am Ende ein der neuen Lage gungsausschusses sowie des Plenums des Deutschen angepaßtes, vor allem aber billigeres neues europäi- Bundestages aufgefordert worden, in Verhandlungen sches Jagdflugzeug entwickelt wird, das schließlich mit unseren Bündnispartnern die Schließung des auch gebaut und bezahlt werden kann. Luft - Boden - Übungsplatzes „Nordhorn - Range" zu er- (Zurufe von der SPD) wirken. Die Bundesregierung erklärt in ihrem Bericht, daß weder die Entsendestreitkräfte noch die deutsche Dabei sollte auch darauf geachtet werden, daß die für Luftwaffe auf die Nutzung des Platzes verzichten den Jäger 90 bisher investierten Mittel nicht in den können. In Zukunft sollen drei vergleichbare Plätze, Sand gesetzt werden und deshalb die gewonnenen nämlich Siegenburg, Wittstock und Nordhorn-Range, Erkenntnisse für ein neues europäisches Jagdflug- als Übungsplätze genutzt werden. zeug weitgehend genutzt werden. Um dem berechtigten Protest der lärmgeplagten (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig! — Bevölkerung zu entsprechen, hat der Verteidigungs- Zuruf von der SPD: Das hat Ihnen die ausschuß die Regierung aufgefordert: Rüstungsindustrie aufgeschrieben!) Erstens. Die Flugeinsätze werden auf alle drei Unter Wahrung der atlantischen Partnerschaft müs- Plätze gleichmäßig verteilt. Dadurch wird der Anflug sen wir weiterhin europäische Lösungen mit einer auf Nordhorn-Range spürbar verringert. angemessenen Beteiligung der deutschen Industrie anstreben, die leistungsstark und im Bündnis wettbe- Zweitens. Ein generelles Flugverbot wird für die werbsfähig wie auch dialogfähig bleibt. Deshalb müs Schulferienzeit gefordert. 10548 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Hans-Gerd Strube Drittens. Zur Überwachung der Flugeinsätze sollen mitansehen zu müssen, wie unschuldige Menschen regelmäßig Sky-Guard-Geräte eingesetzt werden. Tag für Tag niedergemetzelt werden, und ich frage Viertens. Das Bundesministerium der Verteidigung mich manchmal, wie es sein wird, wenn der Winter wird aufgefordert, eine Untersuchung des seit 1945 stärker Einzug in die umkämpften Regionen Jugosla- durchgehend genutzten Platzes auf Bodenbelastung wiens hält. Ich brauche die allgemeine Schreckensvi- zu veranlassen. sion wohl nicht weiter auszuführen, daß sich mit dem Fünftens. hereinbrechenden Winter auf Grund der unzumutba- ren Zustände und der desolaten Versorgungslage über viele Menschen in den Kampfgebieten ein wei- Herr Kollege Strube, der Vizepräsident Hans Klein: ßes Leichentuch legen wird. Kollege Klejdzinski hat ein weiteres Fragebedürfnis. Meine Damen und Herren, ich sage es ganz offen, Hans-Gerd Strube (CDU/CSU): Ja, wenn ich in diese Perspektive bedrückt mich. Und ich spreche diesem Zusammenhang vielleicht noch einen Satz wohl im Namen des ganzen Volkes: Wir sollten weiter sagen darf. alles daransetzen, humanitäre Hilfe für diese unschul- digen, notleidenden Menschen zu leisten. Fünftens. Die Ergebnisse sind dem Verteidigungs- ausschuß jährlich zu berichten. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD) Als Wahlkreisabgeordneter stelle ich fest, daß die verabschiedeten Punkte nur als Schritte zu einer Ich möchte hier auch einmal die Frage stellen, ob es völligen Schließung von Nordhorn-Range gesehen angesichts der schwierigen Situation auf dem Flugha- werden können. 45 Jahre Fluglärm sind für die fen von Sarajewo nicht möglich ist, lebenswichtige betroffene Bevölkerung genug. Auch hier sollte gel- Güter mit dem Fallschirm abzuwerfen. ten: Einer trage des anderen Last. Ich begrüße, daß nunmehr endlich seitens der UNO Bitte schön, Herr Kollege. Ich bin mit meinen stärkere Sanktionsmechanismen beschlossen worden Ausführungen zwar am Ende, aber Sie dürfen Ihre sind. Ich wünsche mir, daß das Handelsembargo auch Frage gern noch stellen; denn ich habe noch etwas auf dem Land und an der Donau wirksamer durchge- Zeit. setzt wird, als dieses derzeit der Fall ist. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD): Herr Kollege, SPD) stimmen Sie meinen Ausführungen im Verteidigungs- Dabei stellt sich natürlich die Frage, warum und ob ausschuß zu, daß es zum gegenwärtigen Zeitpunkt das deutsche Schiff in der Adria nicht genauso tätig aus sicherheitspolitischen und auch aus übungspoliti- werden soll, wie die Schiffe unserer Verbündeten. schen Gründen in keiner Weise notwendig ist, an Nordhorn-Range festzuhalten? Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Thiele, der Kollege Oostergetelo möchte, was mir leider ein (CDU/CSU): Herr Kollege,- ich Hans-Gerd Strube wenig spät aufgefallen ist, weil der Kollege Horn zum würde Ihnen da gerne zustimmen, denn Nordhorn Teil die Debatte auch im Stehen verfolgt, gern eine Range liegt in meinem Wahlkreis. Sie können sich Frage stellen. denken, daß ich mit dem Protest der Bevölkerung täglich befaßt bin. Nun sagt die Bundeswehr in ihrem Bericht, den Sie als Mitglied des Verteidigungsaus- Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Bitte sehr. schusses auch zur Kenntnis genommen haben — wenn ich mich recht erinnere, sogar zustimmend Jan Oostergetelo (SPD): Herr Kollege, weil ich das, zur Kenntnis genommen haben —, daß auf diesen was Sie zu Jugoslawien gesagt haben, teile, habe ich Übungsbetrieb nicht verzichtet werden kann. M an eine Frage: Wir haben hier in diesem Haus im Aus- weist darauf hin, daß drei Viertel solcher Übungen wärtigen Ausschuß auf Bitten des ehemaligen Mini- schon ins Ausland verlegt sind und daß man auf die sterpräsidenten der polnischen Republik beschlossen, drei Plätze, die von mir genannt worden sind, zukünf- die Bundesregierung zu bitten, besonders Bedrängte tig nicht verzichten kann. Ich würde alles tun, wenn es in den Lagern, einige tausend, sofort zu übernehmen. mir gelingen würde, Nordho rn-Range zu schließen. Können Sie mir sagen, ob nun daraus endlich etwas Ich werde an diesem Auftrag, den ich von meinen wird, oder müssen auch diese noch warten, wo es ein Wählern habe, weiterarbeiten. einstimmiges Anliegen aller drei Parlamentsfraktio- Danke schön. nen war? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der CDU/CSU: Sie waren vorhin nicht hier! Es ist schon alles gesagt!) Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele. Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Ich vermute, Herr Ooestergetelo, daß Sie die Debatte an diesem Tag in Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Sehr geehrter Herr diesem Hause sehr aufmerksam verfolgt haben, auch Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die wenn Sie möglicherweise nicht die ganze Zeit anwe- Diskussion um den Verteidigungetat führt zunächst zu send sein konnten. Der Außenminister hat auf eine der Frage, wie es um unsere eigene Sicherheit bestellt ähnliche Frage eines Kollegen Ihrer Fraktion schon ist. Dieses führt dann gleich weiter zu der Frage, wie es geantwortet und klargestellt, daß wir mit 235 000 um die Sicherheit anderer Menschen bestellt ist. Ich Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien mehr finde es außerordentlich bedrückend, in Jugoslawien Menschen aufgenommen haben als die restliche Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10549

Carl-Ludwig Thiele Europäische Gemeinschaft zusammen. Diesen Wor- Demokraten, den wir für diese wichtige Frage benö- ten des Außenministers kann ich mich inhaltlich voll tigen, nicht feststellen und entsprechenden Einsätzen anschließen. nicht zustimmen. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU sowie (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der bei Abgeordneten der SPD — Abg. Jan SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Oostergetelo [SPD] meldet sich zu einer wei teren Zwischenfrage) Lassen Sie mich allerdings zu der Überschrift des Artikels der FAZ vom heutigen Tage zu diesem Herr Präsident, wenn Sie gestatten, würde ich gerne Thema erklären, daß ich hier kein großes Streitthema in meiner Rede fortfahren, denn es ist nun wirklich die zwischen den Koalitionsparteien erkennen kann, weil Frage, ob es sinnvoll ist, Debatten, die wir gerade vor die Position der F.D.P. seit langem klar ist. Das einer Stunde hier geführt haben, wieder aufzuneh- bedeutet natürlich, daß sich die SPD bewegen muß. men. Ich freue mich, auch an dieser Stelle dem Bundes- kanzler in seiner vorzüglichen Rede von heute mor- Vizepräsident Hans Klein: Sie müssen ein regelrech- gen zustimmen zu können, in der er erklärte, daß die tes Nein sagen, denn ich muß Sie noch einmal einsichtigeren Teile der SPD die Notwendigkeit einer fragen. solchen klarstellenden Änderung des Grundgesetzes erkannt hätten. (Zuruf von der F.D.P.: Kolbow!) Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Herr Präsident, Sie erhalten ein regelrechtes Nein zu der nächsten Frage — Richtig, auch Kolbow. Dem kann ich nur zustim- in dieser Angelegenheit. men. Der Kollege Kolbow hat während dieser Passage Ich möchte noch einmal an dem Ansatz anfangen, der Rede des Bundeskanzlers auch applaudiert. Das wo ich stehengeblieben war. Es stellt sich die Frage, habe ich gesehen. Das halte ich auch für vernünf- warum und ob das deutsche Schiff in der Adria nicht tig. genauso tätig werden soll, wie die Schiffe unserer (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Verbündeten. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Insbesondere freue ich mich, daß auch der von mir Ich sage hier deutlich: Ich sehe eine gleichwertige hochgeschätzte, leider verstorbene Ehrenvorsitzende Teilnahme des deutschen Schiffes dann gerne, wenn der SPD, Willy Br andt — dem nun wirklich niemand dieses von einem breiten Konsens innerhalb der kriegslüsterne Gedanken nachsagen konnte —, diese Bevölkerung wie auch innerhalb dieses Hauses getra- Auffassung vertreten hat. gen wird. Ich finde es außerordentlich bedauerlich, daß sich die SPD dieser Aufgabe verschließt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Jäger 90 beschäftigt uns weiter. Über die letzten Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen- aus Diskussionen in diesem Zusammenhang bin ich ziem- dem Beschluß, den der Bundeshauptausschuß der lich erstaunt. Ich gehe allerdings davon aus, daß der F.D.P. im Mai 1991 in Hamburg gefaßt hat, zitieren: Verteidigungsminister in seiner Rede auch auf dieses Wir als Freie Demokraten vertreten die Auffas- Thema eingehen wird. sung, (Zuruf von der SPD: Das ist die Frage!) — und daran hat sich nichts geändert — Beachtenswert scheint mir allerdings die Feststellung daß Deutschland nach seiner Vereinigung und zu sein, daß bis vor einiger Zeit uns Parlamentariern nach der vollen Herstellung seiner Souveränität — und ich war Mitglied der Arbeitsgruppe Jäger 90 — an der Durchsetzung von Entscheidungen des erklärt wurde, daß wir eine Ersatzbeschaffung für die Weltsicherheitsrates mit Streitkräften unserer Phantom, um die es letztlich geht, ab 1998 benötigen Bundeswehr mitwirken soll. Das soll sich auch auf würden. Nunmehr höre ich aus dem Verteidigungsmi- Einsätze der Bundeswehr im Rahmen von UN- nisterium, daß diese Notwendigkeit erst ab dem Jahre Friedenstruppen und auf Kampfeinsätze erstrek- 2002 besteht. ken, die auf Entscheidungen des Weltsicherheits- rates beruhen. Wir wollen dafür die verfassungs- (Zuruf von der SPD: Demnächst sagen Sie rechtlichen Voraussetzungen schaffen. Liberale 2005!) werden an dem Bruch der von allen bisherigen Um dieses in aller Deutlichkeit zu sagen: Ich ver- Bundesregierungen getragenen verfassungs- stehe die aktuelle Diskussion vor dieser Zeitachse rechtlichen Auffassung nicht mitwirken. nicht oder nicht richtig. Sollten wir uns an der Produk- So weit unser Hamburger Beschluß. tion eines Flugzeuges beteiligen, so werden wir hier- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) für Produktionsvorbereitungen von etwa fünf bis sechs Jahren benötigen, also frühestens 1995, 1996. Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich Sollten wir uns dazu entschließen, ein Jagdflugzeug in anfügen: Es gibt eine Diskussion über die Frage, ob Lizenz in Deutschland zu fertigen, so müßten wir diese Einsätze verfassungsrechtlich zulässig sind oder dabei einen Vorlauf von etwa drei Jahren einkalku- nicht. Wir vertreten aber die Auffassung, daß diese lieren, also Entscheidungsbedarf ab 1999. Frage nicht rechtlich, sondern politisch entschieden werden muß, und deshalb sind wir für eine klarstel Ich möchte an dieser Stelle aber auch herausstellen, lende Verfassungsänderung. Solange diese nicht daß aus meiner Sicht nach wie vor auch die Über- gegeben ist, können wir den breiten Konsens der nahme gebrauchter Flugzeuge ernsthaft geprüft wer- 10550 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Carl-Ludwig Thiele den sollte. Überall auf der Welt sollte nach meiner Bewegung bekomme, dann kann ich auch Ausgaben- Auffassung weiter abgerüstet werden, blöcke aus den bisherigen Verträgen in die Folgejahre (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem verschieben und dabei mit den Vertragspartnern und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit der Industrie weiterverhandeln. Das ist ja beab- sichtigt. und die KSE-Staaten haben ja die Reduzierung ihrer konventionellen Waffen beschlossen. Auf Grund des- Wenn ich die SPD in diesem Zusammenhang richtig sen sollte die Übernahme gebrauchter Flugzeuge verstehe — darüber hatte ich schon einmal mit dem auch unserer alliierter Verbündeten geprüft wer- Kollegen Horn eine Diskussion —, dann hat die SPD den. immer gesagt: Da wir der Entwicklung des Jägers 90 nicht zugestimmt haben, stimmen wir aus Prinzip (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der diesen Mitteln im Haushalt nicht zu. Das ist eine SPD) Auffassung, die ich akzeptieren kann. Ich kann dies Auf Grund der Jahre, in denen Entscheidungen zu allerdings nicht als echten Einsparungsvorschlag treffen sind, nämlich frühestens 1995, 1996, ist mir durchgehen lassen; denn das wäre zu leicht. nicht verständlich, daß hier ein Entscheidungsdruck erzeugt wird, den ich nicht nachvollziehen kann. Wenn ich das jetzt saldiere, bin ich bei 2 Milliarden DM Einsparungen aus dem Verteidigungsetat. Bei der (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem ganzen Debatte, die wir gestern gehört haben, die wir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) heute gehört haben — Frau Matthäus-Maier, Herr Die Koalitionsentscheidung vom 1. Juli 1992, keine Klose —, möchte ich einmal sehen, wie das Paket, was Mittel für die Produktionsvorbereitung des Jägers 90 wir uns an Zusatzaufgaben auch und insbesondere für in den Haushalt aufzunehmen, ist für mich nach wie die neuen Bundesländer vornehmen, mit diesen 2 Mil- vor gültig. liarden DM finanziert werden kann; denn weitere Lassen Sie mich kurz auf die Einsparvorschläge der konkrete Sparvorschläge in nennenswerter Größen- SPD eingehen. Dort wurde gesagt, wir müssen die ordnung habe ich seitens der SPD nicht vernom- deutsche Einheit finanzieren, wir müssen nur den men. Verteidigungsetat ein bißchen stärker rasieren. Die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Sparvorschläge der SPD, über die wir nachher auch — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: abzustimmen haben, sehen 2,6 Milliarden DM vor. In Genauso ist das! Einen Groschen hundertmal diesen 2,6 Milliarden DM sind gut 500 Millionen DM ausgeben!) für die Entwicklung Jäger 90 vorgesehen. Da kann ich Ihnen sagen — und das habe ich schon mehrfach Meine sehr geehrten Damen und Herren, die F.D.P. ausgeführt, ist im Grunde genommen auch jedem hat sich auf ihrem Bundesparteitag in Bremen klar Kundigen bekannt und wird auch von der SPD einge- gegen eine Berufsarmee und für eine Wehrpflichtar- räumt —, daß dieser Betrag gezahlt werden muß, weil mee entschieden. Da dieses ebenfalls Bestandteil der wir entsprechende Verträge geschlossen haben. Wir Koalitionsvereinbarung ist, gibt es für andere Überle- sind vertragstreu, und die Vertragstreue ist auch von gungen derzeit keinen Raum. der SPD bislang nicht angezweifelt worden. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, daß wir uns (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Situation die Frage stellen müssen, ob wir demnächst Vizepräsident Hans Klein: Jetzt möchte der Kollege tatsächlich noch eine Streitmacht von 370 000 Mann Jungmann Sie etwas fragen. präsent halten müssen. (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Gerne. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe in der Vergangenheit immer die Auffassung Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Herr Kollege vertreten, zunächst abzuwarten, wie sich die Situation Thiele, stimmen Sie mit mir überein, daß dann Ihre im östlichen Teil Deutschlands und östlich von Streichung im Haushaltsausschuß über 300 Millionen Deutschland entwickelt. Ich freue mich, hierbei fest- DM Makulatur war und die im übernächsten Jahr auf stellen zu können, daß der Abzug der Roten Armee den Haushalt zukommen? War das wieder eine Täu- aus Deutschland weiter planmäßig bzw. überplanmä- schung der Öffentlichkeit? ßig verläuft. Die letzten Truppen der Roten Armee haben gerade vor einigen Tagen Thüringen verlas- sen. Diese neue Situation, die sich einstellt, muß Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Herr Jungmann, ich stimme Ihnen nicht zu. Sie müssen die vertraglichen bezüglich ihrer Konsequenzen diskutiert werden. Verpflichtungen und die Fälligkeiten der Rechnun- Erlauben Sie mir in der mir zur Verfügung stehen- gen betrachten, die aus diesen vertraglichen Ver- den Redezeit abschließend noch den Hinweis, daß der pflichtungen resultieren. Verteidigungsetat auf seiner Ausgabenseite gegen- (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wollen über dem Haushalt 1992 um 3,76 % gesunken ist. wir abwarten?) Angesichts der Tariferhöhungen und der Inflations- rate bedeutet dieses real eine Reduzierung des Ver- Diese Fälligkeiten sind zu überprüfen; denn das kann teidigungsetats um fast 8 %. auch ein Strecken der Entwicklungsausgaben sein. Nur wissen Sie selber, daß 95 bis 98 % der Entwick- Ich finde, daß dieses schon eine beachtliche Lei- lungsmittel vertraglich gebunden sind. Nur die Fällig- stung ist, die wir dem Verteidigungsministerium und keit interessiert mich. Wenn ich in der Fälligkeit den Beschäftigten zumuten. Ich möchte mich an dieser Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10551

Carl-Ludwig Thiele Stelle ausdrücklich bei den Soldaten und den Zivilbe- Der Haushalt ist nach wie vor der drittgrößte Haus- schäftigten der Bundeswehr für die Bereitschaft halt — ein unverantwortliches Phänomen angesichts bedanken, an der notwendigen Reduzierung der der sozialen Erfordernisse hier im Land und auch Bundeswehr mitzuwirken, was persönlich bestimmt angesichts der Tatsache, daß die Milliarden wohl nicht immer einfach ist. wirklich besser zur Linderung der Not in der soge- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nannten Dritten Welt oder zur Stützung der Wirtschaft in Osteuropa geeignet wären. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte mich abschließend bei meinen Mitberichter- Diese Auffassung, daß dieser Haushalt wesentlich stattern für die faire Zusammenarbeit bedanken und drastischer gekürzt werden müßte, als hier vor allem empfehle im Namen der F.D.P., dem Etat des Einzel- seitens der Regierungskoalition vorgegeben wird, plans 14 zuzustimmen. teile ich immerhin mit 65 % der Bevölkerung, die laut Infas ebenfalls der Meinung sind: Die Kürzung, die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) uns präsentiert wird, ist keine; es muß weiter gekürzt werden. Wir haben einen Antrag eingebracht, der eine Ich erteile das Wort der Vizepräsident Hans Klein: Streichung in Höhe von insgesamt 16,5 Milliarden DM Abgeordneten Andrea Lederer. vorsieht. Wenn der politische Wille vorhanden wäre, dann wäre das ein Weg, um tatsächlich sinnvoller eine Umverteilung in diesem Land vorzunehmen. Ich bin Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! aber so nüchtern und realistisch, anzunehmen, daß Meine Damen und Herren! Ich freue mich, wenn es ein dieser politische Wille hier nicht existiert. bißchen ruhiger bleibt als heute nachmittag. Wir werden den Anträgen der SPD als Geste, daß sie (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Wir auch, wenn in die richtige Richtung gehen, zustimmen, obwohl Sie ruhiger bleiben!) wir der Meinung sind, die vorgeschlagenen Kürzun- Dann brauche ich nicht zu brüllen, brauche nicht gen reichen einfach nicht aus. Es könnte natürlich meine Stimmbänder und auch nicht Ihre Ohren zu wesentlich mehr getan werden. strapazieren. Nun aber zu der eigentlich wichtigen Frage, näm- Es lohnt sich eigentlich nur aus wenigen Gründen, lich zu der künftigen Sicherheitspolitik: Was der überhaupt über diesen Verteidigungshaushalt zu Bundesverteidigungsminister Rühe vorgeschlagen debattieren. Ich kann dem Kollegen Jungmann nur hat, nämlich über ein sogenanntes Entsendegesetz für zustimmen: An sich ist es wirklich eine Zumutung, die Bundeswehr die Entsendung von Bundeswehrsol- über einen Haushalt zu diskutieren, wenn man gleich- daten in UNO-Blauhelmeinsätze und später vermut- zeitig weiß: Den Nachtragshaushalt gibt es sicher; es lich auch Kampfeinsätze zu regeln, das hat in etwa die werden gravierende Entscheidungen über 1994 am Qualität und das Niveau von dem hier lang diskutier- 17. Dezember gefällt. Im Grunde wird schon wieder ten angeblichen Staatsnotstand in der Asylfrage. die Öffentlichkeit darüber getäuscht, was tatsächlich geplant wird. Was hier vor wenigen Wochen als Variante zur Änderung des Art. 16 angeboten wurde — die Rede Ich beteilige mich auch nicht mehr weiter an der war von einem sogenannten Asylsicherungsgesetz, ewigen Klarstellung von diesen Zahlendrehereien, was allerdings wenig mit Sicherung des Asylrechts zu die auch mein Vorredner gerade wieder vorexerziert tun hatte —, das wird uns hier nun als Variante zur hat. Änderung der Verfassung angeboten, um den militä- (Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Das wäre rischen Handlungsspielraum zu erweitern. ein Segen für uns! — Weiterer Zuruf von der Es ist eigentlich schon erstaunlich, finde ich, mit CDU/CSU: Für die ganze Republik!) welcher Dreistigkeit Mitglieder der Bundesregierung Es hat keinen Sinn. Wir haben das auch schon oft mittels der Androhung eines Verfassungsbruches Mit- genug nachvollzogen. glieder dieses Parlaments, also Mitglieder eines Ver- Im Mittelpunkt der Debatte muß freilich die fassungsorgans, zur Änderung der Verfassung brin- geplante Sicherheitspolitik in der Zukunft stehen. gen, zwingen wollen; denn nichts anderes ist der Deshalb nur kurze Anmerkungen zum eigentlichen Hintergrund der Drohung, daß man per Entsendege- Haushalt: Es wurde selbst vom Verteidigungsminister setz die SPD sozusagen dazu bringen will, einer noch gesagt, er ist ein Übergangshaushalt; ich bin darauf wesentlich weiter gehenden Änderung des Grundge- schon eingegangen. Tatsächlich findet keine Abrü- setzes zuzustimmen, als sie ohnehin — leider, sage ich stung statt, sondern eine qualitative Aufrüstung und gleich dazu — auf ihrem SPD-Parteitag schon eine Umrüstung. beschlossen hat. (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist Ich komme noch einmal auf die Rede von Herrn doch Quatsch!) Schäuble heute morgen zurück. Er hat nun wirklich sozusagen CDU-strategisch alle Bereiche abgeklap- — Natürlich. Sie werden das spätestens am 17. De- pert. Es ist einfach schlicht gelogen, daß seitens der zember schwarz auf weiß nachlesen und hier wahr- CDU/CSU in den letzten 40 Jahren klar gewesen sei, scheinlich begründen. für eine Erweiterung der Aufgaben der Bundeswehr Entscheidend wird das sein, was uns dann präsen- sei eine Grundgesetzänderung nicht notwendig. tiert wird. Wir werden dann auch wissen, wo sicher- Nein, es war wirklich Konsens sämtlicher Bundesre- heitspolitisch der Hase langläuft. gierungen, daß natürlich verfassungsrechtlich ein 10552 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Andrea Lederer über die Landesverteidigung hinausgehender Einsatz nicht nur für den Verteidigungshaushalt, sondern, so der Bundeswehr ausgeschlossen ist. prognostiziere ich, für den gesamten Haushalt. (Zuruf von der CDU/CSU: Es wäre ja eine Wenn jetzt sozusagen als Entgegenkommen eine Beleidigung, wenn Sie zustimmen wür angeblich verfassungspolitische Klarstellung ange- den!) boten wird und dann noch gleichzeitig festgeschrie- ben werden soll, daß dies ohne jegliche Einschrän- Wir werden auch weiterhin um jeden abrüstungs- und kung militärischer Handlungsfreiheit geschehen darf friedenspolitischen Schritt kämpfen, d. h. wir werden — so Herr Schäuble heute morgen —, dann ist eines Widerstand leisten gegen eine Politik, wie sie die klar: Der Widerspruch, den der Verteidigungsminister Bundesregierung in außen- und sicherheitspolitischer in seiner Fraktion zum Vorschlag eines Entsendege- Hinsicht betreibt. setzes erfahren hat, eines Entsendegesetzes, das hier Ich danke Ihnen. mit Ihrer Mehrheit, mit einer einfachen Mehrheit, (Beifall bei der PDS/Linke Liste) beschlossen werden soll, dieser Widerspruch ist rein taktischer Natur. Vizepräsidentin : Nun hat die Kolle- Insofern muß ich auch dem Fraktionsvorsitzenden gin Vera Wollenberger das Wo rt . der SPD, Herrn Klose, widersprechen, der offenkun- dig mit der Auffassung des Bundesverteidigungsmini- sters nicht ganz klargekommen ist bzw. nicht verstan- Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den hat, inwieweit er sozusagen ein Entsendegesetz Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei aller vorschlägt, wo er sich auf der anderen Seite hier Heiterkeit, die in der letzten Stunde ab und zu in immer gerne als Abrüstungsminister präsentiert hat. diesem Saale herrschte, dürfen wir nicht vergessen, daß die Haushaltsdebatte vor einem düsteren Hinter- Es ist mehr als klar: Herr Rühe ist mit einem grund geführt wird. Seit einem Jahr ist kaum ein Tag offenkundig verfassungswidrigen, also nicht nur ver- vergangen, an dem keine Angriffe von rechtsextremi- fassungsfeindlichen Vorschlag vorgeprescht. Er zeigt stischen Gewalttätern gegen Asylbewerberheime, damit, daß er ohne Rücksicht auf Verluste entschlos- Tätlichkeiten gegen Ausländer und politische Geg- sen ist, so oder so im Oktober 1993 Bundeswehrsolda- ner, Schändungen jüdischer Gedenkstätten und ten zu Blauhelmeinsätzen zu entsenden und so schnell Friedhöfe und provokatorische Aufmärsche stattfin- wie möglich, sowie der materielle und personelle den. Ausgerechnet an dem Wochenende, an dem eine Stand erreicht ist, die Bundeswehr auch zu Kampfein- türkische Frau und zwei Kinder ermordet wurden, sätzen zu mobilisieren. Es besteht also keinerlei verläßt Verteidigungsminister Rühe seinen bisheri- Unklarheit. Es ist völlig klar, wo es langgehen soll. Ich gen Kurs der politischen Vernunft und präsentiert der muß sagen: Die Verwirrung des SPD-Fraktionsvorsit- geschockten Öffentlichkeit Überlegungen zu einem zenden über die Auffassung von Herrn Rühe könnte - Ermächtigungsgesetz, Verzeihung: Entsendungsge- ich mir damit erklären, daß er vielleicht enttäuscht ist, setz, das der Bundeswehr erlauben soll, sich weltweit jetzt feststellen zu müssen, daß auch unter einem an Kampfeinsätzen der UNO zu beteiligen. Kanzler Rühe in einer Großen Koalition vermutlich Dieser unverständliche Ausrutscher ist keineswegs keine andere Politik als bei der jetzigen Bundesregie- durch den Schwenk zurück zur ursprünglichen Posi- rung herausspringen würde. tion, daß eine Beteiligung der Bundeswehr an UNO- Einsätzen einer verfassungsmäßigen Klärung be- Ich komme zum Schluß. Es tut mir in der Tat leid dürfe, behoben. Herr Minister, Sie sind mit Ihren — ich beziehe mich gern auf die Rede des Kollegen merkwürdigen Gedankenspielen nicht nur auf das Voigt in der Debatte über den vorherigen Einzel- Unverständnis und die verständliche Empörung Ihrer plan —, daß die SPD wohl doch weitergegangen ist, Kollegen gestoßen, sondern Sie haben auch anwe- als man in der Öffentlichkeit oder in den Medien den sende und nicht anwesende Sympathisantinnen und Eindruck hatte. Ich will noch einmal daran erinnern Sympathisanten zutiefst enttäuscht. Nicht nur Ihre — das wird immer wieder bestätigt; es ist uns übrigens Kollegen, sondern auch die Öffentlichkeit wartet von Herrn Lambsdorff heute noch einmal vorgeführt heute auf eine Erklärung von Ihnen. worden —, daß die Grauzone zwischen Blauhelmein- sätzen und Kampfeinsätzen immer grauer wird. Die Es wird von den Befürwortern von Kampfeinsätzen Entwicklung verläuft immer mehr in Richtung Kampf- der Bundeswehr immer wieder betont, daß Deutsch- einsätze. land seiner gewachsenen Verantwortung für den Frieden in der Welt gerecht werden müsse. Im Augen- (Manfred Richter [Bremerhaven] [F.D.P.]: Sie blick beweist aber dieses Deutschland gerade, daß es haben nicht zugehört!) mit den brennenden Problemen im Innern nicht fertig wird. Sie bleiben letztlich natürlich die Erklärung schuldig Trotz aller verbalen Beteuerungen und Betroffen- — ich teile nicht Ihre Auffassung zu Blauhelmeinsät- heitskundgebungen der verantwortlichen Politiker zen -, wo Sie den Pflock einrammen wollen, um eine entfaltet die rechtsextremistische Welle mit jedem solche Entwicklung oder eine Zustimmung zur Politik Tag brutalere Gewalt. Jüdische Mitbürger trauen dem der Bundesregierung zu verhindern. Staat die Fähigkeit, sie zu schützen, schon nicht mehr zu. Wenn diese Entwicklung so weitergeht — das Wir werden den Verteidigungshaushalt selbstver- habe ich an dieser Stelle schon einmal gesagt —, ständlich ablehnen. Aber diese Ankündigung gilt werden wir in Deutschland bald UNO-Truppen brau- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10553

Vera Wollenberger chen, um die bürgerkriegsähnlichen Zustände zu respektiert, ja sie waren beliebt. Den Jäger 90 gegen beenden. den erklärten Willen der Menschen in diesem Land Wie wäre es dann mit einer Beteiligung von Bun- bauen zu wollen — darüber sollten sich seine Befür- deswehrsoldaten an solchen UNO-Einsätzen? Die worter keinen Illusionen hingeben — wird zu gefähr- Frage ist nur scheinbar makaber, denn die Realitäten lichen gesellschaftlichen Verwerfungen mit unabseh- lassen leider inzwischen die schlimmsten Befürchtun- baren Folgen führen. gen zu. Diejenigen, die heute den Jäger 90 befürworten, Während Deutschland mit seinen akuten Proble- müssen sich dann dafür verantworten, Milliarden für men nicht zu Rande kommt, basteln fleißige deutsche sinnlose Rüstungsprojekte verpulvert zu haben, statt Arbeiter an den Sprengsätzen für blutige Auseinan- das Geld für die Gesundung des sozialen Systems dersetzungen „hinten weit in der Türkei". Damit oder, wie mein Kollege Poppe es heute gefordert hat, türkische Militärs in Kurdistan die „noch effektivere für die Bekämpfung der Fluchtursachen einzuset- Vernichtung weicher, halbfester und fester Ziele" zen. betreiben können, machen die Beschäftigten des Rüstungsunternehmens Eurometall Überstunden. Die Zum Schluß meiner Ausführungen möchte ich die streubombenähnlichen Granaten sollen noch vor Vorschläge des BÜNDNISSES 90 skizzieren. Für Weihnachten gegen „weiche Ziele" — sprich: Men- unsere Gruppe ist schon längst nicht mehr die Frage, schen — eingesetzt werden. ob es eine Änderung des Grundgesetzes geben muß, sondern die entscheidende Frage lautet: in welche Wir werden das nicht verhindern können, solange Richtung und mit welchem Ziel? Die Ziele unserer es kein verfassungsmäßig verankertes Rüstungsex- Gruppe mit dem von uns im Juni eingebrachten portverbot gibt. Dafür können wir mit an Sicherheit Antrag zur Änderung des Grundgesetzes sind eine grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß restriktive Auslegung des Streitkräfteeinsatzes, eine die Politiker jener Parteien, die sich gegen ein Einhegung ihrer Einsatzoptionen, eine eindeutige Rüstungsexportverbot sträuben, wieder ihre Betrof- Klärung der Grauzonen und eine Verlagerung der fenheit zum Ausdruck bringen werden, sobald mit Einsatzentscheidungen zum Parlament. deutschen Waffen und mit deutscher Munition oder mit dem bewährten deutschen Gas irgendwo in der Unsere Bundestagsgruppe hat dieses Anliegen in Welt ein Blutbad angerichtet worden ist. Oder Sie einem neuen Antrag, den wir erst kürzlich in den können, falls Sie den Verfassungsbruch bis dahin Bundestag eingebracht haben, präzisiert. Dieser gewagt haben, auch deutsche Soldaten hinschicken, Antrag mit dem Titel „Nichtmilitärische Unterstüt- um den mit deutschen Waffenexporten geschürten zung der Vereinten Nationen" macht deutlich, daß es Konflikt zu befrieden. sehr wohl möglich ist, die VN wirkungsvoll zu unter- Liebe Kolleginnen und Kollegen, inzwischen ist in stützen, ohne diese Angelegenheit auf eine militäri- allen Zeitungen über die Unfähigkeit der Politiker sche Frage zu reduzieren. Es ist auffallend, daß die geschrieben und darüber geklagt worden. Auch Poli- innenpolitische Diskussion über eine mögliche Betei- tiker beteiligen sich an dieser Schelte und be treiben ligung deutscher Soldaten an Kampfeinsätzen der VN larmoyante Selbstbezichtigungen. Das Wort von der auf der Grundlage des Kapitels VII der Charta die Politikverdrossenheit ist in diesem Parlament schon Aspekte einer wirkungsvollen Unterstützung der so oft gefallen, daß ich es nicht mehr hören kann. Die UNO auf eine militärische Frage verkürzt. Sicherheit Politiker und Politikerinnen von BÜNDNIS 90/DIE und Friedenssicherung sind aber mehr als militärische GRÜNEN waren sich in der letzten Fraktionssitzung Sicherheit. Mit diesem Antrag fordern wir ein Kontin- einig, daß sie Rücktrittsforderungen schon gar nicht gent zur Unterstützung von konfliktvermeidenden, mehr erheben mögen, weil sie inzwischen inflationär präventiven und friedensbewahrenden Maßnahmen geworden sind. Trotzdem scheinen die Regierenden der Vereinten Nationen, das nicht unter nationaler nicht gewillt zu sein, sich in ihrer Politik auf die Verantwortung, sondern im Rahmen eines Gewaltmo- inzwischen existenzbedrohenden Probleme einzu- nopols der Vereinten Nationen eingesetzt werden stellen. Im Gegenteil. Wenn einer einmal einen Schritt soll. in die richtige Richtung wagt und z. B. die längst Dieses Kontingent soll aus Freiwilligen bestehen, überfällige Entscheidung trifft, den Jäger 90 nicht zu die aus unterschiedlichen Organisationszusammen- bauen, ruhen und rasten die Rüstungslobbyisten hängen kommen können, Beamte und Angestellte der nicht, bis dieser Entschluß wieder rückgängig Katastrophenhilfe, Angehörige der Bundeswehr, der gemacht worden ist. Das Gezerre um den Jäger 90 Verwaltung, der Polizei und humanitärer Hilfsorgani- oder den Jäger Light — oder wie immer man ihn sationen sowie geeigneter Nichtregierungsorganisa- bezeichnen will — wirft ein bezeichnendes Licht auf tionen. Lediglich zur Erfüllung spezifischer Aufgaben, die politische Lage in Deutschland. Nicht Vernunft, für die nicht genügend geeignete Menschen zur sondern Lobbyismus prägt das politische Geschäft. Verfügung stehen, und für eine Übergangszeit kön- Ich habe in einer Rede den Jäger 90 mit der nen aus der Bundeswehr erst nach einer Änderung kaiserlichen Schlachtflotte verglichen, die sich des Grundgesetzes entsprechend unserem Vorschlag bekanntlich als nicht einsatzfähig erwies. Was ich maximal 2 000 Soldaten ebenfalls auf Grund freiwilli- aber in dieser Rede nicht ausgeführt habe, ist die ger Meldung zum VN-Unterstützungskontingent ab- bemerkenswerte Tatsache, daß ausgerechnet dieses kommandiert werden. Die dienstrechtliche Unterstel- sündhaft teure Lieblingsspielzeug der Militärs zur lung unter das BMVg wird für den Zeitraum der Keimzelle der Revolution wurde, die das kaiserliche Kommandierung aufgehoben. Die abkommandierten Regime hinwegfegte. Dabei wurden die Kriegsschiffe Soldaten tragen keine Uniform der Bundeswehr. Eine im Gegensatz zum Jäger 90 in der Bevölkerung Abstellung von Kampftruppen lehnen wir ab. Das 10554 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Vera Wollenberger UN-Unterstützungskontingent wird dem Auswärti- bezeichne das schlicht und ergreifend als unseriös, um gen Amt unterstellt. Dort wird an Stelle eines Gene- es ganz milde auszudrücken. ralstabes ein ziviler Koordinationsstab eingerichtet. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Diese Einheit soll bei Bedarf die Vereinten Nationen Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Roß in den folgenden Angelegenheiten unterstützen: täuscherei ist das!) Unterstützung bei der Bekämpfung von Natur- und Hungerkatastrophen, Unterstützung bei der Bekämp- Die direkte Bedrohung, unter der die deutsche fung von Umweltgefährdungen, Unterstützung bei Sicherheitspolitik jahrzehntelang gestaltet werden der Wahrung individueller Menschenrechte, Unter- mußte, ist weg. In der Öffentlichkeit entsteht ein stützung bei friedlicher Konfliktschlichtung — u. a. sogenannter Gorbatschow-Effekt, der dazu führt, daß Blauhelmmissionen —, Unterstützung bei der Durch- die Bundeswehr in eine Begründungskrise gerät. führung von Maßnahmen operativen Zwangs wie Aber die Risikobereiche sind nach wie vor da; sie sind wirtschaftlichen Sanktionen, Währungssanktionen, auch heute oft genug in der einen oder anderen Form völkerrechtlichen Sanktionen, kulturellen und sozia- genannt worden: der Zerfall der Sowjetunion, die len Sanktionen, elektronischen Sanktionen und Instabilitäten in Mittel- und Osteuropa, das Risiko am beschränkten militärischen Sanktionen. Rande Europas. Wo stehen wir? Das ist, kurz gesagt, die zu stellende Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollegin Wollen- Frage. Die Antwort ergibt sich schon aus Art. 1 des berger, würden Sie bitte zum Ende kommen. Grundgesetzes, nämlich aus der Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die menschliche Würde zu schüt- Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zen, oder aber — so verankert in der Satzung der Ich bin beim letzten Satz. — Der Bundeswehr werden Vereinten Nationen — aus dem Recht der individuel- zudem alle bisherigen Aufgaben im humanitären len und kollektiven Selbstverteidigung. Bereich entzogen Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswe- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das gen hat sich die Bundeswehr um die Landesverteidi- stimmt aber nicht!) gung sowie um die erweiterte Landesverteidigung zu und dem VN-Unterstützungskontingent übertragen. kümmern, die die Verteidigung des Bündnisgebietes Danke für Ihre Aufmerksamkeit. und auch die Übernahme von eventuell möglichen Aufgaben im Rahmen der NATO und der UNO (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der umschließt. Es gab ja so gut wie keinen Redner, der PDS/Linke Liste) dieses Thema hier nicht behandelt hat. Ich möchte dazu einen einzigen Begriff wiederholen, den unser Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht unser Fraktionsvorsitzender Dr. Schäuble heute morgen Kollege Hans-Werner Müller. gebraucht hat: Das, was aus Ihrer Richtung dazu heute - gekommen ist, verehrte Kollegen, ist sehr, sehr reali- tätsfern, um auch das sehr vorsichtig auszudrücken. Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): Frau Hier muß sich noch Erhebliches bewegen. Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- ren! Wir haben uns jetzt über Wochen und Monate mit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dem Haushalt des Bundesverteidigungsministers be- faßt. Da sich die beiden Vorrednerinnen in ihren Heute morgen hat UNO-Generalsekretär Ghali Ausführungen mit diesem Haushalt gerade nicht — so war den Medien zu entnehmen — gesagt, er befaßt haben, sondern über andere Dinge gesprochen würde es sehr begrüßen, wenn bei friedenserhalten- haben, brauche ich darauf auch nicht einzugehen. den Maßnahmen der UNO auch die Bundeswehr tätig würde. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Auch aus anderen Gründen (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Mir nicht!) würde das auch gut gefallen!) Wir haben jede Position buchstäblich hin und her gewendet und in der Endphase noch einmal kräftig In einer kleineren, aber moderneren und leistungs- herausgestrichen. Jeder Kenner der Materie, insbe- fähigen Bundeswehr müssen die notwendigen Bedin- sondere unter Ihnen, den Kollegen der SPD, ist bereit, gungen, die wir jetzt vorfinden, selbstverständlich im unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu erklären, daß Rahmen des deutschen Vereinigungsprozesses, mit- wir jetzt am Minimum dessen angelangt sind, was zur berücksichtigt werden. Insofern ist die Bundeswehr Aufrechterhaltung der Aufgabenstellung notwendig auch nicht von der Notwendigkeit zur Durchführung ist. „Der Anzug ist eng", wie Kollege Strube vorhin eines strikten Sparkurses in allen Bereichen ausge- gesagt hat. Und dann wird in den letzten Tagen erklärt schlossen. Aber bei all diesen Sparzwängen muß der — ob nun im Frühstücksfernsehen oder sonstwo —, Wille und die Fähigkeit zu einer glaubwürdigen dieser Haushalt sei nach wie vor der Steinbruch der Verteidigung unverzichtbare Voraussetzung für Un- Nation. Helmut Wieczorek hat gestern morgen im abhängigkeit, Sicherheit und Bündnisfähigkeit der Fernsehen von 5 Milliarden DM gesprochen, Bundesrepublik Deutschland bleiben. Insofern ist die- ser Haushaltsplan durchaus ein Haushaltsplan des (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Ver Übergangs. Das wichtigste Ziel ist die Sicherstellung steht der auch etwas von Verteidigung?) des Betriebes, die Abwicklung der laufenden Vorha- die mühelos herauszustreichen wären, Sie, Kollege ben. Ich wiederhole mich: Wir gehen, was die Finanz- Jungmann, eben von 2,6 Milliarden DM. Ich ausstattung betrifft, an die Grenze der Belastbarkeit. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10555

Hans-Werner Müller (Wadern) Weitere Kürzungen würden uns in Schwierigkeiten pflichtigen, Erhöhung des Weihnachtsgeldes, Anpas- mit tiefgreifenden Konsequenzen führen. sung der Leistungen nach dem Unterhaltssicherungs- Die Bundeswehr hat folgende Aufgaben: die zeitge- gesetz. Mit einem Wort: Wir haben die Arbeitsbedin- rechte Umsetzung des Personalabbaus und die Fort- gungen und die soziale Situation unserer Soldaten führung der strukturellen Neuordnung der Streit- und Wehrpflichtigen und ihrer Familien verbessert. kräfte. Wir haben in das Haushaltsgesetz dieses Bun- Zum anderen haben wir mit der Verabschiedung deshaushalts das Notwendige hineingeschrieben. Wir dieser Personalstruktur auch die sogenannte Führer- haben die notwendigen Beschlüsse gefaßt, um die und Ausbilderdichte geregelt, d. h. das Verhältnis Personalstruktur bis 1995 festzuschreiben, einschließ- zwischen Ausbildern und Auszubildenden. Verbes- lich der klaren Vorgabe für den Abbau des Zivilper- serte Ausbildung — mehr und bessere Ausbildung — sonals. Insofern ist dieser Haushalt hinsichtlich des steht dem Wehrpflichtigen vor Ort zur Verfügung. Um Personals zwar ein Haushalt des Übergangs, aber es einmal salopp auszudrücken: Es gibt jetzt mehr auch ein Haushalt der Planungssicherheit. Häuptlinge bei entsprechender Anzahl von Indianern. (Dr. Walter Fr anz Altherr [CDU/CSU]: So ist Auch dies erhöht die Motivation der Truppe. Ich habe es!) in den letzten Monaten als zuständiger Berichterstat- ter aus der Truppe sehr viel zustimmende Post erhal- Dazu ein paar kurze Bemerkungen. Ich spreche ten. Das ist ein klarer Beweis dafür, daß diese Dinge zunächst das militärische Personal an. Es wird sehr gut ankommen. bekanntlich in 1993 um fast 52 000 Stellen verringert. Dies ist eine ungeheure Anpassungsleistung. Zum Ich darf noch einen Satz zum Zivilpersonal sagen. Erreichen der Zielstruktur, die uns durch den Zwei- Beim Zivilpersonal stehen wir bekanntlich nicht unter plus-Vier-Vertrag vorgegeben ist, müssen in 1994 den Zwängen des Abbaus auf eine ganz bestimmte noch einmal 44 000 Planstellen wegfallen. Ich will Sie Zahl im Jahre 1994. Aber auch hier geht der Abbau im nicht mit Zahlen langweilen. Aber um diese Werte zu nächsten Jahr, also 1993, an die Zahl von 10 000 erreichen, um im Lichte dieser gestellten Aufgabe zu Stellen heran. In diesem Bereich kommt verschärfend verfahren, sind ungeheure Anstrengungen notwen- hinzu, daß diese Verwaltung seit dem Aufbau eine dig. unorganische Altersstruktur aufweist. So gehört mehr als die Hälfte der Beamten den Geburtsjahrgängen Wenn die Bundeswehr dann kleiner wird, muß sie von 1935 bis 1944 an. Es besteht hier die Gefahr der auch attraktiver werden. Deswegen wird sich dies im Überalterung, wobei erschwerend hinzukommt, daß Haushaltsgesetz wiederfinden. Es wird jetzt jedem jüngere Beamte zu anderen Dienstherren abwan- klar, wie sich die weiteren Abbauschritte bis 1994 dern. gestalten. Damit wird für jeden Soldaten, der in der Bundeswehr verbleibt, seine persönliche Perspektive (Beifall des Abg. Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]) erkennbar. Diese neue Personalstruktur wird be- Deswegen haben wir auch hier Laufbahnverbesse- schlossen. Sie bedeutet Planungssicherheit. rungen vorgenommen. Wir haben den dritten Wenn ich davon spreche, daß die Bundeswehr Hebungsschritt, der für 1994 vorgesehen war, auf attraktiver wird, so möchte ich der Bundesregierung 1993 vorgezogen. hier auch dafür danken, daß sie in den letzten Jahren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Aufstiegs - und Beförderungsmöglichkeiten in Der Verband der Beamten der Bundeswehr hat uns allen Laufbahnen verbessert hat. Wir als Koalition vor wenigen Tagen seine Entschließung zugeschickt, haben bei der Verabschiedung der Haushaltspläne in die er auf der Herbsttagung gefaßt hat. Dort lesen den zurückliegenden Jahren gerade bei den unteren wird, es sei ja wohl gelungen, in den letzten vier Besoldungsgruppen entscheidende Verbesserungen Jahren dank der Mithilfe aller beteiligten Stellen — erreicht. darunter sind ja wohl auch wir als Deutscher Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tag zu verstehen —, die Planstellenausstattung im Ich nenne das Stichwort „Unteroffizier mit Portepee Bereich der Bundeswehrbeamten aus der Phase des im Stau". Ich bin dem Haushaltsausschuß in seiner völlig Unzureichenden herauszuführen und in we- Gesamtheit dankbar, daß er diesen unseren Vorschlä- sentlichen Dingen den Erfordernissen der Aufgaben- gen gefolgt ist. stellung und der personellen Struktur anzugleichen. Herr Kollege Heistermann, Sie reden nach mir. Ich Ich bin dankbar für dieses Lob, das wir alle mitein- habe mir schon die Freude gemacht, die Presseerklä- ander verdient haben. Ich bin dankbar dafür, daß der rung Ihrer Fraktion durchzulesen. Gerade für diese Verband dies einmal anerkennend in seinen Verlaut- Leistung, die ich angesprochen habe, loben Sie uns. barungen erwähnt. Ich möchte mich schon jetzt dafür bedanken, daß das (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das in Ihrem Manuskript steht. kommt selten genug vor!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — Das kommt selten genug vor, Herr Ausschußvorsit- Meine Damen und Herren, so eröffnen wir, um nur zender. ein Beispiel zu geben, für die Offiziere des militärfach- Darf ich noch eine letzte Bemerkung machen. Wir lichen Dienstes jetzt neu die Besoldungsgruppe A 13. haben im letzten Jahr parallel zum Haushalt das Der Bundesinnenminister muß dazu noch Gesetze sogenannte Personalstärkegesetz und das Beamten- ausarbeiten. Wir bitten herzlich, daß er das schnell tut. anpassungsgesetz verabschiedet. Wenn wir auf der Weitere Verbesserungen sind: Erhöhung des Wehr- einen Seite abbauen und auf der anderen Seite soldes mit Abschlagszahlungen für unsere Wehr- aufbauen müssen, z. B. bei den Ämtern zur Anerken- 10556 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Hans-Werner Müller (Wadern) nung von Asylbewerbern und in ähnlichen Bereichen, Beispielsweise hat der Kollege Kolbow in einer so sind wir es schlicht und ergreifend dem Steuer- Presseerklärung im Juni gesagt: Rühe mehr und mehr zahler gegenüber schuldig, Übergänge zu schaffen, auf SPD-Kurs. — Ich will gar nicht auf das eingehen, damit man von der einen Verwendung im öffentli- was Sie gesagt haben, als der Minister 100 Tage im chen Dienst problemlos in eine andere übergehen Amt war. kann. Der Verteidigungsminister hat natürlich auch inten- Die Bundesregierung hat uns dazu einen Be richt siv bei der SPD Liebeswerbung gemacht. Das soll ja vorgelegt, der für meine Begriffe nicht sehr befriedi- nicht bestritten werden. Er wurde dadurch von den gend ist. Wir haben deshalb im Haushaltsausschuß um Medien fast in den Adelsstand erhoben. Sie wissen die Vorlage eines neuen Berichts bis Mitte März alle: Er wurde zeitweise als Kronp rinz genannt. Das nächsten Jahres gebeten, damit erkennbar ist, daß die mag daher rühren. Intention dieses Hauses vollzogen worden ist und wir Herr Minister, wenn Sie von der F.D.P. einen Rat greifbare Ergebnisse in diesem Zusammenhang vor- annehmen: Wer auf Kurs der Sozialdemokraten ist, liegen haben. gerät auf Schlingerkurs. Das haben wir ja hin und (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!) wieder auch gesehen. Meine Damen und Herren, ich habe dieser Tage ein (Dieter Heistermann [SPD]: Sie reden von schönes Zitat zu all diesen Zusammenhängen, die wir ihrer eigenen Vergangenheit!) in dieser Debatte ansprechen, gelesen. Herr Lapins ist — Frau Präsidentin, ich hoffe, die Zwischenrufe wer- der Autor des Aufsatzes „Die Bundeswehr vor neuen den nicht alle auf meine Redezeit angerechnet. Aufgaben und Herausforderungen". Dort war u. a. zu Aber das ist eine Sache von gestern. Wir haben hier lesen, daß nicht nur deutsche Waffen auf der Hitliste in der Haushaltsdebatte festgestellt: Der Kollege internationaler Begehrlichkeit stehen, sondern daß Jungmann hat wieder die alte Schlachtordnung her- mittlerweile auch die Militärs und Verteidigungsex- gestellt. Er hat seine Rede aus dem letzten Jahr perten aus den Ländern des ehemaligen Warschauer hervorgeholt, sie ein bißchen überarbeitet, und die Pakts inklusive der GUS sich die Klinke in die Hand Schlachtordnung war wiederhergestellt. geben, da sie sehr am spezifischen deutschen militä- (Zuruf von der CDU/CSU: Die hält er näch rischen Führungs-, Erziehungs- und Ausbildungskon- stes Jahr noch einmal!) zept interessiert sind. Herr Lapins schreibt, man könne von einem tiefen Vertrauen in die Politik der Bundes- Wenn ich richtig informiert bin, muß sich der regierung sprechen, daß ihre Armee in der zentralen Kollege Kolbow, der dem Verteidigungsminister Frage des Berufs- und Selbstverständnisses offenbar soviel Lob ausgesprochen hat, heute zurückhalten Vorbildcharakter besitze. und darf nicht sprechen. Das nehme ich auch mit Interesse zur Kenntnis. Ich meine, diese Ausführungen sind sehr, sehr (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das ist richtig. aber unverschämt!) - (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, unbestritten ist, daß der Mit diesem Haushalt geben wir der Bundeswehr Einzelplan 14 ein Sparetat ist. und den dort tätigen Menschen die Möglichkeit, die Arbeit in diesem Sinne fortzuführen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Sie gestatten eine Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Zwischenfrage des Kollegen Kolbow? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ja.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- Walter Kolbow (SPD): Herr Kollege Koppelin, darf lege Jürgen Koppelin das Wort. ich Sie fragen, aus welchem Reich der Träume und Phantasien Sie die Auffassung bezogen haben, daß ich heute hier nicht sprechen dürfe. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Vorbemerkung: Ich war Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ich will auf Ihre Frage gespannt auf das, was die Sozialdemokraten heute konkret antworten: Sie dürfen mich fragen. Aber Sie zum Verteidigungshaushalt sagen würden. wollen sicher noch ein bißchen mehr wissen. Ich habe (Dr. Karl-Heinz Klejdzinski [SPD]: Jetzt sind dem Monitor mit der Rednerliste entnommen, daß Sie wir erst einmal gespannt, was Sie sagen!) bisher nicht aufgeführt sind. — Nun hören Sie doch erst einmal zu. Sie scheinen ein (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Er darf ja spre bißchen vorlaut zu sein; aber die Kollegen haben mir chen, aber nur eine Zwischenfrage stellen!) schon gesagt, daß sei bereits in der Vergangenheit so gewesen. Ich habe Sie leider noch nicht so kennenge- Walter Kolbow (SPD): Darf ich noch eine Zusatz- lernt. frage stellen, Frau Präsidentin? Man durfte insoweit mit Recht gespannt sein, als Bundesminister Rühe seit Amtsantritt von den Sozial- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wenn es der Red- demokraten mit Lob und Anerkennung förmlich ner erlaubt. überschüttet wurde. (Zuruf von der SPD: Das war voreilig!) Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ja, ich erlaube es gern. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10557

Walter Kolbow (SPD): Hängen Sie immer der Statik — Schreiben Sie alles auf einen Zettel, und geben Sie des Blickes an, oder sind Sie auch geneigt, Herr ihn dem Kollegen Heistermann; er kann es nachher Kollege Koppelin, schlicht und einfach zur Kenntnis hier vortragen. zu nehmen, daß heute der Kollege Heistermann für Meine Damen und Herren, im Vordergrund unserer die sozialdemokratische Fraktion als zweiter Redner Sicherheitspolitik steht die Landesverteidigung. Lan- spricht, um ganz einfach deutlich zu machen, daß wir desverteidigung bedeutet, daß wir als Mitglied der viele gute Verteidigungspolitiker haben? NATO bereit sein müssen, auch die Staatsgebiete (Beifall bei der SPD) unserer Bündnispartner zu verteidigen, genauso wie diese bereit sind, unseren deutschen Boden zu vertei- digen. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Der Kollege Heistermann — damit will ich Ihre Frage beantworten — hat den Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, Verteidigungsminister nicht so mit Lob überschüttet, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Ich muß immer wie Sie es als Obmann das ganze Jahr über gemacht warten, bis Sie einmal eine kleine Pause machen, haben. Das wollte ich hier doch einmal feststellen. Das dann kann ich Sie fragen. können wir ja auch einmal durchaus positiv zur Kenntnis nehmen. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ich habe nur fünf Minuten Redezeit und muß schnell sprechen. Ich sagte bereits, daß der Einzelplan 14 ein Spar- haushalt ist. Ich finde, die Zahlen zeigen deutlich — es Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bitte, Frau Kolle- ist vorhin angesprochen worden —, wenn Sie 1992 gin Matthäus-Maier. und 1993 vergleichen: Es wird beim Verteidigungs- haushalt erheblich reduziert und gespart. Ich will Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Lieber Kollege Kop- dabei nicht verschweigen, daß wir als Freie Demokra- pelin, da Sie mehrfach auf die Rednerliste hingewie- ten sicher gern einen Haushalt gehabt hätten, der sen haben und darauf eingegangen sind, wer heute unter 50 Milliarden DM liegt. Nur kann man die redet bzw. nicht redet, und daraus wichtige Folgerun- Augen natürlich nicht davor verschließen, daß der gen ziehen: Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, Einzelplan eine ungesunde Struktur aufweist. Der daß heute von den 662 Abgeordneten mindestens 630 Anteil der Personalausgaben beträgt mittlerweile nicht reden? Was folgern Sie daraus? bereits mehr als 50 %. Das wird auf die Dauer so nicht (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) fortzuführen sein. Wir brauchen auch ausreichend Wir haben immer erklärt, Mittel für die Ausrüstung. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Wir beide kennen uns ja daß jedes Großprojekt, das zur Planung ansteht, auf ganz gut, liebe Ing rid Matthäus-Maier. Zunächst den Prüfstand muß; dazu sind wir bereit. Aber es wäre einmal folgere ich daraus, da ich die Debatten bisher eine Illusion anzunehmen, daß eine auf die Landes- verfolgt habe, daß meine Kollegin Ingrid Matthäus verteidigung ausgerichtete Bundeswehr in Zukunft - Maier für meinen Geschmack hier etwas zuviel redet. nicht auch eine moderne Ausrüstung braucht. Vielleicht sollte sie andere mehr zu Wort kommen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) lassen. Die Bundeswehr befindet sich in einem schwierigen (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der Übergangsprozeß. Daher müssen die Menschen in CDU/CSU — Dr. We rner Hoyer [F.D.P.]: Das den Streitkräften das Gefühl haben, daß sie nicht geht der Mehrheit der SPD-Fraktion auch so! allein gelassen werden. Eine weitere erhebliche — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Frage Reduzierung im Haushalt des Verteidigungsministers ist nicht beantwortet!) hätte zur Folge gehabt, daß die Angehörigen der — Von dir nehme ich keine Noten entgegen. Bundeswehr diese Reduzierung persönlich finanziell Ich darf hoffentlich weiterreden. Im Vordergrund hätten spüren müssen. unserer Sicherheitspolitik steht die Landesverteidi- Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn gung. wir im Haushalt weiter gestrichen hätten, wäre eine (Zurufe von der SPD) Wehrsolderhöhung in diesem Jahr einfach nicht — Frau Präsidentin, können Sie dafür sorgen, daß die machbar gewesen. Das muß man auch zur Kenntnis Sozialdemokraten zumindest etwas ruhiger sind? Ich nehmen. kann die Unruhe ja verstehen. (Dr. Karl-Heinz Klejdzinski [SPD]: Verbrei ten Sie doch nicht Gerüchte dieser Art!) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die Sozialdemo- — Sie dürfen hier sprechen, aber Sie sind bisher ja kraten sind im Moment ganz ruhig und lauschen nicht als Redner gemeldet worden. Inzwischen ver- Ihnen gebannt für noch insgesamt 29 Sekunden. mute ich: nicht ohne Grund. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Da unsere Welt nicht frei In aller Deutlichkeit: Bei allem Willen zum Sparen von Gefahren und Risiken ist, wird sich Deutschland und bei aller Bereitschaft zu weiteren Reduzierungen nicht verweigern können — da sollten die Sozialde- im Verteidigungshaushalt, die Angehörigen der Bun- mokraten wirklich zuhören —, wenn es um die Erhal- deswehr haben einen Anspruch auf Sicherheit in tung und die Durchsetzung des Völkerrechts geht. Wir ihrer persönlichen Lebensplanung. werden gegebenenfalls auch unseren militärischen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was haben Beitrag zur Durchsetzung internationalen Völker- Sie denn für einen Tick mit der Rednerli rechts unter UN-Mandat leisten müssen und werden ste?) uns nicht auf Blauhelmeinsätze beschränken können. 10558 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Jürgen Koppelin Ich will an dieser Stelle für die F.D.P., lieber Herr Soldaten und die zivilen Mitarbeiter der Bundes- Kollege Jungmann, klar und deutlich herausstellen, wehr. Wir danken für ihren vorbildlichen Einsatz und daß das alles ohne Grundgesetzänderung nicht geht. ihr vielfältiges Engagement. Unsere besten Wünsche Dabei meine ich, daß die Idee des Bundesverteidi- begleiten alle, die die Aufträge erfüllen, die das gungsministers, allein durch ein Entsendegesetz UN- Parlament beschlossen hat. Wir bitten Sie, Herr Rühe, Einsätze deutscher Soldaten zu legitimieren, schnell unseren Dank weiterzuleiten. wieder fallengelassen werden sollte. (Beifall bei der SPD) Frau Präsidentin, ich bin so oft unterbrochen wor- den, ich bitte um — — Meine Damen und Herren, unter der Überschrift „Bundeswehr vor dem Neubeginn" schrieb ein Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, ich bekannter Kommentator einer großen deutschen habe die Uhr immer abgestellt. Ich gebe Ihnen gern Tageszeitung im Jahre 1991: noch zehn Sekunden weiter, aber dann ist Schluß. Vom Verteidigungsminister ist keine kritische Bestandsaufnahme zu erwarten. Er übt den Pri- Jürgen Koppelin (F.D.P.): Das ist ein bißchen mat der Politik nicht aus. Er ist kein Reform- unfair. minister, er wickelt ab. Herr Verteidigungsminiter, bei Ihrem Amtsantritt Dieser Kommentar, erschienen in der „Süddeutschen sagte Ihr Staatssekretär Schönbohm: „Jetzt wird's Zeitung", galt Ihrem Vorgänger im Amt. Zitiert hat munter auf der Hardthöhe." Was die Diskussion um dies mein Kollege Walter Kolbow aus Anlaß der den Jäger 90 angeht, muß ich ihm recht geben. Da ist zweiten und dritten Lesung des Verteidigungshaus- es wirklich munter geworden. Für die F.D.P. kann ich haltes 1991. nur sagen: Es kann nicht angehen, immer rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln! Wir erwarten von Herr Minister Rühe, sehen Sie nicht die Gefahr, daß, Ihnen einen umfassenden Bericht im Verteidigungs- wenn man den Namen Stoltenberg durch den Namen ausschuß endlich einmal zum Thema Jäger 90. Rühe ersetzt, zunehmend eine Situation beschrieben Es wäre noch einiges mehr auch zu den Haushalts- wird, zu der Sie sich als Bundesverteidigungsminister beratungen zu sagen; aber, wie gesagt, auf Grund der hin bewegen? Zeit und der vielen Unterbrechungen lassen Sie mich (Beifall bei der SPD) zum Schluß nur sagen: Der Bundesverteidigungsmini- ster wird unsere Unterstützung haben, wenn wir das Sie sind schon jetzt eher ein Ankündigungs- als ein Gefühl haben, daß wir zu einer guten kollegialen Durchsetzungsminister; aber damit passen Sie gut in Zusammenarbeit mit dem Minister kommen. Wir sind diese Regierung der „Als-ob-Politik". jedenfalls dazu bereit, Herr Minister. (Beifall bei der SPD) Vielen Dank für Ihre Geduld. - (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Von den kleinen Glanzlichtern, Herr Rühe, die Sie zu Beginn Ihrer Amtsübernahme aufblitzen ließen, ist nicht mehr viel übriggeblieben. Sie bewegen sich Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Kop- wieder in den alten Trampelpfaden Ihrer drei Vorgän- pelin, ich wollte Ihnen nur sagen: Sie haben die Zeit ger, die seit 1982 Verantwortung für die Sicherheits- der Zusatzfragen nicht angerechnet bekommen, und politik der Bundesrepublik Deutschland trugen. da bin ich sogar noch großzügig verfahren, sehr großzügig. (Peter Kurt Würzbach [CDU/CSU]: Zur Nun hat als nächster der Kollege Dieter Heister- Sache!) mann das Wort. Wie großmundig waren damals die Ankündigungen dieser Minister, Kollege Würzbach, was man alles aus Dieter Heistermann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe dieser Bundeswehr machen werde! In der Tat, es Kolleginnen und Kollegen! Es war schon interessant, gehört schon eine Menge „Können" dazu, die Bun- das Stimmungsklima mindestens zwischen zwei Per- deswehr dahin zu bringen, wo sie heute steht, sie so sonen hier zu registrieren. Wenn man das dann noch herunterzuwirtschaften. Das macht Ihnen so schnell auf die Koalition übertragen würde, kann man sich keiner nach. vorstellen, wie sich dort der innere Zustand tatsächlich abzeichnet. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja lächer lich!) (Beifall bei der SPD) Kollege Müller (Wadern), wir Sozialdemokraten Mit jedem neuen Minister erfolgten angebliche Neu- sind in der Lage, unsere Redebeiträge vorher vorzu- orientierungen, die aber sehr bald im Archiv ver- legen, weil wir eine klare Position haben. Was meinen schwanden. Mit einer solchen Politik, Herr Rühe, Sie, wie froh wir gewesen wären, wenn wir für die motiviert man aber weder Soldaten noch zivile Mitar- heutige Debatte die Planungsvorstellungen des Mini- beiter. sters bereits auf dem Tisch gehabt hätten! Dann hätte Mit der von der Koalition betriebenen Politik wur- es eine Debatte über Positionen geben können; aber den viele Menschen in der Bundeswehr getäuscht und der Minister war ja bis heute nicht in der Lage, seine enttäuscht. Ehrlich gesagt, mit dieser Politik konnten Positionen schriftlich festzulegen. Sie keinen Staat machen. Daran ändert auch die Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, mein Beförderungsschwemme nichts, die Sie für das näch- erstes Wort richte ich in der heutigen Debatte an die ste Jahr vorsehen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10559

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Heister- von einer in sich geschlossenen Politik ausgehen. Von mann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen einer ordnenden H and ist jedenfalls nichts zu spüren. Koppelin? In der Tat, jetzt wären handelnde Personen gefragt, die sich diesen neuen Herausforderungen ganz Dieter Heistermann (SPD): Wenn sie so qualifiziert bewußt widmen, die die inneren Probleme der Bun- ist wie seine Anmerkungen, dann gerne. deswehr lösen. Und womit beschäftigt sich unser Verteidigungsmi- (F.D.P.): Sie ist bestimmt qualifi- Jürgen Koppelin nister vordringlich? Seine größere Sorge gilt anschei- ziert. — Lieber Herr Kollege Heistermann, können Sie nend dem Einsatz der Bundeswehr außerhalb des uns mal mitteilen, warm Sie das letzte mal Ihren NATO - Vertragsgebietes. Inzwischen trifft auch schon Truppenbesuch gemacht haben? Das scheint schon der Innenminister Überlegungen, die Bundeswehr an sehr lange her zu sein. den deutschen Ostgrenzen einzusetzen, ohne auf den Widerspruch des zuständigen Bundesverteidigungs- Dieter Heistermann (SPD): Also, Kollege Koppelin, ministers zu stoßen. Der Verteidigungsminister sei- ich bin gerne bereit, mit Ihnen meinen Terminkalen- nerseits fabuliert statt dessen über ein „Entsendege- der auszutauschen. Wenn Sie noch ein bißchen zuhö- setz" der Bundeswehr, ohne die Verfassungslage zu ren, dann werden Sie noch viel Neues erfahren berücksichtigen. Die Probleme im eigenen Hause können. scheint er nicht mehr wahrzunehmen. Es scheint Mit der von der Koalition betriebenen Politik wur- vielmehr so, daß das Haus ihn wieder auf Linie den viele Menschen in der Bundeswehr, wie ich eben gebracht hat: sagte, getäuscht und enttäuscht. Die großen Heraus- forderungen und Aufgaben für die nächsten Jahre (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lagen bereits 1990 fest. Es bestand Auftragsklarheit Ein etwas plötzlicher Gesinnungswandel von wohl darüber, die Bundeswehr einschließlich ehemaliger überlegter Konsenspolitik zu parteitaktisch motivier- NVA-Soldaten auf 370 000 Mann zu reduzieren. Fest ter Konfrontationspolitik. „Der Verteidigungsminister stand auch, daß eine Umgliederung auf die neuen kriecht zu Kreuze" kommentiert heute zutreffend eine Aufgabenstellungen notwendig war und eine Neusta- Tageszeitung. Er opfert tatsächlich die eigene Glaub- tionierung der Truppe erfolgen mußte. Ebenso war würdigkeit dem sehr durchsichtigen Kalkül des Kanz- klar, daß der Abbau des Personals im militärischen lers. Dabei ist klar — ich freue mich, daß wir das hier und zivilen Bereich sozial abgefedert vorzunehmen bestätigt bekommen haben —, daß auch die F.D.P. war. dabei nicht mitmachen kann und wird. Wie hat die Bundesregierung diese Aufgaben ange- packt? Welche Lösungsschritte hat sie umgesetzt? Wir Das „Haus Bundeswehr" — um es in diesem Bild halten fest: Keines der vorgenannten Probleme ist einmal auszudrücken, Herr Minister — bedarf aber gelöst. In all den Jahren wurde nicht neugestaltet und dringend der Renovierung. Die Probleme der Bundes- sinnvoll geplant. Da wurde faktisch für den -Papier- wehr liegen nicht im Außenbereich, sondern sie korb gearbeitet. In der von Ihnen zu vertretenden liegen im Innern. Zu Recht erwarten die Soldaten bei Politik kommt zum Ausdruck, wie hilflos Sie gegen- der Umstrukturierung, daß ihre persönlichen Belange über diesen Problemen standen und stehen. und die Belange ihrer Familien Bach- und zeitgerecht berücksichtigt werden. Da sind Sie tatsächlich Lassen Sie mich hierfür nur einige wenige Beispiele gefragt. Noch immer herrscht große Unsicherheit anführen. Der Bundesminister der Verteidigung sieht darüber, wo sie letztlich mit ihren Familien verblei- sich nicht in der Lage, die Infrastrukturkosten im ben. Bevor Sie sich mit den Einsatzmöglichkeiten der Zusammenhang mit der Um - , Zwischen - und Neusta- Bundeswehr befassen, Herr Rühe, schaffen Sie erst tionierung der Streitkräfte der Bundeswehr zu benen- einmal klare Rechtsverhältnisse für unsere Soldaten. nen. Der zuständige Staatssekretär im Bundesministe- Denn die müssen nämlich den Kopf hinhalten. rium der Verteidigung räumt inzwischen ein, daß die Streitkräftestationierungsplanungen in Ost und West (Beifall bei Abgeordneten der SPD) im Detail noch „nachgesteuert" werden müssen. Auf Ich kann Ihnen nur raten, diese Gesetze und Vor- gut deutsch heißt das: Wir haben uns vergaloppiert. schriften alsbald im Bundestag einzubringen. Inzwischen pfeifen es nämlich die Spatzen von den Dächern, daß die Stationierungsentscheidung vom Nicht mehr zu übersehen sind die Instabilitäten August 1991 große Folgekosten nach sich ziehen wird. innerhalb der Bundeswehr. Noch immer fehlt eine In vielen Standorten fehlen die militärischen Einrich- klare Positionierung der Personalstruktur von 370 000 tungen sowie die Infrastruktur, um die neuen Trup- Soldaten. Immer offenbarer werden die Zielkonflikte penteile sachgerecht unterzubringen. An vielen Stel- bei der weiteren Entwicklung der Bundeswehr. Die len ist das Stationierungskonzept sozusagen in den Einflußgrößen Auftrag der Streitkräfte, Umfang und Sand gesetzt. Struktur, Ausrüstungs- und Haushaltsmittel bilden ein Angesichts leerer Haushaltskassen ist es unverant- magisches Viereck, da jede Veränderung einer dieser wortlich, eine Politik des „Weiter so" fortzusetzen. Größen die Anpassung von wenigstens einer der Wer geglaubt hatte, mit dem Bundeshaushalt 1993 anderen unausweichlich macht. würden weisungs- und richtungsgebende Beschlüsse Das Feldheer umfaßt heute drei Korpskommandos, gefaßt, sieht sich abermals enttäuscht. Da werden denen jeweils — entsprechend dem Einzelauftrag — keine klaren Entscheidungen getroffen, sondern man eine unterschiedliche Zahl von Divisionen zugeordnet behilft sich auch diesmal wieder mit globalen Minder- ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist weniger denn ausgaben und tut so, als könne man in der Kontinuität je gefährdet. Dennoch kommen zu den drei Korpsstä- 10560 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Dieter Heistermann ben das Eurokorps, und ein fünftes, das Deutsch/ unterziehen. Noch haben Sie die Möglichkeit, umzu- Niederländische Korps, ist in Planung. Das ist gera- steuern und wesentliche Kosten zu sparen. dezu eine Inflation von Stäben. Die Entscheidung zur Bei aller notwendigen Kritik — Kollege Mü ller Aufstellung weiterer Korpsstäbe kann nur schärfstens (Wadern), Sie haben es angesprochen — wollen wir kritisiert werden. nicht verschweigen, daß mit der Öffnung der Besol- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dungsgruppe A 13 für die Offiziere des militärfachli- chen Dienstes und der Möglichkeit, vorübergehend Offenbar scheint auf diesem Wege der Kampfeinsatz über tausend Planstellen der Besoldungsgruppe A 7 von Truppenteilen der Streitkräfte außerhalb des zu nutzen, NATO-Vertragsgebietes vorgesehen zu sein. Das ist von unserer Verfassung aber nicht gedeckt und wird (Hans-Werner Müller [Wadern] [CDU/CSU]: sich auch in absehbarer Zeit nicht ändern. Allen Wir nehmen das Lob entgegen!) Bestrebungen, auf kaltem Wege die Streitkräfte der um die im Beförderungsstau stehenden Soldaten zum Bundeswehr zu Einsätzen außerhalb des Bündnisge- Oberfeldwebel/Oberbootsmann zu befördern, ein biets heranzuziehen, muß eine klare und deutliche Durchbruch gelungen ist. Gemeinsam mit den Koali- Absage erteilt werden. tionsfraktionen wurde erreicht, für die be troffenen Soldaten endlich etwas zu tun. Wir sollten darauf (Beifall bei der SPD) achten, daß das Umsetzen dieser Maßnahmen recht Es ist schon eine Zumutung, Herr Minister, daß im bald erfolgt. Haushalt 1993 noch Projekte enthalten sind, von Zum Antrag der Koalitionsfraktionen auf Privatisie- denen wir wissen, daß sie das Jahresende nicht rung der Heimbetriebsgesellschaften einige kurze wird überleben werden. Der Bundeswehrplan 1994 Anmerkungen. Staatssekretär Dr. Wichert erteilte zeigen, was überhaupt noch geht. Die Wahrheit und Ihrem Organisationsstab die Weisung, Verbesse- Klarheit des Bundeshaushalts gilt natürlich nicht nur rungsvorschläge für ein funktionierendes und wirt- für den Finanzminister. Auch der Verteidigungsmini- schaftliches Kantinensystem zu erarbeiten. Nun liegt ster hat seinen Haushalt zu verantworten. Erst nach eine Lösung mit einer Empfehlung vor, die den der Verabschiedung des Etats soll über die Neupla- Belangen im Sinne der Bundeswehr und der Soldaten nung der Streitkräfte und deren Ausrüstung entschie- gerecht wird. Entgegen dieser Empfehlung wollen die den werden. Ob daraus wirklich mehr als ein Windei Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zum 1. Ja- wie bei Ihrem Vorgänger Stoltenberg wird, kann mit nuar 1993 das Kantinenwesen der Bundeswehr priva- Recht bezweifelt werden. tisieren. Das ist aber der falsche Weg. Wir lehnen ihn Wenn man dann aus der Bundeswehr hört, daß ab. Wie wollen Sie als Dienstherr, Herr Minister, Ihrer sogar die Musterung von Wehrpflichtigen eingestellt Fürsorgepflicht nach § 31 des Soldatengesetzes werden muß, weil die Haushaltsmittel verbraucht eigentlich gerecht werden? Was machen Sie eigent- sind, und auch keine Eignungsverwendungsprüfun-- lich, wenn die 2,5%ige Abgabe der Heimbetriebslei- gen mehr durchgeführt werden können, ter als Betreuungsmittel ausbleiben? Ich schätze, hier geht es um eine Summe von rund 9 Millionen DM (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Und da wollt ihr jährlich. immer noch sparen!) Lassen Sie mich noch eine kurze Anmerkung zum wird die falsche Prioritätensetzung im Verteidigungs- Jäger 90 machen. Wir begrüßten im Juli 1992 Ihre haushalt deutlich. Entscheidung, den Jäger 90 nicht zu beschaffen. Nun (Ina Albowitz [F.D.P.]: Haben Sie schon ein hört man vom Kollegen Bötsch und zahlreichen Ver- öffentlichungen in den Medien in den letzten Tagen, mal einem nackten Mann in die Tasche gefaßt?) daß Sie sich nicht an den Beschluß vom 30. Juni 1992 halten werden. Das ist eine schöne Mogelpackung, Wenn dann berichtet wird, daß Dienstreisen bereits die Sie, Herr Minister, der Öffentlichkeit angeboten persönlich vorfinanziert werden müssen, aber im haben. Erlauben Sie mir deshalb die offene Frage: Hat Januar erst abgerechnet werden dürfen, dann rundet Sie Ihr Wahlergebnis auf dem CDU-Parteitag etwa sich das Bild so richtig ab. zum Umfallen bewogen? Seit Jahren werden bei den Gebührnisämtern Ober- Im übrigen: Wie sieht die künftige Luftverteidigung stunden angeordnet, aber man ist nicht in der Lage, in der jetzigen sicherheitspolitische Lage aus? Wel- die Organisationskraft durch moderne Mittel zu ver- ches Konzept für eine Luftverteidigung haben Sie, stärken. Anstatt unnötigen Ballast abzuwerfen, rudert Herr Minister, das es erlaubt, eine abgespeckte Ver- man hilflos weiter. Macht es angesichts der Haushalts- sion des Jägers 90 mit mehr als 90 Millionen DM pro lage eigentlich Sinn, mit riesigem Finanzaufwand Stück einzuführen, obwohl sich die vom Verteidi- Standorte und Standortverwaltungen aufzulösen, um gungsausschuß eigens eingesetzte Arbeitsgruppe diese an neuer Stelle wieder aufzubauen, intakte „Künftige Luftverteidigung" damit noch nicht hinrei- Kreiswehrersatzämter zu verlegen und Bekleidungs- chend befassen konnte? Das zeigt auch, wie ernst lager neu zu errichten? Was ist das für eine Politik, die — oder besser gesagt: wie wenig ernst — Sie das Geld für nicht nötige Neubauten hat, aber kein Geld Parlament nehmen. Angesichts der großen Haushalts- für Untersuchungen von Wehrpflichtigen? probleme sollte weder das Flugzeug Jäger 90 noch eine abgemagerte Version, ein Jäger light, für die Wir empfehlen Ihnen deshalb dringend, die Neuor- Bundeswehr beschafft werden. ganisation der Territorialen Wehrverwaltung und des Rüstungsbereichs einer erneuten Überprüfung zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10561

Dieter Heistermann Die fundamental geänderten sicherheitspolitischen ausräumen wollen — Sie sprechen von 5 Milliarden Rahmenbedingungen — Sie selbst haben festge- und 10 Milliarden DM, die gar nicht im Haushalt sind, stellt —: „Eine existentielle militärische Bedrohung die Sie aber herausnehmen wollen —, werden Sie Deutschlands gibt es nicht mehr" — lassen nicht zu, nicht erreichen können, daß in dieses Haus gute, neue Rüstungsprojekte zu beginnen und laufende solide Mieter einziehen. Darin unterscheiden wir uns fortzuschreiben. Bestimmen Sie erst einmal den Auf- von Ihnen. Wir machen eine Sicherheitspolitik; aber trag der Bundeswehr unter den neuen sicherheitspo- mit Ihren Argumenten machen Sie eine Verunsiche- litischen Bedingungen! Schaffen Sie damit Planungs- rungspolitik in unserer Bundeswehr. sicherheit! Wenn man sich dann noch die hohe Bin- dungswirkung der Verpflichtungsermächtigungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) für den mittelfristigen Finanzplan anschaut, erkennt Herr Kollege Heistermann, Sie machen es mal man sehr schnell, daß sie nicht nur mit heißer Nadel, wieder elegant: Sie berufen sich auf eine Stellung- sondern so hart auf Rand genäht worden ist, daß die nahme der Hardthöhe zur Heimbetriebsgesellschaft. parlamentarischen Spielräume faktisch genommen Herr Kollege Heistermann, ich würde mir wünschen, sind. daß Sie sich bei anderen Entscheidungen im Vertei- Lassen Sie mich noch eine kurze Anmerkung zum digungsbereich auch einmal auf die Anregungen und Übungsplatz Nordhorn-Range machen. Die Regie- Argumente der Hardthöhe beziehen würden. Da hät- rung ist verpflichtet — ich kann nur unterstreichen, ten wir viel mehr Einigkeit. Sie machen es so, wie es was Kollege Strube hier gesagt hat —, endlich mit den ihnen gerade paßt. Aber diese Argumentation zur anderen alliierten Streitkräften Verhandlungen dar- Ablehnung unseres Vorschlages ist sehr schwach. über aufzunehmen, daß es zu einer erheblichen Redu- Meine Damen und Herren, die Haushaltsberatun- zierung der Belastung der Nordhorn-Range kommt. gen geben regelmäßig Gelegenheit, zwischen Regie- Ich hoffe, daß der Bericht, wie die Verhandlungen und rung und Opposition über den richtigen Weg der Gespräche mit den anderen Partne rn geführt worden Politik zu streiten. Dies trifft vor allem dann zu, wenn sind, recht bald den Verteidigungsausschuß erreichen sich herausgestellt hat, daß Lösungen aus der Vergan- wird. genheit nachweislich heute nicht mehr die Problem- Herr Minister, halten Sie Ordnung im eigenen lösungen für die Zukunft sein können, auch wenn Haus! Es bedarf dringend der Renovierung, sonst wird einzelne das behaupten. aus einer ehemals intakten Armee eine orientierungs- Meine Damen und Herren, ich spreche über die lose, in tiefer Sinn- und Identitätskrise befindliche Betreuung unserer Soldaten in den einzelnen Kaser- Bundeswehr. nen und Standorten durch die bislang staatliche (Zuruf von der CDU/CSU: Fast wie die Heimbetriebsgesellschaft. Ich möchte gleich deutlich SPD!) machen: Ich spreche nicht über die Unteroffiziers- und Diese Kritik galt damals dem Minister Stoltenberg. Sie Offiziersheimgesellschaft, sondern lediglich über die sind auf dem besten Wege, die gleichen Fehler zu Heimbetriebsgesellschaften, in denen die Heimbe- wiederholen. triebsleiter vor Ort ihre Aufgaben erfüllen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das seit 1975 bestehende Betreuungssystem unter Draußen reden Sie immer von einer engen Zusam- der Federführung der HBG muß mittlerweile in einem menarbeit mit der SPD-Fraktion. Nicht darüber reden, ganz anderen Umfeld arbeiten als noch Mitte oder sondern tun, das sollten Sie! Wir haben uns im Ende der 70er Jahre. Nach altem Strickmuster ist Interesse der vielen Menschen, die in der Bundeswehr dieses System für die Zukunft nicht mehr tragfähig. verantwortungsvoll ihren Dienst leisten, militärisch Wir stehen in der Verantwortung für ein tragfähiges, und zivil, Sachlösungen nie verschlossen. So werden effizientes Betreuungssystem. Wir tragen die Verant- wir auch künftig politisch handeln. wortung für die Betreuung unserer Soldaten heute und in der Zeit nach der geplanten Truppenreduzie- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. rung und nach der neuen Standortfestsetzung. Dieser (Beifall bei der SPD) Verantwortung wollen wir gerecht werden. Die staat- liche Heimbetriebsgesellschaft wird privatisiert. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- Warum wollen wir sie privatisieren? Zum einen aus lege Karl Stockhausen das Wort. grundsätzlichen Erwägungen. Unser Regierungspro- gramm will die bislang erfolgreich geleistete Privati- sierungsarbeit fortsetzen, wo es nur geht und wo aus Karl Stockhausen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! übergeordneten Gesichtspunkten ein Zwang zum Meine Damen und Herren! Herr Kollege Heister- öffentlichen Unternehmen nicht besteht. Ich denke mann, Sie sprachen von dem „Haus Bundeswehr". mich hier einig mit allen. Die Aufgaben der HBG Wir sind uns ja wohl einig, daß dieses Haus einen sehr gehören nicht zum Ke rn der Staatsaufgaben; sie ist wichtigen Punkt in unserer Gesellschaft darstellt. folglich zu privatisieren. Es soll auch hier das Prinzip Dann muß ich Ihnen sagen: Wenn man in dieses Haus der Subsidiarität gelten. noch gute Mieter hineinhaben will, kann man doch nicht anfangen, es abzureißen und zu demontieren. Zum anderen wollen wir eine Privatisierung, um bestehende Mängel zu beheben. Ein grundlegender (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der Mangel des bestehenden Kantinensystems besteht SPD: Das kann man ja nicht mehr hören!) darin, daß die vermeintlich selbständigen Kantinen- Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie pächter keinen bedeutsamen Einfluß auf die Aufga- das weiterführen und ein Zimmer nach dem anderen benwahrnehmung der HBG als zentraler Einkaufsge- 10562 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Karl Stockhausen sellschaft haben. Die Pächter können Kosten und Probleme angehen. Da gibt es bei uns keinen Pardon. Leistungen der staatlichen Gesellschaft weder beein- Also, Rudi, abwarten; wir haben noch einige Zeit! flussen noch überwachen, obwohl ihr wirtschaftlicher (Heiterkeit) Erfolg in wesentlichen Teilen von der HBG abhängt. Meine Damen und Herren, wir werden dabei sicher- stellen, daß auch zukünftig für das Wohl der Soldaten Beide Gründe sprechen dafür, die HBG als staatlich gesorgt ist, wie es unserer Verpflichtung entspricht. beherrschtes Unternehmen aufzugeben. Die Privati- Wir werden auch die Versorgung der Soldaten in sierung der HBG soll am 1. Januar 1993 beginnen und entlegenen und kleinen Standorten weiter gewähr- nach und nach, aber zügig und vollständig umgesetzt leisten. Das läßt sich vertraglich zwischen den Verant- werden. wortlichen des Bundes und den Kantinenpächtern (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) regeln. Dazu bedarf es noch nicht einmal einer Wir werden dafür sorgen, daß auch zukünftig für Gesetzesänderung. das Wohl der Soldaten gesorgt ist, wie es unsere Im Zuge der Umsetzungen werden wir neue Über- Verpflichtung ist. legungen anstellen und neue Versorgungsstrategien mit dem Ziel einer optimalen Be treuung und einer Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Stock- abwechslungsreichen, bedarfsgerechten Verpfle- hausen, Kollege Walther hätte eine Zwischenfrage. gung zu wirtschaftlichen Bedingungen verfolgen. Die Notwendigkeit, die materiellen und personellen Karl Stockhausen (CDU/CSU): Aber selbstver- Ressourcen der Bundeswehr in Zukunft zu konzen- ständlich, mein Kollege Rudi Walther immer! trieren, verlangt auch Konsequenzen für die Bewirt- schaftung von Truppenküchen und Betreuungsein- Rudi Walther (Zierenberg) (SPD): Herr Kollege richtungen. Sie zwingt uns alle, den eingefahrenen Stockhausen, Ihre sachkundigen Ausführungen las- Trott zu überdenken und zu überlegen, ob neue, sen bei mir die Schlußfolgerung zu, daß Sie der tragfähige Konzepte hier helfen und Haushaltsmittel kantinenpolitische Sprecher Ihrer Fraktion im Vertei- effizienter eingesetzt werden können. — Das war nur digungsausschuß sind. ein Tip, Rudi. Hättest du zugehört, hättest du es (Heiterkeit bei der SPD) gemerkt. In dieser Eigenschaft werden Sie mir sicherlich erklä- Meine Damen und Herren, wir müssen aus starren, ren können, warum zwar die Kantinen für die Mann- unabänderlichen Systemkorsetten heraus und uns schaften, aber nicht für Unteroffiziere und Offiziere mehr an wirtschaftlich vertretbaren Lösungen orien- privatisiert werden sollen. Können Sie sicherstellen, tieren. Darüber müssen wir mit der Truppe, mit den daß nach der Privatisierung der Kantinen für die Verantwortlichen in der Verwaltung und mit dem Mannschaften dort die gleichen geistigen Getränke Bundesverband der Heimbetriebsleiter reden. wie für Unteroffiziere und Offiziere ausgeschenkt - Meine Damen und Herren, die Regierungskoalition werden? will das Betreuungssystem für die Zukunft fit machen. (Heiterkeit) Da soll an erster Stelle die Leistung stehen, eine Leistung, die die Nachfrage deckt und den Anforde- Karl Stockhausen (CDU/CSU): Herr Kollege Wal- rungen gerecht wird, aber auch eine Leistung, die sich ther, wir machen es so, wie es ein vernünftiger Mensch lohnt. beim Essen von Klößen macht: Wir essen einen nach Die uns ans Herz gelegten Belange der Soldaten dem andern und nicht alle auf einmal. werden auch in Zukunft höchsten Stellenwert besit- (Rudi Walther [SPD]: Ich spreche nicht von zen. Klößen, sondern von geistigen Getränken!) Ich danke Ihnen. Zum zweiten, Herr Kollege Walther, sind wir sogar noch durch die Ausführungen eines sehr bedeutenden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) SPD-Politikers ermutigt worden. Johannes Rau hat laut einer Zeitungsmeldung vom 12. November erklärt, daß er alle Funktionen, die in Nordrhein Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Bun- Westfalen der Staat ausübt, überprüfen und ganz desminister der Verteidigung, Herr Volker Rühe, das rigoros dort privatisieren wird, wo nicht Staatsinteres- Wort. sen irgendwie tangiert werden.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Gestatten Sie Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: noch eine Zwischenfrage? Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Verteidigungshaushalt 1993 wird um real 8 % Rudi Walther (Zierenberg) (SPD): Ich möchte doch unter dem Haushalt dieses Jahres liegen. Es sind gerne wissen, wo das überwiegend staatliche Inter- gewaltige Einschnitte mit tiefgreifenden Kosequen- esse bei den Kantinen für Unteroffiziere und Offiziere zen vorgenommen worden. Dennoch gilt mein erstes liegt. Wort des Dankes den Berichterstattern des Einzel- plans 14; denn es ist zu einer verantwortungsvollen Karl Stockhausen (CDU/CSU): Ich habe gerade Kooperation gekommen. Ich kann sagen, daß das gesagt, daß wir unsere Aufgaben nach und nach Haushaltsergebnis insgesamt, wenn auch mit großen erfüllen. Wir werden auch alle anderen anstehenden Schwierigkeiten, für die Bundeswehr tragbar sein Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10563

Bundesminister Volker Rühe wird. Vielen Dank für diese verantwortungsvolle Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kürzungen Kooperation! wirken sich besondes bei militärischen Beschaffungen aus, die Preissteigerungen unterworfen sind. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben erhebliche Substanzverluste — zum Teil von Ein Wort des Dankes geht auch an die Redner der mehr als einem Drittel — hinnehmen müssen. Die Fraktionen, vor allem an die SPD-Kollegen. Es ist gut, Bundeswehr hat damit eindeutig die Schmerzgrenze daß Sie endlich die alte Schlachtordnung wiederher- erreicht. Wer nun noch weiter in den Verteidigungs- gestellt haben. Das ist sehr beruhigend für mich und haushalt einschneidet — ohne konkrete Vorschläge, auch für Herrn Koppelin, wie Sie gemerkt haben. wie bei den Sozialdemokraten —, der nimmt der Bundeswehr die Chance, wenigstens ihren Ke rn (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) modern zu erhalten und sich auf neue Prioritätsaufga- Die Opposition muß Kritik üben. Dazu möchte ich ben vorzubereiten. ihr einen heißen Tip geben: Sie sollte an die Realität Ich bin überzeugt, daß dieser Beitrag, den die anknüpfen. Wer ein Zerrbild der Bundeswehr zeich- Bundeswehr leistet, der deutschen Einheit dient. Ein net, der wird nicht verstanden, weder in der Bundes- großer Teil dieses 50-Milliarden-Etats, nämlich meh- wehr noch in der Bevölkerung. rere Milliarden DM, wird eigentlich für die deutsche Einheit eingesetzt: Wir verlassen hervorragende (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Kasernen im Westen und gehen in den Osten. Wir Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wer hat verlassen Flugfelder im Westen und gehen in den das gemacht?) Osten. Das sind Investitionen für Deutschland, für die — Zum Beispiel der Kollege Heistermann. Nehmen deutsche Einheit. Auch das sollten Sie bei Ihrer Kritik Sie es mir nicht übel, aber bei dem einen oder anderen berücksichtigen. Teil der Debatte bzw. bei einigen Bemerkungen habe (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ich an die Soldaten gedacht. Vielleicht denken wir alle zuwenig an die Soldaten. Unsere Soldaten tun ihre Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, Arbeit heute nicht nur in Deutschland, sondern sie gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jung- sind auch im Ausland im Einsatz. Wie hätte sich die mann? Übertragung wohl auf dem Zerstörer in der Adria oder auf dem Flug nach Sarajewo oder in Kambodscha oder Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: in Somalia angehört? — Ich bin dankbar für die Worte Gern. der Unterstützung, die hier gesagt worden sind. Nur, insgesamt wird diese neue Dimension des Einsatzes Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Herr Minister, deutscher Soldaten nicht ausreichend — auch in ist Ihnen bekannt, daß Verteidigungsausgaben nach dieser Debatte — gewürdigt. volkswirtschaftlichen Kriterien zu den konsumtiven (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und nicht zu den investiven Ausgaben gehören und daß damit den investiven Aufgaben im Bereich der Herr Kollege Jungmann, Sie haben gesagt, ich industriellen Produktion Mittel entzogen werden? würde das Ministerium noch nicht genug umorgani- sieren. Ich könnte Ihnen Gesprächspartner vermitteln, Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: Wir die sagen, ich sollte ein bißchen langsamer vorange- investieren sehr wohl im Osten. Wir tun eine ganze hen. Menge für die deutsche Einheit, und darauf kann die (Zustimmung bei der CDU/CSU und der Bundeswehr auch stolz sein. F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aber das wird ein Hauptthema im nächsten Jahr sein. Aber die Konsequenzen dieses Etats müssen klar Ich werde das Ministerium auf die ministeriellen sein: Wir werden in den nächsten Jahren kaum neue Aufgaben zurückschneiden und über alternative Vorhaben realisieren können. Begonnene Projekte Strukturen nachdenken. Wenn Sie sagen, der Blanke- werden wir strecken oder verschieben müssen. Ich nese-Erlaß von Helmut Schmidt sei für Sie kein Tabu, lasse auch den Verzicht auf bisher fest eingeplante dann bin ich dankbar dafür; denn das wird mir in der Großprojekte prüfen. Tat helfen, ab dem nächsten Jahr hier die notwendi- Problematisch bleiben die Betriebsausgaben. gen Reformen durchzusetzen. Nachdem die Lohnrunde 1992 und unabweisbarer Mehrbedarf in einem Umfang von etwa 3 Milliarden Die Bemerkung der Sozialdemokraten, daß auf DM zu erwirtschaften waren, haben wir auch hier die Grund der Tatsache, daß die Planungskonferenz jetzt Grenze des Erträglichen erreicht. Vermutlich werden im Dezember stattfindet, die Beratung des Haushalts aus dem Engagement unseres Landes für humanitäre wertlos sei, entbehrt jeder Grundlage. Die Planungs- Leistungen im internationalen Kontext umfangreiche konferenz im Dezember beschäftigt sich mit dem zusätzliche Lasten entstehen. Der Verteidigungshaus- Bundeswehrplan 94. Das ist der Zeitraum 1994 bis halt kann diese Lasten nicht tragen. Ich bin dankbar, 2006. Der Haushalt 93 ist davon überhaupt nicht daß wir zu einer Begrenzung gekommen sind. betroffen. Insofern haben Sie da ein Eigentor geschos- sen, Herr Kollege Jungmann. Ich habe letzte Woche einen Besuch in Den Haag bei meinem niederländischen Kollegen gemacht: Wie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Sie wissen, fliegen unsere Flugzeuge — die Transall — Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Nicht nur nach Somalia. Jeden Liter Kerosin, der dafür erforder- eins!) lich ist, bezahlen wir aus dem Verteidigungshaushalt; 10564 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundesminister Volker Rühe auch die Flugzeuge werden von uns bezahlt. Der Für Rechtsradikale und Linksradikale ist in dieser niederländische Kollege dagegen kriegt Zuschüsse Bundeswehr unseres freiheitlich- demokratischen für die Flugzeuge, die in der Dritten Welt eingesetzt Staates kein Platz. Ich bin dankbar, daß wir alle darin werden, und zwar vom Entwicklungshilfeminister. übereinstimmen. Um der Klarheit und der Transparenz des Verteidi- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der gungshaushalts willen sollte man deutlich machen: SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS Das sind Aufgaben, die über den eigentlichen Vertei- SES 90/DIE GRÜNEN) digungsbereich hinausgehen. Ich möchte mich bei den Sprechern a ller Fraktio- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nen, also auch der Opposition, dafür bedanken, daß Die Bundeswehr braucht Planungssicherheit für sie sich in einer konkreten Situation vor die Bundes- ihren Weg in die Zukunft. Dazu gehören finanzielle wehr gestellt haben. Wir werden uns jedenfalls nicht Rahmenbedingungen, wie sie im 26. Finanzplan fest- mit gewaltsamen rechtsradikalen Ausschreitungen gelegt worden sind. Ich bin froh, lieber Kollege abfinden, weder von Angehörigen der Bundeswehr Müller, über die Zustimmung des Parlaments zum noch in der Gesellschaft insgesamt. Personalstrukturmodell 370 000. Damit haben wir für Am 15. Dezember werde ich, wie in der Debatte die Personalplanung der Streitkräfte eine hinreichend schon mehrfach angesprochen, Entscheidungen zur sichere Basis. Anpassung der Bundeswehr treffen, die sich am Ich muß aber auch dem Kollegen Thiele sagen: Es notwendigen konzeptionellen Neuansatz der deut- wäre unverantwortlich, die Zahl von 370 000 jetzt in schen Sicherheitspolitik orientieren. Frage zu stellen. Wir brauchen Planungssicherheit. In Was bedeutet das für unsere Ausrüstungsplanung? den 90er Jahren sollen erst einmal die anderen — Wir brauchen in Zukunft weniger und anderes Staaten in Europa beim Personalabbau so weit gehen, Material. Wir müssen sowohl quantitativ als auch wie die deutsche Bundeswehr das getan hat. Dann qualitativ umsteuern. Die großangelegte Aggression können wir uns in der zweiten Hälfte der 90er Jahre mit kurzer Vorwarnzeit ist nicht mehr Planungsgrund- darüber unterhalten, ob wir weitere Schritte machen lage. Für die Streitkräfteplanung können wir eine können. Erst einmal müssen sich aber die anderen in militärisch begründete Vorwarnzeit von über einem diese Richtung bewegen. Jahr zugrunde legen. Die Sicherheitslage erlaubt, daß wir den Krisenreaktionskräften planerische Priorität (Beifall bei der CDU/CSU) geben. Zugleich stärken wir damit die Schildkräfte für Wir haben tiefgreifende Veränderungen in der den Fall einer Mobilmachung. Bundeswehr. Damit sind Versetzungen und Umzüge Insgesamt ist die Bundeswehr für die reine Vertei- von Soldaten in einem bisher nicht gekannten Aus- digungsaufgabe mode rn ausgerüstet. Die Materi- maß verbunden. Ich danke den Soldaten für ihre treue alausstattung kann in den 90er Jahren im großen und Pflichterfüllung, die sich auch in der Mobilität äußert. - ganzen so belassen werden. Rüstungspriorität haben Wenn ich sehe, wie immobil wir alle miteinander sind, die Krisenreaktionskräfte. Sie müssen mobil, weiträu- dann verdient ihre Mobilität große Anerkennung. mig und flexibel einsetzbar sein. Hier bestehen noch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Defizite, die schrittweise abgebaut werden müssen. Deutschland ist vereinigt. Die Bundeswehr ist eine Eine leistungsfähige nationale wehrtechnische Armee der Einheit. Heute wissen wir: Die Streitkräfte Industrie liegt im Interesse unseres Landes. Diese haben im Einigungsprozeß Vorbildliches geleistet. Basis muß jedoch sicherheitspolitisch begründet sein, Diese großartige Leistung verlangt Lob und Anerken- und sie muß die neue Lage widerspiegeln. Sie ist auch nung. — Die Bundeswehr ist vielen Bereichen der Ge- Voraussetzung zur Rüstungskooperation und daher sellschaft voraus, was die deutsche Einheit angeht. — ein unverzichtbares Element der Bündnisfähigkeit Deutschlands. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Zugleich brauchen wir aber auch eine Bündelung Sie zeigt aber auch, über welch' innere Kraft und der wehrtechnischen industriellen Fähigkeiten in Moral die Bundeswehr verfügt. Ich meine, so können Europa. Allen Staaten Europas geht es doch ähnlich. wir die Herausforderungen der Zukunft meistern. Drei Parameter sind unstreitig: Wir brauchen weniger Material; alle haben weniger Geld — das gilt wirklich Wenn jetzt über rechtsradikale Ausschreitungen für alle Länder in Europa —; alle haben Überkapazi- von Soldaten der Bundeswehr berichtet wird, dann rie. In dieser muß klar gesagt werden: Hierbei handelt es sich um täten in der wehrtechnischen Indust Situation brauchen wir dringend eine europäische eine geringe Zahl von Einzelfällen. Doch wir müssen Schwerpunktbildung. Denn wir können es uns mit diese Vorgänge ernstnehmen. Jeder Fall wird unter- Blick auf die nächsten zehn bis 15 Jahre nicht leisten, sucht und vollständig aufgeklärt werden; die Diszipli- anzer, drei verschiedene nar- und Strafverfahren laufen. Als Bundesminister daß drei verschiedene P der Verteidigung werde ich alles tun, damit das hohe Jagdflugzeuge, drei verschiedene U-Boote in Europa entwickelt werden. Wer das nicht begreift, der zerstört Ansehen der Bundeswehr im In- und Ausland nicht elle Basis in Europa. durch Gewalttaten einzelner Angehöriger beschädigt die industri wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Nun zum Sachstand Jagdflugzeug. — Ich muß SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS sagen, ich habe mich selten so gefreut, hier im Plenum SES 90/DIE GRÜNEN) sprechen zu können, weil es zu dieser Frage jede Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10565

Bundesminister Volker Rühe Menge Desinformationen gegeben hat und das Faszi- Debatte folgen wollen, Platz nehmen — auch im nierende am Plenum des Deutschen Bundestages ist, Hintergrund des Saales sind noch genügend Plätze daß wirklich jeder exakt verfolgen kann, was m an vorhanden — oder aber, falls sie sich unterhalten sagt, und das genau festgehalten wird. Deswegen wollen, den Raum verlassen. freue ich mich, jetzt hier einen Bericht geben zu können. — Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Und well Vielen Dank! — Wir haben erstens Konsens in der jeder zuhört!) Lagebeurteilung und des opera tiven Umfelds für ein Ich möchte diese Problematik gern im Gesamtzusam- neues Jagdflugzeug, zweitens Konsens in der konzep- menhang darstellen. tionellen Linie für die künftigen Bedürfnisse der Ich habe mich von Anfang an von der Logik eines Luftverteidigung in einer neuen sicherheitspoliti- klaren politisch-strategischen und ökonomischen An- schen Lage und drittens Konsens in der Beurteilung satzes leiten lassen. Das heißt: Die sicherheitspoliti- der grundsätzlichen Möglichkeit, die qualitativen sche Lage in und für Europa hat sich signifikant Merkmale des Jagdflugzeugs kostensparend zu redu- verändert und vor allem für uns Deutsche dramatisch zieren. Es herrscht Einigkeit über die wesentlichen verbessert. Bestimmungsmerkmale. Allerdings gibt es ein Spek- trum von Einzelmerkmalen, die für die beteiligten Eine grundlegend veränderte Lage verlangt eine Nationen unterschiedlich sind. Es gilt zu prüfen, ob neue Lagebeurteilung. auch dafür noch weitere Harmonisierung möglich Aus dieser Lagebeurteilung sind die militärischen oder notwendig ist. Anforderungen abzuleiten, die für ein europäisches Die Studie der Generalstabschefs ist nun in Bezie- Jagdflugzeug gelten sollen; wir brauchen ein anderes hung zu setzen zur Industriestudie, die auch Anfang Flugzeug für eine andere Zeit — so habe ich es August in Madrid in Auftrag gegeben war, um tech- formuliert —, und wir wollen dafür möglichst eine nische Alternativen zu untersuchen. Diese Studie liegt europäische Lösung. vor und sagt schon jetzt, daß Lösungen möglich sind, Diese neu abgeleiteten militärischen Anforderun- die der Preisvorgabe 90 Millionen DM nahekommen. gen sind dann in Beziehung zu setzen zu einer Da die Industriestudie rein technisch angelegt ist — es angemessenen technischen Lösung. Angemessen werden exakte Vergleichsmaßstäbe gewählt; wer heißt: zu vertretbaren Kostenobergrenzen. glaubt, er könne mit Tricks durchkommen, etwa dem, Dabei ist das bisherige Entwicklungsergebnis zu daß er die Mehrwertsteuer einmal hineinrechnet und berücksichtigen, jedenfalls soweit es kompatibel mit einmal nicht, der schätzt mich und Sie falsch ein; es den neuen militärischen Anforderungen ist. werden exakt dieselben Anforderungen gestellt —, muß sie nun den neu definierten militärischen Anfor- Schließlich ist die laufende Entwicklung alsbald derungen angepaßt werden. umzusteuern in Richtung auf die neu definierten Forderungen — und dies unter Berücksichtigung des Die Reduzierung qualitativer Anforderungen wird Zeitfaktors, der unseren Bedarf bestimmt. Kostensenkungen möglich machen; denn der Ver- zicht auf Forderungen wie die nach der Zahl gleich- Wie ist der Stand der internationalen Verhandlun- zeitig zu bekämpfender Ziele, langanhaltender Ver- gen? — Ich habe diesen Ansatz, den ich soeben noch folgungsfähigkeit mit Höchstgeschwindigkeit, nukle- einmal geschildert habe, bei unseren Partnern auf der arer Härtung, extrem kurzen Start- und Landefähig- Ebene der Verteidigungsminister und der Regie- keit, die Bestandteil der Konzeption des Jägers 90 rungschefs beharrlich vertreten. Dabei hat es zur waren, und weiteren Merkmalen hat natürlich kosten- Logik dieses Ansatzes keinen Widerspruch gegeben. sparende Auswirkungen auf Elektronik, Avionik und Im Gegenteil: Es gab wachsende Zustimmung. Triebwerk eines Flugzeugs. Wo stehen wir konkret? — Die Anfang August in Als Zwischenfazit läßt sich danach viererlei festhal- Madrid von den vier Verteidigungsministern angefor- ten: derte neue Lagebeurteilung mit entsprechenden Schlußfolgerungen für die militärischen Anforderun- Erstens. Wir werden ein qualitativ grundlegend gen an ein Jagdflugzeug ist am 20. November in Rom anderes Anforderungsprofil für ein europäisches von den Generalstabschefs schlußberaten worden; Jagdflugzeug verfolgen. das Ergebnis wird nun den Ministern vorgelegt. Zweitens. Falls dieses Flugzeug entsteht, wird es Hier zeichnet sich — es soll sich nachher niemand also ein anderes Flugzeug für eine andere Zeit sein. beschweren, er habe keine präzise Auskunft bekom- Drittens. Schon jetzt besteht die berechtigte Erwar- men — folgendes ab: Konsens in der Lagebeurtei- tung, eine dramatische Kostenverringerung des Pro- lung. jekts in der Größenordnung von 45 Millionen DM pro (Unruhe) Flugzeug zu erreichen. Viertens. Die in der Entwicklung noch verfügbaren Mittel müssen nun einvernehmlich in Richtung des Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, neu definierten Projekts umgesteuert werden. Da wir darf ich einen Moment um Aufmerksamkeit bitten. — zur Zeit andere Haushaltsprioritäten haben und das Es geht hier um ein wichtiges Problem, dennoch Flugzeug erst in rund zehn Jahren brauchen, kann die führen eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kolle- Entwicklung verlangsamt werden. gen hier Unterhaltungen. Ich habe die Bitte an diese Ich möchte dem Kollegen Thiele ausdrücklich Kolleginnen und Kollegen, daß sie, soweit sie der zustimmen, daß es überhaupt keine Bedrängnis gibt, 10566 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundesminister Volker Rühe hier etwas zu entscheiden. Deswegen ist der Antrag entstehen können, die nicht durch den vom Parlament der Sozialdemokraten auch völlig unsinnig, eine gebilligten Haushalt abgedeckt sind. Beschaffung jetzt abzulehnen. Das steht überhaupt (Unruhe) nicht zur Diskussion. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, Wir brauchen erst nach einer Verlangsamung und bitte einen Moment. — Ich hatte vorhin gebeten Umorientierung der Entwicklung in einigen Jahren zu — einige Kollegen sind in der Zwischenzeit hinzuge- entscheiden, ob dieses Flugzeug gebaut und ange- kommen —, den Geräuschpegel etwas zu senken. schafft wird. Das wird von vielen durcheinanderge- Diesen Wunsch wiederhole ich jetzt noch etwas dring- bracht. Hier geht es um die Entwicklung, und ich licher. — Herr Minister, Sie dürfen jetzt gerne weiter- werde gleich etwas dazu sagen, wie wir in diese reden. Entwicklung eingebunden sind. Wir haben die Entwicklung des Jagers 90 unter anderen Randbedingungen mit Zustimmung des Par- Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: laments begonnen und dazu Verträge mit den Regie- Weil das, was ich soeben gesagt habe, eine gewisse rungen unserer Partnerländer und der Industrie Bedeutung für die Zukunft hat — das werden Sie in geschlossen. Niemand hindert uns heute daran, diese Kürze feststellen —, habe ich das hier sehr stur Verträge neu zu fassen, wenn alle Beteiligten dies vorgetragen, um es exakt festzulegen. wirklich wollen. Und ich meine, daß dies für unsere Jetzt lassen Sie mich noch etwas zu dem heute viel Partner und die Indust rie zutrifft. diskutierten Thema neuer internationaler Einsätze deutscher Soldaten sagen. Da Herr Klose die Frage Jetzt etwas zu der Vertragssituation: Erstens. Es gestellt hat, ob die anderen uns wirklich wollen und ob gibt einen Entwicklungsvertrag zwischen den vier wir uns nicht aufdrängen, wenn wir hier in Deutsch- Partnern, aus dem ein Partner nur nach dreimonatigen land solche Beschlüsse fassen, darf ich den Kollegen Konsultationen und anschließender sechsmonatiger von der SPD von einem Beschluß Kenntnis geben, der Kündigungsfrist aussteigen kann. Falls gekündigt in Dänemark — in unserem freundlichen, von mir wird, werden Know-how und Arbeitsleistung auf die übrigens geschätzten Nachbarland im Norden — vor im Projekt verbleibenden Partner transferiert. Daraus ganz kurzer Zeit gefaßt wurde. Es wurde von der ergibt sich: Wir müssen alle Anstrengungen unterneh- Sozialdemokratischen Partei, der Konservativen Par- men, um gemeinsam zu einer Umsteuerung in Rich- tei, der Liberalen Partei, praktisch von allen Parteien tung eines neuen Flugzeuges zu kommen. des dänischen Parlaments, eine Vereinbarung über die Verteidigungspolitik der nächsten beiden Jahre Zweitens. Die Entwicklungsarbeiten werden für die unterschrieben. Darin heißt es — ich übersetze aus Partner durch eine internationale Behörde gemanagt dem Englischen; ich hoffe, korrekt —: — die NEFMA. Die Verträge mit der deutschen Industrie zum Preisstand 12/87 decken mit einem Eine neue internationale Einheit von ungefähr Volumen von 5,85 Milliarden DM den gesamten 4 500 Soldaten wird eingerichtet und ausgebil- deutschen Projektanteil in ihrem Verpflichtungscha- det. Diese Einheit soll mit kurzer Warnzeit einge- rakter ab. setzt werden für friedenserhaltende Maßnah- men Drittens. Der deutsche Industrieanteil unterliegt Vereinbarungen zur Einhaltung der Kostenober- — peace keeping — grenze in der Entwicklungsphase, die auf Druck des und friedenschaffende, also Kampfmaßnahmen, Parlaments zwischen dem Verteidigungsministerium — peace making — und den Firmen MBB und MTU geschlossen wurden. Die Preissteigerungsrate für die Fortschreibung der für humanitäre Zwecke und ähnliche Operatio- Kostenobergrenze wird damit jährlich auf maximal nen unter dem Dach der UN und der KSZE. 3,5 % begrenzt. Wenn ein Land wie Dänemark eine Einheit von 4 500 Soldaten aufstellt und auch sieht, daß m an eben Ich lasse prüfen, ob diese Vereinbarungen sachge- nicht fein säuberlich zwischen „friedenserhaltend" recht eingehalten worden sind — dies unter Einbezie- und „friedensschaffend" unterscheiden kann, dann ist hung externen Sachverstandes. doch klar, daß wir die Verfassung nicht einseitig Ziel dieser Prüfung ist es, auf der Basis eines ändern können, sondern daß wir eine umfassende genauen Finanzstatus Vorstellungen für ein effizien- Veränderung brauchen, damit sichergestellt ist, daß tes Kostenmanagement in der Zukunft zu entwickeln. unsere Soldaten so wie die dänischen Soldaten einge- Ich habe deshalb auch angeordnet, daß in der setzt werden können. Rüstungsabteilung ein zentrales Controlling einge- (Beifall bei der CDU/CSU) richtet wird. Und ich frage hier noch einmal den Deutschen (Beifall bei der F.D.P. — Zuruf von der F.D.P.: Bundestag — ich habe das vor einiger Zeit im Hinblick Endlich!) auf Frankreich gemacht —: Wer in diesem Hause kann begründen — und angesichts der Tatsache, daß meh- Neben den Prüfaufträgen und den organisatorischen rere Hunderte von dänischen Soldaten in Jugoslawien Änderungen ist es mein zentrales Anliegen, zu und anderswo sind —, daß ein 19jähriger dänischer gewährleisten, daß keine Forderungen der Industrie Soldat ein größeres Risiko für die Sicherheit Europas Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10567

Bundesminister Volker Rühe trägt als ein 19jähriger deutscher Soldat? Ich kann das Deswegen weise ich all das zurück, was hier zum Teil nicht begründen! über meine Vorschläge gesagt worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herr Kollege Voigt, was Sie gesagt haben, wi ll ich eben nicht machen — Sie haben gesagt: Entweder ist man der Meinung, das Grundgesetz gibt das nicht her, Herr Minister, Vizepräsidentin Renate Schmidt: oder man ist der Meinung, es gibt das her —: Ich will Herr Kollege Voigt hat den Wunsch nach einer Zwi- Soldaten nicht als Versuchskaninchen einsetzen, schenfrage. indem ich Einsätze einfach befehle, so nach dem Motto: Dann soll doch das Verfassungsgericht feststel- Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: Der len, ob das Rechtens war oder nicht. Wunsch wird erfüllt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das können wir gegenüber unseren Soldaten nicht Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Kollege Rühe, da verantworten. Die brauchen für ihre Einsätze eine ich das Vergnügen habe, die dänischen Zeitungen klare rechtliche und politische Grundlage. relativ regelmäßig zu lesen: Nehmen Sie auch zur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kenntnis, daß die Entschließung des dänischen Parla- ments gleichbedeutend ist mit einer Absage an Out- In diesem Zusammenhang habe ich gefragt: Wie of - area - Einsätze der Westeuropäischen Union? Und wollen Sie, wenn es nicht gelingt, zu einer verfas- wenn Sie das dänische Parlament und seine Entschei- sungspolitischen Klarstellung zu kommen, die Blok- dung in dieser Beziehung so sehr loben, dann frage ich kade aufbrechen? — Da könnte ein Gesetz ein Weg Sie, ob Sie gleichermaßen der Meinung sind, daß sein, aber nicht, um Soldaten gleich einzusetzen Kampfeinsätze oder Friedenseinsätze nur noch unter — das weise ich zurück —, sondern um hier zu einer Kommandokontrolle der Vereinten Nationen stattfin Klärung vor dem Verfassungsgericht zu kommen. Das den sollten; denn genau darauf zielt dieser dänische ist für mich die oberste Richtschnur. Wir brauchen eine Vorgang. Und wenn Sie allein dies wollen und Ihre klare rechtliche und politische Grundlage für die bisherige Position in bezug auf die WEU revidieren, Soldaten. dann bin ich bereit, mit Ihnen auch über die anderen Ich bleibe auch dabei: Die Soldaten brauchen mög- Dinge zu reden. lichst die Unterstützung des ganzen Deutschen Bun- destages für diese schwierigen neuen Einsätze. Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herr Kollege Voigt, wir haben ja vor wenigen Tagen Das ist die Verantwortung, der Sie sich als sozialde- neue Staaten in die WEU aufgenommen. Dänemark mokratische Fraktion in diesem Hause stellen müssen. ist dort nach wie vor nur Beobachter. Das erklärt die Wir müssen die Handlungsunfähigkeit Deutschlands Situation. überwinden, und wir müssen den Soldaten eine klare Ich habe immer gesagt, daß Einsätze der- WEU rechtliche Basis geben. Das schulden wir den Solda- — aber auch des Eurokorps — etwa auf der Grundlage ten, das schulden wir auch der internationalen Rolle der Charta der Vereinten Nationen vorgenommen Deutschlands. Deshalb müssen wir diese Selbstblok- werden müssen. Das ist eine solide Grundlage. kade jetzt möglichst schnell gemeinsam auflösen und Ich bleibe dabei, die Dänen stellen Streitkräfte auf, die Grundlagen für solche Einsätze Schulter an Schul- die den Frieden erhalten und notfalls auch den Frie- ter mit unseren europäischen Nachbarstaaten schaf- den schaffen sollen. Alles spricht dafür — und das f en. wäre der Königsweg —, auch in Deutschland eine Vielen Dank. verfassungsrechtliche verfassungspolitische Klarstel- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lung vorzunehmen, um — ähnlich wie Dänemark — Streitkräfte in diesem Rahmen einsetzen zu können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Der Kollege Kol- Wie ist unsere Situation? — Das möchte ich gern bow erhält jetzt noch das Wort für eine Kurzinterven- noch darstellen; denn der Verteidigungsminister kann tion. ja keine philosophische Debatte führen. Das Schiff, (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die Betonung das in der Adria fährt, ist keine philosophische Veran- liegt auf „kurz" ! ) staltung, sondern es braucht konkrete Weisungen und Befehle. — Wir sind in einer internationalen Krisensi- tuation, die ständig neue Entscheidungen von uns Walter Kolbow (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verlangt hat, und — das sage ich Ihnen heute schon verehrten Kolleginnen und Kollegen! Im Rahmen voraus — das wird auch in Zukunft so sein. einer Kurzintervention kann man nicht auf all das entgegnen, was der Kollege Rühe in seiner 25minüti- In dieser Situation ist es notwendig, daß Deutsch- gen Rede zur Opposition gesagt hat. Zu dem letzten, land seine Handlungsfähigkeit herstellt. Deswegen muß die Selbstblockade überwunden werden, zu der was Sie, Herr Kollege Rühe, hier gesagt haben, muß wir es gebracht haben. Wir müssen handlungsfähig ich allerdings kurz etwas darstellen. Ich tue dies, weil der internationale Einsatz von Streitkräften in unse- werden! rer Gesellschaft sehr umstritten ist, hier ausnahms- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) weise nicht mit der Auffassung meiner Fraktion, Das zweite: Der Einsatz unserer Soldaten muß sondern mit der des Deutschen Bundeswehrverban- politisch und rechtlich zweifelsfrei gesichert sein. des, der die Interessen der Soldaten vertritt. 10568 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Walter Kolbow Dieser Deutsche Bundeswehrverband hat sich mit erschweren, die Mehrheitsverhältnisse zu erkennen. Nachdruck gegen die Pläne von Bundesverteidi- Die namentliche Abstimmung ist übrigens nicht die gungsminister Rühe gewandt — ich zitiere — „deut- erste. sche Soldaten notfalls mit einem Entsendegesetz ohne Wir kommen nun zur Abstimmung, und zwar Grundgesetzänderung an UNO-Kampfeinsätzen zu zunächst über den Änderungsantrag der Gruppe beteiligen. Man werde nicht hinnehmen, daß auf einer PDS/Linke Liste zum Einzelplan 14 — Geschäftsbe- so brüchigen Grundlage die Menschen in den S treit- reich des Bundesministers der Verteidigung — auf der kräften ihr Leben riskierten, während die Politiker in Drucksache 12/3818. Wer stimmt für diesen Ände- der Heimat darüber stritten, ob der internationale rungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Stimment- Kriseneinsatz der Soldaten überhaupt rechtmäßig haltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag bei sei. wenigen Stimmenthaltungen mit großer Mehrheit Der Konsens, Herr Kollege Rühe, zwischen Regie- abgelehnt worden. rung und Opposition wäre möglich, wenn Sie als Regierung auch mit der F.D.P. eine Gemeinsamkeit Wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag der herstellen könnten Fraktion der SPD zum Einzelplan 14 auf der Drucksa- che 12/3811 ab. Dazu verlangt die SPD nament liche (Beifall bei der SPD) Abstimmung. Ich sage noch einmal: Nach dieser und wenn Sie auf unseren Gesetzentwurf zur Verfas- namentlichen Abstimmung folgen andere strittige sungsänderung für den internationalen Einsatz zu Abstimmungen. friedenserhaltenden Maßnahmen eingingen. Dann würden wir Rechtssicherheit schaffen und auch Ich eröffne die Abstimmung. — unsere internationalen Pflichten im Konsens dieses Ich frage, ob ein Mitglied des Hauses anwesend ist, Landes erfüllen. Das verweigern Sie, und dies werfen das seine Stimme noch abgeben möchte. — Ich frage wir Ihnen vor. noch einmal, ob es noch ein Mitglied des Hauses gibt, (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten das seine Stimme abzugeben wünscht, und dazu noch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) keine Gelegenheit hatte. — Ich frage, ob es noch ein Mitglied dieses Hauses gibt, das noch abstimmen möchte. — Dies scheint nicht der Fall zu sein. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zu einer weiteren Kurzintervention hat der Kollege Hoyer das Wort. Ich darf Sie bitten, wieder Platz zu nehmen. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, Dr. Werner Hoyer (F.D.P.): Liebe Kolleginnen und mit der Auszählung zu beginnen, und bitte Sie, den Kollegen! Es wäre sicher sehr leicht, den Konsens in Volksauflauf zu beenden. diesem Hause herzustellen, wenn jene Sozialdemo- Das Ergebnis der Abstimmung über diesen Ände- kraten, die der Meinung sind, daß Blauhelm-Aktionen rungsantrag werden wir Ihnen später bekanntge- nicht das Ende der Straße sein können, sondern daß ben *). Erst dann können wir über den Einzelplan 14 wir unseren Verpflichtungen notfalls auch durch die abstimmen. Bereitschaft gerecht werden müssen, friedenschaf- fende Aktionen der Vereinten Nationen zu unterstüt- (Unruhe) zen, der Meinung der Liberalen und, wie ich — Ich darf Sie noch einmal ganz herzlich bitten, Platz annehme, auch der Meinung der Christdemokraten zu nehmen. Das gilt übrigens für alle hier, auch für die und Christsozialen und nicht einem imperativen Man- Schriftführer. dat eines Parteitags folgten. (Anhaltende Unruhe) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Walter Kolbow [SPD]: Billig! — Dr. Uwe — Ich darf auch die Damen und Herren von der Küster [SPD]: Ungehoyerlich!) Regierungsbank bitten, Platz zu nehmen. (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Aber Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege selbstverständlich, Frau Präsidentin!) Hoyer, es tut mir jetzt leid, daß ich diese Kurzinter- — Herzlichen Dank. — Das gilt für alle dort! — vention zugelassen habe. Nach unserer Geschäftsord- Wunderbar. Irgendwann schafft man hier schon wie- nung ist sie nur zulässig auf die Rede des Herrn der Ordnung. So. Ministers. ( [CDU/CSU]: Sie war aber Wir kommen jetzt zu den weiteren Abstimmun- gut!) gen. Eine Kurzintervention auf eine Kurzintervention ist Wer stimmt für den Einzelplan 35 — Verteidigungs- nicht zulässig. Ein zweites Mal machen Sie mir das lasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt auslän- nicht! So. discher Streitkräfte — in der Ausschußfassung? — Nun liegt mir keine weitere Wortmeldung vor. Ich Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist der schließe damit die Aussprache. Einzelplan 35 in der Ausschußfassung angenom- men. Bevor wir in die Abstimmungen eintreten, möchte ich Ihnen sagen, daß wir eine ganze Reihe von Jetzt stimmen wir ab über die Beschlußempfehlung Abstimmungen durchzuführen haben, darunter eine des Verteidigungsausschusses zu dem Bericht zur namentliche, aber auch eine Reihe strittiger Abstim- Schließung des Übungsplatzes Nordhorn-Range — mungen. Ich bitte Sie, es mir während jener Abstim- mungen, die keine namentlichen sind, nicht zu *) Ergebnis Seite 10573C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10569

Vizepräsidentin Renate Schmidt Drucksachen 12/537 und 12/3691. Wer stimmt für die Einzelplan 33 Beschlußempfehlung? — Die Gegenprobe! — Stimm- Versorgung enthaltungen? — Bei wenigen Stimmenthaltungen — Drucksache 12/3526 — einstimmig angenommen. Berichterstattung: Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Ina Albowitz Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Privati- Rudolf Purps sierung der Heimbetriebsgesellschaft der Bundes- wehr — Drucksachen 12/1292 und 12/3693. Wer Einzelplan 36 stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! Zivile Verteidigung — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfeh- — Drucksachen 12/3528, 12/3530 — lung angenommen. Berichterstattung: Jetzt kommen wir noch zur Abstimmung über die Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu Rudolf Purps einer zurückverwiesenen Entschließung zum Haus- Ina Albowitz haltsgesetz 1991 auf der Drucksache 12/3758 (neu). Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegen- Zu den Einzelplänen 06 und 36 liegt je ein Ände- probe! — Stimmenthaltungen? — Diese Beschluß- rungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste vor. empfehlung ist bei wenigen Gegenstimmen und Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die wenigen Stimmenthaltungen angenommen. gemeinsame Aussprache über alle drei Einzelpläne zwei Stunden vorgesehen. — Ich sehe keinen Wider- spruch. Das ist beschlossen. Ich rufe den Einzelplan 23 auf: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster Einzelplan 23 der Kollege Rudolf Purps. Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit — Drucksachen 12/3521, 12/3530 — Rudolf Purps (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Es ist eine etwas unge- Berichterstattung: wöhnliche Situation, daß der Innenhaushalt mit sei- Abgeordnete Helmut Esters nen zentralen Themen, die ja heute morgen unsere Dr. Christian Neuling Vorreiter zu Pferde stark bewegten, nämlich von Asyl Werner Zywietz über Rassismus bis hin zur inneren Sicherheit, zu einer Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Zeit verhandelt w ird, wie wir das in der Vergangen- Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe heit nicht gekannt haben, Herr Minister. Zu den guten keinen Widerspruch. Das ist im Prinzip beschlossen. Presse- und Medienzeiten wurde heute die Außen- Nun haben die Kollegen Helmut Esters, Christian politik — F.D.P. — verhandelt und soll morgen die rich Briefs, Werner Zywietz, Neuling, Konrad Weiß, Ul Wirtschaftspolitik — F.D.P. — verhandelt werden. Das die Kollegin Ulla Fischer und der Bundesminister zeigt: Der Innenminister kann sich nicht durchsetzen Carl-Dieter Spranger das dringende Bedürfnis, ihre oder kann sich auf seine Truppen nicht mehr verlas- Reden zu Protokoll zu geben. Dazu bräuchte ich Ihr sen. Er wird am Abend versteckt; denn mit ihm ist Einverständnis. Sehe ich irgendeinen Widerspruch nicht mehr so viel Staat zu machen — mit seinem dagegen, dieses zu erteilen? Haushalt übrigens auch nicht. (Beifall) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) — Das ist nicht der Fall. Das ist beschlossen. *) Schon bei der Aufstellung dieses Haushalts, Herr Damit ist die Aussprache geschlossen. Minister, wurde kräftig geschludert; denn wie sonst wäre es möglich, daß zu den Berichterstattergesprä- Ich darf zur Abstimmung kommen. Ich frage, wer für chen am 12. Oktober aus Ihrem Hause schon 200 Blatt den Einzelplan 23 in der Ausschußfassung stimmt. — Änderungsanträge gekommen sind? Schon da war Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Ein- also das, was Sie dem Kabinett vorgelegt hatten, zelplan 23 angenommen. Makulatur. Sie mußten 200 Änderungen nachschie- ben. Das zeigt: In Ihrem Haus haben Sie nichts im Griff. Ein Haushalt, der drei Monate später schon in Ich rufe jetzt auf: einem solchen Umfang korrigiert werden muß, ist Einzelplan 06 nicht sorgfältig erarbeitet. Geschäftsbereich des Bundesministers des Auch das jetzt vorliegende Ergebnis, nach dem Innern Durchgang durch den Haushaltsausschuß, Herr Mini- — Drucksachen 12/3506, 12/3530 — ster, ist Makulatur. Der Nachtrag steht vor der Tür. Sie Berichterstattung: werden da, wie man hört, kräftig bluten müssen. Abgeordnete Karl Deres Haushaltsdebatte heißt Bewertung des kommenden Rudolf Purps Haushaltsjahrs, dessen, was vorgelegt worden ist, Ina Albowitz unter Berücksichtigung dessen, was im laufenden Haushaltsjahr gewesen ist. Beim Haushalt 1993 wird *) Anlage 2 nun deutlich, daß der Innenminister den Aufgaben 10570 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Rudolf Purps und Herausforderungen der Zukunft nicht gerecht bekommen, wage ich bei der Gripsigkeit der Rund- wird. funkanstalten und ihrer guten Rechtsabteilungen sehr zu bezweifeln. Jedenfalls steht eines fest: Der Bürger (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Ist ja ist der Dumme; er zahlt doppelt. unglaublich!) Durcheinander Nummer zwei: die Sportförderung. Ich frage: Ist er seinem Arbeitsauftrag nachgekom- Während es noch im Frühjahr dieses Jahres so aussah, men, oder hat er ihn nicht ausgeführt, hat er ihn Herr Minister Seiters, als könnten Sie sich dafür schlecht ausgeführt, hat er ihn falsch ausgeführt, oder erwärmen, den Breitensport in den neuen Ländern hat er ihn nur unter erheblichem Druck ausgeführt? nach dem Muster des Goldenen Plans eine Anschub- (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr gut finanzierung zu gewähren — wir haben darüber hat er ihn ausgeführt!) gesprochen, und ich war ganz erschrocken, daß Sie sich sozialdemokratischen Positionen näherten —, so Das Studium des Haushalts des Innenministers zeigt ist dies mit Beginn der Haushaltsberatungen in der in jedem Falle: Von tatkräftiger Bewältigung anste- Koalition wieder gestorben. hender Probleme und von zukunftsweisender Ziel- richtung kann überhaupt nicht die Rede sein. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Wenn der Goldene Plan eine SPD-Erfindung ist, kommt (Beifall bei der SPD — Johannes Gerster Frau Matthäus-Maier aus Marokko!) [Mainz) [CDU/CSU]: Wer hat das denn auf — Aber Herr Marschewski, nun hören Sie einmal gut geschrieben? — Erwin Marschewski [CDU/ zu, Sie sind doch ein lernfähiges Instrument! CSU]: Das kann nur einer von der SPD Statt den unabweisbaren Sportstättenbedarf in den gewesen sein! So ein Quatsch! — Dr. Wolf neuen Ländern zu unterstützen und mit einem Golde- gang Bötsch [CDU/CSU]: Das nehmen Sie nen Plan den Aufbau der Sportstätten im investiven sofort zurück! — Weitere Zurufe von der Bereich — ich betone: im investiven Bereich — zu CDU/CSU) fördern, haben Sie wieder einmal Doppelstrategie Wie ich schon sagte: Der Haushaltsentwurf 1993 ist gespielt. Im Sportausschuß wird gefordert, da ist man nicht ausgereift. Wenn nach drei Monaten — wie eben sich einig, und im Haushaltsausschuß auch, nur schon gesagt — bereits 200 Blatt neu belegt werden andersherum, da wird gestrichen. Das geht immer müssen, dann sage ich: Dies hätte bei sauberer Haus- nach dem Motto: Zustimmung im Sportausschuß haltsaufstellung eingearbeitet werden können. Wie erteilt, da Ablehnung im Haushaltsausschuß gesi- wir festgestellt haben, wird all das, was eigentlich chert. hätte eingearbeitet werden können, in den Nach- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist bei euch auch tragshaushalt verschoben. So ist man immer schön am so!) Rande des Verfassungsgemäßen herumgeschlichen. Ich muß Ihnen sagen: Dies liegt nicht an Ihrer Haus- Diese Strategie, meine Damen und Herren von der haltsabteilung, sondern es liegt eindeutig an dem Koalition, mögen Sie bitte den Sportlern draußen Durcheinander und an dem Tohuwabohu in- Ihrem erklären. Ich hoffe, es sind noch einige da, die das Haus allgemein. vielleicht einmal nachlesen oder sonstwie zur Kennt- nis gebracht bekommen. Ich gehe davon aus, daß (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Das geht unsere Kollegen aus dem Sportausschuß dies nicht nur aber entschieden zu weit!) bereits in der Sportausschußsitzung kräftig ange- Durcheinander Nummer eins, Herr Kollege mahnt haben, sondern auch durch entsprechende Bötsch: Hinweise gegenüber der Presse deutlich machen werden. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Nur in der (Uwe Lambinus [SPD]: Sehr richtig! — Ina SPD ist Ordnung! Das wissen wir!) Albowitz [F.D.P.]: Nur der Schmidt ist dabei! die Neuordnung der Rundfunkanstalten. Durch Ver- Ihr müßt da erst Fraktionsberatungen ma zögerung und Taktiererei, die im wesentlichen von chen!) der Regierung gegenüber den Ländern ausging, ist es nun so weit gekommen, daß der deutsche Gebühren- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege zahler seit einem Jahr 75 Pfennige monatlich für einen Purps, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geisterrundfunk ausgibt, der sich „Nationales Hör- Schmidt? funkprogramm" nennt. Die 75 Pfennige liegen — von den Rundfunkanstalten wohlbehütet und verwaltet— Rudolf Purps (SPD): Aber gern. auf Festgeldkonten — das bringt ja zur Zeit gutes Geld —, nämlich insgesamt mehr als 200 Millionen Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Herr Kollege DM. Purps, können Sie bestätigen, daß die Kürzungen im Dieser meines Erachtens rechtlich nicht haltbare Sporthaushalt mit mehr als 7 % weit über dem Durch- Zustand wird natürlich dadurch verschärft, daß der schnitt aller Kürzungen in diesem Haushalt liegen? Deutschlandfunk bis zur endgültigen gebührenrecht- lichen Klärung aus dem Bundeshaushalt bezahlt wer- Rudolf Purps (SPD): Das kann ich selbstverständ- den muß. So wird weiterhin der Bürger zweimal zur lich, Herr Kollege Schmidt, bestätigen. Ich kann Kasse gebeten: einmal über die Gebühren und einmal darüber hinausgehen und sagen, daß das Damokles- über die Steuern. Ob es dem Bund gelingen wird, schwert der globalen Minderausgaben natürlich wei- seine Aufwendungen für 1993 und das zweite Halb- terhin über allen Sporttiteln schwebt. Wenn man jahr 1992 aus dem Gebührenaufkommen erstattet zu einmal 50 Millionen DM in der Steinbruchliste vorge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10571

Rudolf Purps sehen hatte und das alles dann, weil man ein bißchen einem Jahr gefordert hat, dann hätten Sie sich diesen Angst davor hatte, beschossen zu werden, in die ganzen Wust von Arbeit und Besprechungen doch globale Minderausgabe packt, dann muß man sich sparen können. nicht wundern, wenn über die Ausführung der globa- len Minderausgabe der Sport noch einmal kräftig zur (Ina Albowitz [F.D.P.]: Sag' das nicht!) Kasse gebeten wird. Aber dann war es ja nicht die Ich schlage Ihnen vor: Lassen Sie uns in ähnlich Koalition, dann war es nicht der Minister; dann waren gelagerten Fällen in Zukunft bei Anträgen der SPD als es irgendwelche Beamte. Was hier geschieht, ist Antragsteller die CDU/CSU und F.D.P. hinzufügen unfair und parlamentarisch höchst unsauber. und dann die Dinge in einem gemeinsamen Antrag (Beifall bei der SPD) „Sparen für den Bürger" erledigen. Jedenfalls sollten Sie sich, Herr Kollege Seiters, als (Beifall bei der SPD) Sportminister in Zukunft verkneifen, auf die großzü- gige Förderung des Sports durch die Bundesregierung Wann, Herr Bundesminister, werden wir endlich hinzuweisen;rn Sie könnten Pfiffe oder Lachsalven e das Gesamtkonzept der Gedenk - und Mahnstätten in ten, und das möchte ich Ihnen ersparen. der Bundesrepublik Deutschland erhalten? Selbst unter Berücksichtigung, daß es sich um ein äußerst Daß das Kölner Sportmuseum ohne Bundesförde- sensibles und schwieriges Aufgabengebiet h andelt, rung praktisch nicht mehr errichtbar ist und die ist festzustellen, daß zwei Jahre nach Herstellung der sportwissenschaftliche Forschung durch weitere Kap- deutschen Einheit diese Aufgabe erst in den groben pungen beeinträchtigt wurde, will ich nur am Rande Umrissen geleistet ist und noch in den Feinarbeiten erwähnen. Da kann auch die Tatsache nicht trösten, ausgeführt werden muß. Ich glaube auch, daß es daß das umstrittene Rehabilitationszentrum Königs- gerade in Hinsicht auf die Diskussion der letzten brunn, eines der interessantesten Gebilde der letzten Monate und der letzten Tage über Ausländerfeind- Zeit, nun endgültig durch die Maschen fällt. lichkeit und Radikalismus nötig ist, dieses Konzept so Wir kommen zum Durcheinander Nummer drei. schnell wie möglich und — ich betone — so einver- Das ist die Kulturpolitik. Bei den Beratungen im nehmlich wie möglich vorzulegen und zu beschließen. vorigen Jahr wurde beschlossen, mit Ende dieses Ich fordere Sie auf, diese nationale Aufgabe mit Jahres das Sonderprogramm zur Substanzerhaltung Nachdruck voranzutreiben, damit wir 1993 zu einem der Kultur in den neuen Bundesländem auslaufen zu positiven Abschluß kommen können. lassen. Schon damals, sehr geehrter Herr Minister, Zwei Jahre nach der Wiederherstellung der staatli- habe ich Sie aufgefordert, diesen Beschluß der Koali- chen Einheit fragen sich immer mehr Bürger, ob tion im Haushaltsausschuß rückgängig zu machen, da wirklich zusammenwächst, was zusammengehört. Ich er völlig an der Sache vorbeiging. möchte hier nicht auf wirtschaftliche Prozesse einge- Manchmal ist es schön, wenn man sich selber hen, sondern auf das, was in den Köpfen und den zitieren darf. Ich tue das. Ich zitiere aus meiner- Herzen der Menschen in den neuen und den alten Haushaltsrede vom 28. November 1991: Bundesländern vorgeht. Jene Bar rieren, die in 40 Jah- ren Teilung gewachsen sind, können — darüber Ich prophezeie Ihnen: Dieser Titel wird wieder waren sich eigentlich alle klar —, nicht in kürzester aufgemacht werden. Ich fordere Sie, Herr Bun- Zeit fortgeräumt werden. desminister Seiters, auf, für den Haushalt 1993 diesen Titel wieder zu öffnen und mit den not- Die Freude über die Einheit, die Euphorie der ersten wendigen Mitteln auszustatten. Monate, die im finanziellen Bereich durch diese Bundesregierung in unverantwortlicher Weise ge- (Beifall bei der SPD) schürt wurde, können über eines nicht hinwegtäu- Insoweit, Herr Minister, muß ich Sie loben. Sie sind schen: Der jetzt einsetzende graue Alltag verlangt dieser Aufforderung nachgekommen und haben im mehr und konstantere Arbeit im Überwinden dieser Haushaltsentwurf 310 Millionen DM für die Kulturför- Barriere „hüben" und „drüben"; ich verwende im derung wieder eingestellt, die dann, nachdem sich Augenblick bewußt diese alten Formulierungen. auch der Bundeskanzler der Angelegenheit ange- nommen hatte, auf 600 Millionen DM aufgestockt Aber statt, Herr Innenminister, die notwendigen wurden. Damit ist die Koalition einem Anliegen der Mittel für die Bildungsarbeit — heute wurde hier auch SPD-Fraktion gefolgt, die in diesem Jahr bereits in viel von Bildung und Erziehung gesprochen — aufzu- einem Antrag die Weiterführung und Verstetigung stocken, um Toleranz und Miteinander als grundde- der Kulturförderung in den neuen Bundesländern bis mokratische Werte zu erlernen und zu erleben, wer- 1995 gefordert hatte. den die Mittel für den Bildungsbereich, auch im deutschlandpolitischen Bildungsbereich, gegen den Die Frage ist nur, meine Damen und Herren von der energischen Widerstand der Sozialdemokraten seit Koalition und Herr Bundesminister: Warum muß dies Jahren gekürzt. immer alles nach dem Motto: „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln" gehen? Sparen Sie sich bitte — auch bei der Bundesanstalt für politische Bildung; Sie waren heute da, Herr (Ina Albowitz [F.D.P.]: So ist das Leben!) Staatssekretär — die großen Worte, wenn Sie die Wenn nach vielen Konferenzen, Gesprächen, Dienst- Mittel nicht zur Verfügung stellen, die dringend reisen, Besprechungen — auch die kosten schließlich notwendig sind, um auch in diesem Bereich dafür zu eine Menge Geld — nach einem Jahr letztlich nichts sorgen, daß das, was wir alle wünschen, Wirklichkeit anderes herauskommt als das, was die SPD schon vor wird: das Zusammenwachsen dieses Landes und das 10572 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Rudolf Purps Mehr an Miteinander statt des Gegeneinanders, wie drücklich dafür zu sorgen, daß die angestrebten Ziele es sich in vielen Bereichen zur Zeit zeigt. des Beschleunigungsgesetzes so schnell wie möglich Ich will nicht behaupten, daß Ausschreitungen erreicht werden konnten. gegen Ausländer, Tendenzen zum Rechtsradikalis- mus und alle diese häßlichen und entsetzlichen Dinge Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege der letzten Jahre und insbesondere der letzten Tage Purps, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des durch vermehrte Bildungsarbeit hätte vermieden wer- Kollegen Gerster? den können. Aber ich sage Ihnen: Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, daß durch die Vernachlässigung des Bildungsbereichs, die in den letzten Jahren ein- Rudolf Purps (SPD): Nein, ich möchte meine Aus- getreten ist, dieser unsäglichen Entwicklung nicht führungen jetzt zu Ende bringen können, weil meine genügend entgegengesteuert wurde. Zeit es kaum noch zuläßt und ich die Ökonomie der Kollegen auch nicht überstrapazieren möchte. Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind neben anderem Nährböden des Radikalismus; das wissen (Zuruf von der CDU/CSU: Eine gute Rede wir. Aber man kann diese Entwicklungen nicht nur soll man nicht unterbrechen!) durch AB-Maßnahmen — die kürzen Sie auch noch — Wenn Sie erst nach ernsthaften Hinweisen aus der entgegenwirken. Hier muß die Bildungspolitik tätig Öffentlichkeit und aus der SPD dazu übergegangen werden. Dies ist nicht in genügendem Umfang sind, in einer von Ihnen so genannten „Zwangskol- geschehen. Wir können uns die großen Worte über die lekte" Mitarbeiter aus den Ministerien herauszukäm- Notwendigkeit neuer Bildungs- und Erziehungsarbeit men und für ein Jahr — übrigens mit einem sehr guten sparen, wenn wir nicht zugleich die Mittel für diesen Zubrot versehen, das muß man sagen — nach Zirndorf Bereich zur Verfügung stellen. zu schicken, dann hätten Sie diese Maßnahme bereits Ich hätte erwartet, Herr Kollege Seiters, daß Sie in im Frühjahr dieses Jahres einleiten können und nicht diesem Bereich Ihre Kraft und Ihren Einfluß im Kabi- erst dann, wenn die Situation unerträglich wird. nett stärker geltend gemacht hätten, auch gegenüber (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Der dem Finanzminister. Mann hat keine Ahnung!) (Beifall bei der SPD) Sie haben im Haushaltsausschuß angesichts der neuen Situation, nämlich der Tatsache, daß 150 000 Es handelt sich hierbei nicht um viel Geld; es sind Menschen mehr Asylanträge gestellt haben oder nicht die großen Millionen- und Milliardenbeträge. 10 stellen werden, eine nochmalige Aufstockung des oder 15 Millionen DM, in diesen Bereichen zusätzlich BAFL gefordert und sind damit Ihren Pflichten, Herr eingesetzt, hätten Ihnen gut angestanden und wären Minister, formal nachgekommen. Daß Ihre ständige im Einzelplan 06 auch ohne weiteres durch Umschich- Forderung nach Änderung des Art. 16 in keiner Weise tungen zu bewirtschaften gewesen. zu dieser Forderung paßt, will ich hier nur am Rande Statt dessen haben Sie sich mit anderen -Dingen zu erwähnen. beschäftigen gehabt: mit der isolierten Forderung Die Koalition ist Ihrem berechtigten Begehren — ich nach Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes und sage: berechtigten Begehren — nicht nachgekom- damit, eine Situation und eine Stimmung zu schüren, men. Sie, Herr Innenminister, sind vor der Koalition die schon explosiv genug ist. und dem Finanzminister zurückgewichen. Eine Anstatt dafür zu sorgen, daß die im letzten Jahr Woche, nachdem Sie mit guten Argumenten im Haus- gefaßten Beschlüsse zur Personalausstattung in Zirn- haltsausschuß diese Forderung vorgetragen haben dorf so zügig und schnell wie möglich durchgeführt und die Unterstützung der SPD fanden, war kein Wort werden, hat man eher den Eindruck gehabt, daß Sie, des Protestes von Ihrem Haus und von Ihnen zu hören. da Sie ja eigentlich eine ganz andere Lösung wollen, Also, entweder war das ganze ein Scheingefecht, dieser Aufgabe nur unzulänglich nachkommen. oder, Herr Minister, Sie haben nicht die Kraft, berech- tigte Forderungen gegenüber dem Finanzminister (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Also, durchzusetzen. Sei es, wie es sei, der Innenminister ist das ist nun wirklich nicht richtig! Das können am Finanzminister gescheitert. Sie vergessen!) Statt gebetsmühlenartig immer wieder die Forde- Ich bestreite nicht, daß auch die Länder ihren rung nach Änderung des Art. 16 zu erheben, hätten Pflichten im Bereich der Entscheider unzureichend Sie längst darauf drängen müssen, eine Vorlage der nachgekommen sind. Koalition zur Lösung der Gesamtproblematik vorzu- legen, (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Na also!) (Beifall bei der SPD) Und ich kritisiere dies genauso. Aber dann habe ich, und zwar zur Lösung der Gesamtproblematik von Herr Kollege, das Recht, den Innenminister da zu Zuwanderung, Einwanderung, Kriegsflüchtlingen kritisieren, wo er offensichtlich Defizite hatte und und Armutswanderungen sowie Asyl. Die SPD hat auf weiterhin hat. dem Bundesparteitag ihren Teil geleistet. Die Bürger erwarten Lösungen von uns, wenn nicht am Ende (Beifall bei der SPD) Demokratieverdrossenheit das Ergebnis der Ausein- Selbst wenn die Länder so gehandelt haben, entbin- andersetzung sein soll. det das Sie, Herr Innenminister, keineswegs von der Und wenn das nicht so sein soll, so ist es in dieser Verpflichtung, in Ihrem ureigensten Bereich nach Situation notwendig, Maßanzüge, Herr Minister, für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10573

Rudolf Purps die unterschiedlichen Motive und Hintergründe von über staatspolitische Notwendigkeiten stellen wol- Zu- und Einwanderung zu schneidern, anstatt die len, Problematik durch die isolierte Änderung des Art. 16 (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Pak einer Scheinlösung zuführen zu wollen. Denn Sie, ken Sie erst einmal die Hände aus der Hosen Herr Kollege Seiters, und alle anderen in diesem tasche!) Hause wissen, daß eine rein isolierte Änderung des dann sollten Sie besser das Feld räumen. Es steht mehr Art. 16 nichts, aber auch gar nichts löst, sondern nur auf dem Spiel, Herr Kollege, als nur die Reputation der jetzige Asylbewerber in die illegale Einwanderung Parteien. Es stehen auf dem Spiel die Fragen der drückt. Akzeptanz der Demokratie in weiten Teilen unserer Obwohl Sie wissen, daß es so kommen wird, ist der Bevölkerung. von Ihnen zu verantwortende Bundesgrenzschutz Meine Damen und Herren und Kollegen, der Haus- überhaupt nicht in der Lage, die illegale Einwande- halt enthält auf die drängenden Fragen der Gegen- rung wirkungsvoll zu stoppen. wart nur unzulängliche oder gar keine Antworten. Wir lehnen ihn ab. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Im übrigen sind Sie als Chef des Bundesgrenzschut- zes Ihrer Fürsorgepflicht gegenüber diesem nicht Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine nachgekommen. Über 4 000 Stellen sind erstens nicht Damen und Herren, bevor ich dem nächsten Redner besetzt, und die dringend notwendige Umwandlung das Wort erteile, möchte ich das Ergebnis der nament- von Stellen des mittleren Dienstes in Stellen des lichen Abstimmung über den Änderungsantrag der gehobenen Dienstes, so wie das bei den Länderpoli- Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3811 bekanntge- zeien nun geschieht, wird von Ihnen nur äußerst ben. Abgegebene Stimmen 541, ungültig keine. Mit unzulänglich angegangen. So ist es schon eine gro- Ja haben 201 gestimmt, mit Nein haben 337 gestimmt. teske Situation. Enthaltungen 3. Die illegale Einwanderung, die Sie provozieren,

(Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Na, Endgültiges Ergebnis Eich, Ludwig also jetzt hören Sie auf!) Dr. Elmer, Konrad Abgegebene Stimmen: 541; Erler, Gernot können Sie aus Personalmangel, verschuldet durch davon: Esters, Helmut j a: 200 Ewen, Carl Ihre Personalpolitik beim Bundesgrenzschutz, nicht Ferner, Elke stoppen. Statt dessen fordern Sie die Bundeswehr an nein: 338 Fischer (Gräfenhainichen), und wissen, daß die Bundeswehr für diese Aufgaben enthalten: 3 Evelin nicht zur Verfügung steht. Fischer (Homburg), Lothar Fuchs (Verl), Katrin (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: -So Ja Gansel, Norbert stellt sich Fritzchen die große Politik vor! Es Gilges, Konrad CDU/CSU Gleicke, Iris ist entsetzlich, was Sie da reden!) Dr. Glotz, Peter Dr. Faltlhauser, Kurt Graf, Günter Die ganze Situation, Herr Kollege Gerster, ist ein Großmann, Achim Dokument der Hilflosigkeit dieser Regierung, ge- Haack (Extertal), mischt mit Unfähigkeit und einer ganz gehörigen SPD Karl Hermann Portion Ignoranz. Habermann, Michael Adler, Brigitte Hacker, Hans-Joachim Antretter, Robert Hämmerle, Gerlinde (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bachmaier, Hermann Hampel, Manfred Barbe, Angelika Hanewinckel, Christel Herr Minister Seiters, ich fordere Sie auf, mit den Bartsch, Holger Hasenfratz, Klaus Sozialdemokraten gemeinsam zu einer konstruktiven Becker (Nienberge), Helmuth Dr. Hauchler, Ingomar

Lösung der Zuwanderungs - und Asylproblematik zu Becker-Inglau, Ingrid Heistermann, Dieter kommen. Sie haben Gelegenheit, am Wochenende Beucher, Friedhelm Julius Heyenn, Günther Bindig, Rudolf Hiller (Lübeck), Reinhold hier Entscheidendes zu bewegen. Die Bürger warten Blunck, Lieselott Hilsberg, Stephan bei Ihnen darauf. Sie warten auch bei der SPD Bock, Thea Horn, Erwin darauf. Dr. Böhme (Unna), Ulrich Huonker, Gunter Börnsen (Ritterhude), Arne Iwersen, Gabriele (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Brandt-Elsweier, Anni Jäger, Renate Nach dieser Rede erwarten sie von der SPD Dr. Brecht, Eberhard Janz, Ilse Büchner (Speyer), Peter Dr. Janzen, Ulrich nichts mehr!) Dr. von Bülow, Andreas Dr. Jens, Uwe Bulmahn, Edelgard Jung (Düsseldorf), Volker Wenn wir uns hier bewegen, werden wir zu einem Bury, Hans Martin Jungmann (Wittmoldt), Horst Ergebnis kommen. Nur muß bitte auch klargestellt Caspers-Merk, Marion Kastner, Susanne werden, wer in der Vergangenheit mehr Brandstifter Catenhusen, Wolf-Michael Kastning, Ernst als Biedermann gewesen ist. Und, Herr Gerster, Sie Conradi, Peter Kirschner, Klaus Dr. Däubler-Gmelin, Herta Klappert, Marianne verstehen davon sehr viel. Dr. Diederich (Berlin), Nils Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Diller, Karl Klemmer, Siegrun (Beifall bei der SPD) Dr. Dobberthien, Marliese Dr. Knaape, Hans-Hinrich Ebert, Eike Körper, Fritz Rudolf Wenn Sie allerdings, meine Damen und Herren von Dr. Eckardt, Peter Kolbow, Walter der CDU und insbesondere auch der CSU, Parteitaktik Dr. Ehmke (Bonn), Horst Koltzsch, Rolf 10574 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Koschnick, Hans Walter (Cochem), Ralf Böhm (Melsungen), Wilfried Dr. Jobst, Dionys Dr. Kübler, Klaus Walther (Zierenberg), Rudi Dr. Böhmer, Maria Dr.-Ing. Jork, Rainer Kuessner, Hinrich Wartenberg (Berlin), Gerd Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Dr. Jüttner, Egon Dr. Küster, Uwe Dr. Wegner, Konstanze Dr. Bötsch, Wolfgang Junghanns, Ulrich Lambinus, Uwe Weiermann, Wolfgang Bohl, Friedrich Dr. Kahl, Harald Lange, Brigitte Weiler, Barbara Bohlsen, Wilfried Kalb, Bartholomäus von Larcher, Detlev Weis (Stendal), Reinhard Borchert, Jochen Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Leidinger, Robert Weisheit, Matthias Brähmig, Klaus Karwatzki, Irmgard Dr. Leonhard-Schmid, Elke Weißgerber, Gunter Breuer, Paul Kauder, Volker Dr. Lucyga, Christine Weisskirchen (Wiesloch), Gert Brudlewsky, Monika Keller, Peter Maaß (Herne), Dieter Dr. Wetzel, Margrit Brunnhuber, Georg Kiechle, Ignaz Mascher, Ulrike Weyel, Gudrun Bühler (Bruchsal), Klaus Kittelmann, Peter Matschie, Christoph Dr. Wieczorek, Norbert Büttner (Schönebeck), Klein (Bremen), Günter Dr. Matterne, Dietmar Wieczorek-Zeul, Heidemarie Hartmut Klein (München), Hans Matthäus-Maier, Ingrid Wiefelspütz, Dieter Buwitt, Dankward Klinkert, Ulrich Mattischeck, Heide Wimmer (Neuötting), Carstens (Emstek), Manfred Köhler (Hainspitz), Meißner, Herbert Hermann Dehnel, Wolfgang Hans-Ulrich Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Dr. de With, Hans Dempwolf, Gertrud Dr. Köhler (Wolfsburg), Mosdorf, Siegmar Wittich, Berthold Deres, Karl Volkmar Müller (Düsseldorf), Michael Wohlleben, Verena Deß, Albert Kolbe, Manfred Müller (Schweinfurt), Rudolf Wolf, Hanna Diemers, Renate Koschyk, Hartmut Müller (Völklingen), Jutta Zapf, Uta Dörflinger, Werner Kossendey, Thomas Neumann (Bramsche), Volker Doss, Hansjürgen Kraus, Rudolf Neumann (Gotha), Gerhard Dr. Dregger, Alfred Dr. Krause (Bonese), Dr. Niehuis, Edith F.D.P. Echternach, Jürgen Rudolf Karl Dr. Niese, Rolf Ehlers, Wolfgang Krause (Dessau), Wolfgang Oostergetelo, Jan Grünbeck, Josef Ehrbar, Udo Krey, Franz Heinrich Opel, Manfred Schäfer (Mainz), Helmut Eichhorn, Maria Kriedner, Arnulf Ostertag, Adolf Schüßler, Gerhard Engelmann, Wolfgang Kronberg, Heinz-Jürgen Dr. Otto, Helga Eppelmann, Rainer Dr.-Ing. Krüger, Paul Paterna, Peter Eylmann, Horst Krziskewitz, Reiner Dr. Penner, Willfried PDS/Linke Liste Eymer, Anke Lamers, Karl Peter (Kassel), Horst Falk, Ilse Dr. Lammert, Norbert Dr. Pfaff, Martin Bläss, Petra Dr. Fell, Karl H. Lattmann, Herbert Dr. Pick, Eckhart Dr. Enkelmann, Dagmar Fockenberg, Winfried Dr. Laufs, Paul Poß, Joachim Dr. Fischer, Ursula Francke (Hamburg), Klaus Laumann, Karl-Josef Purps, Rudolf Dr. Fuchs, Ruth Frankenhauser, Herbert Lehne, Klaus-Heiner Reimann, Manfred Jelpke, Ulla Dr. Friedrich, Gerhard Dr. Lehr, Ursula Rennebach, Renate Dr. Keller, Dietmar Fritz, Erich G. Lenzer, Christian Rixe, Günter Lederer, Andrea Fuchtel, Hans-Joachim Limbach, Editha Roth, Wolfgang Dr. Modrow, Hans Ganz (St. Wendel), Johannes Link (Diepholz), Walter Schaich-Walch, Gudrun Philip, Ingeborg Geiger, Michaela Lintner, Eduard Schanz, Dieter Stachowa, Angela Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Dr. Lippold (Offenbach), Schily, Otto Geis, Norbert Klaus W. Schloten, Dieter Dr. von Geldern, Wolfgang Dr. Lischewski, Manfred Schluckebier, Günter BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gerster (Mainz), Johannes Löwisch, Sigrun Schmidbauer (Nürnberg), Gibtner, Horst Lohmann (Lüdenscheid), Horst Dr. Feige, Klaus-Dieter Glos, Michael Wolfgang Schmidt (Aachen), Ursula Köppe, Ingrid Göttsching, Martin Louven, Julius Schmidt (Nürnberg), Renate Poppe, Gerd Götz, Peter Dr. Luther, Michael Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Schenk, Christina Grochtmann, Elisabeth Maaß (Wilhelmshaven), Erich Schmidt-Zadel, Regina Schulz (Berlin), Werner Gröbl, Wolfgang Männle, Ursula Dr. Schmude, Jürgen Weiß (Berlin), Konrad Grotz, Claus-Peter Magin, Theo Dr. Schnell, Emil Wollenberger, Vera Dr. Grünewald, Joachim Marienfeld, Claire Schreiner, Ottmar Günther (Duisburg), Horst Marschewski, Erwin Schröter, Gisela Harries, Klaus Marten, Günter Schütz, Dietmar Fraktionslos Haschke (Großhennersdorf), Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Dr. Schuster, R. Werner Gottfried Martin Schwanitz, Rolf Dr. Briefs, Ulrich Haschke (Jena-Ost), Udo Meckelburg, Wolfgang Seidenthal, Bodo Henn, Bernd Hasselfeldt, Gerda Meinl, Rudolf Seuster, Lisa Haungs, Rainer Dr. Meseke, Hedda Sielaff, Horst Hauser (Esslingen), Otto Dr. Meyer zu Bentrup, Simm, Erika Nein Hauser (Rednitzhembach), Reinhard Singer, Johannes Hansgeorg Michalk, Maria Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid CDU/CSU Hedrich, Klaus-Jürgen Michels, Meinolf Dr. Soell, Hartmut Heise, Manfred Dr. Mildner, Klaus Sorge, Wieland Dr. Ackermann, Else Dr. Hellwig, Renate Dr. Möller, Franz Steen, Antj e-Marie Adam, Ulrich Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Molnar, Thomas Steiner, Heinz-Alfred Dr. Altherr, Walter Franz Hinsken, Ernst Müller (Kirchheim), Elmar Stiegler, Ludwig Augustin, Anneliese Hintze, Peter Müller (Wadern), Dr. Struck, Peter Augustinowitz, Jürgen Hörsken, Heinz-Adolf Hans-Werner Tappe, Joachim Austermann, Dietrich Hörster, Joachim Nelle, Engelbert Dr. Thalheim, Gerald Bargfrede, Heinz-Günter Dr. Hoffacker, Paul Dr. Neuling, Christian Titze, Uta Dr. Bauer, Wolf Hollerith, Josef Nitsch, Johannes Urbaniak, Hans-Eberhard Baumeister, Brigitte Dr. Hornhues, Karl-Heinz Nolte, Claudia Vergin, Siegfried Bayha, Richard Hornung, Siegfried Dr. Olderog, Rolf Verheugen, Günter Belle, Meinrad Hüppe, Hubert Ost, Friedhelm Dr. Vogel, Hans-Jochen Bierling, Hans-Dirk Jäger, Claus Oswald, Eduard Voigt (Frankfurt), Karsten D. Dr. Blank, Joseph-Theodor Jaffke, Susanne Otto (Erfurt), Norbert Wagner, Hans Georg Blank, Renate Jagoda, Bernhard Dr. Päselt, Gerhard Wallow, Hans Bleser, Peter Janovsky, Georg Dr. Paziorek, Peter Waltemathe, Ernst Dr. Blüm, Norbert Jeltsch, Karin Pesch, Hans-Wilhelm Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10575

Petzold, Ulrich Stockhausen, Karl Schmidt (Dresden), Arno Würfel, Uta Pfeffermann, Gerhard O. Dr. Stoltenberg, Gerhard Dr. Schmieder, Jürgen Zurheide, Burkhard Pfeifer, Anton Strube, Hans-Gerd Dr. Schnittler, Christoph Zywietz, Werner Pfeiffer, Angelika Stübgen, Michael Schuster, Hans Dr. Pfennig, Gero Susset, Egon Sehn, Marita Dr. Pflüger, Friedbert Tillmann, Ferdi Seiler-Albring, Ursula Fraktionslos Dr. Pinger, Winfried Dr. Töpfer, Klaus Dr. Semper, Sigrid Pofalla, Ronald Uldall, Gunnar Dr. Solms, Hermann Otto Lowack, Ortwin Dr. Pohler, Hermann Verhülsdonk, Roswitha Dr. Starnick, Jürgen Priebus, Rosemarie Vogel (Ennepetal), Friedrich Dr. von Teichman, Cornelia Dr. Protzner, Bernd Vogt (Düren), Wolfgang Thiele, Carl-Ludwig Enthalten Rahardt-Vahldieck, Susanne Dr. Vondran, Ruprecht Dr. Thomae, Dieter Raidel, Hans Dr. Waffenschmidt, Horst Timm, Jürgen F.D.P. Dr. Ramsauer, Peter Dr. Waigel, Theodor Walz, Ingrid Rau, Rolf Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dr. Weng (Gerlingen), Dr. Funke-Schmitt-Rink, Rauen, Peter Harald Dr. Warnke, Jürgen Wolfgang Margret Rawe, Wilhelm Werner (Ulm), Herbert Wolfgramm (Göttingen), Dr. Hirsch, Burkhard Reichenbach, Klaus Wetzel, Kersten Torsten Türk, Jürgen Dr. Reinartz, Bertold Wiechatzek, Gabriele Reinhardt, Erika Dr. Wieczorek (Auerbach), Damit ist der Antrag abgelehnt. Repnik, Hans-Peter Bertram Dr. Rieder, Norbert Dr. Wilms, Dorothee Ich bin in der Lage, Sie zu bitten, über den Einzel- Dr. Riedl (München), Erich Wilz, Bernd plan 14, also Verteidigung, in der Ausschußfassung Riegert, Klaus Wimmer (Neuss), Willy abzustimmen. Wer dem zuzustimmen wünscht, den Dr. Riesenhuber, Heinz Dr. Wisniewski, Roswitha Ringkamp, Werner Wissmann, Matthias bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dage- Rode (Wietzen), Helmut Dr. Wittmann, Fritz gen? —Enthaltungen? — Wohl keine, denn alle haben Rönsch (Wiesbaden), Wittmann (Tännesberg), abgestimmt. Damit ist der Einzelplan 14, Verteidi- Hannelore Simon gung, mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Romer, Franz Wonneberger, Michael Dr. Rose, Klaus Würzbach, Peter Kurt angenommen worden. Rossmanith, Kurt J. Yzer, Cornelia Meine Damen und Herren, erfreulicherweise habe Roth (Gießen), Adolf Zeitlmann, Wolfgang ich die Gelegenheit, Sie zu bitten, zuzustimmen, daß Rother, Heinz Zierer, Benno Dr. Ruck, Christian Zöller, Wolfgang zu dem laufenden Tagesordnungspunkt III, also Ein- Rühe, Volker zelplan 06 und andere, drei Reden zu Protokoll Dr. Rüttgers, Jürgen gegeben worden sind, und zwar von den Abgeordne- Sauer (Salzgitter), Helmut F.D.P. ten Frau Köppe, Frau Stachowa und Frau Jelpke. Ich Sauer (Stuttgart), Roland Scharrenbroich, Heribert Albowitz, Ina muß nur formal die Zustimmung des Hauses einholen, Schätzle, Ortrun Dr. Babel, Gisela damit der Geschäftsordnung Genüge getan wird. — Schemken, Heinz Baum, Gerhart Rudolf Die Zustimmung wird offensichtlich erteilt.*) Scheu, Gerhard Dr. Blunk, Michaela Schmalz, Ulrich Bredehorn, Günther Wir können in der Debatte fortfahren. Herr Abge- Schmidbauer, Bernd Eimer (Fürth), Norbert ordneter Deres hat das Wort. Schmidt (Fürth), Christian Engelhard, Hans A. Dr.-Ing. Schmidt (Halsbrücke), van Essen, Jörg Joachim Friedhoff, Paul K. Karl Deres (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Schmidt (Mülheim), Andreas Friedrich, Horst verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Schmidt (Spiesen), Trudi Gallus, Georg Schmitz (Baesweiler), Ganschow, Jörg Kollegen! Im Haushaltsausschuß häuft sich die Arbeit Hans Peter Genscher, Hans-Dietrich oft so, daß wir kaum in die politische Diskussion von Schmude, Michael Grüner, Martin einsteigen können und uns mit der Sachdiskussion Dr. Schockenhoff, Andreas Günther (Plauen), Joachim nur in sehr engem Rahmen befassen können. Der Graf von Schönburg - Dr. Guttmacher, Karlheinz Glauchau, Joachim Hackel, Heinz-Dieter große Vorsitzende, der Kollege Rudi Walther von der Dr. Scholz, Rupert Hansen, Dirk SPD, sagt auch immer zwischendurch, wenn wir Frhr. von Schorlemer, Heinrich, Ulrich trotzdem in die Politik geraten: Das können wir alles Reinhard Dr. Hitschler, Walter im Plenum sagen. Ich gehe davon aus, daß das bei dem Dr. Schreiber, Harald Dr. Hoth, Sigrid Schulhoff, Wolfgang Dr. Hoyer, Werner Kollegen Purps einen solchen Stau ausgelöst hat, daß Dr. Schulte (Schwäbisch Irmer, Ulrich er heute abend so viel Dampf abließ, daß selbst die Gmünd), Dieter Kleinert (Hannover), Detlef Sache nicht mehr richtig aus der Lokomotive heraus- Schulz (Leipzig), Gerhard Dr. Kolb, Heinrich L. kam. Schwalbe, Clemens Koppelin, Jürgen Schwarz, Stefan Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Schwarz-Schilling, Dr. Graf Lambsdorff, Otto Aber da wir gerade bei der Lokomotive sind, lassen Christian Lüder, Wolfgang Sie mich bitte mit einem Bild beginnen, das, wie ich Dr. Schwörer, Hermann Dr. Menzel, Bruno Seehofer, Horst Möllemann, Jürgen W. finde, treffend die hinter uns liegenden Beratungen Seesing, Heinrich Nolting, Günther Friedrich illustriert. Ein alter Indianerhäuptling fuhr mit der Seibel, Wilfried Dr. Ortleb, Rainer frisch eröffneten Eisenbahn im Wilden Westen zu Seiters, Rudolf Otto (Frankfurt), Verhandlungen mit den Weißen. Am Verhandlungs- Sikora, Jürgen Hans-Joachim Skowron, Werner H. Paintner, Johann ort angekommen, hatte er sich aber erst einmal auf die Dr. Sopart, Hans-Joachim Peters, Lisa Gleise gesetzt. Auf die Frage, warum er nicht direkt Sothmann, Bärbel Dr. Pohl, Eva ins Verhandlungszelt komme, antwortete er: „Mein Spilker, Karl-Heinz Richter (Bremerhaven), Körper ist zwar schon da, aber mein Geist ist noch auf Spranger, Carl-Dieter Manfred Dr. Sprung, Rudolf Rind, Hermann der Reise. " — So oder ähnlich ist es mir, vielleicht auch Steinbach-Hermann, Erika Dr. Röhl, Klaus Dr. Stercken, Hans Schmalz-Jacobsen, Cornelia *) Anlage 3 10576 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Karl Deres manchem von Ihnen, in den vergangenen Wochen genauer Betrachtung also auch im ureigensten Inter- ergangen, während wir den Haushalt beraten esse der Exekutive, der Regierung. haben. Viele Titel sind unverzichtbar und im Interesse (Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU und einer kontinuierlichen Aufgabenwahrnehmung auf Zuruf: Sehr gut!) Dauer angelegt. Dennoch ist es uns gelungen, beacht- Immer neue Probleme, neue Wünsche — Bedürf- liche Veränderungen gegenüber dem Regierungsent- nisse sind ja auch unbegrenzte Wünsche — und immer wurf durchzusetzen. Wir haben den Etat damit flexibel neue Deckblätter wurden uns in die Hand gedrückt. und verantwortungsbewußt den aktuellen Herausfor- Mit dem Kopf waren wir noch bei den Vorlagen der derungen angepaßt. vergangenen Sitzung, während beide Hände mit neuen, druckfrischen Vorlagen beladen wurden. Lassen Sie mich als erstes Beispiel die enorme Aufstockung bei der personellen und finanziellen (Zuruf von der SPD: Tohuwabohu!) Ausstattung des Bundesamtes für die Anerkennung Diese Charakterisierung der parlamentarischen Bera- ausländischer Flüchtlinge in Zirndorf nennen, das tung des Etats soll hier wegen der Kürze der Zeit damit auch an seine Grenzen stößt. Und jetzt stoßen ausreichen. wir auch noch einmal auf die Äußerungen des Kolle- ank unserer Beschlüsse (Zuruf von der SPD: Die kamen vom Finanz gen Purps. Das BAFl wird d seine Aufgaben in nächster Zeit bewältigen. Nur: Bei ministerium!) weiter steigenden Asylbewerberzahlen ist das nicht Trotz allem: Das Ergebnis, das wir jetzt vorlegen, ist möglich. Jetzt müssen die Asylbewerberzahlen sin- viel besser als erwartet, und das ist der besondere ken. Das ist das Gebot der Stunde. Es ist höchste Zeit, Ärger der Kollegen der SPD. die Blockade gegen eine vernünftige und erfolgver- (Beifall bei der CDU/CSU) sprechende Asylrechtsänderung aufzugeben. Die bis- herige — so hoffe ich jedenfalls — Entscheidungsun- Der Regierungsentwurf sah schon keine Steigerung fähigkeit der SPD des Haushalts des Bundesministeriums des Innern mehr vor. Wir wollen ja sparen. In der jetzt vorliegen- (Lachen und Zurufe bei der SPD) den Ausschußfassung haben wir darüber hinaus sogar eine Einsparung von über 160 Millionen DM erwirt- hat nicht nur dem Ansehen der Demokratie gescha- schaftet. Mit knapp 8,4 Milliarden DM bleibt der det, sie hat auch den Steuerzahler viel, viel Geld Einzelplan 06 um ungefähr 2 % unter dem Regie- gekostet. - rungsentwurf. Das ist ein beachtliches Ergebnis unse- rer Spar- und Umschichtungsbeschlüsse. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist uns allen klar: Der Einzelplan des Bundesmi- An der Entwicklung des Haushaltes des BAFl kann nisteriums des Innern ist mit seinen mehr als 30 Kapi- - man diese nüchternen Zahlen exakt nachweisen. teln schwierig strukturiert. Unter dem Dach dieses Zynisch könnte ich sogar einen Satz aus meiner Ministeriums sind die unterschiedlichsten Aufgaben letzten Haushaltsrede — ich zitiere mich auch immer zusammengefaßt, die zudem weitgehend kaum etwas gern —, nämlich: „Mehr Personal und mehr Sachko- miteinander zu tun haben. Das reicht von Ausländer- sten lösen die Probleme nicht" , in die Formulierung und Asylangelegenheiten über das Dienstrecht bis hin umwandeln: Je mehr Personal- und Sachmittel wir zu Polizeifragen und Fragen der inneren Sicherheit. bisher bereitgestellt haben, um so mehr Asylbewerber Gleichzeitig finden wir dort das Verfassungsrecht sind gekommen. — Aber ich bitte, zu verstehen, daß ebenso wie den Sport oder die Förderung gesamt- staatlich bedeutsamer Kultur — um nur einige Stich- das etwas zynisch war. worte zu nennen. Alle diese Bereiche stecken voller Zurück zur Sache! Der Innenminister hat die Mög- aktueller Probleme. Ich werde dazu noch einige lichkeit, beim BAFl im Rahmen des Stellen-Solls des Beispiele nennen. Jahres 1992 weitere 1 950 Mitarbeiter auf Dauer Doch zunächst zu der Struktur dieses Hauses und einzustellen. Diese Stellen stehen also jetzt schon das der nachgeordneten Behörden. Ein großer Teil der ganze Jahr bereit. Daneben gibt es 30 neue Stellen für Ausgaben entfällt inzwischen auf Personalkosten. die vom Bundesinnenminister neu eingerichtete Gegenüber 1992 sollte der Personalkostenanteil von Abteilung „Ausländer- und Asylangelegenheiten", etwa 31 % im Regierungsentwurf für 1993 auf immer- und im Wege der Abordnung wird der Bund 1 300 hin 34 % steigen. Die Personalkürzungen, die wir Bedienstete auf freiwilliger Basis zum Bundesamt beschlossen haben, bremsen diese Entwicklung. abordnen. Auf Grund der Bewerberzahlen können Natürlich ist ohne qualifiziertes Personal eine funktio- mittlerweile pro Monat 300 Bedienstete eingestellt nierende Verwaltung beim besten Willen nicht denk- werden. bar. Bei diesen Dimensionen wird aber auch klar, daß die Spielräume für Umschichtungen zwischen den Auf Bundesebene sind also die Hausaufgaben einzelnen Aufgabenblöcken immer enger werden. gemacht. Mittel für die Zentrale und die geplanten Ohne die vielzitierte schlanke Verwaltung werden Außenstellen stehen bereit, um die Berge von Asylan- Investitionen und Zuwendungen, also die Finanzie- trägen beschleunigt abzuarbeiten. Leider konnten die rung der Sachbereiche, nach und nach an Bedeutung Außenstellen noch nicht überall eingerichtet werden, verlieren. Das heißt aber im Klartext, daß die politi- da die Länder ihre Aufnahmelager noch nicht flächen- schen Gestaltungsspielräume immer kleiner werden. deckend eingerichtet haben. Das ist einer der Gründe Das Eingrenzen ausufernder Personalkosten liegt bei dafür, daß sich die Personalgewinnung für das BAFl Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode - 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10577

Karl Deres als äußerst schwierig erweist. Wer bewirbt sich schon, zum Trotz, langsam, aber sicher zu einer Dauerförde- wenn er nicht weiß, wo er arbeiten soll? rung überwiegend von Kulturkonsum wird. Wir ken-

nen das: Wenn sich die Begünstigten erst einmal an (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sehr die Gelder aus Bonn gewöhnt haben, ist eine Strei- wahr!) chung der Mittel erfahrungsgemäß kaum noch umzu-

Auch haben die Länder ihre Versprechungen vom setzen. Das Substanzerhaltungsprogramm Kultur war

Oktober 1991, dem Bundesamt mit 500 qualifizierten von Anfang an degressiv angelegt. Ich befürchte, daß

Einzelentscheidern auszuhelfen, bis heute leider wir die ausgegebenen Mittel in der Finanzkontrolle kaum erfüllt. All diejenigen, die versuchen, beim nicht überall mehr nachweisen können. Problem der Personalgewinnung mit dem Finger auf (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!) den Bundesinnenminister zu zeigen, sollten sich

daher genau überlegen, wieviel Finger dabei auf sie Das ist die erste Befürchtung, die ich heute abend hier selbst zurückzeigen. öffentlich sage, und für diese Befürchtung habe ich bedauerlicherweise Hintergründe. Die Übergangs- (Beifall bei der CDU/CSU) phase darf also nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag Die konkreten Ergebnisse zeigen, wie beschämend ausgedehnt werden. Hierauf sollten sich alle Beteilig- das Verhalten der Länder gerade in diesem Punkt ten rechtzeitig einstellen, damit es nicht auf einmal ist. große Enttäuschungen gibt.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Es gibt aber auch hervorragende Beispiele für die zweites Beispiel für die Anpassung des BMI-Etats an konsequente Umsetzung von Sparbeschlüssen. Daher aktuelle Erfordernisse nennen. Wir empfinden es als möchte ich an vierter Stelle drei Punkte nennen: unsere humanitäre Verpflichtung, den Ländern bei der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen aus Die Mittel für die politischen Stiftungen werden um

Bosnien-Herzegowina finanziell unter die Arme zu 5 % gekürzt, damit auch politische Weiterbildung, greifen. Der Bund trägt 50 % der Kosten, die 16 Länder lieber Kollege Probst. Dadurch sparen wir immerhin

teilen sich die andere Hälfte. An diesem Beispiel wird etwa 30 Millionen DM. deutlich, daß auch unvorhergesehene Ereignisse im Auch die Fraktionszuschüsse werden spürbar, näm- Ausland einen tiefgreifenden Einfluß auf den Etat des lich um 10 % verringert. Bundesinnenministers haben können. Gleichzeitig möchte ich betonen, daß der Bund hier strenggenom- Nicht zuletzt haben wir vor kurzem beschlossen, die men in einem Bereich einspringt, der in ureigenste Amtsgehälter der Mitglieder der Bundesregierung in

Zuständigkeitsbereiche der Länder fällt. Dennoch den Jahren 1992 und 1993 nicht zu erhöhen. stehen wir zu dieser Ausnahmeregelung, und zwar Wir setzen damit auch eindeutig Zeichen, wie sie ohne Wenn und Aber. tagtäglich von Kommentatoren in deutschen Blättern

Drittens: Es darf nicht zur Regel werden, daß sich die und auf dem Bildschirmwald von den Politikern ein-

Länder von ihren finanziellen Verpflichtungen- immer gefordert werden. wieder und immer mehr zu Lasten des Bundes zu entlasten versuchen. Die bundesstaatliche Organisa- (Zuruf von der CDU/CSU: Journalistenge hälter kürzen! ZDF! ARD!) tion der Bundesrepublik Deutschland darf nicht nur für Schönwetterlagen gelten. Es ist falsch, die finan- Ob diese Beschlüsse wohl ihren Niederschlag in der zielle Verantwortung des Bundes immer dann einzu- öffentlichen Meinung finden werden? Ich wage es fordern, wenn die Länder die Erfüllung ihrer Aufga- kaum zu hoffen. ben als schwierig oder einfach nur als unangenehm Fünftens. Auch Maßnahmen zur Verbesserung der einstufen. inneren Sicherheit stehen in diesen Tagen ganz

Ein Beispiel: Jeder Ministerpräsident sonnt sich besonders in der Diskussion. Ich will hier nur darauf

gern im Glanze kultureller Höhepunkte. Wer eröffnet hinweisen. Wir leisten mit diesem Haushalt auch

nicht gern eine schöne Gemäldeausstellung? Kultur unseren positiven Beitrag. Beim Bundesgrenzschutz ist halt Ländersache. Wenn es aber ans Bezahlen geht, werden 758 Stellen vom mittleren in den gehobenen

dann wird sehr schnell nach dem Bund gerufen. Polizeivollzugsdienst angehoben. Sicher kann man dieses Beispiel nicht ohne Abstri- (Zuruf von der SPD: Das ist eine Nullrunde, che auf das Kulturerhaltungsprogramm im Beitritts- Herr Kollege!) gebiet anwenden. Die Leistungsfähigkeit der ostdeut- schen Länder, Städte und Gemeinden ist noch nicht — Wenn das bei Ihnen Nullrunden sind, dann frage dergestalt ausgebaut, daß sie ihr kulturelles Erbe ohne ich einmal, was denn bei Ihnen Minuswachstumsrun-

Hilfe des Bundes bewahren können. Daher fanden den sind. Erinnern Sie sich doch einmal an Ihre eigene

sich im Regierungsentwurf noch einmal 310 Millionen Vergangenheit, meine Damen und Herren. DM, mit der großen Mehrheit des Haushaltsausschus- (Zuruf von der SPD) ses um weitere 300 Millionen DM für diesen Zweck aufgestockt, auch wenn die Übergangsfinanzierung Wir machen damit den Dienst beim BGS attraktiv. Es ursprünglich Ende 1992 auslaufen sollte. wird nicht allein damit getan sein. Ich bleibe bei meiner persönlichen Bewertung die Meine Damen und Herren, meine Zeit ist abgelau- ser Übergangsfinanzierung. Wir müssen ein kritisches fen. Ich hätte gerne noch einiges zur Aussiedlerpro-

Auge darauf behalten, daß diese Art der Förderung blematik gesagt. Aber das muß ich mir hier jetzt leider nicht, allen Regeln unseres Finanzverfassungsrechts verkneifen. 10578 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Karl Deres Meine Damen und Herren, dieser Haushalt ist Sprüchen zu lösen sind. Der Kollege Purps hat das im gekennzeichnet von der Zeit. Er steht unter dem übrigen auch versucht. Leider dauerte dieser Versuch Prinzip der Sparsamkeit, unter dem Prinzip der von Herrn Klose noch nicht einmal die Hälfte seiner Umschichtung. Wenn wir das, was an offiziellem Redezeit. Der Rest war das übliche Strickmuster von Finanzumfang in diesem Haushalt steht, gut und Schuldzuweisungen und Unterstellungen, also genau effektiv umsetzen, haben wir für dieses Land viel die Sprache, die die Bürger unseres Landes inzwi- bewirkt. schen so leid sind, daß wir uns nicht wundern müssen, Vielen Dank. wenn von Politikverdrossenheit und von Unfähigkeit der Politiker geredet wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Und Vorabfeststellungen!) hat nunmehr die Abgeordnete Frau Ina Albowitz. Dabei wird zur Zeit von den Bürgerinnen und Bürgern die Gemeinsamkeit der Demokraten förmlich herbei- Ina Albowitz (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr gesehnt. verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Purps! Da werden wegen vermeintlich parteitaktischer Vorteile wichtige Lösungen verzögert. Ich meine im (Rudolf Purps [SPD]: Jetzt geht es los!) übrigen jetzt uns alle, jeden an seinem Platz. Da — Nein, nur eine Fairneßdebatte sollten wir hier werden wegen Bund- Länder-Kompetenz- und Finan- führen, denn politisch können wir uns auseinander- zierungsstreitereien ganze Gesetze monatelang ver- setzen. Anderes finde ich nicht in Ordnung. Auch ich hindert. Inzwischen wird in Deutschland gemordet, ärgere mich, daß wir heute abend um fast halb zehn gebombt und geschändet. Und die Stammtischparo- die Debatte zum Haushalt des Innenministeriums len greifen auch unter den Gewählten um sich. führen, nachdem bis heute mittag schon die ganzen 16 unschuldige Menschen haben ihr Leben verloren, anderen Bereiche im Grunde in der großen Runde unzählige Verletzte lagen und liegen in den Kranken- debattiert worden sind. Viele Dinge lassen sich nicht häusern. auf die Buchhalter der Na tion reduzieren. Nur, das Wer, meine Damen und Herren, spricht eigentlich jetzt dem Innenminister zuzuschieben ist nicht in von den verletzten Kinderseelen? Gestern gingen in Ordnung. Die Rednerliste und die Etatdebatte werden meiner Heimatstadt Gummersbach Kinder einer Lern- von den Geschäftsführern ausgehandelt — und nicht behindertenschule spontan auf die Straße, urn ihr vom Innenminister und nicht von mir; sonst hätte Mitgefühl, ihre Trauer und ihre Solidarität mit den dieses Ressort mit Sicherheit an anderer Stelle gestan- Kindern in Mölln — ich bin sehr bewegt — und ihren den —, und zwar interfraktionell und einvernehm- ausländischen Mitschülern zu zeigen. lich. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:- SPD) Jetzt fängt es an, interessant zu werden! — Zuruf von der SPD) Ich möchte ihnen von dieser Stelle aus herzlich — Also die Tagesordnung schon, Herr Kollege. Darauf danken. Sie haben damit mehr Mut bewiesen, als es sollten wir uns jetzt verständigen. Nur, wir sollten es zur Zeit viele Erwachsene tun. Aber: Der Leiter der nicht dem Innenminister zum Vorwurf machen. Das ist Schule, mit dem ich heute morgen telefonierte, nicht fair und hilft auch nicht der Debatte hier. erzählte mir auch von der Angst der Kinder, was sich täglich im Unterricht zeigt. Können wir das eigentlich (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) noch verantworten? Was nützen eigentlich noch die Ich ärgere mich im übrigen ganz genauso. Erklärungen, die jeder von uns seit Wochen abgibt, Meine Damen und Herren, wer in diesen Tagen in wenn den Worten keine Taten folgen? Unsere angeb- Deutschland zur Innenpolitik redet — und heute sind lich so heile Welt hat erhebliche Risse erhalten. es die Haushaltspolitiker zum Haushalt des Bundes- Ich appelliere daher nachdrücklich an Sie alle: ministers des Innern —, von dem wird nicht nur Hören wir auf mit Schuldzuweisungen und taktischen erwartet, sondern der hat auch die Pflicht, sich zu den Spielchen! verheerenden Ausschreitungen in Deutschland zu äußern bzw. klar und unmißverständlich Stellung zu (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne beziehen. Dabei hat die Öffentlichkeit nicht nur ten der CDU/CSU) Anspruch auf die persönliche Stellungnahme der Lassen Sie uns zusammenfinden, damit die Bürger einzelnen Politikerinnen oder Politiker, sie hat auch wieder Vertrauen in die Politik gewinnen! einen Anspruch darauf, zu erfahren, wie wir nicht nur Mühsam wird dies bei der Gestaltung des Asyl- gemeinsam Be troffenheit zeigen, sondern auch rechts. Da wurde im letzten Jahr das Asylverfahrens- gemeinsam um Lösungen ringen. gesetz beschlossen, in das viele Hoffnungen gesetzt (Beifall bei der F.D.P.) wurden. Doch politisches Kalkül, Kompetenzstreitig- Genau neun Minuten lang hatte ich heute morgen keiten und allzu bürokratisches H andeln verhinder- den Eindruck, daß den Fraktionsvorsitzenden der SPD ten, daß die Regelungen bislang wirksam in Kraft die gleichen Sorgen wie mich bewegen, nämlich wie treten konnten. Die Erwartungen, die damit von wir den Bürgern unseres Landes sagen, daß die Politikern erzeugt wurden, sind besonders beim Bun- Probleme dieser Welt, die Probleme in Deutschland desamt für die Anerkennung ausländischer Flücht- nicht mit Schwarzweißdenken und nicht mit starken linge nicht erfüllt worden. Deutscher Bundestag --- 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10579

Ina Albowitz Auf Grund der steigenden Zahl von Asylbewerbern hohes Maß von Verständnis für die Vielfältigkeit des wurden Haushaltsansätze beim Bundesamt zur Aner- Haushaltes. Dafür möchte ich mich herzlich bedan- kennung ausländischer Flüchtlinge für 1993 erhöht. ken. Wir Berichterstatter strapazieren die Kollegen Der Haushaltsausschuß hat dem Konzept des Innen- reichlich. Wir tun das nicht, weil wir sie ärgern wollen, ministers zur Errichtung von 46 Außenstellen zuge- sondern weil das Sp annungsfeld zwischen dem Bun- stimmt und die entsprechenden Sachtitel erhöht. Die desamt für Statistik und den sondergeschützten Pkws Stellenmehranforderungen des Ministeriums wurden immens ist. so wie beantragt nicht übernommen, da bis jetzt von Während der Berichterstattergespräche wurden wir den für 1992 genehmigten rund 3 600 Stellen noch mit erheblichen Mehranforderungen konfrontiert. nicht einmal die Hälfte besetzt sind. Eine nochmalige Einige waren unvermeidbar; anderen konnten wir auf Ausweitung würde uns nicht nur unglaubwürdig Grund der Haushaltslage nicht Rechnung tragen. machen, sondern wir würden mit einem nur auf dem Insgesamt haben wir rund 610 Millionen DM einar- Papier bestehenden riesigen Personalhaushalt wieder beiten müssen. Dem stehen Kürzungen von rund Erwartungen erzeugen, die zur Zeit nicht erfüllbar 774 Millionen DM gegenüber. Dazu kommt noch die sind. Sollten aber im Laufe des Haushaltsjahres alle globale Minderausgabe von 264 Millionen DM, die im bisher genehmigten Stellen besetzt und darüber hin- Laufe des Haushaltsjahres in den Kapiteln 06 02, dem aus weitere Einstellungen möglich sein, kann dies aus eigentlichen Haushalt, und 06 46, also bei der Kultur, Personalverstärkungsmitteln finanziert werden. Das erwirtschaftet werden muß. hat die Koalition beschlossen. Daß dies noch erhebliche schmerzliche Eingriffe in Des weiteren hat die Koalition auf Antrag der besonders empfindliche Bereiche erforderlich macht, Bundesregierung die Abordnung von 1 300 Bundes- wissen wir. Allerdings läßt uns die Gesamtsituation bediensteten aus obersten Bundesbehörden beschlos- keine andere Wahl. Das gilt sowohl für den Sport als sen. Dabei kann und will ich nicht verhehlen, daß auch für die Kultur. durch dieses Verfahren und vor allem das Lockmittel der Prämienzahlung mein Bild des deutschen Beam- Bei der Kulturförderung hat der Haushaltsausschuß tentums erhebliche Sprünge erhalten hat. die größte Ausgabensteigerung für den Einzelplan gegenüber dem Etatentwurf beschlossen. (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Meine Damen und Herren, jedem muß klar sein, daß Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr gut! die Beschlüsse, die dieses Haus in den nächsten 100 %!) Wochen über die Frage der Zuwanderung nach Hier wurde ein eindeutiges Zeichen zugunsten der Deutschland zu fassen hat, außerordentlich viel Fein- neuen Länder gesetzt. Für die Erhaltung der dortigen gefühl erfordern. Art. 16 des Grundgesetzes ist keine Kulturlandschaft und den Denkmalschutz sind nun beliebige Manövriermasse und kann nur einmal ver- 650 Millionen DM im Bundeshaushalt vorgesehen, ändert werden. Deshalb ist es nach meiner Auffassung 300 Millionen DM mehr als ursprünglich geplant. unumgänglich, in Ergänzung der Asylrechtsregelung auch ein Einwanderungsgesetz zu beschließen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) Wir tragen hiermit dem Wunsch der neuen Länder, Nur durch eine solche Klarstellung, meine Kollegin- aber auch der großen gemeinsamen Koalition in nen und Kollegen, nehmen wir den rechtsradikalen diesem Hause Rechnung, für die die kulturelle Infra- Gewalttätern und den Sympathisanten jeden ver- struktur erhebliche Bedeutung hat. meintlichen Vorwand für ihr verwerfliches Tun, been- den die Verunsicherung bei unseren ausländischen Allerdings muß ich darauf hinweisen, daß diese Mitbürgern und verhindern, daß das Ansehen zusätzlichen Ausgaben für das Substanzerhaltungs- Deutschlands in der Welt weiteren Schaden nimmt. programm zum Teil durch Kürzungen bei der Kultur- förderung in den alten Bundesländern erwirtschaftet In der Innenpolitik gehört auch dazu, daß die Bürger werden müssen. Ich hoffe und ich bitte herzlich Vertrauen in die staatlichen Ordnungskräfte haben darum, daß die Kulturfachleute im Innenministerium können. Dies gelingt aber nur, wenn sich die Ord- mit der nötigen Sensibilität auf eine gerechte Vertei- nungskräfte von der Politik nicht im Stich gelassen lung der Lasten achten. fühlen. Der Bundesgrenzschutz, das Bundeskriminal- amt und die Bereitschaftspolizeien der Länder können (Beifall bei der F.D.P.) sich über den Haushaltsausschuß nicht beklagen. Die Kürzungen im Sportetat des Bundes sind Die Anforderungen, die zwischen den Leitungen „schmerzlich, aber sachgerecht". In dieser Einschät- der Behörden und der Bundesregierung ausverhan- zung stimme ich dem Präsidenten des Deutschen delt wurden, hat der Ausschuß ohne Kürzungen Sportbundes, Herrn Hansen, zu; das ist seine Diktion. beschlossen. Der Bundesgrenzschutz und das BKA Ich weiß aber auch, daß der DSB für die Erhaltung der sind auch ausdrücklich von den Stellenkürzungen Mittel gekämpft hat. Aber hier gilt auch wie für alle ausgenommen worden. Daß das Hebungsprogramm anderen Bereiche des gesamten Haushaltes: Nichts für den BGS im Ausschuß beschlossen wurde, freut und niemand kann durch Tabus beim Sparen ausge- mich besonders. Ich meine, wir haben damit ein Stück schlossen werden. Insoweit können auch von hier aus Glaubwürdigkeit der Politik realisieren können. keine weiteren Sparbeschlüsse sakrosankt gestellt werden. Die Beratung des Einzelplans 06 verlangt von den Mitgliedern des Haushaltsausschusses ein besonders (Beifall bei der F.D.P.) 10580 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Ina Albowitz In den letzten Tagen wurden wir über die Medien sen die Ministerpräsidenten endlich ihre Kirchturms informiert, daß „dem Sport die Stasi-Welle droht". Ich politik aufgeben. kann den Deutschen Sportbund von dieser Stelle aus (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne nur nachdrücklich auffordern, umgehend dafür zu ten der CDU/CSU) sorgen, daß mit der kompromißlosen Aufarbeitung dieser belastenden Situation begonnen wird. Es kann Die Bearbeitung des Einzelplanes 06 war dieses nach meinem Verständnis nicht angehen, daß wir aus Jahr nur mit besonderen Kraftanstrengungen mög- lich; wer weiß das besser als wir drei! Dafür möchte ich Steuergeldern Trainer und Funktionäre finanzieren, aber auch allen anderen Beteiligten, vor allem den die jahrelang Sportler mißbraucht und bespitzelt Mitarbeitern des Haushaltsreferates und den Mitar- haben. beitern in den Außenstellen, herzlich danken. Ich (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU glaube, wir haben gemeinsam unter diesen Voraus- sowie bei Abgeordneten der SPD) setzungen das Beste versucht und auch erreicht. Sollten sich die Veröffentlichungen der letzten Tage Ich danke Ihnen. wirklich so bewahrheiten, muß der Druck auf die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Fachverbände erhöht werden, notfalls durch eine Sperre von Haushaltsmitteln, ähnlich wie wir es bei der Dopingaffäre gemacht haben. Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Erwin Marschewski, (Zustimmung bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD) Erwin Marschewski (CDU/CSU): Sehr geehrter Zu einem medienpolitischen Skandal entwickelt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sage sich offensichtlich die Neugestaltung der Rundfunk- insbesondere: Sehr geehrte liebe Frau Kollegin Albo- landschaft in Deutschland. witz! Ihre Rede, so meine ich, war für mich ermuti- (Rudolf Purps [SPD]: Jawohl!) gend (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Fast zwei Jahre wurden offensichtlich mit Nichtstun Nicht nur für Sie!) vergeudet, vor allem wohl wegen der Eitelkeiten der Ministerpräsidenten der Länder. Seit fast einem Jahr — für uns alle, richtig, Herr Kollege Weng —, zahlen die Gebührenzahler in Deutschland jeden (Beifall bei der F.D.P.) Monat 75 Pfennig für einen Rundfunk, den man nicht und ich versuche, hieran anzuschließen. empfangen kann, weil er nicht sendet. Diese Zahlun- gen an das Phantom Nationaler Hörfunk summieren Deswegen, meine Damen und Herren, zunächst sich inzwischen auf eine viertel Milliarde DM. einmal folgende Feststellung: Der Mordanschlag auf die türkischen Mitbürger, auf Frauen und Kinder in (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:- Mölln ist eine Schande, ist eine schreckliche Erfah- Unglaublich!) rung, ein entsetzlicher Höhepunkt rechtsradikaler Gewalt. Nein, wir dürfen nicht zulassen, daß Men- Der Gründungsausschuß für den Nationalen Hör- schen vor Gewalt Angst haben, daß sie sich selbst funk, der kürzlich seine Arbeit aufgenommen hat, bewaffnen, wie es Ralph Giordano dem Bundeskanz- muß mit dem vorrangigen Ziel arbeiten, daß dieser ler telegrafierte. möglichst am 1. Juli 1993 — wie hier im Hause auch beschlossen — seine Arbeit aufnimmt. Wenn bereits Ja, wir dürfen und wir müssen die Gesetze konse- jetzt Intendanten und Politiker davon reden, diesen quenter anwenden; das ist richtig. Ja, wir müssen über Termin noch weiter nach hinten, auf 1994, zu schie- ein Verbot rechtsextremer Organisationen schnell ben, empfinde ich das als skandalös. entscheiden; auch das ist richtig. Ja, aber wir müssen auch in der Gesellschaft Zeichen setzen und sagen, (Beifall bei der F.D.P. — Dr. Wolfgang Weng daß da, wo Fremdenhaß mordet, Gleichgültigkeit zur [Gerlingen] [F.D.P.]: Kennt man die Schuldi Beihilfe werden kann. gen?) Aber darüber hinaus, meine Damen und Herren, — Ja, reichlich. — Eine möglichst schnelle Einigung meine Kollegen: Ist es nicht nunmehr höchste Zeit, erwarten nämlich nicht nur die Gebührenzahler über gesetzliche Maßnahmen zu reden, rassistisches — sonst sollten wir uns das mit dem Normenkontroll- Morden und brutale Gewalttaten bereits im Ansatz, verfahren wirklich noch einmal überlegen —, sondern schon im Vorfeld zu verhindern, weil eben die Gewalt, auch die Mitarbeiter der betroffenen Anstalten; denn so meine ich, eine neue Qualität erlangt hat, wie wir es sie brauchen Perspektiven, und sie brauchen eine auch im Sicherheitsprogramm der Unionsfraktionen Entscheidung über ihre Zukunft. haben feststellen müssen? Zu dieser Perspektive gehört auch, daß der Natio- (Beifall bei der CDU/CSU) nale Hörfunk eine Bestands- und Entwicklungsgaran- Wir wollen heute die haushaltsmäßigen Vorausset- tie erhalten muß und kein ungeliebtes Anhängsel von zungen dafür schaffen, wichtige Vorhaben der Innen- ARD und ZDF sein darf. politik fortzuführen. Dazu gehören natürlich an erster Stelle Maßnahmen zur Sicherung der inneren Sicher- (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!) heit gegen Extremisten. Dazu gehören die Bekämp- Der Nationale Hörfunk muß redaktionell unabhängig fung der Rauschgiftkriminalität und die Bekämpfung und in ganz Deutschland zu empfangen sein. Um des organisierten Verbrechens. Dazu gehören aber diese unverzichtbaren Bedingungen zu erfüllen, müs weiterhin die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10581

Erwin Marschewski öffentlichen Dienstes, die Hilfe beim Aufbau der sungsschutz nun endlich zu stärken. Das ist eine Verwaltung in den neuen Bundesländern und natür- wesentliche Aufgabe, der wir uns zu stellen haben. lich auch die Rettung der dortigen Kulturgüter. Dazu gehört vor allem, das Asylrecht sachgerechter zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge novellieren und für eine Bewältigung der Flut von ordneten der F.D.P.) Asylanträgen zu sorgen. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen. Lieber Günter Graf, wir haben im Sommer das Gesetz Zum Asylrecht nur ein paar Worte: Das für die zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität Bearbeitung der Asylanträge zuständige Bundesamt beschlossen. Wir alle wissen — gerade Du als Polizist in Zirndorf gehört zu den Behörden, die trotz sehr angespannter Finanzlage erheblich mehr Personal weißt es —, daß die Befugnisse, die wir der Polizei bekommen werden. Sie kennen die Zahlen: 540 Stel- eingeräumt haben, in diesem Bereich nicht ausrei- len vor ein paar Jahren, im letzten Jahr 1 130 Stellen chen. Ich appelliere an die SPD und an die F.D.P., über eine und jetzt sage und schreibe 3 600 Stellen; und ich Grundgesetzänderung nachzudenken, die auch glaube noch nicht, daß diese Zahl ausreichen wird. die Möglichkeit bietet, über den Einsatz technischer Mittel zu verfügen, was die Polizei will und was auch (Rudolf Purps [SPD]: Na also!) notwendig ist. Was bedeutet dies? Das bedeutet doch, daß der Ich weiß — der Herr Kollege Dr. Hirsch könnte mir Bundesinnenminister nun wirklich alles getan hat, um das sagen —, daß die räumliche Privatsphäre des die Flut der Asylbewerber in diesem Lande zu bre- Bürgers Schutz verdient. Da sind wir ja vollkommen chen, um die Anträge zu erledigen. Mehr kann man einer Meinung. Aber richtig ist auch, daß der Verbre- doch nicht tun! cher nirgends einen Rückzugsraum haben darf, in dem er in Ruhe seine Untaten planen kann. Gerade (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Uwe Küster das wollen wir verhindern. Das ist unsere Aufgabe. [SPD]: Ein bißchen mehr kann man schon Deswegen brauchen wir Maßnahmen zur Verstär- machen!) kung und zur Unterstützung beim Verfassungs- Wir haben dies auch getan, um Geld zu sparen. Herr schutz. Kollege Purps, Sie als Haushälter wissen, daß es nötig Ich weiß, die Auseinandersetzung mit Fremden- ist, Geld zu sparen. Der Bundesinnenminister sagt, das feindlichkeit, mit Gewalt und Extremismus von links Ganze koste sieben oder acht Milliarden DM oder wie von rechts kann nicht allein der Polizei und der mehr. Ihr Kollege Oberbürgermeister aus Pforzheim Justiz überlassen werden. Normsetzende Erziehung spricht sogar von über 30 Milliarden DM. bildet die Grundlage für unser Zusammenleben. (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, der Herr Bek (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ker ist ein guter Mann!) der F.D.P.) Die Asylpolitik ist ein schwerwiegendes Thema.- Ich Eine gesamtgesellschaftliche Aufklärungskampagne hoffe, daß die Gespräche, die wir jetzt begonnen soll in der aktuellen Situation helfen, Fremdenfeind- haben, erfolgreich sein werden, weil der Bürger dies lichkeit abzubauen. von uns erwartet. Notwendig ist es aber auch — ich sage dies noch (Rudolf Purps [SPD]: Richtig!) einmal , den Verfassungsschutz in Bund und Län- dern zu stärken. Ich habe kein Verständnis dafür, Wenn Sie mir zustimmen, dann sage ich auch: Dies wenn die rechtlichen Kompetenzen von Landesver- kann nur bedeuten, kein Bleiberecht bei offensichtlich fassungsschutzämtern wie in Niedersachsen einge- unbegründeten Asylanträgen zu gewähren, sondern schränkt werden. Ich habe kein Verständnis dafür, nach der Verwaltungsentscheidung eine Klage nur wenn das Personal wieder um ein Drittel abgebaut vom Ausland aus zuzulassen. Das ist das Problem, das wird. Ich erhebe die Forderung, das Personal wieder wir zu bewältigen haben. aufzustocken. Wir brauchen die Leute, um dem orga- (Zustimmung bei der CDU/CSU) nisierten Verbrechen Einhalt zu gebieten und um auch Straftäter aus dem rechtsextremistischen Be- Eine weitere Aufgabe der Innenpolitik ist die reich zu stoppen. Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität und der Ich will an meine einführenden Gedanken anschlie- Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Wir haben gerade hier die finanziellen Mittel für das ßen. Wir alle müssen mehr als bisher dazu beitragen, Bundeskriminalamt erhöht. Unser Ziel ist es, die daß der Staat das ihm von der Verfassung übertragene personellen Voraussetzungen zu schaffen, um das Gewaltmonopol zum Schutz eben dieser Verfassung Konzept zur Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität wirkungsvoll einsetzt. Wir sind auf keinem Auge und der organisierten Kriminalität weiter auszu- blind, weder auf dem rechten Auge noch auf dem bauen. linken Auge. Das kann ich Ihnen eindeutig sagen. Was das organisierte Verbrechen anlangt: Zwar (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) treffen die Horrormeldungen über sizilianische Ver- Ein Wort zum Bundesgrenzschutz: Die gesamte hältnisse in Deutschland nicht zu — ich sage: zum Sicherheitslage erfordert eine Stärkung des Bundes- Glück treffen sie noch nicht zu —, aber es gilt zu grenzschutzes. Sie haben es angesprochen. Diesbe- verhindern, daß sich diese Mafia-Strukturen in unse- züglich sind der Bundesinnenminister und wir völlig rem Lande festigen. Daher ist es notwendig, das einer Meinung. Sie wissen, der Bundesgrenzschutz Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verf as- hat neue Aufgaben im Bereich der Bahnpolizei und im 10582 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Erwin Marschewski Bereich der Luftsicherung bekommen. Er unterstützt auf die wichtigen Positionen des Beamtentums einer die Länder bei polizeilichen Großlagen. Meinung sind. Sie sind sicherlich mit mir der Mei- Wir wissen, wir brauchen qualifiziertes Personal. nung, daß die Beamten dieses Landes gerade im Zuge Ich darf Ihnen sagen: Es kann nicht richtig sein, daß des Wiedervereinigungsprozesses Enormes geleistet die Angehörigen des Bundesgrenzschutzes in die haben. Deswegen sprechen wir ihnen unseren Dank Privatwirtschaft abwandern oder zur Polizei gehen. aus. Deswegen steht meine Fraktion, deswegen steht auch Über eines sollten wir uns auch noch im klaren sein, der Innenminister dafür ein, daß wir ein Programm nämlich darüber, daß es trotz schwieriger Rahmenbe- auflegen, das Verbesserungen im Personalbereich dingungen bei der strukturellen Fortentwicklung des vorsieht. Wir werden darüber diskutieren, und wir Besoldungsrechts keinen Stillstand geben darf. Das werden Ihnen dieses Programm vorlegen. ist ein Problem. Wir wollen ja die Leistungsfähigkeit Wir tun dies einfach deswegen, weil wir wissen, daß des öffentlichen Dienstes erhalten. Gerade deswegen innere Sicherheit keinesfalls zum Nulltarif zu haben wollen wir seine Attraktivität steigern ist. Wir sind ja an der deutsch-polnischen Grenze (Dr. Uwe Küster [SPD]: Macht das doch gewesen. Wir wissen, daß illegale Einreisen und mal!) daraus resultierende Gefahrenlagen nur mit Hilfe und seine Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zur einer ausreichenden Zahl von Vollzugsbeamten privaten Wirtschaft erhöhen. Ich freue mich, daß wir in abgewehrt werden können. bezug auf diese Position völlig einer Meinung sind. Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch (Beifall bei der CDU/CSU) ein Wort zur Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes. Auch der öffentliche Dienst weiß, Frau Kollegin Albowitz, daß wir uns im Augenblick keine Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das zieht Geschenke erlauben dürfen. Vielmehr müssen wir eine Nachfrage der Abgeordneten Ina Albowitz nach alle darauf achten das gilt auch für die Beamten, sich. daß die einheitsbedingten Lasten von allen getragen werden. Aber wer dies anspricht, meine ich, müßte so (Zuruf von der SPD: Sie ist hartnäckig!) fair sein, anzuerkennen, daß die Beamten durch eine Verschiebung des Inkrafttretens der Besoldungs- Ina Albowitz (F.D.P.): Herr Kollege, ich hatte nur runde im vergangenen Jahr einen, wie ich meine, gefragt, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, vergleichsweise sogar überproportionalen Solidar- daß ich zu dem Punkt, den Sie angesprochen haben, beitrag zur Beseitigung der Altlasten des gescheiter- überhaupt nichts gesagt, sondern zu einem ganz ten Sozialismus geleistet haben. anderen Thema Stellung bezogen habe. (Heiterkeit bei der SPD Zuruf von der SPD: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Kol- lege Marschewski, das veranlaßt die Kollegin- Albo- Das hat er doch nicht verstanden!) witz, Ihnen eine Zwischenfrage zu stellen. Sie könnten diese Frage jetzt mit einem schlichten Ja oder Nein beantworten. Erwin Marschewski (CDU/CSU): Ja, bitte schön. Erwin Marschewski (CDU/CSU): Ich bin Ihnen Ina Albowitz (F.D.P.): Herr Kollege, sind Sie bereit, dankbar, daß Sie dies noch einmal sagen und daß Sie zur Kenntnis zu nehmen, daß ich zum Beamtenbesol- mit mir völlig einer Meinung sind. dungsgesetz kein einziges Wort gesagt habe? (Heiterkeit bei der CDU/CSU — Lachen bei (Zuruf von der F.D.P.: Das wurde vermu der SPD) tet!) Ich muß Ihnen aber auch sagen: Liebe Frau Kollegin, Ich habe von der Abordnung von 1 300 Beamten der außergewöhnliche Notlagen — ich nenne die Zahl von obersten Bundesbehörden über 400 000 Asylanträgen in Zirndorf — erfordern (Zurufe von der CDU/CSU: Buschgeld!) außergewöhnliche Maßnahmen, und zu solchen — nein, ich habe noch nicht einmal vom Buschgeld außergewöhnlichen Maßnahmen haben wir uns gesprochen — durchgerungen. (Zuruf von der CDU/CSU: Doch! Das haben Meine Damen und Herren, zum Abschluß noch ein Sie gesagt!) Wort zum Zivil- und Katastrophenschutz. Die auf den Vorstellungen der Koalition beruhende Neuordnung und von der Zahlung von Prämien, und zwar aus ist zur Steigerung der Effizienz der Arbeit der im Anlaß der Abordnung zum BAFl, gesprochen, zu Katastrophenschutz tätigen Organisationen geboten. nichts anderem. Ich habe noch nicht einmal von der Es freut mich, daß auch die Kollegen von der SPD in Buschgeldzulage-Ost gesprochen, diesem Bereich unseren Vorstellungen gefolgt sind. (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Aber Das Technische Hilfswerk, die Feuerwehr, das Rote Sie haben daran gedacht!) Kreuz und die vielen anderen im Katastrophenschutz die ich im übrigen befürwortet habe. Sind Sie bereit, tätigen Organisationen können sich auf die Unterstüt- das zur Kenntnis zu nehmen, Herr Kollege? zung der Union in ihrer wichtigen Aufgabenerfüllung voll verlassen. Erwin Marschewski (CDU/CSU): Herzlichen Dank. (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das Ich bin sehr erfreut, Frau Kollegin, daß wir in bezug ist sehr gut!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10583

Erwin Marschewski Ihnen und namentlich ihren ehrenamtlichen Mitarbei- neue Geltung verschafft wird, und zwar nicht nur tern, Herr Kollege Gerster, gebührt besonders Dank durch Reden, sondern durch aktives Handeln. für ihre Tätigkeit, für ihr beispielgebendes Wirken für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten andere. der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die rechtsextremistische Gewalt, bis hin zu Mord Meine Damen und Herren, ich darf zum Schluß und Totschlag, trägt dazu bei, das Bild vom häßlichen meiner kurzen Ausführungen Dank sagen. Deutschen wiederzubeleben. Dies schadet dem Anse- (Lachen bei der SPD) hen der Deutschen und setzt auch die Interessen — Innenpolitik ist ein weites Feld, meine Damen und unseres größer gewordenden Deutschland aufs Spiel. Herren. Es ist zwingend geboten, daß wir uns mehr denn je der irregeleiteten jungen Menschen annehmen und uns (Dr. Uwe Küster [SPD]: Auf dem weiten Feld den rechtsextremistischen Rattenfängern entgegen- haben Sie sich ein bißchen verlaufen!) stellen. Sie werden verstehen, daß wir nur in der Lage waren, Wenn ich schon den ein paar Positionen anzusprechen. Ich darf an erster Rechtsextremismus erwähne, dann gehört dazu sicherlich auch die Erkenntnis, daß Stelle dem Herrn Bundesinnenminister und seinen die Wortführer nur deshalb Resonanz finden, weil sie Mitarbeitern Dank sagen. Sie haben ihre Aufgaben in die alltäglichen Erfahrungen, die Sorgen und Nöte der hervorragender Weise erfüllt. Dies stellen wir fest, und Menschen für ihre inhumanen und undemokratischen dies sagen uns auch die Bürger. Minister Seiters steht Ziele mißbrauchen. für den Rechtsstaat, aber für den wehrhaften Rechts- staat, für die wehrhafte Demokratie. Ich sage ihm Sicher ist es in dieser Zeit mehr denn je notwendig, namens meiner Fraktion herzlichen Dank. die bedrohten Menschen zu schützen und die Straftä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ter zu verfolgen. Aber, Kolleginnen und Kollegen, ich ordneten der F.D.P.) denke, es ist auf Dauer noch wichtiger, daß wir den Rechtsextremisten den Resonanzboden für ihre ver- Ist es nicht eigentlich, Herr Kollege Purps, auch Ihre hetzenden Parolen entziehen. Stichworte wie wach- Position, die wehrhafte Demokratie zu schützen? sende Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzunsicherheit, Warum denn diese unberechtigten Vorwürfe dem Wohnungsnot und nicht zuletzt ungerechte Steuer- Innenminister gegenüber in einer wirklich nicht leich- und Finanzpolitik seien hier auch erwähnt. ten Zeit? Besonders wichtig scheint mir aber auch zu sein, (Gerd Wartenberg [Berlin] [SPD]: Nur mit daß wir den Menschen in unserem Lande wieder eine einem anderen Innenminister!) Orientierung und eine persönliche Perspektive bie- Ich darf, meine Damen und Herren, aber auch den ten; denn wenn diese nicht vorhanden ist, fallen Kollegen vom Innenausschuß herzlich Dank sagen. rechtsextremistische Gedanken — und seien sie noch Wir sind, lieber Herr Kollege Wartenberg, sehr oft gar - so wirr — leider auf fruchtbaren Boden, gerade auch nicht so verschiedener Meinung. Sie wissen es, und bei den vielen alleingelassenen jungen Menschen, die ich weiß es auch: Dies gilt auch für die Hauptproble- die Schrecken des Nationalsozialismus und des Krie- matik dieses Jahres, für die Lösung des Asylproblems. ges höchstens noch vom Hörensagen kennen. Wenn Geschichte lehren kann, so lehren die zwanzi- ger Jahre und der Anfang der dreißiger Jahre eines: Lassen Sie mich hierzu noch eine kurze Anmerkung Weimar ist gescheitert, weil sich Demokraten nicht machen: Am letzten Wochenende fand eine von einigen konnten. Wir müssen uns bewähren, indem Schülerinnen des Friesoyther Gymnasiums veranstal- wir zeigen, daß wir zu Problemlösungen fähig sind — tete Podiumsdiskussion unter dem Titel „Rock gegen wir alle, meine Damen und Herren. Rechts" in einer Diskothek in meinem Wahlkreis statt. Ich danke Ihnen. (Zuruf von der F.D.P.: Sehr gut!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) An dieser Podiumsdiskussion beteiligte sich auch der bis vor kurzem amtierende Vorsitzende der Jungen Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Ich erteile Union dieses Kreisverbandes, ein Mitglied der CDU. nunmehr dem Abgeordneten Günter Graf das Wort. Er antwortete auf die Frage des Moderators, worin er die Ursachen für die zunehmende Gewaltbereitschaft junger Menschen sehe: „Der Hauptgrund dürfte in Günter Graf (SPD): Herr Präsident! Meine sehr mangelnden Perspektiven liegen." Ich denke, wenn verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute hier ein junger Mensch vor ca. 500 jungen Leuten dies so über die Einzelpläne 06 und 36 des Haushalts des deutlich sagt und für diese seine Äußerung tosenden Bundesinnenministers beraten, dann müssen wir uns Beifall bekommt — ich übertreibe nicht —, dann muß darüber im klaren sein, daß dies in einer Zeit uns dies alles zum Nachdenken und vor allen Dingen geschieht, in der über Deutschland dunkle Wolken zum Handeln anregen. Insoweit bitte ich Sie, was heraufgezogen sind. Die schrecklichen menschenver- diesen Bereich angeht, die parteipolitische Brille bei- achtenden Gewalttaten der letzten Wochen und seite zu legen, um mit dieser schwierigen Situation Monate machen uns alle, so denke ich, zutiefst betrof- fertig zu werden. fen. Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es reicht nicht aus, zu sagen: Deutschland ist ein ausländer- Allerdings — auch das zu erwähnen erscheint mir freundliches Land. Vielmehr ist es notwendig, daß wir notwendig — ist es wenig hilfreich, wenn der beam- gemeinsam dafür sorgen, daß diesem Satz täglich tete Staatssekretär des Innenministeriums, Herr 10584 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Günter Graf Dr. Priesnitz, vor kommunalpolitischen Vertretern der Gegenwärtig besteht beim Bundesgrenzschutz ein Stadt Vechta in meinem Wahlkreis erklärt, ein Asyl- Personalfehl von rund 4 700 Beamten. Darauf ist bewerber hier in Vechta lebe wie ein Fürst. Diese bereits hingewiesen worden. Bei der augenblickli- Aussage, die natürlich Schlagzeile der Presse war chen Personalpolitik der Bundesregierung kann auch — was ich sehr bedauere —, ist in besonders hervor- nicht davon ausgegangen werden, daß sich diese ragender Weise geeignet, 01 in das Feuer zu gießen Situation in absehbarer Zeit verbessern wird. So ist und eben nicht das Gegenteil zu bewirken. das Attraktivitätsgefälle zur Landespolizei viel zu groß. Es ist unzweifelhaft, daß dem BGS eine akzep- (Rudolf Purps [SPD]: Der sollte mal zwei table Berufsperspektive fehlt. Dies wird auch daran Monate lang Sozialhilfe kriegen!) deutlich, daß allein innerhalb der ersten acht Monate Die vielfach schädliche Diskussion zum Thema Asyl des Jahres 1992 insgesamt 474 Beamte auf eigenen —vor dem Hintergrund, der Bevölkerung einreden zu Antrag ausgeschieden sind. wollen, daß mit einer Änderung des Art. 16 alle Diese genannten Zahlen belegen den akuten Perso- Probleme zu lösen seien — hat sicher auch dazu nal- und Nachwuchsmangel im BGS; hier besteht beigetragen, ein gutes Stück an Nährboden für rechts- dringender Handlungsbedarf. Der vorgelegte Haus- extremistische Gewalt zu bereiten. haltsentwurf wird diesem Handlungsbedarf in keiner Weise gerecht. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Deshalb, werte Kolleginnen und Kollegen, möchte ich von dieser Stelle aus Sie alle — besser gesagt: uns Liebe Kolleginnen und Kollegen, Handlungsbedarf alle — ganz eindringlich auffordern, bedachter mit besteht allerdings auch für den Bereich der sächlichen Äußerungen in der Öffentlichkeit umzugehen und Ausrüstung und Ausstattung nicht nur des Bundes- sich stets vor Augen zu führen, welche Wirkungen grenzschutzes, sondern auch der Bereitschaftspolizei, erzielt werden, wenn Äußerungen wie die des Herrn insbesondere in den neuen Bundesländern. Dr. Priesnitz gemacht werden. Welche fatalen Folgen eine mangelhafte Ausrü- stung und Ausstattung hat, haben die jüngsten Kra- Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in den walle in Rostock gezeigt. Das brutale und menschen- letzten Jahren haben wir uns mehrfach über das verachtende Vorgehen der Chaoten oder besser Thema innere Sicherheit und über die soziale Situa- gesagt — und ich meine es auch so —: der Verbrecher tion bei den Polizeien in Bund und Ländern unterhal- in Rostock konnte mangels vorhandener Beweis- und ten. In der Bewertung der Situation waren wir meist Kommunikationstechniken nicht dokumentiert wer- gleicher Meinung. Gleicher Meinung waren wir in den. jedem Fall, wenn es darum ging, den Sicherheitskräf- ten unseres Landes unseren Dank abzustatten. Aller- Die mangelnde Ausrüstung mit entsprechender dings: Das war es dann auch. Immer wenn es konkret Schutzbekleidung der Polizeien hat allein bei der wurde, um Verbesserungen in diesem Bereich zu Grenzschutzabteilung Ost 2 in Ahrensfelde zur Folge erreichen, lehnte die Koalitionsmehrheit ab. gehabt, daß 30 Polizeibeamte zum Teil schwer verletzt wurden. Dieses wäre — das sage ich in aller Deutlich- Beispielhaft erwähnt sei nur, daß in den Ländern keit — vermeidbar gewesen, wäre man den Forderun- seit 1991 eine Entwicklung eingeleitet worden ist, gen der SPD-Fraktion in den letzten beiden Jahren wonach zur Steigerung der Attraktivität und Siche- gefolgt. Es kann doch nicht wahr sein, daß der rung der künftigen Funktionserfüllung im Bereich des Bundesinnenminister erst jetzt darüber nachdenkt, Polizeivollzugsdienstes schrittweise nennenswerte die Ausrüstung mit neuer Körperschutzausstattung Stellenanteile des mittleren in den gehobenen Polizei- nunmehr stufenweise vorzunehmen. vollzugsdienst umgewandelt werden — Stichwort: zweigeteilte Laufbahn. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist doch nicht wahr!) Am 22. Mai 1992 hat die Innenministerkonferenz Ich halte es für einen Skandal, wenn eine über- auch im Interesse einer möglichst einheitlichen Lauf- schaubare Zahl von Polizeibeamten nicht mit der bahn- und Besoldungsentwicklung den Beschluß Ausstattung ausgerüstet wird, die ihr ein Höchstmaß gefaßt, folgende strukturelle Verbesserungen für an Schutz der körperlichen Unversehrtheit sichert. Polizeivollzugsbeamte bis zum Jahr 2000 umzuset- zen: Anhebung des Stellenanteils im gehobenen (Beifall bei der SPD) Dienst auf 40 % — mit dem Hinweis auf eine mögliche Insoweit zeigt dieser Haushalt auch, wie halbherzig Abweichung von plus/minus 10 % — und Anhebung im Grunde genommen mit diesem Thema umgegan- des Eingangsamtes zum mittleren Polizeivollzugs- gen wird. Ich kann für mich persönlich nur feststellen: dienst von bisher A 6 nach A 7, in einer weiteren Stufe Das ist unverantwortlich, wenn man daran denkt, daß nach A 8. Dies hat dazu geführt, daß der durchschnitt- sich auch künftig Männer und Frauen der Polizeien liche Stellenanteil des gehobenen Dienstes in den brutalen Gewalttätern gegenübersehen. Dafür, Herr Ländern die 14-%-Marke bereits deutlich überschrit- Bundesinnenminister, tragen Sie einen Teil Mitver- ten hat und sich weiter deutlich erhöhen wird. antwortung. Dieses sollten Sie bedenken. Dies alles läßt die Bundesregierung und Sie, Herr Leider reicht die begrenzte Redezeit nicht aus Bundesinnenminister, offenbar völlig unberührt; denn — aber das ist ja immer das Problem bei derartigen der Anteil des gehobenen Dienstes im BGS betrug Debatten —, um auf alle Aspekte der Innenpolitik bisher 7 % und wird sich, wenn dieser Haushalt in einzugehen. Dennoch, meine ich, ist folgender Hin- Kraft treten sollte, auf 9 % erhöhen. weis unverzichtbar. Eingangs habe ich auf die Situa- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10585

Günter Graf tion der Bundesrepublik Deutschland vor dem Hinter- schärfungen und neuen Gesetzen, wie dies in den grund des aufkommenden Rechtsextremismus und letzten Wochen geschehen ist. der Gewaltkriminalität hingewiesen. Auch habe ich Ich will nur an einem Beispiel deutlich machen, wie die Perspektivlosigkeit der Jugend in dieser Zeit unsinnig es sein kann, in Einzelbereichen schärfere erwähnt. Gesetze zu fordern, wenn man nicht einmal in der (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Und was Lage ist, dafür Sorge zu tragen, daß die vorhandenen ist mit links?) Gesetze entsprechend angewandt werden und der Strafrahmen voll ausgeschöpft wird. Am 3. November — Ich nehme gerne auf, was Sie gesagt haben, Kollege 1992 habe ich mich mit schriftlichen Fragen an die Zeitlmann: Wenn ich von Extremismus spreche, beziehe ich den Linksextremismus natürlich mit ein. Bundesregierung zum Thema Landfriedensbruch gewandt. Ich wollte von der Bundesregierung wissen, Ich danke Ihnen für den Hinweis. Ich bitte um Nach- in wie vielen Fällen es im Zeitraum von 1980 bis 1990 sicht, daß ich das nicht so deutlich angesprochen zu Anklageerhebungen im Bereich des Landfriedens- habe. bruchs, §§ 125 und 125a StGB, gekommen ist. Gerade vor diesem Hintergrund scheint es mir Ich wollte darüber hinaus wissen, in wie vielen zwingend notwendig, die Mittel für die Bundeszen- Fällen der §§ 125 und 125a StGB es zu Verurteilungen trale für politische Bildung nicht, wie von der Bun- desregierung praktiziert, abzusenken, sondern ganz in dem genannten Zeitraum gekommen ist und in wie erheblich aufzustocken, um durch verstärkte Aufklä- vielen Fällen das Höchstmaß der Strafe ausgeschöpft worden ist. rung dem wachsenden Radikalismus, insbesondere unter den Jugendlichen, entgegenwirken zu können. Die Antwort, die ich vorgestern erhalten habe, hat Ich denke, auch hieran wird deutlich, daß die Bundes- mich schon beeindruckt; deswegen spreche ich das regierung im Grunde genommen nicht erkannt hat an. Was § 125 StGB angeht, also den Landfriedens- oder nicht erkennen will, in welcher Situation sich bruch, so gab es im Jahre 1980 67, 1983 107, dieses Land in dieser Zeit befindet. 1986 100 und 1990 125 Fälle von Verurteilungen. Was die mangelnde Personalausstattung der Stif- (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [F.D.P.]: Was tung „Archiv der Parteien und Massenorganisationen sagt uns das?) der DDR" vor dem Hintergrund der Kürzung des — Ich bin noch nicht fertig. Das ist die Frage 3. Ich Stellenplans um 76 Stellen angeht, so behindert diese komme noch zur vierten Frage. Dann werden Sie Kürzung nicht nur in unzulässiger Weise die Arbeit vielleicht anders darüber denken. der Stiftung, sondern sie gefährdet auch die Umset- zung des vom Deutschen Bundestag am 13. März 1992 Im Bereich des § 125a StGB, also des schweren beschlossenen Gesetzes und kann daher von der Landfriedensbruchs, kam es im Jahre 1980 in 46, 1983 SPD-Fraktion in keiner Weise akzeptiert werden. in 43, 1986 in 59 und 1990 in 54 Fällen zu einer Verurteilung. (Beifall bei der SPD) - Diese Zahlen belegen noch nicht viel. Was aber die Als absolut befremdend muß es angesehen werden, Ausschöpfung des Strafmaßes der genannten Tatbe- wenn dieser Haushaltsplanentwurf die Zuwendungen stände angeht, so haben wir festzustellen, daß im Fa lle an zentrale Organisationen und Verbände, die sich des § 125 StGB die Höchststrafe drei Jahre beträgt. mit der Eingliederung der Aussiedler, Übersiedler, Die Statistik bildet Fallgruppen, nämlich ein bis zwei Vertriebenen und Flüchtlinge befassen, linear kürzt, Jahre und zwei bis drei Jahre. In dem Zehnjahreszeit- zugleich aber dem Bund der Vertriebenen mehr Mittel raum von 1980 bis 1990 ist das Höchstmaß von zwei bis zuschanzt. Ich denke, auch dieses ist ein besonderes drei Jahren in einem einzigen Fall im Jahre 1986 zur Markenzeichen der Qualität der Politik dieser Regie- Anwendung gekommen. Und dann reden wir heute rung, und das in dieser Zeit. davon, daß wir Strafverschärfungen in diesem Bereich (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfgang Bötsch brauchen. Ich kann das nicht nachvollziehen, wenn [CDU/CSU]: Jetzt gehen Sie aber entschie dieses Gesetz nicht entsprechend angewandt wird. den zu weit! — Weiterer Zuruf von der (Beifall bei der SPD — Erwin Marschewski CDU/CSU: Das sage ich auch! Ich bin da [CDU/CSU]: Wir wollen den Tatbestand ver völlig Ihrer Meinung!) ändern! Das ist das Problem!) — Herr Kollege Bötsch, wenn Sie sich ernsthaft Herr Kollege Marschewski, nunmehr komme ich zu bemühten, darüber nachzudenken, wenn Sie sich § 125a StGB, zum schweren Landfriedensbruch. In ernsthaft mit dem Haushalt beschäftigten und sich die dem Zeitraum von 1980 bis 1990, also in zehn Jahren, Zahlen anschauten, hätten Sie diese Bemerkung nicht hat es nicht einen einzigen Fall gegeben, in dem eine getan. Dann hätten Sie mir zustimmen müssen. Höchststrafe im Rahmen von fünf bis zehn Jahren (Beifall bei der SPD Rudolf Purps [SPD]: Er ausgesprochen wurde. Ich denke, diese Zahlen unter- kennt sich nur beim Fußball aus! —Johannes streichen die Situation so deutlich, daß es sich nicht Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Herr Graf, blei lohnt, das überhaupt noch in irgendeiner Form zu ben Sie anständig!) kommentieren. Das sollte man zum Anlaß nehmen, Kolleginnen und Kollegen, wenn es um Fragen der über die Dinge nachzudenken. Innenpolitik, insbesondere um Fragen der inneren Es wird pauschal immer gesagt: Wir regeln das mit Sicherheit geht, dann ist die Bundesregierung, sind Gesetzen. Wir, die SPD-Fraktion im Deutschen Bun- aber auch die Koalitionsparteien CDU und CSU destag, haben immer gesagt: Wir sind bereit, dort schnell zur Hand mit Forderungen nach Strafver mitzumachen, wo es notwendig ist, aber erst dann, 10586 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Günter Graf wenn andere Dinge geprüft sind und das Material, folgendes sagen. Die Bevölkerung will, daß sich die über das wir verfügen, in entsprechender Weise Parteien beim Asylproblem jetzt endlich einigen. ausgeschöpft ist. Das ist beispielsweise im Falle des (Beifall im ganzen Hause) Landfriedensbruchs ganz eindeutig nicht der Fall. (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ich will diese Einigung auch. Warum gucken Sie denn so böse?) Die Bevölkerung erwartet jedoch in erster Linie, daß — Ich gucke nicht böse. Ich habe früher viel böser wir das Problem lösen. Die erste und beste Alternative. geguckt, aber seit ich Sie kenne, Herr Gerster, bin ich Die zwei weiteren Alternativen — und die belasten schon wesentlich freundlicher geworden. Schön, daß mich sehr — wären, daß die Gespräche zum Scheitern Sie da sind. kämen — dies wäre auch staatspolitisch sehr schlimm , oder aber die Gespräche kommen zwar zu (Heiterkeit im ganzen Hause — Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Machen Sie einem Ergebnis, aber das Ergebnis führt zu einer großen Enttäuschung nach einigen Monaten. Das weiter so!) bedeutet für mich, eine Grundgesetzänderung, die Lassen Sie mich zum Abschluß kommen und nur halbherzig ist und das Problem nicht löst, würde zu noch folgende Anmerkung machen. In allen Debatten einem dramatischen Vertrauensverlust der Bevölke- der vergangenen Jahre haben wir immer wieder rung gegenüber dem Staat und den politischen Par- darauf hingewiesen — das gilt auch für die Koalitions- teien führen. parteien —, daß es zwingend notwendig ist, das Konzept zur inneren Sicherheit aus dem Jahre 1974 (Beifall bei der CDU/CSU — Wilhelm fortzuschreiben. Ich denke, darüber gibt es eine breite Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Meinen Sie wirk Übereinstimmung in diesem Hause. Leider ist in lich, daß das nur an der Grundgesetzände diesem Bereich bis zum heutigen Tage so gut wie rung liegt, Herr Seiters?) nichts geschehen. — Ich kann wirklich nicht verstehen, was Sie an (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Warum diesem Satz auszusetzen haben: Eine Grundgesetzän- nicht?) derung, die die Parteien vornehmen und die nicht zu — Herr Kollege Zeitlmann, erst zuhören, dann weiß einer grundlegenden Lösung dieses Problems führt, man Bescheid. wird zu einem dramatischen Vertrauensverlust der Öffentlichkeit gegenüber dem Staat und den politi- Man kann in diesem Punkt die Verantwortung nicht schen Parteien führen. allein dem Bundesinnenminister unterschieben. Es ist sicherlich auch mit ein Teil mangelnde Bereitschaft Deshalb darf es Scheinlösungen ebenso wenig der Bundesländer gewesen. Ich will das überhaupt geben wie Formelkompromisse. Wir alle tragen hier nicht verheimlichen. eine große politische Verantwortung. Wenn wir den (Zuruf von der CDU/CSU: Welcher?) Mißbrauch des Asylrechts — das heißt für mich - allerdings auch den Mißbrauch des Bleiberechts in Aber ich weiß auch, daß die Bereitschaft der A- Deutschland in offensichtlich aussichtslosen Fällen; Länder zugenommen hat, weil sie erkannt haben, daß darauf habe ich immer Wert gelegt — nicht ganz rasch innere Sicherheit in diesem Land nur möglich ist, beenden, dann fügen wir unserem demokratischen wenn wir Kriminalität bekämpfen, wozu wir verpflich- Gemeinwesen großen Schaden zu. Das muß uns allen tet sind. Das geht im Grunde genommen nur gemein- und insbesondere denen, die am Wochenende ver- sam. Wir brauchen gemeinsame Richtlinien. handeln, sehr wohl bewußt sein. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Ich habe in der vergangenen Woche in der Innen- (Beifall bei der SPD) ministerkonferenz von Bund und Ländern vorgetra- gen, welche Maßnahmen wir bei der geltenden Rechts- und Verfassungslage ergriffen und welche - Das Wort Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: Anstrengungen wir unternommen haben, verfahrens- hat nunmehr der Bundesinnenminister Rudolf Sei- beschleunigende Regelungen zu praktizieren — bis ters. hin zu den fünf sogenannten Asylentscheidungszen- tren in Berlin, Lübeck, Hannover, Fulda und Coburg, Rudolf Seiters, Bundesminister des Innern: Herr befristet für die Dauer eines halben Jahres beschleu- Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ange- nigte Verfahren für einfach gelagerte Fälle durchzu- sichts der vorgeschrittenen Zeit möchte ich mich auf führen. Wir hatten in dieser Innenministerkonferenz einige wenige Bemerkungen am Schluß dieser eine sehr konstruktive Diskussion, weil — auf diesen Debatte beschränken, zumal uns das wichtige und uns zarten und vorsichtigen Hinweis will ich mich alle gemeinsam belastende Thema — wie sichern wir beschränken die Länderinnenminister sehr wohl den Schutz politisch Verfolgter und wie stoppen und wissen, daß nicht nur das Bundesamt, sondern auch kontrollieren wir gleichzeitig die unkontrollierte die Ausländerbehörden der Länder und die Verwal- Zuwanderung von Menschen, die aus wirtschaftli- tungsgerichte jeweils ihre eigenen Probleme haben. chen Gründen in die Bundesrepublik Deutschland Ich bin den Mitgliedern des Haushaltsausschusses, kommen? — schon am heutigen Vormittag beschäftigt insbesondere den Berichterstattern, dafür dankbar, hat. daß durch ihre konstruktive Unterstützung die Etat- Wir stehen am Vorabend von Gesprächen zwischen ausstattung des Bundesamtes für die Anerkennung CDU/CSU, SPD und F.D.P.. Deswegen will ich aus der ausländischer Flüchtlinge an die heute erwartete Sicht des Bundesinnenministers heute abend nur Asylbewerberzahl von 465 000 angepaßt werden Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10587

Bundesminister Rudolf Setters konnte. Vor diesem Hintergrund will ich aber meinen sche oder Ausländer sind. Deswegen muß sich unsere Appell an die Länder wiederholen — den ich auch auf Demokratie mit aller Macht zur Wehr setzen gegen der Innenministerkonferenz ausgesprochen habe —, Straßenterror und brutale Gewalt, weil sie sich nicht ihrerseits die erforderlichen Maßnahmen einzulei- nur gegen wehrlose Menschen richten, sondern auch ten. gegen den Rechtsfrieden in unserem Lande. Dazu gehören im Hinblick auf die erwarteten, (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der rapide steigenden Asylentscheidungen des Bundes- SPD) amtes auch die personelle Verstärkung der Verwal- Zur Bekämpfung und Eindämmung der Ausländer- tungsgerichte und die Schaffung der Voraussetzun- feindlichkeit müssen wir alle rechtsstaatlichen Mög- gen für eine schnelle und unverzügliche Abschiebung lichkeiten konsequent nutzen. Dies beginnt bei dem abgelehnter Asylbewerber. Denn was nützen mir verstärkten Schutz der Asylbewerberunterkünfte, der 400 000 oder 350 000 Entscheidungen in Zierndorf, operativen Arbeit von Polizei und Verfassungsschutz, wenn anschließend die Zahlen bei den Verwaltungs- dem zielgerichteten Einsatz nachrichtendienstlicher gerichten nur noch steigen und sich die Abschie- Mittel zur verbesserten Erkenntnisgewinnung und bungsquote bei den Ländern nicht erhöht? Darauf endet nicht zuletzt bei der geistig-politischen Ausein- müssen wir uns also konzentrieren. andersetzung mit den Phänomenen Extremismus und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) fremdenfeindliche Gewalt. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen Zur Verbesserung des Informationsaustausches — und würdige dies auch —, daß diese sachliche muß auch der von mir vorgeschlagene aktuelle Son- Einschätzung der Lage, bezogen auf die objektiven dermeldedienst „Fremdenfeindliche Straftaten" zwi- Schwierigkeiten der Länder und den Stand der Vor- schen Bund und Ländern als Instrument zur besseren bereitungen der Länder auf steigende Asylentschei- Erkennung und Bekämpfung reisender Mehrfachtä- dungen des Bundesamtes, auch von der SPD-Arbeits- ter geschaffen werden. Im übrigen brauchen wir: gruppe vorgenommen wurde, die vor wenigen Tagen konsequente Strafverfolgung, schnelle Verurteilun- unter Leitung des Kollegen Wartenberg in Zirndorf gen, harte Strafen und nach sorgfältiger Prüfung gewesen ist. Schuldzuweisungen helfen hier wirklich gegebenenfalls auszusprechende Vereinsverbote ge- nicht weiter. Das wird sich in den kommenden Mona- gen extremistische Organisationen. Wir sind hier in ten auch bei den Ländern noch herausstellen. Ich der aktuellen Phase einer Entscheidung. jedenfalls habe nicht die Absicht, von mir aus diese Natürlich gibt der verstärkte Einsatz des vorhande- Diskussion fortzusetzen, sondern ich möchte mich nen Instrumentariums Ansatzpunkte auch zur Verrin- wirklich auf die Lösung dieses Problems konzentrie- gerung des gewaltbereiten Täterpotentials. Hierzu ren. rechne ich die konsequente Nutzung der Möglichkei- Ich möchte zu diesem Punkt wiederholen: Alle ten des Versammlungsrechts für befristete, räumlich verfahrensbeschleunigenden und -vereinfachenden begrenzte Demonstrationsverbote ebenso wie die in Maßnahmen reichen auch nicht annähernd -aus, um den Länderpolizeigesetzen eröffnete Möglichkeit, dem massenhaften Zustrom von Asylbewerbern zu Personen zur Verhinderung von Straftaten oder begegnen. Dazu brauchen wir die Grundgesetzände- erheblichen Ordnungswidrigkeiten in Gewahrsam zu rung; keine kosmetische, sondern eine wirksame, nehmen. Ich begrüße insoweit ausdrücklich die ein- durchgreifende. Ich hoffe, daß die Verhandlungsdele- vernehmlichen Beschlüsse der Innenministerkonfe- gation der SPD den notwendigen Verhandlungsspiel- renz. raum hat, um dieses uns alle — ich wiederhole mich — Ich will aber auch noch einmal meinen Standpunkt so unglaublich belastende Problem endlich wirksam unterstreichen, der über die Beschlüsse der Innenmi- und für die Bürger erkennbar zu lösen. nisterkonferenz hinausgeht. Meiner Meinung nach Gewährleistung der inneren Sicherheit — dazu wird sind Konsequenzen auch für das Strafgesetzbuch und von mir sicherlich auch ein Wort erwartet, obwohl es die Strafprozeßordnung unerläßlich. Wie meine Frak- heute morgen in der Diskussion schon eine breite tion trete ich dafür ein, den Tatbestand des Landfrie- Übereinstimmung gegeben hat —: Wir müssen densbruchs zu ergänzen, um es Gewalttätern zu Anschläge auf den Staat und die Sicherheit seiner erschweren, anonym aus einer Menge heraus zu Bürger mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen. handeln oder in ihr unterzutauchen. Seit Wochen überzieht eine Welle extremistischer Ich plädiere weiter für eine Verschärfung des Haft- Gewalt unser Land. Sie hat in dem erbärmlichen, rechts, um des Landfriedensbruchs dringend Ver- verbrecherischen Mord in Mölln eine neue, traurige dächtige bei Wiederholungsgefahr auch ohne Vorver- Steigerung erfahren. Die Welle der Gewalt wirft einen urteilung in Untersuchungshaft nehmen zu können. schweren Schatten auf das in mehr als 40 Jahren gewachsene und gefestigte Ansehen, das sich unser (Beifall bei der CDU/CSU) Land unter den freien Völkern der Welt erworben Zum letzten Punkt gibt es einen Prüfungsauftrag der hat. Justizminister, bisher allerdings nur hinsichtlich des selten anwendbaren Tatbestands des schweren Land- Die Gewalttaten gegen wehrlose Mitmenschen zäh- friedensbruchs. len zu den bittersten Erfahrungen dieser Zeit. Nichts und niemand gibt das Recht zu ausländerfeindlicher Ich weiß auch, daß die Auseinandersetzung mit Hetze, zu Gewalt gegen Leben, Gesundheit, Eigen- Fremdenfeindlichkeit, Gewalt und Extremismus von tum und Sicherheitsgefühl der in unserem Land Polizei und Justiz alleine nicht geführt werden kann. lebenden Menschen, unabhängig davon, ob sie Deut Deswegen brauchen wir verstärkte Anstrengungen 10588 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundesminister Rudolf Seiters aller Kräfte mit dem Ziel, extremistische Gewaltpoten- Stichwort Bundesgrenzschutz: Ich greife gerne das tiale, insbesondere unter jungen Menschen, schon im als Appell auf, Herr Kollege Graf, was Sie zu diesem Keim zu unterbinden. Wir müssen alle Bemühungen Thema gesagt haben. Ich weiß, daß wir den Beamten unternehmen, um junge Menschen von der Krimina- des Bundesgrenzschutzes eine berufliche Perspek- lität und Inhumanität solcher Angriffe zu überzeugen tive geben müssen. Ich habe im Rahmen meiner und all denen entschlossen entgegenzutreten, die zu Möglichkeiten im Jahre 1992 mit Blick auf Aufbau und Gewalttaten ermuntern oder sie dulden, d. h. in Fami- Ausrüstung alles getan, was finanziell denkbar war. lien und Schulen, in Vereinen und in Jugendverbän- Aber ich weiß, daß wir hier noch eine Menge tun den verstärkt Werte und Normen vermitteln. müssen, im übrigen auch bei der Personalgewin- nung. Auch die Medien — das wurde heute morgen schon gesagt; ich will das aus meinen Erkenntnissen, aus Wenn ich mich dafür eingesetzt habe, daß die meiner Sicht nachdrücklich unterstreichen — tragen Länder die Bereitschaftspolizeien vorhalten und auf- hier eine große Verantwortung. Auch sie müssen sich stocken, dann auch deshalb, weil ich es angesichts der fragen lassen, ob sie dieser Verantwortung bisher Tatsache, daß der Bundesgrenzschutz seit dem 3. Ok- wirklich gerecht geworden sind. tober 1990 bisher bei 145 Anlässen Hilfe geleistet hat — wir werden das auch in Zukunft tun —, lieber hätte, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wenn diese Arbeit von den Bereitschaftspolizeien der ordneten der F.D.P.) Länder geleistet würde, damit ich die Beamten des Bundesgrenzschutzes dorthin schicken kann, wo sie Ich habe im Rahmen der Aufklärungskampagne dringend gebracht werden, nämlich an die Grenzen gegen Extremismus und Fremdenfeindlichkeit als zu Polen und der Tschechoslowakei, um die illegale Bundesinnenminister u. a. Unterrichtshilfen für Leh- Zuwanderung stärker bekämpfen zu können. rer und Schüler, Seminare für Multiplikatoren aus den Bereichen der Jugendpresse, der Lehrerfortbildung, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. der Jugend- und Sozialarbeit und andere Einzelmaß- sowie bei Abgeordneten der SPD) nahmen im Rahmen eines Sofortprogramms initiiert, Ich habe im übrigen Weisung erteilt, weitere Wege das von der Innenministerkonferenz am 20. Novem- zu prüfen, um den Personaleinsatz des BGS an diesen ber 1992 als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Grenzen zu erhöhen. Da die Bundeswehr zur Zeit Ländern beschlossen wurde. Personal abbaut, eröffnet sich hier möglicherweise eine Quelle für den Bundesgrenzschutz, zusätzliches Auch beim Verfassungsschutz blicke ich nicht in die Personal zu gewinnen. Vergangenheit. Jedoch sage ich noch einmal: Wir haben uns nie übertreffen lassen, die Polizei bei ihrer (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist schweren Arbeit zu unterstützen. Wir haben immer sehr mißverständlich, Herr Minister!) gefordert, daß der Verfassungsschutz auch in Zukunft — Nein, das ist nicht mißverständlich. Angesichts der seine Arbeit zu leisten hat. Mein Appell geht — in - Tatsache, daß wir im ersten Halbjahr 1992 an den Übereinstimmung mit dem, was der Fraktionsvorsit- Grenzen zu Polen und der Tschechoslowakei Auf- zende der SPD-Bundestagsfraktion heute morgen griffe von illegalen Zuwanderern in einer Größenord- gesagt hat — an die Länder, den Abbau des Personals nung von 18 000 gehabt haben — die Dunkelziffer bei den Verfassungsschutzämtern zu stoppen und beträgt sicher das Fünffache, also 90 000 bis mitzuhelfen, daß in den neuen Ländern die Verfas- 100 000 — und mir die Regierungen Polens und der sungsschutzbehörden konsequent aufgebaut wer- Tschechoslowakei in Gesprächen gesagt haben, sie den. seien zu einer gemeinsamen Sicherheitspartnerschaft und auch zur Verstärkung der Grenzüberwachungs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge maßnahmen bereit, weil sie die illegalen Grenzüber- ordneten der F.D.P. — Rudolf Purps [SPD]: tritte auf Dauer nicht dulden könnten, sage ich: Ich Brandenburg ist Spitze!) werde auch künftig nicht nachlassen, nach Wegen Der Verfassungsschutz muß das Vorfeld dieser — auch unkonventionellen — zu suchen, Taten, die Szenerie, aus der heraus sie geschehen, (Rudolf Purps [SPD]: In Ordnung!) aufklären. Nur ein funktionsfähiger Verfassungs- schutz bei Bund und Ländern wird dazu in der Lage um den Bundesgrenzschutz bei dieser Aufgabe zu sein. Was den Bund betrifft, so ist die für die Beobach- unterstützen. Wir wollen keine Festung in Deutsch- tung des rechtsextremistischen Bereichs zuständige land und in Europa, aber wir müssen den Mißbrauch Abteilung wesentlich verstärkt worden. der illegalen Zuwanderung stoppen. Auch das ist ein ganz schwerwiegendes psychologisches und tatsäch- Ich habe darüber hinaus den Innenministern der liches Problem für die Menschen in der Bundesrepu- Lander für den Bereich rechtsextremistischer und blik Deutschland. ausländerfeindlicher Gewalt die Einrichtung einer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Polizei, Verfassungsschutz und Justiz umfassenden

Bund - Länder - Koordinierungsgruppe vorgeschla- Zur organisierten Kriminalität will ich nur stichwor- gen, deren Vorsitz beim Bundesamt für Verfassungs- tartig reden. Ich will das nicht im einzelnen vortragen; schutz liegen sollte. Wir haben früher die Einrichtung ich habe mich oft genug dazu geäußert. Aber wenn es der Koordinierungsgruppe Terrorismusbekämpfung stimmt, daß sich die organisierte Kriminalität, Mafia — KGT — beim Bundeskriminalamt geschaffen. Eine und mafiaähnliche Organisationen, zu einer Bedro- vergleichbare Einrichtung wird es jetzt in diesem hung für Staat und Gesellschaft entwickeln, müssen Bereich geben. wir unsere Anstrengungen auch auf diesem Felde Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10589

Bundesminister Rudolf Seiters verstärken. Deswegen bin ich mit Entschiedenheit Rudolf Seiters, Bundesminister des Innern: Das ist dafür, daß dieses Parlament sehr bald die Vorausset- wohl richtig. Aber manchmal freut man sich über zungen dafür schafft, daß wir wie andere europäische Erfolge mehr, wenn man vorher einen harten und und außereuropäische Länder auch den Einsatz tech- langen Kampf geführt hat, als wenn es einem in den nischer Mittel zum Abhören des in Wohnungen nicht Schoß gefallen ist. öffentlich gesprochenen Wortes ermöglichen. (Johannes Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wo Wir müssen diese organisierten Strukturen durch- er recht hat, hat er recht!) brechen. Wir brauchen den Lauschangriff. Deswegen brauchen wir auch eine Verschärfung des Gesetzes Vielleicht wird in den neuen Ländern jetzt auch richtig zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Wir gewürdigt, daß es so viele gegeben hat, die sich für brauchen das Gewinnaufspürungsgesetz. Wir brau- diese Belange der neuen Länder eingesetzt haben. chen auch die internationale Zusammenarbeit bis hin (Beifall bei der CDU/CSU) zu EUROPOL. Dessen Aufbaustab hat zum 1. Septem- ber 1992 in Straßburg unter deutscher Leitung seine Schließlich noch ein Wort zum Spo rt. Ich kann ja Tätigkeit aufgenommen. verstehen, daß die Kollegen, die in der Opposi tion in Meine Damen und Herren, ich nenne jetzt noch drei besonderer Weise für die Sportpolitik zuständig sind, Stichworte, weil man hin und wieder auf die Erfolge in kritische Anmerkungen machen möchten und dies einem solchen Etat hinweisen sollte, auch wenn es auch tun. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß wir in teilweise schon gewürdigt worden ist. Es ist mir mit den den Jahren 1991 und 1992 die Sportfördermittel Blick auf die Kulturförderung als jemand, der zwei verdoppelt haben, daß wir zwar jetzt eine Absenkung einhalb Jahre in einer wichtigen Phase Chef des von 267 Millionen auf 223 Millionen DM haben, dies Kanzleramtes gewesen ist, der viele Gespräche aber immer noch eine gewaltige Spitzenleistung ist. geführt und viele Erkenntnisse gesammelt hat, immer Da wir wissen, daß im Jahre 1993 keine Olympischen ein Anliegen gewesen, daß wir die neuen Länder in Sommerspiele und keine Olympischen Winterspiele dieser schwierigen Phase beim Schutz der kulturellen stattfinden und auch viele andere Kosten nicht entste- Substanz nicht alleine lassen, sondern daß wir hel- hen, kann ich sagen: Es ist ein hoher Standard an fen. Hilfen, die der Staat dem Sport gewährt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ich habe auch den Eindruck, daß der Einsatz des sowie bei Abgeordneten der SPD) Bundesinnenministers, daß die Leistungen, die der Staat dem Sport gewährt, von den Sportlern selber Bund, Länder und Gemeinden haben in den beiden und von den Sportorganisationen durchaus gewürdigt vergangenen Jahren gemeinsam wesentlich zur werden. Erhaltung der kulturellen Substanz in den neuen Ländern beigetragen und die Grundlage dafür (Zuruf von der SPD) geschaffen, das kulturelle Leben auch unter veränder- Ich bin jedenfalls froh, daß wir keine globale Kürzung ten Vorzeichen zu bewahren, alle wesentlichen kultu- von 50 Millionen DM, sondern nur von 10 Millionen rellen Einrichtungen offenzuhalten und die Basis- für DM haben. Im übrigen biete ich Ihnen an, daß wir die behutsame Umgestaltungen und neue Strukturierun- Gespräche fortsetzen, wenn es darum geht, die ande- gen zu schaffen. Der Bund hat seit der Vereinigung ren Mittel der globalen Minderausgabe zu erwirt- 2,5 Milliarden DM für das Substanzerhaltungspro- schaften. Ich werde ein besonders freundliches Auge gramm, das Infrastrukturprogramm und das Denk- auf den Sport richten. malschutzprogramm aufgewendet. Sie werden sich erinnern, daß ich vor vielen Mona- Allerdings will ich auch sagen, daß der Spo rt in ten, als es noch nicht unbedingt so aussah, daß es uns Zukunft in vielerlei Hinsicht gefordert ist, so bei der gemeinsam gelingen könnte, diese Millionen in den Überprüfung der Leistungszentren und Olympiastütz- Haushalt hineinzubringen, an diesem Rednerpult punkte, der Nachwuchsförderung, der Verbands- gesagt habe, ich würde mich nachhaltig dafür einset- strukturen. Selbstverständlich ist für uns, daß wir nur zen. Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben. Ich einen Spitzensport ohne Doping akzeptieren und sage aber auch: Für dieses Programm hat sich der fördern werden. Der deutsche Sport ist mit der Durch- Bundesminister des Innern auch mit dem Herzen sehr führung der Trainingskontrollen auf dem richtigen stark eingesetzt. Weg. Im Interesse der Chancengleichheit der Athle- ten müssen die deutschen Sportorganisationen ener- (Beifall bei der CDU/CSU) gisch darauf hinwirken, daß auch in anderen Ländern ein vergleichbares Kontrollsystem in Anwendung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Bun- kommt. desminister, die Abgeordnete Frau Albowitz möchte Wir haben harte Gespräche geführt, aber insgesamt Ihnen gern eine Frage stellen. — Bitte sehr. haben wir doch mit dem Haushalt des BMI den Herausforderungen Rechnung getragen, die im Zuge der Herstellung der inneren Einheit zu bewäl tigen (F.D.P.): Herr Minister, könnten Sie mir Ina Albowitz sind. versprechen, sich beim nächsten Haushalt für das Substanzerhaltungsprogramm beim Finanzminister Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung auch für die etwas stärker einzusetzen, damit es gleich in der Höhe Zukunft, verbinde dies mit meinem Dank an die eingestellt wird, in der wir es jetzt drin haben, wenn es Mitglieder des Haushaltsausschusses, insbesondere dann noch nötig ist? Denn dieses Jahr war die Bera- an die Berichterstatter, und an die Mitglieder des tung dazu etwas mühsam. Innenausschusses für die vertrauensvolle Zusammen- 10590 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Bundesminister Rudolf Seiters arbeit, die wir, Kollege Purps, trotz mancher Äußerun- Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 36, Zivile gen, die wir schnell wieder vergessen wollen, auch in Verteidigung, ab. Dazu liegt ebenfalls ein Änderungs- Zukunft fortsetzen werden. antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Drucksache Vielen Dank. 12/3820 vor. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen? — Eine Enthaltung aus der SPD-Fraktion. Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Wir stimmen nunmehr über den Einzelplan 36 in der Debatte über diesen Tagesordnungspunkt und kom- Ausschußfassung ab. Wer dafür ist, den bitte ich um men zur Abstimmung. das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltun- Zunächst zum Einzelplan 06. Dazu liegt ein Ände- gen? — Gegen die Stimmen der SPD-Fraktion ist der rungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Druck- Einzelplan 36 in der Ausschußfassung angenom- sache 12/3819 vor. Ich frage: Wer ist dafür? — Nie- men. mand. Wer ist dagegen? — A lle. Enthaltungen? — Keine. Der Antrag ist abgelehnt. Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- liegen mir nicht vor. plan 06 in der Ausschußfassung. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Gegen die Stimmen der anwesen- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- den Mitglieder der SPD-Fraktion ist der Einzelplan 06 destages für Donnerstag, den 26. November 1992, angenommen. 9.00 Uhr ein und wünsche Ihnen einen erholsamen und vergnüglichen Restabend. Wir stimmen nun über den Einzelplan 33, Versor- gung, in der Ausschußfassung ab. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer ist dagegen? — Die Sitzung ist geschlossen. Enthaltungen? — Damit ist der Einzelplan 33 einstim- mig angenommen. (Schluß der Sitzung: 22.35 Uhr) Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10591*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 stände gegenwärtig schlechter als vor einem Jahr- zehnt: statt Entwicklung nur Rückschritte. Und auch Liste der entschuldigten Abgeordneten dort, wo reales wirtschaftliches Wachstum war - wie bei uns -, wurde krasse soziale Ungerechtigkeit noch entschuldigt bis längst nicht aus der Welt geschafft. Auch der Einzel- Abgeordnete(r) einschließlich plan 23, also der des Bundesministers für wirtschaftli- che Zusammenarbeit, liegt mit 1,7 % Steigerung im Andres, Gerd SPD 25. 11. 92 Vergleich zum Vorjahr unterhalb der Marke des Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 25. 11. 92 Gesamthaushalts. Verglichen mit der Entwicklungs- Burchardt, Ulla SPD 25. 11. 92 hilfe von vor 10 Jahren, die damals 0,49 des Bruttoso- Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 25. 11. 92 zialprodukts be trug und im Entwurf 1993 auf magere Peter Harry 0,34 % des BSP kommt, unterstreichen die nackten Clemens, Joachim CDU/CSU 25. 11. 92 Zahlen diese Rückwärtsentwicklung. Dabei hatte sich Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 25. 11. 92 ** der Deutsche Bundestag bereits noch zu sozial-libera- Ganseforth, Monika SPD 25. 11. 92 ** len Regierungszeiten - einstimmig - hinter das Ziel Gattermann, Hans H. F.D.P. 25. 11. 92 der Vereinten Nationen gestellt, jeweils 0,7 % des Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 25. 11. 92 Bruttosozialproduktes für Entwicklungszusammenar- Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 25. 11. 92 beit einzusetzen. Gries, Ekkehard F.D.P. 25. 11. 92 Dr. Holtz, Uwe SPD 25. 11. 92 Zwar ist Geld nicht alles, aber wer wollte angesichts Homburger, Birgit F.D.P. 25. 11. 92 der notwendigen Transferleistungen in unserem eige- Kolbe, Regina SPD 25. 11. 92 nen Land bestreiten, daß neben rein monetärer auch Kubatschka, Horst SPD 25. 11. 92 ** technische Hilfe für strukturschwache Regionen Marx, Dorle SPD 25. 11. 92 benötigt wird. Finanziert werden muß beides. Mischnick, Wolfgang F.D.P. 25. 11. 92 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 25. 11. 92 ** Der Bundeskanzler hatte sich noch im Juni auf der Müller (Pleisweiler), SPD 25. 11. 92 Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio erneut Albrecht auf das Ziel 0,7 % des Bruttosozialprodukts bis zum Niggemeier, Horst SPD 25. 11. 92 Jahre 2000 verpflichtet. Durch den eingebrachten Odendahl, Doris SPD 25. 11. 92 Haushalt '93 wird das Ziel 0,7 % aus den Augen Oesinghaus, Günther SPD 25. 11. 92 verloren, wird das Auseinanderklaffen zwischen Wor- Rempe, Walter SPD 25. 11. 92 ten und Taten deutlich. Auch in der Entwicklungspo- Reuter, Bernd SPD 25. 11. 92 litik wird die Schwäche dieser Regierung deutlich, die Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 25. 11. 92 in nahezu allen Bereichen konzeptionslos agiert, sich Ingrid - kurzatmig über die Runden zu retten versucht. Gerade Dr. Scheer, Hermann SPD 25. 11. 92 * im Bereich der entwicklungspolitischen Zusammen- Scheffler, Siegfried Willy SPD 25. 11. 92 arbeit sind jedoch langfristig angelegte Konzepte Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 25. 11. 92 bitter nötig, um eine Aufwärtsentwicklung der Länder Dr. Seifert, Ilja PDS/LL 25. 11. 92 der Zweiten und Dritten Welt für die Eine Welt zu Dr. Sonntag-Wolgast, SPD 25. 11. 92 sichern. Cornelie Thierse, Wolfgang SPD 25. 11. 92 Armut, Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion Welt, Jochen SPD 25. 11. 92 und wirtschaftliche Abhängigkeit in den Entwick- Dr. Zöpel, Christoph SPD 25. 11. 92 lungsländern erfordern mehr, als durch diesen Haus- halt von der Bundesrepublik getan wird. Folglich *für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- fordern wir Sozialdemokraten - auch in einer zu- lung des Europarates gegebenermaßen gesamtpolitisch nicht einfachen ** für die Teilnahme an der Jahreskonferenz der Interparlamentari- Lage - eine realistische Erhöhung des Einzelpla- schen Union nes 23, wissend, daß dieses Geld gleichsam mehr als eine Investition für die Zukunft ist.

Zwischen den armen und reichen Weltregionen klaffen Welten. Die Kluft bei den Durchschnittsein- Anlage 2 kommen nimmt zu statt ab. Die brutalen Trennlinien auf der Ost-West-Achse haben sich aufgelöst, auf der Zu Protokoll gegebene Reden Nord-Süd-Schiene soweit verschoben, daß alte Kli- zu Tagesordnungspunkt II 20 - Einzelplan 23, schees von dem Norden oder dem Süden keinen Sinn Geschäftsbereich des Bundesministers mehr ergeben. Mittlerweile bestehen Arm-Reich- für wirtschaftliche Zusammenarbeit -*) Gefälle in allen Weltregionen, quer zu allen Himmels- richtungen.

Helmut Esters (SPD): In der überwiegenden Mehr Die globalen Umweltgefahren und die Bevölke- heit der Entwicklungsländer sind die Lebensum- rungsexplosion, das soziale Elend und die hoffnungs- lose Wirtschaftsmisere in vielen Teilen der Welt soll- *)Vgl. Seite 10569 ten den Ignoranten die Folgen fehlender Entwick- 10592* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 lungszusammenarbeit — auch im eigenen L and — werden. Die Fähigkeit, sich selbst zu helfen, muß bewußt machen: Der Strom von Asylbewerbern und verbessert werden. Folglich müssen die Ausgaben für Elendsflüchtlingen überfordert vielerorts die Men- Bildung aufgestockt werden. schen, löst Übergriffe von Extremisten aus, die selbst vor Mord, wie wir zu Beginn der Woche schmerzvoll Zweitens müssen die Rahmenbedingungen für eine erfahren mußten, nicht mehr zurückschrecken; eine effektivere Wirtschaft und eine rechtsstaatliche, funk- Klimakatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes droht. tionierende Verwaltung sowie eine unabhängige Justiz geschaffen werden. Deshalb ist eine Steigerung des Anteils der Ent- wicklungshilfe am Sozialprodukt überfällig, muß eine Drittens muß das Bevölkerungswachstum gedämpft entwicklungspolitische Offensive aus Gründen der werden; Strukturen müssen angepaßt werden, soll Solidarität und Humanität eingeleitet werden. heißen, Programme für Armutsbekämpfung und Gesundheit, müssen aufgelegt werden. Die Bundesregierung muß daher die Entwicklung regionaler Zusammenschlüsse fördern und regionale Viertens muß die Förderung von Eigenmaßnahmen Wirtschaftspolitik unterstützen. beim Umweltschutz erreicht werden. Hierzu könnte ein eigener Titel im Haushalt eingerichtet werden, Das Nebeneinander wirtschaftlich nicht lebensfähi- woraus die Länder gefördert werden sollten, die auf ger Entwicklungsländer angesichts der Zusammen- Eingriffe in die Natur weitgehend verzichten. schlüsse wirtschaftlich starker Indust rie- und Schwel- lenländer ist eine Entwicklung in die falsche Richtung. Doch wie kann man hier glaubwürdig einfordern, Hierdurch kommen die Entwicklungsländer in immer wozu man selbst nicht bereit ist? Noch in Rio hat größere Abhängigkeit, und die Chance, sich auf Bundeskanzler Kohl sein nationales CO2-Minde- eigene Füße zu stellen, wird geringer. rungsprogramm verkündet, 25-30 % weniger an Emissionen bis zum Jahre 2005 zu erreichen. Damit Am Prinzip bilateraler Hilfe ist festzuhalten, wenn sollte auch das Stabilisierungsziel der EG bis zum dies effizienter ist als multilaterale Förderung. Ein Jahre 2000 (CO2-Emissionen auf Stand von 1990) Konzept für eine regionale Entwicklungszusammen- übertroffen werden. Nach dem vorliegenden Ver- arbeit in Teilen Afrikas, Mittelamerikas, im Nahen kehrswegeplan ist nach vorsichtigen Schätzungen Osten und in den südlichen Republiken der ehemali- eher ein Ansteigen der CO2-Emissionen um 50 % zu gen Sowjetunion ist überfällig. befürchten. Auch hier wird der Widerspruch zwischen Sonntagsreden und Alltag deutlich. Die diesbezüglichen Bestrebungen im südlichen Afrika (SADDC) sollte die Bundesregierung aufgrei- Dabei wissen wir: Um den globalen Umweltkollaps fen. Die bisherige Zurückhaltung bei der Förderung zu verhindern, deren Hauptverursacher wir reichen regionaler, wirtschaftlicher Zusammenschlüsse im Industriegesellschaften im Norden sind, ist schnelles südlichen Afrika muß sich in eine entwicklungspoliti- Handeln erforderlich. Wir wissen, daß selbst bei sche Offensive für Afrika umwandeln. Die steigende sofortigem Umsteuern schlimmste Umweltzerstörun- Not in Afrika erfordert eine Erhöhung der Finanzmit- gen schon heute nicht mehr zu verhindern sind. tel, um dem Kontinent überhaupt wieder eine Ch ance Ebenso zwingen Bevölkerungsexplosion und soziales für Entwicklung zu eröffnen. Elend zum Handeln. Wahre Völkerwanderungen, bedingt durch die Wirtschaftsmiseren in vielen Teilen Wirtschaftspolitische Maßnahmen müssen mit frie- denspolitischen Konzepten zu Abrüstung, Waffenex- der Welt im Süden wie im Osten sollten uns bewußt machen, daß es längst keine Fragen von Herausforde- portkontrolle und Aufbau regionaler Sicherheitssy- rungen im überkommenen Sinne mehr sind, sondern steme verbunden werden. Zwar lassen sich europäi- daß es sich um Fragen des Überlebens der Einen Welt sche Erfahrungen nicht schematisch auf andere Regionen der Welt übertragen, aber es ist kein Zwei- handelt. fel, daß sowohl der Helsinki-Prozeß wie die sich Eine entscheidende Aufgabe wird deshalb darin erweiternde Europäische Gemeinschaft viel interna- liegen, die wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen und tionales Interesse gefunden haben oder sogar als politischen Verhältnisse so zu verändern, daß die beispielgebend empfunden werden. Fluchtursachen beseitigt werden. Dazu bedarf es aber Eine entwicklungspolitische Offensive muß mithel- nicht nur der Maßnahmen in den Entwicklungslän- fen, einen grundlegenden Strukturwandel in den dern, den Ländern Osteuropas und Änderungen im Entwicklungsländern zu bewirken. Dabei sollte Nord-Süd-Verhältnis, sondern ganz konkreter immer wieder betont werden, daß die Hilfe für Osteu- Schritte der Bundesregierung hinsichtlich gemeinsam ropa nicht auf Kosten der Zusammenarbeit mit den aufeinander abgestimmter Initiativen der Industriena- klassischen Entwicklungsländern gehen darf: Kein tionen, sowie der nationalen und internationalen „entweder Zweite oder Dritte Welt", sondern ein Hilfsorganisationen. entschiedenes Handeln für die Eine Welt. Beim Technologietransfer sind adäquate Eigenan- Eine auf langfristige wi rtschaftliche Gesundung strengungen zu fördern und gewachsene Handelsbe- und Entwicklung gerichtete Strukturanpassung kann ziehungen, besonders in Osteuropa, zu nutzen. Die nur Erfolg haben, wenn folgende Bedingungen her- Maßnahmen der Außen-, Wirtschafts-, Finanz-, gestellt werden: Umwelt- und Entwicklungspolitik müssen stärker auf- einander abgestimmt werden. Die Bundesregierung Erstens muß die Grundbildung und berufliche Qua- muß sich national wie international zu einer Politik lifizierung breiter Bevölkerungsschichten angestrebt verpflichten, die staatliches und privatwirtschaftliches Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10593*

Handeln im Sinne eines fairen Nord-Süd-, West- Zusammenarbeit im Haushaltsjahr 1993 noch um Ost-Ausgleichs ausrichtet. 2 Milliarden DM aufzustocken, ist angesichts der In diesem Sinne Willy Brandts, der früh darauf enormen Belastungen des Bundeshaushalts im hingewiesen und eine Friedensdividende für die Zusammenhang mit der Stärkung der Wachstums- Dritte Welt immer wieder eingeklagt hat, sollten kräfte in den NBL kurzfristig nicht realisierbar. Des- Opposition und Regierung gemeinschaftlich h andeln. halb ist auch die Forderung der SPD-Fraktion nach Wir Sozialdemokraten sind dazu bereit. einer Steigerung der ODA-Quote auf 0,7 % des Brut- tosozialprodukts in dieser Form nicht haltbar. Wir lehnen diesen Antrag deshalb ab. Ich selbst hatte und Dr. Christian Neuling (CDU/CSU): Lassen Sie mich habe immer meine Skepsis gegenüber einer derarti- zu Anfang zu einem aktuellen Problem Stellung gen Meßgröße geäußert, da sie im Widerspruch steht nehmen. Den Verlust, den die Entwicklungsländer zu einer auf strikte Konsolidierung der öffentlichen aus Protektionismus und Handelsbeschränkungen Finanzen angelegten Politik. Für die kommenden erleiden, ist um ein Vielfaches höher als die weltweit Jahre sollten wir jedoch als Ziel anstreben, daß wir uns geleistete Entwicklungshilfe. Alle Forderungen an die an der durchschnittlichen ODA-Quote der Industrie- Entwicklungsländer, marktwirtschaftliche Rahmen- länder mit 0,34 % orientieren, mit der Konsequenz, bedingungen zu schaffen, bleiben unglaubwürdig, daß in der mittelfristigen Finanzplanung die Steige- wenn die Industrieländer sich nicht selbst an diese rung des EP 23 unter Einschluß der Hilfen für die Prinzipien halten. Auch aus wohlverstandenem MOE- und GUS-Staaten sich am Wachstum des nomi- Eigeninteresse gilt die Erkenntnis, daß freie Handels- nalen BSP orientieren, d. h. in den Jahren bis 1996 um grenzen der beste Entwicklungshelfer sind. Die aktu- durchschnittlich ca. 4-5 % wachsen sollte. ellen GATT-Verhandlungen, die aktive Entwick- lungspolitik darstellen, müssen zügig und erfolgreich 2. Einen weiteren Schwerpunkt haben wir in diesem beendet werden. Jahr mit der Steigerung der Mittel zur Förderung der Seit zwei Jahren befindet sich die Welt in einer wirtschaftlichen Entwicklung in Mittel- und Osteu- historischen Umbruchsituation. Der Wegfall des Ost ropa gesetzt, der nunmehr mit 82 Millionen in diesem West Konfliktes gibt uns die einzigartige Chance, die Einzelplan liegen wird. Zur Erinnerung: gemeinsam globalen Probleme erfolgreich anzugehen: über die Fraktionen hinweg haben wir erstmals im Jahr 1990 hierfür einen Ansatz in Höhe von 10 Millio- — Stärkung und Förderung der jeweils inländischen nen bei den Berichterstattergesprächen eingestellt. wirtschaftlichen Wachstumskräfte, um die Armut vor Im Vergleich zu 1993 entspräche dies nunmehr einer Ort zu bekämpfen. Hierin liegt sicherlich die wir- Steigerung von 800 %, womit die enorm gewachsene kungsvollste Maßnahme, um die Wanderungsbewe- Bedeutung dieses Bereiches in der Entwicklungspoli- gung zu stoppen, deren Ursache in den wenigsten tik deutlich zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig Fällen die politische Verfolgung, sondern in der Regel begrüßen wir es, daß nun endlich eine Koordinie- die wirtschaftliche Not ist. - rungsstelle beim Bundeskanzleramt eingerichtet wor- — Stärkung und Förderung von politischen Reform- den ist, um die Hilfe insgesamt für diesen Bereich zu kräften, damit die Freiheit des einzelnen sowie die koordinieren. Wir begrüßen ausdrücklich, daß die Eigeninitiative und Eigenverantwortung des einzel- hervorragend bewährten Instrumente des BMZ im nen gestärkt werden als Ausgangspunkt für die Ent- Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit nun wicklung von freiheitlichen Gesellschaftssystemen, auch für diese Länder genutzt werden. sowie 3. Das Stammkapital der Deutschen Investitions- — Stärkung und Förderung all der Kräfte, die sich für und Entwicklungsgesellschaft (DEG) wird um den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen 200 Millionen auf dann 1,2 Milliarden erhöht. Hier- einsetzen. druch wird die DEG in die Lage versetzt, auch Jede „Mark", die erfolgreich in Entwicklungspolitik zusätzliche Kapitalmarktkmittel aufzunehmen und ihr investiert wird, leistet hier einen wich tigen Beitrag bei Umsatzvolumen entsprechend zu erhöhen. Der DEG der Lösung dieser globalen Probleme und ist somit wird zukünftig ein wichtiger Beitrag zur Förderung eine lebensnotwendige Investition in unsere Zu- der wirtschaftlichen Entwicklung in Mittel- und kunft. Osteuropa sowie in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zufallen. Hierbei muß ein wesentlicher Diese generelle Vorbemerkung vorausgeschickt, Schwerpunkt ihrer unternehmerischen Tätigkeit in möchte ich zunächst auf wichtige Eckpunkte einge- der Stärkung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen hen, die die Diskussioin über den Einzelplan des diesen Staaten und insbesondere den Neuen Bundes- Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit ländern liegen. bei der Beratung bestimmt haben: 1. Mit einer Steigerungsrate von 2,2 % (im Vergleich 4. Wir haben erneut die Deckelung bei der interna- zum Soll-Ansatz 1992) liegt der Etat des BMZ im tionalen Ernährungshilfe in der Bereinigungsrunde allemeinen Trend des Bundeshaushaltes '93 insge- im Haushaltsausschuß aufgegriffen und der Bundes- samt. Seitens der Bundesregierung wie auch des regierung entsprechende Verhaltensregelungen Parlaments wird seit vielen Jahren die Erhöhung der — im Rahmen einer Protokollnotiz — bei der Bereini- ODA-Quote auf ca. 0,7 % im internationalen Ver- gungsrunde im Haushaltsausschuß ins Stammbuch gleich gefordert. An diesem Ziel halten wir in der geschrieben. Der EP 23 ist in seiner finanziellen Koalition fest. Der eben noch eingegangene Antrag Ausgestaltung so eng, daß weitere Spielräume für der SPD-Fraktion, die Mittel für wirtschaftliche überplanmäßige Ausgaben nicht gegeben sind. Über- 10594* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 planmäßige Ausgaben müssen gegebenenfalls dann pflichtungen entsprechend neu festgelegt bzw. zur aus dem Bundesetat insgesamt finanziert werden. Diskussion gestellt werden. 5. Die langwierige Diskussion über die Privatisie- 3. In jedem Fall ist sicherzustellen, daß die deut- rung von DEG und GTZ sind ebenfalls im Rahmen der schen Lieferanteile den deutschen Kapitalanteilen in Berichterstattergespräche sowie in ausführlicher Dis- den einzelnen Organisationen bzw. Banken entspre- kussion im Fachausschuß abschließend behandelt chen. Ein besonders negatives Beispiel ist hierbei worden. Eine Privatisierung kommt für beide nicht in erneut der EEF: Deutschland ist mit 26 % der größte Betracht, weil eine wettbewerbsorientierte marktwirt- Geber, bei den Lieferanteilen aber nur mit 10,7 % schaftliche Ersatzlösung nicht erkennbar ist aufgrund vertreten. der besonderen Aufgaben, die beide Organisationen Im Rahmen der Haushaltsberatungen haben wir als für die Bundesrepublik Deutschland zu erfüllen weiteren Schwerpunkt die Abstimmung von entwick- haben. Bei der GTZ bleibt allerdings anzumerken, daß lungspolitischen Zielen auf internationaler Ebene nunmehr zügig die Optimierung des Vorfeldes umge- angesprochen. setzt wird, daß insbesondere auch die Kooperations- möglichkeiten mit den privaten Consulting-Unter- Wir betrachten auf internationaler Ebene eine Ent- nehmen voll genutzt und gleichzeitig die Synergie- wicklung, die nur scheinbar mit der Entwicklungs- Effekte zwischen GTZ (zuständig für die TZ) und der politik nicht zusammenhängt. Zunehmend bilden sich KfW (verantwortlich für die FZ) genutzt werden. Die in wichtigen Regionen unserer Welt größere Wirt- Eigenständigkeit der GTZ darf allerdings nicht schaftsräume und H andelsblöcke (Trend zur Regiona- berührt werden. lisierung des Welthandels), so z. B. in Afrika: SADCC, Southern African Development Coordination Confe- Ein weiterer Schwerpunkt während der Beratungen rence, in Südostasien: AFTA, Regionale Freihandels- lag in der Diskussion über die zukünftige Bedeutung zone der ASEAN-Staaten (ca. 500 Millionen), in Süd- der multilateralen Entwicklungspolitik und hierbei amerika (insgesamt 297 Millionen Menschen): An- insbesondere ihre Stellung zu der bilateralen, zur denpakt — Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru und nationalen Entwicklungshilfe. Sorgenvoll betrachten Venezuela — und Mercuosur — Brasilien, Argenti- wir, daß durch eine vom Parlament aus nicht zu nien, Paraguay und Uruguay —, in Nordamerika kontrollierende Entwicklung im multilateralen Sektor (insgesamt 427 Miollionen Menschen): NAFTA ab die nationale Entwicklungszusammenarbeit zuneh- 1994 — USA / Kanada / Mexiko. Nicht zu vergessen ist mend in einen immer enger werdenden finanziellen hierbei das global gesehen größte nationale Absatz- Rahmen gepresst wird und oftmals als „Reserve- gebiet nämlich China mit einer Bevölkerung von ca. kasse" oder „Notgroschen" für internationale Zusa- 1,2 Milliarden Menschen. gen herhalten muß. Ehemalige Entwicklungsländer wie z. B. Südkorea, Folgendes ist festzuhalten: Hongkong, Taiwan und Singapur wachsen zu voll- 1. Die finanziellen Zuwendungen an bestimmte- wertigen Industrieländern heran und sind inzwischen internationale Organisationen bzw. Fonds haben in harte Wettbewerber der „Exportnation Deutschland". den letzten Jahren eine überproportionale Steigerung Derzeitig „noch Schwellenländer" wie Thailand, erfahren. Gravierendstes Beispiel hierbei ist der Euro- Malaysia, Indonesien sowie möglicherweise in naher päische Entwicklungsfonds, der in den letzten 10 Jah- Zukunft auch Argentinien und Chile, werden sich ren (83/93) eine Steigerung um 110 %, von 440 Millio- bald zu sogenannten „kleinen Tigern" gemausert nen auf jetzt 940 Mio erfahren hat. haben. China — wie gleichermaßen Vietnam — leiten bereits unbeirrt und sehr schnell pragmatische Wege 2. Der multilaterale Bereich ist generell einer direk- zu einer marktwirtschaftlichen Entwicklung ein. Als ten parlamentarischen Kontrolle entzogen. Einer der- „wirtschafts-politische Sphinx" in der asiatischen artigen Entwicklung kann ein selbstbewußtes Parla- Region handelt Japan offensichtlich nach der Devise: ment kein Interesse haben. „Jede Entwicklungsmark muß insbesondere die 3. Die Effizienz von großen Organisationen — na- Exportbemühungen der eigenen Industrie fördern." tional wie international — ist in der Regel nicht Angesichts dieser Entwicklung sehe ich folgende besonders ausgeprägt. Gerade aber in Zeiten knapp- Orientierungspunkte, die von der Bundesregierung ster Kassen kommt es darauf an, mit jeder eingesetz- zukünftig stärker zu beachten sind: ten Mark auch ein Höchstmaß an Wirkung zu erzie- len. 1. Die im vergangenen Jahr festgelegten verschärf- ten Kriterien für die Vergabe von bundesdeutschen Ich fordere daher die Bundesregierung auf, folgen- Mitteln für die Entwicklungshilfe (Einhaltung der des sicherzustellen: Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerung an 1. Der Anteil der multilateralen Entwicklungshilfe politischen Entscheidungen, Rechtssicherheit, markt- im EP 23 muß bei ca. 30 % verbleiben. freundliche Wirtschaftsordnung sowie Entwicklungs- orientierung des staatlichen Handelns) können für 2. Falls aufgrund von Zusagen Aufstockungen für einen sichtbar größeren Wirkungsgrad in der Ent- internationale Organisationen erforderlich sind, die wicklungspolitik sorgen. Eine ständige Überprüfung über der allgemeinen Steigerungsrate des Einzelpla- der Länderquoten ist gerade auch im Hinblick auf eine nes liegen, muß der gesamte Einzelplan so angehoben politische Akzeptanz bei uns im Lande sowie ange- werden, daß die bilaterale Hilfe in gleichem Umfang sichts der engen finanziellen Grenzen der öffentlichen steigt. Gegebenenfalls müssen auf internationaler Haushalte mehr als erforderlich. Zu begrüßen ist, daß Ebene auch einmal die Schlüssel der Beitragsver der Bundesminister im Rahmen der Beratung erlärt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10595* hat, daß diese Vergabepraxis ihren Niederschlag Werner Zywietz (F.D.P.): Die diesjährige Haushalts bereits in der Zusammenarbeit mit einzelnen Ländern debatte findet in einer Phase konjunktureller gefunden hat. So kam es zu reduzierten Ansätzen Abschwächung statt, die nicht nur Bereitschaft zur wegen mangelnder Eigenanstrengungen und man- Ausgabenbegrenzung in allen Politikbereichen ver- gelnder Bereitschaft zu notwendigen Strukturanpas- langt, sondern in der die Bundesrepublik Deutschland sungen z. B. in Brasilien, in der Dominikanischen insgesamt vor außergewöhnlichen Herausforderun- Republik und in Pakistan. Umgekehrt kam es zu einer gen steht. Die gewaltigen Erblasten von über 40 Jah- Anhebung der Quoten wegen positiver Entwicklung ren sozialistischer Mißwirtschaft müssen beseitigt, der z. B. bei den Ländern Bolivien, Nicaragua und Sam- Infrastrukturausbau und die wirtschaftliche Erneue- bia. Die Einhaltung bzw. Umsetzung dieser Kriterien rung in den östlichen Bundesländern im Interesse muß konsequent fortgesetzt werden. Entwicklungs- einer Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in hilfe kann und wird nur dann effektiv sein, wenn in ganz Deutschland zügig fortgesetzt werden. Gleich- den Nehmerländern selbst entsprechende Rahmen- zeitig geht es um die Bewältigung der ausufernden bedingungen gezielt angestrebt und auch umgesetzt Asyl- und Flüchtlingsproblematik und die Wahrneh- werden. mung unserer internationalen Verantwortung bei der Lösung regionaler Konflikte, zur Unterstützung des Auf der internationalen Ebene müssen die Geber- 2. Reformprozesses in Osteuropa und der GUS sowie zur länder ihre Bemühungen eindeutig verstärken, damit weltweiten Überwindung von Hunger und Armut. die soeben erwähnten Vergabekriterien als interna- Dies erfordert Augenmaß und eine Politik, die klare tionaler Maßstab für Entwicklungshilfe allgemein Prioritäten setzt. Erste Priorität muß in dieser Situation akzeptiert und insbesondere auch von allen prakti- der Bewältigung unserer Aufgaben auf nationaler ziert werden. Folgende Arbeitsteilung wird auf Dauer Ebene zukommen. Damit schaffen wir gleichzeitig die nicht mehr funktionieren: Wir in Deutschland halten nötigen Voraussetzungen, um in Zukunft noch grö- an den Vergabekriterien fest, da sie letztendlich die ßere Leistungen im Rahmen unserer internationalen Umsetzung von Entwicklungshilfe effektiver gestal- Verpflichtungen erbringen zu können. ten. Ggf. reduzieren wir dann auch unsere Entwick- lungshilfe auf Kernbereiche, wie z. B. die Aus- und Der Etat des Bundesministers für wirtschaftliche Fortbildung, oder — um in einem Bild zu bleiben — auf Zusammenarbeit für das Haushaltsjahr 1993 ist ein die sogenannte „Software" der Entwicklungshilfe. Beleg dafür, daß die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen zu ihrer Verantwor- Andere Länder wiederum, wie z. B. Japan, gehen tung stehen, durch eine qualitativ und quantitativ großzügiger mit den Vergabekriterien um, da sie verbesserte Entwicklungszusammenarbeit zur Lö- mehr daran interessiert sind, die eigene Indus trie bei sung globaler Umwelt- und Entwicklungsprobleme der Erschließung von Zukunftsmärkten zu unterstüt- beizutragen. In einer Zeit größter finanzpolitischer zen, z. B. durch die Finanzierung von Großprojekten Herausforderungen ist das Ausgabevolumen dieses im Verkehrsbereich; am besten dann noch finanziert Etats nicht etwa gesunken, wie es von Pessimisten und über eine internationale Entwicklungsbank; um wie- - Kritikern bereits vorausgesagt wurde, sondern weiter der im Bild zu bleiben: sie konzentrieren sich auf die erhöht worden. Mit einem Plafond von 8,457 Milliar- sogenannte „Hardware". den DM steigt der Einzelplan 23 gegenüber dem Eine derartige internationale Arbeitsteilung — oder Vorjahr um 2,2 %. Damit werden die finanziellen etwas humorvoll ausgedrückt: „burden sharing à la Voraussetzungen für eine Fortsetzung unserer lang- Entwicklungshilfe" hat dann folgende Konsequenz: fristig angelegten Entwicklungszusammenarbeit ge- Wir bilden die Mechaniker aus, damit diese anschlie- schaffen. So wichtig eine weitere Erhöhung der Mittel ßend auch die Toyotas entsprechend warten können, für eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit die dann auf den von Südkorea gebauten Straßen auch ist, ohne strukturelle Reformen und Eigenan- fahren können. Eine derartige internationale Aufga- strengungen der Entwicklungsländer selbst werden benteilung werden wir nicht weiter tolerieren. Wir alle Bemühungen der Unterstützung von außen ver- müssen bei den internationalen Partnern nachhaltig geblich sein. Die Nord-Süd-Beziehungen sind heute um Verständnis werben, daß die globalen Probleme duch das gemeinsame Bekenntnis zu Marktwirtschaft auch ein globales abgestimmtes Vorgehen und keine und guter Regierungsführung geprägt. Eigenanstren- Verfolgung von Partikulärinteressen erfordern. gungen und marktwirtschaftliche Reformen in einer Reihe von Entwicklungsländern zeigen erste Erfolge. 3. Diese Diskussion zeigt allerdings auch, daß wir in Wirtschaftliche Fortschritte konnten inzwischen vor Zukunft zu einer engeren Verzahnung von Entwick- allem asiatische und lateinamerikanische Länder lungs-, Wirtschafts- und Außenpolitik kommen müs- erzielen. Der dort festzustellende Anstieg der Direkt- sen. Die Eigenständigkeit eines eigenen Ministeriums investitionen und der starke Rückfluß von Fluchtkapi- für die wirtschaftliche Zusammenarbeit hat sich in den tal sind ein deutliches Indiz dafür, daß die Schaffung vergangenen Jahrzehnten bestens bewährt. Dies muß günstiger Rahmenbedingungen für die Mobilisierung auch von den anderen Ressorts so akzeptiert wer- privaten Kapitals, wirtschaftliche Gesundung und die den. Überwindung der Verschuldungsprobleme unver- Unterschwellige bis offene interministerielle Eifer- zichtbar sind. Funktionierende Märkte und Freiräume süchteleien, die so manches Mal zutage treten, müs- für private unternehmerische Initiative sind damit der sen angesichts der großen Probleme zukünftig ver- entscheidende Ansatzpunkt auch für die Verbesse- mieden werden. Es geht letztendlich um unsere rung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Gesamtverantwortung, der man am besten durch den Entwicklungsländern. Auf diese Weise wird gemeinsames Handeln national wie international zugleich ein nachhaltiger Beitrag zur Armutsbekämp- gerecht wird. fung geleistet. Das Konzept der deutschen Entwick- 10596* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 lungszusammenarbeit mißt der Schaffung solcher schaftlicher Strukturen, die Bekämpfung der Armut Rahmenbedingungen, der Privatinitiative und der und ihrer Ursachen sowie die Erhaltung der natürli- Förderung eines p rivaten Unternehmertums große chen Lebensgrundlagen müssen daher zentrale Ziele Bedeutung bei. Im Haushalt 1993 sehen die entspre- künftiger Entwicklungszusammenarbeit sein. Ich chenden Ausgabetitel hierfür deutliche Steigerungen begrüße, daß die Bundesregierung diesen Erforder- vor. Ein besonderes Signal für den Ausbau der privat- nissen Rechnung trägt und die wichtigsten Hand- wirtschaftlichen Zusammenarbeit wurde mit der im lungsfelder des beim Rio-Gipfel verabschiedeten Zuge der parlamentarischen Beratungen vorgenom- Aktionsprogramms „Agenda 21" zu Schwerpunkten menen Bereitstellung einer Verpflichtungsermächti- deutscher Entwicklungszusammenarbeit gemacht gung in Höhe von 200 Millionen DM für die Kapital- hat. Zu dieser konsequenten und sachgerechten Poli- erhöhung der Deutschen Investitions- und Entwick- tik gibt es keine Alterna tive. lungsgesellschaft mbH (DEG) gesetzt. Hierdurch wird nicht nur eine Förderung von Vorhaben im p rivaten Die F.D.P.-Bundestagsfraktion stimmt dem heute Sektor ausgeweitet, sondern auch die Grundlage für zur Beratung vorliegenden Einzelplan 23 zu. Wir eine zusätzliche Mobilisierung p rivaten Kapitals erwarten, daß die dem Bundesministerium für wirt- geschaffen. schaftliche Zusammenarbeit für das Haushaltsjahr 1993 bereitgestellten Mittel und Verpflichtungser- Die Übernahme globaler Verantwortung darf sich mächtigungen zur Lösung der anstehenden entwick- allerdings nicht nur auf eine qualitativ und quantitativ lungspolitischen Aufgaben eingesetzt werden. Hier- verbesserte Entwicklungszusammenarbeit beschrän- bei haben Sie, Herr Minister Spranger, und die ken. Durch eine verantwortungsbewußte und glaub- Mitarbeiter Ihres Hauses unsere volle Unterstüt- würdige eigene Wirtschafts- und Finanzpolitik müs- zung. sen die Industriestaaten gleichzeitig ihrer Mitverant- wortung für stabile weltwirtschaftliche Rahmenbedin- gungen gerecht werden. Die konsequente Fortset- Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): In der ersten zung der auf wirtschaftliches Wachstum und finanz- Lesung des Haushaltsgesetzes am 9. September habe politische Stabilität gerichteten Politik dieser Regie- ich den Entwurf des Einzelplanes 23 als quantitativ rungskoalition verdient daher auch unter entwick- und qualitativ unzureichend und nicht den Erforder- lungspolitischen Gesichtspunkten nachdrückliche nissen der Zeit angemessen bezeichnet. Unterstützung. Angesichts der vor uns liegenden Heute sprechen wir über einen qualitativ unwesent- enormen Herausforderungen bedeutet dies weitere lich veränderten und um 62 Millionen DM gekürzten Einsparungen in allen öffentlichen Haushalten, Sub- Etat. An meiner Einschätzung und daraus folgenden ventionsabbau und eine Lohnpolitik, die den Prozeß Ablehnung des vorliegenden Haushaltsplanes des der Strukturanpassung und der Schaffung von günsti- Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat gen Bedingungen für Investitionen, Wachstum und sich verständlicherweise nichts geändert. Beschäftigung nicht behindert. Das heißt allerdings auch, daß nunmehr die Chancen für einen erfolgrei- Was während der ersten Lesung des Haushaltes von chen Abschluß der Uruguay-Verhandlungsrunde des Herrn Minister Spranger noch als leiser Zweifel ange- GATT entschlossen genutzt werden müssen. Der deutet wurde, ist inzwischen auch mit den raffinierte- inzwischen mit den USA im Agrarbereich erzielte sten Rechentricks nicht mehr zu verschleiern: Die Kompromiß ist akzeptabel und vernünftig. Damit ist Mittelausstattung des BMZ wird mit den gewachse- der Weg freigeworden für eine Gesamteinigung im nen und weiter wachsenden Herausforderungen nicht Rahmen der GATT-Verhandlungen. Der in greifbare Schritt halten können. Die Reaktion des Hauses Nähe gerückte Erfolg der Uruguay-Runde darf nicht Spranger ist symptomatisch: Der Minister selbst tritt durch Partikularinteressen gefährdet werden. Ein sol- die Flucht nach vorn an und verteidigt (wider besseres cher Erfolg wäre ein wich tiger Wachstumsimpuls in Wissen?) das Ergebnis der Haushaltsberatungen als einer Phase geschwächter weltwirtschaftlicher Ent- das Optimum dessen, was heute möglich war. wicklung und liegt in unserem ureigenen Interesse. Er Noch einen Schritt weiter geht Frau Geiger mit ist aber auch von besonderer Bedeutung für die ihrem Versuch, dieses blamable Ergebnis der Haus- Entwicklungsländer. Fortschritte bei der weltweiten haltsberatungen zu beschönigen. Ich frage mich wirk- Handelsliberalisierung und ein verbesserter Marktzu- lich, welchen Nutzen es hat, über eine Anrechnung gang bedeuten für die Entwicklungsländer Devisen- der Aufwendung für Asylbewerber in der Bundesre- einnahmen und ermöglichen ihnen, industrielle Pro- publik auf die Entwicklungshilfe für die Herkunftslän- dukte und Dienstleistungen anderer Welthandels- der auch nur laut nachzudenken. Es ist in der letzten partner zu kaufen. Eine weitere Liberalisierung des Zeit schon zu viel und unver antwortlich in der Asyl- Welthandels fördert nicht nur die Integration der frage argumentiert und propagiert worden. Muß da Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft, sondern auch die Menschenrechtsbeauftragte des BMZ ihr schafft zugleich auch günstige Voraussetzungen für Scherflein beitragen, indem sie durch unzulässige, die Effizienz und Wirksamkeit unserer Entwicklungs- aber eingängige Zahlenspielereien deutsches Selbst- zusammenarbeit. wertgefühl steigert frei nach dem Motto: Seht her, was Freier Welthandel und umfassende wirtschaftliche wir leisten? Den Opfern der nach wie vor und auch Zusammenarbeit müssen zu den tragenden Säulen perspektivisch ungerechten Weltwirtschaftsordnung nützt das herzlich wenig. globaler Entwicklungspartnerschaft gemacht werden. Aufgabe der Entwicklungspoli tik ist es, ihren Beitrag Um Mißdeutungen vorzubeugen: Schwerpunkt zu einer solchen Strategie der Zukunftssicherung zu unserer Kritik und Ablehnung des vorliegenden leisten. Der Aufbau demokratischer und marktwirt- Haushaltsentwurfes ist nicht vorrangig die Quantität Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10597* der bereitzustellenden Mittel, auch nicht die Tatsa- Er stößt nicht nur eine Vielzahl von Bürgerinnen che, daß das zu kurze Hemd jetzt kaum noch bis unter und Bürgern vor den Kopf, denen Bundesminister die Achseln reicht. Wir kritisieren in erster Linie die Spranger in seiner Rede zur ersten Lesung des Haus- Disproportionen innerhalb des Gesamthaushaltes, in halts ausdrücklich für „ihren großen Einsatz, sich mit dem Entwicklungszusammenarbeit marginalisiert viel Idealismus und Zuversicht für die Bekämpfung und neben Wirtschafts- und Außenpolitik zur Bedeu- des Elends in der Welt einzusetzen" dankt, sondern tungslosigleit verdammt wird. Oder, mit anderen auch die Mitglieder des Ausschusses für wirtschaftli- Worten, was Herr Minister Spranger mühsam aufbaut, che Zusammenarbeit müssen sich düpiert fühlen. Die reißen Herr Möllemann und Herr Kinkel in der Regel Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschusses wieder ein. Die Weigerung, bei Hermes-Bürgschaften lassen jedenfalls nicht den Schluß zu, daß die Kompe- auch entwicklungspolitische Kriterien anzulegen, tenz und der Sachverstand des für die Entwicklungs- illustriert diesen Vorgang anschaulich. politik zuständigen Ausschusses in irgendeiner Weise an entscheidender Stelle berücksichtigt worden Welchen Wert haben Vergabekriterien, Schwer- sind. punktverschiebungen innerhalb des Entwicklungs- ressorts, wie sie von Herrn Minister Spranger im Vorgeschlagene Titelerhöhungen wurden, von we- September in seiner Nachfrage an den Kollegen nigen Ausnahmen abgesehen, abgelehnt, oder aber Hauchler nahezu erbittert aufgezählt wurden, wenn die finanziellen Mittel der be treffenden Titel wurden es nur ausreichend gewichtiger wirtschaftlicher oder sogar noch gekürzt. Damit werden entwicklungspoli- geostrategischer Gründe bedarf, um sie vom Tisch zu tische Beschlüsse des Fachausschusses über Bord kehren? geworfen. Der Frauenförderung in der Entwicklungszusam- Es ist, als ob es Rio nie gegeben hätte. Außer menarbeit wird nach unserer Auffassung nach wie vor Beteuerungen, Versprechen und großen Gesten zu wenig Beachtung geschenkt. Eine Erhöhung für geschieht nichts, was die brennenden globalen Pro- den Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für bleme einer Lösung auch nur näherbringt. 0,37 Pro- Frauen ließ sich, trotz Unterstützung von einigen zent des Bruttosozialproduktes für eine immer größer werdende Gruppe von Entwicklungsländern, davon Kolleginnen und Kollegen der Koalition, nicht durch- ein beträchtlicher Anteil für Großprojekte und Groß- setzen. abnehmer — es ist wirklich zum Verzweifeln. Die Konferenz in Rio hat erneut und nachdrücklich deutlich gemacht, daß für eine weltweite umweltver- Solange der Teufelskreis von Abhängigkeit, Ver- trägliche und soziale Entwicklung eine Umgestaltung schuldung, Armut, Bevölkerungswachstum und Um- der Lebensverhältnisse auch im Norden notwendig weltzerstörung nicht durch radikale Entschuldung ist. Die Signale, die hierfür von diesem Haushalt und gleichzeitige Umgestaltung der weltwirtschaftli- ausgehen, sind nicht deutlich genug. chen Strukturen nachhaltig durchbrochen wird, kann von einer Bewältigung der existentiellen Probleme Die zunehmende Ausländerfeindlichkeit in der Einen Welt keine Rede sein. Deutschland und die Ausschreitungen gegen Auslän- der haben die besondere Bedeutung einer entwick- Im Entwurf des Gesamthaushaltes deutet nichts lungspolitischen Öffentlichkeitsarbeit dringend deut- darauf hin, daß die Bundesregierung verstanden lich gemacht. Deshalb ist gerade die Kürzung des hätte, wie ernst die Lage bereits ist. Titels „Förderung der entwicklungspolitischen Bil- dung" um 1,5 Millionen unverständlich und nicht zu In unser aller Interesse bleibt zu hoffen, daß sich in akzeptieren. der Kosten-Nutzen-Rechnung der verantwortlichen Politiker die von ihnen praktizierte Schadensbegren- Der Zusammenhang ist doch deutlich: Immer häu- zung bald als wirtschaftlich unvorteilhaft erweist. Auf figer wird zur Rechtfertigung des „Stiefkindes" Ent- den gesunden Menschenverstand und die Einsicht in wicklungspolitik die Fluchtursachenbekämpfung die Notwendigkeit grundlegender Veränderungen in herangezogen. Ich frage mich, was soll Entwicklungs- Nord und Süd wage ich bald nicht mehr zu hoffen. politik eigentlich anderes sein. Jede Entwicklungs- politik sollte nach meinem Verständnis zu einer Ver- Dem Entschließungsantrag der SPD zur Steigerung besserung in dem be treffenden Land führen und der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des BSP bis zum damit helfen, Fluchtursachen zu bekämpfen. Die Jahr 2000 stimme ich zu. Zwar ist das Problem der Förderung der deutschen Wirtschaft kann immer nur bundesdeutschen Entwicklungspoli tik nicht nur die ein Nebenprodukt, nie aber Hauptzweck sein. Ich Quantität der bereitgestellten Mittel, aber eine Stei- denke, daß alle Entwicklungspolitiker dieses Hohen gerung des BMZ-Haushaltes um 2 Milliarden im Jahre Hauses sich darin einig sind. Deshalb ist mir nicht 1993 wäre zumindest ein Signal, daß die Bundesregie- verständlich, weshalb die vom Ausschuß für wirt- rung die Zeichen der Zeit erkannt hat. schaftliche Zusammenarbeit vorgeschlagene Ergän- zung zum Titel 68606 „Förderung von Ernährungssi- cherungsprogrammen in Entwicklungsländern " nicht Konrad Weiß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bereits der Entwurf des Einzelplans 23 signalisierte schwer- aufgenommen wurde. Sie forde rt, daß die notwendige wiegende Kürzungen im Bereich der Entwicklungszu- Nahrungsmittelhilfe vorrangig durch den Kauf von sammenarbeit, die, bei allem Verständnis für die Überschußangeboten anderer Entwicklungsländer angespannte Haushaltslage, für Entwicklungspoliti- ermöglicht werden soll. ker kaum zu akzeptieren waren. Die jetzt zur Debatte Insgesamt wird der ohnehin knappe Etat für die stehenden Beschlußempfehlungen des Haushaltsaus- Entwicklungszusammenarbeit nochmals um ca. schusses sind erst recht kritikwürdig. 98 Millionen gekürzt. Allein der Titel der Finanziellen 10598* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Zusammenarbeit wird um 75 Millionen gekürzt. Die Dazu zählt insbesondere die Erhöhung des Stamm- Mittel für die wirtschaftliche und gesellschaftliche kapitals der „Deutschen Investitions- und Entwick- Entwicklung in Ländern Mittel- und Osteuropas und lungsgesellschaft " (DEG) für zusätzliche Aufgaben in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten werden beim Aufbau der Wirtschaft in Mittel- und Osteuropa um fast 12 Millionen gekürzt. Nach unserer Auffas- und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Die sung spart in diesem Falle die Bundesregierung am Staaten im Osten brauchen die marktwirtschaftlichen verkehrten Objekt. Einsparungen in der Entwick- Erfahrungen der DEG bei der Transformation ihrer lungszusammenarbeit führen immer zu Spätfolgeko- Wirtschaften. Die Förderung der Privatwirtschaft als sten, die um ein Vielfaches höher sind. wesentlicher Bestandteil deutscher Entwicklungs- politik erhält damit zusätzliches Gewicht. Ludwig Mehrausgaben sind für eine Reihe von Titeln insge- Erhards Modell einer „sozialen Marktwirtschaft" ist samt in einer Höhe von ca. 35 Millionen geplant. Nur gerade in Osteuropa zum Leitbild geworden. Dieses ein Bruchteil dieser Erhöhungen basiert auf Empf eh- Leitbild schafft die Basis für westliches Kapital und lungen des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- entsandte Experten. menarbeit. Der entwicklungspolitische Sachverstand Neben der bilateralen Entwicklungszusammenar- der Haushälter läßt sich noch an anderer Stelle beit hat die multilaterale Kooperation wachsende bezweifeln. So werden die Einnahmen aus Zinsen und Bedeutung. Für globale Aufgaben sind multilaterale Tilgungen von Darlehen der bilateralen Finanziellen Institutionen besser geeignet. Maßnahmen des Klima- Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern um insge- schutzes, der Meeresverschmutzung und zur Be- samt 88 Millionen erhöht. Zwischen Entwurf und kämpfung von AIDS können sinnvoll nur weltweit Beschlußempfehlung zum Haushalt liegen ein paar angegangen werden und überfordern auch die Lei- Monate. Ich glaube nicht, daß sich in dieser Zeit die stungsfähigkeit einzelner Geber. Bei der Bevölke- internationale Weltwirtschaftslage so verbessert hat, rungspolitik, bei Strukturanpassungsprogrammen daß ein derartiger hoher Anstieg der Einnah- und bei der Bewältigung der Schuldenkrise ist multi- men — bei den Zinsen sind es 25 % — zu erwarten laterale Zusammenarbeit ebenfalls unverzichtbar. Die ist, es sei denn, schon die erste Schätzung war un- gezielten Aufstockungen im multilateralen Bereich, seriös. die uns erlauben, die Ergebnisse der Rio-Konferenz im Rahmen des finanziell Möglichen umzusetzen, sind deshalb zu begrüßen. Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirt Umgekehrt gilt aber auch: Multilaterale Entwick- schaftliche Zusammenarbeit: Trotz der schwierigen lungshilfe darf nicht unbegrenzt zu Lasten unserer Finanzlage wird der Haushalt des BMZ auch 1993 bilateralen Zusammenarbeit ausgeweitet werden. Ich gesteigert. Dies unterstreicht den hohen Stellenwert werde deshalb darauf achten, die gegenwärtige Rela- der Entwicklungspolitik in der politischen Zielsetzung tion zwischen bilateralen und multilateralen Ausga- der Bundesregierung. Den Mitgliedern des- Haus- ben zu halten. haltsausschusses — insbesondere den Berichterstat- tern — und den Kollegen des Ausschusses für wirt- Auch in der multilateralen Entwicklungszusam- schaftliche Zusammenarbeit, die sich für diese Steige- menarbeit müssen Effizienz und Wirksamkeit im Vor- rung eingesetzt haben, möchte ich meinen herzlichen dergrund stehen. So wie wir mit der Einführung Dank für die großartige Arbeit aussprechen. Ich werte unserer Vergabekriterien eine Qualitätssteigerung das Ergebnis der Haushaltsberatungen auch als eine unserer bilateralen Hilfe eingeleitet haben, müssen erneute Zustimmung zu unserer entwicklungspoliti- wir auch international einen höheren Effizienzstan- schen Gesamtkonzeption. Diese Gesamtkonzeption dard erreichen. Wir werden daher die strikte Anwen- — beruhend auf transparenten Vergabekriterien, dung unserer — von der EG-Kommission weitgehend einer Konzentration der Zusammenarbeit auf Schwer- übernommenen — Vergabekriterien fordern und punktsektoren und spezifischen Länderkonzepten — überprüfen. hat national und international breite Zustimmung Die parlamentarischen Beratungen zum Haushalt gefunden. Aber auch die Erwartungen an uns sind 1993 haben die wichtige Stellung des BMZ bei den gestiegen. Vom geeinten Deutschland wird die Über- Hilfen für Mittel- und Osteuropa und die Gemein- nahme von mehr Verantwortung in der Welt gefor- schaft Unabhängiger Staaten erneut bekräftigt. Dies dert. Gleichzeitig kommen neue Herausforderungen ist um so wichtiger, als die OECD gerade fünf asiati- auf uns zu. sche GUS-Staaten (Kasachstan, Usbekistan, Turkme- nistan, Tadschikistan und Kirgistan) offiziell als Ent- Die Beseitigung der Hinterlassenschaft des Kom- wicklungsländer anerkannt hat. Weitere GUS- und munismus im ehemaligen Ostblock fordert auch die MOE-Länder werden bald folgen. Die Ausweisung Entwicklungspolitik. Die Zahl unserer Partnerländer der bilateralen Beratungsmaßnahmen in einem eige- ist durch den Zusammenbruch des Sowjetimperiums nen Titel stellt sicher, daß diese Hilfen zusätzlich und gestiegen, ebenso wie der Problemdruck durch nicht auf Kosten der klassischen Entwicklungsländer Armut, Umweltzerstörung und Naturkatastrophen. erfolgen. An diesem Grundsatz, über den es einen Wir müssen uns diesen neuen Herausforderungen breiten Konsens in diesem Hause gibt, will ich konse- stellen. Deshalb bin ich froh über den — wenn quent festhalten. auch bescheidenen — Zuwachs unserer Haushalts- mittel, vor allem aber über wichtige strukturelle Ver- Meine Damen und Herren, bei all diesen positiven besserungen, die in den Beratungen erreicht wur- Entwicklungen im Einzelplan 23 läßt sich nicht ver- den. hehlen, daß die Steigerungsrate hinter dem zurück- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10599 * bleibt, was eigentlich erforderlich wäre und auch etlichen früheren „sozialistischen Bruderländern" international von uns erwartet wird. Der Zuwachs ist hinterlassen. Der Zerfall der Sowjetunion und die gemessen an den neuen Aufgaben und an der gestie- Entwicklung auf dem Balkan haben voraussichtlich genen Anzahl der Entwicklungsländer gering. Doch das Entstehen von über einem Dutzend neuer Ent- um nicht mißverstanden zu werden, sage ich: Mir geht wicklungsländer zur Folge. Wir haben schon jetzt weit es dabei nicht um ein schlichtes Ressortinteresse. über 100 Partnerländer in der Welt. Die Rio-Konferenz Mein Anliegen ist es, daß Deutschland seine Ver- hat verdeutlicht, welche neuen sektoralen Anforde- pflichtungen gegenüber den Pa rtnern in der Welt rungen auf uns zukommen. Mit diesem Aufgabenzu- erfüllen kann und angesichts der Herausforderungen, wachs hat die Personalentwicklung im BMZ a lles vor denen die Menschheit steht, auch erfüllen muß. andere als Schritt gehalten. Ich bin jedoch dankbar, daß der Haushaltsausschuß dieses Problem auf gegrif- Genauso wie wir die innere Einheit Deutschlands fen hat und bin zuversichtlich, daß bald auch Lösun- ohne finanzielle Opfer nicht vollenden können, müs- gen gefunden werden. sen wir unserer gewachsenen Verantwortung für Frieden und Humanität in der Welt durch eine Stei- Meine Damen und Herren, die weltpolitischen gerung der Hilfe für die ärmeren Lander gerecht Umwälzungen in den letzten drei Jahren haben dra- werden. Natürlich ist die beschränkte Steigerung des matische Entwicklungen ausgelöst. Wir dürfen uns bei BMZ-Haushalts eine Folge der Beseitigung der ver- aller Konzentration auf die Auswirkungen in unserem heerenden sozialen, wirtschaftlichen und ökologi- Land nicht davor verschließen, daß in vielen Entwick- schen Erblasten des kommunistischen Systems der lungsländern und jetzt auch im Osten Elend und Not ehemaligen DDR. Aber der massenhafte Zustrom von herrschen. Wir dürfen die Relationen nicht aus den Asylbewerbern, von Bürgerkriegs- und Wirtschafts- Augen verlieren: Während bei uns um Erhalt oder flüchtlingen ist eine vielleicht letzte Mahnung, bei der Ausbau des Wohlstandes gestritten wird, geht es in Bewältigung unserer inneren Probleme den weltwei- Afrika und weiten Teilen Asiens um Leben oder ten Teufelskreis von Unterentwicklung, Armut, Tod. Flüchtlingsströmen und Umweltzerstörung nicht aus Diese Erkenntnis verpflichtet uns, unsere Entwick- dem Auge zu verlieren. Diese Probleme wachsen lungszusammenarbeit weiter zu verbessern, trotz oder ständig. Dazu kommen die zusätzlichen Aufgaben in gerade auch wegen der schwierigen Finanzlage. Es den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und in Osteu- kann nicht sein, daß ein kleiner Teil der Menschheit ropa. immer besser lebt und der Großteil immer schlechter. Je konsequenter wir diese Erkenntnis in praktisches Entwicklungszusammenarbeit ist deshalb auch Handeln umsetzen, desto sicherer wird die Zukunft eine Investition in unsere eigene Zukunft. Wenn die für alle auf diesem Planeten sein. Ich werde nicht Probleme in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteu- nachlassen, dafür einzutreten und hoffe auf die Unter- ropa nicht vor Ort gelöst werden, dann werden wir sie stützung dieses Hauses. bald innerhalb unserer Grenzen haben. Und dann wird ihre Lösung um vieles teurer, von den psycholo- gischen und gesellschaftlichen Auswirkungen in Der Einzelplan 23 unserem Land ganz zu schweigen. Nichts verdeutlicht Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): legt die Heuchelei in der Politik dieser Bundesregie- diese Zwangsläufigkeit klarer als das Asylthema. rung offen. Da wird die Asyldebatte vom Zaun gebro- Wieviel sinnvoller könnten die Milliarden, die wir in chen. Eine Welle rassistischer Gewaltkriminalität ent- Deutschland für Wirtschaftsflüchtlinge ausgeben, zur wickelt sich, we il die alte/neue deutsche Rechte mit Bekämpfung der Fluchtursachen eingesetzt werden! pogromartigen Ausschreitungen reagiert. Die Bun- Wieviel könnte gespart werden, wenn Flüchtlinge in desregierung antwortet, in dem sie den Opfern, ihren Heimatländern blieben und ihre Kraft und Flüchtlingen aus der „Dritten Welt" und aus Ost- und Fähigkeiten zum Aufbau ihres Landes einsetzen wür- Südosteuropa, die Schuld anheftet. den! Entwicklungszusammenarbeit verringert Flucht- ursachen, sie kann jedoch nicht — das möchte ich Wenn es dagegen um die Bekämpfung der Flucht- noch einmal ausdrücklich klarstellen — das ausbü- ursachen geht, zieht die Bundesregierung sich zurück. geln, was innenpolitisch zu regeln ist: Dem Massen- Nicht nur, daß die reiche Bundesrepublik noch nie die mißbrauch des Asylrechts endlich einen Riegel vor- UN-Norm von 0,7 % des Bruttosozialprodukts erfüllt schieben. Nach 10jähriger Diskussion und steigenden hat. Die derzeitige Bundesregierung kürzt die viel zu Asylbewerberzahlen hat ja offenbar auch die SPD geringe Entwicklungshilfe im Etat des Bundesmini- einen Handlungsbedarf erkannt. steriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit noch weiter. Schon im Haushalt für 1992 s ank die Entwick- Entwicklungspolitik greift unsere eigenen Zu- lungshilfe real ab, in diesem Haushalt für 1993 sinkt kunftsinteressen auf — daher darf sie bei finanziellen sie real noch weiter. Die UN-Norm wird sogar nur Einsparungen nicht pauschal gekürzt werden! noch zur Hälfte erfüllt. Das ist ein politischer Skandal aller erster Ordnung. Dies gilt auch für scheinbar Nebensächliches: Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wird den Ich habe daher in einem Gruppenantragsentwurf Herausforderungen nur gerecht werden können, vorgeschlagen, den Entwicklungshilfeetat durch Um- wenn sich das Mißverhältnis zwischen den ständig lenkung von Mitteln aus dem Rüstungsetat auf die zunehmenden Aufgaben und der administrativen Höhe der UN-Norm aufzustocken. Das Echo war Ausstattung des Ministeriums nicht noch weiter ver- außerordentlich gering. Aber wir bleiben am Ball und schärft. Die ehemalige DDR hat uns Projekte in werden Ihnen für die nächste Haushaltsrunde erneut 10600* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

einen entsprechenden Antrag mit entsprechend ver- Anlage 3 änderten Zahlen unterbreiten. Doch die direkte Entwicklungshilfe ist wichtig, ihre Zu Protokoll gegebene Reden erhebliche Ausweitung unerläßlich, sie kann jedoch zu den Tagesordnungspunkten III 21 — Einzel bei weitem nicht die Probleme der „Dritten Welt" plan 06, Geschäftsbereich des Bundesministers des lösen. Notwendig sind vielmehr viel umfassendere Innern —, III 22 — Einzelplan 33, Versorgung —, Lösungen, wie der Schuldenerlaß und die nachhaltige III 23 — Einzelplan 36, Zivile Verteidigung — *) Verbesserung der terms of trade zugunsten der Ent- wicklungsländer. Doch auch hier sperrt sich bekannt- Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir wis lich die Bundesregierung. sen nicht, ob der vorgesehene Haushalt Makulatur sein wird, bevor die darin anvisierten Zielsetzungen Ich möchte aber noch einen Schritt weitergehen und realisiert werden. Denn schon wird ein Nachtrags- aufzeigen, daß selbst der Schuldenerlaß und die haushalt vorbereitet, der alles wieder in Frage stellen Gewährleistung „gerechter" oder äquivalenter soll. Aber was noch wichtiger ist: wenn wir uns die Preise, z. B. durch Rohstoffabkommen und ähnliches, brennenden innenpolitischen Probleme der heutigen die Probleme der zunehmenden Disparität zwischen Zeit ansehen, frage ich mich, welchen Beitrag eigent- dem reichen Norden und dem armen Süden nicht zu lich Bundesregierung und Bundestag dazu mit dem lösen vermögen. jetzt zur Verabschiedung anstehenden Haushalt lei- In dem Maße, wie sich unsere Wirtschaftsstruktur sten wollen. Das Ergebnis ist niederschmetternd. immer stärker auf moderne, kapitalintensiv erzeugte Großzügig bekommt der Bundesgrenzschutz seine High-Tech-Produkte hin entwickelt, müssen die Län- erste im letzten Haushalt um 30 % erhöhte Ausstat- der der Dritten Welt immer mehr von ihrer Arbeitspro- tung nun mit der Rekordhöhe von über 2 Milliarden duktivität und ihren natürlichen Reichtümern — ver- DM garantiert. Ich frage mich, wie man das beim bunden auch mit eskalierenden ökologischen Schä- Wegfall der innereuropäischen Grenzen auf Dauer den — beim Tausch gegen unsere High-Tech- rechtfertigen will. Und warum werden die beim BKA Produkte liefern. Mit den Preisen für diese High- umfangreich aufgebauten Potentiale zur Bekämpfung Tech-Produkte und dabei wieder gerade für die zur des Linksterrorismus nicht endlich abgebaut, wo doch Behauptung in der Weltmarktkonkurrenz notwendi- klar ist, daß dieses Phänomen in der Bundesrepublik gen Investitionsgüter müssen die Entwicklungsländer der Vergangenheit angehört? Sollten wir nicht statt nämlich Zinsen, Abschreibungen, Wagnisse und dessen fordern, daß der wissenschaftliche Apparat des anderes auf das riesige und gerade mit neuen Tech- BKA sich vermehrt etwa um den Einfluß rechtsextre- nologien bei uns rasant weiter wachsende industrielle mistischer Einflüsse und Beteiligung an Gewaltakten und sonstige Anlagevermögen zahlen. Diese Zinsen aus dem Ausland kümmert, wie es seine Aufgabe tauchen in keiner Verschuldungsstatistik auf. Sie wäre? Oder daß der wissenschaftliche Apparat sich fallen auch an, wenn die Entwicklungsländer, ohne vermehrt um die gesellschaftlich-politische Präven- Kredite aufzunehmen, zahlen können. Mit- anderen tion des Rechtsextremismus kümmert, so wie er sich Worten: Nach einem Schuldenerlaß und auch bei etwa um das Thema sexuelle Gewalttaten gekümmert Schaffung gerechter Austauschrelationen auf dem hat? Oder scheut etwa die Bundesregierung erwart- Weltmarkt werden die Entwicklungsländer durch bare Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, die ihr diese verdeckten Zinszahlungen in eine neue Ver- die eigenen Sünden um die Ohren hauen könnten? schuldenskrise getrieben. Unverantwortlich finde ich es auch, wenn entgegen Die Lösung der Probleme der Entwicklungsländer, allen Ankündigungen über notwendige Sparmaßnah- die Beseitigung eines Großteils der Ursachen für die men im Haushalt der Geheimdienste z. B. die Sachko- Flucht von Menschen aus dem armen Süden in den sten des Bundesamtes für den Verfassungsschutz reichen Norden sind sehr viel komplizierter. Eine nicht etwa drastisch gesenkt werden, sondern noch gerechte Weltwirtschaftsordnung muß auch eine in immer stolze 232,816 Millionen DM betragen, von den weiten Bereichen alternative Weltwirtschaftsordnung Personalkosten einmal ganz zu schweigen. Dies kor- sein, die auch die Entwicklung angepaßter Technolo- respondiert mit den im Haushalt des Bundeskanzlers gien und angepaßter Infrastrukturen zur Lieferung an vorgesehenen Erhöhungen der sächlichen Verwal- die „Dritte Welt" umfaßt. tungskosten für den Bundesnachrichtendienst auf die Rekordhöhe von 242,1 Millionen DM. Hierzu paßt es, Dieser mit geradezu mathematischer Präzision ver- daß der Verfassungsschutz für sogenannte Maßnah- folgbare Zusammenhang wird in der Entwicklungs- men der politischen Bildung zur Bekämpfung des hilfe dieser Bundesregierung überhaupt nicht berück- Rechtsextremismus eine Etaterhöhung zugeschanzt sichtigt, vermutlich gar nicht gesehen. Die Entwick- bekommt, während der Etat für entsprechende Maß- lungspolitik dieser Bundesregierung verstärkt die nahmen der Bundeszentrale für politische Bildung Zwangsläufigkeit zunehmender Disparität zu Lasten eingefroren oder gekürzt werden soll. Mickrige der Entwicklungsländer sogar mit vielen Maßnahmen 400 000 DM wird die Bundeszentrale z. B. für Maß- noch zusätzlich. Nur eine wirklich alternative Ent- nahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus und wicklungspolitik, die wesentliche Strukturkonstanten anderer Vorurteile bekommen! Ich sage das ange- der modernen kapitalistischen Produktionsweise, dar- sichts der Tatsache, daß der Verfassungsschutz in den unter gerade auch die ökologisch destruktiven Struk- letzten Jahren bei der Bekämpfung des Rechtsextre- turkonstanten dieser Produktionsweise in Frage mismus vollkommen versagt hat. Wer wie wir der stellt, kann Lösungen für den Nord-Süd-Konflikt bei- steuern. *) Vgl. Seite 10575D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10601*

Auffassung ist, daß die Geheimdienste nachweislich Geld ausgegeben wird oder nicht, sondern welche eher Schaden anrichten als nutzen, kann den Etat- politischen Probleme vernachlässigt oder umgekehrt posten für die Nachrichtendienste, die mittlerweile geradezu geschaffen und dramatisiert werden. mit Personalkostenanteil die Milliardengrenze weit Hier ist als herausragende Frage der Umgang mit überschritten haben, unmöglich zustimmen. der Asylproblematik zu nennen. Mehr als einmal Fast 60 Millionen DM ist der Bundesregierung auch haben wir die Mitverantwortung der Politik als Bie- der Jahresetat des umstrittenen Bundesamtes für dermann und Brandstifter angeklagt, leider vergeb- Sicherheit in der Informationstechnik wert, dessen lich. Völkische und ethnische Argumente werden Mitarbeiter sich überwiegend aus den Nachrichten- instrumentalisiert, um wahltaktische Vorteile zu diensten rekrutieren. erlangen. Die Debatte um das Grundrecht auf Asyl, Umfassend sind wir bereits bei den letzten Haus- die eine Lösung der Probleme auch nicht ansatzweise haltsberatungen auf die nach unserer Auffassung erkennen läßt, hat in verantwortungsloser Weise völlig überflüssigen Mittelzuweisungen im Rahmen davon abgelenkt, daß es urn die ra tionale Behandlung des Einzelplanes 36 für zivile Verteidigungsmaßnah- von Problemen geht. men eingegangen. Hier hat es zwar Mittelumschich- Vertuscht werden sollen mit dem öffentlichen tungen und geringfügige Kürzungen gegeben, im Zulassen von Sündenböcken jahrelange Versäum- Kern aber hat sich nichts geändert. Auch die weitere nisse der Bundesregierung etwa im Bereich der Woh- Privilegierung des Technischen Hilfswerkes ist uner- nungspolitik, als wäre es die Schuld von Asylbewer- träglich. Wofür brauchen wir in Mitteleuropa nach bern oder Aussiedlern, daß die Bundesregierung im Überwindung des Ost-West-Gegensatzes weiterhin sozialen Wohnungsbau einen Kahlschlag angerichtet einen zivilen Bunkerbau oder den Neubau von Lagern hat. des technischen Hilfswerkes? Wir sagen: Katastro- Der Rechtsextremismus ist, außer für den gar nicht phenschutz ja, aber zivilmilitärische Ausgaben für so kompetenten Verfassungsschutz, eigentlich gar den Verteidigungsfall nein! Hier unterstütze ich auch kein wirkliches Thema für diese Regierung, sondern den Streichungsantrag der PDS zu diesem Haushalts- nur, wenn er zu strafrechtlich zu ahndenden Gewalt- ansatz. akten führt, und insbesondere, wenn sich diese gegen Noch lange nicht ausgelotet sind umfangreiche die Staatsmacht selbst richten oder wenn dies zum Sparpotentiale, die sich seit den Zeiten des Revanchis- „Ansehensverlust im Ausland" führt. Wäre es wirklich mus umfangreicher sogenannter Kulturförderung ein Thema, würde man sich mehr um die Opfer und erfreuen können, etwa die Bismarck-Stiftung und den Opferschutz kümmern. politisch recht zweifelhafte Maßnahmen der Vertrie- Die Ereignisse der letzten Wochen und Monate, benenverbände, die weniger etwas mit Kultur als mit d. h. die Angriffe, Überfälle und Mordanschläge auf großdeutschen Phantasien zu tun haben. Flüchtlinge und Einwanderer, sowie die Form der Es wird also viel Geld für zweifelhafte Aktivitäten politischen Instrumentalisierung dieses Themas wei- ausgegeben, während dort, wo es notwendig ist, sen auf eine neue Dimension der Fremdenfeindlich- unverantwortlich gespart wird. keit und des Rassismus in der Bundesrepublik Es ist das Elend dieser Politik, daß sie mit ordnungs- Deutschland hin. Die These von einer zunehmenden politischen Maßnahmen und Zugriffen der Sicher- „Überfremdung" und der Bundesrepublik als Magnet heitsbehörden das versucht wettzumachen, was sie für alle Flüchtlinge dieser Welt wird wider alle Reali- wirtschaftspolitisch, sozialpolitisch und jugendpoli- täten verbreitet. Tatsächlich finden zur Zeit aber mehr tisch nicht nur versäumt hat, sondern geradezu anrich- als 90 % der Flüchtlinge in den Ländern der Dritten tet. Wenn 90 % aller Jugendclubs und ähnlicher Welt Aufnahme, dagegen nur etwa 10 % in den Einrichtungen in Ostdeutschland, die vormals bestan- ungleich wohlhabenderen Ländern Nordamerikas den, nunmehr geschlossen sind, wenn das Jahresbud- und Europas. Dies ist eine beschämende Bilanz. get des Ministeriums für Frauen und Jugend noch Eine ganz konkrete Forderung möchte ich hier an gerade 5,5 % des Budgets des Verteidigungshaushal- diese Bundesregierung richten. Die vietnamesischen tes ausmacht, wenn die Arbeitsförderungsmaßnah- Vertragsarbeiter der ehemaligen DDR haben nach men nach dem AFG so drastisch gekürzt werden wie unserer Kenntnis umfangreiche Repressalien zu in der AFG-Novelle, wen wundern da noch die erwarten, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren. Anstiege des Drogenkonsums, der Kleinkriminalität, Gewähren Sie diesen Menschen ein Bleiberecht in der der Gewalt unter Jugendlichen und — leider auch — Bundesrepublik, um sie vor drohenden Verletzungen die Suche nach Sündenböcken für diese Misere? Und ihrer Menschenrechte zu schützen! diese Sündenböcke werden dann auch noch nach Zur „inneren Sicherheit": Die Furcht vor zuneh- ideologischer Steilvorlage der Bundesregierung bei mender Kriminalität, die mit den realen Verhältnissen Asylbewerbern, hier lebenden Ausländern oder Min- kaum übereinstimmt und oft aus existenzieller Verun- derheiten gesucht. sicherung geboren ist, darf nicht durch unverantwort- Wichtiger scheint es Koalition und Bundesregie- liche Kampagnen weiter geschürt werden. rung wohl zu sein, 16 Millionen DM im Zusammen- Lückenlose Sicherheit vor Kriminalität kann es hang mit der sogenannten „Rückführung" von Flücht- nicht geben, und größerer Schutz ist häufig nur um lingen etwa nach Rumänien bereitzustellen — eine den Preis der Einschränkung von Freiheitsrechten zu überaus bedenkliche Aktion! haben. Die Balance beider Anliegen muß in einem Das Kernproblem der Innen- und Rechtspolitik sachlichen Diskurs entschieden werden. Angesichts dieser Regierung und der Koalitionsfraktionen ist für begrenzter finanzieller Ressourcen zur Kriminalitäts- mich aber nicht, wofür mit diesem Haushalt insgesamt bekämpfung muß eine Konzentration der Kräfte auf 10602* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Abwehr von bzw. Schutz vor besonders sozialschädli- Kriminalität, der Einsatz für die Achtung der Würde chen Delikten erfolgen. Ich nenne hier nur die rechts- des Menschen gehören, sondern auch Fragen von extremen Terrorakte. Umgekehrt bedarf es aber vor Kunst und Kultur, und damit eigentlich auch die Sorge allem einer Streichung bzw. Herabstufung überkom- um einen kulturvollen Umgang miteinander. mener und verzichtbarer Straftatbestände. Ich führe Die Verarmung einer Gesellschaft läßt sich nicht nur nur ein zentrales Aufgabengebiet an: Sie wissen nur in Geld ausdrücken; sie beginnt im gesellschaftlichen zu gut, daß die repressive Drogenpolitik, der die Maßstab — zu Beginn oft nahezu unbemerkt — dort, Bundesregierung anhängt, ihr Scheitern umfassend wo Kultur, kulturelle Identität verloren gehen und unter Beweis gestellt hat. Weder hat sie zum Rück- Vandalismus an die Stelle von kulturvollem Umgang gang des Drogenkonsums noch der Drogentoten tritt. Wir sind leider gegenwärtig Zeugen eines gewal- geführt. In den USA hat der Kongreß dieser Politik tigen Kulturverlustes, wenn solche Aktionen wie in unlängst eine katastrophale Bilanz attestiert. Der Rostock oder Mölln oder anderswo unsere tagtägli- überwiegende Teil unserer Drogenkriminalität be- chen Nachrichten bestimmen. steht in der Besorgung kleiner Mengen für den Eigenbedarf, ansonsten in der Beschaffungskriminali- Die gegenwärtig laufende Haushaltsdebatte ver- tät durch Autoaufbrüche und Kleindiebstahl, um das deutlicht sehr drastisch, daß für das geeinte, größer Geld für Drogen zusammenzubekommen. Aus diesem gewordene Deutschland Sparen angesagt ist, aber es Teufelskreis staatlicher Kriminalitätsproduktion. müs- unsäglich viele Meinungen darüber gibt, wie und wo sen Regierung und Koalition endlich ausbrechen. Ein gespart werden soll. Kulturförderung ist zwar Länder- erster, aber grundlegender Schritt wäre die Legalisie- sache, nur scheint nicht immer allen bewußt zu sein, rung weicher Drogen. daß mit dem Einigungsvertrag und seinem Artikel 35 Innere Sicherheit ohne Polizeistaat: Im Rahmen der Bund Verpflichtungen eingegangen ist, die weit ihrer Zuständigkeiten soll die Bundesregierung dazu über das vorherige Engagement in Sachen Kunst und beitragen, die Voraussetzungen besonders bei ost- Kultur hinausgehen. Die Verpflichtung, alles zu tun, deutschen Strafverfolgungsbehörden/Polizei zum damit die kulturelle Substanz in den neuen Bundes- Schutz vor Alltagskriminalität zu verbessern, z. B. ländern keinen Schaden nimmt und die kulturelle durch Überlassung von Ausstattung und durch fachli- Infrastruktur gefördert wird, muß schon heute als che Beratung. mißlungen verbucht werden. Zu viel Bewahrenswer- tes ist inzwischen verloren gegangen. Das, was in letzter Zeit als Notwendigkeit zusätzli- cher Gesetze öffentlichkeitswirksam verkauft wurde, Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn einige wird das Gegenteil von dem hervorrufen: nicht nur bei vom Massensterben kultureller Einrichtungen spre- fremdenfeindlichen oder neonazistischen Straftaten chen. Zwei Drittel von 7 322 befragten Bürgermei- brauchen wir im Rahmen weniger neue Gesetze als stern im Osten Deutschlands schätzen das kulturelle die Bereitschaft, die bestehenden konsequent anzu- Angebot als schlechter im Vergleich zur Zeit vor der Wende ein. Sie alle beklagen den Verlust von Jugend- wenden. Was nützen neue Gesetze, wenn -die Polizei auch schon bei den bestehenden untätig zuguckt, zentren, Kinos, Bibliotheken. Unvollständige Statisti- wegguckt, zu spät am Tatort erscheint oder vor ken sagen aus, daß 40 % aller Freizeiteinrichtungen Gewalttätern flüchtet? Entschieden werden wir etwa und 50 % aller Kinos in den vergangenen Jahren die Erweiterung des Landfriedensbruchparagraphen geschlossen wurden. Durch die Kultursparpro- bekämpfen, wie dies Regierung und Koalition off en- gramme in den neuen Bundesländern droht der sichtlich baldigst durchziehen wollen. Nicht Ein- Zusammenbruch jahrhundertealter Kulturszenen, schränkungen der Grundrechte und des Demonstra- warnen die Theater-Intendanten der Stadt Dresden. tionsrechts sind gefragt, sondern ihre Garantie und Es ist doch wohl offensichtlich geworden, daß sich Ergänzung durch demokratische Beteiligungsrechte die führenden Politiker dieses Landes geirrt haben, und, um es noch einmal zu sagen, ein effizienter was den Zeitraum der tatsächlichen Vereinigung Einsatz der Polizei dort, wo es notwendig ist zum betrifft. Wer diesen Irrtum zugibt, der muß auch die Schutz potentieller Opfer. Vorstellungen über die Kulturförderung revidieren. Der vorgelegte Haushaltsentwurf zeigt: Weiterhin Wenn Björn Engholm nach seinem Treffen mit wird der Ausbau eines zweifelhaften Modells der Bundeskanzler Kohl am Montagabend im Fernsehen „inneren Sicherheit" betrieben. Verbaut wird damit von „Dramatik" in der Entwicklung im Osten zugleich die Alternative der sozialen Sicherheit, deren Deutschlands spricht, so hatte er dabei sicher nicht die Fehlen eben erst die Ursachen für zunehmende Kri- Kultur im Sinn, hat aber damit die Ursachen auch für minalität und rechtsextremistisches Gedankengut kulturelle Schwierigkeiten indirekt benannt. Exper- z. B. unter Jugendlichen mitherbeiführt. BÜND- ten schätzen ein, daß die Finanzkraft der neuen NIS 90/DIE GRÜNEN lehnt diesen Haushalt ab. Bundesländer 1995 erst 30 % vergleichbarer west- deutscher Gemeinden be tragen werde. Woher sollen Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Die Behand diese denn das Geld nehmen, um überhaupt etwas für lung des Einzelplanes des BMI provoziert geradezu, die Kultur zu tun? ein Wort zu den schrecklichen Ereignissen von Mölln Es geht also meines Erachtens nicht nur darum, die und überhaupt zu den anwachsenden Ausschreitun- Kulturförderung seitens des Bundes auch weit über gen der vergangenen Wochen und Monate zu das Jahr 1993 fortzusetzen, worin ich mir sicher mit sagen. vielen Kolleginnen und Kollegen einig bin, sondern Es klingt beinahe wie Ironie des Schicksals, daß schon für 1993 so zu sichern, daß weitere irreparable in den Bereich des BMI nicht nur der Kampf gegen Schäden im Kulturbereich der neuen Bundesländer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10603* vermieden werden. Deshalb ist für mich die Aussage besonderen Scharfmacher bezeichnen. Er steht eher in der Drucksache 12/3591 — Bericht des Haushalts- für den Durchschnittstypus christdemokratischer Poli- ausschusses — auf Seite 20, wonach die haushalts- tiker. Nicht umsonst muß der Vorsitzende des Zentral- rechtlichen Bedingungen geschaffen wurden, „um rates der Juden, Bubis, heute wiederholt in der Presse die einigungsbedingte Kulturförderung des Bundes in feststellen, daß die „Diskussion um die Änderung des den neuen Bundesländern etwa in der vorjährigen Asylartikels im Grundgesetz die Straftäter ermuntert Höhe weiterzuführen", zwar ein Schritt in die richtige habe". Richtung, aber eben nur ein halbherziger, der keines- Man muß länger darüber nachdenken, was es falls den Anforderungen entspricht. Dies bedeutet bedeutet, wenn heute selbst der BKA-Präsident zwar eine Korrektur des ursprünglichen Planes, die Zachert in der Zeitung „Polizei" 11/92 schreibt: „Be- Hilfe des Bundes auf 310 Millionen DM zurückzufah- sonders auffällig ist der quantitative Anstieg von ren, wird aber dennoch viele Schlösser, Theater, Straftaten in den alten Bundesländern im 4. Quartal Museen, Künstler und Künstlergruppen nicht vor dem 1991. Als Auslöser dürften die Asyldebatte im Deut- Ruin bewahren helfen. In Anbetracht der steigenden schen Bundestag, die Verlegung von Asylbewerbern Kosten im Osten Deutschlands für Löhne, Mieten für aus Hoyerswerda und der Jahrestag der Deutschen Ateliers und andere Objekte, Unterhalt von Einrich- Einheit anzusehen sein." BKA-Präsident Zachert tungen, im Verwaltungsbereich, praktisch für alles, unterstreicht damit die Kritik, die von Menschen- was auch Kunst und Kultur betrifft, sind weitere rechtsorganisationen und Zeitungen immer wieder eklatante Einbrüche in Qualität und Quantität in allen vorgetragen worden sind. Bereichen der Kulturszene bereits vorprogrammiert. Die politische Mitverantwortung der Bundesregie- Mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf wird die rung an diesem neofaschistischen Terror und auch der Kultur im Osten Deutschlands nicht gefördert, son Unwille von Seiten staatlicher Stellen, mit diesem dem maximal deren Nachlaß verwaltet. Dem kann ich Terror aufzuräumen, wird im Inland und Ausland so nicht zustimmen. Aber da ich auch die finanziellen immer besorgter zur Kenntnis genommen. Nimmt Nöte dieses Haushaltes verstehe, erlaube ich mir den man nur einige Schlagzeilen von heute: „Antideut- Gedanken zu unterbreiten, ob der in der DDR sche Stimmung in Griechenland" (FAZ), „Bestürzung bewährte „Kulturgroschen" als Mittel zur Unterstüt- und Ratlosigkeit in Brüssel" (FAZ), „Israels Parlament zung von Kunst und Kultur nicht auch in der heutigen verurteilt rassistische Gewalt" (FAZ), Italien: „Der Zeit im geeinten Deutschland eine kulturfördernde häßliche Deutsche heißt jetzt Nazi-Skin" (Kölner Rolle spielen könnte. Dieses Geld könnte auch Stadtanzeiger), „Die Nazis steckten drei Türken in genutzt werden, um Freizeiteinrichtungen wieder Brand! " (Hürriyet). erstehen zu lassen, die Jugendlichen helfen zu verste- hen, daß Sinn und Inhalt des Lebens nicht im Randa- Die Unlust, neofaschistische Straftäter zu verfolgen, lieren auf der Straße, in Rassenhaß und Asylantenver- oder, wie in Rostock geschehen, die Polizei vor den folgung besteht. anrückenden Neofaschisten zurückzuziehen, hat - dazu geführt, daß ausländische Mitbürger oder Juden und Roma und Sinti immer mehr den „Glauben und Ursula Jelpke (PDS/Linke Liste): Allein in den die Hoffnung verloren haben", daß die Bundesregie- letzten Tagen wurden fünf Menschen von Neofaschi- rung „einen wirksamen Schutz gegen den Rechtsex- sten umgebracht. Die Brutalität der Taten ist erschrek- tremismus und seine antisemitischen Gewalttäter bie- kend. Es muß aber festgestellt werden, daß sich das, ten könnte", wie es Ralph Giordano in einem B rief an was sich in Mölln ereignet hat, in zig hundert Fällen genauso hätte ereignen können. Die mörderische den Bundeskanzler ausgedrückt hat. Absicht der Neofaschisten war bei all den zig hundert Daß der CDU-Generalsekretär Hintze und der Brandanschlägen vorhanden und erkennbar. Zum Kanzleramtschef Bohl diese Kritik, aber auch die Glück hat hier der Zufall in vielen Fällen das Schlimm- Ängste und Befürchtungen Giordanos als „unerträg- ste verhindert. Nur wenige Stunden danach sprach lich" bezeichnen, zeigt, wie arrogant und unsensibel der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit der Kritik eines jüdischen Schriftstellers — einem Werthebach von einer neuen Qualität fremdenfeind der Überlebenden des Holocaust — umgegangen icher Gewalt, dies angesichts der Tatsache,-l daß es wird. Es muß hier ganz klar festgestellt werden: Einen bereits 17 Tote in diesem Jahr gibt, die aus rassisti- derartigen neofaschistischen Terror gegen Flücht- schen Motiven getötet worden sind. linge und Immigrantinnen, wie wir ihn derzeit in der Erschreckend ist aber auch die Kaltschnäuzigkeit BRD erleben, hat die Weimarer Republik nicht eines CSU-Politikers wie Huber, der nur wenige Tage gekannt. Er gibt in der Tat zu den schlimmsten nach diesen schrecklichen Ereignissen sich in das Befürchtungen Anlaß. Hinzu kommt, daß Bohl in einer Frühstücksfernsehen setzt, und erneut damit Stim- Pressemitteilung „mit aller Entschiedenheit und gro- mung macht, daß dieses Land es nicht aushält, wenn ßer Empörung" Giordanos Kritik zurückweist und die Jahr für Jahr 500 000 Asylsuchende in dieses Land Kritik Giordanos damit widerlegen will, daß u. a. der kommen. Huber weiß natürlich genau, daß in keinem Generalbundesanwalt im Falle der Möllner An- einzigen Jahr 500 000 Asylsuchende in dieses Land schläge das Verfahren an sich gezogen hat. gekommen sind. Er weiß auch ganz genau, daß er hier Ja, Herr Bohl, das ist es ja gerade. Nach einer gezielt die Stimmung in diesem Land mit solchen Steigerung der ausländerfeindlichen Straftaten im Äußerungen anheizt. Ja, und er weiß, daß er den Jahre 1991 um 1 200 Prozent, nach allein 1 900 frem- Brandgeruch, der durch dieses Land weht, dazu nutzt, denfeindlich motivierten Gewalttaten in diesem Jahr, seine politischen Ziele durchzusetzen. Aber Huber ist da hat der Generalbundesanwalt in einem Fall die nicht der einzige. Man kann ihn nicht einmal als Ermittlungen an sich gezogen. 10604* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992

Und wer die Begründung hören mußte, wieso der Bundesbürger hatte aber im selben Jahr 43 DM Generalbundesanwalt von Stahl erst jetzt die Ermitt- allein zur Begleichung des Schuldendienstes für die lungen übernommen hat, der weiß, warum Ralph atomare Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf Giordano dem Kanzler geschrieben hat. Von Stahl gezahlt. begründete seine bisherige Tatenlosigkeit in Sachen Für die geplanten Massenabschiebungen rumäni- neofaschistischer Terror im „heute Journal" wie folgt: scher Flüchtlinge wurden in aller Eile 4,7 Millionen Der Generalbundesanwalt kann nicht nur in „ ... DM allein für die Flugbegleitung durch den BGS in Fällen ermitteln, wo es sich um eine terroristische den Innenhaushalt aufgenommen. Die Durchführung Vereinigung handelt, sondern auch dann, wenn die des Abkommens wird mit über 8,5 Millionen DM Einzeltat bestimmt und geeignet ist, die Sicherheit der veranschlagt. Der BGS erhält allein 180 Millionen DM Bundesrepublik zu gefährden, und von besonderer mehr in diesem Jahr. Bedeutung ist. Drei Tote, mehrere Verletzte, zweimal schwere Brandstiftung und das Verhalten nach der Andererseits hat man für antifaschistische Aufklä- Tat — zwei Telefonanrufe, die kurz hintereinander rung gerade 7 Millionen DM im Haushalt des BMI gekommen sind und wo die anonymen Anrufer sich vorgesehen, diese Gelder sind aber noch gesperrt. Die mit „Heil Hitler" verabschiedet haben — lassen im bundesdeutsche Industrie gibt allein für die Werbung Ansatz erkennen, daß es sich hier möglicherweise um in diesem Jahr 45 Milliarden DM aus. Allein von jeder neonazistische Organisationen, sprich verfassungs- Mark einen Pfennig wären 450 Millionen Deutsche feindliche Organisationen handelt oder ein verfas- Mark für eine antirassistische Aufklärung. sungsfeindlicher Hintergrund zu vermuten ist. (...) Nach dem Pogrom von Rostock hat es die Bundes- Bisher hat es sich immer — sofern die Fälle aufgeklärt regierung kategorisch abgelehnt, eine Aufklärungs- werden konnten — gezeigt, daß es sich im wesentli- broschüre über die Lage der Roma und Sinti in chen um Einzeltäter, Jugendliche oder Leute gehan- Osteuropa zu erstellen und zu verteilen. Zur gleichen delt hat, die sich kurzfristig zusammengefunden Zeit aber produzierte das Bundesinstitut für ostwis- haben. Außerdem hat es auch noch nicht drei Tote auf senschaftliche und internationale Studien eine volks- einmal gegeben. Also die besondere Bedeutung des verhetzende „Studie" über die Roma und Sinti, in Falles und der Hintergrund waren nicht so, daß ich denen es heißt: „Gelegentliche Ausschreitungen meine Kompetenz angenommen habe ... " gegen Zigeuner wurden durch vorhergehende delin- quente Handlungen der Zigeuner selbst provoziert". So also sieht der Wille des Generalbundesanwalts Dieses Institut erhält 8,5 Millionen DM. aus, gegen die Gewalt von rechts vorzugehen. Unter drei Toten wird er offenbar nicht tätig, folgt man Auch die Vertriebenenverbände und der Verein für seinem zynischen Kommentar. Und den verfassungs- das Deutschtum im Ausland (VDA) erhalten wieder feindlichen Hintergrund, wenn Personen gegen zig Millionen DM, Gruppierungen, die in erster Linie Flüchtlinge und Immigrantinnen vorgehen, erkennt eine Völkerverständigung hintertreiben und die von er nur, wenn sie sich mit „Heil Hitler" melden.- Nimmt Rechtsextremisten durchsetzt sind. Gerade der VDA, man den Generalbundesanwalt ernst, und so ist ja der für seine Arbeit in diesem Geiste mit 120 Millionen auch die Praxis, dann steht schon vor der polizeilichen aus dem Bundeshaushalt bedient worden ist, fiel vor Ermittlungstätigkeit fest, daß jeder Brandanschlag allem dem Bundesrechnungshof auf, weil hier Steuer- auf eine Unterkunft von Flüchtlingen und Immigran- gelder versickerten. Der „Spiegel" 35/92 berichtet, tinnen keinen verfassungsfeindlichen Hintergrund daß aus dem BMI 1990 die Anweisung erging, „ohne hat. das normalerweise schriftliche Antragsverfahren" dem VDA 34,6 Millionen DM zu bewilligen. Daß dies Ich will hier auch noch auf einen kleinen Ausschnitt so problemlos ging, mag daran liegen, daß 1989 neben dieser Verantwortung der Bundesregierung verwei- einigen Rechtsextremisten auch der Parlamentarische sen. Da muß der Wehrbeauftragte darauf hinweisen, Staatssekretär im BMI, Waffenschmidt, in den Vor- daß allein 24 Bundeswehrangehörige an den rassisti- stand des VDA gewählt worden ist. schen Straftaten beteiligt sind. Es mag da ein direkter Mit diesem Haushalt werden die rassistischen Zusammenhang bestehen, daß in der Bundeswehr Strukturen in dieser Gesellschaft gefestigt. Den Reden Zeitung „Information für die Truppe" rassistische über das Entsetzen nach den Morden vom Wochen- Artikel abgedruckt werden. So u. a. von Clemens ende folgen keine Taten, die eine Umkehr in der Asyl- Range über „Perspektiven einer neuen Einwande- und Flüchtlingspolitik auch nur andeuten. Kein Fünk- rung", das im wesentlichen auf dem Buch „Invasion chen von Nachdenklichkeit und Selbstkritik ist zu der Armen" basiert, geschrieben vom Berliner REP- spüren. Angesagt wäre jetzt eine sofortige Beendi- Vorsitzenden (IFDT, 3/92). gung der Asyldiskussion, ein unbedingtes Ernstneh- men der Warnungen aus dem In- und Ausland über Diese Zustände drücken sich auch im Haushalt aus. den Zusammenhang zwischen der Asyldiskussion Während alle verantwortlichen Politiker mit den und den Anschlägen. Die Forderungen der Immigran- angeblichen hohen Kosten für die Unterbringung und tinnenorganisationen, der Organisationen der Roma Sozialhilfe für Flüchtlinge in Deutschland Stimmung und Sinti, des Zentralrates der Juden müssen nicht nur machen, muß man feststellen, dies kostet 1991 vier zur Kenntnis genommen, sondern auch geprüft wer- Milliarden DM. Der niedersächsische Minister Trittin den. Wir fordern einen Bericht einer unabhängigen hat in einer Landtagsdebatte angeführt, daß nach internationalen Kommission, die diesen Zusammen- Berechnungen der Zeitschrift „Publik-Forum" der hang untersuchen soll. Bundesbürger und die Bundesbürgerin 1991 für die Flüchtlinge 52 DM aufzubringen hatte. Der gleiche Schluß mit der Asyldiskussion! Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 123. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. November 1992 10605*

Anlage 4

Erklärung des Abgeordneten Helmut Schäfer (Mainz) (F.D.P.) zur namentlichen Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3811

Bei der namentlichen Abstimmung am Mittwoch, 25. November abends, unterlief mir ein Fehler. Meine Absicht war es, den Änderungsantrag der SPD über „den Jäger 90" abzulehnen. Fälschlicherweise habe ich die blaue Stimmkarte benutzt. *) Ich bitte, das im Protokoll zu berücksichtigen.

*) Vgl. Seite 10573 C