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Sendung vom 26.09.2006, 20.15 Uhr

Dieter Althaus Ministerpräsident Freistaat Thüringen im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum alpha-forum, heute vom Mitteldeutschen Rundfunk in Erfurt aus, der Landeshauptstadt des Freistaates Thüringen. Bei uns zu Gast ist der Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, . Ich freue mich, dass er hier ist, herzlich willkommen, Herr Ministerpräsident. Althaus: Guten Tag. Reuß: "Politik ist die Kunst, dem lieben Gott so zu dienen, dass es dem bösen Teufel nicht missfällt", so sagt ein Sprichwort. Ist das so? Ist Politik eine Gratwanderung? Was ist Politik für Dieter Althaus? Althaus: Für mich ist das jetzt natürlich das ganze Leben. Ich bin mit der Wiedervereinigung eingestiegen, damals mit dem Bewusstsein, etwas verändern zu wollen. Ich glaube, Politik muss immer wieder versuchen, die Spielregeln, die in der Gesellschaft bestehen, zu überprüfen, zu verändern, sodass sich die Gesellschaft möglichst frei gestalten kann. Zum Zweiten muss Politik auch ein großes Kommunikationsvermögen beweisen: Was da getan wird, muss auch vermittelt werden. Drittens muss Politik auch vorgelebt werden. Das heißt, derjenige, der Politik gestaltet, muss wissen, dass er als Mensch auch in besonderer Weise wahrgenommen wird. Insofern ist mit der Politik und aus der Politik heraus auch eine Vorbildrolle verbunden. Reuß: Etiketten sind nicht unproblematisch, sie neigen dazu, zum Klischee zu werden, aber ich will es dennoch mal probieren: Die "Frankfurter Rundschau" lobte Sie einmal als "überraschend offensiv". Der "Fokus" bezeichnete Sie als "Thüringer Dynamo" und die "Süddeutsche Zeitung" nannte Sie einen "zielstrebigen Pfadfinder der Macht". Fühlen Sie sich so richtig beschrieben? Althaus: Das sind alles Facetten, die sicher eine wichtige Aussagefunktion haben. Ich glaube, dass Politiker zum Anfassen sein müssen. Sie müssen also ganz normale Leute sein, die im Leben stehen. Sie dürfen ihr Amt nicht autoritär ausüben, sie müssen wissen: Nicht das Amt gibt ihnen Autorität, sondern die Person hat Autorität und muss diese auch leben. Und so habe ich in den letzten 16 Jahren eigentlich auch mein Politikverständnis ausgeprägt. Reuß: "Politik kann süchtig machen", sagt Bundesminister . Und der ehemalige Bundespräsident meinte einmal: "Das ist wie mit den Erdnüssen. Man will eine haben, langt in die Schale und hört dann nicht mehr auf, bis die Schale leer ist." Ist das so? Kann Politik süchtig machen? Und wenn ja, was macht denn den Suchtcharakter aus? Ist das die Macht, sind das die Insignien der Macht? Oder ist es die Aufmerksamkeit, die man genießt? Althaus: Diese Aufmerksamkeit und die Macht sind sicherlich solche Punkte, aber ich glaube, mich macht Politik nicht süchtig. Die Politik war eine Veränderung in meinem Leben 1989/90, die ich dann auch ernsthaft gestaltet habe. Aber das ist kein Beruf, der keine andere Perspektive mehr mit sich bringen würde. Stattdessen hatte ich vorher eine andere berufliche Aufgabe wahrgenommen und ich könnte mir gut vorstellen, dass ich das hinterher auch wieder tue. Reuß: "Ich glaube, man darf den Konsens nicht aus dem Blick verlieren. Aber man darf auch nicht den Konsens als Entschuldigung für Entscheidungsunfähigkeit nutzen". Dieser Satz stammt von Ihnen. Sie gelten als jemand, der eher moderat ist, der eher Konflikte mildert, der sachlich agiert und argumentiert. Dennoch: Besteht ein bisschen die Gefahr, dass wir aufgrund eines Konsenswillens unpopuläre Entscheidungen vermeiden? Althaus: Das ist ganz sicher so. Das hängt einmal mit der Struktur in Deutschland zusammen, dass wir den Bund und die Länder haben und dadurch ein noch höheres Maß an Politikdiskussion auf verschiedenen Ebenen miteinander verbinden müssen. Zum anderen sind ja in Deutschland aufgrund des Verhältniswahlrechts auch sehr unterschiedliche Parteien gemeinsam in der Verantwortung. Das zeigt sich natürlich schon als Problem, wenn über Jahrzehnte hinweg politische Profile sich zwar ausgeprägt haben, aber die Lösungen, die heute notwendig sind, eigentlich ganz neue Antworten brauchen. Da wird der Konsens manchmal wirklich nur verstanden als kleinster gemeinsamer Nenner. Wir haben jedoch heute größere Probleme zu lösen und dafür reicht das dann nicht. Reuß: "In der Politik geht es nicht nur um Sachfragen. Oft prägt eine Vielzahl unbeglichener Rechnungen und gekränkter Eitelkeiten die Auseinandersetzung. Das macht eine effektive Politik unmöglich", sagt , die Präsidentin der Europauniversität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Teilen Sie diese Einschätzung? Ist es wirklich so, wie der Bundespräsident sagt, dass es hin und wieder Sandkastenspiele gibt in der Politik? Althaus: Ja, zum einen deswegen, weil die Politiker natürlich auch in ihrer jeweils eigenen Geschichte stehen. Und es scheint sehr schwer zu fallen, sozusagen endlich mal einen neuen Versuch zu wagen unter der Überschrift "trial and error", also einen Versuch, bei dem man erst noch herausfinden muss, ob er etwas taugt oder ob er in die falsche Richtung weist und er daher geändert werden muss. Zum anderen ist das aber auch deshalb so, weil eben die Politik insgesamt in ihrer Geschichte steckt. Nehmen wir nur einmal die Geschichte der sozialen Marktwirtschaft: Da ist vieles gut gelaufen, aber das, was sich fehlerhaft entwickelt hat, muss verändert werden. Und dann ist das Ganze natürlich auch eine Absprache innerhalb eines bestimmten Kreises, d. h. wir müssen sehr darauf achten, dass wir nicht in eine korporatistische Organisation abgeleiten, in der sozusagen nur noch bestimmte Interessenlagen berücksichtigt werden, während diejenigen Interessen, die sich nicht formulieren können, möglicherweise unberücksichtigt bleiben. Das ist also schon eine Gefahr und deswegen muss Politik eben auch immer kritisch hinterfragt werden. Politik muss sich daher rechtfertigen, Politik muss sich dann eben auch beweisen. Heute ist es vor allem wichtig, dass wir nicht immer diesen Langfristigkeitsanspruch haben, sondern so wie in der Wirtschaft und in der Wissenschaft vorgehen. Auch dort verändert sich vieles sehr, sehr schnell. Deswegen muss auch die Politik in der Lage sein, solche Veränderungen nicht nur mitzugestalten, sondern sie vielleicht bereits von Anfang an mitzubewegen. Das heißt auch, dass die Politik weniger von ganz langen Linien her denken muss; sie muss vielmehr in der Lage sein, sich an Grundorientierungen festzuhalten, diese Grundorientierungen öffentlich zu machen und sie als Begründung für Entscheidungen heranzuziehen. Damit meine ich unsere Wertorientierungen, unsere Orientierung an Gerechtigkeit, Menschenwürde, Freiheit usw. Darüber hinaus muss die Politik aber eben auch flexibel sein, wenn es um die jeweiligen Instrumente geht. Reuß: Der französische Moralist Joseph Joubert meinte einmal: "Politik ist die Kunst, die Menge zu leiten, nicht wohin sie gehen will, sondern wohin sie gehen soll." Mit Blick auf die Geschichte Deutschlands und seine zwei Diktaturen ist das ein Satz, der sicherlich ambivalente Empfindungen hervorruft. Dennoch meine Frage: Ist das so? Muss Politik lenken und führen und manchmal auch unpopuläre Entscheidungen gegen den Willen der Mehrheit in der Bevölkerung treffen? Althaus: Das ist ganz sicher richtig. Politik muss selbstverständlich demokratisch funktionieren. Das heißt, es braucht die Kontrolle und es braucht auch die verschiedenen Entscheidungsinstanzen wie den oder den . Aber Politik muss sich vor allen Dingen auch in der Entscheidung beweisen. Als in Deutschland 1948 die Marktwirtschaft eingeführt worden ist, hat Ludwig Erhard zu diesem Thema überhaupt keine öffentliche Debatte geführt, sondern er hat schlicht und ergreifend mit dem 20. Juni 1948 die Entscheidung gefällt, dass die Märkte freigegeben werden, dass es keine Bewirtschaftung mehr gibt. Das war überhaupt nicht im Interesse der damaligen Bevölkerung – so meinten zumindest viele. Die Gewerkschaften haben damals zum Massenstreik aufgerufen und selbst der amerikanische Befehlshaber war nicht dafür. Aber diese Entscheidung hat sich dennoch als richtig erwiesen. Politik muss sich also auch als Gruppe, als Institution verstehen, die an einem Ziel orientiert entscheidet und sich nicht nur an der gerade vorhandenen öffentlichen Meinung orientiert. Reuß: Nun wollen ja Politiker wiedergewählt werden. In einem föderalen System wie der Bundesrepublik finden fast immer irgendwo irgendwelche Wahlen statt. Selbst Kommunalwahlen werden dann hochstilisiert zu Bundestagstestwahlen. Carl Friedrich von Weizsäcker hat daher einmal die pointierte Frage gestellt: "Wie kann eine Regierung das langfristig Notwendige entscheiden, wenn es kurzfristig unbeliebt ist und den Wahlerfolg bedroht?" Gibt es in unserem politischen System tatsächlich die Gefahr, dass man bestimmte Dinge liegen lässt, weil eine Wahl bevorsteht und man Angst hat, dass das negative Folgen auf den Wahlausgang haben könnte? Althaus: Ich glaube, neben den vielen Stärken der föderalen Ordnung in Deutschland muss man eben auch deren Schwächen nennen. Eine dieser Schwächen besteht sicherlich darin, dass sehr viel häufiger politische Wahlereignisse stattfinden und dadurch wohl so manche politische Entscheidung in den letzten 30, 40 Jahren nicht zur rechten Zeit getroffen worden ist. Wenn man die föderale Ordnung erhalten möchte, und dafür bin ich, denn ich bin fest davon überzeugt, dass diese föderale Ordnung richtig ist, dann ist es heute umso wichtiger, dass wir uns auf den unterschiedlichen Ebenen der Politik wirklich darum bemühen, diese notwendige Geschwindigkeit, zu politischen Entscheidungen zu kommen, auch durchzusetzen. Was die Beliebtheit betrifft, muss ich sagen: Ich glaube, dass aufgrund der heutigen Komplexität der politischen Systeme, aufgrund der Globalisierung und damit der Unübersichtlichkeit ohnedies das Vertrauen noch wichtiger ist als die Frage, welche politische Grundstruktur und welche politischen Grundinhalte eine Partei hat. Es ist entscheidend, bei den Menschen einen Vertrauensbonus zu haben, denn die Leute wählen gerne Politiker, denen sie vertrauen können, dass sie das Ganze in die richtige Richtung führen. Das wird in Deutschland meiner Meinung nach eher zunehmen als abnehmen. Deswegen haben auch diejenigen Politiker, die mutig sind, die etwas Vernünftiges tun und dies dann auch kommunizieren, in Zukunft gute Möglichkeiten, die Unterstützung der Wähler zu erhalten. Reuß: Sie sprechen von Vertrauen. Vertrauen entsteht sicherlich auch durch Glaubwürdigkeit. Gibt es denn Ihrer Ansicht nach überhaupt Wahrheit in der Politik? Ich meine nicht Wahrhaftigkeit, denn die sei einmal wohlmeinend unterstellt. Nein, ich meine schon Wahrheit. Oder macht nicht gerade das, was so oder auch anders entschieden werden kann, das Wesen der Politik aus? Besteht also das Problem nicht gerade darin, dass immer wieder einzelne Politiker und Parteien auftreten und ungerechtfertigterweise behaupten, sie wären im Besitz der einzigen Wahrheit? Althaus: Nun, es gibt sicherlich sehr unterschiedliche Wege zum Ziel. Die Frage ist ja auch: Was ist das Ziel? Es gibt in der Bundesrepublik sicherlich so manche politische Gruppe, die das große Ziel hat, möglichst viel Gleichheit zu organisieren. Und es gibt andere, die wollen ein möglichst hohes Maß an Differenzierung, um möglichst viel Kreativität und Leistungsfähigkeit zu entwickeln. So führen ganz unterschiedliche Wege zu ganz unterschiedlichen Zielen. Es mag aber auch innerhalb einer Zielperspektive unterschiedliche Wege geben. Hier besteht also kein Absolutheitsanspruch auf Wahrheit. Stattdessen beweist sich dann immer erst in der konkreten Praxis, ob das, was entschieden worden ist, richtig war. Deswegen denke ich viel lieber in Kategorien von richtig und falsch als in Kategorien von Wahrheit und Unwahrheit. Reuß: Ich würde hier gerne eine kleine Zäsur machen und unseren Zuschauern den Menschen Dieter Althaus näher vorstellen. Sie sind am 29. Juni 1958 in Heiligenstadt geboren, im Nordwesten Thüringens im Kreis Eichsfeld. Heute leben in Heiligenstadt, wenn ich das richtig weiß, 17000 Einwohner und es ist ein Heilbad geworden. Ihr Vater zählte dort zu den Mitbegründern der lokalen CDU noch in Zeiten der DDR. Wie sind Sie aufgewachsen? Wie war Ihre Kindheit? Was hat Ihre Entwicklung beeinflusst? Althaus: Das ist eine sehr katholische Region und damit auch eine Enklave: Ringsherum ist es eher protestantisch oder auch nicht-christlich. Mein Elternhaus und auch die Familie im weiteren Umfeld sind ebenfalls sehr stark katholisch geprägt. Ich habe drei Geschwister und bin in einer sehr behüteten Atmosphäre aufgewachsen: Ich habe zum einen immer meine Möglichkeiten nutzen können, in der Schule wie in der Gesellschaft, und zum anderen hat dieses Umfeld auch immer wieder versucht, dem DDR- Staat seine Grenzen aufzuzeigen. Das waren meine Erfahrungen und deswegen haben wir uns auch sehr stark z. B. in Kirchengemeinden eingebracht und dort auch unsere eigenen Entwicklungsimpulse sehr stark aufgenommen. Es war wichtig für mich, in dieser Pfarrjugend mit anderen jungen Menschen zusammen zu sein. Das hat mich geprägt, auch im Studium und nachher in der Arbeit. Und ich glaube, es ist auch heute noch für mich wichtig, dass ich damals ein solches Lebensumfeld hatte, das mich sehr familiär und wertorientiert geprägt hat. Reuß: Sie haben 1977 Abitur gemacht und waren dann auch 18 Monate lang bei der Nationalen Volksarmee. Sie haben jedoch darauf verzichtet, als Reserveoffizier ausgebildet zu werden. Sie haben auch auf die Jugendweihe samt Gelöbnis verzichtet, also auf diese staatliche Einführung des Jugendlichen in den Erwachsenenstatus, die vielleicht mit der Firmung in der katholischen und der Konfirmation in der evangelischen Kirche vergleichbar ist. Man kann nachlesen, dass derjenige, der damals in der DDR nicht an der Jugendweihe teilnahm, auch erhebliche Nachteile und Repressionen fürchten musste. Hatten Sie ebenfalls solche Befürchtungen? Was hat bei Ihnen den Ausschlag dafür gegeben, bei der Jugendweihe nicht mitzumachen? Althaus: Das sind so diese Grenzziehungen, die meine Eltern und ich selbst vorgenommen haben. Auch der Entschluss, nicht drei Jahre zur Armee zu gehen, war eine solche Entscheidung. Es waren vielleicht fünf, sechs junge Männer aus dem Jahrgang von vielleicht 40, die das nicht gemacht haben. Es hätte bedeuten können, dass dadurch manche Studiengänge nicht hätten erreichbar sein können. Dies hat mich jedoch nicht so sehr bewegt, weil ich mir damals dachte: Es ist einfach wichtig, dass ich mit Blick auf meine eigene Entwicklung sage, wo hier mit Blick auf die Gesellschaft die Grenze gesetzt wird und wie stark oder weniger stark ich mich involvieren lasse. Da ich aber gute Leistungen gerade in den Naturwissenschaften hatte, ist dann auch in mir der Wunsch gewachsen, für das Lehramt zu studieren. Da ich wusste, dass dort sehr viel Personal gebraucht wird, dass gerade dort viele junge Männer gesucht werden, war ich da auch relativ gelassen. Das hat dann ja auch alles geklappt. Diese Grenzziehungen waren jedenfalls zu DDR-Zeiten sehr wichtig, damit der Staat, damit die SED-Politik spürte, dass es Bereiche gibt, in die sie nicht hineinregieren können – und wenn sie es versuchen, dann gibt es klare persönliche Entscheidungen, diesen Versuch von vornherein zu unterbinden. Reuß: "Als bekennender katholischer Christ möchte ich Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes gestalten", haben Sie einmal gesagt. In Deutschland bekennen sich heute ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung zu einer christlichen Kirche, in Ostdeutschland sind das noch etwa 20 Prozent. Wer tritt in dieser sich immer weiter säkularisierenden Gesellschaft an die Stelle der Kirchen? Wer kann noch Werte vermitteln? Wo sind heute die Vorbilder? Wer stiftet Gemeinschaft, wenn die Kirchen immer weniger Einfluss auf die Gesellschaft haben? Althaus: Das ist eben genau die Frage. In Deutschland, aber auch in Europa waren ja über Jahrhunderte wert- und identitätsstiftende Institutionen wie die Kirchen entscheidend – egal, ob man dabei nun hauptsächliche positive oder negative Entwicklungen betrachtet. Es waren einfach häufig diese stark prägenden Institutionen, die bestimmte Entwicklungsprozesse eingeleitet und begleitet haben. Wir brauchen heute aber noch genauso eine Wertorientierung und deshalb ist es wichtig, dass dann, wenn diese großen Institutionen nicht mehr diesen Einfluss und nicht mehr diese Wirkmöglichkeiten haben, auch Einzelpersonen und auch einzelne Gruppen diese Aufgabe mit übernehmen. Das heißt, diese Werte bleiben weiter gültig. Ich hatte sie vorhin ja bereits kurz aufgezählt: Gerechtigkeit, Freiheit, Menschenwürde und auch die wichtigen Sozialprinzipien wie z. B. Subsidiarität und Solidarität und Gemeinwohl. All diese Werte müssen auch heute deutlich sichtbar sein; das kann man durch persönliches Vorleben erreichen oder auch durch institutionelle Entwicklungen organisieren wie z. B. durch Vereine und Verbände. Aber insgesamt müssen wir schon darauf achten, dass diese identitätsstiftende Aufgabe, sowohl bezogen auf das christliche Menschenbild wie mit Blick auf unsere Geschichte und Zukunft, auch weiterhin von den Kirchen wahrgenommen wird. Deshalb muss man der Kirche auch die Räume öffnen, wo sie dies tun kann. Das bezieht sich also nicht nur auf die Kirche als Gebäude, auf den sakralen Raum selbst, sondern es geht eben auch sehr stark um die Beteiligung der Kirchen an vielen gesellschaftlichen Aufgaben. Denken Sie nur einmal an solche Bereiche wie Krankenhäuser, Bildung, Altenpflege, Sozialeinrichtungen, Jugendarbeit usw. Denn dadurch haben die Kirchen eben auch die Möglichkeit, in der Gesellschaft aktiv zu sein und zu zeigen, wie sie selbst und die Menschen in ihr das christliche Menschenbild in der eigenen Verantwortung konkret umsetzen. Reuß: Sie haben an der Pädagogischen Hochschule hier in Erfurt Mathematik und Physik studiert und Ihr Studium als Diplomlehrer abgeschlossen. Sie waren dann auch ab 1983 als Lehrer tätig, und zwar an der polytechnischen Hochschule in Geismar. 1985 sind Sie in die Ost-CDU eingetreten, auch, wie Sie sagten, um den Werbeversuchen der SED zu entgehen. 1985 war auch das Jahr, in dem in der Sowjetunion Michael Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU wurde. Er begann dann mit Reformen, die im Westen zunächst auf große Skepsis, aber auch bald auf große Zustimmung stießen. Hat Gorbatschow mit seinen Reformen, die mit den Schlagworten Glasnost und Perestroika umschrieben waren, auch bei den Bürgerinnen und Bürgern der DDR Hoffnungen genährt? Althaus: Ganz sicher. Das war dann ja auch die Zeit, in der plötzlich der "Sputnik", diese kleine Zeitschrift, verboten wurde. Wir haben sie uns trotzdem besorgt. Wir haben alle gehofft, dass dieses neue Denken insgesamt in dieser kleinen sozialistischen Welt möglich wird. Wir haben dann allerdings sehr schnell gespürt, dass z. B. die DDR-Führung überhaupt nicht daran dachte. Von Gorbatschow als Person ging daher immer ein Stück Hoffnung aus, dass irgendwann dieses sozialistische Indoktrinieren ein Ende hat. Als dann der Papst aus Polen parallel dazu vor allem auch durch seine eigene Person immer wieder diese Öffnung dokumentierte, gab es sozusagen eine Doppelbewegung. Die eine Bewegung kam von außen und die andere von innen. Für uns, für mich und sicherlich auch für viele, viele andere Menschen in der DDR war damit die Hoffnung auf ein baldiges Ende dieses sozialistischen Versuchs verbunden. Reuß: "Meine Familie hat immer auf den Einsturz der Mauer gehofft", haben Sie einmal gesagt. Wie haben Sie selbst als junger Mensch die DDR erlebt? War es so, dass Sie unter diesen Verhältnissen gelitten haben? Althaus: Nein, das würde ich nicht sagen. Aber es gab Grenzen. Es gab Entwicklungsperspektiven, die möglich waren, aber auch andere, die verstellt waren. Immer dann, wenn sich plötzlich besondere Erfahrungsräume öffneten, hat man diese Grenzen besonders hart gespürt. Mein Bruder studierte z. B. Theologie und plötzlich war so ein Studium für die SED Anlass genug, noch mehr Druck auszuüben. Mein Vater war in der privaten Wirtschaft tätig: Auch das hat den Genossen nicht so sehr gefallen. Er war vorher in einem anderen, in einem öffentlichen Bereich angestellt gewesen und wechselte dann sehr bewusst in die private Wirtschaft. Wir hatten auch sehr viel Verwandtschaft, die in Westdeutschland gelebt hat. Wir wussten dadurch natürlich auch sehr genau die Entwicklungsunterschiede einzuschätzen, denn wir hatten ja regelmäßig Besuch durch unsere Verwandten. Meine Kindheit und Jugend war nicht belastet, aber je älter ich wurde – und das gilt ja wohl allgemein für die Menschen und damit auch für die Menschen in der DDR –, um so mehr litt ich unter dieser Erfahrung der Unfreiheit und auch unter der Erfahrung, dass es eine gewisse Doppelzüngigkeit brauchte, um überhaupt überleben zu können. Denn nicht alles, was wir gesehen und gehört haben, durften wir kommunizieren. Die Schule war z. B. so ein Raum, in dem man sich diese Schere im Kopf sehr genau bewusst machen musste. Das alles hat natürlich mit zunehmendem Lebensalter noch mehr Probleme mit sich gebracht. Kinder und Jugendliche hingegen werden davon vielleicht weniger angegriffen. Reuß: "Das Beste an der DDR war der Traum, den wir von ihr hatten", meinte der Schriftsteller Hermann Kant. Teilen Sie diese Auffassung? Althaus: Nun gut, Hermann Kant ist eine ganze Generation älter als ich. Ich persönlich kann nachvollziehen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Zusammenbruch diese Ideen und Ideale, die ja in Wirklichkeit keine waren, dieser Traum einer sozialistischen Welt, in der große Gerechtigkeit und große Gleichheit existiert, vorhanden war. Aber ein solcher Traum musste zerplatzen, weil der Mensch einfach nicht so ist. Der Mensch ist nicht so, dass er sich auf gesellschaftlicher Ebene solchen Gleichheitsidealen verpflichtet fühlen würde. All diese Vorstellungen in der Geschichte von umfassender Kooperation, von Organisationen, die alles gerecht und gleich organisieren, sind bis heute zerplatzt: ob man nun die israelischen Kibbuzim auf kleinerer Ebene nimmt oder die großen sozialistischen und kommunistischen Träume. Das ist halt eine Utopie, denn so können Menschen nicht leben, es sei denn, man sperrt sie über längere Zeit hinweg ein: Dann funktioniert das wohl eine Weile. Die DDR hat das ja so gemacht. Aber irgendwann zerplatzt auch das, weil sich die Freiheit immer Raum schafft. Die Anfangsbestimmung der DDR und des kommunistischen Systems im gesamten Ostblock bestand daher darin, dass ganz am Ende erneut die Freiheit stehen würde. Reuß: Westdeutsche tun sich ja schwer, ostdeutsche Biographien nachzuvollziehen oder gar zu verstehen. Und beurteilen können wir Westdeutschen sie gleich gar nicht – was uns übrigens auch nicht ansteht. Dennoch will man als Westdeutscher diese Biographien freilich verstehen. Die Tageszeitung "Thüringer Allgemeine" schrieb einmal, Sie hätten ein hybrides Dasein geführt zwischen Mitläufertum und Verweigerung: Sie waren praktizierender Katholik, aber auch FDJ-Mitglied; Sie leiteten eine katholische Studentengemeinde, besuchten aber auch Marxismus- Leninismus-Seminare; Sie sind 1985 in die Ost-CDU eingetreten, haben aber gleichzeitig, als das noch gefährlich war, Montags-Demonstrationen mit organisiert. War also eine Minimalintegration in das System notwendig, um sich bestimmte Freiheiten erarbeiten zu können? Althaus: Ich habe sehr großen Respekt vor denen, die wirklich als Dissidenten, als Bürgerrechtler von Grund auf und kontinuierlich opponiert haben. Meine Erziehung war hingegen eine andere, sie verlief sicherlich mehr nach der Maxime: "Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" Es ging also immer darum, die Dinge auch ein wenig mitzugestalten, mit dabei zu sein und allerdings auch diese vorhin erwähnte Grenzziehung zu beachten. Einige der Punkte, die Sie soeben angesprochen haben, waren schlicht und ergreifend Pflichtpunkte. Dem Marxismus-Leninismus konnte sich z. B. keiner entziehen: Das war die Staatsbürgerkunde im normalen Schulunterricht und später in jedem Studiengang. Ob in der Medizin oder beim Lehrerstudium: Das war ein fester Bestandteil. Darüber hinaus hat es aber auch Bereiche gegeben, in denen ich mich gerne engagiert habe wie z. B. in den Studentengemeinden oder überhaupt bei kirchlichen Aktivitäten. In die CDU bin ich 1985 deswegen gegangen, weil ich aufgrund meiner eigenen Prägung wusste: "Wenn du dich für diese Partei entscheidest, dann hast du von der SED her Ruhe." Ich habe in der Ost-CDU keine Funktionen übernommen, ich war einfach nur dabei. Man muss aber auch wissen, dass das Eichsfeld eine sehr stark katholische und früher auch an der katholischen Zentrumspartei orientierte Region ist. Die Wahlergebnisse beweisen das auch: Das Wahlergebnis von 1933 brachte dem Zentrum ein sehr starkes Ergebnis; 1946 erbrachte die Wahl der CDU ein sehr starkes Ergebnis und 1990 bei meiner Wahl gab es erneut ein starkes Ergebnis für die CDU. Das waren über diesen langen Zeitraum fast identische Wahlergebnisse: Dort in dieser Region gibt es also eine ganz klar spürbare Prägung in Richtung Zentrum bzw. CDU. Reuß: Im Januar 1990 wurden Sie Schulrat und im Oktober desselben Jahres erstmals in den Thüringischen Landtag gewählt. Zwei Jahre später, als Ministerpräsident wurde, hat er Sie zum Kultusminister ernannt. Hat Sie damals diese Aufgabe gereizt? Sie haben ja den Bildungssektor als Lehrer, dann als Schulrat und schließlich als Kultusminister erfahren. Althaus: Der erste Wechsel sozusagen von der Straße weg in das Amt des Schulrats war natürlich ein Novum für mich mit meinen 31 Jahren. Ich war damals zusammen mit einer Frau aus Ilmenau der Einzige, der derart früh, also im Dezember 1989 bzw. im Januar 1990, in dieses Amt gekommen ist. Ich habe sehr schnell personelle und inhaltliche Wechsel organisiert: Ich wollte nicht mehr mit der alten Führung der DDR-Schule, sondern mit den neuen Möglichkeiten des Westens arbeiten, also mit Niedersachsen, Hessen und Bayern. Das hat mir große Freude gemacht und deswegen war die Entscheidung, für den Landtag zu kandidieren, eine sehr bewusste. Denn ich wusste, dort wird jetzt auch grundlegend eine neue Bildungspolitik gemacht. Ich wollte aber trotzdem meine kommunale und regionale Verantwortung beibehalten. Dies ging dann später aufgrund der neuen Rechtsgrundlagen nicht mehr. Ich habe jedenfalls nach meiner Wahl in den Landtag von Thüringen die gesamten Grundlagen für die Bildungsstrukturen und –inhalte mit geschaffen. Aus dem Parlament heraus war ich verantwortlich, zusammen mit , der damaligen Kultusministerin, die ich ebenfalls gut kannte. Wir waren etwa gleichaltrig und hatten daher eine große persönliche Affinität zueinander, auch aufgrund unserer jeweiligen Erfahrungen. Als dann Bernhard Vogel kam und mir das Angebot unterbreitete, konnte ich gar nicht lange überlegen: Er hat mir nur fünf Minuten Zeit gelassen. Da gab es dann wirklich keine große Überlegensphase mehr. Nein, ich wusste, wenn ich jetzt die Chance erhalte, auch exekutiv verantwortlich zu sein, dann mache ich das gerne. Denn in die Schulen Thüringens mussten nicht nur neue Inhalte gebracht werden, es mussten für sie nicht nur neue Strukturen geschaffen werden. Nein, das Wichtigste, das in diesen Jahren notwendig war, bestand darin, wieder Vertrauen aufzubauen. Ich wusste, dass ein längerer Prozess nötig sein würde, um dieses Vertrauen wieder aufbauen zu können. Das ist mir gelungen, aber das war auch schwer. Als jemand, der auf diesem Gebiet eigene Erfahrungen gemacht hatte, der selbst als Lehrer tätig gewesen war, der als Schulrat die Umgestaltung selbst mit organisiert hatte, war es mir dann natürlich leichter möglich, dieses Vertrauen wieder aufzubauen, denn ich konnte sozusagen in Runden mit Gleichgesinnten diskutieren. Das hat wohl für beide Seiten, für die Schule wie auch für mich, einen ganz guten Dialog ermöglicht. Reuß: Nach der Landtagswahl 1999 wurden Sie dann Fraktionsvorsitzender. Dazu hat, wie man nachlesen kann, der Ministerpräsident ein wenig gedrängt. Im Jahr 2000 wurden Sie als Nachfolger von Bernhard Vogel CDU- Landesvorsitzender und im Juni 2003 Ministerpräsident. Sie standen dann im Jahr 2004 erstmals zur Wahl; die CDU verlor bei dieser Wahl acht Prozentpunkte, konnte aber in etwa das Ergebnis halten, das sie 1990 und 1994 in Thüringen hatte. Sie regieren bis heute nach wie vor mit absoluter Mehrheit, mit einer Stimme Mehrheit im Parlament. War denn die Wahl 1999, bei der Bernhard Vogel 51 Prozent erzielte, eine Ausnahmesituation? Althaus: Die große Koalition funktionierte gut, aber in der letzten Phase dieser großen Koalition hatte sich die SPD in ihrer Führung neu aufgestellt. Der damalige Landesvorsitzende hat sich dann ohne Probleme für die PDS geöffnet und auch angekündigt, dass es eine mögliche Koalition mit der PDS geben könnte. Bernhard Vogel hat damals hingegen eine klare Linie für die CDU an den Tag gelegt. Ich war ja sein Stellvertreter in jenen Tagen und kann daher sagen, dass wir einen guten Wahlkampf geführt haben. Ich glaube, das hohe Vertrauen, das Bernhard Vogel als Person immer genossen hat, war wichtig. Und dann ist es eben zu diesem sehr starken Wahlergebnis für die CDU gekommen, zu dieser absoluten Mehrheit. Gleichzeitig gab es für die SPD einen dramatischen Rückgang. Dass sich diese große absolute Mehrheit ein wenig verflüchtigte, muss man wohl als normale Entwicklung zur Kenntnis nehmen, denn wir sind an sich ja kein durch die Union geprägtes Land. Das waren wir in der Geschichte nie und das sind wir auch in den letzten 16 Jahren nicht gewesen. Wir müssen uns also solche Ergebnisse jedes Mal mühsam erarbeiten und deswegen waren der Umstieg im Jahr 2003 zu mir und die Wahl im Jahr 2004 durchaus ein Risiko. Dass das aber so geklappt hat, dass ich 2004 am Ende die absolute Mehrheit verteidigen konnte, war der Beweis dafür, dass in diesem Risiko auch eine Chance gelegen war. Und wir haben diese Chance eben genützt. Reuß: Wenn man sich die Analyse der Wahl im Jahr 2004 ansieht, dann ist erstaunlich, was dort steht: "Der Vertrauensschwund für die Regierungspartei bei der Landtagswahl 2004 in Thüringen ist vor allem in einer aus Sicht der Bürger schlechten Leistungsbilanz der Landesregierung begründet, die jedoch durch die große Popularität des Ministerpräsidenten Dieter Althaus abgefedert wird. 68 Prozent sehen in Dieter Althaus einen guten Ministerpräsidenten", heißt es in einer Analyse von Infratest/dimap. Da waren Sie gerade mal ein Jahr im Amt und hatten bereits diesen großen Zuspruch in der Bevölkerung. Worauf führen Sie das zurück? Althaus: Ich komme aus diesem Land, ich kenne dieses Land und als Kultusminister war ich sehr viel unterwegs in diesem Land. Ich spreche die Sprache der Menschen hier, d. h. ich teile ihren Erfahrungshintergrund. Ein zweiter Grund ist sicherlich, dass ich mich gerade in diesem ersten Jahr sehr stark im Land in allen Regionen als Ministerpräsident eingebracht habe. Ich hatte als Bundesratspräsident auch eine gute Möglichkeit, mich national vielfältig zu entwickeln. All das hat mich eben als Menschen sehr stark bei den Bürgern ankommen lassen. Wie vorhin schon gesagt: Ich glaube, dass in der Politik in Zukunft die Menschen noch wichtiger als die Programme werden. Deshalb hat das zu einem guten Stück zu einer Kompensation geführt: Es gab zwar einen Rückgang bei der CDU, aber gleichzeitig auch einen Zuwachs bei der Person des Ministerpräsidenten. So konnten wir eben auch diese Wahl erfolgreich absolvieren. Reuß: Dramatisch war ja die Wahlbeteiligung, denn sie sank auf ein historisches Tief. Es gingen nur noch knapp 54 Prozent der Wahlberechtigten zu Wahl. Das war die niedrigste Wahlbeteiligung bei der Landtagswahl seit 1945. Worauf führen Sie das zurück? Ist das ein Stück weit Gleichgültigkeit? Ist das ein Stück weit auch Protest? Man kann nämlich beobachten, dass das von Wahl zu Wahl ein bisschen abbröckelt. Althaus: Das ist sicherlich auch ein Stück Protest. Die Leute haben eine andere Erwartungshaltung an die Politik, die nicht erfüllt wird. Es gibt eben diejenigen, die dann die politische Alternative wählen. Es gibt aber auch diejenigen, die sagen: "Das ist jetzt überhaupt nicht mehr meine Politik und ich gehe nicht mehr zur Wahl." Der zweite Grund ist, dass hier in Thüringen die aktive Demokratie natürlich noch nicht wirklich eingeübt ist. Seit 16 Jahren sind wir Gott sei Dank wiedervereinigt und haben die Chance, unser Miteinander demokratisch zu gestalten. Aber dass das auch heißt, sich selbst stark einzubringen, entweder als Person in Ämtern und Aufgaben oder einfach auch als Wählerinnen und Wähler, ist noch nicht wirklich verinnerlicht worden von allen. Auch die ganzen Entwicklungsprobleme des Wiedervereinigungsprozesses werden oft nicht von den Ursachen her bedacht, sondern eigentlich nur mehr in der Aktualität bewertet. Aus diesem Grund sieht man dann nicht mehr, dass der Ursprung dieser Probleme in der alten DDR lag, sondern man weist immer nur auf die Probleme der letzten zwei, drei Jahre hin. So bekommt die aktuelle Politik eben immer den Denkzettel dafür. Um so wichtiger ist es daher meiner Meinung nach, dass die aktuelle Politik immer wieder und nachhaltig erklärt und begründet wird und dass der Politiker oder die Politikerin, die die Verantwortung übernehmen möchten, auch deutlich machen, dass man den gleichen Erfahrungshintergrund hat, dass man möglicherweise auch den gleichen Frust hat. Wichtig ist aber vor allem, dass man dabei nicht stehen bleiben darf. Ganz im Gegenteil, wer etwas verändern will, der muss etwas tun, muss aktiv sein: bei Wahlen, aber auch durch persönliches Engagement in der Politik. Reuß: Zu Ihrem Amtsantritt haben Sie über Ihr Land Thüringen gesagt: "Wir spielen jetzt in der zweiten Liga und wollen aufsteigen!" Ist Ihnen der Aufstieg schon geglückt? Althaus: Nein, wir sind strukturell schon noch immer benachteiligt. Wir haben bei der Produktivität, beim Konsum, beim Einkommen immer noch erhebliche Rückstände im Vergleich zu anderen Bundesländern. Das kann man alleine schon an der Wirtschaftsstruktur festmachen. Wir haben eine exzellente mittelständische Struktur, wir haben ganz starke Regionen wie Ilmenau, Jena, Erfurt, und andere. Aber insgesamt ist diese mittelständische Struktur natürlich noch nicht so entwickelt, so breit aufgestellt, mit so vielen Beschäftigten ausgestattet, dass wir uns z. B. mit dem bayerischen, baden- württembergischen oder dem Mittelstand in anderen Bundesländern vergleichen könnten. Diese Entwicklung dauert und deswegen denke ich, dass wir dafür noch die nächsten zehn, fünfzehn Jahre brauchen, um uns sozusagen intern so fit zu machen und die entsprechenden Konditionen so aufzubauen, dass wir dann auch den Aufstieg schaffen. Denn wenn wir den Aufstieg dann schaffen, dann wollen wir ja nicht bereits wieder in der nächsten Saison absteigen. Nein, wir wollen dann auch wirklich in dieser Liga vorne mitspielen. Reuß: Stichwort "Arbeitslosigkeit". Erfreulich ist ja, dass die Arbeitslosigkeit in den letzten Monaten signifikant und spürbar abgenommen hat. Dennoch waren im Juni 2006 in Thüringen noch ungefähr 15 Prozent Erwerbspersonen arbeitslos. Dabei gibt es sehr große regionale Unterschiede. Im Kyffhäuserkreis waren es fast 23 Prozent, in Jena 10 Prozent. Bekommen wir denn die Arbeitslosigkeit als Problem in der ganzen Bundesrepublik überhaupt noch in den Griff? Oder müssen wir, zynisch gesagt, auf die demographische Entwicklung warten, d. h. darauf, dass eines Tages das Arbeitskräfteangebot geringer wird? Althaus: Die Arbeitslosigkeit ist wirklich die größte Herausforderung, weil sie natürlich auch sehr viele individuelle soziale Probleme schafft. Gerade in so einer Region wie dem Kyffhäuserkreis sind damit auch sehr viele regionale Probleme verbunden. In Jena, also in einer Stadt, die wächst und die eine vergleichsweise geringe Arbeitslosigkeit hat, gibt es umgekehrt sehr viel weniger regionale Probleme. Man muss das Problem der Arbeitslosigkeit selbstverständlich auch mit Bezug zur Situation in ganz Deutschland sehen. Man muss hier redlicherweise sagen, dass es der deutschen Politik in den letzten Jahren nicht gelungen ist, die Rahmenbedingungen so zu ändern, dass hier wirklich wieder neue Arbeitsplätze in größerer Anzahl entstehen. Stattdessen ist es so, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten immer weiter zurückgeht. Das geschieht zwar inzwischen mit einem geringeren Falltempo, aber sie geht immer noch weiter zurück. Deswegen bin ich der Meinung, dass wir uns noch mehr Gedanken darüber machen müssen, wie wir die Ordnung in Deutschland weiterentwickeln und verändern müssen, welche strukturellen Reformen wir durchführen müssen, um dem Wirtschaftswachstum wirklich wieder einen größeren Raum zu geben. Da reichen die heutigen Antworten nicht aus, davon bin ich überzeugt. Da gibt es nur sehr viele Reparaturversuche, die unternommen werden: In aller Regel kommen sie mit sehr viel Staat daher. Ich glaube hingegen, dass der umgekehrte Weg der richtige ist: weniger Staat, mehr Eigenverantwortung, mehr Freiheit. Das ist für die Wirtschaft wichtig, aber auch für uns als Beteiligte, als Arbeitnehmer, weil wir uns dann auch entsprechend den Erfolgen der Wirtschaft entwickeln können. Diesen Punkt zu erkennen und aus der Analyse dieser Probleme auch die richtigen Konsequenzen zu ziehen, fällt Deutschland so unendlich schwer, weil wir uns über Jahrzehnte hinweg an einen immer weiter steigenden Wohlstand gewöhnt haben, der verbunden war mit einem hohen Maß an sozialer Sicherheit. Weil wir aber die Veränderungen, die bereits in den siebziger und achtziger Jahren hätten organisiert werden müssen, nicht mit der notwendigen Kraft angegangen sind, haben wir heute diese Probleme. Wenn man eine lange Zeit in einer Einbahnstraße oder gar in einer, wie ich das durchaus nennen würde, Sackgasse geht, dann wird eben auch der Rückweg umso anstrengender. Aber wir müssen ihn einfach gehen. Ich denke daher, wir sind immer noch aufgefordert, in Deutschland eine umfassende Reform umzusetzen, die das Grundübel unserer Entwicklungsprobleme anpackt. Dieses Grundübel besteht darin, dass wir unseren gesamten Arbeitsmarkt über den Sozialstaat fesseln. Dadurch belasten wir innerhalb Europas die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft immer stärker, als das in anderen Nationen der Fall ist. Zweitens ist es so, dass wir dadurch eine große Menge an Arbeit, die ja vorhanden ist, für den Arbeitsmarkt nicht mehr wirklich verfügbar machen. Dies führt dann zu einer ständigen Zunahme von Schwarzarbeit, das führt zu einer ständigen Abnahme von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Um dieses Thema, dass der Staat den Arbeitsmarkt an den Sozialstaat koppelt und umgekehrt, endlich zu lösen, muss uns mehr einfallen als in der aktuellen Reformdebatte. Reuß: Sie haben es jetzt schon anklingen lassen: Ein Thema, das Sie sehr beschäftigt, wenn man das in Interviews mit Ihnen und in Beiträgen von Ihnen nachliest, ist die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, die ja weitgehend an den Faktor Arbeit gebunden ist. Im Bundeshaushalt gibt es jedoch heute schon solche Dinge wie die Quersubventionierung der Rentenversicherung; es gibt jetzt bei der Gesundheitsreform erste Überlegungen, diesen Bereich auch steuerfinanziert zu machen, was z. B. die kostenlose Kindermitversicherung betrifft. Müssen wir also mehr Abstand davon nehmen, den Faktor Arbeit zu belasten? Müssen wir, gerade was die sozialen Sicherungssysteme betrifft, mehr aus dem Steuersäckel finanzieren? Althaus: Ja, aber wir machen das im Moment unsystematisch. Wir wollen das erreichen: die kostenlose Kinderversicherung ablösen und sie über die Steuer finanzieren – aber wir wollen trotzdem bei dem alten Sozialversicherungssystem bleiben. Das ist so, als wollte man gleichzeitig ein Leistungsschwimmer sein und einen Dauerlauf über 20 Kilometer absolvieren. Das funktioniert einfach nicht. Es wird nur funktionieren, wenn wir die Dinge voneinander trennen. Ich bin aus einem einfachen Grund für die ersten Reformschritte, die wir auf diesem Gebiet nun unternehmen: Ich bin erstens deswegen dafür, weil hierbei höchstens eine Ergebnislinderung auftreten kann, aber keine wirkliche Besserung. Zweitens eröffnet uns das erneut einen Erfahrungsraum in dem Sinne, dass auch dieser Weg nicht erfolgreich gangbar ist. Deutschland braucht allem Anschein nach solche Erfahrungen, denn in unserer Gesellschaft ist immer noch spürbar, dass die wirklichen Herausforderungen nicht erkannt werden und dass auch die Politik nicht den notwendigen Freiraum bekommt, eine umfassende Reformidee auch mal umzusetzen. Ich glaube also, dass uns das teilweise Steuerfinanzieren nicht weiterhilft. Denn das Problem dabei ist, dass dadurch erstens der Arbeitsmarkt nicht wirklich befreit wird: Es ist ja letztlich nur eine Marginalie, ob die Lohnnebenkosten mal um einen Prozentpunkt sinken. Zweitens wird damit natürlich nicht ein höheres Maß an Beschäftigung geschaffen. Die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungszahlen nehmen weiter ab. Das heißt, die Einträge in die Sozialversicherung werden nicht stabilisiert oder erhöht. Und drittens kommt es dadurch auch nicht zum nötigen Wirtschaftswachstum, sodass dadurch auch die Steuereinnahmen nicht steigen. Deswegen muss man, wenn man diesen Weg irgendwann konsequent geht, den Arbeitsmarkt und den Sozialstaat wirklich trennen. Man muss den Arbeitsmarkt dann wieder als Markt entwickeln und kann dadurch die Steuereinnahmesituation des Staates und auch des Einzelnen deutlich verbessern, sodass sich daraus dann auch das Maß an Sicherung, das uns wichtig ist, bezahlbar halten lässt. Das ist also noch ein längerer Prozess. Im Moment versuchen wir immer noch durch kleine Schraubendrehereien die Veränderungen zu organisieren. Ich glaube stattdessen, dass wir einen neuen Motor brauchen, denn unser Motor ist einfach verschlissen. Da nützt es nichts, wenn man nun versucht, die Leistungsfähigkeit dieses Motors durch einen neuen Kolbenring zu erhöhen. Nach so vielen Jahrzehnten haben sich die Fehler im System immer weiter entwickelt und kumulieren nun auch miteinander. Ich denke also, wir sollten einen neuen Motor kaufen, um damit neue Leistungsfähigkeit zu ermöglichen. So weit ist die Politik aber noch nicht. Ich kommuniziere das, viele andere Politiker kommunizieren das, aber es besteht insgesamt noch keine Bereitschaft, in Deutschland einen solchen Weg zu gehen. Reuß: Kommen wir zum Stichwort "Föderalismusreform". Da wurde gerade nach zähem Ringen eine Reform beschlossen, die, wenn man so will, tatsächlich einen Paradigmenwechsel beinhaltet. Das Prinzip "Bundesrecht bricht Landesrecht" wird weitgehend abgelöst durch das Prinzip "Landesrecht bricht Bundesrecht". Darüber gab es selbstverständlich viele Diskussionen. Wir kommen nun weg von einem kooperativen Föderalismus und bewegen uns zu einem eher konkurrenzorientierten Föderalismus. Aber: Kann hier die Konkurrenz wirklich das Geschäft beleben, wenn die Voraussetzungen so unterschiedlich sind? Die Länder in Deutschland unterscheiden sich nun einmal sehr stark hinsichtlich ihrer Größe, ihrer Wirtschaftskraft, ihrer Bevölkerungszahlen. Nordrhein-Westfalen hat 18 Millionen Einwohner, Bremen nur 650000. Befürworten Sie diesen Wettbewerb zwischen den Ländern? Kann er überhaupt funktionieren bei so ungleichen Startbedingungen? Althaus: Obwohl wir hier in Thüringen im Moment noch erhebliche Nachteile haben, befürworte ich den Wettbewerb. Aber die Startbedingungen sind natürlich genau das Problem: Wir müssen also in den nächsten Jahren dafür sorgen – auch bei der Finanzverfassungsdiskussion –, dass wir die Startbedingungen vergleichbarer machen. Denn Wettbewerb ist natürlich nur unter gleichen Wettbewerbsverhältnissen gut. Wenn man in der zweiten Liga spielt, dann kann man sich nicht an München oder Hamburg messen, weil sie gar nicht in der gleichen Liga spielen. Insofern bin ich der Ansicht, dass es bei den weiteren Reformschritten eine wichtige Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass die Startbedingungen verbessert werden. Aber in der Folge davon ist es meiner Meinung nach dann auch wichtig, dass sich auch die Politiken der Länder stärker in einem Wettbewerb befinden. Eine kluge Bildungs- und Hochschulpolitik, eine kluge Ansiedlungspolitik usw. müssen sich ja irgendwo ausweisen. Wir sehen es ja in Deutschland, dass so etwas Erfolge produziert. Und dann müssen diese Länder aufgrund der Vorteile, die sie sich erarbeitet haben, eben auch als Länder insgesamt einen Vorteil haben. Deswegen bin ich der Meinung, wir brauchen diesen Gestaltungsföderalismus, der zu mehr Wettbewerb führt, weil das die einzige Chance ist, die föderale Ordnung im nationalen Gebilde zu erhalten. Da ist dann aber nicht Größe entscheidend, sondern Vitalität und Leistungsfähigkeit. Wir sehen das ja auch in Europa insgesamt: Zurzeit wird in Europa ja nicht bewiesen, dass die Großen die Besten sind. Die Besten sind heute diejenigen, die besonders vital und besonders kreativ mit den Herausforderungen des Alltags umgehen. Das sind oft kleine Länder. Ich freue mich also eigentlich auf diesen Wettbewerb. Aber dieser Wettbewerb muss auch noch stärker die Wettbewerbsrahmenbedingungen beachten. Das heißt, wir müssen in Deutschland dafür Sorge tragen, dass wir hier für den Anfang mehr Gleichberechtigung haben. Aber dann muss auch die Wählerschaft, muss jeder Einzelne mit den Folgen dieser Politik umgehen. Man kann also nicht beides haben, man kann nicht sozusagen mehr Wettbewerb organisieren und dann am Ende, wenn die Sache nicht gut läuft, sagen, andere seien schuld. Nein, auch bei diesem Wettbewerb ist es so wie beim Wettbewerb in der Wirtschaft: Wir sind in jedem Fall selbst daran schuld, ob wir nun erfolgreich sind oder nicht. Reuß: Zum Ende der Sendung würde ich gerne noch einmal auf Sie als Person zurückkommen. Man kann lesen, Sie betreiben viel Sport: Sie tauchen, Sie fahren mit dem Mountainbike und spielen Fußball. Was ist Ihre Lieblingsposition beim Fußball? Althaus: Ich bin ein klassischer rechter Verteidiger, aber ich gehe gerne mal ins Mittelfeld und versuche auch, mich in den Sturm mit einzuschalten. Aber wenn wir spielen, dann spielen wir immer aus einer gesicherten Abwehrkette heraus. Denn in unserem Alter darf man gar nicht erst in den Nachteil geraten, Tore zu kassieren. Stattdessen müssen wir immer zuerst selbst ein Tor schießen. Wenn dann aber dieser Vorteil geschafft ist, dann versuche ich mich auch ins Mittelfeldspiel oder in den Sturm mit einzuschalten. Reuß: Wenn man wie ich aus Bayern kommt, dann muss man zum Schluss einfach auch noch eine hinterfotzige Frage stellen, denn das gehört einfach mit dazu. Es wird immer wieder spekuliert, Dieter Althaus könnte auch in die Bundespolitik wechseln. Sie hatten nach der letzten Bundestagswahl diese Chance, haben das jedoch nicht gemacht. Aber Sie gehören natürlich dem Präsidium des CDU-Bundesvorstandes an, Sie gehören der Grundsatzkommission Ihrer Partei an und Sie sind als Ministerpräsident selbstverständlich auch im Bundesrat tätig. Das heißt, Sie sind auch heute bereits auf der Bundesebene unterwegs. Können Sie denn ausschließen, dass Sie jetzt oder künftig in der Bundespolitik ein Amt anstreben? Althaus: Ausschließen kann ich das nicht, weil mein Leben in den letzten 17 Jahren natürlich bewiesen hat, dass ich mich auch neuen Herausforderungen stelle. Aber ich kann das zumindest für die nächsten Jahre ausschließen. Mein Platz ist hier in Thüringen und die nächste Herausforderung ist die Wahl im Jahr 2009. Da werde ich, wie ich hoffe, erneut erfolgreich als Ministerpräsident kandidieren, denn es macht Spaß, dieses Land zu gestalten. Die Menschen hier sind sehr angenehm, ich kenne das Land und die Leute und ich will daher diesem Land und seinen Bewohnern auch weiterhin dienen. Reuß: Das war ein schönes Schlusswort. Ich darf mich bei Ihnen, Herr Ministerpräsident, ganz herzlich bedanken. Ich würde unser Gespräch gerne mit zwei kurzen Zitaten schließen. Das erste Zitat stammt aus der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" und lautet: "Dieter Althaus, immer für einen Spruch gut, meidet Politikfloskeln, gibt sich unkompliziert und soll seine elektronische Post auch noch um Mitternacht beantworten." Das zweite Zitat stammt von Ihnen selbst und beschreibt meiner Meinung nach sehr gut Ihr politisches Selbstverständnis. Es lautet: "Zur Politik in einem aufgeklärten Zeitalter gehört, dass man sagt, was man tut, und dann auch tut, was man sagt." Noch einmal ganz herzlichen Dank, Herr Ministerpräsident. Verehrte Zuschauer, das war unser alpha-forum, heute mit Dieter Althaus, dem Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen. Ich darf mich beim MDR für die Gastfreundschaft und die professionelle Betreuung bedanken. Ihnen, verehrte Zuschauer, herzlichen Dank für Ihr Interesse, fürs Zuschauen und auf Wiedersehen.

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