Thüringer Regierungschefs 1920 bis 2003 herausgegeben von der Thüringer Staatskanzlei

Sehr geehrte Leserinnen und Leser!

Als das kommunistische SED-Regime vor 55 Jahren, Ende Juli 1952, die fünf Länder in der DDR auflöste und willkürlich festgelegte Verwaltungsbezirke an ihre Stelle setzte, verschwand auch das 1920 geschaffene Land Thüringen von der Landkarte. Erst 38 Jahre später, mit der Vereinigung Deutschlands, konnte es wieder gegründet werden. Die Erinnerung an die wechselhafte Geschichte des (seit 1994) Freistaats Thüringen ist Gegenstand dieser Publikation. Anlässlich des 75. Geburtstags von Dr. , der 11 Jahre lang das Land als Ministerpräsident erfolgreich regierte, wird sie in einer überarbeiteten und aktualisierten Auflage neu herausgegeben. Die Broschüre porträtiert elf Regierungschefs von 1920 bis 2003 und gibt wert­volle Einblicke in die politische Entwicklung vom ersten Vorsitzenden des Thüringer Staatsrats bis zu den Ministerpräsidenten des heutigen modernen Freistaats, der unter den ostdeutschen Ländern seit 1990 eine Spitzenstellung einnimmt. Der Gang durch die Geschichte unseres Landes ist von zwei Diktaturen, von Höhen und Tiefen geprägt. Er dokumentiert zudem anschaulich den friedlichen und demokratischen Werdegang Thüringens nach dem Mauerfall 1989 auf dem Weg zu „Deutschlands starker Mitte.“ Die Lektüre „Thüringer Thüringer Regierungschefs 1920 bis 2003 Regierungschefs“ ist eine lesenswerte Lektion in Landesgeschichte. Erfurt, im Dezember 2007

Dieter Althaus Thüringer Ministerpräsident

Volker Wahl • Dieter Marek • Gereon Lamers • Dr. Michael Borchard

Thüringer Regierungschefs 1920 bis 2003

Thüringer Regierungsgeschichte – ein historischer Rückblick herausgegeben von der Thüringer Staatskanzlei Inhalt

Dr. 61 Vom Vorsitzenden des Staatsrats von Thüringen 1945–1947 zum Ministerpräsidenten des Freistaats 7

Willy Marschler 49 Josef Duchacˇ 73 1933–1945 1990–1992 Dr. Richard Leutheußer 31 1924–1928 43 1932–1933

1921–1924 1920–1921, August Frölich 25 1930–1932 1928–1930 1992–2003 Erwin Baum 37 1945 Dr. Arnold Paulssen 19 Dr. Hermann Louis Brill 55 Prof. Dr. Bernhard Vogel 79

1947–1952 67 Parteienverzeichnis 89 Literatur 90 Abbildungen 92 Impressum 92 Vom Vorsitzenden des Staatsrats von Thüringen zum Ministerpräsidenten des Freistaats

Das Amt des Thüringer Regierungschefs in seiner historischen Ent- wicklung zu betrachten, bedeutet für uns heute, mehr als achtzig Jahre zurück zu den Wurzeln der Landesgründung zu gehen und dann dem wechselvollen Geschehen unter den Prämissen deutscher Geschichte durch das 20. in das 21. Jahrhundert zu folgen. Der heutige Freistaat entstand nach der Aufhebung der Monar- chie in Deutschland infolge der Novemberrevolution 1918 durch den freiwilligen Zusammenschluß von sieben vormals fürstlichen Ein- zelstaaten in Thüringen, die ihre Vergangenheit als oft belächelte „Zaunkönigtümer“ hinter sich gelassen hatten. Sie gingen in einem Einheitsstaat auf, der mittels Reichsgesetz vom 30. April 1920 als Land Thüringen in den föderalen Staatsaufbau der neuen deutschen Republik eingegliedert wurde. Sie hatte ihre Verfassung im August 1919 von der Nationalversammlung in Weimar erhalten. Noch blieb das mit Wirkung vom 1. Mai 1920 neu entstandene Bundesland mit der Landeshauptstadt Weimar unvollkommen, weil trotz des Zusammenschlusses der sächsisch-ernestinischen, schwarzburgischen und reußischen Territorialstaaten ein größeres Gebiet Thüringens ausgeschlossen und im preußischen Staatsverband verblieben war. Das 1920 gegründete Land Thüringen konnte sein Staatsgebiet erst 1945 abrunden, als auch der bisherige preußische Marstall (Ilmpavillon) in Regierungsbezirk Erfurt mit diesem vereinigt wurde. Seine endgültige Weimar, Kegelplatz, Ausdehnung erreichte es aber erst 1990 nach der Wiederentstehung Regierungsgebäude von der Länder im Osten Deutschlands. Der heutige Freistaat besteht zwar 1920–1922

6 7 bereits länger als ein Dreivierteljahrhundert, darunter fallen allerdings 38 Jahre staatlicher Nichtexistenz, als nach 1952 Thüringen im staatsrechtlichen Sinne nicht mehr vorhanden war und an dessen Stelle die zentralstaatlich organisierten DDR-Verwaltungsbezirke Erfurt, und Suhl traten. Als vor über 50 Jahren das Land Thüringen nach dem Willen der herrschenden Staatspar- tei SED aus der Geschichte abtreten sollte, wurde nicht nur die identitätsstiftende Staats- symbolik des bisherigen Landeswappens be- seitigt. Mit den föderalen Verfassungsorga- nen des und der Landesregierung Regierungssitze in Weimar: verschwanden auch die personellen Träger Reithaus am Platz der von Landesidentität und staatlicher Reprä- Demokratie 1923–1933 sentanz im regionalen Rahmen. Der „Regie- linke Seite: rungschef“ in Thüringen hatte nach nur 32 Residenzschloß 1922–1923 Jahren seine Rolle ausgespielt. Erst mit den politischen Veränderungen von 1989/90, der waltungsaufbaus haben dieses Staatsamt an der Spitze des Landes geformt. Prägend sind Überwindung der deutschen Teilung und der aber auch die politischen und Zeitverhältnisse für die Entwicklung seit der Landesgründung Neuentstehung Thüringens als Bundesland mit deren Konstituierungsakten, Umbrüchen und Zäsuren geworden. Darunter waren von im föderativen Staatsaufbau der Bundesrepu- 1933 bis 1952 auch zwei Jahrzehnte Herrschaft totalitärer Staatssysteme bzw. unter Besat- blik Deutschland entstand auch wieder das zungshoheit. Amt des Ministerpräsidenten als Chef der Re- Als Chef der Landesregierung sind im offiziellen Sprachgebrauch seit 1920 der Vorsitzende gierung und nicht zuletzt auch „Landesvater“ des Staatsrats von Thüringen, der Vorsitzende des Thüringischen Staatsministeriums, seit aller Thüringer. 1933 der Ministerpräsident, 1945/46 der Regierungspräsident bzw. Landespräsident und seit In den Jahren seit der Landesgründung 1946 der Ministerpräsident des Landes Thüringen aufgetreten. Seit 1990 steht der Thüringer von 1920 bis zur Auflösung des Landes 1952 Ministerpräsident der Regierung des Landes Thüringen (ab 1994 Freistaat) vor. Die Über- und wiederum seit 1990 haben bisher 12 nahme des Spitzenamtes in der Landesregierung durch Wahl aus der Mitte des Regierungs- Persönlichkeiten als Regierungschefs für den kollegiums (seit 1920), nach Einsetzung durch den Vertreter der Reichsregierung (seit 1933) thüringischen Staat Verantwortung getragen. bzw. die Besatzungsmacht (1945/46) und schließlich nach Wahl durch den (seit Unterschiedliche Verfassungswirklichkeiten 1946) entspricht ebenfalls den historisch-politischen Gegebenheiten deutscher Geschichte und davon abhängige Grundsätze des Ver- im 20. Jahrhundert.

8 9 Rotes Schloß am Markt in Weimar, Regierungssitz von 1933–1945

Die nach der Abdankung ihrer Fürsten 1918 republikanisch konstituierten thüringischen Freistaaten bildeten auf dem Weg zum künftigen Land Thüringen zunächst eine Staaten- gemeinschaft, deren Geschäfte vom Staatsrat von Thüringen geführt wurden, in den die Einzelstaaten ihre Regierungsvertreter entsandten. Dieser Staatsrat fungierte auf Grund des Reichsgesetzes vom 30. April 1920 auch nach der Landesgründung noch als Übergangsre- gierung, bis mit den ersten Wahlen zum Landtag von Thüringen die Grundlage für die Bildung einer Landesregierung geschaffen war. So kommt es, dass als erster der Vorsitzende des Staatsrats von Thüringen das Amt eines Thüringer Regierungschefs einnahm, der bereits vor der Landesgründung die Staatengemeinschaft angeführt hatte und auch in dem neu konstituierten Gemeinschaftsstaat die Regierungsspitze darstellte. Auf der Grundlage des „Gemeinschaftsvertrages über den Zusammenschluß der thürin- Fürstenhaus in Weimar, gischen Staaten“ trat am 14. Juli 1919 der Weimarer Staatsminister Dr. Arnold Paulssen (DDP) Platz der Demokratie, das Amt des Vorsitzenden des Staatsrats von Thüringen an und führte somit auch nach (heute Hochschule dem 1. Mai 1920 die Geschäfte der provisorischen Landesregierung bis zur offiziellen Regie- für Musik) rungsbildung am 10. November 1920 im Ergebnis der ersten Landtagswahlen fort. Als Chef von 1945–1950 dieser thüringischen „Übergangsregierung“ richtete er am 6. Mai 1920 im sogenannten Ilm- Sitz der Regierung

10 11 pavillon im Marstallgebäude zu Weimar (Kegelplatz 1) die bisherige Kanzlei des Staatsrats von Thüringen als erste Geschäftsstelle der thüringischen Landesregierung ein. Nachdem Paulssen am 12. No- vember 1920 nach den Bestimmungen der „Vorläufigen Verfassung des Landes Thüringen“ vom 12. Mai 1920 aus der Mitte der neuen Landesregierung offiziell zum Vorsitzenden des Staatsministeriums gewählt worden war, konnte er als erster durch Wahl bestimmter Regierungschef in Thüringen das Land nach außen vertreten. Die Bezeichnung der Landesregierung als Staatsministerium und des ihm vorsitzenden Staatsministers änderte sich bis zur Macht- ergreifung der Nationalsozialisten im Deutschen Reich 1933 nicht. Die ihm zur Verfügung stehende Geschäftsstelle, in der die Angele- genheiten des Staatsministeriums und der mit seinem Vorsitz ver- bundenen Verpflichtungen zu erledigen waren, wurde ab März 1921 als Präsidialabteilung des Staatsministeriums geführt und zog in Weimar aus dem Marstallgebäude, wo inzwischen die Ministerien für Volksbildung und Justiz ihren Sitz genommen hatten, zunächst 1922 in das benachbarte Residenzschloß und endgültig 1923 in das daneben liegende ehemalige Reithaus (Fürstenplatz 5, heute Platz der Demokratie) ein, wo es bis 1933 verblieb. Als Vorsitzende des Staatsministeriums und damit als Chefs der thüringischen Landes- regierung fungierten in diesem Zeitraum nach Dr. Arnold Paulssens erster Amtszeit bis 1921 nachfolgend August Frölich (SPD) bis 1924, Dr. Richard Leutheußer (DVP) bis 1928, erneut Dr. Arnold Paulssen bis 1930, Erwin Baum (Thüringer Landbund) bis 1932 und zuletzt Fritz Sauckel (NSDAP) bis 1933. Es waren die Jahre schwieriger parteipo- litischer Kämpfe, wirtschaftlicher Depression und sozialer Spannun- gen, die in der Katastrophe des Dritten Reiches endeten. In dieser Zeit blieb das junge thüringische Staatswesen unfertig und in den politischen und wirtschaftlichen Krisen der Weimarer Republik immer anfällig. 1950–1951 Dem neuen Land Thüringen war im Rahmen der ersten deutschen Regierungssitz in Erfurt, Republik wie allen Ländern des Deutschen Reiches nur eine kurze Arnstädter Straße, Zeit unter demokratischen Vorzeichen beschieden. Als im August heute Sitz des Landtages

12 13 1932 erstmals eine nationalsozialistisch ge- das mit dem bisherigen Regierungsbezirk Er- führte Landesregierung die Staatsgeschäfte furt verbundene Land in die Sowjetische Be- in Thüringen übernahm, war das die Gene- satzungszone einbezogen. Der von der ame- ralprobe für die Machtergreifung der NSDAP rikanischen Militärregierung ernannte vor- im Deutschen Reich. In den zwölf Jahren der läufige Regierungspräsident Dr. Hermann L. NS-Diktatur seit 1933, als es Landesparla- Brill (SPD) stand der von ihm gebildeten mente als demokratisch gewählte Volksver- Regierung der Provinz Thüringen nur einen tretungen nicht mehr gab und die Länder Monat vor. Nach dem Besatzungswechsel der unmittelbaren Reichsaufsicht unterstan- setzte die Sowjetische Militäradministration den, war das Land praktisch nur noch ein des Bundeslandes Thüringen im Juli 1945 Dr. Reichsverwaltungsbezirk unter Führung des Rudolf Paul (parteilos, dann SED) zum Lan- Reichsstatthalters in Thüringen. Diese Funk- despräsidenten einer zivilen Verwaltung des tion wurde im Mai 1933 dem bisherigen Re- Landes Thüringen ein, in welcher der Regie- gierungschef Fritz Sauckel übertragen, der rungschef der Besatzungsmacht gegenüber damit in der Hierarchie der nationalsoziali- verantwortlich war. Als Landespräsident am- stischen Staatsverwaltung noch weiter auf- tierte er bis zu den ersten Landtagswahlen im stieg. Er war seitdem der erste Mann in Thü- Herbst 1946 und wurde danach vom neuen ringen. Die bisherigen thüringischen Regie- Thüringer Landtag zum Ministerpräsidenten rungsorgane wurden demzufolge nur noch des Landes Thüringen gewählt. Nach seiner als Fassade aufrechterhalten. Die Ernennung Flucht in die amerikanische Besatzungszone der Landesregierung, die in Thüringen wei- im Herbst 1947 folgte ihm Werner Eggerath terhin als Staatsministerium firmierte, lag in (SED) nach, der schließlich 1952 als noch am- dessen Befugnis, später sogar beim Reichs- tierender thüringischer Ministerpräsident auf kanzler. Nach dem Führerprinzip wurde de- Geheiß der Staatspartei SED zum Koordina- ren Vorsitzender nunmehr als Ministerpräsi- tor einer tiefgreifenden Verwaltungsreform dent bezeichnet. Dieses Amt übte von 1933 wurde, welche die föderale Struktur in der bis 1945 Willy Marschler (NSDAP) aus, der 1949 aus den Ländern der Sowjetischen Be- seinen Amtssitz mit der Präsidialabteilung satzungszone gegründeten DDR überwinden des Staatsministeriums seitdem im Roten sollte. Durch das „Gesetz über die weitere Schloß (Markt 15) in Weimar nahm. Demokratisierung des Aufbaus und der Ar- Hochhaus in der Das Kriegsende 1945 veränderte die Si- beitsweise der staatlichen Organe im Lande J.-S.-Bach-Straße, Erfurt tuation vollkommen. Zunächst stand Thürin- Thüringen“ vom 25. Juli 1952, das an die Regierungssitz von gen kurze Zeit unter amerikanischer Besat- Stelle des Landes für mehr als 38 Jahre drei 1951–1952 und 1990–1995 zung (April bis Anfang Juli 1945), dann wurde zentralstaatlich geleitete Verwaltungsbezirke

14 15 Erfurt, Gera und Suhl setzte, war das Ende des Landes Thüringen besiegelt, mit dem sich der bisherige Ministerpräsident als Regie- rungschef selbst abgeschafft hatte. Die ersten sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten die totalitären Machtstrukturen unter anderen Vorzeichen fort- gesetzt. Die grundlegenden und auf die Veränderung der Eigentums- verhältnisse gerichteten Umwälzungen sowjetischer Prägung waren auf die „Diktatur des Proletariats“ im Sozialismus ausgerichtet. In dieser Zeit der grundsätzlichen Umgestaltung der Staatsverhältnisse wurde 1950/51 Erfurt als größte Stadt in Thüringen zur Landeshaupt- stadt erhoben. Seit 1945 hatte der Regierungs- bzw. Landespräsident und auch der Ministerpräsident mit seiner Geschäftstelle – zunächst als Prädialkanzlei bzw. -amt, ab 1946 erneut wie vor 1945 Präsidial- abteilung, zuletzt ab 1950 Büro des Ministerpräsidenten – im ehe- maligen Fürstenhaus (Platz der Demokratie 2) in Weimar gesessen, wo bis 1933 der Landtag von Thüringen zusammengetreten war. In der neuen Landeshauptstadt Erfurt bezog er im Dezember 1950 das ehemalige preußische Behördenhaus an der Arnstädter Straße 51 und seit 1995: wechselte im Oktober 1951 in das neu auf dem benachbarten unbe- Thüringer Staatskanzlei, bauten Beethovenplatz errichtete Regierungsverwaltungsgebäude Regierungsstraße, Erfurt (Hochhaus) Johann-Sebastian-Bach-Straße 1 über, wo 1990 dann auch der erste Ministerpräsident des wiederentstandenen Landes eines alten Kulturlandes und den Zukunfts- Beethovenplatz in Erfurt, das erneut Landes- Thüringen seinen Amtssitz nahm. erwartungen eines jungen Bundeslandes in hauptstadt wurde. Die von der Bürgerbewegung in der DDR vollzogene politische der Mitte Deutschlands. Am 5. Februar 1992 wählte der Thüringer Wende der Jahre 1989/90, die im Oktober 1990 in die deutsche Wie- Nach den seit mehr als 50 Jahren ersten Landtag Dr. Bernhard Vogel (CDU) zum zwei- dervereinigung einmündete, bahnte auch den Weg für die Bildung freien Landtagswahlen am 14. Oktober 1990 ten Ministerpräsidenten des heutigen Frei- eines neuen Bundeslandes Thüringen mit eigener Verfassung und nahm am 8. November 1990 die gewählte staates Thüringen. Er bezog 1995 die sanierte Landesverwaltung, die auf diese Weise die Thüringer Teilung von 1952 Regierung des neu ins Leben getretenen Lan- ehemalige Kurmainzische Statthalterei in der überwand. Die damals geschaffenen Verwaltungsbezirke Erfurt, Gera des Thüringen mit Ministerpräsident Josef Regierungsstraße in Erfurt, wo sich seitdem und Suhl hatten in der Bevölkerung nie identitätsstiftend gewirkt. Die Duchacˆ (CDU) ihre Arbeit auf. Die Thürin- der Sitz des Thüringer Regierungschefs mit in ihrem Bewusstsein aber immer lebendig gebliebene Thüringer Kul- ger Staatskanzlei als Geschäftsstelle des Mi- der Staatskanzlei befindet. turlandschaft und mit ihr verbundene Landesidentität erhielten eine nisterpräsidenten und der Landesregierung Ihm folgte am 5. Juni 2003 , neue Perspektive in Fortsetzung der nie untergegangenen Tradition fand ihr erstes Domizil im Hochhaus am der seitdem als Thüringer Ministerpräsident an der Spitze unseres Landes steht.

16 17 Dr. Arnold Paulssen geb. 25.11.1864 Sömmerda gest. 19.3.1942 Weimar

Die zum 1. Mai 1920 vollzogene Gründung des Landes Thüringen stellte die tiefgreifendste Veränderung der deutschen Länderstruktur zwischen 1866 und 1945 dar. Dass nach Jahrhunderten kleinstaat- licher Zersplitterung am 10. November 1920 die Regierung eines Thüringer Einheitsstaates gewählt werden konnte, war nicht zuletzt auch das persönliche Verdienst ihres ersten Vorsitzenden Dr. Arnold Paulssen. Die in Thüringen alteingesessene Familie Paulssen konnte auf Dr. Arnold Paulssen, eine lange juristische Berufstradition zurückblicken, aus der auch Vorsitzender des frühere Bürgermeister von Weimar und Jena hervorgegangen waren. Staatsministeriums Für Arnold Paulssen, der als Sohn eines Buchhalters der Sömmer- 1920–1921 und daer Zündhütchenfabrik Dreyse und Collenbusch geboren wurde, 1928–1930 war unter den gegebenen familiären Verhältnissen die Fortsetzung dieser Tradition zunächst fraglich. Nach dem frühen Tod seines Va- ters von einem Onkel in Weimar aufgenommen, konnte er dort je- 1920–1921 1928–1930 doch das Gymnasium besuchen und machte bald mit überdurch-

19 schnittlichen Leistungen auf sich aufmerk- prägten politischen Umfeld einige demokra- Carl Freiherr von Brandenstein aus Gera durchsetzen konnte, welcher sam. Als Jahrgangsbester legte er im Jahre tische Reformen einzuleiten, zu denen ein dann schließlich am 4. Januar 1920 in Kraft trat. Auf der Grundlage 1883 sein Abitur ab. Eine günstige Erbschaft neues Landtagswahlgesetz sowie die Durch- dieses Gemeinschaftsvertrages wurden ein Volksrat als gesamtstaat- ermöglichte ihm das Studium der Rechtswis- setzung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ge- liches Vorparlament sowie ein Staatsrat als dessen Exekutive gebildet. senschaften in Freiburg, Halle, Jena und Ber- hörten. Als Paulssen mit Ablauf des Jahres Als Vorsitzender des Staatsrates, der sich aus Regierungsvertretern lin. Nach dem Ende des juristischen Vorbe- 1912 aus dem Staatsministerium ausschied, aller sieben Vertragsstaaten zusammensetzte, fungierte Arnold Pauls- reitungsdienstes im Großherzogtum Sach- würdigte die Universität Jena seinen beson- sen. In den Verhandlungen über den Weg zur Einheit Thüringens, sen-Weimar- Eisenach absolvierte er im Jahre deren Einsatz für die Universitätskliniken mit die sich angesichts von Reservatsforderungen einzelner Kleinstaaten 1891 die Assessorprüfung vor dem Oberlan- der Verleihung der medizinischen Ehrendok- sowie Begehrlichkeiten Preußens kompliziert gestalteten, hatte sich desgericht Jena mit dem Prädikat „vorzüg- torwürde. Ab 1913 wieder Bevollmächtigter Paulssen auf Grund seiner Integrationsfähigkeit und staatsmänni- lich“ und promovierte im gleichen Jahr an der thüringischen Staaten (außer Sachsen- schen Erfahrung allgemeines Ansehen erworben. Hinzu kam, dass der Universität Jena zum Doktor der Rechte. Meiningen) beim Bundesrat und seit 1915 er den größten der thüringischen Staaten repräsentierte. Nachdem Seiner Neigung zur Verwaltungslaufbahn fol- Wirklicher Geheimer Rat mit dem Titel „Ex- die Deutsche Nationalversammlung am 23. April 1920 das „Gesetz, gend, trat er nach einer vorübergehenden Tä- zellenz“ war er Zeuge der Vorgänge um die betreffend das Land Thüringen“ verabschiedet hatte und am 12. Mai tigkeit am Landgericht Weimar in den Staats- Abdankung des deutschen Kaisers am 9. No- die vorläufige Landesverfassung verkündet wurde, war der Thüringer dienst des Großherzogtums ein, wo er im Juli vember 1918, dem selben Tag, an dem auch Einheitsstaat ins Leben getreten. 1895 zum Finanzrat und Vortragenden Rat Großherzog Wilhelm Ernst in Weimar seinen Da die Wahlen zum I. Landtag von Thüringen am 20. Juni 1920 im Departement der Finanzen des Staatsmi- Thronverzicht erklärte. keine klaren Mehrheitsverhältnisse erbrachten, schlossen sich ihnen nisteriums, bald darauf auch zum Großher- Das Ende der Fürstenherrschaft eröffnete langwierige Koalitionsverhandlungen an, während dessen der Staats- zoglich-Sächsischen Staatsrat ernannt wurde. den schon seit längerem erhobenen Forde- rat weiterhin als Übergangsregierung amtierte. Erst am 10. November Großherzog Carl Alexander, der von Pauls- rungen nach Schaffung eines Thüringer Ein- kam es zur Bildung der ersten Landesregierung, die als Minderheits- sens regelmäßigen persönlichen Vorträgen heitsstaates neue Perspektiven. Arnold Pauls- kabinett aus DDP und SPD auf die Tolerierung der USPD als stärkster einen günstigen Eindruck gewonnen hatte, sen, der sich der neu gegründeten Deutschen Landtagsfraktion angewiesen war. Arnold Paulssen, dessen Partei Entwurf der Verfassung des berief ihn 1899 zum Geheimen Legations- Demokratischen Partei (DDP) angeschlossen lediglich vier Landtagsmandate errungen hatte, wurde zum Minister Freistaates Thüringen rat und stellvertretenden Bevollmächtigten hatte, stand mit an der Spitze derjenigen, die für Volksbildung und Justiz sowie zum Vorsitzenden des Staatsmi- vom Januar 1920 mehrerer thüringischer Staaten beim Bun- diese Forderung aufnahmen und in die Pra- nisteriums gewählt. Die Landesverfassung billigte jedoch dem Vor- mit Korrekturen von desrat in . Dieses Amt, welches das xis umsetzten. Nach den Landtagswahlen im sitzenden Staatsminister in einem kollegial organisierten Kabinett Dr. Arnold Paulssen Blickfeld Paulssens über die Kleinstaaten- März 1919 zum Vorsitzenden des Staatsmini- keine Richtlinienkompetenzen zu, sondern beschränkte ihn auf eine welt Thüringens hinaus weitete, bekleidete er steriums des nunmehrigen Freistaates Sach- vorwiegend repräsentative Stellung, die sich im wesentlichen in der bis zum Jahre 1908, als ihn nunmehr Groß- sen-Weimar-Eisenach gewählt, trat er mit Leitung der Regierungssitzungen und der Außenvertretung des Lan- herzog Wilhelm Ernst als Chef des Ministe- einem eigenen Entwurf für einen Gemein- des erschöpfte. In erster Linie war der Vorsitzende des Staatsministe- rialdepartements des Innern und Äußeren schaftsvertrag der thüringischen Staaten her- riums daher Leiter der ihm übertragenen Fachressorts. Nicht zuletzt nach Weimar zurück beorderte. Hier gelang vor, der sich jedoch nicht gegen den des spä- sollte damit der Dominanz eines der sieben früheren Einzelstaaten es ihm, in einem zunehmend konservativ ge- teren Thüringer Innen- sowie Justizministers vorgebeugt werden. Diese mussten jeweils durch ein Regierungs-

20 21 mitglied – entweder als Minister oder Staats- mögensauseinandersetzungen des Landes rat ohne Ressort – vertreten sein. In dieser mit den früheren Einzelstaaten hatten die Regelung sowie der überaus starken Stel- „Gebiete“ deren Verwaltungsaufgaben wahr- lung des Landtages, der jedes Regierungs- zunehmen und auf das Land überzuleiten, mitglied einzeln wählte und diesem auch das was sich bis in das Jahr 1923 erstreckte. Misstrauen aussprechen konnte, lagen die In den Jahren des politischen Wartestan- Ursachen für die häufigen Regierungswech- des nahm Arnold Paulssen zahlreiche Ehren- sel der späteren Jahre und die daraus resul- ämter, u. a. in der Deutschen Schillerstiftung, tierende politische Instabilität in Thüringen. der Wartburgstiftung und der Stiftung Nietz- Das von Paulssen in der ersten Regierungs- sche-Archiv in Weimar wahr. Im Anschluss sitzung formulierte Ziel, „die riesengroßen an die Wahlen zum IV. Landtag von Thürin- Aufgaben der Einigung Thüringens durchzu- gen trat er am 30. April 1927 zum zweiten führen“, konnte dieses Kabinett nicht errei- Male in die Landesregierung ein, die nun- chen. Letztendlich dominierten parteipoliti- mehr ausschließlich aus Vertretern bürger- sche Differenzen über das Erfordernis zur licher Parteien bestand. Unter dem Vorsit- Konsolidierung eines neuen Staatswesens. zenden Staatsminister Richard Leutheußer Als die Regierung durch die Einführung (DVP) leitete er das kombinierte Ressort für Landesregierung 1920–1921 einer Grundsteuer ihre finanzielle Abhängig- Inneres und Wirtschaft und wurde in der (untere Reihe, 2. v. l.: keit vom Reich lockern wollte, versagte ihr nach dem Rücktritt Leutheußers neu gebil- Dr. Arnold Paulssen) das Parlament die Unterstützung. Am 28. Juli deten Regierung am 6. November 1928 Mi- 1921, weniger als neun Monate nach ihrem nister für Wirtschaft und Volksbildung sowie sowie an den Auseinandersetzungen um ein zeit als Vorsitzender des Staatsministeri- Amtsantritt, sah sich die erste Thüringer Lan- auch Vorsitzender des Staatsministeriums. Volksbegehren gegen den Young-Plan, der die ums nicht mehr zurück. Gesundheitliche desregierung damit zur Demission gezwun- Eine durch Auseinandersetzungen um den Reparationszahlungen des Deutschen Rei- Probleme und familiäre Schicksalsschläge gen. Da die im September folgenden Land- Landeshaushalt hervorgerufene Krise führte ches in Folge des Versailler Vertrages neu bedingten auch seinen Rückzug aus dem ge- tagswahlen eine linke Mehrheit erbrachten schon im April 1929 zum Ende dieses kurzle- regelte. Angesichts dieser häufigen Revire- sellschaftlichen Leben. Im Alter von 78 Jahren und die DDP Stimmenverluste hinnehmen bigen Kabinetts. Schließlich übernahm Pauls- ments fiel die Erfolgsstatistik der Regierungs- ist Dr. Arnold Paulssen am 19. März 1942 in musste, gehörte Paulssen weder der näch- sen im Mai 1929 neben seinen bisherigen tätigkeit unter Paulssens Beteiligung nur be- Weimar gestorben. „Sein Lebenswerk war die sten Regierung noch dem Landtag an. Ressorts auch noch das Finanzministerium, scheiden aus. Wichtigste Errungenschaften Vereinheitlichung Thüringens – Er war der er- Sein Rückzug aus der Politik sollte je- so dass die Regierung von da an neben den waren vermögensrechtliche Regelungen mit ste Vorsitzende des Thüringischen Ministeri- doch nicht endgültig sein, zumal er bis Ok- Staatsräten nur noch über zwei Fachminister der evangelischen Kirche, ein Gebietsaus- ums“ – die Inschrift von Paulssens Grabstein tober 1921 noch den Vorsitz der Gebietsre- verfügte und schon von daher die Instabilität tausch mit Sachsen und die Übertragung der auf dem Weimarer Hauptfriedhof zieht eine gierung Sachsen-Weimar-Eisenach inne hatte der Thüringer Landespolitik widerspiegelte. Landesabgabenverwaltung auf das Reich. prägnante Bilanz seines politischen Wirkens, und dort die Ressorts für Kultus, Justiz und Ende Oktober scheiterte auch dieses Staats- In die aktive Politik kehrte Arnold Pauls- die auch heute noch gültig ist. Finanzen leitete. Bis zum Abschluss der Ver- ministerium an finanziellen Schwierigkeiten sen nach dem Ende seiner zweiten Amts-

22 23 August Frölich geb. 31.12.1877 Sippersfeld (Rheinpfalz) gest. 22.1.1966 Weimar

Der Weg in die „große Politik“ wurde August Frölich, dem Sohn eines Kleinbauern aus der Rheinpfalz, erst durch die Novemberereignisse des Jahres 1918 geebnet. Bis dahin verlief sein Lebensweg wie der vieler anderer sozialdemokratischer Funktionäre. Nach dem Besuch der Volksschule und einer Lehre als Schlosser und Eisendreher begab er sich auf Wanderschaft durch Deutschland und besuchte in dieser Zeit verschiedene Bildungskurse. Im Deutschen Metallarbeiterverband, dem er seit 1895 angehörte, avancierte er bald zum hauptamtlichen Funktionär. Ab 1906 wirkte er zwölf Jahre lang als Sekretär und Geschäftsführer dieses Gewerk- schaftsverbandes im Herzogtum Sachsen-Altenburg. Für die SPD, der er im Jahre 1900 beitrat, saß August Frölich seit 1913 im Altenburger August Frölich, Stadtrat. Dass die revolutionären Ereignisse des Novembers 1918 im Vorsitzender des Herzogtum Sachsen-Altenburg einen im Vergleich zu anderen Thü- Staatsministeriums ringer Staaten nahezu geordneten Verlauf nahmen, ist dem Wirken 1921–1924 des dortigen Arbeiter- und Soldatenrates und seines Vorsitzenden August Frölich zu verdanken. Bevor Herzog Ernst II. am 13. November 1918 abdankte, setzte er auf strikt verfassungsmäßigem Wege noch eine neue Regierung aus 1921–1924 Mitgliedern von SPD und DDP ein. Frölich gehörte ihr als Mitglied

25 des Staatsministeriums und Leiter der Mini- Diese Landesregierung war im Vergleich zu politischen Radikalisierung, die sich bis hin sterialabteilung für Wirtschaft an. ihrer Vorgängerin zwar an Koalitionszwänge zur Gefahr eines Bürgerkrieges zuspitzte. Im März 1919 übernahm Frölich dann nicht mehr gebunden, andererseits als Min- Der „Ruhrkampf“ 1923 und offensichtli- den Vorsitz des Staatsministeriums des nun- derheitskabinett auf die Stimmen der KPD- che Vorbereitungen auf einen Rechtsputsch mehrigen Freistaates Sachsen-Altenburg so- Fraktion im Landtag angewiesen, da das bür- in Bayern veranlassten die Thüringer Lan- wie die Leitung der Ministerialabteilung für gerliche Lager ihr die Unterstützung weitge- desregierung zu Maßnahmen zum Schutz Auswärtige Angelegenheiten, Militärsachen hend versagte. Diese Konstellation sollte auf der republikanischen Ordnung. Sie richtete und Inneres. Dem Staatsrat von Thüringen, zahlreiche politische Reformvorhaben und sich einerseits entschieden gegen rechts- der ab Juli 1919 als gemeinschaftliches Voll- letztlich auf das Schicksal dieser Regierung radikale Gruppierungen, während sie sich zugsorgan der sieben thüringischen Staaten selbst entscheidenden Einfluss haben. andererseits gegenüber dem linksradikalen die Gründung des Landes Thüringen vorbe- Eine der wichtigsten Errungenschaften, Spektrum auffällig duldsam zeigte. Auch reitete, gehörte er als Vertreter von Sachsen- die weit über ihre Amtszeit hinaus Bestand durch ihre Konfliktstellung zur Reichsregie- Altenburg an. haben sollte, war die zum 1. Oktober 1922 rung zwischen alle politischen Fronten ge- Nach den Wahlen zum I. Landtag von eingeführte neue Kreiseinteilung Thüringens. raten, stürzte sie im September 1923 über Thüringen wurde Frölich am 10. November Mit ihr konnten die letzten kleinstaatlichen ein Misstrauensvotum der KPD-Landtags- 1920 zum Mitglied der ersten Thüringer Lan- territorialen Hemmnisse beseitigt werden. fraktion, das von der bürgerlichen Opposi- desregierung gewählt, die unter dem Vorsitz Andere Maßnahmen stießen dagegen auf tion gestützt wurde. von Dr. Arnold Paulssen (DDP) stand. In die- weniger positiven Widerhall. Hierzu gehörte Es kam zur Bildung einer Koalitionsregie- ser Koalitionsregierung aus SPD und DDP in erster Linie die auf ein Einheitsschulsy- rung aus SPD und KPD, welche wiederum übernahm er das Wirtschaftsressort und fun- stem ausgerichtete Bildungsreform des Mini- unter dem Vorsitz von August Frölich stand. gierte gleichzeitig als Vertreter des Gebietes sters Max Greil. Deren linkssozialistische In- Neben dem Vorsitz des Staatsministeriums Sachsen-Altenburg, da entsprechend der Lan- tentionen gingen weit über die tatsächlichen bekleidete er ab dem 25. Oktober 1923 in die- Frölichs gegenüber dem Reichskanzler nichts Abschaffung der desverfassung alle früheren Thüringer Einzel- Erfordernisse einer Modernisierung des Thü- sem Kabinett das neu geschaffene Amt ei- ändern. Prügelstrafe durch staaten in der Regierung gleichmäßig reprä- ringer Schulwesens hinaus und riefen den nes Ministers des Äußern, das allerdings im Bewaffnete Zusammenstöße an der die Schulreform sentiert sein sollten. Widerstand breiter Bevölkerungskreise her- Zuge sich überstürzender Ereignisse lediglich Grenze von Thüringen zu Bayern sowie die der Regierung Frölich Doch schon Ende Juli 1921 wurde dieses vor. Doch auch die Lage im Deutschen Reich eine Firmierung ohne politisch-administrati- verstärkte Bildung „Proletarischer Hundert- Kabinett durch den Landtag zum Rücktritt insgesamt erwies sich für eine erfolgreiche ven Unterbau bleiben sollte. schaften“ veranlassten die Reichsregierung, gezwungen. Nachdem die Linksparteien aus Regierungstätigkeit als äußerst ungünstig. Diese sogenannte „Arbeiterregierung“ ab November 1923 auch in Thüringen die den vorzeitigen Landtagswahlen vom 11. Sep- Der inflationäre Verfall der Reichswährung hatte jedoch kaum noch reale politische Ge- Exekutivgewalt mit Hilfe des Militärs zu über- tember 1921 gestärkt hervorgegangen waren, verhinderte eine geordnete Wirtschafts- und staltungsspielräume, denn die Konflikte mit nehmen, nachdem bereits Ende Oktober die kam es Anfang Oktober zur Bildung einer Finanzpolitik; verbunden mit einer hohen Ar- der Reichsregierung, die eine Machtbetei- förmliche Reichsexekution gegen Sachsen Regierung aus SPD und USPD. August Frö- beitslosigkeit erreichte die Krise der thüringi- ligung der Kommunisten kategorisch ab- verhängt und die dortige „Arbeiterregierung“ lich übernahm neben dem Wirtschaftsres- schen Wirtschaft im Jahre 1923 ihren Höhe- lehnte, sollten bald eskalieren. Daran konn- abgesetzt worden war. Daraufhin erklärten sort auch den Vorsitz des Staatsministeriums punkt. All dies führte zu einer zunehmenden ten auch mehrere Beschwichtigungsversuche die kommunistischen Regierungsmitglieder

26 27 Albin Tenner (Wirtschaftsminister), Prof. Dr. Karl Korsch (Justizmini- Obwohl im Jahre 1945 bereits im Alter von Juni 1946 schon der Beratenden Landesver- ster) und Dr. Theodor Neubauer (Staatsrat für Gotha) ihren Rücktritt; 67 Jahren stehend, sollte Frölichs politische sammlung als Vizepräsident angehört hatte, die beiden letztgenannten waren zu diesem Zeitpunkt bereits auf Vita nach dem Ende der NS-Diktatur einen wurde er in der konstituierenden Sitzung des der Flucht vor der Reichswehr untergetaucht. Eine weitere Zusam- Neubeginn erfahren. Thüringer Landtages am 21. November 1946 menarbeit der noch verbliebenen und verfassungsmäßig illegitimen Nach der Wiederzulassung politischer zu dessen Präsidenten gewählt. Er bekleidete Rumpfregierung mit dem Landtag war unmöglich geworden. So tra- Parteien wurde er im Juli 1945 an die Spitze dieses Amt bis zur letzten Landtagssitzung ten auch die restlichen Minister am 7. Dezember 1923 zurück und des Weimarer Ortsvereins des „Bundes de- am 25. Juli 1952, die gleichzeitig das vorläu- machten den Weg für Neuwahlen frei. mokratischer Sozialisten“ bzw. der SPD ge- fige Ende des Landes Thüringen markierte, Eine Bilanz der beiden unter dem Vorsitz von August Frölich wählt und gehörte als Vorsitzender der Par- an dessen Stelle die drei Bezirke Erfurt, Gera stehenden Kabinette wird durch den spektakulären, weit über Thü- teikontrollkommission auch dem Landesvor- und Suhl treten sollten. ringen hinaus beachteten Zusammenbruch der „Arbeiterregierung“ stand der Sozialdemokratischen Partei an. Damit hatte August Frölich von der Grün- überschattet. Zwar konnte auf einigen Gebieten die Ausgestaltung Im Gesundheitshilfsdienst, der Nachfolge- dung des Thüringer Einheitsstaates im Jahre des Thüringer Einheitsstaates voran gebracht werden, letzten Endes einrichtung des zeitweilig aufgelösten Roten 1920 bis zu dessen faktischer Auflösung im scheiterte ihre Politik jedoch an den überzogenen Reformprojekten, Kreuzes, organisierte er bis Oktober 1946 vor Jahre 1952 allen Landesparlamenten ange- mit denen sich die Regierung in einen schroffen Gegensatz auch allem die Betreuung der Vertriebenen, die hört. Von 1952 bis zu seinem Tod am 22. Ja- zum gemäßigten bürgerlichen Lager setzte. Mit ihrer Bindung an nach Kriegsende in die Sowjetische Besat- nuar 1966 gehörte er auch dem Bezirkstag die kommunistische Partei, die von Frölich gegenüber der Reichsre- zungszone strömten. Erfurt an. In der Länderkammer der DDR, die Notgeldscheine gierung verteidigt wurde und schließlich in eine förmliche Koalition Für den zum Rückzug genötigten SPD- nach 1952 ihre Daseinsberechtigung eigent- des Landes Thüringen mündete, entzog sie sich selbst die Basis für ein konstruktives Wirken Landesvorsitzenden Dr. lich verloren hatte, fungierte er bis zu ihrer aus dem Jahr 1923 im Interesse des Landes. nahm August Frölich dessen Funktion Ende Auflösung im Jahre 1958 als Vizepräsident. Die politische Laufbahn von August Frölich war mit dem Regie- 1945/Anfang 1946 kurzzeitig geschäftsfüh- In seiner Person verkörperte August Frö- rungsrücktritt im Dezember 1923 jedoch nicht beendet. Von 1924 bis rend wahr, wurde jedoch auf Betreiben lich die Wechselfälle deutscher Geschichte 1933 gehörte er dem Deutschen Reichstag an und war Mitglied des der Sow­jetischen Militäradministration bald vom Kaiserreich bis hin zur DDR. Im Land Bezirksvorstandes Groß-Thüringen der SPD. Auch blieb er bis 1933 durch Heinrich Hoffmann ersetzt, der dem Thüringen hat er diese Geschichte zeitweise Abgeordneter des Landtages von Thüringen. Vormachtstreben der KPD weniger reserviert an führender Position mitgestaltet. Er wurde Als einer der profiliertesten Vertreter der Thüringer Sozialdemo- gegenüber stand. so zu einer Symbolfigur, welcher man sich kratie geriet er nach der Machtergreifung Hitlers zwangsläufig in Gleichwohl sah der Thüringer Vereini- in der DDR, die ihm höchste Ehrungen zu- das Visier der Nationalsozialisten, denen er im Landtag schon früh gungsparteitag von SPD und KPD am 7. April teil werden ließ, nur allzu gern bediente. Frö- mit polemischer Schärfe entgegen getreten war. Zwischen 1933 und 1946 in Gotha August Frölich als Eröffnungs- lich selbst hat diese Rolle angenommen und 1944 wurde er insgesamt dreimal verhaftet, zuletzt nach dem 20. Juli vorsitzenden, dessen anerkannte politische ausgefüllt, mag er doch in der DDR die Voll- 1944 wegen seiner angeblichen Verbindung zu der kommunistischen und persönliche Autorität manchen Zweifler endung jenes politischen Projektes gesehen Widerstandsgruppe um seinen früheren Kabinettskollegen Theodor am Zusammenschluss der beiden Arbeiter- haben, an welchem die unter seinem Vor- Neubauer. parteien letztendlich doch zur Zustimmung sitz stehende Landesregierung in den frühen bewogen haben mag. Nachdem Frölich seit 1920er Jahren gescheitert war.

28 29 Richard Leutheußer geb. 16.7.1867 Coburg gest. 12.4.1945 Weimar

Nach dem vom militärischen Ausnahmezustand begleiteten Ende der „Arbeiterregierung“ im Dezember 1923 stand ein politischer Rich- tungswechsel in Thüringen nahezu gesetzmäßig auf der Tagesord- nung. Die im Vorfeld der Wahlen zum III. Landtag von Thüringen ausgebrachte Losung „Das ganze Land kam auf den Hund, uns ret- tet nur der Ordnungsbund“ war hierfür symptomatisch. Der „Thü- ringer Ordnungsbund“ hatte sich als Wahlbündnis aller links- und rechtsbürgerlichen Parteien formiert und ging aus den Landtags- Dr. Richard Leutheußer, wahlen am 10. Februar 1924 als Sieger hervor. Wie stark die Thürin- Vorsitzender des ger Bevölkerung in den zurückliegenden Monaten der sozialistisch- Staatsministeriums kommunistischen Koalitionsregierung politisiert worden war, zeigte 1924–1928 die ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent aller Stimmberechtigten. Ein bedenklicher Ausdruck der unverminderten Polarisierung der politischen Kräfteverhältnisse in Thüringen war der erstmalige Einzug von drei Vertretern der NSDAP in den Landtag, 1924–1928 die auf einer „deutschvölkischen“ Liste kandidiert hatten. KPD und

31 SPD verfügten immerhin noch über 30 Land- schaften an den Universitäten Heidelberg, heußer im Juli 1914 als Oberverwaltungs- regierung aufzuheben, die bürgerlichen Inter- tagssitze, konnten aber damit die bürgerliche München und Berlin. gerichtsrat nach Jena. Während des Ersten essen in irgendeiner Weise entgegen liefen. Parlamentsmehrheit nicht brechen. Während seiner Referendarszeit trat er Weltkrieges kehrte er allerdings für mehrere Im ersten Jahr ihrer Amtszeit griff die Re- Die Neuwahl der Landesregierung er- im Jahre 1892 der Nationalliberalen Partei Monate nach Coburg zurück, wo er mit der gierung dabei auch auf das Instrument der folgte bereits am 21. Februar 1924; ihr ge- bei. Im Anschluss an das zweite juristische geschäftsführenden Leitung der Coburger Notverordnungen zurück; so wurde auf die- hörten Vertreter der DVP, DNVP sowie des Staatsexamen vor dem gemeinschaftlichen Abteilung des Herzoglichen Staatsministeri- sem Wege u. a. die Zwangseingemeindung Thüringer Landbundes an. Bis auf eine Aus- Thüringischen Oberlandesgericht in Jena war ums beauftragt und im Jahre 1917 zum Ge- von über 300 Dörfern wieder aufgehoben, die nahme besaßen alle Minister und Staatsräte er Hilfsrichter in Coburg und Gotha, Hilfs- heimen Regierungsrat ernannt wurde. Da er auf das Kreiseinteilungsgesetz von 1922 zu- kein Landtagsmandat, womit man sich in be- arbeiter beim Staatsministerium in Coburg auf Grund seines Alters und fehlender mili- rückging und damals scharfe Proteste her- wusster Abgrenzung von der Vorgängerre- sowie ab 1899 Landratsamtsassessor in Wal- tärischer Ausbildung nicht mehr für den akti- vorgerufen hatten. Statt des 1. Mai und des 9. gierung als sachorientiertes Expertenkabinett tershausen, wo er sich im Stadtrat auch kom- ven Kriegsdienst in Frage kam, organisierte er November wurde der Buß- und Bettag wieder präsentieren wollte. Auch verfügten die acht munalpolitisch betätigte. statt dessen als Vertrauensmann des Roten als Feiertag eingeführt, aber auch das Verbot Regierungsmitglieder (drei Minister und fünf Nach Stationen als Amtsrichter und Kreuzes die Betreuung verwundeter Kriegs- der körperlichen Züchtigung in den Schulen Staatsräte) bis auf zwei Ausnahmen über aka- Staatsanwalt in Waltershausen, Gotha und teilnehmer. im Jahre 1925 teilweise aufgehoben. demische Bildungsabschlüsse. In der Regie- Coburg wurde er schließlich im Oktober 1905 Mit dem Sturz der Fürstenhäuser im No- Überhaupt richteten sich die Reformbe- rungssitzung am 27. Februar wurde Richard zum Regierungsrat und Vortragenden Rat in vember 1918 entstanden neue Rahmenbe- strebungen der Ordnungsbundregierung in Leutheußer als ältestes Mitglied des Kabi- der Coburger Abteilung des Staatsministe- dingungen für das politische Wirken Leut- starkem Maße auf das Schulwesen, wo man netts zum Vorsitzenden des Staatsministe- riums von Sachsen-Coburg und Gotha er- heußers. Der Thüringer Landesverband der die Vielzahl von Schultypen und Bildungs- riums gewählt. Er war gleichzeitig Minister nannt. Ab Januar 1907 wirkte Richard Leut- Deutschen Volkspartei (DVP), die im Dezem- wegen, die nicht zuletzt auch den Landes- für Volksbildung und Justiz, nachdem die un- heußer als Landrat von Waltershausen mit ber 1918 gegründet wurde, wählte Richard haushalt stark belasteten, wieder auf ein Nor- ter der abgelösten Linksregierung getrenn- Amtssitz im Schloss Tenneberg. Dieses Amt Leutheußer im Juli 1919 zu seinem Vorsitzen- malmaß zurückführen wollte. Die Universität ten Ressorts wieder zusammengelegt worden bekleidete er mehr als sieben Jahre, in denen den. Obwohl sich der organisatorische Auf- Jena, welche sich mit der Linksregierung im waren. er sich auch politisch zu profilieren begann. bau dieser neuen Partei nicht ohne Probleme permanenten Konflikt befunden hatte, erhielt Richard Leutheußer hatte bis zu diesem Von 1907 bis 1918 saß er als Abgeord- vollzog, verfügte sie in weiten Kreisen des ihre vollen Selbstverwaltungsrechte zurück. Zeitpunkt eine fast bruchlose Karriere als Ver- neter im gemeinschaftlichen Landtag der Thüringer Bürgertums über eine stabile An- Ihre neu gegründete Mathematisch-Natur- waltungsbeamter und Jurist absolviert; nach Herzogtümer Coburg und Gotha sowie im hängerschaft. Bei den Reichstagswahlen vom wissenschaftliche Fakultät, die durch Volks- den politischen Wirrnissen der zurückliegen- Vorstand des Nationalliberalen Landesver- Juni 1920 erzielte die DVP einen Anteil von bildungsminister Leutheußer besonders ge- den Jahre schien er schon von daher geeig- bandes der thüringischen Länder, einem Gre- über 15 Prozent aller im Land Thüringen ab- fördert worden war, verlieh ihm im Juni 1926 net, in seiner Person die Rückkehr Thürin- mium, das auf Parteiebene die Einheit Thü- gegebenen Stimmen, wobei auch auf Leut- die Ehrendoktorwürde. gens zu geordneten Verhältnissen zu ver- ringens bereits vorwegnahm. heußer ein Abgeordnetenmandat entfiel. Einen anderen Schwerpunkt der Regie- körpern. Als Sohn eines Musikdirektors und Nachdem auch das Herzogtum Sachsen- Das im Februar 1924 gewählte und unter rungstätigkeit und Gesetzgebung bildete der Organisten in Coburg geboren, absolvierte Coburg und Gotha dem gemeinschaftlichen Leutheußers Vorsitz stehende Thüringische Umbau der kommunalen Selbstverwaltung er nach dem im Jahre 1887 abgelegten Abitur Thüringischen Oberverwaltungsgericht bei- Staatsministerium sah seine vordringlichste in den Kreisen und Gemeinden, die im Jahre ein Studium der Rechts- und Staatswissen- getreten war, entsandte man Richard Leut- Aufgabe darin, alle Reformen der Vorgänger- 1926 in eine neue Kreis- und Gemeindeord-

32 33 Bauhaus in Weimar die finanzielle Existenz- des Landtages gestürzt wurde, das auf der grundlage faktisch entzogen wurde. Dem von Mehrheit einer einzigen Stimme beruhte, ver- Richard Leutheußer geleiteten Volksbildungs- deutlicht die diffizilen Rahmenbedingungen ministerium fiel für den Exodus des Bauhau- für die Landespolitik jener Jahre. ses eine besondere Verantwortung zu, zu- Dem neuen Kabinett gehörte Leutheußer mal Leutheußer persönlich im Landtag kei- nicht mehr an, sondern trat als Beamter in nen Hehl aus seiner ablehnenden Haltung den Wartestand. Sein Reichstagsmandat so- gegenüber der künstlerischen Richtung die- wie den Landesvorsitz der DVP behielt er ser Lehrstätte machte. noch bis 1930 bei. Der III. Landtag von Thüringen löste sich Nach dem Rückzug aus der aktiven Politik im Januar 1927 nach Ablauf seiner dreijähri- betätigte sich Richard Leutheußer vor allem gen Legislaturperiode auf; es sollte bis zum auf kulturellem Gebiet. Aus seinen zahlrei- Jahre 1933 der einzige Landtag bleiben, der chen Funktionen ragen die des Vorsitzenden über die gesamte verfassungsmäßige Dauer der Stiftung Nietzsche-Archiv in Weimar (seit hinweg bestand. Dies traf auch auf die Re- 1931) sowie des Weimarer Arbeitsauschusses Empfang des nung mündete. Die im selben Jahr in Kraft gierung zu, deren Stabilität jedoch nur dem zur Vorbereitung des reichsweiten Goethe- Reichspräsidenten getretene Landesverwaltungsordnung regelte äußeren Schein nach existierte. Jubiläums 1932 hervor. Auch auf Grund sei- Paul v. Hindenburg das Verhältnis zwischen Staat und kommu- Da sich die DDP von der Regierungsko- ner Verdienste in diesem Ehrenamt wurde am 10. Mai 1926 naler Selbstverwaltung und besaß in dieser alition ab- und der SPD zugewandt hatte, war ihm im Jahre 1932 durch den Reichspräsiden- auf dem Weimarer Hinsicht Vorbildcharakter über das Land Thü- man auf die Unterstützung des „Völkisch-So- ten die Goethe-Medaille für Kunst und Wis- Hauptbahnhof durch ringen hinaus. zialen Blocks“ und mithin auch der national- senschaft verliehen. den Vorsitzenden Einen ebenfalls über Thüringen hinaus sozialistischen Abgeordneten angewiesen. Am 12. April 1945, dem Tag der Besetzung Staatsminister Richard reichenden Widerhall, wenn auch mit nega- Die Regierungsbildung nach den Landtags- der Thüringer Landeshauptstadt durch die Leutheußer (Bildmitte) tivem Tenor, fand die provozierte Übersied- wahlen am 30. Januar 1927, die keine eindeu- US-Besatzungsarmee, ist Richard Leutheußer lung des von Walter Gropius geleiteten Staat- tigen Mehrheitsverhältnisse herbeiführten, in Weimar gestorben. lichen Bauhauses von Weimar nach Dessau gestaltete sich entsprechend langwierig. im Jahre 1925. Zwar stellte das Bauhaus seit Erst Ende April 1927 wurde ein neues seiner Gründung im Jahre 1919 stets eine Art Staatsministerium aus Vertretern von DVP, Fremdkörper im residenzstädtischen Milieu DDP, Wirtschaftspartei sowie Thüringer Weimars dar, doch unter der Ordnungsbund- Landbund gebildet, an dessen Spitze wie- regierung wurde dem weit verbreiteten Un- derum Volksbildungs- und Justizminister behagen an der künstlerischen Avantgarde Richard Leutheußer stand. Dass diese Regie- Wahlplakat der SPD mit den Instrument des Haushaltsrechtes rung nach einer Amtszeit von 17 Monaten im für die Landtagswahl Ausdruck verliehen, so dass dem Staatlichen Oktober 1928 durch ein Misstrauensvotum am 30. Januar 1927

34 35 Erwin Baum geb. 25.2.1868 Rauschwitz gest. 22.3.1950 Rauschwitz

Nur selten hat eine Thüringer Landesregierung so viel Aufmerksam- keit über die Landesgrenzen hinaus auf sich gezogen wie das zwi- schen Januar 1930 und April 1931 unter dem Vorsitz von Erwin Baum stehende Staatsministerium. Diese überregionale Beachtung war allerdings nicht auf spektakuläre Erfolgsbilanzen des Landes zurück- zuführen, sondern wurde durch die in Deutschland bis dahin ein- malige Regierungsbeteiligung von NSDAP-Politikern provoziert. So wird der Name Erwin Baums bis heute vor allem mit der Tatsache Erwin Baum. in Verbindung gebracht, dass in seiner Amtszeit als Vorsitzender Vorsitzender des Staatsminister das Land Thüringen zu einer Probebühne für die na- Staatsministeriums tionalsozialistische Machtergreifung geworden war. 1930–1932 Erwin Baum entstammte dem großbäuerlichen Milieu, dem er zeitlebens verhaftet bleiben sollte. Sein Vater war Landwirt und Gasthofbesitzer im sachsen-altenburgischen Rauschwitz. Nach der Volksschule besuchte Baum das Eisenberger Gymnasium bis zur 1930–1932 Obersekunda (11. Klasse), um danach eine Ausbildung zum Land-

37 wirt aufzunehmen. Durch die Übernahme ren. In programmatischer Hinsicht christlich- sich neben den etablierten Parteien allerdings des väterlichen Gutes verfügte er über eine national und konservativ orientiert, stand er nie als schwergewichtige Größe profilieren gewisse finanzielle Unabhängigkeit, die ihm dem politischen System der Weimarer Repu- konnte. auch eine aktive politische Betätigung ermög- blik insgesamt ablehnend gegenüber. Hier In der Thüringer Regierung war der Land- lichen sollte. wirkte die Verunsicherung der Landeigentü- bund seit 1924 vertreten, ohne zunächst ei- Unmittelbar nach seiner Gründung im mer nach, die während der revolutionären Er- nen Ministerposten zu besetzen. Das änderte Jahre 1893 schloss sich Erwin Baum dem eignisse von 1918/19 ihre Existenzgrundlage sich erst nach den zum wiederholten Male Bund der Landwirte an. Er wirkte im Deut- bedroht gesehen hatten. vorgezogenen Landtagswahlen vom 8. De- schen Kaiserreich als einflussreichste und Bei den Wahlen zum I. Landtag von Thü- zember 1929, die einen deutlichen Rechts- mitgliederstärkste agrarpolitische Interes- ringen im Juni 1920 erreichte der Thüringer ruck in der politischen Landschaft mit sich senvertretung mit ausgeprägt konservativer Landbund mit 20,6 Prozent der Stimmen den brachten. Zwar blieb die SPD weiterhin stärk- Grundrichtung. Über die Kandidatenliste die- zweiten Platz hinter der USPD. Damit konnte ste Partei, doch hatten sich auch die Stim- ses Bundes gelangte er 1913 in den Altenbur- sie elf von 53 Landtagsmandaten erringen. menanteile der NSDAP im Vergleich zur Wahl ger Landtag. Auch Erwin Baum rückte in das Landespar- von 1927 verdreifacht. Für den bürgerlichen Bis 1921 gehörte Baum dem Landesparla- lament ein, dem er bis Dezember 1932 ange- Block, in dem der Landbund als zweitgrößte ment des Herzogtums, Freistaates (ab 1919) hören sollte. Von 1921 bis 1923 wirkte er hier Fraktion die stärkste Stellung inne hatte, kam und zuletzt des Gebietes Sachsen-Altenburg als 1. Landtags-Vizepräsident. eine Koalition mit der SPD nach wie vor nicht an. Im Volksrat von Thüringen, dem im Vor- Im Thüringer Landbund stand Baum als in Frage – zu tief saß das Trauma der „Arbei- feld der Landesgründung entstandenen ge- 3. bzw. 2. Vorsitzender stets im Schatten des terregierung“ des Jahres 1923. So rückte die samtstaatlichen Übergangsparlament, vertrat charismatischen „Parteiführers“ Ernst Höfer; NSDAP in den Mittelpunkt der Koalitionsver- der Person des neuen Innen- und Volksbil- Vorstand des er den Freistaat Sachsen-Altenburg als stell- erst nach dessen Tod im Jahre 1931 rückte er handlungen, die von dem Landbundvorsit- dungsministers, der 1924 wegen seiner Un- Thüringer Landbundes vertretendes Mitglied. an die Spitze dieser Organisation. zenden Höfer geführt wurden und in die auch terstützung des Hitler-Putsches am 9. No- vor dem „Landbundhaus“ In den Jahren der Weimarer Republik Dass dem Thüringer Landbund auch Adolf Hitler direkt eingriff. vember 1923 durch das Volksgericht Mün- in Weimar wurde der Thüringer Landbund zu Erwin eine überregionale Bedeutung zukam, zeigte Am 23. Januar 1930 wählte der Landtag chen zu Festungshaft verurteilt worden war. (um 1930; oberste Reihe, Baums politischem Wirkungsfeld. Diese im dessen führende Rolle bei der Gründung von Thüringen dann eine Regierung, der die Mit Erwin Baum als Finanzminister und 3. v. r.: Erwin Baum) Mai 1919 in Erfurt zunächst als „Arbeitsge- der Christlich-Nationalen Bauern- und Land- beiden Nationalsozialisten Dr. Wilhelm Frick, Vorsitzendem des Staatsministeriums war meinschaft der Thüringer Bauernvereinigun- volkpartei im Jahre 1928. Sie stellte den Ver- Oberamtmann aus München und Führer der aber auch erstmals ein deutscher Landbund- gen“ gegründete Organisation verstand sich such dar, im Vorfeld der Reichstagswahlen NSDAP-Reichstagsfraktion, als Innen- und politiker an die Spitze einer Regierung ge- nicht als politische Partei, sondern in erster eine nationale Standespartei zu schaffen, Volksbildungsminister sowie Willy Marschler treten. Als erfahrener Haushaltsexperte war Linie als Interessenvertretung des Bauern- die sich vor allem auf die Erfolge der Thürin- als Staatsrat angehörten. Baum für die Leitung des Finanzressorts standes. Im weitgehend agrarisch geprägten ger und Hessischen Landbundorganisatio- Die Regierungsbeteiligung der NSDAP prädestiniert. Folglich stellte er die Sanie- Thüringen fand der Landbund eine breite An- nen stützte. war ein Novum in Deutschland. Sie wurde rung der Staatsfinanzen in den Mittelpunkt hängerschaft und konnte sich schon bald als Bis 1930 stand Erwin Baum an der Spitze von heftigen Protesten aus dem ganzen seines Regierungsprogramms. Doch insge- stärkste bürgerliche Kraft im Landtag etablie- dieser von Weimar aus geführten Partei, die Reich begleitet. Sie entzündeten sich auch an samt wurde die Außenwirkung des Kabinetts

38 39 der Finanzzuschüsse reagierte. Eine Regie- trugen zur verstärkten Anziehungskraft ra- rungskrise war wegen dieser Verhältnisse auf dikaler Anschauungen bei. So scheiterte die Dauer nicht zu umgehen, zumal die NSDAP Regierung letztlich auch an der Finanzpolitik in ihrer zügellosen Propaganda zunehmend von Erwin Baum. Ihre sozialen Folgen konn- auch die bürgerlichen Koalitionsparteien be- ten von der SPD nicht auf Dauer toleriert kämpfte. werden. Ein Misstrauensvotum des Landta- Nach einem Misstrauensvotum des Thü- ges am 7. Juli 1932 zog den sofortigen Rück- ringer Landtages am 1. April 1931 wurden tritt der Regierung Baum nach sich. Bei den Minister Frick und Staatsrat Marschler zum darauf folgenden Landtagswahlen profitierte Rücktritt gezwungen. In der nun folgenden dann die NSDAP von der allgemeinen Unzu- bürgerlichen Minderheitsregierung behielt friedenheit der Wähler und wurde zur stärk- Erwin Baum den Vorsitz des Staatsministeri- sten Partei. ums und übernahm zusätzlich zum Finanz- Als Vorsitzender des Thüringer Landbun- ressort noch die Leitung des Wirtschaftsmi- des blieb Erwin Baum auch nach seinem Aus- nisteriums. Dieses Kabinett war ein Spiegel- scheiden aus dem Ministeramt in der Lan- bild der politischen Instabilität Thüringens, despolitik präsent. Auf seine Erfahrungen in Landesregierung von den brachialen Maßnahmen des NS- raum zu verschaffen, setzte die Regierung da es auf die Duldung der SPD angewiesen der Regierung gegründet, stand er dem Vor- 1930–1931 Ministers Frick in den von ihm geleiteten ein auf sechs Monate befristetes Ermächti- war und häufig auf der Grundlage von Not- dringen der NSDAP zwar zunehmend kriti- (4. v. l.: Erwin Baum) Schlüsselressorts geprägt. Die Einführung gungsgesetz durch. Mit seiner Hilfe wurde verordnungen regierte. scher gegenüber, musste jedoch die „Gleich- von chauvinistischen „Schulgebeten“ gegen der Landtag vom Gesetzgebungsverfahren Der Landtag von Thüringen war zu die- schaltung“ des Thüringer Landbundes im den Versailler Vertrag sowie eine nationalso- zeitweise ausgeschaltet. Zwar konnte auf ser Zeit ohnehin durch tumultartige Parteien- Dritten Reich machtlos hinnehmen. Den fol- zialistische Bildungs-, Kultur- und Personal- Grund dieses Gesetzes die Haushaltskonso- kämpfe, meist provoziert von der nun unge- genschweren Irrglauben, die Nationalsoziali- politik führten zu Konflikten mit dem Reich lidierung durch Finanzminister Baum voran- hemmt agierenden NSDAP, in der konstruk- sten durch Einbindung in die Regierungsver- und zu Verfassungsklagen auf Landes- und getrieben werden, andererseits wurde es aber tiven Gesetzgebungsarbeit weitgehend lahm antwortung gewissermaßen „entzaubern“ zu Reichsebene. Fricks Versuch, dem staatenlo- von Innen- und Volksbildungsminister Frick gelegt. Obwohl die Regierung einige der par- können, hat er mit vielen rechtsbürgerlichen sen Adolf Hitler über eine Anstellung im Thü- vor allem für die Entlassung politisch misslie- teipolitisch motivierten Maßnahmen Fricks Politikern seiner Generation geteilt. ringer Polizeidienst die deutsche Staatsbür- biger Beamter benutzt. wieder zurücknahm, konnte der nationalso- Von Januar 1933 an war Erwin Baum noch gerschaft zu verschaffen, wurde später zum Erwin Baum stand den nationalsozialisti- zialistische Einfluss in Polizei und Justiz nicht kurzzeitig in verschiedenen landwirtschaft- Gegenstand eines Landtags-Untersuchungs- schen Experimenten Wilhelm Fricks durch- vollends beseitigt werden. Die Regierungspo- lichen Genossenschaftsverbänden tätig, be- ausschusses. aus kritisch gegenüber. Er war als Vorsitzen- litik blieb ausgesprochen rechtskonservativ vor er sich schließlich als Ruheständler auf Um sich für die tiefgreifenden und auf der des Staatsministeriums jedoch gezwun- orientiert. seinen Hof in Rauschwitz zurückzog. Wäh- ein Gutachten des Reichssparkommissars gen, diese gegenüber der Reichsregierung zu Ein strikter Sparkurs, nicht zuletzt aber rend seiner letzten Lebensjahre erblindet, ist gestützten Maßnahmen zur Ordnung der verteidigen, die auf Fricks Personalpolitik vor auch die in Thüringen massiv spürbaren Aus- er dort im Jahr 1950 verstorben. Staatsfinanzen den nötigen Bewegungsspiel- allem im Polizeibereich mit einer Sperrung wirkungen der allgemeinen Wirtschaftskrise

40 41 Fritz Sauckel geb. 27.10.1894 Haßfurt (Unterfranken) gest. 16.10.1946 Nürnberg

Auf dem Weg Fritz Sauckels in die höchsten Ränge der nationalso- zialistischen Machthierarchie war die reichlich acht Monate währende Amtszeit als Vorsitzender des Thüringischen Staatsministeriums und Minister des Innern nur eine kurze Episode. Für Thüringen aber be- gann ein verhängnisvoller Weg, der über die Abkehr von demokrati- schen Verhältnissen und den Verlust der Eigenständigkeit des Landes in den Zusammenbruch des Jahres 1945 führte. Auch nach seinem Ausscheiden aus der Landesregierung hat Sauckel diese Entwicklung Fritz Sauckel, als NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter maßgeblich geprägt. Er Vorsitzender des profilierte sich als einer der machtbewusstesten und skrupellosesten Staatsministeriums Funktionäre der NS-Elite. 1932–1933 Als junger Mann hatte sich Friedrich (Fritz) Sauckel für die See- fahrt als Lebensberuf entschieden. Folglich begann der Sohn eines Postassistenten und einer Näherin nach der mittleren Reife ab 1910 eine Ausbildung zum Seemann in der norwegischen und schwedi- 1932–1933 schen Handelsmarine. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges befand

43 er sich mit einem deutschen Segelschiff auf men mit einer Gruppe von Gesinnungsge- heftigen Angriffen sowohl gegen die Oppo- der Fahrt nach Australien, als dieses von der nossen selbst eingreifen, wurde aber bereits sition als auch das bürgerliche Lager. Nach französischen Marine gekapert wurde. Die in Coburg von der Polizei abgefangen. dem erzwungenen Rücktritt der beiden natio- folgenden fünf Jahre verbrachte Sauckel als Adolf Hitler belohnte dann im Jahre 1925 nalsozialistischen Regierungsmitglieder im Zivilinternierter in Frankreich. Dort beschäf- Fritz Sauckels Treue während der Zeit des April 1931 wurden diese Verbalattacken hem- tigte er sich erstmals mit politischen Themen Parteiverbotes mit der Ernennung zum Thü- mungslos forciert. Sie trugen dazu bei, den und entwickelte die Grundlagen seiner Welt- ringer Gaugeschäftsführer der NSDAP unter Landtag über weite Strecken fast handlungs- anschauung. dem Gauleiter Dr. Artur Dinter. Da Dinters re- unfähig zu machen und das Ansehen der Im November 1919, nach seiner Rückkehr ligiöses Sektierertum aber der offiziellen Par- parlamentarischen Demokratie in der Bevöl- nach Deutschland, schloss er sich dem anti- teilinie zuwider lief, wurde er im Jahre 1927 kerung herabzusetzen. Doch angesichts ei- republikanischen Deutschvölkischen Schutz- als Gauleiter abgesetzt und später auch aus ner krisengeschüttelten Wirtschaft und ho- und Trutzbund an, als dessen Gauleiter für der NSDAP ausgeschlossen. Ab September her Arbeitslosenzahlen fiel die Propaganda Unterfranken er bis 1921 fungierte. In einer 1927 war Fritz Sauckel Gauleiter der NSDAP, der NSDAP auf fruchtbaren Boden. Nach den Schweinfurter Kugellagerfabrik finanzierte er was er bis 1945 blieb. Landtagswahlen vom 31. Juli 1932 wurden als Schlosser und Dreher sein Ingenieurstu- In den Richtungskämpfen verschiedener die Nationalsozialisten mit 42,5 Prozent der überzogenen Forderungen Thüringens nicht Schlagzeile der Thüringer dium am Technikum in Ilmenau, das er nach Flügel der NSDAP vertrat er stets die Linie Stimmen zur stärksten Partei und bildeten ein. Ein freiwilliger Arbeitsdienst für Jugend- NSDAP-Zeitung zwei Jahren allerdings abbrach, um sich ganz des Parteivorsitzenden Hitler; die Mitglieder- mit Hilfe des rechtsbürgerlichen Thüringer liche sowie die Einrichtung einer „Winternot­ zur Bildung der der Politik zu widmen. Organisatorische Ar- zahlen der Thüringer NSDAP – im Jahre 1927 Landbundes die Regierung. hilfe“ brachten keine nachhaltige Linderung nationalsozialistisch beit und grob gewirkte Propaganda kamen noch weniger als 2000 – stiegen durch Sauc- Am 26. August 1932 wurde Fritz Sauckel der wirtschaftlichen und sozialen Probleme, geführten Landesregierung dem Naturell Sauckels – welcher sich ein- kels organisatorische Begabung und propa- zum Minister des Innern und zum Vorsitzen- so dass sich die Arbeitslosigkeit im Winter am 26. August 1932 mal rühmte, noch nie ein Buch gelesen zu gandistischen Einsatz stark an. den des Staatsministeriums gewählt. Bis auf 1932/33 sogar noch verschärfte. Stimmenver- haben – eher entgegen als die intellektuelle In den Landtag von Thüringen waren über einen Staatsrat, den der Landbund zugespro- luste der NSDAP bei den Reichstagswahlen Herausforderung eines Studiums. eine „Vereinigte Völkische Liste“ bereits 1924 chen bekam, gehörten alle Mitglieder des im November 1932 waren die Folge. Ab 1922 betätigte er sich in der national- nationalsozialistische Abgeordnete eingezo- siebenköpfigen Kabinetts der NSDAP an. In Auf dem Feld der symbolischen Politik sozialistischen Bewegung und war 1923 Mit- gen, die von der scharfen politischen Po- seiner ersten Regierungserklärung bekannte suchte die Regierung von den wirtschaftli- begründer der NSDAP-Ortsgruppe in Ilme- larisierung nach dem Ende der SPD/KPD- sich das neue Staatsministerium zur „natio- chen Missständen abzulenken. Dazu gehör- nau. Hier gab er mit dem „Deutschen Aar“ „Arbeiterregierung“ im Jahre 1923 profitieren nalen und völkischen Staatsauffassung“ so- ten die Einführung eines „Wechselspruches ab 1924 auch die erste nationalsozialistische konnten. Im Anschluss an die Wahlen vom wie zur Selbstständigkeit des Landes Thü- gegen die Kriegsschuldlüge“ an den Schu- Zeitung Thüringens heraus. Als die NSDAP Dezember 1929, die zur erstmaligen Beteili- ringen. Es versprach Maßnahmen zur Behe- len, die Wiederzulassung der Reichsfarben nach dem misslungenen Putsch Hitlers im gung der NSDAP an einer deutschen Landes- bung der wirtschaftlichen Not. Doch diese Schwarz-Weiß-Rot zur Beflaggung öffentli- November 1923 verboten wurde, gründete regierung führten, übernahm Fritz Sauckel Versprechung, deren Erfüllung die Wähler cher Gebäude und ein Gesetz gegen das Sauckel in Ilmenau eine der zahlreichen na- die Führung der NSDAP-Landtagsfraktion. am meisten erhofft hatten, sollte fast aus- Schächten von Tieren, das vorwiegend anti- tionalsozialistischen Tarnorganisationen. In Die parlamentarische Bühne und den Pro- schließlich mit Finanzmitteln des Reiches semitische Intentionen verfolgte. Propagan- den Münchner Hitler-Putsch wollte er zusam- pagandaapparat seiner Partei nutzte er zu umgesetzt werden. Das aber ließ sich auf die distisch durchaus wirksam war die freiwillige

44 45 Kürzung der Ministergehälter zu Gunsten beschloss dieser Landtag ein Ermächtigungs- worden, dem Reichsstatthalter Sauckel die Rolle eines „Schutz- und des Freiwilligen Arbeitsdienstes, die jedoch gesetz, das der Regierung auf unbestimmte Trutzgaues“ des Deutschen Reichs zugedacht hatte. schon im März 1933 aufgehoben wurde. Zeit den Erlass von Gesetzen ohne parlamen- Seine persönliche Macht versuchte er durch eine Stärkung der Trotz insgesamt rückläufiger Wählergunst tarische Zustimmung und sogar ohne Ver- Gaue gegenüber der Reichsverwaltung sowie durch die Einbeziehung sah die Thüringer Regierung ihren Kurs nach fassungsbindung gestattete. Das Parlament der preußischen Gebietsteile Thüringens in seinen Einflussbereich Hitlers Ernennung zum Reichskanzler bestä- hatte sich damit seiner Existenzberechtigung zu erweitern. Ab 1936 sicherte ihm die Behördenkonstruktion eines tigt. Am 14. Februar 1933 tagte der Thüringer selbst beraubt; am 14. Oktober 1933 wurde dem Reichsstatthalter direkt unterstellten „Staatssekretärs und Lei- Landtag zum letzten Mal mit den gewählten der Landtag dann auch offiziell aufgehoben. ters des Thüringischen Ministeriums des Innern“ den unmittelbaren Abgeordneten aller Parteien. Bald darauf rich- Auf der Grundlage des „Zweiten Geset- Zugriff auf das wichtigste Ressort der Landesregierung, die viele ihrer teten sich erste willkürliche Repressionen ge- zes zur Gleichschaltung der Länder mit dem Kompetenzen im Zuge der „Gleichschaltung“ ohnehin schon an das gen Mitglieder und Funktionäre der KPD, für Reich“ ernannte Reichspräsident Hinden- Reich abgetreten hatte. deren „Sicherheitsverwahrung“ ein Lager in burg am 5. Mai 1933 Fritz Sauckel zum Nachdem Sauckel im Jahre 1939 zum Reichsverteidigungskom- Nohra bei Weimar eingerichtet wurde. Aus Reichsstatthalter in Thüringen. Die Kompe- missar für den Wehrkreis IX und damit auch das preußische Thürin- den Reihen von SS und SA rekrutierten sich tenzen dieses Amtes sowie die Führung des gen ernannt worden war, nahm er ab Juli 1944 auch die Befugnisse Hilfspolizeitruppen für die Verfolgung kom- NSDAP-Gaues erhoben ihn zur zentralen eines Oberpräsidenten für den Regierungsbezirk Erfurt wahr. Kurz munistischer Funktionäre. Machtinstanz in Thüringen. Die Landesregie- vor dem Ende des „Dritten Reiches“ hatte seine Machtfülle ihren Nach den Reichstagswahlen vom 5. März rung, aus der Sauckel ausscheiden musste Zenit erreicht. Seit März 1942 fungierte Fritz Sauckel zudem noch im 1933 wurde in Thüringen – einige Tage frü- und die nun von Willy Marschler als Minister- Reichsmaßstab als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz. Thüringer Landeswappen her als im Reich – die Hakenkreuzfahne der präsident geleitet wurde, wurde vom Reichs- Er wurde zum Hauptverantwortlichen für das Schicksal von Millionen von 1933–1945 Landesflagge gleichberechtigt zur Seite ge- statthalter eingesetzt und war ihm rechen- Zwangsarbeitern. stellt. Nun erfasste die Verfolgung der po- schaftspflichtig. Als sich der Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ auch für den litischen Opposition zunehmend auch die Damit war Thüringen vollends im „Füh- fanatischsten Nationalsozialisten abzeichnen musste, wollte sich SPD. Ab März 1933 durfte ihr kein Thürin- rerstaat“ angelangt. Das kam durch das neue Sauckel am 10. April 1945 seiner politischen Verantwortung durch die ger Beamter mehr angehören. Unaufhaltsam Landeswappen vom August 1933 auch in der Flucht aus der thüringischen Landeshauptstadt Weimar entziehen, geriet das Land Thüringen in den Sog der Staatssymbolik zum Ausdruck. Die Institu- die zwei Tage später von amerikanischen Streitkräften besetzt wurde. Gleichschaltungspolitik des Reiches, mit der tion des Reichsstatthalters stand ausserhalb Wenige Tage darauf geriet er dann in Oberbayern in amerikanische das föderale System schrittweise ausgeschal- der Traditionslinie demokratisch legitimier- Gefangenschaft. Vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg tet wurde. So setzte sich der VII. „gleichge- ter Landesregierungen. Sie war vielmehr ein als Hauptkriegsverbrecher angeklagt, wurde er am 1. Oktober 1946 schaltete“ Landtag von Thüringen auf Grund Instrument zur Beseitigung der Eigenstaat- wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Gesetzes zur „Gleichschaltung der Län- lichkeit der Länder, die mit dem „Gesetz über zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet. der mit dem Reich“ lediglich nach dem Er- den Neuaufbau des Reichs“ vom 30. Januar gebnis der Reichstagswahlen vom 5. März 1934 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. zusammen. Die Mandate der KPD wurden Thüringen war damit wie alle deutschen Län- nicht mehr berücksichtigt. Am 3. Mai 1933 der faktisch zum Reichsverwaltungsbezirk ge-

46 47 Willy Marschler geb. 12.8.1893 Liegnitz gest. 8.11.1952 Karlsruhe

In der Zeit des „Dritten Reichs“ hatte sich NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter Fritz Sauckel als zentrale Führungsfigur in Thürin- gen etabliert. Das Amt und die Person des Thüringischen Minister- präsidenten mussten zwangsläufig in den Hintergrund rücken, da unter der nationalsozialistischen Diktatur die deutschen Länder ihrer Selbstständigkeit fast vollständig beraubt wurden. Sie waren zu Ob- Willy Marschler, jekten der Reichsverwaltung sowie einer totalitären Parteiherrschaft Ministerpräsident degradiert worden. 1933–1945 Herkunft und Bildungsweg prädestinierten den Sohn eines Müh- lenbesitzers aus dem schlesischen Liegnitz kaum für eine spätere Laufbahn in der Politik. Nach dem Besuch der Volksschule in Liegnitz und Plauen sowie einer Kaufmannslehre in Adorf (Vogtland) arbeitete Willy Marschler in mehreren deutschen Städten als kaufmännischer 1933–1945 Angestellter. 1914 ließ er sich schließlich in Ilmenau nieder.

49 Während des Ersten Weltkrieges diente ber 1933 erfuhr keine Unterbrechung mehr. nahm aber an den Regierungssitzungen mit Marschler von Oktober 1914 bis zum Kriegs- Marschler galt in der NSDAP als „dienstäl- vollem Stimmrecht teil. ende als Infanterist und wurde zweimal ver- tester Parlamentarier der Bewegung“. Gegenüber den nicht nur in ganz Deutsch- wundet. Ende 1918 kehrte er nach Ilmenau Sofort nach der Aufhebung des Parteiver- land Aufsehen erregenden Kapriolen und zurück. Dort war er, nach einer kurzen Zwi- botes im Jahre 1925 schloss sich Marschler Machtproben des nationalsozialistischen In- schenstation als Handlungsgehilfe in Halle/ wieder der NSDAP an. Er avancierte zum nen- und Volksbildungsministers Dr. Wil- Saale, als Eisenhändler tätig. Gauschatzmeister und vorübergehend auch helm Frick blieb das Wirken Marschlers in Die Anfänge seines politischen Wirkens zum stellvertretenden Gauleiter. Seinen er- der Regierung völlig im Hintergrund. Folg- gehen auf seine ehrenamtliche Betätigung lernten Beruf übte er seit dieser Zeit nicht lich waren es dann auch die Politik Fricks im konservativen Deutschnationalen Hand- mehr aus. Er widmete sich ausschließlich sei- und mehr noch die sie begleitende NS-Pro- lungsgehilfenverein zurück. Richtungswei- nen Ämtern im Landtag und in der Partei. Als paganda, welche Frick und Marschler am send für Marschlers Karriere war der Beitritt Stadtrat in Ilmenau und Leiter der kommu- 1. April 1931 nach einem Misstrauensvotum zu der von Fritz Sauckel mitbegründeten nalpolitischen Beratungsstelle der NSDAP- des Landtages zum Rücktritt zwangen. Die Ilmenauer NSDAP-Ortsgruppe im Herbst Gauleitung profilierte er sich auf dem Gebiet daraufhin umgebildete bürgerliche Minder- 1922. Dort machte er zum ersten Mal die per- der Kommunalpolitik und war als Gau- und heitsregierung sollte nur ein kurzes Inter- sönliche Bekanntschaft des späteren Gaulei- Reichsredner auch über die Grenzen Thürin- mezzo bleiben; ihre radikale Sparpolitik wie ters und Reichsstatthalters. gens hinaus propagandistisch aktiv. auch die allgemeine wirtschaftliche Situation Bei den Wahlen zum III. Landtag von In Folge der Landtagswahlen vom De- verschafften der NSDAP, die aus der Oppo- Thüringen am 10. Februar 1924 kandidierte zember 1929 kam es zu der bis dahin in sition heraus allen alles versprechen konnte, Marschler, da die NSDAP nach dem geschei- Deutschland einmaligen Regierungsbeteili- noch stärkeren Zulauf. Für diese Tendenz ausscheiden musste, ernannte er auf Grund SA-Leute entfernen im terten Münchener Bierkeller-Putsch Hitlers gung von Mitgliedern der NSDAP, da die steht auch die Wahl Willy Marschlers zum seiner neuen Kompetenz am 8. Mai 1933 Jahr 1933 die Gedenktafel vom November 1923 auch in Thüringen noch rechtsbürgerlichen Parteien Thüringens jeg- Bürgermeister von Ohrdruf am 10. Juli 1931, ein umgebildetes Kabinett. An dessen Spitze für die Deutsche verboten war, für die „Vereinigte Völkische Li- liche Koalition mit den Sozialdemokraten womit die NSDAP erstmals ein Stadtober- stand unter Beibehaltung der bisherigen Res- Nationalversammlung am ste“. Die konnte auf Anhieb über neun Pro- als stärkster Landtagsfraktion entschieden haupt in Thüringen stellte. sorts Willy Marschler. Weimarer Nationaltheater. zent der Stimmen erringen. ablehnten. Am 23. Januar 1930 wurde Willy Im August des folgenden Jahres, nach ei- Durch ein Gesetz vom gleichen Tage Das Ende der SPD/KPD-Koalitionsregie- Marschler als Staatsrat für das Gebiet Wei- ner abermals vorzeitigen Demission der Lan- führte er nun die Amtsbezeichnung „Mini- rung hatte ein politisches Klima geschaffen, mar in die Landesregierung unter dem Vor- desregierung und vorgezogenen Neuwahlen, sterpräsident“; die darin zum Ausdruck kom- das auch für Parolen vom rechten Rand emp- sitzenden Staatsminister Erwin Baum (Thü- wurde die erste nationalsozialistische Lan- mende Abkehr von der traditionellen Kolle- fänglich war. Willy Marschler war einer der ringer Landbund) gewählt. Im Sinne der desregierung unter dem Vorsitz von NSDAP- gialverfassung der Thüringer Landesregie- sieben Abgeordneten dieser Liste, über die Landesverfassung fungierte ein Staatsrat in Gauleiter Fritz Sauckel gebildet. Darin über- rung wurde im Oktober 1933 auch gesetzlich zum ersten Mal Nationalsozialisten in ein erster Linie als Vertreter einer der ehemali- nahm Marschler die Ministerien für Wirt- verankert. Danach besaß der Ministerpräsi- deutsches Landesparlament einzogen. Seine gen sieben Thüringer Freistaaten. Er besaß in schaft und Finanzen. Da Sauckel nach seiner dent in Umsetzung des „Führerprinzips“ die Mitgliedschaft im Landtag von Thüringen der Regel keinen eigenen Geschäftsbereich, Ernennung zum Reichsstatthalter in Thürin- Richtlinienkompetenz gegenüber den ande- von 1924 bis zu dessen Aufhebung im Okto- gen im Mai 1933 aus der Landesregierung ren Regierungsmitgliedern, war aber gleich-

50 51 Er setzte dort einen ihm direkt unterstellten ihren jeweiligen Positionen das Rückgrat des Staatssekretär als Leiter ein. NS-Unrechtsregimes bildeten. Dabei hatten Die Thüringer Landesregierung bestand nicht fachliche Qualifikationen, sondern in von diesem Zeitpunkt bis zum Jahre 1945 fak- erster Linie seine politischen Meriten als „al- tisch nur noch aus dem Ministerpräsidenten, ter Kämpfer“ Marschlers Laufbahn geebnet. der gleichzeitig Leiter dreier Fachressorts war. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere stand ein Daneben nahm die Zahl von über 20 Staats- klangvoller Titel, der nach und nach zur blo- räten geradezu inflationäre Ausmaße an. Das ßen Fassade wurde. Trotzdem harrte Marsch- bedeutete den Wandel dieses Amtes, dessen ler bis zum Zusammenbruch auf seinem Po- Bestehen die Landesverfassung ohnehin nur sten aus. für eine Übergangszeit festgeschrieben hatte, Im Mai 1945 wurde er durch US-Besat- zu einer bloßen Titelpfründe. zungstruppen in Gera verhaftet und durch- In einem zum Reichsverwaltungsbezirk lief mehrere Internierungslager in der ame- herabgesunkenen Land konnte der Minister- rikanischen Besatzungszone. Wegen einer präsident jedoch keine politischen Akzente schweren Erkrankung wurde er jedoch schon Ministerpräsident mehr setzen. Die entscheidenden Machtbe- im Oktober 1946 aus dem Lager Darmstadt Marschler (Bildmitte) bei fugnisse lagen in den Händen von Reichstatt- auf Bewährung entlassen. Auch nach der Ver- einer Fabrikbesichtigung halter und Gauleiter Fritz Sauckel. Marsch- urteilung durch eine bayerische Entnazifizie- in Meuselwitz lers Kompetenzverluste als Regierungschef rungs-Spruchkammer, deren Strafmaß sich im Jahre 1933. konnten auch nicht durch die Übertragung mangels überlieferter Akten nicht mehr re- zahlreicher weiterer Ämter und Titel (Mitglied konstruieren lässt, blieb er bis an sein Le- zeitig dem Reichsstatthalter für die Führung einer leeren Hülle. Immer mehr Befugnisse des Reichstages ab 1933, ab 1936 Landesjä- bensende auf freiem Fuß. Ab 1950 betrieb er der Regierungsgeschäfte verantwortlich. des Landes gingen direkt auf das Reich über germeister und Leiter des Landesfremdenver- zusammen mit seiner Ehefrau ein kleines Ge- Der Thüringer Landtag hatte sich zu die- oder unterstanden der Dienstaufsicht der kehrsverbandes, Leiter des Landesamtes für schäft in Karlsruhe. Er starb hier am 8. No- sem Zeitpunkt durch die Verabschiedung entsprechenden Reichsministerien. 1935 wur- den Vierjahresplan, Gauobmann der Deut- vember 1953. eines umfassenden Ermächtigungsgesetzes den alle deutschen Landesjustizministerien schen Arbeitsfront, SA-Obergruppenführer all seiner Kompetenzen selbst beraubt. Er aufgelöst. ab 1941) kompensiert werden. stand kurz vor der endgültigen Aufhebung. Nach der Ernennung des bisherigen In- Wenn Marschler auch nicht den klassi- Zwar war nun der Thüringer Regierungschef nen- und Volksbildungsministers Fritz Wächt- schen Typus des fanatischen und skrupello- mit einer bis dahin nicht gekannten Macht- ler zum Gauleiter und Reichsstatthalter in sen Nationalsozialisten verkörperte und in fülle ausgestattet worden, doch im Gegen- Bayreuth übernahm Willy Marschler ab 1936 dieser Hinsicht ein gewisses Gegenbild zu zug machte der forciert ablaufende Prozess auch die Leitung des Volksbildungsministe- Reichsstatthalter Sauckel abgab, so waren es der „Verreichlichung“ aller Zweige der Lan- riums. Den Zugriff auf das Innenministerium doch gerade Funktionäre und Amtsträger wie desverwaltung dieses Amt zunehmend zu sicherte sich Reichsstatthalter Sauckel selbst. er, die durch unkritische Pflichterfüllung auf

52 53 Dr. Hermann Brill geb. 9.2.1895 Gräfenroda gest. 22.6.1959 Wiesbaden

Nach der Besetzung Thüringens durch amerikanische Truppen im April 1945 und dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur hatte sich dem Land die Chance eines demokratischen Neubeginns er- öffnet. Die von der US-Militärregierung eingesetzte Regierung der „Provinz Thüringen“, an deren Spitze Dr. Hermann Brill stand, am- tierte auf Grund des im Juli 1945 vollzogenen Besatzungswechsels nur wenige Wochen. Brills Bedeutung für die politische Geschichte Thüringens reicht jedoch über die kurzzeitige Existenz dieser ersten Dr. Hermann Louis Brill, Nachkriegsregierung hinaus und bis in die Jahre der Weimarer Re- Regierungspräsident 1945 publik zurück. Hermann Louis Brill wuchs im thüringischen Ohrdruf in einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus auf. Gelegentlich war bei seinem Vater, einem Schneidermeister, auch August Bebel zu Gast. Ein schon früh ausgeprägtes literarisches und politisches Interesse bestimmte Brills Entscheidung für den Lehrerberuf, auf den er sich 1945 ab 1909 am Herzog-Ernst-Seminar in Gotha vorbereitete.

55 Im Anschluss an die erste Lehrerprüfung im tarische Demokratie der Weimarer Republik Brill schon bald nach dem Machtantritt Hit- zipiert. Auf dessen Grundlage strebte Brill August 1914 meldete Brill sich als Freiwilli- ein. Ab August 1923 im Thüringischen Mi- lers zur Zielscheibe offener Repressionen. die organisatorische Einheit der deutschen ger zum Kriegsdienst, den er u. a. als Ballon- nisterium des Innern als Ministerialdirektor Der kurzzeitigen Schutzhaft im Landgerichts- Arbeiterbewegung an. Es war das theoreti- führer bei den Feldluftschiffertruppen ablei- auch Leiter der Polizeiabteilung begegnete gefängnis Gotha (Juni/Juli 1933) folgten die sche Fundament seines neuen politischen stete. Als Konsequenz aus dem Kriegserleb- er im Herbst 1923 entschieden der Gefahr ei- Entlassung aus dem Staatsdienst und der Lebensabschnittes, welcher nach der Entlas- nis, das seinen anfänglichen patriotischen nes kommunistischen Putschversuches. Da- Entzug der Beamtenrechte. sung aus dem Konzentrationslager und der Überschwang recht schnell schwinden ließ, bei geriet er zum ersten Mal in Konflikt mit In Berlin, wohin er 1934 verzogen war, am 27. April 1945 erfolgten Ernennung zum trat Hermann Brill noch im Oktober 1918 in Walter Ulbricht, welcher zu dieser Zeit der schlug er sich und seine Familie als freier Berater der amerikanischen Militärregierung die USPD ein. Bis 1921 arbeitete er als Volks- Thüringer KPD-Bezirksleitung vorstand. Das Schriftsteller durch. Gleichzeitig leistete er in Weimar begann. schullehrer in Finsterbergen und Tambach- Ende der Thüringer „Arbeiterregierung“ im als Mitglied der Widerstandsgruppen „Neu Durch die amerikanische Besatzungsar- Dietharz, doch wurde die Ausübung seines Herbst 1923 und der darauf folgende Wahl- Beginnen“ und „Deutsche Volksfront“ pro- mee, die am 12. April 1945 in die Thüringer Berufes zunehmend von der politisch-parla- sieg des bürgerlichen „Ordnungsbundes“ grammatische Vorarbeiten für einen demo- Landeshauptstadt eingerückt war, waren alle mentarischen Tätigkeit überlagert. hatten Brills Versetzung in den Wartestand kratischen Sozialismus. Die Geheime Staats- hier ansässigen Reichs- und Landesbehörden Der Abgeordnetentätigkeit in der Gotha- zur Folge. polizei konnte diese konspirativen Aktivitäten dem kommissarischen Oberbürgermeister ischen Landesversammlung und im Volksrat Von 1924 bis 1927 studierte er Rechts- jedoch aufdecken. von Weimar unterstellt worden. Dieser über- von Thüringen folgte im Juni 1920 die Wahl und Wirtschaftswissenschaften sowie Philo- Der Volksgerichtshof verurteilte Brill im trug Hermann Brill am 7. Mai die Führung in den Landtag von Thüringen. Da sich Brill sophie und Soziologie an der Universität Jena Juli 1939 zu zwölf Jahren Zuchthaus wegen der Geschäfte des Thüringischen Staatsmi- schon im Freistaat Gotha als Schulpolitiker und promovierte dort im Jahre 1929 zum Dr. Vorbereitung zum Hochverrat. Bis 1943 ver- nisteriums und der nachgeordneten Fachmi- profiliert hatte, wurde er im Oktober 1921 jur. An der Heimvolkshochschule Tinz bei büßte er die Strafe im Zuchthaus Branden- nisterien im Stadtkreis Weimar. Die darauf- als Regierungsrat in das Thüringische Volks- Gera wirkte er als Gastlehrer für Staats- und burg-Görden und wurde anschließend als hin von Brill eingesetzten Bevollmächtigten bildungsministerium nach Weimar berufen. Verwaltungsrecht. „nicht besserungsfähiger Gefangener“ in für die einzelnen Ministerien stammten aus Dort wirkte er maßgeblich an den Schulrefor- Wegweisend für Hermann Brills künftige das KZ Buchenwald überführt. Seine Wider- allen antifaschistischen Parteien und bilde- men der sozialdemokratisch geführten Lan- politische Vita sollte im Jahre 1932 die Lei- standskraft aber war ungebrochen; nachdem ten den personellen Grundstock für die Re- desregierung und ihres Volksbildungsmini- tung des Landtags-Untersuchungsausschus- er schon im Zuchthaus Brandenburg zur Füh- gierung der „Provinz Thüringen“, zu deren sters Max Greil (USPD) mit. ses werden, der sich mit den Vorgängen rungsgruppe der politischen Häftlinge ge- Präsidenten Hermann Brill am 9. Juni 1945 Als Staatsrat für Gotha war er von Okto- um die versuchte Einbürgerung Adolf Hitlers hört hatte, leitete er in Buchenwald das ille- vom Militärregierungsoffizier des VIII. US- ber 1921 bis Oktober 1923 das jüngste Mit- durch den nationalsozialistischen Thüringer gale Deutsche Volksfrontkomitee aus Sozial- Korps ernannt wurde. glied der Regierung. Von seinen aus der Tra- Innenminister Wilhelm Frick im Jahre 1930 demokraten, Kommunisten, christlichen und Der territoriale Umriss der „Provinz Thü- dition der Gothaer Arbeiterbewegung herrüh- befass­te. Aus dem Auftreten Hitlers vor die- liberalen Demokraten. ringen“ beruhte weitgehend auf Brills „Plan renden linksradikalen Positionen rückte er in sem Ausschuss zog Brill die Konsequenz, Sein unmittelbar nach der Befreiung des für den Aufbau der Verwaltung Thüringens“. dieser Zeit ab und wechselte im Jahre 1922 dem Nationalsozialismus mit allen Mitteln Lagers verfasstes „Manifest der demokrati- Er umfasste sowohl den preußischen Regie- von der USPD zur SPD über. Im engagier- seinen Widerstand entgegen zu setzen. schen Sozialisten des ehemaligen Konzentra- rungsbezirk Erfurt mit dem Kreis Schmalkal- ten Eintreten gegen rechte und linke politi- Als Führungsfigur der Thüringer SPD und tionslagers Buchenwald“ war als Programm den als auch mehrere westsächsische Stadt- sche Extreme setzte er sich für die parlamen- deren letzter Landtags-Fraktionschef wurde einer demokratischen Volksregierung kon- und Landkreise, die unter amerikanischer Be-

56 57 Da seit Anfang Juni 1945 ohnehin feststand, Hermann Brill selbst wurde ein Opfer dieser baden und als Mitglied des Verfassungskon- dass Thüringen nicht unter amerikanischer neuen Konstellation, da er den von der Besat- vents von Herrenchiemsee an den Vorarbei- Besatzungshoheit verbleiben würde, begeg- zungsmacht protegierten KPD-Funktionären ten zum Grundgesetz der Bundesrepublik nete die US-Militärregierung allzu weitgehen- schon seit jeher ein Dorn im Auge gewesen Deutschland beteiligt. Er gehörte dem er- den Maßnahmen der von ihr eingesetzten war. Sein Auftreten gegen den in Thüringen sten deutschen Bundestag von 1949 bis 1953 Landesverwaltung ohnehin zurückhaltend. drohenden kommunistischen Umsturzver- an und nahm eine Honorarprofessur an der Dies traf gleichfalls auf die Zulassung von po- such im Herbst 1923 war unvergessen geblie- Hochschule für Verwaltungswissenschaften litischen Parteien zu, die vorerst unterblieb. ben. Mehr als 20 Jahre später waren es die in Speyer wahr. Auch der „Bund demokratischer Sozialisten“, Vertreter der KPD, die sich bei der Sowjeti- Die Entwicklung im Osten Deutschlands der von Hermann Brill noch im April 1945 schen Militäradministration dezidiert gegen bis an sein Lebensende stets kritisch ver- im KZ Buchenwald gegründet worden war den Verbleib Brills an der Regierungsspitze folgend und wissenschaftlich-publizistisch Urkunde über die und dessen Bezeichnung ganz bewusst für aussprachen. Am 16. Juli 1945 wurde deshalb kommentierend, ist er im Jahre 1959 in Wies- Ernennung von eine Abkehr von der traditionellen deutschen eine neue Landesverwaltung unter dem bis- baden verstorben. Dr. Hermann Brill zum Sozialdemokratie stehen sollte, konnte noch herigen Oberbürgermeister von Gera und jet- Regierungspräsidenten nicht offiziell wirksam werden. zigen „Landespräsidenten“ Dr. Rudolf Paul der Provinz Thüringen Anfang Juli 1945 vollzog sich dann in Thü- eingesetzt. durch die amerikanische ringen der Wechsel von der amerikanischen Der politischen Laufbahn Hermann Brills Militärregierung Soldaten der US-Streit- satzungshoheit standen. Die von Hermann zur sowjetischen Besatzungsmacht. Die von in Thüringen war nach dem Ende seiner am 9. Juni 1945 kräfte auf dem zerstörten Brill geführte Regierung, der ein „Thüringen- Hermann Brill geführte Regierung wurde zu- Amtszeit als Regierungspräsident nur noch Marktplatz von Weimar Ausschuss“ aus Vertretern aller antifaschi- nächst im Amt bestätigt und ihre bisher ge- kurze Dauer beschieden. Als Vorsitzender (April 1945) stischen Parteien als eine Art vorparlamen- troffenen Verwaltungsentscheidungen aner- des „Bundes demokratischer Sozialisten“ tarische Beratungs- und Kontrollinstanz zur kannt. Die bis dahin kurzzeitig zu Thüringen bzw. des SPD-Landesvorstandes widersetzte Seite stand, war angesichts der zusammen- gehörigen westsächsischen Gebiete gelang- er sich einer Einheit der Arbeiterbewegung gebrochenen Verkehrs- und Versorgungssy- ten allerdings ab diesem Zeitpunkt wieder unter dem Diktat der KPD. Dadurch wurde steme mit nahezu unermesslichen Proble- zum Land Sachsen. seine Stellung in Thüringen zunehmend un- men konfrontiert. Im Vordergrund standen Nach der von den Sowjets genehmigten haltbar. Eine kurzzeitige Verhaftung durch Maßnahmen zur Normalisierung des Lebens Wiederzulassung antifaschistischer Parteien die Sowjets war ein unmissverständliches der Bevölkerung und zur Sicherung der Er- wurde Brill am 8. Juli 1945 zum Landesvor- Warnsignal. Im Dezember 1945 trat er dar- nährung. Gleichzeitig war eine grundlegende sitzenden des „Bundes demokratischer So- aufhin als SPD-Landesvorsitzender zurück, Entnazifizierung und personelle Erneuerung zialisten“ gewählt. Dieser Bund benannte gab seine Tätigkeit in der Thüringischen aller Verwaltungsebenen erforderlich. Dafür sich bald darauf in SPD um und gab seinen Verwaltungsgesellschaft auf und wechselte erarbeitete Brill sehr weitgehende Richtlinien, programmatischen Sonderweg unter den als Berater der amerikanischen Militärregie- die von der Militärregierung allerdings nur nach dem Besatzungswechsel eingetretenen rung nach Berlin. Von 1946 bis 1949 war er teilweise akzeptiert wurden. neuen politischen Machtverhältnissen auf. Chef der Hessischen Staatskanzlei in Wies-

58 59 Dr. Rudolf Paul geb. 30.7.1893 Gera gest. 28.2.1978 Frankfurt am Main

Unter den Ländern der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands nahm Thüringen anfangs eine gewisse Sonderstellung ein. In den engen Grenzen der Abhängigkeit von der Besatzungsmacht wurde hier die Einführung rechtsstaatlicher Grundsätze angestrebt, die sich an der Verfassungsordnung der Weimarer Republik orientierten. Diese Entwicklung wurde maßgeblich durch die Persönlichkeit des Landes- bzw. Ministerpräsidenten Dr. Rudolf Paul geprägt. Politische Dr. Rudolf Paul, Interessengegensätze zwischen den Staaten der früheren Anti-Hitler- Landespräsident 1945-1946 Koalition, die später in den „Kalten Krieg“ und die deutsche Teilung und Ministerpräsident mündeten, sowie die auf eine schrittweise Aushöhlung des Födera- 1946–1947 lismus abzielende Politik der SED liefen jedoch einer eigenständi- gen Entwicklung der ostdeutschen Länder zuwider. Sie beschnitten die Handlungsspielräume des Thüringer Regierungschefs in einem Maße, dass Paul die Flucht in die westliche Besatzungszone als ein- 1945–1947 zig möglicher Ausweg erschien.

61 Rudolf Paul wuchs in der Familie eines Bau- antritt der Nationalsozialisten seine Anwalts- folger Brills vor. Zuvor hatte die Militäradministration die von den meisters in Gera auf und besuchte dort Volks- zulassung. Dadurch mit Berufsverbot belegt, Amerikanern eingesetzte Provinzialregierung in ihrem Amt bestätigt. schule und Realgymnasium. Nach dem Abi­ lebte er bis zum Kriegsende 1945 als Landwirt Diese Personalie ließ schon deshalb das Einverständnis der Sowjets tur studierte er ab 1913 Rechts- und Staats- auf seinem Gut in Ulrichswalde bei Stadt- erwarten, weil Paul als Oberbürgermeister von Gera den in die Stadt wissenschaften an den Universitäten roda. einrückenden Einheiten der Roten Armee einen aufwändig inszenier- und Berlin. Der Erste Weltkrieg unterbrach Während der NS-Diktatur politisch nicht ten Empfang mit geschmückten Straßen, Geläut der Kirchenglocken sein Studium. Von August 1914 bis Kriegs- kompromittiert, wurde Rudolf Paul von der und jubelnder Menschenmenge bereitet hatte. ende diente Paul in der Infanterie und Luft- amerikanischen Militärregierung am 7. Mai So wurde am 16. Juli 1945 eine neue Verwaltung des Landes Thü- waffe, wo er zuletzt den Dienstgrad eines 1945 als kommissarischer Oberbürgermei- ringen eingesetzt, an deren Spitze Dr. Rudolf Paul als „Landespräsi- Leutnants führte. Noch während des Krie- ster von Gera eingesetzt. Dem „Thüringen- dent“ stand. Der Regierung gehörten wiederum Vertreter aller antifa- ges immatrikulierte er sich an der Universität Ausschuss“, der während der amerikani- schistischen Parteien an, ansonsten waren ihre personelle Besetzung Jena, um dort ab 1919 sein Studium fortzu- schen Besatzung Thüringens als Beratungs- sowie die Ressortstruktur in der Folgezeit häufigen Wechseln unter- setzen. und Kontrollgremium der Provinzialregie- worfen. Im Anschluss an die Promotion zum Dr. rung unter Dr. Hermann Brill fungierte, ge- Rudolf Paul galt als eine der markantesten Persönlichkeiten unter jur. (1920) und den Vorbereitungsdienst war hörte er als Vertreter der – noch nicht wieder den Regierungschefs in der sowjetischen Besatzungszone. Er be- er ab 1923 kurzzeitig Staatsanwalt am Land- zugelassenen – Demokratischen Partei sowie kam im August 1945 die alleinige Gesetzgebungsgewalt im Lande gericht Gera sowie „politischer Staatsanwalt“ als stellvertretender Vorsitzender an. Obwohl Thüringen übertragen. Ein Parlament war zu diesem Zeitpunkt noch für drei Ostthüringer Landgerichtsbezirke. Da er unter der von den Amerikanern verhängten nicht wieder gewählt worden. Das begründete nach außen hin seine Paul in diesem Amt dem politischen Kurs „politischen Quarantäne“ in einem Gründer- herausgehobene Stellung in der Landesverwaltung, die er durch einen der Thüringer Linksregierung verpflichtet war, kreis für eine Demokratische Partei Thürin- betont bürgerlich-präsidialen Habitus zu betonen wusste. Gleichzei- wurde er nach deren Abwahl im Jahre 1924 gens mitwirkte, blieb er nach deren offizieller tig jedoch war er von der Sowjetischen Militäradministration abhän- Bekanntmachung über aus dem Staatsdienst entlassen. Daraufhin Zulassung im Juli 1945 zunächst parteilos. gig, deren Befehle ebenfalls faktischen Gesetzesrang besaßen. Für die Einsetzung einer ließ er sich in Gera als Rechtsanwalt nieder Nach dem Anfang Juli 1945 in Thüringen ihre Ausführung besaß Paul gegenüber der Besatzungsmacht die neuen Landesverwaltung und konnte hier eine weithin angesehene vollzogenen Wechsel von der amerikanischen volle persönliche Verantwortung. durch die sowjetische Kanzlei etablieren, die ihm zu einem gewis- zur sowjetischen Besatzungsmacht stellte Konflikte mit der nach Vorherrschaft strebenden KPD bzw. SED Militäradministration sen Wohlstand verhalf. sich die Frage einer personellen Neubeset- waren vorprogrammiert, wenn sich Paul parteipolitischen Sonder- für das Land Thüringen Ab 1925 stand Paul dem ostthüringischen zung an der Spitze der Landesregierung. Der interessen zu widersetzen versuchte. Auch nachdem er so überra- am 16. Juli 1945 Landesunterverband der Demokratischen bisher als Regierungspräsident der Provinz schend wie effektvoll der SED auf ihrem Thüringer Gründungspar- Partei (DDP) vor, in die er 1922 eingetreten Thüringen amtierende Sozialdemokrat Dr. teitag im April 1946 beigetreten war, ließ er sich doch nicht in dem war. Da Rudolf Paul in politischen Prozes- Hermann Brill war für die im Gefolge der von der Partei gewünschten Sinne steuern. Andererseits konnte sein sen als Verteidiger von Mitgliedern der Links- sowjetischen Armee aus dem Exil zurückge- eigener Einfluss auf die Linie der zentralistisch geführten SED nur parteien aufgetreten war und überdies seine kehrten KPD-Funktionäre nicht akzeptabel. marginal bleiben, obwohl er dem Landesvorstand der Partei ange- Kanzlei gemeinsam mit einem jüdischen So- Die KPD schlug deshalb der Sowjetischen hörte. Einem demokratischen Rechtsstaat, wie ihn Rudolf Paul in Thü- zius geführt hatte, verlor er nach dem Macht- Militäradministration Rudolf Paul als Nach- ringen etablieren wollte, waren deshalb von vornherein enge Grenzen

62 63 gezogen. So musste ein Thüringer Bodenre- zur Herstellung von Wirtschaftsbeziehungen bungen in der sowjetischen Besatzungszone ralismus nicht mehr in Einklang zu bringen formgesetz vom September 1945 schon nach zwischen Thüringen und mehreren Ländern überlagert werden. war. Zunehmend zermürbt von diesem Wi- wenigen Tagen kassiert werden. Angewiesen der westlichen Besatzungszone. Aber in ei- Immer häufiger geriet Paul in Konflikt derspruch, setzte sich Rudolf Paul in einer von der Besatzungsmacht wurde ein weniger nem Klima zunehmender Separationstenden- mit dem Vormachtstreben der SED und dem spektakulären Fluchtaktion am 1. September moderates Gesetz nach dem Muster der Pro- zen zwischen Ost- und Westdeutschland ka- Kurs der Sowjetischen Militäradministration. 1947 über Westberlin nach Bayern ab. vinz Sachsen erlassen. Auch die landesge- men sie nicht zum Tragen. Als Rudolf Paul im Frühjahr 1947 für drei Mo- Im Jahre 1948 trat er einer Anwaltskanzlei setzlichen Vorschriften für die Entnazifizie- Letztendlich ohne Erfolg blieben auch die nate seine Amtsgeschäfte nicht wahrnahm, in Frankfurt am Main bei, wo er bis zu sei- rung wurden durch verschärfte Bestimmun- energischen Interventionen des Thüringer musste das trotz offiziell anders lautender nem Tod im Jahre 1978 lebte, ohne politisch gen der Militäradministration aufgehoben. Landespräsidenten gegen die Einschränkung Begründungen als „politische Krankheit“ ver- in irgendeiner Weise noch einmal hervorzu- Andere Maßnahmen, die nach den Jah- von Länderkompetenzen durch die Zentral- standen werden. Die Thüringer SED-Führung treten. ren der NS-Diktatur geordnete Rechtsverhält- verwaltungen der Sowjetischen Besatzungs- wollte die dadurch ausgelöste Regierungs- nisse wieder herstellen sollten, hatten dage- zone in Berlin. Diese Einschränkungen er- krise zur Absetzung des Ministerpräsidenten gen längeren Bestand. Sie erlangten zum Teil streckten sich über den wirtschaftlichen Be- nutzen. Das wurde von der Sowjetischen Mi- Vorbildwirkung über Thüringen hinaus. Ex- reich hinaus auf immer mehr Politikfelder. litäradministration unterbunden. emplarisch dafür stehen das Wiedergutma- Konturen einer ostdeutschen Zentralregie- Trotz vieler Angriffsflächen, die sowohl chungsgesetz vom 14. September 1945 sowie rung begannen sich abzuzeichnen. seine Politik als auch seine repräsentations- die Wiedereröffnung des Oberverwaltungs- Der am 20. Oktober 1946 gewählte Thü- bewusste und aufwändige Lebensführung gerichts Jena im Juni 1946 als erstes Ober- ringer Landtag trat an die Stelle der im Juni boten, war Paul angesichts komplizierter verwaltungsgericht aller Besatzungszonen. 1946 als Vorparlament berufenen „Beraten- deutschlandpolitischer Konstellationen als Bereits am 15. Oktober 1945 konnte die Fried- den Landesversammlung“. Die Gesetzge- Bindeglied zwischen Ost- und Westzonen rich-Schiller-Universität Jena als erste Hoch- bungsgewalt ging nun vom Landespräsiden- noch nicht entbehrlich geworden. Erst das schule der sowjetischen Besatzungszone den ten auf den Landtag über. Er wählte Rudolf Scheitern der Münchener Ministerpräsiden- Lehrbetrieb wieder aufnehmen. Für sein per- Paul am 4. Dezember 1946 einstimmig zum tenkonferenz im Juni 1947, wo Rudolf Paul sönliches Engagement im Vorfeld dieser Wie- „Ministerpräsidenten“. als Sprecher der ostdeutschen Ministerpräsi- Staatsbesuch dereröffnung ernannte die Universität den Bei der Verfassungsdebatte im Landtag denten aufgetreten und vergeblich um Kom- des hessischen Landespräsidenten zu ihrem Protektor und hatte sich die SED trotz des Kompromiss­ promisse bemüht war, leitete das Ende einer Ministerpräsidenten im Juli 1946 zum Honorarprofessor für Theo- charakters der am 20. Dezember 1946 an- eigenständigen Entwicklung der ostzonalen Prof. Karl Geiler rie und Praxis der Politik. genommenen Landesverfassung in wesentli- Länder ein. Damit war auch das Ende der in Thüringen 1946 Angesichts der wirtschaftlichen Notsitua- chen Grundpositionen durchsetzen können. „Ära Paul“ in Thüringen da. (stehend: Dr. Rudolf Paul, tion des Landes, die durch die ruinöse De- Die Zugeständnisse der SED an die Länder- Ab Sommer 1947 schlugen sowjetische links: Prof. Karl Geiler) montagepolitik der Besatzungsmacht und souveränität sollten jedoch bald von den im Besatzungsmacht und SED einen dezidier- die nach Thüringen strömenden Flüchtlings- Ergebnis neuer deutschlandpolitischer Ent- ten Kurs auf die zentralstaatliche Umgestal- und Vertriebenenmassen noch verschärft wicklungen forcierten Zentralisierungsbestre- tung im Osten Deutschlands ein, der mit wurde, entfaltete Rudolf Paul rege Aktivitäten Pauls Verständnis von Rechtsstaat und Föde-

64 65 Werner Eggerath geb. 16.3.1900 Elberfeld gest. 16.6.1977 Berlin (Ost)

Ab der zweiten Hälfte der 1940er Jahre wurde die politische Ge- schichte Deutschlands von Separations- und Konfrontationstenden- zen dominiert, die schließlich im Jahre 1949 in der doppelten Staats- gründung von Bundesrepublik und DDR kulminierten. Damit wurden den fünf Ländern in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR die Grundlagen ihrer Eigenständigkeit sukzessive entzogen. 1952 erfolgte deren faktische Auflösung. Der Thüringer Ministerpräsident Dr. Rudolf Paul hatte mit seiner Flucht in die Westzone im September 1947 eine frühe Konsequenz aus dieser Entwicklung gezogen. Werner Eggerath, Mit Werner Eggerath rückte ein Vertreter der KPD/SED-Funktio- Ministerpräsident närsriege an seine Stelle. Er erwies sich nicht nur auf Landesebene als 1947–1952 linientreuer Vollstrecker zentralstaatlicher Vorgaben. Darüber hinaus spielte er als Staatssekretär im Ministerrat der DDR eine herausgeho- bene Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung der Verwaltungs- reform im Jahr 1952. Diese Verwaltungsreform beseitigte durch die Bildung von Bezirken die Länder im Osten Deutschlands. Die sozi- 1947–1952 alen Verhältnisse, in die Werner Eggerath als eines von sieben Kin-

67 dern eines Stukkateurs hineingeboren wurde, Hochverrat zu 15 Jahren Zuchthaus. Die ver- eine Regierungs- und Verfassungskrise beige- und der von ihr gesteuerten SED zuneh- haben seine spätere politische Entwicklung büßte er bis 1944 in Münster, bis er einem legt werden, die durch eine längere – offiziell mend ihre Kompetenzen zugunsten zentraler vorgeprägt. Dem Besuch der Volksschule in Bombensprengkommando in Bochum zuge- krankheitsbedingte – Abwesenheit von Mini- Verwaltungen der Sowjetischen Besatzungs- Mönchengladbach und Rheydt folgte ab 1914 teilt wurde. sterpräsident Dr. Rudolf Paul hervorgerufen zone entzog. Von einem Ministerpräsiden- eine Lehre als Schlosser, die er jedoch nach Das Kriegsende verschlug ihn nach Mit- worden war. ten Eggerath war in dieser Hinsicht kein Wi- Ausbruch des Ersten Weltkrieges im gleichen teldeutschland; in Eisleben war er zunächst Dass mit Eggerath kein Regierungsmit- derstand zu erwarten, obwohl auch er gele- Jahr wieder beenden musste. Unterbrochen Gewerkschaftssekretär und Zeitungsredak- glied, sondern der mit einem Landtagsman- gentlich Probleme mit der eigenen zentralen von einem kurzzeitigen Dienst im Militär und teur. Für kurze Zeit amtierte er als Landrat dat ausgestattete SED-Landesvorsitzende Parteiführung hatte und Selbstkritik wegen beim Grenzschutz, verdiente sich Eggerath des Mansfelder Seekreises, dann beorderte zum amtierenden Regierungschef gewählt „ideologischer Unklarheiten“ üben musste. seinen Lebensunterhalt als ungelernter Arbei- ihn die KPD-Führung im Oktober 1945 an die wurde, war ein Vorzeichen für künftige Wege Seit Februar 1947 waren die Länder der ter (u. a. als Schlosser, Bergmann und Kraft- Spitze ihrer Thüringer Bezirksleitung. Hier der Thüringer Landespolitik. Zwar stand er Sowjetischen Besatzungszone zur Abgabe Empfang der fahrer) im Rhein-Ruhrgebiet sowie von 1921 erwartete Eggerath vor allem die Aufgabe, ge- zunächst nur für kurze Zeit an der Spitze der wirtschaftlicher Kompetenzen an die Deut- Landesregierung zum bis 1927 als Grenzgänger auch in Holland. gen den Widerstand des SPD-Landesvorsit- Landesregierung, da Paul nach dem Ende sei- schen Zentralverwaltungen in Berlin gezwun- 50. Geburtstag von In der KPD, der er seit 1924 angehörte, fand zenden und früheren Regierungspräsidenten ner „politischen Krankheit“ und dem geschei- gen. Die im Jahre 1947 gegründete Deut- Ministerpräsident er eine Anstellung in der Geschäftsführung der Provinz Thüringen, Dr. Hermann Brill, terten Versuch einer Amtsenthebung durch sche Wirtschaftskommission nahm bald die Werner Eggerath eines regionalen Literaturvertriebes. die Voraussetzungen für eine Vereinigung der die SED-Landesspitze im Mai 1947 die Regie- Züge einer zentralen Zonenregierung an, de- im März 1950 Der eigentliche Beginn seiner parteipo- beiden Arbeiterparteien zu schaffen, bei der rungsgeschäfte wieder aufgenommen hatte. ren Struktur sich auch die Landesregierun- (links: Werner Eggerath) litischen Karriere fiel in das Jahr 1929, als die politische Initiative stets in den Händen Doch im Zuge der Auswechselung zweier er die Leitung der KPD-Ortsgruppe in Neuß der KPD verblieb. Mit der Gründung der SED SED-Minister in der Landesregierung über- übernahm und in die dortige Stadtverordne- in Thüringen am 7. April 1946 war dieses Ziel nahm Eggerath Ende Mai 1947 das Ministe- tenvertretung gewählt wurde. Der Funktion erreicht. Eggerath wurde zusammen mit dem rium des Innern. Sein Vorgänger Ernst Busse als Parteisekretär in der KPD-Unterbezirks- Nachfolger Brills an der Spitze der Thürin- vermochte den eigenwilligen Regierungschef leitung Wuppertal (1931-1932) folgte bis 1934 ger SPD, Heinrich Hoffmann, zum „paritäti- nicht in dem von der SED gewünschten Sinne ein Studium an der Moskauer Lenin-Partei- schen“ Vorsitzenden der SED-Landesleitung zu kontrollieren und war überdies Vorwürfen hochschule, wo er sich für höhere Aufgaben gewählt. wegen seiner Vergangenheit als Funktions- in seiner Partei qualifizieren sollte. Unter den Ab Juni 1946 gehörte Werner Eggerath als häftling im KZ Buchenwald ausgesetzt. Bedingungen der Illegalität kehrte Eggerath von der SED berufener Vertreter der vorparla- Endgültig an die Spitze der Thüringer im Februar 1934 nach Deutschland zurück mentarischen Beratenden Landesversamm- Landesregierung gelangte Werner Eggerath und war in Berlin für die Reichsleitung der lung, seit Oktober 1946 dann dem neuen dann am 8. Oktober 1947, als ihn der Landtag KPD sowie der kommunistischen Gewerk- Thüringer Landtag an. Dieser wählte Werner zum Nachfolger des in die Westzone geflo- schaftsorganisation tätig. Im Januar 1935 fiel Eggerath am 27. März 1947 auf der Grund- henen Ministerpräsidenten Paul wählte. er der Geheimen Staatspolizei in die Hände. lage eines zwei Tage zuvor eigens zu diesem Rudolf Paul hatte nicht zuletzt gegenüber Der Volksgerichtshof verurteilte Werner Eg- Zweck verabschiedeten Gesetzes zum Stell- einer Entwicklung resigniert, die den Län- gerath im April 1936 wegen Vorbereitung zum vertreter des Ministerpräsidenten. So konnte dern unter dem Druck der Besatzungsmacht

68 69 gen anzupassen hatten. Das zunächst auf 1948 nach und nach aufgehoben worden, löst. Zusammen mit einer vergrößerten Zahl den wirtschaftlichen Sektor begrenzte, dann bis dann im Juli 1950 ein pauschales Aufhe- von Landkreisen sowie völlig neu strukturier- aber auch auf andere Bereiche ausgedehnte bungsgesetz erging. Das Land Thüringen be- ten Verwaltungsbehörden und Volksvertre- Gesetzgebungsrecht der Deutschen Wirt- gann mehr und mehr eine Art staatsrechtli- tungen war damit der Wirkungsrahmen für schaftskommission schränkte die Rechte der che Scheinexistenz zu führen. das der sowjetischen Staatslehre entlehnte ostdeutschen Landtage empfindlich ein. Die Am 23. Mai 1952 wurde Werner Eggerath Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ Landesregierungen wurden zu Vollzugsorga- zum Staatssekretär im Ministerrat der DDR geschaffen worden. nen zentraler Entscheidungen degradiert. und Leiter der Koordinierungs- und Kontroll- Als Staatssekretär im DDR-Ministerrat Die Einführung einer langfristigen und stelle für die Arbeit der Verwaltungsorgane fungierte Eggerath noch bis 1954 und war da- zentralen Planwirtschaft in der Sowjetischen ernannt. Die Geschäfte des Thüringer Mini- nach bis 1957 DDR-Botschafter in Rumänien. Besatzungszone war ein weiterer Faktor zur sterpräsidenten übte ab diesem Zeitpunkt In- Am Ende seiner Funktionärslaufbahn stand Aushöhlung der Länderbefugnisse. Als die nenminister Gebhardt aus, ohne dass Egge- das Amt des Staatssekretärs für Kirchenfra- sich seit 1947 abzeichnende Tendenz zur rath formell zurückgetreten war. Gleichzeitig gen, von dem er, offiziell aus gesundheitli- deutschen Zweistaatlichkeit im Jahre 1949 stand Werner Eggerath einer zentralen Kom- chen Gründen, Ende 1960 zurücktrat. zur Gründung der Bundesrepublik Deutsch- mission der DDR-Regierung sowie einem Or- Nunmehr konnte er sich ganz der schrift- land und der DDR führte, besaßen die Länder ganisationskomitee der SED vor. Beide be- stellerischen Betätigung widmen, die er be- im Osten Deutschlands keine reale Perspek- reiteten unter weitgehender Geheimhaltung reits in den 1920er Jahren als „Arbeiterkor- tive mehr. Zwar schrieb die Verfassung der eine tiefgreifende Verwaltungsreform in der respondent“ begonnen hatte. Diese Arbeit DDR die Ländergliederung fest, verwies auf DDR vor. Erst auf der II. Parteikonferenz der setzte er nun mit vorwiegend autobiografi- der anderen Seite jedoch viele ursprünglich SED im Juli 1952, die den „planmäßigen Auf- schen und politisch-propagandistischen Pu- den Ländern obliegende legislative und exe- bau des Sozialismus“ in der DDR und damit blikationen fort. Mit den höchsten Auszeich- kutive Befugnisse an die Volkskammer und die Abkehr von Bestrebungen zur deutschen nungen der DDR geehrt (u. a. Karl-Marx-Or- den Ministerrat. Einheit beschloss, wurden die Grundzüge den), starb er im Jahre 1977 in Berlin. Unter diesen Rahmenbedingungen konnte dieser Verwaltungsneugliederung des DDR- die Thüringer Landesregierung keine eigenen Staatsgebietes der Öffentlichkeit bekannt ge- Akzente mehr setzen. Dass sie sich nach den macht. Landtagswahlen vom Oktober 1950, die auf Mit dem „Gesetz über die weitere Demo- der Basis von Einheitslisten stattfanden, un- kratisierung des Aufbaus und der Arbeits- Mitteilung an den ter Ministerpräsident Eggerath noch einmal weise der staatlichen Organe im Lande Thü- Präsidenten des Thüringer neu konstituierte, hatte nur noch formale Be- ringen“ vom 25. Juli 1952, das sich an den Landtages über den deutung. Wortlaut eines entsprechenden DDR-Geset- Rücktritt der Regierung Die seit 1945 in Thüringen verabschiede- zes anlehnte, wurde das Land Thüringen nach Konstituierung des ten Landesgesetze, die für einen rechtsstaat- letztendlich in die drei Bezirke Erfurt, Gera am 15. Oktober 1950 neu lichen Neubeginn stehen sollten, waren seit und Suhl gegliedert und damit faktisch aufge- gewählten Landtages

70 71 Josef Duchacˇč geb. 19.02.1938, Bad Schlag (Sudetenland)

Josef Duchacˇč war der erste Ministerpräsident Thüringens nach der Wiederentstehung des Landes. Er hat in der außerordentlich schwie- rigen Zeit des Neubeginns für das Land Verantwortung übernom- men. Auch wenn seine Politik bislang in Zeitungsartikeln mitunter als „glücklos“ kommentiert wurde: Josef Duchacˇčč hat in seinem Amt Akzente gesetzt, die bis heute im Freistaat Thüringen nachwirken. Er hat Grundsteine mit gelegt, die dazu beigetragen haben, dass Josef Duchacˇč, Thüringen in vielen Bereichen erfolgreicher ist als die anderen jun- Ministerpräsident gen Länder. 1990–1992 Immer wieder neu beginnen, neue Anfänge machen zu müssen, das ist ein prägendes Element seines Lebenslaufes: Josef Duchacˇčč wird 1938 in Bad Schlag im Sudetenland geboren. Nach dem Krieg wird seine Familie vertrieben; in Gotha findet die Familie eine neue, aber keine einfache Heimat. Denn die Familie Duchacˇčč kann sich 1990–1992 kaum zu ihrer sudetendeutschen Identität bekennen. Spätestens seit

73 1950 hatte die DDR die sogenannte „Umsied- gesamt zurückhaltend. Lediglich von 1986 bis DDR, Lothar de Maizière, zum Landesspre- und der umfassende Umbau des Wirtschafts- lerfrage“ einfach für „erledigt“ erklärt. 1989 ist er stellvertretender Kreisvorsitzender cher für das neu zu bildende Land Thürin- systems, der Umbau des Bildungs- und Der Sohn einer Arbeiterfamilie krönt den der CDU in Gotha. gen ernannt. Josef Duchacˇč erwirbt sich den Rechtssystems müssen bewältigt werden. Neuanfang, den seine Eltern nach dem Krieg In der gleichen Zeit sammelt Josef Duchacˇčč Ruf, ein Mann des Ausgleichs zu sein und Neue wirtschaftliche Perspektiven müssen gewagt haben, zunächst mit dem Einstieg in seine ersten Erfahrungen im Bereich der öf- will Menschen unterschiedlichster politischer geschaffen werden. Gravierende Umweltzer- eine akademische Laufbahn: Nach dem Abi­ fentlichen Verwaltung: Er wechselt aus dem Couleur für den Aufbau begeistern. Dass er störungen müssen gestoppt und bekämpft tur 1957 beginnt Josef Duchacˇčč ein Studium Gummiwerk Waltershausen in den Rat des dabei an Amtsleitern aus der SED-Zeit fest- werden. Eine funktionierende Verwaltung der Chemie und der Mathematik am Pädago- Kreises Gotha. Dort ist er für die Wohnungs- hält, trägt ihm bereits zu diesem Zeitpunkt muss aufgebaut werden. Vor allem die stei- gischen Institut Mühlhausen. Ein Studium, wirtschaft zuständig. Eine Aufgabe, die er bis erste Kritik ein. Seit dem 1. Oktober 1990 fun- gende Arbeitslosigkeit gilt es zu bekämp- das er auf eigenen Wunsch ein Jahr später in den Spätherbst 1989 wahrnimmt. In der giert Duchacˇčč als Landesbevollmächtigter. fen. wieder abbricht. 1958 arbeitet er im Postzei- Wendezeit 1989 wird die Betriebsführung des Nur zwei Wochen später, am 14. Oktober Unter der Führung von Josef Duchacˇčč tungsvertrieb, dann von 1959 bis 1961 als Ar- Gummiwerkes Waltershausen, die von der 1990, finden in Thüringen die ersten freien, fallen in den ersten Monaten dieser ersten beiter im Gummiwerk Waltershausen. Von SED eingesetzt worden war, abgelöst. Josef geheimen und demokratischen Wahlen seit Legislaturperiode wichtige und weitreichende 1961 an studiert Duchacˇčč wieder. Zuerst an Duchacˇčč kehrt an seinen alten Arbeitsplatz fast 60 Jahren statt. Die CDU gewinnt die Entscheidungen: In Eisenach beispielsweise der Ingenieurschule für Plast- und Elastver- zurück und übernimmt für ein halbes Jahr die Wahl unter Führung ihres Spitzenkandidaten wird der Grundstein für die bedeutendste arbeitung Fürstenwalde, wo er 1964 sein Exa­ Betriebsleitung des Werkes. Josef Duchacˇčč mit deutlicher Mehrheit gegen Investition in den Wirtschaftsstandort Thü- men als Chemieingenieur macht. 1964 wird Während der Zeit der politischen Wende die SPD, die unter dem erfahrenen aber lan- ringen gelegt – der Bau eines Opel-Werkes er Schichtingenieur in den Gummiwerken in der DDR beginnt sich Josef Duchacˇčč zuneh- desfremden nordrhein-westfälischen Politi- beginnt. Waltershausen. Hier arbeitet er bis 1986. Spä- mend politisch zu engagieren. Im Oktober ker Friedhelm Fahrtmann in die Wahl gezo- Besonderen Weitblick beweist Josef ter als Abteilungsleiter und stellvertretender 1989 wird er Kreisvorsitzender der CDU Go- gen war. Die absolute Mehrheit verpasst die Duchacˇčč, als er im Frühjahr 1991 in meh- Auftragsleiter, als Produktionsleiter und am- tha, im Dezember wird er Mitglied des Vor- Union mit 45,5 Prozent der Stimmen. Am 8. reren Telefongesprächen und persönlichen tierender Betriebsleiter. Nebenher studiert er stands der CDU der DDR. Trotz dieser über- November wird der Thüringer Landtagsab- Treffen den ehemaligen baden-württembergi- im Fernstudium an der TU Dresden und der regionalen Funktion hegt Josef Duchacˇčč keine geordnete Josef Duchacˇčč zum Ministerpräsi- schen Ministerpräsidenten Lothar Späth bit- TH Leuna Merseburg, bis er 1973 sein Exa­ Ambition auf ein Amt in einer neuen DDR- denten des wiedergegründeten Landes ge- tet, nach Jena zu kommen und die Umstruk- men als Diplomingenieur-Ökonom macht. Regierung. Sein eher zurückhaltender Cha- wählt. Erstmals seit der Auflösung der Län- turierung von Zeiss Jena zu übernehmen. Schon 1959, zu Beginn seiner beruflichen rakter und seine Verbundenheit mit Thürin- der im Sommer 1952 bildet Josef Duchacˇčč am Nach schmerzhaften Maßnahmen entsteht Karriere, ist Josef Duchacˇčč bewusst, dass be- gen halten ihn im Land. Aktiv beteiligt sich gleichen Tag zusammen mit seinem Koaliti- ein Leuchtturm, der immer stärker strahlt rufliches Vorwärtskommen in der DDR ohne Josef Duchacˇčč am Umbau der DDR-Bezirke onspartner FDP eine Thüringer Landesregie- und viele Unternehmensansiedlungen nach jede Form eines politischen Engagements Erfurt, Gera und Suhl zum wieder entstehen- rung. sich zieht. nicht vorstellbar ist. Es liegt nahe, dass die den Land Thüringen. Die wirtschafts- und gesellschaftspoliti- An diesen Erfolgen ist Josef Duchacˇčč maß- Wahl des katholischen Sudetendeutschen auf Am 11. Juni 1990 übernimmt er als Regie- schen, die verwaltungstechnischen Heraus- geblich beteiligt, aber ihre volle Wirkung ent- die CDU fällt. Nicht zuletzt, um dem Drängen rungsbevollmächtigter zunächst die Bezirks- forderungen, vor denen die erste Landesre- falten seine Entscheidungen erst Jahre später. der SED auf einen Beitritt auszuweichen. In verwaltungsbehörde Erfurt, Anfang August gierung steht, sind – so wie in allen jungen Erfolge, die nicht verhindern können, dass der Partei bleibt Duchacˇčč bis zur Wende ins- wird er vom letzten Ministerpräsidenten der Ländern – immens: Der Zusammenbruch Josef Duchacˇčč unter erheblichen Druck gerät:

74 75 Duchacˇčč am 23. Januar 1992, von seinem Amt zurückzutreten. Der Thüringer Landtag wählt am 5. Februar 1992 den früheren Ministerprä- sidenten von Rheinland-Pfalz, Dr. Bernhard Vogel, zu seinem Nachfolger, der das Amt dann bis zum 5. Juni 2003 ausübte. Nach dem Ende seiner politischen Arbeit in Thüringen wird Josef Duchacˇčč zunächst von 1993 bis 1994 Leiter der Außenstelle der Konrad-Adenauer-Stiftung in Lissabon. Von 1995 bis 1997 ist er als Leiter des Regionalbü- ros St. Petersburg und schließlich von 1998 Bundespräsident bis 2002 als Leiter der Außenstelle Budapest Richard von Weiszäcker tätig. Heute wohnt Josef Duchacˇčč in der Nähe im Thüringer Landtag, von Berlin. Frühjahr 1991 In den 15 Monaten seiner Amtszeit als Thüringer Ministerpräsident hat Josef Die Zusammenarbeit mit der kleinen, nur 9 Aufbruch“ zeigen. Josef Duchacˇčč wird vorge- Duchacˇčč trotz aller Schwierigkeiten wichtige Mitglieder starken, aber sehr selbstbewuss­ halten, er habe eine zu große Nähe zu den Akzente für eine gute Zukunft des heutigen ten FDP-Fraktion im Thüringer Landtag ge- alten Strukturen gehabt, seine Personalpoli- Freistaates gesetzt. Schon als Regierungsbe- staltet sich zunehmend schwierig. tik sei zu unkritisch gewesen. Vor allem wird auftragter hat er engagiert Verantwortung für Aber auch in den eigenen Reihen nimmt ihm vorgehalten, den so genannten „Kampf- den Aufbau des Landes übernommen. Es gilt, die Kritik zu. Von Anfang an ist die Zusam- gruppen“ angehört zu haben, der paramili- was sein Nachfolger Bernhard Vogel in sei- menarbeit der Thüringer „Führungstroika“, tärischen Organisation in den Betrieben der ner ersten Regierungserklärung über Josef die neben Duchacˇčč den Landesvorsitzenden DDR. Duchacˇčč gesagt hat: „Seine Verdienste um und Innenminister Willibald Böck und den Zum Jahresende 1991 werden Forderun- dieses Land wird man immer würdigen, wenn Vorsitzenden der CDU-Landtagsfraktion, Jörg gen nach einer Ablösung Duchacˇčs immer man vom Wiedererstehen Thüringens nach Schwäblein, umfasst, nicht ohne Belastun- lauter, innerparteilich wird ihm vor allem der Wende spricht.“ gen. Führungsschwäche vorgeworfen. Am 18. De- Gravierender sind die Risse, die insge- zember 1991 scheitert ein Misstrauensantrag samt in der Thüringer CDU hervortreten. der SPD-Fraktion im Thüringer Landtag. Die Anordnung über Risse, die sich zwischen den Mitgliedern der Kritik aus den eigenen Reihen ist damit nicht die Vertretung des alten „Block-CDU“ und den neu hinzugekom- verstummt. Nach dem Rücktritt mehrerer Mi- Landes Thüringen vom menen Kräften aus dem „Demokratischen nister seines Kabinetts entschließt sich Josef 18. Dezember 1990

76 77 Prof. Dr. Bernhard Vogel geb. 19.12. 1932, Göttingen

„Ohne Zahnbürste in Erfurt“ war einer der Zeitungsartikel über- schrieben, die 2003 zum Abschied des Thüringer Ministerpräsiden- ten Bernhard Vogel nach über 11 Jahren erfolgreicher Regierungszeit aus dem Amt erschienen sind – eine Anspielung auf den für ihn völlig unvorhergesehenen Beginn seines Thüringer Engagements. Tatsächlich kommt die Lösung „Bernhard Vogel“, die ein kleiner Führungskreis aus der Thüringer Union Ende Januar 1992 ersonnen Prof. Dr. Bernhard Vogel hatte, und sein Aufbruch in die Thüringer Landeshauptstadt für viele Ministerpräsident durchaus überraschend. Und doch war der Vorsitzende der Konrad- 1992–2003 Adenauer-Stiftung und frühere Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz alles andere als ein „Übergangskandidat“, der dem Land in der Mitte Deutschlands nach einem kurzen „Gastspiel“ schnell wieder den Rücken kehren würde. Nur vier Tage nach dem Rücktritt des Thüringer Ministerpräsiden- 1992–2003 ten Josef Duchacˇč erreicht Bernhard Vogel am 27. Januar 1992 bei einem

79 Treffen mit Vertretern der Hanns-Seidel-Stif- der Kreisgebietsreform und der Gemeinde- seinem „Kabelpilotprojekt“ in Ludwigshafen Ministerpräsident seine erste Regierungs- tung in einem Münchner Wirtshaus der An- neugliederung – aber auch im Meistern von den Grundstein für das private Fernsehen in erklärung ein: „Thüringen, das Land in der ruf von Bundeskanzler Helmut Kohl, der ihm Krisensituationen als überaus hilfreich. Über Deutschland legt. Nach zwölf Jahren erfolg- Mitte Deutschlands, muss zum voll ent- den Wunsch der Thüringer CDU übermittelt 23 Jahre hat Vogel, der in Heidelberg bei dem reicher Amtszeit in Rheinland-Pfalz handelt wickelten, gleichwertigen Land im Kreis der und auch von sich aus bekräftigt, dass Vogel renommierten Publizisten und Politikwissen- er, nachdem Parteifreunde seine Abwahl als deutschen Länder und zum selbstbewussten noch am gleichen Tag nach Erfurt aufbrechen schaftler Dolf Sternberger studiert hatte, dort Landesvorsitzender der CDU betrieben hat- Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland möge. Man müsse ihn in die Pflicht neh- promoviert wurde und in der südwestdeut- ten, konsequent und erklärt seinen Rücktritt werden“. Ein Ziel, das am Anfang der neun- men. Am späten Abend stellt er sich Partei- schen Universitätsstadt als Stadtrat seine als Ministerpräsident. ziger Jahre anspruchsvoll ist: Grundsteine vorstand und Landtagsfraktion vor. Mit über- ersten politischen Erfahrungen sammeln Dass seine politische Karriere mit dem für erste Leuchttürme, die in der Zeit sei- wältigender Mehrheit bei nur einer Gegen- konnte, in den verschiedensten Funktionen Abschied keinesfalls ein Ende gefunden nes Amtsvorgängers Duchacˇč gelegt worden stimme entscheidet sich die Fraktion für ihn. dem Land im Westen Deutschlands gedient: hatte, liegt an seinen Charaktereigenschaf- waren – die Jenoptik in Jena und die Opel- Zunächst als Abgeordneter des Deutschen ten. Bernhard Vogel sei nicht allein deshalb Ansiedlung in Eisenach – verheißen zwar Bundestages für den Wahlkreis Speyer und ein außergewöhnlicher Politiker, weil der Hoffnung, die Fläche können sie aber noch als Bezirksvorsitzender der CDU Pfalz. 1967, Christliche Demokrat Bruder eines heraus- lange nicht ausleuchten. Viele Standortschlie- im Alter von 34 Jahren, wird Bernhard Vogel ragenden SPD-Politikers sei und beide ein ßungen und Privatisierungen, die zwar nicht – in der gerade in diesem Fachbereich äu- sehr gutes Verhältnis verbinde, so schreibt selten erfolgreich, zumeist aber doch mit er- ßerst schwierigen Zeit der „68er“ – Kultus- Roman Herzog zu seinem 70. Geburtstag. Er heblichem Personalabbau verbunden waren, minister von Rheinland-Pfalz. 1972 wird er sei „ein besonderer Politiker, weil er ein le- drücken die Stimmung. zugleich zum Präsidenten des Zentralkomi- bendes Beispiel dafür ist, dass sich Toleranz Bereits in den ersten Monaten seiner Re- tees der deutschen Katholiken gewählt. 1974 und Grundsatztreue, Pflichterfüllung und gierungszeit zeichnet sich deutlich ab, was übernimmt er den Landesvorsitz der CDU Offenheit, Realismus und Zuversicht nicht Bernhard Vogel selbst später als eine der Rheinland-Pfalz. 1976 schließlich wird er als ausschließen müssen.“ Seine auf dem christ- bedrückenden Erfahrungen seines Amtes in Nachfolger Helmut Kohls Ministerpräsident lichen Menschenbild beruhende Fähigkeit, Thüringen charakterisiert hat: Die Schließung des Landes. über Parteigrenzen hinweg denken zu kön- des Kalibergbaus in Bischofferode. Dieses Er- Sein für einen Ministerpräsidenten ver- nen, seine Fähigkeit, den Menschen zuzuhö- eignis, das durch den Hungerstreik der Berg- gleichsweise junges Alter hindert die Men- ren, ihnen aber auch nicht nach dem Munde leute für den Erhalt ihrer Grube bundesweit schen nicht daran, ihn schnell als Landes- zu reden, sondern Notwendiges klar auszu- für Aufsehen gesorgt­ hat, wird zum Symbol Vereidigung von Bald nach seiner Vereidigung am 5. Februar vater zu akzeptieren und zu respektieren. sprechen, hat ihn befähigt, den Menschen für die Härte und die Schwierigkeiten des Bernhard Vogel zum 1992, die ihm den Rekord einträgt, als bis- Zweimal erringt er für die CDU die absolute das zu geben, was sie seiner Meinung nach Umstrukturierungsprozesses in den jungen Thüringer Minister­ lang einziger deutscher Politiker Minister- Mehrheit der Stimmen. Unaufhörlich, ohne für den notwendigen Umbau und Aufbau Län­dern. Zu­gleich wird sie zur ersten großen präsidenten präsident von zwei deutschen Ländern ge- aufgeregten Lärm, treibt er im Land den besonders dringend benötigen: Hoffnung, Bewährungsprobe des neuen Amtsinhabers. wesen zu sein, erweisen sich seine rhein- notwendigen Strukturwandel voran. Bun- Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Gelingt es ihm, die Einsicht in den unver- land-pfälzischen Erfahrungen im Aufbau desweit setzt er wichtige Akzente – unter „Unser Ziel ist klar“, so leitet er drei Wo- meidlichen Strukturwandel zu stärken, Ver- verlässlicher Strukturen – beispielsweise bei anderem in der Medienpolitik, wo er mit chen nach seiner Vereidigung als Thüringer bundenheit mit den Menschen zu zeigen, die

80 81 um ihre Zukunftsperspektiven bangen und Bei den wirtschaftspolitischen Erfolgen zugleich Zuversicht und Hoffnung zu ver- im Freistaat spielt auch die Passion Bernhard breiten und die notwendigen Maßnahmen Vogels für die Bildungs- und Wissenschafts- anzupacken? politik eine entscheidende Rolle. Konsequent In Bischofferode wie überall im Lande wirkt er auf den Ausbau der Forschungs- und versucht die Regierung mit öffentlichen In- Technologieinfrastruktur in Thüringen und frastrukturinvestitionen Grundlagen für neue auf den Transfer von der Wissenschaft in Investitionen zu schaffen. Um den Boden für die Wirtschaft hin. Auch auf sein Betreiben erfolgreiche Investitionen zu bereiten, greift hin, verlagert die Max-Planck-Gesellschaft Vogel auch hier auf bewährtes „Handwerks- drei ihrer Dependancen nach Thüringen. In zeug“ aus seiner rheinland-pfälzischen Zeit Jena und Ilmenau entstehen beispielhafte zurück: Auf Reisen in beinahe alle Kontinente, Verbindungen von Wissenschaft und Wirt- vor allem nach Asien und nach Amerika, wirbt schaft. So wie er bereits in Rheinland-Pfalz er offensiv für den Wirtschaftsstandort Thü- die Neugründung einer Doppel-Universität ringen und erringt dabei beachtliche Erfolge maßgeblich gefördert und mitinitiiert hat, – zum Beispiel die Ansiedlung eines führen- setzt er sich intensiv für die Wiedereröffnung den Computerherstellers in Sömmerda und der Erfurter Universität ein, die mit ihrer gei- eines Motorenwerkes in Kölleda. steswissenschaftlichen Ausrichtung und mit er daher von einem „jungen Land“. Auch Vogel in Apolda Bis zu seinem Rücktritt legt Bernhard Vo- der Erprobung innovativer Studiengänge fri- wendet er sich gegen die Bezeichnung „ost- gel sein bundespolitisches Gewicht für den sche Akzente in der Hochschulpolitik setzen deutsches“ Land. Thüringen habe inzwischen Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in die Waag- soll. 1994 erfolgt unter dem Gründungsrektor eine unverwechselbare, auch moderne Iden- schale – im Wissen darum, dass die zentrale Peter Glotz die letzte deutsche Universitäts- tität und politische Kultur entwickelt – nicht Lage des Landes als Logistikstandort von gründung des 20. Jahrhunderts. In der Schul- zuletzt durch die Thüringer Verfassung vom entscheidender Bedeutung ist. Die Freigabe politik und in der beruflichen Bildung setzt Oktober 1993, die in einer Reihe von Bestim- erster Teilstücke der Thüringer Waldauto- er – unter anderem mit der Gründung der mungen neue und eigene Wege gehe und die bahn für den Verkehr ist dabei ein wichtiger Berufsakademie – wichtige Impulse. Thürin- Erfahrungen und Ziele der friedlichen Revo- Etappenerfolg. Schnell erreicht der Freistaat gen belegt bis heute vordere Plätze bei den lution aufgreife. Thüringen Wachstumsraten, die an der Spitze einschlägigen Vergleichsstudien wie PISA. Viel Sympathie im Land trägt ihm eine der jungen Länder liegen, die Arbeitslosig- Immer wieder verweist er darauf, dass die weitere „Erfindung“ aus der rheinland-pfäl- keit bleibt bedrückend hoch, aber sie ist über Thüringer zu einem selbstverständlichen Lan- zischen Zeit ein, mit der er sofort nach sei- lange Zeit geringer als in allen anderen jungen desbewusstsein zurückgefunden haben. Ein nem Amtsantritt beginnt: Konsequent nutzt oben: Die Kaligrube Bischofferode, größter Arbeitgeber der Region, Ländern. Zum Ende seiner Amtszeit sagt er, „neues Land“ sei Thüringen im Gegensatz zu er seine „Kreisbereisungen“, um zu lernen, soll geschlossen werden. Vogel stellt sich den Fragen der Bergarbeiterfrauen.­ es gäbe noch viel zu tun, aber das Glas sei mancher westdeutschen Neugründung in der um die Probleme des Landes, aber auch unten: Baubeginn für die A71 und die ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt-Berlin halb voll und nicht halb leer. Nachkriegszeit nie gewesen. Lieber spricht seine Chancen „hautnah“ und vor Ort zu ver-

82 83 stehen und zu erleben. Er wird dabei – viel- besonderes Gewicht in der deutschen Medi- leicht noch deutlicher als ihm das in Rhein- enpolitik nicht vorstellbar. Seither weiß des- land-Pfalz zugeschrieben wurde – schnell als wegen fast jedes Kind etwas mit der Stadt einer von „hier“ wahrgenommen. Fast nie Erfurt zu verbinden. – allenfalls als Wahlkampfgeplänkel vor den Ein neues Selbstbewusstsein für Thürin- beiden Landtagswahlen 1994 und 1999, die gen und die Thüringerinnen und Thüringer er erfolgreich für sich entscheiden kann – fällt schließt für Bernhard Vogel das Bekenntnis der Hinweis auf seine Herkunft. zur Verantwortung, die aus der Vergangen- In diesem Zusammenhang verwundert heit des Landes erwächst, zwingend mit ein. kaum, dass er sich auf der Bundesebene Beim 50. Jahrestag der Befreiung des Konzen- vehement für eine gleichberechtigte Einglie- trationslagers Buchenwald 1995, aber auch derung der jungen Länder in das föderative bei vielen anderen Gelegenheiten weist er Gefüge der Bundesrepublik einsetzt. Als einer eindringlich darauf hin, dass die Freiheit die der beiden Vorsitzenden der Föderalismus- Entschlossenheit der Demokraten zwingend kommission von Bundestag und Bundesrat verlangt, sie gegen ihre Feinde zu verteidigen wirkt er in nächtelangen Diskussionen an und zu bewahren. den Beschlüssen zur Verlegung von Bun- Als erstes junges Land schließt Thürin- desbehörden in die jungen Länder mit. Die gen 1993 einen Staatsvertrag mit der jüdi- Ansiedlung des Bundesarbeitsgerichtes und schen Landesgemeinde ab – noch bevor es die Einweihung seines Neubaus in Erfurt im Verträge mit dem Heiligen Stuhl und der Januar 2000 ist eines der besonderen Bei- evangelischen Landeskirche eingeht. 1994 hin wird die „Stiftung Ettersberg zur verglei- Als Reaktion auf den Brandanschlag auf Gedenkveranstaltung zum spiele für diesen Erfolg. Dass es die Länder macht der ehemalige Buchenwaldhäftling chenden Erforschung europäischer Diktatu- die Erfurter Synagoge im Februar 2000 be- 50. Jahrestag der Befreiung waren, die den Beitritt zum Geltungsbereich Jorge Semprun anlässlich der Verleihung des ren und ihrer Überwindung“ gegründet. Die gründet Bernhard Vogel eine Tradition, die des KZ Buchenwald des Grundgesetzes erklärt und damit die Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Ambivalenz der Nähe zwischen dem Geist sein Nachfolger später übernimmt. In jedem Wiedervereinigung ermöglicht haben, wird in Weimar den Vorschlag, den Ettersberg, auf der Klassik und dem Ungeist des Nationalso- Jahr wird die politische Situation im Freistaat er nicht müde zu betonen. Entschlossen tritt dem das KZ Buchenwald und anschließend zialismus in Weimar wird zu einem der maß- auf der Grundlage des „Thüringen-Monitors“, der erfahrene Föderalist Bernhard Vogel im das sowjetische Speziallager Nr. 2 errichtet geblichen und erfolgreichen Inhalte eines einer empirischen Studie, im Rahmen einer Bundesrat für die Interessen Thüringens und wurden, als Bezugspunkt der doppelten Dik- weiteren „Lieblingsprojektes“ des Thüringer Regierungserklärung erörtert. Seine Initiative der jungen Länder ein. Am Zustandekommen taturerfahrung der Deutschen in europäischer Ministerpräsidenten. Nicht wenige haben an bewirkt, dass kein anderes junges Land De- des Solidarpaktes II hat er maßgeblichen An- Perspektive fruchtbar zu machen und in den dem Vorhaben gezweifelt, Weimar 1999 zur mokratiezufriedenheit und -gefährdungen teil. Dienst der demokratischen Entwicklung in Europäischen Kulturhauptstadt zu erheben. durch den Extremismus so konsequent er- Dass der überaus erfolgreiche Kinderka- Mittel- und Osteuropa und der europäischen Der Erfolg und die europaweite Resonanz, mittelt wie Thüringen. nal von ARD und ZDF seinen Sitz in Erfurt Integration zu stellen. Bernhard Vogel greift auf die die Veranstaltungen und Initiativen Ebenso viel Entschlossenheit und poli- nimmt, ist ohne seinen Einsatz und sein diesen Vorschlag auf. Auf seine Initiative dieses Jahres stoßen, geben ihm Recht. tische Sensibilität stellt Bernhard Vogel bei

84 85 gleich auch Mitgefühl, Kraft und Hoffnung Ratgeber. Nicht zuletzt in der Grundsatzprogrammdiskussion der zu vermitteln. Auf der Bundesebene tritt er CDU in den Jahren 2006 und 2007 bringt er seine Erfahrungen als entschlossen und dennoch überlegt für die Ministerpräsident zweier Länder intensiv mit ein. notwendigen rechtlichen und politischen Am stärksten aber betrifft der Satz Saint-Exupérys ihn selbst: Er Konsequenzen z. B. beim Waffenrecht ein, hat anlässlich der Verleihung des Thüringer Verdienstordens bekannt, die aus diesem in der deutschen Nachkriegs- die Thüringer Zeit seien die erfülltesten Jahre seines Lebens gewesen. geschichte einmaligen Verbrechen zu ziehen Aus dem in Göttingen geborenen, in München aufgewachsenen lei- sind. denschaftlichen Rheinland-Pfälzer ist ein echter Thüringer geworden. 2003 legt Bernhard Vogel, wie er es auf Beiden Ländern wird er zeitlebens auf das Engste verbunden bleiben einem Parteitag der Thüringer CDU selbst – beide verdanken ihm erfolgreiche und politisch zukunftsweisende formuliert, sein „Amt in die Hände des Land- Jahre. In vielen Reden hat er immer wieder seine Vision geäußert, tags zurück“. Zu seinem Nachfolger wird dass Thüringen einen vorderen Platz unter allen deutschen Ländern im Juni „sein“ langjähriger Kultusminister einnehmen solle, den es ohne Teilung und ohne 40 Jahre Planwirt- und Fraktionsvorsitzender Dieter Althaus schaft heute bereits einnehmen würde. Wenn sich dieser Wunsch gewählt. Mit den bitteren Erfahrungen aus in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten erfüllen wird, dann ist das Bernhard Vogel und Raphael Scharf-Katz, Vorsitzender der Jüdischen Rheinland-Pfalz im „Hinterkopf“ gelingt ihm nicht unmaßgeblich auf seine Verdienste um das Land zurück zu Landesgemeinde Thüringen der politische Übergang so erfolgreich und führen. reibungslos, wie nur wenigen anderen Kolle- gen in der Politik. Bernhard Vogel gratuliert seinem Nachfolger im Amt – einer besonderen und tragischen Bewäh- Wenn man ihn nach seinem Rücktritt ge- Dieter Althaus rungsprobe unter Beweis, die das Land, die fragt hat, wie er sich seine persönliche Bezie- Landeshauptstadt und den Ministerpräsiden- hung zu dem Land vorstellt, in dem er mehr ten am 26. April 2002 ereilt: Ein 19-Jähriger, als ein Jahrzehnt so erfolgreich gewirkt hat, der kurz zuvor der Schule verwiesen worden zitierte er gerne einen Satz aus dem „Klei- war, tötete am Erfurter Gutenberg-Gymna- nen Prinzen“: „Du bist zeitlebens für das sium zwölf Lehrerinnen und Lehrer, zwei verantwortlich, was Du Dir vertraut gemacht Schüler, die Schulsekretärin, einen Polizisten hast“. In diesem Sinne hat er bis zum Ende und dann sich selbst. Bernhard Vogel, der der Legislaturperiode sein Landtagsmandat in Rheinland-Pfalz vierzehn Jahre zuvor bei wahrgenommen und auch einen großen Teil der Katastrophe während einer Flugschau in seiner zahlreichen Ehrenämter und Mitglied- Ramstein, eine ebenfalls dramatische Her- schaften weiterhin ausgeübt. Für viele aktive ausforderung als Regierungschef bestehen Thüringer Politiker bleibt er auch als Vorsit- musste, gelingt es, nicht nur die notwendi- zender der Konrad-Adenauer-Stiftung, an gen Maßnahmen einzuleiten, sondern zu- deren Spitze er bis heute steht, ein wichtiger

86 87 Parteienverzeichnis

CDU Christlich Demokratische Union

DA Demokratischer Aufbruch

DDP Deutsche Demokratische Partei

DNVP Deutschnationale Volkspartei

DVP Deutsche Volkspartei

KPD Kommunistische Partei Deutschlands

NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands

USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands

89 Weiterführende Literatur (Auswahl) Häupel, Beate, Die Gründung des Landes Schriftenreihen: Thüringen. Staatsbildung und Reformpoli- tik 1918–1923. (Demokratische Bewe­gungen Quellen zur Geschichte Thüringens. in Mitteldeutschland; Band 2) Herausgeber: Landeszentrale für politische Weimar/Köln/Wien 1995. Bildung Thüringen (erscheint seit 1995).

Darstellungen und Aufsätze: Heß, Ulrich, Geschichte der Behördenorga- Schriften zur Geschichte des Parlamenta- nisation der thüringischen Staaten und des rismus in Thüringen. Herausgegeben vom Fenske, Hans, Sachsen und Thüringen Landes Thüringen von der Mitte des Thüringer Landtag (erscheint seit 1992). 1918–1933. In: Die Regierungen der deut- 16. Jahr­hunderts bis zum Jahr 1952 (Veröf- schen Mittel- und Kleinstaaten 1815–1933. fentlichungen der Historischen Kommis- Thüringen. Blätter zur Landeskunde. Herausgegeben von Klaus Schwabe. sion für Thüringen, Kleine Reihe Band 1). Herausgeber: Landeszentrale für politische Boppard am Rhein 1983, S. 185–352. Jena/Stuttgart 1993. Bildung Thüringen (erscheint seit 1992).

Geschichte Thüringens. Herausgegeben John, Jürgen, Reinhard Jonscher und Axel Thüringen gestern & heute. Schriftenreihe von Hans Patze und Walter Schlesinger. Stelzner, Geschichte in Daten: Thüringen. der Landeszentrale für politische Bildung (Mitteldeutsche Forschungen; Band 48) München/Berlin 1995. Schmitt, Karl (Hrsg.), Thüringen. Eine po- Thüringen (erscheint seit 1995). Band V/2: Politische Geschichte in der litische Landeskunde. Weimar/Köln/Wien Neuzeit [1828 bis 1945, von Friedrich Fa- John, Jürgen, Grundzüge der Landesverfas- 1996. Raßloff, Steffen, Fritz Sauckel: Hitlers cius]. Köln/Wien 1978. sungsgeschichte Thüringens 1918 bis 1952. „Muster-Gauleiter“ und „Sklavenhalter“. In: Schriften zur Geschichte des Parlamen- Thüringen-Handbuch. Territorium, Verfas- (Thüringen gestern & heute. Schriftenreihe Grass, Jochen, Studien zur Politik der tarismus in Thüringen, Heft 3 (1993), sung, Parlament, Regierung und Verwal- der Landeszentrale für politische Bildung bürgerlichen Parteien Thüringens in der S. 49–113. tung in Thüringen 1920 bis 1995. Heraus- Thüringen, Band 29). Erfurt 2007. Weimarer Zeit 1920-1932. Ein Beitrag zur gegeben von Bernhard Post und Volker Landesgeschichte. (Schriftenreihe Studien Jonscher, Reinhard, Willy Schilling, Kleine Wahl. (Veröffentlichungen aus Thüringi- Grass, Jochen, Willy Schilling, Zwischen zur Zeitgeschichte, Band 11) thüringische Geschichte. Vom Thüringer schen Staatsarchiven, Band 1) Landesgründung und Gleichschaltung. Hamburg 1997. Reich bis 1990. Jena 2001. Weimar 1999. Die Regierungsbildungen in Thüringen seit 1920 und das Ende der parlamentarischen Heiden, Detlev und Gunter Mai (Hrsg.), Overesch, Manfred, Hermann Brill in Witzmann, Georg, Thüringen 1918–1933. Demokratie 1932/33. (Schriften zur Nationalsozialismus in Thüringen. Thüringen 1895–1946. Ein Kämpfer gegen Erinnerungen eines Politikers. Geschichte des Parlamentarismus in Thü- Weimar/Köln/Wien 1995. Hitler und Ulbricht. Bonn 1992. Meisenheim am Glan 1958. ringen, Heft 18). Rudolstadt/Jena 2001.

90 91 Abbildungen Fotoatelier Louis Held, Weimar: Seite 19, 23, 31 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar: Seite 21, 25, 27, 28, 34, 35, 37, 39, 43, 45, 47, 49, 51, 52, 55, 58, 59, 61, 63, 65, 67, 69, 71 Constantin Beyer, Weimar : Seite 8, 9, 10, 11 Klaus G. Beyer, Weimar: Seite 14 Stadtmuseum Weimar: Seite 40 Barbara Neumann, Erfurt: Seite 6, 13 Thüringer Staatskanzlei Seite 17, 73, 76, 77, 82 (u), 85 dpa Seite 80, 83, 82 (o), 86

Autoren Prof. Dr. Volker Wahl Leitender Archivdirektor, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar Seite 7–17 Dieter Marek Direktor, Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt Seite 19–71 Gereon Lamers Referatsleiter, Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit Seite 73–77 Dr. Michael Borchard Hauptabteilungsleiter Politik und Beratung, Konrad Adenauer Stiftung Seite 79–87

Impressum © 2007 | 2. Auflage, erweitert Herausgeberin: Thüringer Staatskanzlei, Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, Regierungsstr. 73, 99084 Erfurt Umschlaggestaltung und Layout: Dipl.-Designerin C. Beckert, Erfurt Druck: dmz druckmedienzentrum, Gotha

92