Plenarprotokoll 12/110

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Deutscher Bundesta g

Stenographischer Bericht

110. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Inhalt:

Gedenkworte für die Opfer des Flugzeug- Gouverneurs für die Bundesrepublik unglücks in Amsterdam . . . . 9311 A Deutschland in der Internationalen Finanz-Corporation zur Stimmabgabe Glückwünsche zum Geburtstag des Abge- für eine Änderung des Abkommens ordneten Wolfgang Mischnick . . 9311B über die Internationale Finanz-Corpo-

ration (IFC - Abkommensänderungs- Eintritt der Abgeordneten Dr. Sissy Geiger gesetz) (Drucksache 12/3321) (Darmstadt) in den Deutschen Bundestag 9311B e) Erste Beratung des von den Abgeord- Erweiterung der Tagesordnung . . . 9311B neten Dr. , Wolfgang Lüder, Dr. Gisela Babel und weiteren Absetzung des Punktes 6 von der Tagesord Abgeordneten eingebrachten Ent- nung ...... 9312 A wurfs eines Gesetzes zur Änderung Tagesordnungspunkt 3: des Gesetzes über die Entschädi- gung für Strafverfolgungsmaßnah- Überweisungen im vereinfachten Ver- men (Drucksache 12/3017) fahren a) Erste Beratung des von der Bundesre- f) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Gesetzes zur Änderung von Gesetzen Wirtschaftplans des ERP-Sonderver- auf dem Gebiet des Rechts der Wirt-

mögens für das Jahr 1993 (ERP - Wirt- schaft (Drucksache 12/3320) schaftsplangesetz 1993) (Drucksache 12/3331) g) Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Angela Stachowa, Dr, Dietmar b) Erste Beratung des von der Bundesre- Keller und der Gruppe der PDS/Linke gierung eingebrachten Entwurfs eines Liste: Erhalt kultureller Substanz im Ersten Gesetzes über die Verwaltung Zusammenhang mit der Verlagerung des ERP-Sondervermögens (Druck- von Bundesbehörden in die neuen sache 12/3332) Bundesländer (Drucksache 12/3236) c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines h) Beratung der Unterrichtung durch das Gesetzes über die Statistiken der Europäische Parlament: Entschlie- öffentlichen Finanzen und des Perso- ßung zu den Olympischen Winter- nals im öffentlichen Dienst (Finanz- spielen (Drucksache 12/2387) und Personalstatistikgesetz) (Druck- sache 12/3256) i) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament: Entschlie- d) Erste Beratung des von der Bundesre- ßung zu Sellafield II, der THORP- gierung eingebrachten Entwurfs eines Wiederaufbereitungsanlage für nu- Gesetzes über die Ermächtigung des kleare Brennstoffe in Sellafield im II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Vereinigten Königreich (Drucksache ser, Robert Antretter, weiterer Abge- - 12/3130) ordneter und der Fraktion der SPD: Generelle Sicherungspflicht für Kin- in Verbindung mit der im Pkw zu dem Antrag der Abgeordneten Zusatztagesordnungspunkt 1: Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Erste Beratung des von den Fraktionen Fischer (Hamburg), Manfred Heise, der CDU/CSU, SPD und F.D.P. einge- weiterer Abgeordneter und der Frak- brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes tion der CDU/CSU sowie der Abge- zur Änderung des Absatzfondsgesetzes ordneten Horst Friedrich, Ekkehard (Drucksache 12/3356) Gries, Roland Kohn, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der F.D.P.: in Verbindung mit Verbesserung des Schutzes von Kin dern als Mitfahrer in Kraftfahrzeu- Zusatztagesordnungspunkt 2: gen (Drucksachen 12/1978, 12/2252, Beratung des Antrags der Fraktion der 12/3233) SPD: Humanitäre Soforthilfe für die Menschen in Bosnien-Herzegowina ge- d) Beratung der Beschlußempfehlung gen die Gefahren des kommenden Win- und des Berichts des Ausschusses für ters (Drucksache 12/3355) Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Abgeord- in Verbindung mit neten Klaus Lennartz, Dietmar Schütz, Harald B. Schäfer (Offenburg), weite- Zusatztagesordnungspunkt 3: rer Abgeordneter und der Fraktion der Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Verbot des kommerziellen Wal- SPD: Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bos- fangs aufrechterhalten (Drucksachen nien-Herzegowina (Drucksache 12/2939) 12/2831, 12/3223)

in Verbindung mit e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Zusatztagesordnungspunkt 4: Umwelt, Naturschutz und Reaktor- Beratung des Antrags der Fraktion der sicherheit zu der Unterrichtung durch SPD: Voraussetzungen der Anerken- die Bundesregierung: Vorschlag für nung der neuen Bundesrepublik Jugo- eine Verordnung (EWG) des Rates zur slawien und Initiativen zur Wiederher- Regelung des Besitzes von und des stellung des Friedens in Bosnien-Herze- Handels mit Exemplaren wildleben- gowina (Drucksache 12/2546) . . 9312A der Tier- und Pflanzenarten (Druck- sachen 12/2257 Nr. 3.67, 12/2995) Tagesordnungspunkt 4: f) Beratung der Beschlußempfehlung Abschließende Beratungen ohne Aus- des Petitionsausschusses Sammel- sprache übersicht 67 zu Petitionen (Neuorga- a) Zweite Beratung und Schlußabstim- nisation Wehrverwaltung) (Druck- mung des von der Bundesregierung sache 12/2942) eingebrachten Entwurfs eines Geset- g) Beratung der Beschlußempfehlung zes zu dem Abkommen vom 30. Juli des Petitionsausschusses Sammel- 1990 zur Änderung des Abkommens übersicht 69 zu Petitionen (Druck- vom 14. September 1955 zwischen der sache 12/3246) Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über Erleichte- h) Beratung der Beschlußempfehlung rungen der Grenzabfertigung im des Petitionsausschusses Sammel- Eisenbahn-, Straßen- und Schiffs- übersicht 70 zu Petitionen (Druck- verkehr (Drucksachen 12/2264, sache 12/3247) 12/2862) i) Beratung der Beschlußempfehlung b) Zweite und dritte Beratung des von des Petitionsausschusses Sammel- der Bundesregierung eingebrachten übersicht 71 zu Petitionen (Druck- Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- sache 12/3288) rung adoptionsrechtlicher Vorschrif- j) Beratung der Beschlußempfehlung ten (Adoptionsrechtsänderungsge- des Petitionsausschusses Sammel- setz) (Drucksachen 12/2506, 12/3362) übersicht 72 zu Petitionen (Druck- c) Beratung der Beschlußempfehlung sache 12/3289) und des Berichts des Ausschusses für k) Beratung der Beschlußempfehlung Verkehr des Petitionsausschusses Sammel- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. übersicht 73 zu Petitionen (Druck- Margrit Wetzel, Klaus Daubertshäu sache 12/3290) ...... 9313 B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 III

Zusatztagesordnungspunkt 5: Zusatztagesordnungspunkt 6: Beratung des Antrags der Fraktionen der Erste Beratung des von den Abgeordne- CDU/CSU und F.D.P.: Zurückweisung ten Dr. , Andrea Lederer und des Einspruches des Bundesrates gegen der Gruppe der PDS/Linke Liste einge- das Gesetz zur Änderung des Gesetzes brachten Entwurfs eines Gesetzes zur zur Förderung der bäuerlichen Land- Durchführung eines Volksentscheids wirtschaft und des Fördergesetzes über die Mitgliedschaft der Bundesrepu- (Drucksachen 12/3340, 12/3357) . 9314 C blik Deutschland in einer Europäischen Union und die Ratifizierung des Maas- trichter Vertrages über eine Europäische Namentliche Abstimmung 9314 D Union (Europa-Abstimmungsgesetz) (Drucksache 12/3353) Ergebnis 9324 A in Verbindung mit

Tagesordnungspunkt 5: Zusatztagesordnungspunkt 7: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Beratung des Antrags der Gruppe der rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- PDS/Linke Liste: Maastrichter Vertrag setzes zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union (Drucksache über die Europäische Union (Drucksache 12/3322) 12/3334) in Verbindung mit b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Zusatztagesordnungspunkt 8: setzes zu dem Abkommen vom 2. Mai Beratung des Antrags der Fraktion der 1992 über den Europäischen Wirtschafts- SPD: raum (EWR-Abkommen) (Drucksache Wider den Rückfall in den Nationa- 12/3202) lismus — Für ein demokratisches Europa mit stabiler Währung (Drucksache c) Erste Beratung des von der Bundesregie- 12/3366) rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Ausführung des Abkommens in Verbindung mit vom 2. Mai 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Ausführungsge- Zusatztagesordnungspunkt 9: setz) (Drucksache 12/3319) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Poppe, (Berlin), d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. , weiterer Abge- rung eingebrachten Entwurfs eines . . . ordneter und der Gruppe BÜNDNIS 90/ Gesetzes zur Änderung des Grundgeset- DIE GRÜNEN: Stillstand führt zu Rück- zes (Drucksache 12/3338) schritt — Hin zu einer demokratischen ökologischen und sozialen Union Eu- e) Beratung der Unterrichtung durch das ropa (Drucksache 12/3367) Europäische Parlament: Entschließung zu der Mittelung der Kommission „Von in Verbindung mit der Einheitlichen Europäischen Akte zu der Zeit nach Maastricht: Ausreichende Zusatztagesordnungspunkt 10: Mittel für unsere ehrgeizigen Ziele" (Drucksache 12/3003) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Einsetzung f) Beratung der Unterrichtung durch das eines Sonderausschusses zum Vertrag Europäische Parlament: Entschließung vom 7. Februar 1992 über die Europäi- zu den Folgen des in Dänemark durch- sche Union (Vertrag von Maastricht) geführten Referendums über den Ver- (Drucksache 12/3373) trag vom 7. Februar 1992 (Drucksache Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . . 9316B, 12/3004) 9318D g) Beratung der Unterrichtung durch das Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 9319D Europäische Parlament: Entschließung Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . . . 9326 B zum Europäischen Rat von Lissabon (Drucksache 12/3129) Dr. Rita Süssmuth CDU/CSU 9330B h) Beratung der Unterrichtung durch das Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . 9330 C Europäische Parlament: Entschließung Dr. CDU/CSU 9331D zur sozialen Dimension des Binnenmark- tes (Drucksache 12/3132) Dr. F.D.P. . . . . 9333 C Dr. Renate Hellwig CDU/CSU 9335 D in Verbindung mit Ingrid Matthäus-Maier SPD 9336 C IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . . 9339 A Zusatztagesordnungspunkt 11: - Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . 9341A Extremismus und Gewalt Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/ , Bundesminister BMI . . . 9394 A DIE GRÜNEN 9342 A Dr. Hans-Jochen Vogel SPD . . . 9396 C Peter Conradi SPD (zur GO) . . . . . 9344 D Dr. CDU/CSU 9398 D 9345 A Dr. Renate Hellwig CDU/CSU Cornelia Schmalz-Jacobsen F.D.P. . . . 9400 D Dr. Otto Graf Lambsdorff F.D.P. . . . 9346 C Ulla Jelpke PDS/Linke Liste . . . . . 9402 D Günter Verheugen SPD 9347 A Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU . . . . 9349 D DIE GRÜNEN ...... 9404 C Dr. Renate Hellwig CDU/CSU . . . . 9351 B Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun- Dr. F.D.P 9351 D desministerin BMJ 9406 B Andrea Lederer PDS/Linke Liste . . . 9353 B SPD 9407 D Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/ Dr. Angela Merkel CDU/CSU . . . 9409 C DIE GRÜNEN ...... 9354 B Dr. Jürgen Schmieder F.D.P. . . . . . 9410D Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . . 9355D Dr. Herbert Schnoor, Minister des Landes Peter Conradi SPD , . . . , . . . . 9357 B Nordrhein-Westfalen 9412 D , Staatsminister des Landes Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . 9414 B Rheinland-Pfalz ...... 9357 D CDU/CSU 9415A Herbert Helmrich, Minister des Landes CDU/CSU 9416C Mecklenburg-Vorpommern ...... , 9359 D Dr. Thomas Goppel, Staatsminister des Frei Tagesordnungspunkt 7: staates Bayern . . . . . , ...... 9361 A Beratung der Beschlußempfehlung und Dr. Theodor Waigel CDU/CSU . . . . 9362 C des Berichts des Verteidigungsausschus- ses zu der Unterrichtung durch den Wehr- Hans-Jürgen Kaesler, Minister des Landes beauftragten: Jahresbericht 1991 (Druck- Sachsen-Anhalt , . . . . . , , . , . . 9363 C sachen 12/2200, 12/2782) Wolfgang Roth SPD ...... 9364 C Alfred Biehle, Wehrbeauftragter des Deut- Dr. Hans Stercken CDU/CSU ...... 9366 C schen Bundestages ...... 9418 B Dr. Cornelia von Teichman F.D.P. . . . . 9367 D Volker Rühe, Bundesminister BMVg . . . 9422 A Petra Bläss PDS/Linke Liste 9368 D Jürgen Koppelin F.D.P. 9423 C Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . 9370 D Heinz-Alfred Steiner SPD 9424 B Michael Stübgen CDU/CSU ...... 9371 D Claire Marienfeld CDU/CSU 9427 B Dr. Fritz Gautier SPD 9373 C Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . . 9429A Ulrich Irmer F D P. 9373 D Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Wilfried Seibel CDU/CSU 9375 B NEN 9431 A Dr. Gerald Thalheim SPD ...... 9377 B (Unna) CDU/CSU . . . . . 9432 D Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) CDU/ Dr. PDS/Linke Liste 9433 C 9379A CSU Gerhard Neumann (Gotha) SPD . . . . 9435 A Dietmar Schütz SPD 9380 C CDU/CSU 9436 D Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD . . . 9381 C Dr. Andreas Schockenhoff CDU/CSU 9383 A Tagesordnungspunkt 8: Erste Beratung des von der Bundesregie-- 9385 A Peter Conradi SPD rung eingebrachten Entwurfs eines Drei- Günter Marten CDU/CSU 9385 D zehnten Gesetzes zur Änderung des (Drucksache 12/3330) Ulrich Irmer F D P. 9386 C Wehrsoldgesetzes 9438 D Peter Kittelmann CDU/CSU 9386 D Georg Janovsky CDU/CSU Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD . . 9387 B SPD ...... 9439 B Dr. Hartmut Soell SPD 9388 A Horst Niggemeier SPD 9439 D Ulrich Irmer F D P. 9389 B Paul Breuer CDU/CSU 9440 B Dr. Ulrich Briefs fraktionslos . . . , 9390 B Jürgen Koppelin F.D.P. 9442 A Ortwin Lowack fraktionslos 9392 A Walter Kolbow SPD ...... 9443 A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 V

Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Tagesordnungspunkt 11: - NEN 9443 D Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul Breuer CDU/CSU ...... 9444 A Ingrid Köppe und der Gruppe BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Entbindung ehe- Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär BMVg . 9444 B maliger Mitarbeiter des Staatssicher- heitsdienstes von der ihnen auferlegten Tagesordnungspunkt 9: Schweigepflicht (Drucksache 12/2071) 9451A — Zweite und dritte Beratung des von den Nächste Sitzung . . . . . , ...... 9451 C Abgeordneten Norbert Geis, Erwin Mar- schewski, , weiteren Ab- Anlage 1 geordneten und der Fraktion der CDU/ CSU sowie den Abgeordneten Detlef Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 9453* A Kleinert (Hannover), Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, Jörg van Essen, weite- Anlage 2 ren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Ge- Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- setzes zur Verkürzung der Juristenaus- nungspunkt 9 (Gesetzentwurf zur Verkür- bildung (Drucksache 12/2280) zung der Juristenausbildung und Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des — Zweite und dritte Beratung des vom Bun- Deutschen Richtergesetzes) desrat eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU 9453* C Deutschen Richtergesetzes (Drucksa- Dr. Eckhardt Pick SPD 9455 B chen 12/2507, 12/3337) . . , . . . 9445 B Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . , . 9457* A Tagesordnungspunkt 10: Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . . 9457* C Beratung des Antrags der Abgeordneten , Parl. Staatsminister BMJ . 9459* A , , Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordne- Anlage 3 ter und der Fraktion der SPD: Einrichtung eines Gedenkortes für Walter Benjamin Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- in Port Bou (Drucksache 12/3039) nungspunkt 11 (Antrag betr. Entbindung ehemaliger Mitarbeiter des Staatssicher- Freimut Duve SPD 9445 D heitsdienstes von der ihnen auferlegten Schweigepflicht) Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 9446 C Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9459* D Gerhard Schüßler F.D.P...... 9447 D SPD 9460* C Angela Stachowa PDS/Linke Liste . . . . 9448 D Hartmut Büttner (Schönbeck) CDU/CSU 9461* A Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 944913 Dr. Jürgen Schmieder F.D.P. . . . . . 9461* D Freimut Duve SPD 9449D Andrea Lederer PDS/Linke Liste 9462* A Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/ Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN ...... 9450C BMI . . . . . . 9463* A

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110. Sitzung

Bonn, den 8. Oktober 1992

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kollegin- 1. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD nen und Kollegen, ich darf Sie bitten, sich zu erhe- und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Absatzfondsgesetzes — Drucksache ben. 12/3356 — (Die Abgeordneten erheben sich) 2. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Humanitäre Im Wohngebiet von Amsterdam ist am Sonntag Soforthilfe für die Menschen in Bosnien-Herzegowina abend ein israelisches Frachtflugzeug abgestürzt. gegen die Gefahren des kommenden Winters — Drucksa- che 12/3355 — Neben der Besatzung des Flugzeuges kamen viele Einwohner der Wohnhäuser, über denen das Flug- 3. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Bürgerkriegs- zeug abstürzte, ums Leben. Niemand, der die Bilder flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina — Drucksache der brennenden und zerstörten Wohnhäuser gesehen 12/2939 — hat, kann sich von dem Eindruck des nächtlichen 4. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Voraussetzun- Infernos freimachen. Nach bisher vorliegenden Mel- gen der Anerkennung der neuen Bundesrepublik Jugosla- dungen muß mit mehr als 250 Toten gerechnet wer- wien und Initiativen zur Wiederherstellung des Friedens in den. Bosnien-Herzegowina — Drucksache 12/2546 —

Wir gedenken der und nehmen Anteil an dem 5. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und Opfer F.D.P.: Zurückweisung des Einspruches des Bundesrates Leid und der Trauer der von dem Unglück betroffenen gegen das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Förde- Familien. Dem niederländischen und dem israeli- rung der bäuerlichen Landwirtschaft und des Fördergeset- schen Volk sowie dem niederländischen Parlament zes — Drucksachen 12/3340,12/3357 — und der israelischen Knesseth spreche ich im Namen 6. Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, des Deutschen Bundestages tiefempfundene Anteil- Andrea Lederer und der Gruppe der PDS/Linke Liste nahme aus. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung eines Volksentscheids über die Mitgliedschaft der Bundes- Danke schön. republik Deutschland in einer Europäischen Union und die Ratifizierung des Maastrichter Vertrages über eine Europäi- sche Union (Europa-Abstimmungsgesetz) — Drucksache Meine Damen und Herren, bevor wir in die Tages- 12/3353 — ordnung eintreten, möchte ich noch folgendes bekannt geben: 7. Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/Linke Liste: Maastrichter Vertrag über die Europäische Union — Der Kollege Mischnick feierte am 29. September Drucksache 12/3322 — 1992 seinen 71. Ich spreche ihm im Geburtstag. Wider8. Beratung des denAntrags der Fraktion der SPD: Namen des Hauses nachträglich die herzlichsten Rückfall in den Nationalismus — Für ein demokratisches Glückwünsche aus. Europa mit stabiler Währung — Drucksache 12/3366 — (Beifall) 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd Poppe, Für den verstorbenen Kollegen Werner Schulz (Berlin), Dr. Wolfgang Ullmann, weiterer Dr. Kappes hat am Abgeordneter und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 29. September 1992 die Abgeordnete Dr. Sissy Geiger Stillstand führt zu Rückschritt — Hin zu einer demokrati- (Darmstadt) die Mitgliedschaft im Deutschen Bundes- schen ökologischen und sozialen Union Europa — Druck- tag erworben. sache 12/3367 — (Beifall) 10. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Einsetzung eines Sonderausschusses zum Ver- Herzlich willkommen, liebe Frau Geiger! Ich wünsche trag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union uns eine gute Zusammenarbeit. (Vertrag von Maastricht) — Drucksache 12/3373 —

Interfraktionell ist vereinbart worden, die ver- 11. Vereinbarte Debatte über Extremismus und Gewalt bundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte 12. Aktuelle Stunde: Wirtschaftliche Situation in Ostdeutsch- sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste auf- land/Praktiken der Treuhand am Beispiel der Vorgänge geführt: um die Märkische Faser AG in Premnitz 9312 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Von der Frist für den Beginn der Beratung soll ten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes — soweit es zu einzelnen Punkten der Tagesordnung zur Änderung des Gesetzes über die Ent-- und der Zusatzpunktliste erforderlich ist — abgewi- schädigung für Strafverfolgungsmaßnah- chen werden. men Der Tagesordnungspunkt 6 soll abgesetzt wer- — Drucksache 12/3017 — den. Überweisung svorschlag: Sind Sie mit den Änderungen einverstanden? — Rechtsausschuß (federführend) Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so Innenausschuß beschlossen. I laushaltsausschuß

f) Erste Beratung des von der Bundesregie- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3i sowie rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- die Zusatzpunkte 1 bis 4 auf: zes zur Änderung von Gesetzen auf dem 3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren Gebiet des Rechts der Wirtschaft a) Erste Beratung des von der Bundesregie- -- Drucksache 12/3320 — rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Überweisungsvorschlag: zes über die Feststellung des Wirtschafts- Ausschuß für Wirtschaft plans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1993 (ERP-Wirtschaftsplangesetz g) Beratung des Antrags der Abgeordneten 1993) Angela Stachowa, Dr. und — Drucksache 12/3331 der Gruppe der PDS/Linke Liste —Überweisungsvorschlag: Erhalt kultureller Substanz im Zusammen- Ausschuß für Wirtschaft (federführend) hang mit der Verlagerung von Bundesbe- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- hörden in die neuen Bundesländer heit Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus — Drucksache 12/3236 — I laushaltsausschuß b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Überweisungsvorschlag: rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Innenausschuß (federführend) Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Gesetzes über die Verwaltung des ERP- Sondervermögcns h) Beratung der Unterrichtung durch das Euro- — Drucksache 12/3332 — päische Parlament Überweisungsvorschlag: Entschließung zu den Olympischen Winter- Ausschuß für Wirtschaft (federführend) spielen Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit — Drucksache 12/2387 — I- Iaushaltsausschuß Überweisungsvorschlag: c) Erste Beratung des von der Bundesregie- Sportausschuß (federführend) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- zes über die Statistiken der öffentlichen heit Finanzen und des Personals im öffentlichen Dienst (Finanz- und Personalstatistikgesetz i) Beratung der Unterrichtung durch das Euro- — FPStatG) päische Parlament — Drucksache 12/3256 — Entschließung zu Sellafield II, der THORP- Überweisungsvorschlag: Wiederaufbereitungsanlage für nukleare Finanzausschuß (federführend) Brennstoffe in Sellafield im Vereinigten Innenausschuß Königreich Ausschuß für Wirtschaft — Drucksache 12/3130 — Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung

d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Überweisungsvorschlag: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- zes über die Ermächtigung des Gouver- heit (federführend) neurs für die Bundesrepublik Deutschland Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfol- genabschätzung in der Internationalen Finanz-Corporation zur Stimmabgabe für eine Änderung des ZP1 Erste Beratung des von den Fraktionen der Abkommens über die Internationale Fi- CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Ent- nanz-Corporation (IFC-Abkommensände- wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des rungsgesetz) Absatzfondsgesetzes — Drucksache 12/3321 — Überweisungsvorschlag: — Drucksache 12/3356 — Ausschuß für Wirtschaft Überweisungsvorschlag: e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Dr. Burkhard Hirsch, Wolfgang Lüder, (federführend) Dr. Gisela Babel und weiteren Abgeordne I laushaltsausschuß Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9313

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth ZP2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Humanitäre Soforthilfe für die Menschen in Berichts des Ausschusses für Verkehr Bosnien-Herzegowina gegen die Gefahren (16. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeord- des kommenden Winters neten Dr. Margrit Wetzel, Klaus Dauberts- häuser, Robert Antretter, weiterer Abgeord- — Drucksache 12/3355 — neter und der Fraktion der SPD Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß (federführend) Generelle Sicherungspflicht für Kinder im Haushaltsausschuß Pkw ZP3 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herze- Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Ham- gowina burg), Manfred Heise, weiterer Abgeordne- — Drucksache 12/2939 — ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie Überweisungsvorschl ag: der Abgeordneten Horst Friedrich, Ekke- Innenausschuß (federführend) hard Gries, Roland Kohn, weiterer Abgeord- Auswärtiger Ausschuß neter und der Fraktion der F.D.P. ZP4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Verbesserung des Schutzes von Kindern als Voraussetzung der Anerkennung der neuen Mitfahrer in Kraftfahrzeugen Bundesrepublik Jugoslawien und Initiativen zur Wiederherstellung des Friedens in Bos- — Drucksachen 12/1978, 12/2252, 12/3233 — nien-Herzegowina Berichterstattung: — Drucksache 12/2546 — Abgeordnete Überweisungsvorschlag: Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Auswärtiger Ausschuß Dr. Margrit Wetzel Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- d) Beratung der Beschlußempfehlung und des ten Verfahren ohne Debatte. Berichts des Ausschusses für Ernährung, Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Landwirtschaft und Forsten (10. Ausschuß) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist Lennartz, Dietmar Schütz, Harald B. Schäfer der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos- (Offenburg), weiterer Abgeordneter und sen. der Fraktion der SPD Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf: Verbot des kommerziellen Walfangs auf- Abschließende Beratungen ohne Aussprache rechterhalten a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung — Drucksachen 12/2831, 12/3223 — des von der Bundesregierung eingebrach- Berichterstattung: ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abgeordneter Abkommen vom 30. Juli 1990 zur Ände- (Nordstrand) rung des Abkommens vom 14. September 1955 zwischen der Bundesrepublik e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Deutschland und der Republik Österreich Berichts des Ausschusses für Umwelt, über Erleichterungen der Grenzabferti- Naturschutz und Reaktorsicherheit gung im Eisenbahn-, Straßen- und Schiffs- (17. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch verkehr die Bundesregierung — Drucksache 12/2264 — Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Beschlußempfehlung und Bericht des Fi- Rates zur Regelung des Besitzes von und nanzausschusses (7. Ausschuß) des Handels mit Exemplaren wildlebender — Drucksache 12/2862 — Tier- und Pflanzenarten Berichterstattung: — Drucksachen 12/2257 Nr. 3.67, 12/2995 — Abgeordneter Elmar Müller (Kirchheim) Berichterstattung: (Erste Beratung 85. Sitzung) Abgeordnete Simon Wittmann (Tännesberg) b) Zweite und dritte Beratung des von der Ulrike Mehl Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung adoptions- Gerhart Rudolf Baum rechtlicher Vorschriften (Adoptionsrechts- f) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- änderungsgesetz — AdoptRAndG) tionsausschusses (2. Ausschuß) — Drucksache 12/2506 — Sammelübersicht 67 zu Petitionen Beschlußempfehlung und Bericht des (Neuorganisation Wehrverwaltung) Rechtsausschusses (6. Ausschuß) — Drucksache 12/2942 — — Drucksache 12/3362 - Berichterstattung: g) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Abgeordnete tionsausschusses (2. Ausschuß) Margot von Renesse Sammelübersicht 69 zu Petitionen Heinrich Seesing — Drucksache 12/3246 — (Erste Beratung 95. Sitzung) 9314 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth h) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Tagesordnungspunkt 4 e: Beschlußempfehlung des tionsausschusses (2. Ausschuß) Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- Sammelübersicht 70 zu Petitionen cherheit zu einem Vorschlag der EG zu Besitz von und — Drucksache 12/3247 Handel mit wildlebenden Tier- und Pflanzenarten. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegen- i) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- stimmen? — Enthaltungen? — Die Beschlußempfeh- tionsausschusses (2. Ausschuß) lung ist bei einigen Enthaltungen des BÜNDNIS- Sammelübersicht 71 zu Petitionen SES 90/DIE GRÜNEN und einer Gegenstimme ange- — Drucksache 12/3288 — nommen. j) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Tagesordnungspunkte 4 f bis 4 k: Wir kommen jetzt tionsausschusses (2. Ausschuß) zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Sammelübersicht 72 zu Petitionen Petitionsausschusses auf den Drucksachen 12/2942, — Drucksache 12/3289 — 12/3246, 12/3247, 12/3288 bis 12/3290. Das sind die Sammelübersrichten 67 und 69 bis 73. Wer stimmt für k) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- diese Beschlußempfehlungen? — Gegenprobe! — tionsausschusses (2. Ausschuß) Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlungen sind mit Sammelübersicht 73 zu Petitionen den Stimmen der CDU/CSU und F.D.P. bei Gegen- — Drucksache 12/3290 — stimmen der SPD und der PDS/Linke Liste sowie bei Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorla- Enthaltungen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. angenommen. Tagesordnungspunkt 4 a: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Gesetzentwurfs zu dem Abkommen mit Ich rufe den Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung der Republik Österreich über Erleichterungen bei der auf: Grenzabfertigung, Drucksache 12/2264. Der Finanz- Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/2862, den CSU und F.D.P. Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- Zurückweisung des Einspruches des Bundes- len, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — rates gegen das Gesetz zur Änderung des Enthaltungen? — Dann ist der Gesetzentwurf einstim- Gesetzes zur Förderung der bäuerlichen Land- mig angenommen. wirtschaft und des Fördergesetzes Tagesordnungspunkt 4b: Wir kommen jetzt zur — Drucksachen 12/2694, 12/3340, 12/3357 — Einzelberatung und Abstimmung über den von der Nach Art. 77 Abs. 4 des Grundgesetzes ist für die Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf eines Zurückweisung des Einspruchs des Bundesrates die Adoptionsrechtsänderungsgesetzes auf Drucksache Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages 12/2506. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksa- erforderlich, 332 Stimmen. Wer also den Einspruch che 12/3362, den Gesetzentwurf unverändert anzu- zurückweisen will, muß mit Ja stimmen. Die Fraktion nehmen. der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- Ich eröffne die Abstimmung. — Gibt es noch ein men wollen, um das Handzeichen. — Gegenstimmen? Mitglied des Hauses, das seine Stimme nicht abgege- — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist bei zwei ben hat? — Ich gehe davon aus, daß alle Mitglieder Enthaltungen in zweiter Beratung angenommen. ihre Stimme abgegeben haben und schließe die Wir treten in die namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der dritte Beratung Abstimmung wird später bekanntgegeben.* ) ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte Wir setzen die Beratungen fort. Ich rufe den Tages- diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- ordnungspunkt 5 sowie die Zusatzpunkte 6 bis 10 len, sich zu erheben. — Gegenstimmen? — Enthaltun- auf: gen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenom- men. 5. a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Tagesordnungspunkt 4 c: Beschlußempfehlung des zes zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über Ausschusses für Verkehr zu je einem Antrag der die Europäische Union Fraktion der SPD und der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Sicherung von Kindern in Kraftfahrzeu- — Drucksache 12/3334 — gen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Überwei sung svorschlag: Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußemp- Sonderausschuß .,Europäische Union" (federführend) fehlung ist angenommen. Auswärtiger Ausschuß Finanzausschuß Ich komme jetzt zu Tagesordnungspunkt 4 d: Rechtsausschuß Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Landwirtschaft und Forsten zu dem Antrag der Frak- Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Verkehr tion der SPD zum Verbot des kommerziellen Wal- Ausschuß für Post und Telekommunikation fangs. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — EG-Ausschuß Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen. *) Seite 9324 A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9315

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Entschließung zu den Folgen des in Däne- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- mark durchgeführten Referendums über zes zu dem Abkommen vom 2. Mai 1992 den Vertrag vom 7. Februar 1992 über den Europäischen Wirtschaftsraum — Drucksache 12/3004 — (EWR-Abkommen) Überweisungsvorschlag: — Drucksache 12/3202 — Sonderaussschuß „Europäische Union" (federführend) Auswärtiger Ausschuß Überweisungsvorschlag: EG-Ausschuß Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Auswärtiger Ausschuß g) Beratung der Unterrichtung durch das Euro- Rechtsausschuß päische Parlament Finanzausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Entschließung zum Europäischen Rat von Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Lissabon Ausschuß für Frauen und Jugend — Drucksache 12/3129 — Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Verkehr Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz Sonderausschuß „Europäische Union" (federführend) und Reaktorsicherheit Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität Ausschuß für Post und Telekommunikation und Geschäftsordnung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Auswärtiger Ausschuß EG-Ausschuß EG-Ausschuß Haushaltsausschuß h) Beratung der Unterrichtung durch das Euro- c) Erste Beratung des von der Bundesregie- päische Parlament rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Entschließung zur sozialen Dimension des zes zur Ausführung des Abkommens vom Binnenmarktes 2. Mai 1992 über den Europäischen Wirt- — Drucksache 12/3132 — schaftsraum (EWR - Ausführungsgesetz) Überweisung svorschlag: — Drucksache 12/3319 — Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Ausschuß für Frauen und Jugend Auswärtiger Ausschuß EG-Ausschuß Rechtsausschuß ZP6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Dr. Gregor Gysi, Andrea Lederer und der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz Gruppe der PDS/Linke Liste eingebrachten und Reaktorsicherheit Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft eines Volksentscheids über die Mitgliedschaft EG-Ausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO der Bundesrepublik Deutschland in einer Euro- päischen Union und die Rafizierung des Maas- d) Erste Beratung des von der Bundesregie- trichter Vertrages über eine Europäische Union

rung eingebrachten Entwurfs eines ... (Europa - Abstimmungsgesetz) Gesetzes zur Änderung des Grundgeset- — Drucksache 12/3353 — zes Überweisungsvorschlag: — Drucksache 12/3338 — Sonderausschuß „Europäische Union" (federführend) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß Sonderausschuß „Europäische Union" (federführend) Auswärtiger Ausschuß EG-Ausschuß Rechtsausschuß Auswärtiger Ausschuß ZP7 Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ EG-Ausschuß Linke Liste e) Beratung der Unterrichtung durch das Euro- Maastrichter Vertrag über die Europäische päische Parlament Union Entschließung zu der Mitteilung der Kom- — Drucksache 12/3322 — mission „Von der Einheitlichen Europäi- schen Akte zu der Zeit nach Maastricht: Überweisungsvorschlag: Ausreichende Mittel für unsere ehrgeizi- Sonderausschuß „Europäische Union" (federführend) Auswärtiger Ausschuß gen Ziele" EG-Ausschuß • — Drucksache 12/3003 — ZP8 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Überweisungsvorschlag: Wider den Rückfall in den Nationalismus — Finanzausschuß (federführend) Für ein demokratisches Europa mit stabiler Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Währung Ausschuß für Verkehr — Drucksache 12/3366 — Ausschuß für Post und Telekommunikation Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Überweisungsvorschlag: EG-Ausschuß Sonderausschuß „Europäische Union" (federführend) Haushaltsausschuß Auswärtiger Ausschuß lnnenausschuß f) Beratung der Unterrichtung durch das Euro- Finanzausschuß päische Parlament Ausschuß für Wirtschaft 9316 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung jetzt unsere und die weltweit in die Gemeinschaft Ausschuß für Umwelt, Naturschutzschutz und Reaktorsicher- - heit gesetzten Hoffnungen nicht enttäuschen. EG-Ausschuß Gerade in einer Zeit, in der neue Beben die politi- ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerd sche Landkarte unseres Kontinents weiter verändern, Poppe, Werner Schulz (Berlin), Dr. Wolfgang in der die Folgen dieser Beben längst noch nicht Ullmann, weiterer Abgeordneter und der absehbar sind, darf die Gemeinschaft vor der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Geschichte nicht versagen, sondern muß Geschlos- senheit und innere Stärke zeigen. Stillstand führt zu Rückschritt — Hin zu einer demokratischen ökologischen und sozialen Was hat diese Gemeinschaft so erfolgreich Union Europa gemacht? — Es ist die Zusammenlegung von Verant-

— Drucksache 12/3367 — wortung, rechtliche Gleichstellung von großen und kleinen Staaten sowie Solidarität zwischen stärkeren Überweisungsvorschlag: und schwächeren. Sonderausschuß „Europäische Union" (federführend) Auswärtiger Ausschuß Ein föderaler Aufbau versöhnt die erzielte größere Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Gemeinsamkeit mit dem Wunsch nach Erhaltung der nationalen Identität. Dieses Konzept ist mit großem ZP10 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Erfolg an die Stelle der überkommenen engstirnigen CSU, SPD und F.D.P. nationalistischen Macht- und Interessenpolitik getre- Einsetzung eines Sonderausschusses zum Ver- ten. Die hierdurch in der Gemeinschaft erreichte trag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Harmonie, die Stabilität und den Wohlstand halten wir Union (Vertrag von Maastricht) inzwischen für eine absolute Selbstverständlichkeit. — Drucksache 12/3373 — Aber nicht zuletzt die Ereignisse im Zusammen- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die hang mit den Währungsturbulenzen der letzten gemeinsame Aussprache sechs Stunden vorgesehen. Wochen haben gezeigt, wie notwendig eine weitere — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Stärkung des Zusammenhalts der Gemeinschaft ist, wenn wir das Erreichte sichern wollen. Wer bei einem Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Rückschritt mit am meisten zu verlieren hätte, das hat zunächst dem Bundesminister des Auswärtigen, sich in den letzten Wochen gezeigt. Herrn Kinkel. Das Bewußtsein um die eigene Nationalität gewinnt nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation in Europa wieder stärkere Bedeutung. Nach dem Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Ende von Lagerzwang und ideologischer Verkrustung Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ist dies nichts Ungewöhnliches. Ein gesundes Natio- Europäische Gemeinschaft steht vor einer histori- nalbewußtsein ist etwas Positives. Europäisches schen Wegscheide. Nach 40 Jahren erfolgreicher Bewußtsein muß auf dem tiefsitzenden Gefühl natio- europäischer Aufbauarbeit geht es nun darum, dem naler Identität aufbauen. europäischen Gebäude ein Dach zu geben. Dieses Gebäude ist nicht nur Hoffnungsträger für die euro- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) päischen Partnerländer, die bereits vor den Umbrü- chen in Mittel- und Osteuropa, aber besonders nach Etwas völlig anderes allerdings sind seine Aus- diesen Veränderungen vor seiner Tür Schlange stan- wüchse, sind Nationalismus, sind Fremdenhaß, die in den bzw. stehen. Nein, weltweit wird die Gemein- verschiedenen Regionen unseres Kontinents — leider schaft als Modell für Frieden, Stabilität und Wohlstand auch bei uns — im Augenblick wieder emporkommen. geachtet und beneidet. Hierauf können und sollten Im Südosten unseres Kontinents haben nationalisti- wir stolz sein! sche Gewalt, Fremdenhaß und Menschenverachtung ein Ausmaß angenommen, das an eine unheilvolle (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Vergangenheit erinnert. Wenn wir in Deutschland sowie bei Abgeordneten der SPD) — leider — mit ansehen müssen, wie zutiefst Verblen- Draußen versteht kaum einer, dete in diesen Tagen mit Nazi-Emblemen auf unsere Straßen gehen und Ausländern gegenüber Haß und (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wo Gewalt zeigen, jüdische Gedenkstätten anzünden, ist „draußen"?) dann wird uns bewußt, wie wichtig es für die Zukunft daß die Europäische Gemeinschaft ausgerechnet unseres Landes ist, diesem Übel des übersteigerten jetzt, wo sie als Stabilitätsanker in stürmischer See Nationalismus, des Fremdenhasses einen Riegel vor- mehr denn je gebraucht wird, von Selbstzweifeln zuschieben. befallen erscheint. Diese Gemeinschaft konnte so, wie sie heute steht, nicht mit Kleinmut, sondern nur mit (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der Mut, Zuversicht und europäischem Selbstvertrauen SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geschaffen werden. NEN) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Dies müssen wir jetzt mit Entschiedenheit tun, wenn unser Land nach innen und außen nicht weiter Scha- Jetzt, wo es um unsere Kraft geht, mit einem den nehmen soll. weiteren Schritt das so Erreichte zu stärken und zu sichern, tut not, sich daran zu erinnern. Wir dürfen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9317

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Dies europaweit zu tun ist eine Aufgabe, die von der gration seit Unterzeichnung der Römischen Verträge Europäischen Gemeinschaft besser als von jeder dar. Mit ihm wird die Europäische Union gegründet, anderen Institution bewältigt werden kann. Auch aber nicht vollendet. Seine Weiterführung, seine Ver- hierum geht es bei der Ratifizierung dieses Vertra- besserung auf der Revisionskonferenz 1996 ist im ges. Vertrag selbst angelegt. Wer diesen Vertrag nun wieder aufschnüren wollte, setzte Erreichtes aufs In sechs Mitgliedstaaten ist der Ratifizierungspro- Spiel. zeß inzwischen so gut wie abgeschlossen. Der briti- sche Premierminister Major hat angekündigt, daß er Dies wäre im übrigen auch eine große Zumutung für die angehaltene Ratifikationsvorlage bald wieder die Partner, die sich mit ihrem Ja bereits hinter diesen dem Parlament vorlegen wird. Auf dem Parteitag der Vertrag gestellt haben, wie im übrigen auch für das Konservativen in Brighton hat er für seine Europa- Europäische Parlament, das den Vertrag ratifiziert politik Unterstützung bekommen. Frankreich — zu- hat. sammen mit Deutschland von jeher Motor der euro- Dies war die einhellige Meinung des Außenmini- päischen Einigung hat, wenn auch mit knapper stertreffens von Luxemburg: Neuverhandlungen gibt Mehrheit, ja gesagt. Mit Interesse sehen wir dem es nicht. Aber vom Tisch sind damit natürlich nicht die Weißbuch der dänischen Regierung entgegen, die Ängste der Bevölkerung vor dem drohenden Verlust hoffentlich den Weg für ein zweites Referendum nationaler Identität, vor bürokratischem Wildwuchs, ebnen kann. Weder die Regierung noch die oppositio- vor Zentralismus und manch anderem. Diese Befürch- nellen Sozialdemokraten in Kopenhagen wollen von tungen, diese Unsicherheiten müssen wir auffangen der europäischen Integration Abschied nehmen. und ausräumen. Europa kann nicht als Werk der In dieser Lage kommt nun Deutschland als erfolg- Regierungen und der Brüsseler Beamten entstehen. reichstem und wirtschaftsstärkstem europäischen Es kann nur aus dem Zutrauen seiner Bürger erwach- Land in der Mitte unseres Kontinents eine ganz sen. Um auf die offenen Fragen der Menschen eine besondere Verantwortung für den weiteren Weg der Antwort zu finden, bedarf es — ich sage es noch- Gemeinschaft und damit auch Europas zu. Es ist nun mals — keiner Vertragsänderung, aber es bedarf an uns, durch unser Ja zu dem Vertrag von Maastricht Klarstellungen. Form und Inhalt dieser Klarstellungen auch für unsere noch zögernden Partner ein Signal muß die Sondertagung des Europäischen Rats in des Vertrauens in eine gemeinsame europäische Birmingham aufzeigen. Das bereiten wir im Augen- Zukunft zu setzen. blick gemeinsam vor. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Was hat der Vertrag für Europa gebracht? sowie bei Abgeordneten der SPD) Erstens. Er vollzieht den Übergang von der Europäi- Dabei wollen wir — ich kann es immer nur wieder- schen Politischen Zusammenarbeit zu einer gemein- holen — kein Europa der zwei Geschwindigkeiten. samen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Gestaltung Wir wollen das Ziel der Europäischen Union gemein- dieser Politik wird in den Rahmen der gemeinsamen sam zu zwölft erreichen, auch wenn einige dem europäischen Organe eingebunden. Mit dem neuen Hauptfeld bisher noch leicht hinterherfahren. Verfahren der Gemeinsamen Aktion wird europäi- sches Vorgehen für alle Partner verbindlicher In der Europadebatte am 25. September hier im gemacht. Die Möglichkeit von Mehrheitsentschei- Bundestag haben sich alle Parteien — mit Ausnahme dungen wird eröffnet. Damit ist der Einstieg in einen der PDS — für die Ratifizierung des Maastrichter Prozeß geschaffen, an dessen Ende Europa in der Vertrages ausgesprochen. Diese Übereinstimmung Weltpolitik nicht nur mit einer Stimme sprechen, der politischen Kräfte in Deutschland über diesen sondern auch als Einheit handeln wird. Die Gemein- Vertrag war gerade vor dem Hintergrund der Wäh- schaft hat bereits mit dem vorhandenen Instrumenta- rungsturbulenzen der letzten Wochen ein ganz wich- rium für eine europäische Außenpolitik Erhebliches tiger Vertrauensbeweis und eine gute Grundlage für geleistet. die Fortsetzung unserer europäischen Einigungspoli- tik, zu der sich seit Gründung der Bundesrepublik alle Im Zusammenhang mit den Ereignissen im früheren Bundesregierungen bekannt haben. Jugoslawien ist die Gemeinschaft oft kritisiert wor- den. Aber haben sich die Eurokritiker einmal gefragt, Vor diesem Schritt zur Ratifizierung besteht für uns welcher Zerreißprobe Europa aus Anlaß dieses Kon- nicht der geringste Anlaß zur Schönrednerei. Wir flikts ausgesetzt gewesen wäre, wenn es die Gemein- wollen etwas vollenden, was auf festen Füßen steht schaft nicht gäbe?! und was wir uns durchaus gut, ja sogar sehr gut überlegt haben. Dieser Vertrag kam — das wird leider (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sehr oft vergessen — auf Grund schwierigster, lang- sowie bei Abgeordneten der SPD) wieriger Verhandlungen zustande. Jeder Teilnehmer Richtig ist: Es muß mehr getan werden. Europa muß kann sich in ihm wiederfinden; sein eigentliches Potential freisetzen. Es muß zu einer ( [SPD]: Mit Ausnahme des wirklichen und echten Schicksalsgemeinschaft wer- Parlaments!) den. Nur dann kann es seiner globalen Mitverantwor- tung auch bei der Stabilisierung der neuen Demokra- jeder mußte aber auch Zugeständnisse machen. tien in Mittel- und Osteuropa nachkommen. Zur Auch wenn der Vertrag nicht alle unsere Wunsche Schaffung einer solchen Gemeinschaft genügen aber — insbesondere hinsichtlich der Rechte des Europäi- eine Freihandelszone und die Koordinierung nationa- schen Parlaments — erfüllt, so stellt er doch die ler Außenpolitiken auf Dauer nicht. Hinzu kommen bedeutendste Fortentwicklung der europäischen Inte- muß ein wirkliches gemeinsames außenpolitisches 9318 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Handeln, eine gemeinsame Währung und eine Erstens. Die Europäische Union bedeutet nicht den gemeinsame Verteidigung. Verlust der nationalen Identität. Sie wird kein Schmelztiegel werden, sondern ein Kraftquell Euro- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) pas; sie wird die Vielfalt und den Reichtum seiner Auch dazu wird in den Verträgen die Grundlage Kulturen bewahren. Am 25. September habe ich geschaffen. Die Übernahme größerer Eigenverant- bereits gesagt, und ich möchte es noch einmal beto- wortung auch in diesem Bereich wird eben zu der nen: Ich persönlich bin wirklich überzeugt davon, daß Partnerschaft der Gleichen führen, die schon von John unsere Bürger Europa wollen. Sie wollen auch die F. Kennedy gefordert wurde. Nicht nur die Europäi- Europäische Union, wenn wir Franzosen Franzosen, sche Union, auch das Atlantische Bündnis wird hier- Italiener Italiener und Deutsche Deutsche sein las- durch gestärkt werden. sen. Ihr Bewußtsein, auch Bürger Europas zu sein, wird Zweitens. Ein Kernstück des Vertrages ist die Wirt- um so natürlicher wachsen. Dieses Nebeneinander tut schafts- und Währungsunion. Dazu wird Herr Kollege einem gesunden Patriotismus keinerlei Abbruch, aber Waigel ausführlich Stellung nehmen. Wie in anderen es verhindert, daß aus Patriotismus etwas Negatives Bereichen der Europäischen Gemeinschaft springen wird, nämlich Nationalismus. wir aber auch hier nicht einfach ins kalte Wasser. Die nationalen Währungen werden nur zusammenge- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU führt, wenn strenge Stabilitätsvoraussetzungen gege- sowie bei Abgeordneten der SPD) ben sind; also kein Automatismus. Wir werden die Zweitens. Das im Vertrag festgeschriebene Subsidi- D-Mark nicht einer schwächeren Eurowährung aritätsprinzip darf nicht bloßes Schlagwort bleiben. Es opfern. muß zur konkreten Leitlinie für alle Gemeinschafts- entscheidungen werden und als gerichtlich kontrol- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) lierbares Rechtsprinzip anerkannt werden. Die Der notwendige Stabilisierungsdruck auf alle Mit- Gemeinschaft muß sich auf die Aufgaben konzentrie- gliedstaaten wird auch durch den festgelegten Zeit- ren, die auf europäischer Ebene gelöst werden müs- plan geschaffen; und gerade um diesen Druck auf- sen. Was auf nationaler Ebene, auf der Ebene der rechtzuerhalten, müssen wir an diesem Fahrplan Länder, der Regionen, der Gemeinden ausreichend festhalten. Dabei sind für uns Wirtschafts-, Währungs- geregelt werden kann, muß auch dort verbleiben. und politische Union untrennbar miteinander verbun- Die deutsche Delegation hat ein Memorandum zur den. Frage der Subsidiarität vorgelegt. Zu unseren Vor- (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Das haben schlägen gehört auch eine politische Vereinbarung wir gemerkt!) und Erklärung zwischen EG-Kommission, Ministerrat und Europäischem Parlament zur Konkretisierung Bundestag und Bundesrat werden vor den vom Euro- dieses Subsidiaritätsprinzips in der Praxis. päischen Rat zu treffenden Entscheidungen über den Eintritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Wäh- rungsunion, d. h. vor Schaffung der Europäischen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Außenminister Zentralbank und der gemeinsamen Währung, erneut Kinkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- befaßt werden. Ich sage erneut, weil darüber immer ordneten Conradi? wieder Zweifel entstehen oder in der Öffentlichkeit anders darüber geredet wird: Keine Bundesregierung wird Entscheidungen von solcher Tragweite für unser Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Volk ohne Rückendeckung durch die parlamentari- Ich bin im Augenblick beim Einbringen des Vertrages. sche Mehrheit treffen können. Ich bitte wirklich um Verständnis. Sonst wäre ich gern bereit. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Eine Regierungserklärung, Frau Präsidentin! — Drittens. Der dritte große Bereich, der neu im Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist doch

Vertrag ist, ist die Zusammenarbeit in der Innen- und keine Regierungserklärung! Er bringt einen Justizpolitik. Seit der Öffnung der Binnengrenzen Gesetzentwurf ein!) werden grenzüberschreitende Maßnahmen zur Be- Die Ausstattung der Gemeinschaft mit neuen Kom- kämpfung der organisierten internationalen Krimina- petenzen bedeutet keinen Zentralismus. Länderkom- lität unausweichlich. Der Vertrag von Maastricht petenzen werden nicht ausgehöhlt. Die neuen Vor- schafft die Grundlagen für europäische Lösungen in schriften wurden für die Tätigkeit der Union in den diesem Bereich wie auch für die Bewältigung der Bereichen Bildung, Kultur und Gesundheit auf aus- Zuwanderung, die, wie ich befürchte, trotz aller natio- drücklichen Wunsch der Länder so ausgestattet, daß nalen Bemühungen in den kommenden Jahren noch keine Rechtsharmonisierung auf Gemeinschafts- mehr als heute ganz oben auf der europäischen ebene stattfinden kann. politischen Tagesordnung stehen wird. Denn nicht nur wir, ganz Westeuropa wird in Zukunft in noch weit Drittens. Bürgernähe ist das im Vertrag von Maas- größerem Maße als jetzt zum Magneten der weltwei- tricht verankerte föderale Grundprinzip. Es mit Leben ten Wanderungsbewegungen und Flüchtlingsströme zu erfüllen ist die Hauptaufgabe der Gemeinschafts- werden. politik in den vor uns liegenden Wochen und Mona- ten. Hierzu gehört auch größere Transparenz der Folgende Klarstellungen sind notwendig. Arbeit aller Organe. Die Bürger müssen wissen, wer Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9319

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel wichtige politische Entscheidungen auf europäischer Meine Damen und Herren, der Vertrag hat am Ebene trifft und wie sie zustande kommen. 25. September beim ersten Durchgang im Bundesrat - breite Zustimmung gefunden. Die Änderungsvor- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schläge des Bundesrates betreffen den Entwurf der Bundesregierung für ein Vertragsgesetz. Die Bundes- Der mit dem Vertrag von Maastricht neu geschaf- regierung hat sich hierzu geäußert. Der Text liegt dem fene Regionalausschuß eröffnet Ländern, Städten und Deutschen Bundestag vor. Nunmehr müssen die Bera- Gemeinden Anhörungsrechte bei Gesetzgebungsver- tungen in den Ausschüssen dieses Hauses zügig fahren in der Europäischen Union. Er trägt dazu bei, aufgenommen werden, so daß der Abschluß der daß wir das Europa, das wir wollen, von unten nach Ratifikation fristgerecht bis Ende dieses Jahres erfol- oben aufbauen. gen kann. Bis dahin brauchen wir die Fortsetzung der Unseren Ländern werden mit der Ratifizierung intensiven Diskussion im Parlament und in der Öffent- größere Mitwirkungsmöglichkeiten auf europäischer lichkeit. Ebene eröffnet. Dies darf aber weder zu einer Schwä- Die Verantwortung für die Ratifizierung des Vertra- chung der Handlungsfähigkeit Deutschlands noch zu ges und damit die Fortsetzung von 40 Jahren europäi- einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der scher Erfolgsgeschichte liegt jedoch beim Parlament, Gemeinschaft führen. Auch der neue Europaartikel in bei den von den Bürgern gewählten Volksvertretun- unserem Grundgesetz muß schließlich so angewandt gen. Einer zusätzlichen Volksabstimmung bedarf es werden, daß das gesamtstaatliche Interesse gewahrt nicht. Unser Grundgesetz hat sich — wie ich meine, bleibt. aus wohlüberlegten Gründen — nun einmal für die (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) repräsentative Demokratie entschieden. Dabei sollten wir verbleiben. Viertens. Es muß verdeutlicht werden, daß die Europäische Union für jeden Bürger mehr Rechte und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Lebenschancen bringt. Die Unionsbürgerschaft, die Die europäische Einigung hat stets auch unseren Niederlassungsfreiheit, das kommunale Wahlrecht nationalen Interessen gedient. Sie hat uns den Weg und die noch stärkere Freizügigkeit sind Beispiele geebnet zu gleichberechtigter Partnerschaft in der hierfür. Wir nehmen das Maß an wirtschaftlichen Welt. Vergessen wir nicht: Ohne sie wäre die deutsche Zukunftschancen, an Freizügigkeit sowie sozialer und Wiedervereinigung nicht möglich gewesen. innerer Sicherheit, das wir heute erreicht haben, zu (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sehr — ich sage es noch einmal -- als pure Selbstver- sowie der Abgeordneten Heidemarie ständlichkeit hin. Das haben wir jedoch großenteils Wieczorek-Zeul [SPD]) unserer Einbindung in die Europäische Gemeinschaft zu verdanken. Man kann das nicht oft genug hervor- Wir haben die Chance zu ihr bewußt und beherzt heben. genutzt. Lassen Sie uns jetzt die Chance für die (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Europäische Union mit derselben Entschlossenheit ergreifen. Diese Chance wird nicht so schnell wieder- Auch bei dem nun vor uns liegenden Integrations- kommen. schritt muß allen Bürgern klar werden: Wir tun ihn Verzichten wir auch in Zukunft auf jeden Sonder- nicht, weil dies angeblich Technokraten in Brüssel so weg. Lassen wir uns nicht von Zukunftsängsten oder wollen, sondern weil durch ihn die Zukunft aller falschen Sehnsüchten nach vergangenen Idyllen europäischen Bürger am besten gesichert ist. davon abhalten, auch und insbesondere das für unser Land Richtige zu tun. (Lieselott Blunck [SPD]: Wo bleibt die parla mentarische Kontrolle?) hat bei der Konstituierung des neuen gesamtdeutschen Bundestages die Frage gestellt, ob Gerade uns Deutschen muß immer bewußt bleiben, wir eigentlich hinreichend wahrnehmen, wozu uns wie stark wir schon bisher politisch und wirtschaftlich die Geschichte einlädt. Beweisen wir, daß wir dies tun; von der Gemeinschaft profitiert haben. Auch von dem durch unser entschlossenes Signal für die Europäische ab 1. Januar nächsten Jahres existierenden europäi- Union. schen Wirtschaftsraum vom Nordkap bis nach Sizilien Ich danke Ihnen. werden wir Deutsche als größter Exporteur mit Abstand am meisten profitieren. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Bundesminister der Finanzen, Dr. Waigel. Fünftens. Das von den Bürgern direkt gewählte Europäische Parlament muß auf Dauer die Stellung erhalten, die für nationale Parlamente selbstverständ- Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: lich ist. Auch die nationalen Parlamente müssen in Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- europäischen Angelegenheiten mitwirken. Es darf legen! Mit dem Vertrag von Maastricht geht die nicht der Eindruck entstehen, als würden Rechte auf Europäische Gemeinschaft einen entscheidenden Europa übertragen, ohne daß zugleich die demokrati- Schritt in die Zukunft. Aus der früheren Wirtschafts- sche Kontrolle gewährleistet wäre. gemeinschaft wird in einem Quantensprung ein festes Bündnis neuer Qualität. Als Europäische Union kön- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der nen unsere Länder stark und geschlossen die Aufga- CDU/CSU) ben der Zukunft in Angriff nehmen. 9320 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Der Vertrag von Maastricht ist eine freiwillige Offene Märkte, Selbstbestimmung für Arbeitneh- Übereinkunft souveräner europäischer Staaten. Er ist mer, Betriebe und Selbständige, Stabilität der öffent- zugleich die Konsequenz aus den politischen und lichen Finanzen und der Währungen werden durch ökonomischen Entwicklungen von Gegenwart und den Vertrag von Maast richt für die Länder der Zukunft. Deutschland wird auch in Zukunft die größte Gemeinschaft verbindlich festgeschrieben. Volkswirtschaft in Europa haben. Aber was bedeutet Wer zum Binnenmarkt ja sagt, aber zugleich die das in einer ständig weiter zusammenwachsenden Währungsunion in Frage stellt, unterschätzt die mög- Weltwirtschaft, in der andere große Wirtschaftsräume lichen Anfechtungen, denen auch der Binnenmarkt in Nordamerika und Ostasien den Vorsprung Westeu- durch neue Abschottungstendenzen noch ausgesetzt ropas schnell einholen und sogar überholen können? ist. Binnenmarkt und Währungsunion sind zwei Ele- Nur eines ist sicher: Uns Europäern wird von dort mente des von uns angestrebten Testgefügten Wirt- nichts geschenkt werden. schaftsraums. Erst mit der Währungsunion wird der Die Vertreter der deutschen Wirtschaft haben klar gemeinsame Markt zu einem wirklichen Binnen- erkannt, welche Vorteile die Währungsunion uns markt, auf dem Preise verglichen werden können und allen bringen wird. Ich möchte in diesem Zusammen- langfristige Verträge nicht mit dem Wechselkursrisiko hang dem Gemeinschaftsausschuß der Deutschen belastet sind. Gewerblichen Wirtschaft für sein klares Bekenntnis Eine weitere entscheidende Funktion der Wäh- zur Europäischen Union danken, das er am Montag rungsgemeinschaft ist die eines Stabilitätsankers für veröffentlicht hat. ganz Europa. Alle Länder werden durch das Ziel der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Währungsunion in die Stabilitätspflicht genommen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Indem sich zwölf Länder und noch mehr darüber hinaus, die ja zur EG und damit auch später zur Auch die deutschen Gewerkschaften haben sich im Währungsunion kommen wollen, auf diesen Weg der Grundsatz positiv geäußert. Das gleiche gilt für die Stabilität machen — zum Teil schon gemacht haben —, Kirchen und für viele andere Institutionen. erreichen wir das größte Stabilitätsprogramm und Die Deutsche Bundesbank hat ihre geldpolitische damit auch Wachstumsprogramm, das je in Europa in Kompetenz in die Vorbereitung des Maastrichter Gang gesetzt worden ist. Vertrags eingebracht. In der Stellungnahme des Zen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tralbankrates vom Februar diesen Jahres heißt es: Die konkreten Vorteile dieser neuen Stufe des Die Empfehlungen der Bundesbank zu allen europäischen Einigungswerkes reichen weit über die wichtigen fachlichen Fragen und Problemen sind Einsparung von Umtauschkosten hinaus. In einem von der Bundesregierung in die politischen gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum wird Enscheidungen einbezogen worden. Sie haben das, was früher Pe ripherie war, zur Brückenregion. sich in wichtigen Punkten im WWU-Vertrag nie- Zwischen Baden und dem Elsaß oder zwischen Flan- dergeschlagen. dern und Nordfrankreich wird es künftig keine Ein- kaufs- und Arbeitsplatzgrenzen mehr geben. Bisher Die deutschen Bundesländer waren ebenfalls in die strukturschwache Gebiete in den Grenzräumen wer- Vertragsverhandlungen einbezogen. Nicht zuletzt auf den eine zunehmende wirtschaftliche Belebung der Grundlage der breit angelegten Vorbereitung erfahren. haben alle großen politischen Parteien dem Vertrag von Maastricht grundsätzlich zugestimmt. Mit der Währungsunion sichern und entfalten wir all die Entwicklungschancen, die uns Europa schon Mit dem Vertrag, meine Damen und Herren, festi- bisher gebracht hat: steigenden Wohlstand und die gen wir einen Wirtschaftsraum, der auf unserem Sicherung von mehr als der Hälfte unserer Export- Konzept einer Sozialen Marktwirtschaft beruht. märkte. Woher, meine Damen und Herren, wenn nicht Durch ihre Zustimmung zu Maastricht übernehmen aus zunehmender Integration der europäischen die europäischen Staaten de facto unsere wirtschafts- Volkswirtschaften, soll denn das Wachstum der kom- und währungspolitische Konzeption. menden Jahre kommen, daß wir für die Lösung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und unserer nationalen und internationalen Aufgaben so der F.D.P. — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: dringend brauchen? Zunehmende Zusammenarbeit Genau das!) bei der Bewältigung der großen Zukunftsaufgaben, von der Bewahrung des Friedens über den Schutz der — Ich bedanke mich, Frau Kollegin. Ich freue mich natürlichen Lebensgrundlagen bis zur Bekämpfung auch einmal über Beifall von dieser Seite. der internationalen organisierten Kriminalität und (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und die auch das Asylproblem, liebe Kolleginnen und Kolle- Unterstützung!) gen, bedrüfen einer europäischen Lösung. Des weite- ren haben wir dann unbegrenzte Reisemöglichkeiten, — Ich glaube, Sie werden noch viel Freude an meiner grenzüberschreitende Freundschaften und den unge- Rede heute haben. hinderten Austausch der kulturellen Strömungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — In Deutschland sorgen sich viele Menschen um die Dr. Peter Struck [SPD]: Ausnahmsweise!) Geldwertstabilität in der künftigen Wirtschafts- und — Lieber Peter Struck, die Bemerkung „ausnahms- Währungsunion. Diese Angst nehmen wir sehr ernst. weise" hätten Sie sich sparen können. Ich kann aber versichern: Wenn ich an der dauerhaft gesicherten Stabilität der künftigen europäischen (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Währung zweifeln würde, dann hätte ich meine Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9321

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Unterschrift unter das Vertragswerk nicht gegeben. Den rechtlichen Rahmen für Stabilität haben wir mit Wenn es jemanden gibt, der sich wirklich um die dem Vertrag von Maastricht festgefügt. Wir haben die - Stabilität der D-Mark auch in den kommenden Jahr- vollständige Unabhängigkeit der Europäischen No- zehnten sorgt, dann ist es diese Bundesregierung. Wir tenbank unmißverständlich vereinbart. Diese Verein- brauchen keine D-Mark-Partei; wir sind die Partei der barung läßt sich nicht uminterpretieren. Stabilität und des gesicherten Geldwerts. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — richtig!) Dr. Hartmut Soell [SPD]: Deswegen sind die Der Europäische Zentralbankrat wird keine Ver- Bundesbankzinsen so niedrig!) sammlung von Technokraten, die Weisungen der — Die langfristigen Zinsen sind bei uns niedriger als in politischen Ebene gehorcht. Die Mitglieder sind viel- vielen anderen Ländern — der Einwurf von Ihnen mehr völlig unabhängig und stehen allein im Dienste kommt völlig zu Recht —, und das ist ein Stück ihres gesetzlichen Auftrags, vor allem die Preisstabili- Vertrauen in unsere Stabilitäts- und unsere Finanzpo- tät zu gewährleisten. Damit ist der Stabilitätsauftrag litik. für die Europäische Zentralbank noch strenger formu- liert als im Bundesbankgesetz. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Mindestens ebenso wichtig wie die rechtlichen Die deutsche Währungsordnung hat sich als Kon- Vorkehrungen zur Stabilitätssicherung ist die ge- struktionsprinzip der Währungsunion uneinge- meinsame Grundüberzeugung der Mitgliedsländer, schränkt durchgesetzt. Unser deutscher Entwurf war durch dauerhafte Stabilität Wachstum und Beschäfti- Grundlage der Verhandlungen. Unsere Partner bei gung am besten zu fördern. Deshalb sollen und dürfen den Vertragsverhandlungen wußten: Bei den Stabili- der Währungsunion nur die Länder beitreten, die tätsanforderungen gab und gibt es mit uns keine Stabilitätsbewußtsein konkret und nachprüfbar unter Kompromisse. Die starke Deutsche Mark wird durch Beweis gestellt haben. die Währungsunion nicht abgeschafft. Die Stabilität der zukünftigen europäischen Währung wird durch (Freimut Duve [SPD]: Das ist eine hohe den Vertrag von Maastricht völkerrechtlich sogar Anforderung!) noch besser abgesichert als die D-Mark durch die Die Abwertung und das vorübergehende Ausschei- deutsche Geldverfassung. Mit der Währungsunion den einiger Währungen aus dem EWS war nicht die wird es keinen Währungsschnitt und keine Wäh- Folge überhöhter deutscher Zinsen, die niedriger sind rungsreform geben. Zunächst können auch nach der als fast überall in Europa. Europäische und internatio- unwiderruflichen Festlegung der Kurse die Deutsche nale Konjunkturprobleme gehen nicht auf die Wieder- Mark, der Gulden, der Franc und die anderen betei- vereinigung und ihre Finanzierung zurück. ligten Währungen noch eine Zeitlang nebeneinander (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. bestehenbleiben. Dr. [F.D.P.]) (Beifall des Abg. [CDU/ Deutschland finanziert den überwiegenden Teil CSU]) seiner Investitionen aus nationaler Ersparnis und im Erst später, im nächsten Jahrtausend, erfolgt eine übrigen aus Nettoauslandsguthaben von nahezu rein rechnerische Umstellung auf die künftige Euro- 500 Milliarden DM. Im übrigen hat z. B. nach Unter- Währung, die den realen Wert, die Kaufkraft von suchungen der EG-Kommission der Wachstumsschub Löhnen, Gehältern, Renten und Ersparnissen, völlig aus Deutschland unseren Nachbarn geholfen, die unverändert läßt. Auch wer heute langfristige D- Wirtschaftsschwäche der Jahre 1990 und 1991 zu Mark-Anleihen kauft, geht nicht das geringste Risiko begrenzen. ein; denn die Deutsche Mark wurde seit Beginn des (Dr. [CDU/CSU]: Sehr rich- EWS im Jahre 1979 nicht abgewertet. tig!) Namen sind nicht Schall und Rauch. Deshalb sollte Durch den deutschen Importsog war das Wachstum in auch in der Bezeichnung der späteren gemeinsamen den anderen EG-Mitgliedsländern in den Jahren 1990 Währung die Stabilitätstradition der D-Mark als Euro und 1991 um jeweils rund 0,5 Prozentpunkte höher als Mark weiterleben. ohne diesen Sondereffekt. (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Meine Damen und Herren, ich wiederhole hier, was neten der F.D.P. sowie der SPD) ich z. B. in Washington, in Bath und auch an anderer Wir wollen schließlich die Stabilitätstradition des Stelle gesagt habe: Kein Amerikaner, kein Engländer, Standorts Frankfurt für die künftige europäische Wäh- kein Franzose und auch sonst niemand würde es sich rung bewahren. nur eine Sekunde vorhalten lassen, wenn er zur Bewältigung einer Jahrhundertaufgabe, die weit über (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. das nationale Interesse hinausgeht, für einige Jahre sowie bei Abgeordneten der SPD) auf die Ersparnisse der eigenen Volkswirtschaft Deshalb setzen wir uns mit ganzer Kraft für die Wahl zurückgreift. Frankfurts als Sitz der Europäischen Zentralbank (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ein. Alle Länder wissen jetzt, woran sie sind, und haben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. die konkrete Chance, in den kommenden Jahren die sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul Stabilitätsziele des Vertrags von Maastricht zu errei- [SPD]) chen. Durch den Vertrag von Maas tricht wird das 9322 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Bundesminister Dr. Theodor Waigel weltweite Erfolgskonzept der Stabilitätspolitik in Durch den Vertrag von Maastricht ist auch keine Buchstaben gegossen. Die meisten Länder in Europa europaweite Umverteilungsmaschinerie angelegt. haben sich dieses Konzept bereits zu eigen gemacht. Die notwendigen wirtschaftspolitischen Anpassungs- Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland und Luxem- prozesse lassen sich nur durch nationale Eigenan- burg weisen zur Zeit niedrigere Inflationsraten auf als strengungen, nicht durch gewaltige Finanztransfers Deutschland. bewirken.

Auch beim Abbau der öffentlichen Defizite und Der Weg zur Währungsunion ist durch den Vertrag Schulden konnten bemerkenswerte Fortschritte er- von Maastricht klar gegliedert und vorgezeichnet. reicht werden. Wir haben hier gar keinen Anlaß zu Zuerst kommt die zunehmende Annäherung der wirt- Überheblichkeit; es gibt andere Völker, die neben uns schaftlichen und finanzpolitischen Daten, der soge- zum Teil sogar erfolgreicher — hierbei muß man nannte Konvergenzprozeß. Überwachung und Ab- natürlich unsere Sonderanstrengung zur Finanzie- stimmung nehmen laufend zu. Spätestens 1998 ent- rung der deutschen Einheit berücksichtigen — diese scheiden wir über den Beginn und die Zusammenset- Stabilitätsziele in den letzten Jahren mutig angegan- zung der Währungsunion. Diese Entscheidung beruht gen sind. Das ist ein gutes Signal für die Zukunft. auf einer objektiven Prüfung bei der Kommission. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Währungsausschuß und Europäischer Rat entschei- sowie des Abg. Dr. Uwe Holtz [SPD]) den dann darüber, wer die Eintrittskriterien erfüllt. Der Vertrag öffnet das Tor zur Währungsunion Aus dieser Terminsetzung erfolgt keine Automatik ausdrücklich nur den Mitgliedstaaten, die zuvor ein der Teilnahme. Der Vertragstext ist eindeutig. Die Höchstmaß an wirtschaftlichem Gleichlauf, an Kon- Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion vergenz der wirtschaftlichen Grunddaten erreicht setzt die Erfüllung der Konvergenzkriterien voraus. haben. Diese Annäherung auf ein vorgegebenes Sta- Deutschland wird an keiner Währungsunion teilneh- bilitätsniveau wird an Hand von vertraglich festgeleg- men, bei der nicht jedes Mitgliedsland die Vertrags- ten Konvergenzkriterien gemessen. Sie geben jedem bestimmungen einhält. Mitgliedstaat einen klaren Maßstab, an dem er seine Wirtschafts- und Finanzpolitik schon heute ausrichten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. kann und ausrichten muß, wenn er bis zum Ende sowie bei Abgeordneten der SPD) dieses Jahrzehnts Mitglied der Wirtschafts- und Wäh- rungsunion werden will. Schon heute muß sich jeder Die Prüfung der Vertragserfüllung ist der entschei- in die notwendige Stabilitätspolitik einüben. Das gilt dende letzte Schritt vor dem Beginn der Wirtschafts- auch für uns. Darum müssen wir an den Daten und und Währungsunion. Deshalb werden sich — ich Linien des Haushalts 1993 und der mittelfristigen wiederhole das, was der Bundesaußenminister gesagt Finanzplanung festhalten. hat — auch Bundestag und Bundesrat mit dem Ergeb- nis dieser Prüfung befassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wer zunächst noch nicht zur Währungsunion stoßen (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) kann, wird deswegen nicht diskriminiert. Ihm steht Dies ist keine zweite Ratifizierung und keine Opting- der Anschluß jederzeit offen, sobald er die Eingangs- out-Klausel. Aber die deutsche Regierung braucht vor bedingungen erfüllt hat, die für alle gleich sind und einer solchen Entscheidung das Votum des Bundes- gleich bleiben. tags. Alle Verdächtigungen gegenüber diesen Konver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. genz- und Disziplinkriterien sind unbegründet. Kein denkbarer politischer Kompromiß könnte ein stati- sowie bei Abgeordneten der SPD) stisch eindeutig nachweisbares öffentliches Defizit Die wirtschaftliche und politische Einigung Europas von 4 % oder 5 % des Bruttosozialprodukts in die vom Vertrag geforderte maximale Neuverschuldung von bringt den Menschen große Vorteile, aber sie verlangt ihnen auch sehr viel ab. Viele in Deutschland, aber 3 % umdeuten. auch in anderen Ländern, befürchten eine Aushöh- Auch nach dem Eintritt in die Währungsunion lung der nationalen Identität und eine Aufopferung enthält der Vertrag von Maastricht Spielregeln gegen nationaler Interessen auf dem Altar der europäischen einen möglichen Rückfall in frühere finanzpolitische Integration. Unsere Aufgabe ist es, den Menschen Sünden; denn jeder, der von der vereinbarten Haus- diese Angst vor Europa zu nehmen. haltsdisziplin abweicht, muß sich einem mit fühlbaren Sanktionen ausgestatteten Verfahren unterwerfen, Die europäische Einigung darf nicht in Zentralismus das erst mit der Rückkehr zu den vereinbarten Stabi- und Bürokratismus ausarten, weil sie sonst die Zustim- litätskennziffern beendet würde. mung der Bürger verlöre. Das europäische Haus muß auf den Prinzipien des Föderalismus und der Subsidi- Ein späteres Ausbrechen aus der Stabilitätsgemein- arität aufgebaut werden. schaft wäre für das betroffene Land aber nicht nur wegen der Sanktionen gefährlich; es entstünden auch Die europäischen Institutionen dürfen nicht mehr ernsthafte Gefahren für die Wettbewerbsfähigkeit der Kompetenzen beanspruchen, als unbedingt notwen- Volkswirtschaft und damit für die Sicherheit der dig ist. Arbeitsplätze. Auch würde es außerordentlich schwierig, öffentliche Defizite noch zu tragbaren (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr rich- Bedingungen auf den Kapitalmärkten zu decken. tig!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9323

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Dort, wo in den letzten Jahren zentralistische Ent- 1946 zu einer Neugründung der europäischen Familie wicklungen zu weit gegangen sind, müssen wir das auf. Rad zurückdrehen. Jean Monnet, Alcide De Gasperi, Robert Schuman (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. und Konrad Adenauer legten dann in den 50er Jahren sowie der Abg. Ingrid Matthäus-Maier das Fundament der heutigen Gemeinschaft. [SPD]) brachte die europäische Entwick- Die europäische Einigung wird nicht zur Beschädi- lung 1962 mit seinem Aktionsprogramm für die zweite gung und Aushöhlung der nationalen Identität der Stufe der Zollunion ebenso voran wie der frühere Mitgliedstaaten führen. Das europäische Haus muß luxemburgische Ministerpräsident Pierre Werner, auf vielmehr Raum für Einheit in Vielfalt bieten. Die den der erste Entwurf einer Wirtschafts- und Wäh- europäische Einigung wird nicht zur Beschneidung rungsunion zurückzuführen ist. der Rechte unserer Bundesländer führen. Das Die Idee Europa ist nicht die Angelegenheit einzel- gemeinsame Haus muß vielmehr für das Europa der ner Personen oder Parteien. Regionen Platz bieten. Die europäische Einigung wird nicht zu einem unkontrollierten Machtzuwachs der (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und Helmut Exekutive führen. Das gemeinsame Haus muß viel- Schmidt das EWS!) mehr von einem starken Europäischen Parlament — Jetzt warten Sie doch einen Moment! Wenn Sie demokratisch legitimiert werden. noch fünf Sekunden gewartet hätten, hätte ich ihn genannt. Ich sage es trotzdem, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Ingrid Matthäus-Maier (Heiterkeit) [SPD]) aber im Zusammenhang. Die Diskussion nach Maastricht hat Probleme des (Dr. Hartmut Soell [SPD]: Sie hat die Pointe europäischen Einigungswerks aufgedeckt und Be- weggenommen!) fürchtungen der Menschen deutlich werden lassen. Dieser Prozeß der Klärung war notwendig. — Ja, Sie haben mir wirklich die Pointe weggenom- men. Aber wird sich dennoch freuen. Die Franzosen haben mit ihrem knappen Ja zu Er ist froh, wenn er erwähnt wird, Maastricht die Tür nach Europa aufgestoßen. In Deutschland wollen wir die jetzt beginnende Bera- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und tung des Ratifizierungsgesetzes nutzen, um umfas- der F.D.P.) send über das vereinbarte Vertragswerk zu informie- und er hat es verdient. ren, und damit Ablehnung überwinden. (Peter Conradi [SPD]: Wer wird dann von (Freimut Duve [SPD]: Zu spät!) Ihnen reden?) — Es ist nie zu spät! — Für uns Deutsche wie für unsere — Sie müssen es nicht; aber vielleicht werden es Nachbarn liegt die Zukunft in Europa; denn die andere tun. Im übrigen glaube ich, daß Sie durchaus Alternative lautet: Zurück zur national-egoistischen auch einmal später humorvoll über den einen oder Aufsplitterung Europas, zurück zu Koalitionen, wech- anderen reden können. Sie sind ja einer der wenigen, selnden Partnerschaften und zur Instabilität. Wer den die Witz verstehen. Vertrag ablehnt, wird auf den untauglichen Versuch beschränkt, mit den Antworten von gestern die Fra- (Unruhe — Heiterkeit) gen von morgen zu beantworten. Aber jetzt zurück zu Europa: Die Idee Europa ist Wie wichtig der feste Zusammenhalt ist, haben nicht die Angelegenheit einzelner Personen oder schon die vergleichsweise geringen Erschütterungen Parteien. Sie hat Konrad Adenauer und Charles de durch die jüngsten Währungsturbulenzen gezeigt. Gaulle ebenso in ihren Bann gezogen wie Helmut Deshalb müssen wir gerade nach den Ereignissen der Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing, François Mit- letzten Wochen fortfahren, die Verbindungen noch terrand und Helmut Kohl. enger zu knüpfen und Europa zu einer handlungsfä- Wir dürfen das Tor zur europäischen Einheit nicht higen, organischen Gemeinschaft zu verbinden. wieder zufallen lassen. Schon einmal — nach dem Wir haben am Ende des 20. Jahrhunderts die Ende des Ersten Weltkriegs — wurde die Chance für konkrete Chance, die Idee Europa zu verwirklichen. eine dauerhafte europäische Neuordnung auf der Schon Immanuel Kant hat in seiner Schrift „Zum Grundlage von Frieden und Freiheit vergeben. Weh- ewigen Frieden" die Föderation der europäischen mütig erinnerte sich Stefan Zweig in seinem Buch Staaten als Mittel der Friedenssicherung vorgeschla- „Die Welt von gestern": gen. Jetzt war doch endlich Raum auf Erden für das lang versprochene Reich der Gerechtigkeit und Zwischen den Weltkriegen wurde der Gedanke Brüderlichkeit, jetzt oder nie die Stunde für das unter anderem von Graf Coudenhove-Kalergi und gemeinsame Europa, von dem wir geträumt. Eine seiner paneuropäischen Bewegung durch aufge- andere Welt war im Anbeginn. Und da wir jung wühlte Zeiten getragen. waren, sagten wir uns, es wird die unsere sein, die Nach der letzten Kriegskatastrophe rief Winston Welt, die wir erträumt, eine bessere, humanere Churchill in seiner Züricher Rede am 19. September Welt. 9324 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Meine Damen und Herren, mit der Welt von gestern Hauser (Rednitzhembach), Marienfeld, Claire kann nicht die Welt von morgen gestaltet werden. Und Hansgeorg Marschewski, Erwin Hedrich, Klaus-Jürgen Marten, Günter mit Europa dürfen wir nicht eine weitere Generation Heise, Manfred Dr. Mayer (Siegertsbrunn), warten. Europa ist nicht die Aufgabe der Zukunft, Dr. Hellwig, Renate Martin sondern die Aufgabe der Gegenwart. Wir haben die Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Meckelburg, Wolfgang Chance, den entscheidenden Schritt nach vorn zu Hinsken, Ernst Meinl, Rudolf Horst Hintze, Peter Dr. Merkel, Angela Dorothea gehen. Dazu sind wir fest entschlossen. Hörsken, Heinz-Adolf Dr. Meseke, Hedda Ich danke Ihnen. Hörster, Joachim Dr. Meyer zu Bentrup, Dr. Hoffacker, Paul Reinhard (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der Hollerith, Josef Michalk, Maria F.D.P. — Beifall bei Abgeordneten der Dr. Hornhues, Karl-Heinz Dr. Möller, Franz SPD) Hornung, Siegfried Molnar, Thomas Hüppe, Hubert Müller (Kirchheim), Elmar Jäger, Claus Müller (Wadern), Meine Damen und Jaffke, Susanne Hans-Werner Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Jagoda, Bernhard Müller (Wesseling), Alfons Herren, bevor wir in der Aussprache fortfahren, Dr. Jahn (Münster), Nelle, Engelbert möchte ich Ihnen das von den Schriftführern ermit- Friedrich-Adolf Dr. Neuling, Christian telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über Janovsky, Georg Neumann (Bremen), Bernd Jeltsch, Karin Nitsch, Johannes den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der Dr. Jobst, Dionys Nolte, Claudia F.D.P. zum Einspruch bekanntgeben. Dr.-Ing. Jork, Reiner Dr. Olderog, Rolf Abgegebene Stimmen: 580. Ungültige Stimmen: Jung (Limburg), Michael Ost, Friedhelm Junghanns, Ulrich Oswald, Eduard keine. Mit Ja haben gestimmt: 374, mit Nein: 191. Es Dr. Kahl, Harald Otto (Erfurt), Norbert gab 15 Enthaltungen. Kalb, Bartholomäus Dr. Päselt, Gerhard Kampeter, Steffen Dr. Paziorek, Peter Paul Pesch, Hans-Wilhelm Endgültiges Ergebnis Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Deres, Karl Karwatzki, Irmgard Petzold, Ulrich Deß, Albert Kauder, Volker Pfeffermann, Gerhard O. Abgegebene Stimmen: 578; Diemers, Renate Pfeifer, Anton davon Keller, Peter Dörflinger, Werner Kiechle, Ignaz Pfeiffer, Angelika Doss, Hansjürgen Dr. Pflüger, Friedbert ja: 372 Kittelmann, Peter Dr. Dregger, Alfred Klein (Bremen), Günter Dr. Pinger, Winfried nein: 191 Echternach, Jürgen Klein (München), Hans Dr. Pohler, Hermann Ehlers, Wolfgang Priebus, Rosemarie enthalten: 15 Klinkert, Ulrich Ehrbar, Udo Köhler (Hainspitz), Dr. Probst, Albert Eichhorn, Maria Hans-Ulrich Dr. Protzner, Bernd Engelmann, Wolfgang Dr. Köhler (Wolfsburg), Raidel, Hans Ja Eppelmann, Rainer Volkmar Dr. Ramsauer, Peter Eylmann, Horst Dr. Kohl, Helmut Rau, Rolf CDU/CSU Eymer, Anke Kolbe, Manfred Rauen, Peter Harald Falk, Ilse Kors, Eva-Maria Rawe, Wilhelm Dr. Ackermann, Else Dr. Faltlhauser, Kurt Koschyk, Hartmut Regenspurger, Otto Adam, Ulrich Feilcke, Jochen Kossendey, Thomas Reichenbach, Klaus Dr. Altherr, Walter Dr. Fell, Karl Kraus, Rudolf Dr. Reinartz, Berthold Augustin, Anneliese Fischer (Hamburg), Dirk Erik Dr. Krause (Börgerende), Reinhardt, Erika Augustinowitz, Jürgen Fischer (Unna), Leni Günther Repnik, Hans-Peter Austermann, Dietrich Fockenberg, Winfried Dr. Krause (Bonese), Dr. Rieder, Norbert Bargfrede, Heinz-Günther Francke (Hamburg), Klaus Rudolf Karl Dr. Riedl (München), Erich Dr. Bauer, Wolf Frankenhauser, Herbert Krause (Dessau), Wolfgang Riegert, Klaus Baumeister, Brigitte Dr. Friedrich, Gerhard Krey, Franz Heinrich Dr. Riesenhuber, Heinz Bayha, Richard Fritz, Erich G. Kriedner, Arnulf Ringkamp, Werner Belle, Meinrad Fuchtel, Hans-Joachim Kronberg, Heinz-Jürgen Rode (Wietzen), Helmut Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Ganz (St. Wendel), Johannes Dr.-Ing. Krüger, Paul Rönsch (Wiesbaden), Bierling, Hans-Dirk Geiger, Michaela Krziskewitz, Reiner Eberhard Hannelore Dr. Blank, Joseph-Theodor Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Lamers, Karl Romer, Franz-Xaver Blank, Renate Geis, Norbe rt Dr. Lamme rt, Norbert Dr. Rose, Klaus Dr. Blens, Heribert Dr. Geißler, Heiner Lamp, Helmut Johannes Rossmanith, Kurt J. Bleser, Peter Dr. von Geldern, Wolfgang Lattmann, Herbe rt Roth (Gießen), Adolf Dr. Blüm, Norbert Gerster (Mainz), Johannes Dr. Laufs, Paul Rother, Heinz Dr. Böhmer, Maria Gibtner, Horst Laumann, Karl Josef Dr. Ruck, Christian Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Glos, Michael Lehne, Klaus-Heiner Rühe, Volker Dr. Bötsch, Wolfgang Göttsching, Martin Dr. Lehr, Ursula-Maria Dr. Rüttgers, Jürgen Bohl, Friedrich Götz, Peter Dr. Lieberoth, Immo Sauer (Stuttgart), Roland Bohlsen, Wilfried Dr. Götzer, Wolfgang Limbach, Editha Schätzle, Ortrun Borchert, Jochen Gres, Joachim Lintner, Eduard Dr. Schäuble, Wolfgang Brähmig, Klaus Gröbl, Wolfgang Dr. Lippold (Offenbach), Scharrenbroich, Heribert Breuer, Paul Grotz, Claus-Peter Klaus W. Schartz (Trier), Günther Brudlewsky, Monika Dr. Grünewald, Joachim Dr. sc. Lischewski, Manfred Schemken, Heinz Brunnhuber, Georg Günther (Duisburg), Horst Löwisch, Sigrur. Scheu, Gerhard Bühler (Bruchsal), Klaus Frhr. von Hammerstein, Lohmann (Lüdenscheid), Schmalz, Ulrich Büttner (Schönebeck), Carl-Detlev Wolfgang Schmidbauer, Bernd Hartmut Harries, Klaus Louven, Julius Schmidt (Fürth), Christian Buwitt, Dankward Haschke (Großhennersdorf), Lummer, Heinrich Dr. Schmidt (Halsbrücke), Carstens (Emstek), Manfred Gottfried Dr. Luther, Michael Joachim Carstensen (Nordstrand), Haschke (Jena-Ost), Udo Maaß (Wilhelmshaven), Erich Schmidt (Mühlheim), Andreas Peter Harry Hasselfeldt, Gerda Männle, Ursula Schmidt (Spiesen), Trudi Dehnel, Wolfgang Haungs, Rainer Magin, Theo Schmitz (Baesweiler), Dempwolf, Gertrud Hauser (Esslingen), Otto Dr. Mahlo, Dietrich Hans Peter Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9325

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth von Schmude, Michael Dr. Blunk, Michaela Nein Lange, Brigitte Dr. Schneider (Nürnberg), Bredehorn, Günther von Larcher, Detlev Oscar Cronenberg (Arnsberg), Leidinger, Robert Dr. Schockenhoff, Andreas Dieter-Julius SPD Lennartz, Klaus Graf von Schönburg - Eimer (Fürth), Norbert Lohmann (Witten), Klaus Glauchau, Joachim Engelhard, Hans A. Adler, Brigitte Dr. Lucyga, Christine Dr. Scholz, Rupert van Essen, Jörg Barbe, Angelika Maaß (Herne), Dieter Frhr. von Schorlemer, Dr. Feldmann, Olaf Bartsch, Holger Marx, Dorle Reinhard Friedhoff, Paul Becker (Nienberge), Helmuth Mascher, Ulrike Dr. Schreiber, Harald Friedrich, Horst Berger, Hans Matschie, Christoph Schulhoff, Wolfgang Funke, Rainer Bernrath, Hans Gottfried Dr. Matterne, Dietmar Dr. Schulte (Schwäbisch Dr. Funke-Schmitt-Rink, Beucher, Friedhelm Julius Matthäus-Maier, Ingrid Gmünd), Dieter Margret Blunck (Uetersen), Lieselott Mattischeck, Heide Schulz (Leipzig), Gerhard Gallus, Georg Bock, Thea Meckel, Markus Schwalbe, Clemens Ganschow, Jörg Dr. Böhme (Unna), Ulrich Mehl, Ulrike Schwarz, Stefan Gries, Ekkehard Börnsen (Ritterhude), Arne Meißner, Herbert Dr. Schwarz-Schilling, Grüner, Martin Dr. Brecht, Eberhard Dr. Mertens (Bottrop), Christian Günther (Plauen), Joachim Büchner (Speyer), Peter Franz-Josef Dr. Schwörer, Hermann Dr. Guttmacher, Karlheinz Dr. von Bülow, Andreas Mosdorf, Siegmar Seehofer, Horst Hansen, Dirk Bulmahn, Edelgard Müller (Düsseldorf), Michael Seesing, Heinrich Dr. Haussmann, Helmut Burchardt, Ursula Müller (Pleisweiler), Albrecht Seibel, Winfried Heinrich, Ulrich Bury, Hans Martin Müller (Schweinfurt), Rudolf Seiters, Rudolf Dr. Hitschler, Walter Catenhusen, Wolf-Michael Müller (Völklingen), Jutta Sikora, Jürgen Homburger, Birgit Conradi, Peter Müller (Zittau), Christian Skowron, Werner Dr. Hoth, Sigrid Dr. Diederich (Berlin), Nils Müntefering, Franz Dr. Sopart, Hans-Joachim Dr. Hoyer, Werner Diller, Karl. Neumann (Bramsche), Volker Sothmann, Bärbel Irmer, Ulrich Dr. Dobberthien, Marliese Neumann (Gotha), Gerhard Spilker, Karl-Heinz Kleinert (Hannover), Detlef Dreßler, Rudolf Dr. Niehuis, Edith Spranger, Carl-Dieter Dr. Niese, Rolf Kohn, Roland Duve, Freimut Dr. Sprung, Rudolf Niggemeier, Horst Koppelin, Jürgen Ebert, Eike Steinbach-Hermann, Erika Odendahl, Doris Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Dr. Eckardt, Peter Dr. Stercken, Hans Ostertag, Adolf Dr. Graf Lambsdorff, Otto Dr. Ehmke (Bonn), Horst Dr. Frhr. von Stetten, Dr. Otto, Helga Leutheusser-Schnarrenberger, Eich, Ludwig Wolfgang Paterna, Peter Sabine Dr. Elmer, Konrad Stockhausen, Karl Dr. Penner, Willfried Lüder, Wolfgang Esters, Helmut Dr. Stoltenberg, Gerhard Peter (Kassel), Horst Lühr, Uwe Ewen, Carl Strube, Hans-Gerd Dr. Pfaff, Martin Dr. Menzel, Bruno Ferner, Elke Stübgen, Michael Dr. Pick, Eckhart Mischnick, Wolfgang Fischer (Gräfenhainichen), Dr. Süssmuth, Rita Por , Joachim Möllemann, Jürgen W. Evelin Susset, Egon Purps, Rudolf Nolting, Günther Friedrich Formanski, Norbert Tillmann, Ferdinand Reimann, Manfred Dr. Ortleb, Rainer Fuchs (Köln), Anke Dr. Töpfer, Klaus Rennebach, Renate Otto (Frankfurt), Fuchs (Verl), Katrin Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter I lans -Joachim Roth, Wolfgang Uldall, Gunnar Fuhrmann, Arne Scheffle) Siegfried Willy Paintner, Johann Ganseforth, Monika Verhülsdonk, Roswitha Peters, Lisa Schloten Dieter Vogel (Ennepetal), Friedrich Gansel, Norbert Schluckebier, Günter Dr. Pohl, Eva Dr. Gautier, Fritz Vogt (Düren), Wolfgang Richter (Bremerhaven), Schmidbauer (Nürnberg), Gleicke, Iris Dr. Voigt (Northeim), Manfred Horst Graf, Giinter Hans-Peter Rind, Hermann Schmidt (Aachen), Ursula Habermann, Frank-Michael Dr. Waffenschmidt, Horst Dr. Röhl, Klaus Schmidt (Nürnberg), Renate Hacker, Hans-Joachim Dr. Waigel, Theodor Schäfer (Mainz), Helmut Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Hämmerle, Gerlinde Graf von Waldburg-Zeil, Alois Schmalz-Jacobsen, Cornelia Schmidt-Zadel, Regina Hampel, Manfred Eugen Dr. Warnke, Jürgen Schmidt (Dresden), Arno Dr. Schmude, Jürgen Hanewinckel, Christel Dr. Warrikoff, Alexander Dr. Schmieder, Jürgen Dr. Schnell, Emil Werner (Ulm), Herbert Dr. Schnittler, Christoph Hasenfratz, Klaus Dr. Schöfberger, Rudolf Wetzel, Kersten Schüßler, Gerhard Dr. Hauchler, Ingomar Schröter, Gisela Wiechatzek, Gabriele Schuster, Hans Hiller (Lübeck), Reinhold Schröter, Karl-Heinz Dr. Wieczorek (Auerbach), Dr. Schwaetzer, Irmgard Hilsberg, Stephan Schütz, Dietmar Bertram Sehn, Marita Dr. Holtz, Uwe Schulte (Hameln), Brigitte Dr. Wilms, Dorothee Seiler-Albring, Ursula Horn, Erwin Dr. Schuster, R. Werner Wilz, Bernd Dr. Semper, Sigrid Huonker, Gunter Schwanhold, Ernst Wimmer (Neuss), Willy Dr. Solms, Hermann Otto Jäger, Renate Schwanitz, Rolf Wissmann, Matthias Dr. Starnick, Jürgen Janz, Ilse Seidenthal, Bodo Dr. Wittmann, Fritz Dr. von Teichman, Cornelia Dr. Janzen, Ulrich Seuster, Lisa Wittmann (Tännesberg), Thiele, Carl-Ludwig Dr. Jens, Uwe Sielaff, Horst Simon Dr. Thomae, Dieter Jung (Düsseldorf), Volker Simm, Erika Wonneberger, Michael Timm, Jürgen Jungmann (Wittmoldt), Horst Singer, Johannes Wülfing, Elke Türk, Jürgen Kastner, Susanne Dr. Soell, Hartmut Würzbach, Peter Kurt Kirschner, Klaus Walz, Ingrid Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Yzer, Cornelia Klappert, Marianne Dr. Weng (Gerlingen), Sorge, Wieland Zeitlmann, Wolfgang Klemmer, Siegrun Wolfgang Dr. Sperling, Dietrich Zöller, Wolfgang Wolfgramm (Göttingen), Klose, Hans-Ulrich Dr. sc. Knaape, Hans -Hinrich Steen, Antje-Marie Torsten Körper, Fritz Rudolf Steiner, Heinz-Alfred Würfel, Uta Stiegler, Ludwig Zurheide, Burkhard Kolbe, Regina Kolbow, Walter Dr. Struck, Peter Zywietz, Werner Koltzsch, Rolf Tappe, Joachim F.D.P. Koschnick, Hans Terborg, Margitta Kubatschka, Horst Dr. Thalheim, Gerald Albowitz, Ina Kuessner, Hinrich Titze, Uta Dr. Babel, Gisela BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Küster, Uwe Toetemeyer, Hans-Günther Baum, Gerhart Rudolf Kuhlwein, Eckart Urbaniak, Hans-Eberhard Beckmann, Klaus Schulz ('erlin), \Verrier Lambinus, Uwe Vergin, Siegfried 9326 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Verheugen, Günter Fraktionslos Bereits in den 20er Jahren — das ist schon gesagt Dr. Vogel, Hans-Jochen worden — gab es nach den Verheerungen des Ersten- Dr. Briefs, Ulrich Voigt (Frankfurt), Karsten D. Weltkrieges Überlegungen vieler engagierter Men- Wagner, Hans Georg Henn, Bernd Wallow, Hans Lowack, Ortwin schen, ein Europa zu schaffen, das die Nationalstaaten Waltemathe, Ernst miteinander verflechten sollte, so daß niemals mehr Walter (Cochem), Ralf Krieg zwischen ihnen möglich wäre. Wartenberg (Berlin), Gerd Dr. Wegner, Konstanze In der Geschichte hat sich die Idee der Vereinigten Weiermann, Wolfgang Enthalten Staaten von Europa damals noch nicht durchgesetzt Weiler, Barbara — mit schrecklichen Folgen. Den Nationalstaaten Weis (Stendal), Reinhard CDU/CSU gelang es nicht, die wirtschaftliche Depression der Matthias Weisheit, 20er Jahre allein und jeweils für sich zu bekämpfen Weißgerber, Gunter Dr. Jüttner, Egon Weisskirchen (Wiesloch), Gert und das Aufkommen von Faschismus und Nationalso- Dr. Wernitz, Axel zialismus zu verhindern. Wester, Hildegard SPD Westrich, Lydia Die Frauen und Männer des Widerstands gegen Dr. Wetzel, Margrit Oostergetelo, Jan Faschismus und Nationalsozialismus kamen — man- Weyel, Gudrun von Renesse, Margot che völlig unabhängig voneinander — zu ähnlichen Dr. Wieczorek, Norbert Schlußfolgerungen für ein neues Europa. Für sie, die Wieczorek-Zeul, Heidemarie PDS/Linke Liste — zum Teil in Konzentrationslagern und Gefängnis- Wiefelspütz, Dieter sen — über ein neues Europa für unseren Kontinent Wimmer (Neuötting), Dr. Fuchs, Ruth Hermann Dr. Gysi, Gregor nachdachten, lag das Verhängnis Europas in seinen Wittich, Berthold Dr. Keller, Dietmar unzulänglichen und veralteten Strukturen, in seiner Wohlleben, Verena Ingeborg Philipp, Ingeborg Aufsplitterung in nationale souveräne Staaten und in Wolf, Hanna Dr. Schumann (Kroppenstedt), den sich daraus ergebenden nationalistischen Ausein- Zapf, Uta Fritz Stachowa, Angela andersetzungen. Dem stellten sie ihre Vorstellungen von einer demo- kratischen, solidarischen und föderalen europäischen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ordnung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber. Dies gilt für die Menschen, die vom PDS/Linke Liste Dr. Feige, Klaus-Dieter italienischen Faschismus auf die Insel Ventotene ver- Köppe, Ingrid bannt wurden. Dies gilt für Männer wie Carlo Mie- Bläss, Petra Poppe, Gerd Dr. Heuer, Uwe-Jens Schenk, Christina rendorff,. den Kreisauer Kreis und die Geschwister Dr. Höll, Barbara Dr. Ullmann, Wolfgang Scholl. Lederer, Andrea Weiß (Berlin), Konrad Bei aller berechtigten Kritik an den Mängeln der bestehenden Europäischen Gemeinschaft frage ich alle Bürger und Bürgerinnen sowie uns in diesem Damit ist der Antrag angenommen. Haus: Ist es nicht ungleich viel zivilisierter und Ich erteile der Abgeordneten Frau Wieczorek-Zeul menschlicher, daß die Europäer im Westen heute ihre Interessendifferenzen und wirtschaftlichen Probleme das Wort. in Redeschlachten statt in den Schützengräben austra- gen? (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Heidemarie Wieczorek -Zeul (SPD): Liebe Kollegin- nen und Kollegen! Es ist kein Zufall, daß wir an dem bei Abgeordneten der F.D.P.) Tag, an dem wir über Maastricht diskutieren, auch Nach den demokratischen Revolutionen in Ost- über die Chancen Europas am Ende unseres Jahrhun- und Mitteleuropa 1989 leuchtete die Chance auf, ein derts sprechen. Gesamteuropa zu schaffen, in dem die Nationalstaa- ten, miteinander verflochten, nie mehr gegeneinan- ( V o r s i t z: Vizepräsident Dieter-Julius Cro der Krieg führen. Die Verheißung von 1989 der nenberg) demokratischen Revolutionen in Ost-, Mittel- und Südosteuropa waren die Freiheit und die Rückkehr Manche Bilder aber, die wir augenblicklich von der Ost- und Mitteleuropas zu den Prinzipien der europäi- wechselseitigen Zerfleischung zwischen Menschen schen Aufklärung. unterschiedlicher Nationalität oder Volkszugehörig- Diese Prinzipien, das müssen wir heute mit Schmer- keit in Mittel- und Osteuropa sehen, erinnern uns eher zen jeden Tag aufs neue sehen, werden in Mittel-, an den Beginn dieses Jahrhunderts. Das hat auch Herr Südost- und Osteuropa tausendfach gebrochen und Waigel erwähnt. Die Anschläge auf das Leben von mit Füßen getreten. Der versuchte Völkermord an den Menschen anderer Nationalitäten heute in unserem bosnischen Muslimen ist das bisher schauerlichste Land erinnern uns an den schrecklichen Rückfall in Beispiel dafür. die Barbarei in Deutschland, als Minderheiten in diesem Land zum Sündenbock gemacht wurden. Dies Wir in Westeuropa und in Deutschland stehen vor zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem wir heute der Frage: Konnten die Prinzipien der Aufklärung und stehen. unsere Überzeugungen von der Würde aller Men- schen nur existieren , solange die Zuwanderung nach (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Westeuropa durch die Mauer und die Trennung der PDS/Linke Liste) Europas verhindert wurde? Oder schaffen wir es — ich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9327

Heidemarie Wieczorek-Zeul hoffe, wir schaffen es, liebe Kolleginnen und Kolle- den Deutschen" und der gefühllose Umgang dieser gen —, diese Werte bei uns zu sichern und zu Regierung mit unserer Geschichte; Stichwort: Peene- - bewahren, so daß sie die Chance der allgemeinen münde. Durchsetzung auch für den anderen Teil unseres Aber ich betone auch— das, was der Finanzminister Kontinents haben? Das ist unsere gemeinsame Auf- hier gesagt hat, war nicht ausreichend —: Es ist eine gabe. Dafür müssen wir uns engagieren. Tatsache, daß die deutsche Hochzinspolitik nicht nur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS die Menschen in unserem Lande belastet, sondern daß 90/DIE GRÜNEN) sie auch dazu führt, daß wirtschaftliche Schwierigkei- ten bei unseren Nachbarn auftreten, und daß sie damit Die Verheißung von 1989 war die Freiheit. Zur auch einen Sprengsatz für die europäische Einigung Freiheit gehört aber zuallererst die Sicherung der darstellt. Freiheit auch für Minderheiten. Wenn heute — ich stelle ausdrücklich einen Bezug zu der Diskussion her, In dieser Situation vermißt man wie in so vielen die sich heute nachmittag über Rechtsextremismus anderen Situationen ein klärendes, orientierendes und Gewalt anschließt — Minderheiten, Menschen Wort des Bundeskanzlers. anderer Nationalität in unserem Land wieder zu (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!) Sündenböcken gemacht werden, müssen wir sagen: Es ist die Lehre unserer Geschichte, daß Minderheiten Ein Mann wie Helmut Schmidt hat die Deutschen in Deutschland niemals als Spielball zu politischer daran erinnert, was in der augenblicklichen Situation Mehrheitssicherung mißbraucht werden dürfen. zu sagen ist und was auch dazu führen würde, daß in diesen Fragen Klarheit herrscht. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Wer hier lebt, dessen Würde und dessen Leben Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Nichts hin- müssen mit der gleichen Inbrunst verteidigt werden, terlassen, nur Gerede!) wie die eines jeden und einer jeden Deutschen auf unserem Boden. — Es schmerzt, wenn man einen Mann zum Bundes- kanzler hat, der nicht einmal in dieser Debatte das (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Wort ergreift. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten An die Adresse des Bundeskanzlers und des Finanz- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Peter ministers Waigel, der vor mir gesprochen hat, muß ich Kittelmann [CDU/CSU]: Er hat doch vor sagen: Wer Menschen anderer Nationalität, die auf vierzehn Tagen gesprochen!) dem Boden der Bundesrepublik leben und die ange- griffen werden, nicht in aller Entschiedenheit — Ich verstehe, daß sie so reagieren. beispielsweise indem man zu ihnen geht — beisteht, (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sie reden ist ein schlechter Europäer, auch wenn er tausendmal dummes Zeug! Das ist das Problem! Schlicht- Konrad Adenauer zitiert. weg dummes Zeug!) (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das ist eine Unverschämtheit in diesem Zusammenhang! Das ist eine Frechheit! Das ist Diffamie Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine rung!) Damen und Herren, ich wäre dankbar, wenn man der Aus aktuellen Gründen sage ich weiter: Wer in Rednerin zuhörte. diesem Land Molotowcocktails auf Menschen schmeißt, ist ein potentieller Mörder. Er muß wissen, daß er in dieser Gesellschaft geächtet wird. Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Helmut Schmidt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS hat in dieser Diskussion gesagt, daß ein geeintes 90/DIE GRÜNEN — Zuruf von der CDU/ Europa die einzige Chance ist, um zu verhindern, daß CSU: Zerstören Sie nicht den Konsens!) es neue Hegemonien und Koalitionen gegen den Er darf nicht damit rechnen, daß ihm klammheimli- Versuch solcher Hegemonien gebe. che oder offene soziale Sympathie entgegengebracht Ich zitiere: wird. Das muß in einer solchen Debatte gesagt wer- Schließlich ist weder die freiwillige Einbindung den. Deutschlands, das eine größere Zahl von Nach- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und barn als irgendein anderes europäisches Volk dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hat, noch die Vermeidung von zukünftig gegen Ja, es gibt auch zwischen EG-Mitgliedstaaten Deutschland gerichteten Koalitionen etwas Eh- untereinander den Rückfall in nationalistische Stereo- renrühriges — im Gegenteil: Beides ist vernünf- type und Vorurteile. Ja, es gibt erneut Befürchtungen tig, beides liegt im langfristigen deutschen Inter- vor einem nationalistischen Deutschland in der Mitte esse, beides liegt im wohlverstandenen Interesse Europas. Es gibt Befürchtungen vor der Dominanz des der meisten unserer Nachbarn, von Frankreich wirtschaftlich stärksten Partners in der Gemeinschaft. bis Polen, und es liegt im Interesse des Friedens Manche Ereignisse der letzten Wochen und Monate auf diesem kleinen Kontinent. haben vielen dieser Befürchtungen Vorschub gelei- Ich füge hinzu: Immer wenn Deutschland dies stet: die Parolen „Ausländer raus" und „Deutschland beherzigte, ging es Deutschland und unserem Konti- 9328 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Heidemarie Wieczorek-Zeul nent Europa gut; immer wenn dies mißachtet wurde, und daß ich nicht auf das warten will, was die ging es beiden schlecht. Bundesregierung anschließend aus solchen Gesprä- chen mit herausbringt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das muß in dieser Diskussion erwähnt werden, und daran muß erinnert werden. Ich frage also die Bundesregierung: Wo sind Ihre Vorschläge für den Sondergipfel am 16. Oktober? Ich Maastricht zu ratifizieren liegt also im deutschen kenne das Memorandum. Das ist vom Wirtschaftsmi- Interesse, aber auch im europäischen. In unserer nisterium, und dementsprechend ist es geraten. Das Geschichte haben immer diejenigen unserem Land wird ja wohl nicht das politische Dokument dieser unermeßlichen Schaden zugefügt, die seine Einbin- Bundesregierung für den 16. Oktober sein. Wo sind dung leugneten oder sie gar zerstörten. Ihre Vorschläge für die angemessene Repräsentation (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der fünf neuen Länder im Europäischen Parlament? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das muß jetzt geregelt werden. Wo sind die Vor- schläge? Das werden die Bürger und Bürgerinnen Warum ist aber, unabhängig davon, die Distanz wissen wollen. zwischen Bürgern und Bürgerinnen in Europa und dem organisierten Europa in den letzten Jahren (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Lesen!) immer größer geworden? Liebe Kolleginnen und Kol- Wenn die Regierungen erneut hinter verschlossenen legen, die frühe Phase der europäischen Einigung mit Türen verhandeln, werden sie damit Unmut gegen die den Römischen Verträgen setzte eigentlich auf die EG schüren, den sie eigentlich auf sich selbst ziehen Kooperation weniger Staatsmänner. Letztlich bezog müßten. sie aber Bürger und Bürgerinnen nicht ein. Das konnte nur so lange gut gehen, als es nicht um zentrale Ich will an der Stelle eines anfügen: Ich höre das Fragen unserer Verfassung ging. Aber ein Vertrags- Zauberwort Subsidiarität. Das wird dann immer — ich werk wie Maastricht, das dramatische Rückwirkun- kenne Europa lange genug, ich weiß, wovon die Rede gen auf zentrale innenpolitische Fragen hat, kann ist — in die Diskussion eingebracht. nicht an Bürgern und Bürgerinnen vorbei ausgehan- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: So alt sind Sie delt werden, ohne ihr Vertrauen zu verletzen. aber doch noch gar nicht! - Weiterer Zuruf Der erste Akt einer notwendigen neuen Vertrauens- von der CDU/CSU: Obwohl Sie so aussieht! bildung zwischen Regierungen und Bevölkerung muß — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nicht dar- also künftig ein neuer Stil bei der Ausarbeitung auf reagieren! Dümmlich! — Dr. Hartmut europäischer Regelungen und Verträge sein. Soell [SPD]: Das richtet sich selber!) — Wenn nichts anderes mehr klar ist, dann wird auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten solche Dinge zurückgegriffen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich sage: Das muß man sich sehr genau ansehen. Ich rüge deshalb ausdrücklich, daß die Bundesre- Wir sind dafür, daß all das, was in der Gemeinde, im gierung aus der Kritik an der Erarbeitung von Maas- Land erledigt werden kann, dort erledigt wird. Aber tricht offensichtlich immer noch nichts gelernt hat. Wir ich warne auch vor einem: Bis Ende des Jahres sind hören seit dem Tag des französischen Referendums, alle legislativen Akte für den Binnenmarkt, also für die daß es eine „Ergänzende Erklärung" der Regierungs- wirtschaftliche Zusammenarbeit, beendet. Ich möchte chefs auf dem Sondergipfel am 16. Oktober geben nicht, daß, wenn es zu Rechtsakten der Gemeinschaft werde. Bis dahin ist es noch gut eine Woche. im Sinne des sozialen Europas oder des ökologischen (Zuruf von der CDU/CSU) Europas kommt, mir der Bundeskanzler oder andere kommen und sagen: Subsidiarität; jetzt hat die EG — Gerade das ist die Geisteshaltung, die die Leute nichts mehr zu sagen, nicht mehr akzeptieren. Warten Sie einmal ab! Sie wollen vorher sehen, was dort behandelt wird; sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/- wollen es offengelegt wissen, DIE GRÜNEN Peter Kittelmann [CDU/ CSU]: Wer will denn das bei uns? Sie bauen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einen Buhmann auf!) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste) Ja, davor warne ich. Im Gegenteil: Ich bin überzeugt, daß die Europäische Gemeinschaft bei Bürgern und und sie wollen nicht anschließend von den Regierun- Bürgerinnen dann Akzeptanz findet, wenn sie sich an gen gnädig ihre Vorschläge serviert bekommen. ihrem sozialen und ökologischen Profil orientiert. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wieder Ihre (Beifall bei der SPD) Emotionen!) Es würde sie bei Bürgern und Bürgerinnen beliebt Sie wollen es vielmehr selber beurteilen können. machen, wenn es gemeinsame Aktionen gäbe, z. B. die Flüsse und Seen Europas zu reinigen, dafür zu Ich füge hinzu: Mein Verständnis als Parlamentarie- sorgen, daß wir eine Umwelt erleben, in der die Kinder rin schließt ein, daß ich vorher im Deutschen Bundes- tag dazu ein Wort sagen will unseres Kontinents in Zukunft sauberes Wasser und frische Luft vorfinden, und dafür zu sorgen, daß es (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sie reden Energiesparmaßnahmen in diesem Land gibt, die für doch gerade!) Europa insgesamt gute Auswirkungen haben. Das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9329

Heidemarie Wieczorek-Zeul muß ein Profil Europas ausmachen und nicht eher rung uns vorgegaukelt, die deutsche Einigung werde traditionalistische, konservative Ansätze, die sich zum aus der Portokasse bezahlt, als daß die Menschen den - Teil in den Gedanken zu Maastricht finden. Verhandlungsergebnissen dieser Regierung noch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) blind vertrauen könnten. Ich sage bei allen kritischen Ansätzen: Die SPD (Beifall bei der SPD — Peter Kittelmann Bundestagsfraktion wird dem Vertrag von Maastricht [CDU/CSU]: Sie waren doch immer einge zustimmen. bunden!) (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut!) Um es ganz klar zu sagen: Wenn wir vor dem Übergang in die Endstufe der Währungsunion eine Sie sieht durchaus seine Mängel der Erarbeitung. erneute Entscheidung des Parlaments fordern, ist dies Aber sie sieht auch seine Chancen, die ich zu Beginn kein Währungschauvinismus. Wir stellen damit nicht angesprochen habe. die Ratifikation des Vertrages in Frage. Wir wollen (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sehen immer vielmehr erreichen, daß die Stabilität der Währung nur die Mängel!) gesichert ist. Ich denke, dies ist auch im Interesse aller Ich sage an die Adresse derer, die sich zur Frage des Partnerstaaten. Volksentscheids äußern: Wir setzen uns als SPD in (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den Beratungen der Gemeinsamen Verfassungskom- mission für die Aufnahme der Möglichkeit von Volks- Wir wissen uns dabei einig mit dem Beschluß des vom 25. September, auf den ich Ihr entscheiden und Referenden ein. Wenn dies akzep- Bundesrats tiert würde, dann wäre Maastricht ein solcher Fall für Augenmerk zu lenken versuche. Der Bundesrat hat eine Volksabstimmung oder einen Volksentscheid. einstimmig, also auch mit Zustimmung der CDU regierten Länder und des Landes Bayern, beschlos- Aber die Ehrlichkeit gebietet, zu sagen, daß die sen: CDU/CSU und die F.D.P. diese Vorschläge scheuen wie der Teufel das Weihwasser und daher eine Die Bundesregierung bedarf für ihr Stimmverhal- Verankerung von Referenden in der Verfassung keine ten bei Beschlüssen des Rates über den Übergang Chance oder wenig Chancen haben wird. Das muß zur dritten Stufe der Währungsunion der Zustim- man korrekterweise an dieser Stelle sagen. mung von Bundestag und Bundesrat. (Zuruf des Abg. Christian Schmidt [Fürth] Wir wollen diese Festlegung im Ratifizierungsgesetz [CDU/CSU] — [CDU/CSU]: verankern oder in einer eigenen Resolution ausspre- Warum klatscht denn Ihre Partei nicht? — chen, die am besten zwischen Bundestag und Bundes- Lachen bei der SPD) rat vereinbart wird. Diesen Parlamentsvorbehalt muß die Bundesregierung den EG-Partnern verbindlich mitteilen. Mit unverbindlichen Erklärungen — letzte Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Ich be- Woche haben wir dazu einiges gehört — der Bundes- fürchte, der I-linweis der Rednerin war nicht unbe- regierung werden wir uns jedenfalls nicht zufrieden- rechtigt. Ich bitte Sie freundlicherweise, sich auch geben. entsprechend zu verhalten, ohne daß ich Sie darauf aufmerksam machen muß. (Zuruf von der CDU/CSU: Dieses Mißtrauen eint uns nicht!) Wir werden einem Einstieg in die europäische Wäh- Heidemarie Wieczorek -Zeul (SPD): Ich freue mich, rung nur dann zustimmen, wenn sie genauso stabil ist daß Sie sich zur Ordnung gerufen haben, und setze wie die D-Mark. fort. Die SPD-Bundestagsfraktion hat große Anstrengun- (Beifall bei der SPD) gen unternommen, um bei den Beratungen zu Maas- Das heißt: Unser Parlamentsvorbehalt ist für alle tricht und den Verfassungsänderungen, Mängel des Bürger und Bürgerinnen wichtig. Er ist eine Sperre, Vertrags auszugleichen. Wir wollen z. B. ein Rechts- mit der die Aufweichung der harten D-Mark verhin- stellungsgesetz im Deutschen Bundestag aus Anlaß dert werden kann. Deshalb ist er notwendig. der Ratifizierungsberatungen verwirklichen, durch (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Es ist populi das die Bundesregierung verpflichtet wird, den Bun- stisch, was Sie sagen, weil Sie wissen, daß es destag rechtzeitig über geplante EG-Gesetze zu infor- Quatsch ist!) mieren und in zentralen Fragen die Abstimmung des Deutschen Bundestags abzuwarten. Vor allem aber Wir können aber mit all unseren Initiativen nicht die prinzipiellen Mängel ausgleichen, z. B. daß dem vertreten wir die Interessen der Bürger und Bürgerin- im Vertrag nicht ausrei- nen und deren Sorge um die stabile Währung. Denn Europäischen Parlament ihre Sorge um die Stabilität der Währung ist nicht chend Rechte gegeben worden sind. Deshalb fordern unberechtigt, wir in unserem Antrag: Die vorgesehene Konferenz, die den Vertrag 1996 überprüfen soll, soll aus unserer (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ausge Sicht um zwei Jahre auf 1994 vorgezogen werden. rechnet!) Dabei muß dann endlich erreicht werden, daß das auch wenn sie manchmal dubiose Auslegungen Europäische Parlament künftig ein dem Ministerrat erfährt. Man wagt nicht leicht den Sprung ins Unbe- gleichberechtigtes Mitentscheidungsrecht bei der kannte, gerade in Fragen der Währung. Bei uns europäischen Gesetzgebung erhält. Wir wollen, daß in kommt nicht nur die Erfahrung mit zwei verheerenden diesen Fragen das Europäische Parlament in der Tat Inflationen in diesem Jahrhundert hinzu, sondern auch die Entscheidungen über die europäische auch folgender Aspekt: Zu lange hat die Bundesregie Gesetzgebung treffen kann. 9330 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Heidemarie Wieczorek-Zeul Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin Gestern war in der „Neuen Zürcher" für die Schwei- gesagt: Es gibt alte Politikansätze. Zu den alten zer zu lesen: - Politikansätzen rechne ich auch Gedankenspielereien Was wir brauchen, ist emotionale Europafähig- über eine militärische Rolle für Europa. Für den keit, Entscheidung zum Risiko und nicht Warten, Vertrag von Maastricht ist dies glücklicherweise bis dieses Europa fertig ist. abgewehrt worden. Wir sollten uns ihnen auch in Zukunft nicht zuwenden. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Für die SPD-Bundestagsfraktion stelle ich zur Ver- Frau Wieczoroek-Zeul, ich glaube, daß die Gemein- teidigungspolitik fest, daß der Vertrag von Maastricht samkeiten viel größer sind, als Sie sie eben im die Zusammenarbeit auf rein zwischenstaatlicher Parlament vorgetragen haben. Denn ich muß Ihnen Zusammenarbeit belassen hat. Für diesen Bereich sagen: Wer ist denn wohl in diesem Parlament für gelten daher wie bisher uneingeschränkt die Bestim- Gewalt? Ich halte es für ganz wichtig — auch im mungen des Grundgesetzes und die demokratische europäischen Kontext —, daß wir endlich begreifen: Kontrolle und Entscheidung durch den Deutschen Dies ist ein Bollwerk der europäischen Demokratien Bundestag. Niemand kann sich also auf Maastricht gegen Gewalt. Das ist unsere gemeinsame Auf- berufen, wenn er die Bundeswehr weltweit einsetzen gabe. will. Wer dies dennoch tut, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wer tut denn das?)

- Sie gestat- versteckt seine eigenen innenpolitischen Ziele hinter Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: ten eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Wie- der EG und schadet damit der Europäischen Gemein- zorek-Zeul? — Bitte sehr. schaft. Jenseits von Maastricht gilt: Wenn wir auf Dauer die - (SPD): Frau Kollegin europäische Zusammenarbeit sichern wollen, brau- Heidemarie Wieczorek Zeul Süssmuth, ich habe am Freitag letzter Woche mit chen wir einen neuen Anfang unter Beteiligung von Herrn Lummer, Mitglied der CDU/CSU-Fraktion, Bürgern und Bürgerinnen in einer offenen Diskussion eine Diskussion im NDR geführt. darüber, welche politische Gestalt unser Kontinent annehmen soll. Wir brauchen eine Verfassung für (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Frage!) Europa, die die Prinzipien garantiert, auf denen unser — Ich will das vorweg sagen. — Ich frage Sie, Gesellschaftssystem gründet, d. h. eine Verfassung, betrachten Sie es als Unterstützung von Gewalt, wenn die ein bürgernahes, ein soziales, ein ökologisch Herr Lummer — bezogen auf die Bomben- und gestaltetes Europa schafft, in dem die Mitwirkung der Molotowcocktailwürfe — da gesagt hat: Wissen Sie, in Regionen und Länder sichergestellt ist. der Geschichte hat sich Gewalt immer durchgesetzt, Hierzu brauchen wir endlich auch eine europäische sei es von Palästinensern, sei es an anderer Stelle. Verfassung gebende Versammlung, in der nationale Betrachten Sie das als Sympathisieren mit Gewalt, und europäische Parlamentarier und Pa rlamentarie oder wie würden Sie das bezeichnen? rinnen und Menschen der unterschiedlichsten Le- (Zurufe von der CDU/CSU) benserfahrung einen Entwurf für dieses Europa aus- arbeiten, einen Entwurf, der sich breiter öffentlicher Dr. Rita Süssmuth (CDU/CSU): Ich kenne die Aus- Diskussion der europäischen Bürger und Bürgerinnen sage von Herrn Lummer nicht, aber dort, wo sich stellt und letztlich von den europäischen Völkern als Gewalt durchgesetzt hat, hat sie immer zu Unrecht, ihre eigene Verfassung angenommen werden kann. Leid und Verzweiflung geführt. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Monnet hat uns vorausgesagt: Je näher dieses dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Europa kommt, desto größer werden die Widerstände, je mehr der Traum in Erfüllung geht, desto mehr besteht die Gefahr, daß er an Energie und Kraft - Das Wort Vizepräsident Dieter Julius Cronenberg: verliert. Aber unsere Aufgabe ist es, diesen Traum hat nunmehr die Abgeordnete Dr. Rita Süssmuth. nicht erschlaffen zu lassen, sondern zu sehen, daß Europa wichtiger ist denn je. Dr. Rita Süssmuth: (CDU/CSU): Herr Präsident! (Beifall bei der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in Wenn wir zurückblicken, aber auch wenn wir in die erster Lesung über das Vertragswerk von Maastricht. Zukunft blicken, müssen wir uns fragen: Wo stünden Unsere Debatte findet in einer europapolitisch wir denn heute als Deutschland ohne den Zusammen- schwierigen, aber ganz wichtigen Zeit statt. Da gibt es schluß freier Völker in Europa? Wetterleuchten über Europa, da gibt es Ängste und (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!) Widerstände. Aber ich stehe hier und sage für dieses Parlament und für unsere Fraktion: Was wir brauchen, Wer hat uns denn Vertrauen gegeben? Was wären wir ist Europabegeisterung, begleitet von nüchterner ohne die deutsch -französische Aussöhnung, Analyse, sonst kann sie sich auch auf die Menschen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht übertragen. ohne ein geeintes Deutschland mit der Verpflichtung (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der für ein geeintes Europa? Wollen wir denn jenen die SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hoffnung nehmen, die sie in uns gesetzt haben, für die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9331

Dr. Rita Süssmuth sie jahrelang in den sozialistischen Ländern im Wider- Wir haben längst unseren Einfluß in die anderen stand gelebt haben, um ein freies Europa zu schaffen? Nationen mit eingebracht, bestimmen dort mit, als daß Dies könnten wir überhaupt nicht verantworten. wir sagen könnten: Wir geben etwas ab. Im Gegenteil: Ich glaube, daß uns gerade das, was jetzt in den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kritischen Auseinandersetzungen mit dem sehr In der Zeit des Kalten Krieges, in der Zeit der schwierigen Vertragswerk von Maastricht deutlich Teilung Europas war es uns selbstverständlich, für geworden ist, in Europa voranbringt, und zwar demo- Europa einzutreten. Ich verschweige nicht, daß es kratisch, im föderativen Verständnis von Europa, in auch in den 60er und 80er Jahren Rückschläge in der Durchsetzung von Subsidiarität. Europa, daß es Eurosklerose gegeben hat. Haben wir denn vergessen, wie es noch vor zwei oder drei Jahren war, als alle meinten, das sei eine Wer hat den europäischen Prozeß denn immer deutsche Idee? Nur weil ihr den Föderalismus habt, wieder vorangetrieben, z. B. mit der Einheitlichen wollte ihr ihn für uns auch als allein selig machende Europäischen Akte? Das war eine Zeit der Euroskle- Methode. Heute verlangen ihn alle mehr denn je. rose. Ich denke, hier kann ich den Bundeskanzler nennen, der auch immer wieder dieses festgefahrene Subsidiarität ist etwas, was nicht nur in Aussicht Schiff flottgemacht hat. gestellt worden ist. Delors, der immer häufiger von der Vision Europa spricht, von der „aventure", sagt sehr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) klar: Wir brauchen die Klarstellung in bezug auf das, was Europa, was Brüssel wieder an die Einheiten Angesichts der epochalen Wende, die das Jahr 1989 abzugeben hat, die dafür zuständig sind. darstellt, brauchen wir Europa nicht nur dringlicher, sondern wir brauchen es auch schneller. Ich denke, daß auch zu dem, was eben angespro- chen worden ist — Klarstellung des Maast richter (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr Vertrags , bereits außerhalb und innerhalb des gut!) Parlaments auch heute morgen — klärende Worte gesagt worden sind. Minister Kinkel hat zu Recht gesagt, ohne Europa sähe es wahrscheinlich in der Jugoslawien-Frage (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das stimmt!) noch schlechter aus. Aber meine Antwort ist: Für die Sie haben vorhin die Frage der 18 Abgeordneten Frage der Kriegsbeendigung und der Verhinderung angesprochen. Nach meinem Wissensstand sieht es weiterer Kriege — glauben wir nicht, daß wir in ein anders aus, es sei denn, der Bundeskanzler würde das allgemeines Friedensstadium übergangen sind — ist hier widerrufen. der Zusammenschluß Europas eine ganz harte, unab- wendbare und unverzichtbare Notwendigkeit. Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Frau Ab- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der geordnete Dr. Süssmuth, der Abgeordnete Helmut SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kohl möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind. Der Frieden, den wir für uns wollen, den wir über 40 Jahre gehabt haben, ist doch eine Verpflichtung für andere. Spüren wir denn nicht, wie dringlich mehr Dr. Rita Süssmuth (CDU/CSU): Bitte schön. europäische Handlungsvollmachten sind? Wir sollten daher weniger denken: Was nützt und schadet es mir Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- im nationalen Eigenverständnis? Dies ist nicht der geordneter Kohl. Zeitpunkt für ein Verharren in Nationalitäten und Nationalismus, sondern für ein starkes, jeweils Dr. Helmut Kohl (CDU/CSU): Frau Abgeordnete, bestimmtes patriotisches, aber europäisches Hand- würden Sie mir darin zustimmen, daß es eine gute lungsverständnis, das es uns möglich macht, Probleme Sache ist, daß sich die Bundesregierung in voller zu lösen. Übereinstimmung mit den Fraktionen des Deutschen Wir sind nicht in der Lage, die Umweltprobleme, die Bundestages auf Vorschlag des Europäischen Parla- Sozialprobleme, die Wirtschafts- und Arbeitsmarkt- ments dafür einsetzen wird, daß die Kollegen aus den probleme allein zu lösen, und schon gar nicht den neuen Bundesländern nach der Neuwahl im nächsten Nord-Süd-Konflikt. Deswegen sage ich, auch mit Europäischen Parlament volles Stimmrecht haben Blick auf die Stabilisierung der Demokratie: Mehr werden, und daß wir eine große Chance haben, dies Schutz der Minderheiten in Demokratien, Lösung des bei unseren europäischen Partnern auch durchzuset- Problems der Weltflüchtlingsströme, — wenigstens zen? schrittweise —, dies alles können wir nicht alleine, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sondern nur gemeinsam bewältigen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Dr. Rita Süssmuth (CDU/CSU): Darin kann ich SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihnen nur zustimmen. Bei der Frage, was wir verlieren, möchte ich nicht (Abg. Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU] nimmt nur in Erinnerung rufen, was wir gewonnen haben, wieder Platz) sondern auch die Frage stellen: Wer, wenn nicht die freien Völker auf der Grundlage von Demokratien, Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Herr Ab- will sich zusammenschließen und gemeinsam ent- geordneter Kohl, auch Sie sind gezwungen, die For- scheiden, statt jeder für sich allein? men einzuhalten. 9332 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Helmut Kohl (CDU/CSU): Entschuldigung, Herr nen, in dem zwei Vokabeln wieder maßgeblich sind: Präsident. Die Formen waren mir nicht ganz klar. Kreativität und Verantwortung der Menschen. - (Heiterkeit im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wenn wir meinen, dieses Europa sei zu bauen, indem Dr. Rita Süssmuth (CDU/CSU): Sie alle wissen, daß ein allmächtiger Staat oder eine übermächtige Kom- es ein schwieriger Prozeß war, die Zulassung der mission und Bürokratie den Menschen die Verantwor- Beobachter durchzusetzen, daß gerade unmittelbar tung nimmt, erfahren wir, daß dies nicht Zustimmung, nach Maastricht unentwegt über diesen Punkt ver- sondern mehr Verdruß und Ablehnung schafft. Ich handelt worden ist. Ich füge hinzu: Ich gehe davon finde, wir sollten gerade in diesem Prozeß wissen: Wer aus, Herr Bundeskanzler, die Menschen falsch einschätzt, erleidet damit Schiff- bruch. Geben wir uns nicht damit zufrieden, zu sagen: (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Herr Abge Das war ein sozialistisches Menschenbild. Laufen wir ordneter!) auch im Westen nicht Gefahr, die Eigenverantwor- — entschuldigen Sie, Herr Abgeordneter —, tung und die Kreativität des Menschen nicht mit allen (Heiterkeit im ganzen Hause) Kräften zu stärken. Dies brauchen wir im eigenen Land und in Europa. daß diese Frage für die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern ganz wichtig ist: denn sie wollen (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie Europa im Europäischen Parlament vertreten. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall im ganzen Hause) GRÜNEN) Was uns überzeugt, sind die Ergebnisse; denn 1994 Ich möchte im Rahmen meiner Rede noch einmal ist nicht mehr weit und die Mandatsaufstellung eben- etwas sagen, was seit Jahren selbstverständlich sein falls nicht. müßte. Wir mögen uns seit 1957 und im Rahmen langwieriger Vertragsverhandlungen an das Europa Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal der Regierungen gewöhnt haben. Aber diese Zeit ist auf das verweisen, was ich zu dem Umgang mit den vorüber. Es ist ganz deutlich, daß wir uns unverdros- Ängsten der Menschen und über die emotionale sen und unbeirrt auf allen Ebenen für das demokrati- Europafähigkeit der Menschen gesagt habe. Von sche Europa einsetzen. Brüssel und Straßburg gehen Entscheidungsakte aus, die die Menschen bis in die kleinste Gemeinde (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr bewegen. Ob es die Kriminalitätsbekämpfung, die gut!) Drogenbekämpfung als ein Teil der Kriminalitätsbe- Dies bedeutet auch, daß wir die nationalen Parla- kämpfung ist, ob es gemeinsame Beschlüsse in bezug mente und das Europäische Parlament nicht gegen- auf Hilfen für die Fliehenden und den Erhalt der einander ausspielen. Rechte der politisch, rassisch, religiös Verfolgten sind, all dies sind wichtige Akte ebenso wie der gemein- Falsch wäre es, nun zu antworten: Das Europäische same Beschluß, daß wir Regelungszuständigkeiten, Parlament stärken wir in 40 Jahren, und bis dahin die wir auf Europa übertragen hatten, zurückgeben. haben wir nur die nationalen Parlamente. Die natio- Dies wird das Europa der Bürger aufbauen. nalen Parlamente brauchen eine enge Zusammenar- beit mit dem Europäischen Parlament. Sie haben ihren (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Einfluß auf die nationalen Regierungen auszuüben. Denn es ist zu Recht gefragt worden: Haben wir das Wir erwarten, wenn es um die Rechte und Zuständig- eigentlich schon, oder sind wir zwar fähig, die Pro- keiten der Länder geht, daß auch die Rechte des dukte als europäisch zu bezeichnen, aber nicht fähig, Deutschen Bundestages klar geregelt werden. Denn das Europa der Bürger wirklich voranzutreiben? Des- nur ein in Europafragen engagiertes Parlament kann wegen kann auch kein Zweifel daran bestehen, daß auch engagiert und aktiv mitwirken. wir das kommunale Wahlrecht im Rahmen einer (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Europäischen Union brauchen und jetzt verankern SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) müssen. Wenn wir in diesem Zusammenhang sehen, wie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wichtig es den Bürgern ist, nicht aus der Ferne regiert der SPD) zu werden, wie sie immer deutlicher machen, daß die Freizügigkeit in bezug auf den Arbeitsplatz muß überschaubaren Einheiten erhalten bleiben müssen, eine Selbstverständlichkeit sein. Aber wir haben all da sie sonst die großen nicht verkraften, dann ist es bei diese Freiheiten längst konsumiert und bewerten sie den Dingen, die nur im Großen geregelt werden als Nichts, während wir uns jetzt nur noch fragen: können, noch wichtiger zu sehen, daß Menschen aus Wovor muß ich mich schützen, nachdem ich alle Gegenden, aus Regionen kommen, und es in diesen Freiheiten habe? Gegenden einen bestimmten Menschenschlag, eine (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Landschaft, eigene Produkte und ein eigenes kultu- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) relles Brauchtum gibt, die erhalten bleiben müssen. In diesem Europa müssen zugleich das Gemeinsame Im übrigen gilt für das Europa der Bürger, der und, wenn wir von sprechen, das Unver- Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie der Identität wechselbare unterstützt, erhalten und bekräftigt wer- Arbeitgeber, daß wir eines, was für Bonn gilt, auch auf den. Nur so wird Europa ein reiches Europa sein. Straßburg und Brüssel übertragen müssen: Den gro- ßen Herausforderungen unserer Zeit werden wir nur (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie mit einem Menschenverständnis gerecht werden kön- bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9333

Dr. Rita Süssmuth Ich möchte auch noch einmal deutlich machen, daß einzulösen haben. Ich möchte, daß wir daran begei- wir aufhören sollten, mit dieser Wehleidigkeit und stert und mit dem Herzen mitarbeiten. - Verzagtheit an Europa heranzugehen und ständig Ich danke Ihnen. unter den Menschen zu verbreiten — was sachlich nicht haltbar ist —, daß wir der Zahlmeister Europas (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und sind, der F.D.P. — Beifall bei der SPD, beim (Beifall bei der CDU/CSU) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge ordneten der PDS/Linke Liste) daß wir die Milchkuh sind. Ich muß Ihnen sagen, es gilt an diesem Tag, auch bei allen harten Verhandlungen in Verbindung mit dem Maastrichter Vertrag, nicht zu Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr vergessen: Bevor wir die staatliche Einheit vollzogen erteile ich dem Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambs- hatten, hat die Europäische Gemeinschaft — voran dorff das Wort. Delors — Vereinbarungen für die damalige DDR mit Übergangsregelungen getroffen, mit denen sie voll einbezogen wurde in die Gemeinschaft. Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Frak- Wir reden überhaupt nicht davon, welche Finanz- tionsvorsitzende sind manchmal hilfreich, manchmal mittel von der Europäischen Gemeinschaft in die weniger hilfreich. neuen Länder fließen. Wir reden nicht davon, wieviel Geld wir allein über den Export zurückbekommen. Ich (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das gilt finde es wichtig, daß wir unter die Bevölkerung auch für Parteivorsitzende!) tragen, daß wir nicht der Zahlmeister sind, — Das gilt auch für Parteivorsitzende; da haben Sie (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Gewinner!) völlig recht. — Mein Fraktionsvorsitzender hat mir auf den Weg gegeben: Sie werden gegenüber den Reden sondern durchaus Partner und Gewinner, damit end- Ihrer beiden Vorrednerinnen abfallen; er kannte mei- lich dieses Bild aus der Welt kommt. nen Text. Der Finanzminister hat mir dasselbe gesagt, (Beifall im ganzen Hause) obwohl er meinen Text nicht kennt. (Heiterkeit im ganzen Hause — Bundesmini Ich möchte Ihnen abschließend sagen: Wir werden ster Dr. Theodor Waigel: Aber ich kenne in anderen Zeiten leben. Wir brauchen ein Europa, Sie!) das schneller Perspektiven entwickelt für diejenigen, die jetzt nicht dazugehören: nicht nur diejenigen, die Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Aber kurz vor Aufnahmeverhandlungen stehen, sondern es hat damit schon etwas auf sich. gerade auch die EFTA-Staaten und die Staaten Mit- Deswegen lassen Sie mich, weil Sie einige skepti- tel-, Südost- und Osteuropas, die Hoffnungen auf uns sche Töne hören werden — wie im Dezember vorigen setzen. Jahres auch —, eins sagen: Die F.D.P., die F.D.P. Bundestagsfraktion stimmen dem Vertrag von Maas- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., beim tricht zu; ich selber stimme ihm aus voller Überzeu- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge gung zu. Mit ihm wird die europäische Integration ordneten der SPD) wirtschaftlich und politisch weiter vorangebracht. Wir Wenn wir sagen, die Einbindung Deutschlands ist gut alle wissen, daß der Vertrag nicht vollkommen ist. für Deutschland, sie ist gut für unsere Nachbarn, sie ist Aber wir wissen auch, daß er insgesamt ein Fortschritt gut für Europa, dann möchte ich diesen Satz erwei- ist. tern: Sie ist gut nicht nur für Westeuropa, sondern Wissen das allerdings auch die Bürger in Europa gerade auch für Osteuropa. und die Bürger in unserem Lande? (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Dann SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ muß man es halt erklären!) NEN) — Herr Schäuble, es mangelt eben an Information Kritiker haben recht, die uns mahnen: Das, was an und Aufklärung. Darf ich daran erinnern, daß ich Instrumentarium bis 1989 taugte, taugt vielleicht nur genau das am 13. Dezember 1991 von dieser Stelle noch bedingt für die Jahre 1990, 1992 oder 1995. Wir gefordert habe und daß nichts geschehen ist? müssen uns mehr einfallen lassen. Da bin ich wieder (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ich bin beim Wort Kreativität. ja nicht Außenminister!) Es stecken Risiken im Ja zu Europa. Politik hat den Ich habe überhaupt keine Schwierigkeiten, dem Auftrag, die Risiken, soweit sie überschaubar sind, zuzustimmen, was Frau Süssmuth gesagt hat. abzusichern. Heute morgen ist genügend zur Wäh- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Gut rungsunion, zu Art. 109 gesagt worden. war es!) Ich denke, es ist unsere Aufgabe, das Wagnis auf Ich habe kaum Schwierigkeiten, dem zuzustimmen, uns zu nehmen und mit dem Ja zu Europa voranzu- was Frau Wieczorek-Zeul gesagt hat. gehen, nicht nur aus dem Kopf, sondern aus der tiefsten Überzeugung heraus, daß das der Demokra- (Zuruf von der CDU/CSU: Ehrlich? Bei tie, dem Frieden, dem freiheitlichen und mit mehr allem?) Wohlstand versehenen Zusammenleben der Völker — „Kaum" habe ich gesagt; Sie sollten die leichte dient. Dies ist ein Wechsel auf die Zukunft, den wir Abstufung hören. — Nur, solche Bekenntnisse äußern 9334 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Otto Graf Lambsdorff wir schnell. Beantwortet das die Sorgen und die die Regeln zu akzeptieren und anzuwenden, geman- Fragen der Bürger draußen? gelt hat. -

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!) des Abg. Peter Conradi [SPD]) Ist das eine Antwort auf das Umfrageergebnis, das Die Folgen sind bekannt. Sie zeigen, wie desintegrie- heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" rend eine Entwicklung ist, die nicht auf soliden genannt wird? ökonomischen Fundamenten steht, sondern die politi- schem Wunschdenken entspricht. Der Maastrichter Vertrag hat doch erhebliche Akzeptanzprobleme, die sich, wie ich meine, die Lira und Pfund haben den Wechselkursmechanis- Regierungen selber zuzuschreiben haben; nicht etwa mus verlassen. Irland, Portugal und Spanien sahen nur die unsrige. sich gezwungen, Kapitalverkehrskontrollen einzu- (Peter Conradi [SPD]: Auch der Herr Wirt führen. Meine Damen und Herren, wir sind hinter die schaftsminister!) erste Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, die wir 1990 schon erreicht hatten, zurückgefallen und Es wurde über die Köpfe der Bürger hinweg reden heute über die zweite und dritte. Eine ermuti- gehandelt, gende Entwicklung ist das nicht. Nach meiner persön- — ich zitiere jetzt den „Kronenberger Kreis" — lichen Meinung ist der Zeitplan der Währungsunion heute sichtbar nicht mehr einzuhalten. als hätte der Abschluß eines Regierungsabkom- mens über den Luftverkehr angestanden und Dennoch muß es uns klar sein, um was es in dieser nicht die kaum reversible Festlegung von Grund- Stunde geht. Europa steht vor einer historischen regeln für das wirtschaftliche Zusammenleben Wegscheide. Es gibt keine andere Möglichkeit als den der Völker Europas. Kurs der europäischen Integration. Gerade die Deut- Das ist der Punkt: Der Vertrag löst eben bei den schen — darauf lege ich besonderen Wert, weil es um Bürgern nicht nur Freude und Zustimmung aus — das unsere, oder, ich sage genauer, um meine Zustim- ist im Zusammenhang mit dem europäischen Gedan- mung geht; das ist der Hauptpunkt , die im Zuge der ken völlig richtig formuliert worden; ich unterschreibe deutschen Einheit versprochen haben, das erweiterte das alles —, sondern er löst Angst aus vor einer und auf Sicht gesehen größere und stärkere Deutsch- übermächtigen Brüsseler Bürokratie, land nach Europa einzubringen, müssen jetzt zu dieser Zusage stehen. Wir haben überhaupt keine (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Weil sie ihn Option, etwas anderes zu sagen. nicht kennen!) vor Zentralismus, vor Regelungswut, Angst vor dem (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Verlust der eigenen Währung und Stabilität. ten der CDU/CSU und der SPD) (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Klären Sie Nur ein noch engerer Zusammenschluß der euro- doch auf!) päischen Völker vermag den Nationalismus, der sich — Haben Sie gerufen, „weil sie ihn kennen" oder in der Vergangenheit so verhängnisvoll ausgewirkt „weil sie ihn nicht kennen"? hat — so hatte ich es mir in meinem Text aufgeschrie- ben; aber er tut es in der Gegenwart, wenn man nach (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Weil sie ihn Jugoslawien sieht, genauso —, überwinden. Nur nicht kennen!) gemeinsam kann Europa die großen ökonomischen — Wenn wir es dabei belassen, den Vertrag nur durch und politischen Herausforderungen der Zukunft den „Spiegel" verbreiten zu lassen, anstatt das selber bestehen. Deshalb ist im übrigen der Weg eines zu tun, ist das ein bißchen wenig. Dann kann man den isolierten Vorgehens einiger mit Sicherheit ein Irr- Vertrag auch nicht kennen. weg. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Der Maastrichter Vertrag ist ein Versprechen ; Wirk- ten der SPD — Peter Kittelmann [CDU/CSU]: lichkeit ist er noch nicht. Mit Recht hat der Bundes- Sehr richtig, die Regierung wird dauernd von finanzminister gesagt, es wurde eine Währungs- und uns aufgefordert!) Finanzverfassung niedergeschrieben, die auch aus Diese Besorgnisse sind ja auch der wesentliche deutscher Sicht Anerkennung finden muß: die Unab- Hintergrund für die Ablehnung durch die Dänen und hängigkeit der zu schaffenden Europäischen Zentral- für den knappen Ausgang des Referendums in Frank- bank, die Verpflichtung zur strikten Haushaltsdiszi- reich, auch für die größer werdende Zurückhaltung in plin, die relativ strikten Kriterien — absolute wären Großbritannien oder die Vorbehalte, die bei uns mir lieber gewesen — für Zinsen, Preise und Wechsel- deutlich werden. kurse, der Einstieg in die Politische Union und einiges andere mehr. Aber dieser Stabilitätspakt von Maas- Diese Sorgen wurden durch die jüngsten Turbulen- tricht muß ja erst noch ausgefüllt werden, und es gibt zen im Europäischen Währungssystem noch ver- einige kritische Punkte, über die man nicht zur Tages- stärkt. Es wurde allen irgendwie deutlich, daß der ordnung hinweggehen kann. Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion ein Risiko ist und daß mit Währungsfragen nicht zu spaßen ist. Es Die F.D.P. weiß — das haben wir hier schon im hilft nicht die Erkenntnis, daß nicht das EWS und seine Dezember 1991 gesagt—, ein Nachverhandeln dieses Mechanismen versagt haben — das haben sie nämlich Vertrages kann es nicht geben; der Außenminister hat nicht getan —, sondern daß es am politischen Willen, recht. Aber es werden weitere Regierungskonferen- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9335

Dr. Otto Graf Lambsdorff zen mit weiteren Beitrittsrunden folgen. Diese geben wissen wir. Ihre Entscheidungen werden mit davon Gelegenheit für Nachbesserungen. geprägt, inwieweit sie die Unterstützung der Gesell- - schaft und der Bevölkerung hat. Auf europäischer (Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker) Ebene gibt es ohne Zweifel Fortschritte im Stabilitäts- Unabhängigkeit ist eine entscheidende Vorausset- bewußtsein. Werden sie aber zum Zeitpunkt X, vor zung dafür, daß eine Notenbank wirksame Stabilitäts- allem auch in der dritten Stufe, ausreichen? Noch politik betreiben kann. Das haben wir gelernt, das jedenfalls ist das Stabilitätsbewußtsein unterschied- haben wir begriffen, das ist in Deutschland weitge- lich ausgeprägt, wie die Entwicklungen zeigen, die zu hend akzeptiert. Andernorts fehlt es dafür manchmal den EWS-Turbulenzen geführt haben. an Verständnis. Hat sich die Bundesregierung eigent- Zur Unabhängigkeit der Notenbanken gehört auch, lich darum bemüht, die Soll-Vorschrift von Maastricht daß sie sich von außen vor wirtschaftlichen Störungen in die Tat umzusetzen, daß andere ihre Notenbanken schützen können. Die Kompetenz über das Wechsel- schon jetzt unabhängig machen? Könnten wir einmal kursregime der Europäischen Währungsunion liegt darüber nachdenken, ob es nach den Erfahrungen der aber nicht in den Händen der Europäischen Zentral- letzten Woche nicht zweckmäßig wäre, die Wechsel- bank, sondern in den Händen des Europäischen Rates. kurspolitik den Notenbanken zu übergeben, um sie Es ist zwar richtig, daß im Vertrag vorgesehen ist, daß aus dem politischen Gezerre der Regierungen heraus- Wechselkursentscheidungen mit dem Ziel der Preis- zuholen? Für das unterschiedliche Verständnis sind stabilität vereinbar sein müssen. Was aber geschieht, die Äußerungen des französischen Staatspräsidenten wenn der Rat und die Zentralbank unterschiedlicher vom 3. September 1992 bezeichnend. Er hat gesagt, Meinung sind? Wird dann die Unabhängigkeit durch daß die Geldpolitik lediglich ausführendes Mittel der den Wechselkurs ausgehebelt? Am Beispiel der jüng- Wirtschaftspolitik sei, über die der Europäische Rat, sten Währungsturbulenzen haben wir einen guten nicht die Europäische Zentralbank zu entscheiden Anschauungsunterricht nehmen können, was eine habe. Notenbank erleidet, wenn sie sich in der Wechsel- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben im kursfalle befindet. Genau das war hier bei uns der Wahlkampf auch schon manches gesagt! — Fall. Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ist (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Der Zusam wahr!) menhang war genau umgekehrt!) — Das ist richtig, aber ich bin auch schon gelegentlich — Nein, verehrte Frau Hellwig, das ist die große darauf angesprochen worden, und ich erlaube mir, Frage: Was ist nun wichtiger, die Verteidigung des dies auch hier zu tun. Im übrigen geht es gar nicht um Wechselkurses nach außen oder die Verteidigung der meine Meinung zu diesem Thema; die ist bekannt. Ich inneren Stabilität? Nach unserem Bundesbankgesetz hatte die Bundesregierung um eine Beurteilung dieser und nach unserem Stabilitätsverständnis muß die Äußerung gebeten und habe vom Bundesminister der innere Stabilität Vorrang auch vor der Wechselkurs- Finanzen eine höchst lapidare Antwort bekommen. stabilität haben. Unter Hinweis auf den einschlägigen Artikel im (Zustimmung bei der F.D.P.) Vertrag heißt es schlicht — ich zitiere —: Das ist die Frage, um die es in den letzten Wochen Der Bundesminister der Finanzen hat sich darum gegangen ist. bemüht, Klarheit über mögliche Auffassungsun- terschiede in dieser Frage zu gewinnen. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Graf (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Ja, das Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage der muß doch ausreichen!) Frau Kollegin Hellwig? Bitte! Herr Waigel, auf dem EG-Forum der Verbände der Deutschen Wirtschaft vor wenigen Tagen auf dem Dr. Renate Hellwig (CDU/CSU): Graf Lambsdorff, Petersberg — das ist ohnehin ein Ort der Erleuchtung, können Sie mit mir darin übereinstimmen, daß insbe- wie man immer wieder feststellt — sondere das britische Pfund und die Lira deswegen in (Zuruf von der SPD: Aber nur einmal!) die Wechselkursfalle geraten sind, weil England und Italien im Verhältnis zum künstlich festgehaltenen waren Sie viel klarer und gaben eine durchaus befrie- Wechselkurs im Währungssystem nicht die ausrei- digende Antwort. Es gelte der Vertrag, haben Sie chende Stabilitätspolitik durchgeführt hatten und weil gesagt, und daran ändere auch die Äußerung eines die Währungen schwächer waren, als es sich durch Staatspräsidenten nichts. den Schein des Festhaltens am Wechselkurs darge- (Dr. Renate hellwig (CDU/CSU]: Na bitte!) stellt hat? Meinen Sie also nicht auch, daß diese Länder selber schuld sind? Die unterschiedliche Behandlung von Wirtschaftsver- bänden und Parlament, verehrter Herr Bundesfinanz- minister, finde ich allerdings erstaunlich. Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Frau Kollegin, offen gestanden, kann ich gar nicht sehen, warum (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Sie meine Ausführungen Ihnen Anlaß zu dieser Frage waren doch auch dort!) gegeben haben. Ich bin natürlich dieser Meinung. Sie Ob das Parlament das so hinnehmen will, ist seine ist vollständig richtig. Das ist absolut klar! Sache. Meine Damen und Herren, auch eine unabhängige Dr. Renate Hellwig (CDU/CSU): Können Sie dann Notenbank handelt nicht im politikfreien Raum. Das mit mir auch darin übereinstimmen, daß der Europäi- 9336 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Renate Hellwig schen Zentralbank, wenn sie eine solide Stabilitätspo- — Frau Wieczorek, ich habe eingangs gesagt, ich litik betreibt, gar nicht viel passieren kann? erlaube mir, hier einige Fragen zu stellen. Dieselbe- Diskussion lief nämlich schon im Dezember, und am nächsten Tag schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", ich hätte geredet wie der Vorsitzende einer Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Nein, das stimmt Oppositionspartei, nicht, denn die Europäische Zentralbank hat über- haupt keine Wechselkursprobleme mehr nach innen. (Peter Conradi [SPD]: Ja, das trainieren Sie Dann haben wir ja eine einheitliche Währung. Dann offensichtlich!) haben wir ganz andere Probleme, aber keine Wech- weil Sie alle, meine Damen und Herren, so vorbehalt- selkursprobleme. Die Wechselkursproblematik, die los und freudig zugestimmt haben. wir in der letzten Woche erlebt haben und die sich im (Lachen bei der SPD — Zuruf von der CDU/ EWS stellt, die sich bei der einheitlichen europäischen CSU: Das müssen sie gleich nachweisen!) Währung am Ende nicht mehr stellt — ich komme auf — Liebe Frau Matthäus-Maier, Ihre Kollegen sind das Thema noch zu sprechen —, bereitet jeder Noten- hinterher zu mir gekommen und haben mir gesagt, wir bank erhebliche Schwierigkeiten bei der Bekämp- hätten wohl kritischer fragen sollen. Dabei spreche ich fung der inneren Instabilität. gar nicht von Ablehnung. Ich sage noch einmal: Die einzige Kritik, die ich an der Bundesbank zu Zustimmung! Aber ich darf doch ein paar Fragen üben habe, betrifft ihre Argumentation. Die Hochzins stellen. politik ist von der Bundesbank damit begründet (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist hoch- worden, daß man die Geldmenge unter Kontrolle interessant! — Peter Kittelmann [CDU/CSU]: bringen will. Die hohen Zinsen förderten aber die Jetzt haben Sie einen Fehler gemacht! Jetzt Interventionen im EWS und dabei die Schaffung von wacht sie auf; sie hat so schön geschlafen!) mehr Geld. Damit widersprach sich dies,

(Hans-Ulrich Klose [SPD]: Völlig richtig!) Vizepräsident Helmuth Becker: Kollege Graf und damit war das Argument, hohe Zinsen dienten der Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Kontrolle der Geldmenge, verbraucht und nicht zutreffend. Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Ja, bitte. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Katze beißt sich in den eigenen Schwanz!) Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Graf Lambsdorff, darf Das ist eben die Wechselkursfalle, in der man in einem ich Sie fragen, welche Partei im Deutschen Bundestag System fester Wechselkurse hängt. seit den Maastricht-Beschlüssen z. B. den Automatis- mus, der dort niedergelegt ist, kritisiert und gefordert (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Ist das hat, daß es den nicht geben darf, und auch heute noch jetzt eine Regierung, oder sind es zwei?) fordert, daß vor dem Eintritt in die dritte Stufe Bun- Meine Damen und Herren, was machen wir eigent- destag und Bundesrat — so unser Antrag, der dazu lich, wenn die relativ strikten Kriterien des Vertrages vorliegt — entscheiden, ob die Konvergenzkritierien nur von wenigen erreicht werden? Ist eine Wirt- eingehalten worden sind? War das nicht die Opposi- schafts- und Währungsunion z. B. ohne Italien über- tion, und ist es nicht so, daß die Regierung heute Gott haupt denkbar? Italien war immer ein besonders sei Dank darauf einschwenkt? zuverlässiger Partner in der EG und in der NATO; (Beifall bei der SPD) denken Sie nur an den NATO-Doppelbeschluß. Dabei hat Italien immerhin die größte europäische kommu- Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Erstens: Wir nistische Partei im Parlament. Herr Glotz, ich weiß, brauchen uns um das Erstgeburtsrecht nicht zu strei- dieser Teil gefällt Ihnen nicht so gut, aber ich darf ihn ten. Das kann man alles im Protokoll nachlesen. trotzdem erwähnen. Zweitens halte ich es nicht für besonders weise, Entsteht hier nicht — ob Sie nun Italien oder ein bereits in der ersten Lesung Anträge vorzulegen. anderes Land nehmen — ein erheblicher politischer Druck, den Ermessensspielraum bei der Festlegung (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Sie ha der Kriterien, den der Vertrag ja auch zuläßt, zu ben noch nicht einmal einen Antrag vorge überziehen? Was tun wir eigentlich, Herr Bundesfi- legt, weil Sie sich nicht einigen konnten!) nanzminister, wenn ein der Wirtschafts- und Wäh- Das sollte man besser erst nach den Verhandlungen in rungsunionen angehörendes Land diese Kriterien den Ausschüssen in der zweiten und dritten Lesung wieder verläßt? Der Vertrag sieht für diesen Fall einen tun. völlig unzulänglichen und nicht durchsetzbaren Drittens werden Sie nachher hören, was ich zum Sanktionsmechanismus vor. Thema der „Befassung" durch den Bundestag zu (Peter Conradi [SPD]: Sie reden wie ein sagen habe. Ich komme darauf zurück. Oppositionsabgeordneter!) An der Urteilsfindung, meine Damen und Herren, ob sich ein Land für die Wirtschafts- und Währungs- Ein Urteil darüber, ob sich ein Land für die Wirt- union qualifiziert hat, sind mehrere Institutionen schaftsunion — — beteiligt, nicht zuletzt der Europäische Rat in der (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Sind Sie Zusammensetzung der Regierungschefs. Die meisten denn noch Mitglied einer Koalitionsfrak Instanzen sind mit Politikern besetzt. Es ist schwer tion?) vorstellbar, daß dabei ein Ermessensspielraum nicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9337

Dr. Otto Graf Lambsdorff ausgenutzt wird. Angesichts dieser Gefahr ist um so umfassendes finanz- und währungspolitisches Pro- mehr zu betonen, daß die Auswahl der Teilnehmer an gramm ist, das darauf zielt, in Europa einen großen - der Währungsunion nun wirklich allein nach ökono- einheitlichen Wirtschafts- und Währungsraum zu mischen Kriterien entschieden werden muß. Politi- schaffen, dessen Kennzeichen monetäre Stabilität und sche Kompromisse in dieser Frage sind ein Sprengsatz finanzpolitische Solidität sind. Wir müssen garantie- für den Integrationsprozeß insgesamt. Das kann nicht ren, daß die Kriterien nicht aufgeweicht oder manipu- gutgehen. liert werden. Diese Gefahren sind in der Währungsunion noch Angesichts der politischen Bedeutung, die dem größer als in einem Währungssystem mit anpassungs- Eintritt in die dritte Stufe der Währungsunion fähigen Wechselkursen. Denn in der Wirtschafts- und zukommt Frau Matthäus-Maier, jetzt trage ich die Währungsunion, Frau Kollegin Hellwig, wird es keine Position vor, nach der Sie mich gefragt haben —, Wechselkurskorrektur mehr geben. Dann werden sich fordert die F.D.P., daß die Bundesregierung vor ihrer die Anpassungen einen realwirtschaftlichen Weg Zustimmung im Europäischen Rat die Zustimmung suchen, dann werden sich volkswirtschaftliche Span- des Bundestages zum Vorliegen der Kriterien ein- nungen ausbreiten in Form von Verlust an Wettbe- holt. werbsfähigkeit, an Beschäftigung und Produktion, vor (Beifall bei der SPD — Heidemarie Wieczo allem bei den Schwächeren. Dann besteht kein Aus- rek-Zeul [SPD]: Da müssen Sie nur noch die weg darin, den Kohäsionsfonds zu aktivieren. Der CDU überzeugen!) Bundesfinanzminister hat mit Recht gesagt, daß der Transfer nicht dazu dienen darf, Instabilität und laxes Das Stichwort „Der Bundestag möge sich befassen" Verhalten anderer zu unterstützen. Nur, ich sage gehört genau in das Kapitel „mangelnde Klarheit", Ihnen — das wissen Sie auch sehr genau, und auch das die Leute draußen uns übelnehmen. einige Bekundungen aus südeuropäischen Ländern in (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei den letzten Wochen an meine Adresse haben mir das Abgeordneten der CDU/CSU) deutlich gemacht —: Das sehen viele unserer Partner Das Wort „befassen" sollte nun endlich gestrichen in Südeuropa gänzlich anders, als Sie es sehen, Herr Waigel. werden. Entweder haben wir etwas zu sagen, oder wir haben gar nichts zu sagen. Womit sollen wir uns Kompensation wirtschaftspolitischer Unsolidität „befassen"? Dann können wir auch Kaffeetrinken durch Transfers: Das kann nicht die Basis für eine gehen. künftige Währungsunion sein. Übrigens, wenn das so (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne laufen sollte, dann wird sich der deutsche Steuer- ten der CDU/CSU und der SPD — Ingrid zahler von seiner Begeisterung für Europa teilweise Matthäus-Maier [SPD]: Sagen Sie das Ihrer schnell verabschieden. Regierung!) (Peter Conradi [SPD]: Das tut er schon!) — Ich bin ja gerade dabei, wie Sie hören. Ich habe es Ökonomische Solidität ist deshalb unabdingbar für auch schon getan. ein Gelingen der Währungsunion. Im übrigen — das will ich nun auch sagen — hat der Meine Damen und Herren, im neuen Vertrag ist die Bundesaußenminister hier sehr klar gesagt, er könne marktwirtschaftliche Ordnung verankert. Aber sich überhaupt nicht vorstellen, daß eine Regierung gleichzeitig wurde in den Vertrag ein Abschnitt ein- der letzten Stufe zustimme, wenn sie im Parlament geführt, der der Gemeinschaft industriepolitische keine Mehrheit dafür habe. Kompetenzen überträgt. Jeder, der die europäische (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das Diskussion kennt, weiß, daß hier versucht wurde, ein wird ja auch nicht mehr seine Regierung Einfallstor für interventionistische Industriepolitik sein!) einzubauen. Deswegen fordere ich die Bundesregie- rung nachdrücklich auf, in Brüssel dafür Sorge zu Das ist völlig richtig. Aber es gibt natürlich einen tragen, daß dieses Tor nicht geöffnet wird. Punkt, den man in Sachen Zustimmungspflicht ohne Vertragsverletzung — wir wollen ja hier nicht von Der Weg nach Europa zur Wirtschafts- und Wäh- vornherein eine Vertragsverletzung fordern — noch rungsunion und zur Politischen Union darf nicht einmal betonen kann: Das ist die Frage, ob die gegen die Bürger, sondern muß mit ihnen gegangen Regierung im Europäischen Rat den dort gefundenen werden. Deswegen ist Behutsamkeit gefordert. Wenn Kriterien zustimmt oder nicht. Insofern haben wir eine sich zeigt, daß die Völker Europas überfordert wer- Möglichkeit, der Regierung, die dann im Amt ist, zu den, dann muß man darauf Rücksicht nehmen. Nicht sagen: Du darfst es oder du darfst es nicht. Hier, meine zeitlich eingebaute Automatismen dürfen den Fort- ich, bedarf es eines Beschlusses des Bundestages, schritt bestimmen, sondern die Erfüllung solider öko- nicht nur einer Befassung desselben. nomischer Kriterien und der Grad der erreichten Politischen Union müssen es tun. (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn wir die Zustimmung der Bürger in Europa für das Vertragswerk erlangen wollen, bedarf es — ich Im übrigen, ich finde das Wort „Befassung" weder in habe das schon gesagt — einer viel breiter angelegten der Verfassung noch in der Geschäftsordnung des Aufklärungskampagne. Es muß wesentlich mehr Bundestages. getan werden als bisher. Wir müssen die Menschen Wir müssen auch beweisen, daß Europa für eine durch Worte und Taten davon überzeugen, daß das offene marktwirtschaftliche Ordnung steht, nicht für Konzept der Wirtschafts- und Währungsunion ein Protektionismus oder dirigistische interventionisti- 9338 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Otto Graf Lambsdorff sche Industriepolitik. Wir müssen unter Beweis stel- Deshalb frage ich die Bundesregierung, ob diese len, daß das im Vertrag festgehaltene Subsidiaritäts- Überlegungen zutreffen. - prinzip nicht nur eine Worthülse ist, sondern tatsäch- (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Nein, es lich genutzt wird, um die Einheit in Vielfalt und stimmt nicht!) Individualität zu verwirklichen. Das würde bedeuten, daß alle beteiligten Parlamente Ich sage hier noch einmal — das weiß die Bundes- in ihren Mitwirkungsmöglichkeiten nicht gestärkt, regierung ja auch —: Das ist überhaupt kein Vorwurf sondern geschwächt würden. an die Adresse vieler unserer Partner. Sie wissen doch (Peter Conradi [SPD]: So ist es!) gar nicht, was Subsidiarität ist. Sie kennen es aus ihrem eigenen Denken nicht und wissen überhaupt Ich nehme mit Befriedigung den Zwischenruf des nicht, wie man mit einem solchen Instrument umgeht. Herrn Bundeskanzlers von der Regierungsbank zur Das ist ihnen völlig fremd. Ihnen das beizubringen Kenntnis: Das stimmt nicht. und ihnen Klarheit darüber zu verschaffen, ohne daß (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Nein!) der Eindruck entsteht, am deutschen Wesen solle die — Danke. Es ist gut, das zu hören. Welt genesen, ist noch eine mühevolle Aufgabe. (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das (Beifall des Abg. Wolfgang Roth [SPD]) werden wir sehen!) Denken Sie allein an die Bemühungen in England vor Es ist ja gut, wenn man Mißverständnisse, die auf zehn, zwanzig Jahren, ein Weniger an Zentralisierung Grund von Gerüchten entstanden sind, schnell aus- zu erreichen. Das alles ist schiefgegangen. In Frank- räumen kann. Wenn der Chef der deutschen Regie- reich ist deswegen Herr de Gaulle zurückgetreten. rung das bestätigt, dann finde ich das hervorra- „Subsidiarität" ist dort kein lebendiger Begriff! gend. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Genau Um die Einheit in Vielfalt und Individualität zu deswegen debattieren wir!) verwirklichen, werden wir dieses Prinzip auch in Art. 23 unserer Verfassung verankern. Wir müssen — Eben. Ich sage: Wir debattieren nun schon über die dafür Sorge tragen, daß die Entscheidungsprozesse kritischen Aspekte. Darum bemühe ich mich. aller Gemeinschaftsorgane transparenter werden und (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Völlig daß die Gemeinschaft ihr Demokratiedefizit abbaut. richtig!) Dafür muß zum einen das Europäische Parlament, Ich will hier am Ende ja nicht als Europamuffel dessen Rechte im Maastrichter Vertrag nur marginal dastehen, denn das bin ich nicht. Aber ich will ein ausgebaut wurden, gestärkt werden. Dafür müssen Europa, das auch funktionieren kann, und ein Europa, zum anderen auch die Rechte des Deutschen Bundes- über das die Bürger am Ende sagen: So kann es laufen; tages, an Entscheidungen in Europa mitzuwirken, wir haben Vertrauen; wir behalten vernünftiges Geld, gestärkt werden. und hier können wir vernünftig arbeiten. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr ten der SPD) gut!) Es nützt uns doch nichts, Europa mit Feiertagsreden zu Wir möchten, daß die Bundesregierung den Deut- gestalten. schen Bundestag früher und umfassender als bisher an Entscheidungen beteiligt. Mit allgemein gehaltenen Beruhigungsreden kann man das Mißtrauen in der europäischen Bevölkerung (Peter Conradi [SPD]: „Befassen"!) nicht überwinden. Wir möchten, daß die Bundesregierung die Auffas- (Peter Conradi [SPD]: Richtig!) sung des Bundestages ihren Verhandlungen zu- Hier bedarf es nicht nur der Worte, sondern auch der grunde legt. Die Mitwirkungsrechte des Bundestages Taten. Es bestehen unzweifelhaft Risiken. Diese Risi- in europäischen Angelegenheiten sollen, wie gleich- ken können und müssen durch europäisches politi- zeitig auch die Rechte des Bundesrates, im Grundge- sches Handeln überwunden werden. setz festgeschrieben und institutionell verankert wer- Ich sage noch einmal: Die europäische Integration den. bietet eine außerordentlich positive Perspektive. Wir (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne müssen diesen Weg weitergehen, und wir werden ten der CDU/CSU und der SPD) diesen Weg weitergehen. Aber wir haben für die Perspektive und für die Erreichung des Ziels noch eine In Birmingham, Herr Bundeskanzler, besteht die ganze Menge zu arbeiten und zu leisten. Chance, ein positives Signal für ein Europa der Bürger Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. zu setzen. Wir wissen, daß Sie sich darum bemühen werden, diese Chance zu nutzen. Sie muß ja auch (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der genutzt werden. Aus London und Brüssel höre ich, daß SPD) für Birmingham die Tendenz bestehen soll — ich sage es ganz vorsichtig —, die intergouvernementale Seite in der EG weiter zu stärken. Vizepräsident Helmuth Becker: Zwischenrufe von der Regierungsbank sind natürlich unzulässig, aber (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: So ist dieser war vielleicht wichtig und nützt dem Fortgang es!) der Debatte. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9339

Vizepräsident Helmuth Becker Jetzt hat unser Kollege Dr. Gregor Gysi das Wort. und daß sich die SPD-Führung auf CDU-Positionen hin entwickelt. Besonders empfindlich scheint die SPD in solchen Fragen zu sein, die einen nationalisti- Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! schen Aspekt haben. Offensichtlich aus der Furcht Meine Damen und Herren! Seit der Herstellung der heraus, erneut als vaterlandslose Gesellinnen und deutschen Einheit gibt es in der Bundesrepublik Gesellen gelten zu können, bemühen sich prominente Deutschland, gesamtgesellschaftlich gesehen, einen Mitglieder der SPD, in der Asylfrage, in der Frage des Rechtsruck. Dieser Rechtsruck zeigt sich auf verschie- Einsatzes der Bundeswehr und in anderen Fragen den denen Gebieten und wird durch die permanente Nachweis anzutreten, daß ihnen niemand mangeln- Annährung von Positionen in den großen Parteien des Nationalbewußtsein vorwerfen kann. Die Frage nach rechts hin nur besonders deutlich zum Ausdruck ist aber, was für diese Nation wirklich gut und was für gebracht. sie eher schlecht ist. Wenn ich von der gesamtgesellschaftlichen Ent- (Zuruf von der CDU/CSU: Die PDS ist eher wicklung spreche, dann meine ich damit nicht nur den schlecht!) immer schlimmer um sich greifenden Rassismus, den Worin besteht nun der Zusammenhang mit dem immer gefährlicher werdenden Fremdenhaß und den Vertrag von Maastricht? Die breite Übereinstimmung ernstzunehmenden Antisemitismus. Ich meine damit hinsichtlich dieses Vertrages in diesem Haus, also auch nicht nur, daß rechtsextremistische Parteien wiederum zwischen CSU, CDU, F.D.P. und SPD, immer stärker gewählt und schrittweise salonfähig hängt meines Erachtens damit zusammen, daß es gemacht werden. Es geht mir mehr darum, welche unter anderem auch um eine Frage des Nationalismus gesellschaftlichen Stimmungen existieren, die zu geht, denn der Maastrichter Vertrag ermöglicht eine wesentlichen politischen Veränderungen führen. Vorherrschaftsrolle Deutschlands in Europa. Da will Worüber wurde eigentlich in den letzten beiden eben keine dieser Parteien in der Befürwortung Jahren und in den letzten Monaten diskutiert und zurückstehen. Genau das macht mir und vielen ande- gestritten? Es geht zum einen um die Aufarbeitung der ren Sorge. Daß die Republikaner und andere über- Geschichte der DDR, die aber nicht differenziert und haupt gegen eine europäische Integration sind, weil in ihren historischen Zusammenhängen erfolgt, son- sie trotz einer Vorherrschaftsrolle immer noch Einbu- dern u. a. dem Zweck dient, die Geschichte zwischen ßen der Souveränität Deutschlands befürchten, macht 1933 und 1945 vergessen zu machen; zumindest durch den Vertrag für mich nicht zustimmungsfähiger. einige, nicht durch alle. Zum anderen geht es darum, Unsere Kritik am Vertrag von Maastricht besteht daß die Situation im Osten Deutschlands dazu miß- u. a. genau darin, daß eine Vorherrschaftsrolle damit braucht wird, die Bereitschaft der Menschen zu ermöglicht wird. Wie Deutschland inzwischen bereit Sozial-, Rechts- und Demokratieabbau zu entwik- ist, diese Rolle zu spielen, zeigt der Umgang mit keln. Hier sei nur an die Kürzung von Mitteln im Großbritannien in den letzten Wochen, ein Umgang, Sozialbereich, die Deregulierung zur Einschränkung der noch vor drei Jahren undenkbar gewesen wäre. von Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechten, das Nur aus dieser Tatsache heraus, nämlich der geplan- Verkehrswegebeschleunigungsgesetz und die ge- ten Herrschaft Deutschlands in Europa, läßt sich die plante Justizreform erinnert. breite Übereinstimmung in diesem Bundestag erklä- Gegenwärtig gibt es eine lebendige Diskussion, wie ren. man polizeistaatliche Methoden erweitern kann, und Aus der gleichen Tatsache heraus läßt sich erklären, zwar unter dem Vorwand der Bekämpfung organisier- weshalb die Meinung bei Politikerinnen und Politi- ter Kriminalität. Das Stichwort „großer Lauschangriff" kern unterschiedlichster Couleur und in der Bevölke- ist bekannt. rung überhaupt bei den anderen EG-Mitgliedslän- Der Rechtsruck kommt selbstverständlich auch in dern so geteilt ist. Es muß doch wenigstens stutzig der immer wieder neu geschürten Asyldebatte zum machen, weshalb zum Vertrag von Maastricht so Ausdruck, die die Angst vor Fremden und den Natio- unterschiedliche Auffassungen in Frankreich, in nalismus befördert. In diese Bereiche gehört auch Dänemark, in Großbritannien und in anderen Län- alles hinein, was mit deutscher Großmachtpolitik zu dern existieren und nur in diesem Haus eine so breite tun hat, denn auch das fördert Nationalismus. Das Übereinstimmung herrscht. Eine andere als die von Grundgesetz soll geändert werden, um internationale mir gefundene Erklärung könnte nämlich nur darin Einsätze der deutschen Bundeswehr zu ermöglichen, bestehen, daß unterstellt wird, daß in diesem Hause und der Bundesaußenminister schlägt offiziell vor, daß sehr viel mehr bewußte Europäerinnen und Europäer Deutschland endlich ständiges Mitglied im Sicher- vertreten sind als in den Parlamenten und in der heitsrat der UN wird. Bevölkerung der anderen EG-Staaten. Aber für eine Besonders bedenklich an diesem Prozeß ist, daß die solche anmaßende Einschätzung besteht meines Verschiebungen in der Politik nach rechts in allen Erachtens kein Grund. bedeutenden Parteien, d. h. in der CSU, in der CDU, in Meine Gruppe hat einen Gesetzentwurf zur Durch- der F.D.P. und in der SPD, zum Teil sogar bei den führung eines Volksentscheids eingebracht. Hin- GRÜNEN/BÜNDNIS 90, stattfindet. Wenn man sich sichtlich der Frage der Zulässigkeit stützen wir uns allein die Entwicklung in der Asylfrage ansieht, wird dabei u. a. auf den von vielen seriösen Juristen erar- deutlich, daß die CDU längst Positionen eingenom- beiteten Alternativkommentar zum Grundgesetz, der men hat, die früher nicht einmal von den Republika- ausdrücklich folgendes bestätigt: nern vertreten wurden, Nach Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 wird die Staats- (Unruhe bei der CDU/CSU) gewalt vom Volke außer in Wahlen auch in 9340 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. 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Dr. Gregor Gysi Abstimmungen ausgeübt. Das Grundgesetz sieht Deshalb sollte sich die zweite Frage eines Volksent- - eine Volksbefragung und einen Volksentscheid scheids mit der Zustimmung bzw. Ablehnung des nur bei der Neugliederung des Bundesgebietes Maastrichter Vertrages beschäftigen, und wer will, nach den Artikeln 29 und 118 vor. Daraus wird daß die Europäische Union eine Union wirklich teilweise gefolgert, daß Volksbefragungen und gleichberechtigter Staaten, Nationen und Regionen Volksentscheide im übrigen unzulässig seien. wird, die jede Vorherrschaft ausschließt, der müßte zu Diese Ansicht ist mit dem demokratischen Prinzip Maastricht eigentlich nein sagen. nicht vereinbar. Das Grundgesetz hat sich zwar Der Vertrag von Maastricht hat noch weitere ent- grundsätzlich für die repräsentative Demokratie scheidende Mängel. Unser Nein möchte ich deshalb entschieden. Daß diese Entscheidung nicht als zusammenfassend wie folgt begründen, unabhängig generelle Ablehnung plebiszitärer Elemente ge- davon, daß er selbstverständlich auch positive Ele- meint ist, zeigt die ausdrückliche Zulassung von mente enthält: Volksbefragung und Volksentscheid bei Neu- Erstens. Wie bei der deutschen Vereinigung soll gliederung des Bundesgebiets. Nirgendwo ist im nach diesem Vertrag am Beginn die Währungsunion Grundgesetz ein ausdrückliches Verbot plebiszi- stehen, während an eine wirkliche Wirtschaftsunion tärer Elemente in sonstigen Fällen ausgespro- zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht zu denken chen. Auch ein stillschweigendes Verbot dieses ist, geschweige denn an eine soziale Union, die sogar Inhalts läßt sich aus dem Grundgesetz nicht ausgeklammert wurde. Damit ist aber, wie bei der herleiten. deutschen Vereinigung, zwingend verbunden, daß Das heißt, daß auch schon jetzt nach Art. 20 des der Abstand zwischen reicheren und ärmeren Regio- Grundgesetzes ein Volksentscheid möglich ist. Wenn nen weiter wächst und eine wirkliche Wirtschafts- Sie diesbezüglich anderer Auffassung sind, ist es union nicht kommen wird. Über diese Währungsunion Ihnen unbenommen, eine Verfassungsänderung zu werden Betriebe aus ärmeren Regionen kaputtgewirt- beschließen. schaftet, bevor es eine Chance zur Sanierung und zur Strukturpolitik geben wird. Die neuen Bundesländer Auf jeden Fall sollte der Volksentscheid durchge- werden noch härter betroffen, und der europäische führt werden, damit die Bevölkerung dieses Landes in Agrarmarkt wird weiter abgebaut. dieser Frage nicht über weniger Rechte verfügt als die Bevölkerung Dänemarks und Frankreichs. Die erste Zweitens. Die abgestimmte Außen- und Sicher- Frage, die unserer Bevölkerung gestellt werden sollte, heitspolitik bereitet uns größte Sorgen. Aus dem bezieht sich darauf, ob die Bürgerinnen und Bürger Vertrag ergibt sich nämlich, daß die Westeuropäische dafür oder dagegen sind, daß die Bundesrepublik Union als militärischer Arm dieser Europäischen Deutschland Mitglied der Europäischen Union wird. Union fungieren soll. Das wird ein Militärbündnis Dies ist eine grundsätzliche Veränderung der Verfaßt- ohne USA und Kanada sein. Es soll neben der NATO heit der Bundesrepublik Deutschland. Darüber muß existieren und eine europäische Eingreiftruppe das Volk entscheiden dürfen. Ich kenne keine Frak- ermöglichen. Bisher konnte mir noch niemand erklä- tion und keine Gruppe in diesem Haus, die diese ren, wozu die Europäische Union einer eigenen Streit- Frage nicht bejahen würde. Ich gehe deshalb davon macht neben der NATO bedarf, unabhängig davon, aus, daß eine breite Zustimmung der Bevölkerung zu daß ich schon letztere für überflüssig halte. erreichen wäre. (Dr. Hartmut Soell [SPD]: Dann ist das, was Das wäre für die künftige Europapolitik der Bundes- Sie sagen, aber sehr unlogisch!) republik Deutschland von ausschlaggebender Bedeu- Aber weshalb wird diesbezüglich Unabhängigkeit tung. Zugleich wäre dies ein wichtiges Zeichen, um von den USA und Kanada angestrebt? sich von rechtsextremistischen Parteien abzusetzen, (Dr. Hartmut Soell [SPD]: Die Logik ist nicht die selbstverständlich dazu aufrufen würden, diese seine starke Seite!) Frage mit Nein zu beantworten, wobei die Liste der Welchen Einsatz sollen diese Truppen im Unterschied vielen Persönlichkeiten, die hier vom Bundesfinanz- zu NATO-Truppen erleben? An welche neuen mögli- minister genannt wurden, die schon für die europäi- chen Gegnerschaften wird hier gedacht? Der Vertrag sche Einigung waren, der Vollständigkeit halber von informiert darüber nicht, und, Frau Kollegin Wieczo- mir ergänzt werden muß: Lenin hat die Vereinigten rek-Zeul, insofern meine ich auch nicht, daß im Staaten von Europa gefordert, man höre und Vertrag kein militärisches Bündnis vorgesehen ist. Es staune! ist nach meinem Verständnis ein europäisches militä- (Zustimmung bei der PDS/Linke Liste — risches Bündnis vorgesehen. Lachen bei der CDU/CSU, der SPD, der (Zuruf von der CDU/CSU: Da haben Sie ein F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ falsches Verständnis!) NEN) Drittens. Geplant ist eine gemeinsame Asyl- und — Daß Ihnen das nicht bekannt ist, ist mir auch klar, Einwanderungspolitik, die auf eine Abschottung aber ich wollte es einfach der Vollständigkeit halber gegenüber Osteuropa und der sogenannten Dritten erwähnen. Welt hinausläuft. Diese Abschottungspolitik führt nicht zur Lösung der Migrationsprobleme und der Aber auch für Befürworter der europäischen Idee Konflikte in Osteuropa. muß es möglich sein, den Weg zur Europäischen Union, der im Vertrag von Maastricht vorgezeichnet ist, zu verneinen, ohne die Europäische Union selbst Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Gysi, abzulehnen. gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9341

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Herr Kollege Das heißt ja wohl im Klartext: Das Europäische Gysi, ist Ihnen klar, daß Sie mit Ihrer Argumentation, Parlament hat nicht zu entscheiden; es darf fragen, die rechtlich nicht begründet ist, denjenigen das empfehlen und sich aussprechen. Letzteres ist psy- Stichwort liefern, die eben die Europäische Gemein- chotherapeutisch sicherlich wichtig und wird wohl schaft dafür nutzen wollen? Es muß darauf hingewie- deshalb auch auf einmal im Jahr beschränkt, aber von sen werden, daß das, was als Erklärung der WEU- einer wirklichen Parlamentstätigkeit weit entfernt. Staaten im Anhang steht, von uns materiell nicht Faktisch wird das Europäische Parlament zu einem mitratifiziert wird. Beratungsorgan der Exekutive. Das ist aber eine völlige Verkehrung des demokratischen Verhältnis- ses zwischen Legislative und Exekutive, die hier im (PDS/Linke Liste): Aber die Absicht Dr. Gregor Gysi Vertrag festgelegt wird. Und das gilt nicht nur für das ist doch im Vertrag schon eindeutig zum Ausdruck von mir zitierte Beispiel der Außen- und Sicherheits- gebracht. Das ist doch dann nur noch eine Frage der politik, sondern ebenso in anderen Bereichen, wo sich Entwicklung. Um die Sorgen geht es mir. Ich habe analog e Formulierungen wiederfinden. auch nur auf Gefahren hingewiesen, die damit ver- bunden sind. Sie wird man doch artikulieren dürfen, Gleichermaßen kritisieren wir den vereinbarten denke ich. Zentralismus, statt den Regionen und Kommunen mehr Verantwortung zu übertragen. Ich habe also darauf hingewiesen, daß diese Abschottungspolitik meines Erachtens nicht zur Sechstens. Vor allem kritisieren wir natürlich auch, Lösung der Migrationsprobleme und der osteuropäi- daß eine Sozialunion nicht verabredet wurde. Das schen Konflikte beitragen wird, sondern schrittweise bedeutet faktisch, daß der Druck auf die Staaten mit zu deren Unlösbarkeit, bis die Zivilisation insgesamt relativ hohem sozialen Standard zunehmen wird, gefährdet ist, ganz abgesehen davon, daß Europa Sozialabbau zu betreiben. Ich höre jetzt schon alle mehr als die EG ist. Argumente, die nach der Ratifizierung des Vertrages Außerdem enthält der Vertrag nichts, aber auch gar umgehen werden. Man wird erklären, daß der Wirt- nichts zur Veränderung der Weltwirtschaftsordnung schaftsstandort Deutschland nicht zu halten sei, wenn in eine Richtung, die Fluchtursachen auch nur ein- die sozialen und demokratischen Standards nicht schränken würde. Auf Kosten der sogenannten Drit- reduziert werden, einfach weil die Produkte zu teuer ten Welt leben und sich dann von ihr abschotten ist und international nicht mehr absetzbar sein würden; gleichermaßen inhuman, amoralisch und letztlich die Folge wäre Arbeitslosigkeit, so daß jede und jeder, auch für uns selbst existenzbedrohend. der Arbeitslosigkeit verhindern will, einem sozialen und einem Demokratieabbau zustimmen müsse. Und (Beifall bei der PDS/Linke Liste) an diesem Argument wäre ja dann auch etwas dran. Viertens. Eine gemeinsame Polizeipolitik in der Aber die Grundlage für dieses Argument wird u. a. mit Europäischen Union ist nicht etwa darauf gerichtet, diesem Vertrag geschaffen. Wäre die Sozialunion die Rechtsstaatlichkeit zu erhöhen und Bürgerrechte vereinbart worden, dann könnte ein umgekehrter zu entfalten, sondern unter dem Vorwand der gemein- Druck entstehen, nämlich dergestalt, daß sich die samen Kriminalitätsbekämpfung polizeistaatliche Standards im sozialen Bereich ebenso wie im Bereich Methoden innerhalb der Europäischen Union durch- des Arbeits- und Gesundheitsschutzes erhöhen. zusetzen, Datenschutz zu verletzen, wobei jeder Besonders betroffen werden wieder einmal die Nationalstaat dann die Möglichkeit hat, sich immer Frauen sein, die von Arbeitsplatzabbau und Sozialab- auf Brüssel herauszureden. Das gefährdet Grund- bau immer zuerst betroffen sind. rechte der Bürgerinnen und Bürger und stellt zugleich einen Mißbrauch der Polizeibeamtinnen und Polizei- Ähnliches gilt zur Ökologie, wo ebenfalls ein Druck beamten dar. nach unten statt nach oben durch den Vertrag orga- nisiert worden ist. Fünftens. Durch den Vertrag von Maastricht geben die Nationalstaaten Kompetenzen an den Europäi- Gegen viele dieser Argumente wird das allgemeine schen Rat und die EG-Kommission in Brüssel ab. Es Subsidiaritätsprinzip angeführt. Aber wer sich den handelt sich hierbei um Kompetenzen, die bisher bei Art. 3 b im Titel II durchliest, kann sich zumindest als den nationalen Parlamenten lagen. Ich habe nichts Jurist nur wundern. Wörtlich heißt es hier: gegen eine Übertragung von Parlamentskompeten- In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche zen auf die europäische Ebene, wenn das Europäische Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach Parlament zuständig wird. Ich habe aber etwas dage- dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und gen, wenn Kompetenzen von den Parlamenten auf die soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maß- Exekutive von Brüssel verlagert werden. Dies ist nahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht eindeutig ein undemokratischer Akt. ausreichend erreicht werden können und daher Wer sich die Bestimmungen des Vertrages zum wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen Europäischen Parlament durchliest, wird dabei besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden immer wieder die gleichen Formulierungen finden. So können. heißt es z. B. im Titel V Art. J 7: So verschwommene Formulierungen kenne ich Das Europäische Parlament kann Anfragen oder eigentlich nur aus dem Paragraphen des DDR-Straf- Empfehlungen an den Rat richten. Einmal jähr- gesetzbuches zur Asozialität, mit dem man auch alles lich führt es eine Aussprache über die Fortschritte oder nichts anfangen konnte. Im Prinzip wird hier die bei der Durchführung der gemeinsamen Außen- Tür dafür geöffnet, daß die Exekutive der Europäi- und Sicherheitspolitik durch. schen Union alles an sich heranziehen kann. Denn 9342 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Gregor Gysi welche nationalstaatliche Maßnahme kann es noch meiner Überzeugung weitere Veränderungen der geben, die keine Wirkungen auf Gemeinschaftsebene europäischen Verträge in einem echten Zusammen-- erreicht? wirken von Rat und Parlament ausgearbeitet werden. Ich komme zum Schluß: Aus all diesen Gründen Wäre ein solches Verfahren angewandt worden, sähe muß es auch für jemanden, der die Europäische Union der Vertragsentwurf mit Sicherheit anders aus. Und befürwortet, möglich sein, zu diesem Vertrag nein zu hätten Sie die gleiche Energie in die Werbung für ein sagen. Dies sollten wir nicht allein im Parlament vereintes Europa investiert, die gleiche Kraft wie für entscheiden. Hier geht es um Rechte aller Bürgerin- die demagogische Vernebelung der derzeitigen Asyl- nen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Sie debatte aufgebracht, brauchte sich niemand in müssen deshalb beteiligt werden. Sagen Sie deshalb Deutschland vor einer Volksabstimmung zu fürch- ja zum beantragten Volksentscheid, reden Sie mit ten! dem Volk, vertrauen Sie ihm doch einfach einmal. Meine Damen und Herren, bei der Einschätzung (Beifall bei der PDS/Linke Liste) des Maastrichter Vertrages kann man mit guten Argumenten zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Fest steht allerdings, daß es zur europäi- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und schen Integration keine Alternative gibt und daß die Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Werner europäische Einigung ganz Europa umfassen muß. Im Schulz das Wort. Hinblick auf diese gesamteuropäische Perspektive muß die Gemeinschaft gleichzeitig weiterentwickelt und für die Länder Mittel- und Osteuropas sowie die (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Werner Schulz heutigen EFTA-Länder offengehalten werden. NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will die von Herrn Waigel aufgeführte und von Herrn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gysi so unpassend ergänzte europäische Ahnenreihe nicht fortsetzen, aber mir erscheint die heutige Dis- Die Gemeinschaft darf nicht bei dem Ergebnis von kussion eher wie die absurde Szene eines Buñuel Maastricht stehenbleiben. Wir fordern daher die Bun- Filmes. Wir reden über ein Vertragswerk, mit dem die desregierung auf, die Initiative zu ergreifen, die Mehrzahl dieses Hauses unzufrieden ist und das Europäische Gemeinschaft zu einer wirklichen demo- dennoch von einer Mehrheit des Deutschen Bundes- kratischen, sozialen und ökologischen Union weiter- tages verabschiedet werden wird. zuentwickeln und dazu die für 1996 vorgesehene Regierungskonferenz so weit vorzuverlegen, daß sie (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Werden Sie die Ratifizierung entsprechender Verträge noch vor doch mal konkret, Herr Kollege!) den Europawahlen 1994 ermöglicht. Im Gegensatz zum schönen Slogan „Europa wird eins" spaltet der Vertrag, Herr Kittelmann, die Euro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN päer über Landesgrenzen hinweg in pro und contra und bei Abgeordneten der SPD) Maastricht. Wie es aussieht, wird die Ratifizierung mit Ich will einige unserer Haupteinwände benennen: Ach und Krach gelingen. Der Vertrag, dem weniger Die angestrebte Politische Union, notwendiges Pen- als die Hälfte der Bürger des halben Europas zustim- dant zur Wirtschafts- und Währungsunion, ist über die men würde — in Frankreich waren es immerhin, wenn allerersten Schritte nicht hinausgekommen, hat noch Sie die Stimmenthaltungen mitrechnen, nur 36 % —, keine klaren Konturen. Hier bedarf es dringend der wird vermutlich in Kraft treten, Weiterentwicklung. Ganz wesentliche Bereiche, die (Zuruf von der CDU/CSU: Wie viele waren in gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Dänemark dagegen?) Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik, doch über eines sollten wir uns im klaren sein — hören stehen im Grunde neben den Gemeinschaftsinstitutio- Sie doch bitte erst einmal zu! —: Dies kann und darf nen. nicht so weitergehen, wenn der europäische Gedanke Besonders schmerzlich ist, daß mit der notwendigen nicht auf der Strecke bleiben soll. Das Haus Europa Verlagerung von Aufgaben auf die europäische darf nicht Vorwände mit Hintertüren verbinden, eine Ebene das demokratische Defizit verstärkt wird. dauerhafte Bausubstanz läßt sich nicht aus zwölfseiti- Maastricht bringt trotz einiger Erweiterungen der gen Formelkompromissen mischen. Befugnisse des Europäischen Parlaments insgesamt An diesem Vertrag und an seinem Zustandekom- gesehen eine weitere Aushöhlung des Parlamentaris- men gibt es vieles auszusetzen, allem voran das mus in der Gemeinschaft. Es stärkt die nationalen Verfahren. In Regierungskonferenzen ohne Beteili- Regierungen gegenüber den Parlamenten. gung des Bundestages, ohne Beteiligung des Europäi- schen Parlaments Verträge auszuhandeln, die dann Die vorgezogene Regierungskonferenz muß hier nur noch komplett akzeptiert oder verworfen werden wesentliche Verbesserungen bringen. Wir brauchen können, ist der denkbar undemokratischste Weg nach eine umfassende Zuständigkeit des Europäischen Europa. Parlaments für alle Politikbereiche der Gemeinschaft. Das Parlament muß in allen die Gemeinschaft betref- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fenden Fragen mit entscheiden und auch bei der und bei Abgeordneten der SPD) Weiterentwicklung der Verträge ein gewichtiges Wir kennen diese Praxis. Dem deutschen Eini- Wort mitzureden haben. Die gemeinsame Außen- und gungsvertrag, dessen Fehler, Mängel und schwin- Sicherheitspolitik wie auch die Zusammenarbeit in dende Akzeptanz jetzt ins Auge fallen, lag ein ähnli- der Innen- und Rechtspolitik sind in die Strukturen der ches Strickmuster zugrunde. Künftig müssen nach Gemeinschaft voll einzubeziehen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9343

Werner Schulz (Berlin) Wir werden, Herr Bundeskanzler, sehr aufmerksam gen Eintritt in die Währungsunion ausdrücklich vor- verfolgen, welche Signale in der kommenden Woche behalten. aus Birmingham zu hören sind. Wenn sich dort Fort- schritte für ein demokratisches Europa abzeichnen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird dies sicher zu einer größeren Zustimmung auch und bei Abgeordneten der SPD) für den Maas trichter Vertrag beitragen. Das Europäische Währungssystem muß modifiziert Die vereinbarte Währungsunion steht auf schwa- werden, nicht, weil es den großen Währungskrach mit chen Beinen. Der Erdrutsch der Währungen im Euro- der Folge von Abwertungen und vorläufigem Austritt päischen Währungssystem hat es deutlich gemacht. von Pfund und Lira gab, sondern weil es ihn erst so Es braucht viel mehr als die Verabschiedung dürftiger spät gab und weil er so krisenhaft und chaotisch vor Absichtserklärungen, um zu einer gemeinsamen sich ging. Währung zu kommen. Die EG-Staaten sind viel weiter Die Hüter der Europäischen Währungen wurden bis davon entfernt, als es uns der flotte Zeitplan für die auf die Knochen blamiert. Die Glaubwürdigkeit euro- Währungsunion weismachen will. päischer Währungszusammenarbeit wurde schwer Wir Deutschen haben die Erfahrung gemacht, wel- beschädigt. Denn das EWS hat jahrelang Illusionen che Auswirkungen eine übereilte Währungsunion über den wahren Zustand der Währungen und Volks- haben kann, und wir spüren sie noch immer. Wir wirtschaften genährt und eine Scheinstabilität in sollten das nicht vergessen, wenn wir über Europa Europa vorgetäuscht. Diese Art von Stabilität ist die reden. Die vielbeschworene Konvergenz der Volks- denkbar schlechteste Voraussetzung für die Wäh- wirtschaften in der Gemeinschaft rungsunion. Wir brauchen deshalb Mechanismen im EWS, die Wechsélkursanpassungen, wenn sie tat- (Zuruf von der CDU/CSU) sächlich und auf Dauer erforderlich sind, auch wirk- lich herbeiführen, solange nicht endgültig feste Wech- ist keineswegs soweit fortgeschritten, daß zur Einfüh- selkurse vereinbart sind. rung einer gemeinsamen Währung nur noch eine fröhliche Krönungszeremonie vonnöten wäre. Daran Nun hat der Verzicht Großbritanniens auf die gefor- ändert auch nichts der vorgesehene Kompensations- derte Reform des EWS — Premierminister John Major fonds. Kommt die Währungsunion zu schnell, so sind hat die Finanzminister gar nicht erst zum Sondergipfel zwei gleichermaßen unerfreuliche Szenarien denk- eingeladen — ja etwas Wirbel erzeugt. Das war doch bar. wohl etwas voreilig. Einmal die kleine Währungsunion. In diesem Fall Als weitere Voraussetzung für die Währungsunion würde nur ein exklusiver Kreis von EG-Mitgliedstaa- ist ein schnellerer Einstieg in die gemeinsame Wirt- ten die Eingangskriterien erfüllen und also Zugang schaftspolitik erforderlich. Auch hierfür müssen die zur Währungsunion bekommen. Die Dominanz von notwendigen institutionellen Regelungen getroffen D-Mark und Bundesbank würde abgelöst durch die werden. Eine gemeinsame Wirtschaftspolitik ohne Dominanz des Währungsklubs der reichen Staaten in ausreichende Exekutivbefugnisse der Gemeinschaft Europa. Wie wir von Herrn Kinkel gehört haben, will wird nicht weit kommen. dies keiner. Meine Damen und Herren, alle reden plötzlich von Aber auch das zweite Szenario kann niemanden der Stärkung demokratischer Strukturen, der Stär- begeistern. Danach würde die Währungsunion entge- kung der Regionen, der Subsidiarität, als müßten sie gen den ökonomischen Kriterien aus politischen in lauten Selbstgesprächen die Gedanken der GRÜ- Gründen möglichst weit gefaßt, mit dem Ergebnis, daß NEN aus den 80er Jahren rekapitulieren. Doch wie die Disparitäten und in der Folge die wirtschaftliche auch immer, wir stimmen offenbar darin überein, daß Destabilisierung innerhalb der Währungsunion die der Maastrichter Vertrag Verbesserungen und Nach- wirtschaftlichen Kräfte der Gemeinschaft auf lange besserungen benötigt, die auf der, wie angesprochen, Sicht hin absorbieren würden. Die EG wäre mit sich vorzuziehenden Regierungskonferenz vereinbart selbst beschäftigt. Für die. Heranführung der mittel- werden müssen. und osteuropäischen Volkswirtschaften an die EG Der neue Regionalausschuß muß wirkliche Kompe- bliebe dann so wenig Kraft wie für den Ausbau der tenzen erhalten. Gerade die Vertreter der Regionen Entwicklungszusammenarbeit und die Öffnung des sollten die Möglichkeit haben, über die Einhaltung europäischen Marktes für die Produkte aus der Zwei- des Subsidiaritätsprinzips zu wachen und dafür zu Drittel-Welt. sorgen, daß die Aufgabenteilung innerhalb der EG (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dem ökologischen Entwicklungsleitbild entspricht. Auf dieses ökologische Leitbild muß sich die gesamte Dieses Szenario entspricht auch den Befürchtungen Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft orientieren. Der all derer in Deutschland, die mit dem Ende der Verzicht auf die Ideologie des grenzenlosen Wachs- D-Mark auch das Ende der Währungsstabilität her- tums bedeutet dabei keineswegs den Verzicht auf aufziehen sehen. wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Im Gegenteil, die dauerhafte Erhaltung dieser Leistungsfähigkeit setzt Angesichts der mit der Währungsunion verbunde- den ökologischen Strukturwandel, die radikale Sen- nen, heute zum Teil noch unwägbaren Risiken darf kung des Umweltverbrauchs geradezu voraus. Nur der Bundestag jetzt keinen Blankoscheck ausstellen. eine ökologische Wirtschaftspolitik wird sich als Er muß sich vielmehr die Zustimmung zum endgülti- zukunftstauglich erweisen. 9344 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Werner Schulz (Berlin) Eine ganz zentrale Bedeutung hat in diesem Zusam- schaft verunsichert und vor neuen Herausforderun- menhang die ökologische Steuerrefom, die auf euro- gen steht. Der Zusammenbruch Osteuropas stellt die päischer Ebene stattfinden muß. Denn in mehr oder EG und vor allem die Bundesrepublik Deutschland minder großem Umfang sind alle Länder der Gemein- vor neue, sehr unerwartete Aufgaben. Der unhinter- schaft darauf angewiesen, den Wandel zu ökologi- fragte, fast natürliche Zusammenhang von Demokra- schem Wirtschaften im europäischen Zusammenhang tie und Wohlstand ist erschüttert. So angenehm Wohl- einzuleiten. Nicht minder wichtig ist die konsequente stand auch ist, in den nächsten Jahren werden wir uns Ausrichtung der Strukturfonds und des Gemein- darauf einstellen müssen, daß dieser Wohlstand nicht schaftshaushaltes in diesem Sinne. einfach so weiter steigen wird. Es gibt eine Reihe weiterer Kritikpunkte zum Nicht die Verteilung von ohnehin unsicheren Maastrichter Vertrag, auf die ich hier nicht eingehen Zuwachsraten ist das Problem, sondern die man- kann. Doch bei aller mehr als berechtigter Kritik: Wer gelnde Bereitschaft zur Umverteilung der vorhande- das Ergebnis der Maastrichter Regierungskonferenz nen Substanz. Diese Teilungskrise, dieser Schwund insgesamt verwerfen will, muß sich gründlich überle- an Solidarität ist kein hausgemacht deutsches Pro- gen, welche Folgen ein Scheitern des Ratifizierungs- blem. Allerdings ist die Bundesrepublik Deutschland prozesses haben könnte. zuallererst mit der Frage konfrontiert, wieviel ihr Demokratie, Menschenrechte und Toleranz bedeu- (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Bravo!) ten, auch wenn der Wohlstand geringer, die politi- Es ist schon erstaunlich, wie manchen, die vor zwei schen Aufgaben schwieriger und die gewohnte Ord- Jahren noch beteuert hatten, die Einheit Deutschlands nung brüchiger werden. sei nur zu verantworten als Teil eines vereinten In dieser Situation des europäischen Umbruchs geht Europa, jetzt immer neue Einwände und Bedingun- es vor allem darum, daß wir den Weg der Integration gen für die europäische Einigung einfallen. fortsetzen und nicht den Sirenentönen des national- staatlichen Alleingangs hinterherlaufen. In der heutigen wirtschaftlichen, sozialen und poli- tischen Situation in Europa ist die EG als Stabilitäts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, faktor unverzichtbar. Es ist jedoch mehr als fraglich, der CDU/CSU und der SPD) ob sie diese Funktion nach einem Scheitern des Vertrages noch wahrnehmen könnte. Viel wahr- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und scheinlicher wäre, daß eine längere Phase der Desin- Herren, gemäß § 27 unserer Geschäftsordnung erteile tegration und der Renaissance nationalstaatlicher ich unserem Kollegen Peter Conradi das Wort zu einer Politik vor einem neuen Anlauf zur Europäischen Zwischenbemerkung. Union stünden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Peter Conradi (SPD): Ich bitte um Nachsicht, Herr sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Außenminister, daß ich Sie vorhin bei Ihrer Vorlesung der SPD) gestört habe. Ich hatte einen Augenblick vergessen, daß Sie kein Parlamentarier sind. Meine Frage wäre Vermutlich könnten die Einzelstaaten auch kaum gewesen: Worauf gründen Sie eigentlich Ihre Hoff- anders als zu versuchen, allein zurechtzukommen. nung, daß Sie all das, was Sie an Sicherung und Der Ablehnung dieses Vertrages würde auf dem Ausgestaltung der Subsidiarität, der Transparenz, Fuße die Infragestellung der bisherigen Integrations- der Demokratie im Vertrag nicht verankert haben, ergebnisse, vor allem was die Sozial- und Umweltpo- jetzt nachträglich in Birmingham in Zusatzerklärun- litik angeht, folgen. Die politische Botschaft wäre: gen durchsetzen werden? Wenn nicht miteinander, dann jeder für sich. Den (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Wo sind überall in Europa wiedererstarkten Tendenzen zu die Vorlagen dazu?) Nationalismus, Rechtsextremismus und Fremden- feindlichkeit würde dies zusätzlichen Auftrieb geben. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, bitte Allein der Gedanke, daß diese fürchterliche Hand- sehr, Sie dürfen erwidern. Sie haben das Wort. lungsunfähigkeit der EG, die momentan den Bürger- krieg im ehemaligen Jugoslawien nährt, sich ausbrei- ten könnte, sollte der Vernunft zum Durchbruch Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: verhelfen. Ich wollte zunächst sagen, daß ich vorher ohne Unter- brechung vortragen wollte — vorlesen wollte, wenn Westdeutschland hat nach 1949 seinen Platz in der Sie wollen —, weil es ja immerhin um die Einbringung Reihe der westeuropäischen Demokratien gefunden. der Maastrichter Verträge ging. Ich glaube, Sie haben Die Einbettung in die Europäische Gemeinschaft ist das auch verstanden. Ich wollte nicht der Frage zum entscheidenden Mittel geworden, gemeinsame ausweichen. Politik von Nachbarstaaten über nationalstaatlichen Meine Antwort auf Ihre Frage lautet: Ja, ich bin Egoismus zu stellen. Diese westeuropäische Entwick- zuversichtlich, daß wir in Birmingham ohne Vertrags- lung war für uns in der DDR immer ein Bild der änderung mindestens in einer noch festzulegenden Verständigung und der Zusammenarbeit, das ange- Form die Unzufriedenheiten und Unsicherheiten, die sichts der verdrängten Gefühle unterhalb der verord- nicht nur in der Bundesrepublik am Maastrichter neten Freundschaft der RGW-Staaten unsere Sympa- Vertragswerk aufgekommen sind, sammeln, bündeln thie fand. und mindestens im Hinblick auf Edinburgh so zusam- Wir sind jetzt selbst Teil dieser Gemeinschaft und menfassen können, daß eine gewisse Zufriedenheit haben zugleich dazu beigetragen, daß diese Gemein- entsteht. Ich will nicht sagen, daß das voll und total Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9345

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel gelingt. Aber wenn ich mir die Vorbereitungsarbeiten alte Ressentiments ist, wie gefährlich er gerade für uns ansehe — heute morgen habe ich ja nur angedeutet, Deutsche ist, die wir mit der Wiedervereinigung die - daß wir in intensiven Vorbereitungsarbeiten sind —, größte Mittelmacht in Europa sind und deswegen dann bin ich zuversichtlich. Gerade am Montag haben unweigerlich die größte Verantwortung für den Frie- wir in Luxemburg unter den Zwölfen sehr gute Fort- den und die Völkerverständigung tragen? schritte erzielt. Ich kann die Einzelheiten selbstver- Noch ehe wir Deutsche es selbst begreifen, welche ständlich hier nicht vortragen. Aber ich habe das Macht und Verantwortung uns mit dem 3. Oktober Gefühl, daß wir entweder in einer Entschließung, in 1990 zugewachsen ist, greift bei unseren Nachbarn einem Protokoll oder einer Erklärung formal mate- schon das Unbehagen um sich: Was werden sie tun, riell-inhaltlich das auffangen können, was an Kritik da die Deutschen, wirtschaftlich mächtig und größtes ist — ohne Vertragsänderung. Da bin ich zuversicht- Land in der Europäischen Gemeinschaft? Wie werden lich. sie diesmal ihre Rolle als Zentralmacht ausfüllen? Sind (Beifall bei der F.D.P.) sind tatsächlich bereit, in einer echten europäischen Union sich selbst zu bändigen, oder war der europäi- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und sche Gedanke nur so l ange attraktiv, solange er auf Herren, wir fahren in der Debatte fort. Ich erteile jetzt Grund der Spaltung in Bundesrepublik und DDR ein unserer Kollegin Frau Renate Hellwig das Wort. Ersatz für ein gestörtes Nationalbewußtsein war? Derzeit interessiert den normalen Deutschen die Dr. Renate Hellwig (CDU/CSU): Herr Präsident! Meinung der Nachbarn denkbar wenig. Er erwartet Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bun- von uns Bonner Politikern, daß wir uns ganz auf die destag debattierte erst vor kurzem, am Freitag, dem gegenwärtigen innerdeutschen Probleme konzen- 25. September, aus Anlaß des französischen Referen- trieren, die ihn vor allem beschweren: die Armutswan- dums zu den Maastrichter Verträgen. Ich muß Ihnen derung von Ost nach West, die wir nicht so schnell gestehen: Ich empfand an diesem Freitag eine fast stoppen, wie er es gern hätte, und je nach Standort in unerträgliche Spannung zwischen den kritischen Deutschland-Ost oder Deutschland-West das Unge- Gesprächen zu Europa, die ich jedes Wochenende in nügen der Sanierungsleistung für die neuen Bundes- meinem Wahlkreis führen muß, und dem tapferen länder oder die zu hohen Kosten für eben diese Bekenntnis fast aller Kolleginnen und Kollegen hier Sanierungsleistung. Europa gilt in diesem Zusam- im Bundestag zur Europäischen Union. Also nahm ich menhang allenfalls als zusätzliche Beschwer, nicht als meine Kolumne in der „Heilbronner Stimme" zum Helfer für diese Problemlösungen. Das heißt: Die Anlaß, die Bürger zu fragen, warum sie denn binnen europäische Dimension auch dieser beiden nationa- drei Jahren so europamüde, ja fast europafeindlich len Probleme wird bei uns schlicht und ergreifend geworden seien. Aus den Meinungsumfragen ergibt übersehen. sich das ja. Diejenigen, die sich die Mühe gemacht Meine Damen und Herren, machen wir uns keine haben, mir zu antworten, wa ren unisono kritisch, zum Illusionen: Uns steht im Zuge der Ratifizierung und Teil sogar sehr kritisch. Typisch ist folgendes Zitat: nach ihr, uns allen, die wir hier sind und dafür sind, Europa war einst ein Zauberwort, das begeisterte. noch ein gerüttelt Maß an Überzeugungsarbeit vor Ort Doch es ist nicht falsch zu sagen, daß der Moloch bevor. Europa seine Freunde verschlungen hat und das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) innere Mitgehen mit begeisterten Europaanhän- gern in Mißtrauen umgeschlagen ist. Denn wir sind uns, glaube ich, alle einig: Wir wollen Immer wieder taucht in den Briefen und Telefona- und können und dürfen kein Europa gegen unser Volk ten der Vorwurf auf, wir sollten uns, statt unsere schaffen, sondern wir brauchen die Zustimmung, wir Energie für Europa zu verschwenden, ganz auf die brauchen das Engagement. internen Probleme Deutschlands konzentrieren. Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ist tatsächlich die Meinung im Volk, meine Damen ordneten der F.D.P. und der SPD) und I lerren, und wir sollten sie nicht nur zur Kenntnis Ich will gleich zum wichtigsten Punkt kommen. Wir nehmen, sondern wir sollten sie bitter ernst neh- deutsche Politiker, haben uns gerade mit Nachdruck men. — die Bundesregierung übrigens begleitet vom Euro- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) paausschuß in ständigen Sitzungen und mit seiner Ich sehe im Wiederaufflammen des Nationalen, vollen Unterstützung — für eine gemeinsame Außen- gepaart mit antieuropäischen Ressentiments, eine und Sicherheitspolitik eingesetzt. äußerst gefährliche Verengung der Solidaritätsbereit- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schaft der Menschen, nicht nur bei uns in Deutsch- land, sondern, die Signale zeigen das, auch in England Und wenn immer so viel vom Subsidiaritätsprinzip und in Frankreich. gesprochen wird: Hier wollen wir keine Subsidiarität, Ich muß gestehen: Ich hätte es nicht für möglich hier wollen wir, daß nicht die Nationalstaaten, son- gehalten, daß dieser Flächenbrand des kleinräumigen dern daß insbesondere Europa verantwortlich ist, im ethnischen, nationalen Egoismus, der nach dem Interesse von uns allen, um die Spannungen besser Zusammenbruch des Sowjetreiches emotional, ja aushalten zu können. kriegerisch dort aufleuchtet, mit dieser Geschwindig- Lassen Sie uns auch auf den zweiten Kritikpunkt keit auch Westeuropa erfassen würde. Gelingt es uns, eingehen, der von den Bürgern immer wieder genannt den verantwortlichen Politikern, unserem Volk wird, nämlich die Frage: Wie ist es mit dem demokra- bewußt zu machen, wie gefährlich dieser Rückfall in tischen Europa, mit dem demokratischen Parlament, 9346 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Renate Hellwig mit dem demokratisch gewählten Europäischen Par- Frage sowohl beim Bundesrat als auch beim Bundes- lament? Ich glaube, wir Deutsche brauchen uns da tag Rückkoppelung nehmen. - über alle Parteien hinweg keinen Vorwurf zu machen. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Darauf legen Wir sind Werber für mehr Macht für das Europäische wir Wert!) Parlament. Wen wir hier noch überzeugen müssen, Nur wenn wir die Meinung der Bundesregierung das sind insbesondere unsere Nachbarn in England teilen, wird es zu einem Eintritt der Bundesrepublik in und in Frankreich, die sich die Illusion machen, sie die Wirtschafts- und Währungsunion kommen. könnten mit ihren nationalen Parlamenten den Mi- nisterrat kontrollieren. Auch ich bin sehr dafür, und (Günter Verheugen [SPD]: Was heißt „Rück ich hoffe, daß die Bundesregierung ein Einsehen hat, koppelung"?) daß es nicht nur interessant und wichtig ist, dem Aber wir dürfen gegenüber unseren Nachbarn nicht Bundesrat bei ihrem Verhalten am Ministerratstisch den Eindruck erwecken, daß wir so wie die Engländer, mehr Mitwirkungsmöglichkeiten zu geben, sondern die selbst bei Erfüllung der Kriterien entscheiden daß es genauso wichtig ist, die Rückkoppelung auch wollen, ob sie nicht doch lieber draußen bleiben, hier im nationalen Parlament zu nehmen. taktieren wollen. Das dürfen wir in unser aller Inter- esse nicht tun. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich stelle den Beifall des ganzen Hauses fest und hoffe, daß er bei der Bundesregierung angekommen ist. Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Dr. Hellwig, gestatten sie eine Zwischenfrage des (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Große Nach Kollegen Graf Lambsdorff? denklichkeit auf der Regierungsbank!) Die Kernigkeit, die Sie hier bewiesen haben, bewei- Dr. Renate Hellwig (CDU/CSU): Bitte sehr, wenn es sen Sie bitte auch, wenn es darum geht, die notwen- nicht auf meine Redezeit angerechnet wird. digen Verfassungsänderungen einstimmig durchzu- führen. Wir müssen ganz klar die Mitwirkungsmög- Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Frau Kollegin, lichkeiten des deutschen Parlaments beim Verhalten darf ich darauf aufmerksam machen, daß Ihre letztere der Bundesregierung am Ministerratstisch regeln. Vermutung völlig. unbegründet ist. Niemand von uns Aber den Ministerrat insgesamt — das halte ich hat das gesagt. ausdrücklich fest — wird immer nur das Europäische Ich möchte aber fragen, was an Stelle des Wortes Parlament als der Counterpart kontrollieren können. „befassen" nun das Wort „Rückkoppelung" bedeuten Das kann ein nationales Parlament nicht ersetzen. soll? Wollen wir eine Entscheidung des Bundestages (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten oder irgend etwas anderes? der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P.) Lassen Sie mich noch kurz zu dem Punkt kommen, der bei der Angst vor Europa im Moment die Herzen Dr. Renate Hellwig (CDU/CSU): Der Bundestag am meisten bewegt. Unmittelbar nach Maastricht hat entscheidet über die Feststellung, ob die Kriterien die „Bild"-Zeitung ein großes Unheil angerichtet, erfüllt sind, mit. (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Genau so!) indem sie geschrieben hat, wir müßten angeblich die Die entscheidende Frage für mich ist aber, ob der D-Mark opfern. So ein Unsinn! Wir werden jetzt viel Bürger dem Eintritt in die Europäische Union Zeit brauchen, um dies wieder auszuräumen. zustimmt. Hüten wir uns gerade beim Thema Maas- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der tricht davor, ein Raumschiff Bonn zu werden. Koppeln F.D.P. und der SPD) wir zurück zu den Bürgern! Machen wir dies in den nächsten Wochen und Monaten zu unserer Hauptauf- An Herrn Lambsdorff und die Vertreter der SPD gabe. Begreift das deutsche Volk, daß es sich mit der gerichtet, möchte ich ausdrücklich feststellen, daß wir Verengung auf die rein nationale Sicht wie schon in einem ganz entscheidenden Punkt übereinstim- zweimal in diesem Jahrhundert ins Unglück stürzt? men. Im Maastrichter Vertrag ist ganz klar und Gelingt es uns, diejenigen, die im Moment als natio- eindeutig geregelt, daß eine gemeinsame Währungs- nalistische Verführer durch unser Volk laufen, wieder voraussetzt, daß es genügend Mitglieder gibt, union auszuhebeln? die die absolut strengen Kriterien, was Verschuldung im eigenen Haus anbelangt, was die Solidität der (Peter Conradi [SPD]: Wählen Sie sich doch eigenen Haushaltspolitik anbelangt und was den ein neues Volk, Frau Hellwig!) freiwilligen Gleichschritt mit den stabilsten Währun- Gelingt es uns, die Überzeugung dafür zu gewinnen, gen anbelangt, erfüllen. Nur solche Länder werden daß es besser für uns ist, fest in eine Europäische gemeinsam die Währungsunion bilden. Union eingebunden zu sein? Das dient unserer gemeinsamen Sicherheit. Das ist Friedensarbeit in der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) solidesten Bedeutung des Wortes. Wohlstandsarbeit Natürlich wird die Frage, ob eine solche Währungs- kommt immer nach der Friedensarbeit. Wenn Frie- union stattfindet, ob ein Land die Kriterien für den densarbeit kaputtgeht, ist der Wohlstand auch sehr Eintritt erfüllt, nicht allein die Bundesregierung ent- schnell dahin. Jugoslawien sollte dafür ein warnendes scheiden. Sie wird vielmehr in dieser entscheidenden Beispiel bleiben. Halten wir zusammen! Wir West- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9347

Dr. Renate Hellwig europäer werden auch Osteuropa aus seinem Natio- und der ganze Bundesrat verlangen hier übereinstim- nalismus- und Sozialismusschlamm nur gemeinsam mend, daß der Bundestag entscheidet, ob die Konver- - heraushebeln, aber nicht, wenn wir zerfallen. genzkriterien erfüllt sind. Vielen Dank, meine Damen und Herren. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord „Entscheiden", Frau Kollegin Hellwig, heißt, daß dies neten der F.D.P.) die Bundesregierung in ihrem Verhalten in Brüssel bindet, sonst bedeutet das Wort „entscheiden" gar nichts. Dies wird noch eine große Rolle spielen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, noch einmal zur Klarstellung: Weder die Zeit Zweitens. Nach dem, was Graf Lambsdorff und Frau einer Zwischenfrage noch die Antwort darauf werden Hellwig gesagt haben, werden wir uns über die auf die Redezeiten angerechnet. Mitwirkungsrechte des Parlaments sehr schnell eini- Nunmehr erteile ich unserem Kollegen Günter gen können. Ich wäre dankbar, wenn die Kolleginnen Verheugen das Wort. und Kollegen aus den anderen Fraktionen, die diese Sache behandeln, auch entsprechend informiert wür- den. Dann können wir das bei unserem morgigen Günter Verheugen (SPD): Herr Präsident! Meine Treffen schon zu Ende bringen, damit dem Bundestag sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich auch diese Verfassungsänderung termingerecht vor- den Auftrag meiner Fraktion erfülle und etwas zu den gelegt werden kann. Verfassungsfragen sage, die mit dem Unionsvertrag Meine sehr verehrten Damen und Herren, der zusammenhängen, möchte ich Graf Lambsdorff eine Vertrag über die Europäische Union hat eine ganze kleine Freude machen. Reihe von sehr weitreichenden verfassungspoliti- Graf Lambsdorff, was Sie heute hier gemacht schen und verfassungsrechtlichen Fragen aufgewor- haben, war sehr bemerkenswert. Sie haben mit ernst- fen, die in der Gemeinsamen Verfassungskommis- zunehmenden Argumenten diesen Vertrag so richtig sion, soweit es möglich ist, gelöst worden sind. Die auseinandergenommen, aber gleichzeitig den Außen- Verfassungskommission, deren Nutzen gelegentlich minister gestützt, der ihn ausgehandelt hat, und in Zweifel gezogen wurde, hat etwas zustande gleichzeitig die Regierung getragen, die den Vertrag gebracht, was die Regierung, die das allein mit den unterzeichnet hat. Ich möchte nicht, daß der Eindruck Ländern machen wollte, nicht zustande gebracht entsteht, hier gebe es eine Partei, die beides tut, hat. nämlich für und gegen den Vertrag sein. Sie werden sich entscheiden müssen. (Beifall bei der SPD — [CDU/- CSU]: Ein Land vor allen Dingen!) (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Wir sind dafür!) Die Regierung hatte wohl gedacht, daß die Zwei- drittelmehrheit im Bundestag eine reine Formalität Es geht nicht an, daß der Außenminister wegen der Europafans dafür ist, während der Parteivorsitzende wäre. Das ist sie nämlich nicht. wegen derjenigen, die die D-Mark behalten wollen, (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Nein, nein! dagegen ist. Das schadet unserem gemeinsamen Vor- Das ist es nicht! Das hat die Regierung auch haben. Ihr klares Ja zum Vertrag habe ich wohl nicht gedacht!) gehört, aber Ihre Rede hätte im Grunde genommen — Es ist aber so gelaufen. Die Regierung hat nur mit mit dem Satz enden müssen: Und darum lehne ich den den Ländern gesprochen, nicht mit dem Bundestag. Vertrag ab. Dann haben wir das in die Hand genommen und die (Beifall bei der SPD — Dr. Otto Graf Lambs Sache geregelt. So war das. dorff [F.D.P.]: Nein!) (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Jetzt ist der Ich möchte zwei Dinge aus der Rede von Otto Graf Bundestag dran!) Lambsdorff festhalten. Zunächst will ich ansprechen, was er zur Beteiligung des Parlaments vor dem Die Beratungen in der Verfassungskommission waren Übergang in die dritte Stufe der Währungsunion von dem Willen getragen, eine saubere verfassungs- gesagt hat. Sie wissen, daß die sozialdemokratische mäßige Grundlage für die Ratifizierung zu schaffen. Bundestagsfraktion diesen Vorbehalt bereits in der (Abg. Peter Kittelmann [CDU/CSU] meldet Verfassungskommission eingebracht hat und ihre sich zu einer Zwischenfrage) Zustimmung zu den Verfassungsänderungen, ohne die der Vertrag nicht zustande kommt, davon abhän- — Es hat keinen Zweck, Herr Kittelmann. Ich möchte gig gemacht hat, daß es so gemacht wird, wie Sie meine Gedanken im Zusammenhang zu Ende führen gesagt haben. Dem hat sich in der Verfassungskom- können; Herr Kollege Conradi hat ja eben ein neues mission mit derselben Formulierung der Freistaat Verfahren vorgeführt, wie man trotzdem Fragen stel- Bayern angeschlossen. len kann. (Zuruf von der SPD: Hört! Hört! — Beifall der (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wir sind doch Abg. Ingrid Matthäus-Maier [SPD]) im Parlament! Es muß doch Gedankenaus- tausch möglich sein!) Da waren es schon zwei: die SPD und der Freistaat Bayern. Das ist schon ziemlich stark. Inzwischen Es ging auch darum, einen grundgesetzlich veran- haben sich dem der gesamte Bundesrat und heute kerten Rahmen für künftige Entwicklungen zu schaf- auch die F.D.P. angeschlossen. Die Bundesregierung fen und Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu sollte dies wohl beachten. Zwei Bundestagsfraktionen korrigieren. 9348 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Günter Verheugen Das Paket von Verfassungsänderungen, das uns heitsrechten war ja der Art. 24 Abs. 1, in dem nur von vorliegt und das noch nicht einmal vollständig ist, weil zwischenstaatlichen Einrichtungen die Rede ist. noch einige hinzukommen, bedeutet eine einschnei- Man kann darüber streiten, wann die EG aufgehört dende Veränderung unseres Verfassungsgefüges und hat, eine bloße zwischenstaatliche Einrichtung zu ganz gewiß eine der wichtigsten Änderungen seit sein. Aber man kann wohl nicht darüber streiten, daß 1949. Die entscheidende Neuerung ist der eigene die im Vertrag von Maastricht begründete Europäi- Europa-Artikel, nämlich der Der Standort ist Art. 23. sche Union mehr ist. bewußt gewählt. Der mit dem Einigungsvertrag hin- fällig gewordene Art. 23 war der Einheits-Artikel. Die Vertragsstaaten wollten — so lautet der Text — Wenn wir den frei gewordenen Platz jetzt mit einem eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer Europa-Artikel füllen, dann zeigt schon diese Stand- enger werdenden Union der Völker Europas. Diese ortbestimmung, was wir gemeinsam als die nächste Union ist noch kein Staat. Aber sie nimmt Aufgaben große Aufgabe des deutschen Volkes begreifen, wahr, die anderswo von Nationalstaaten erfüllt wer- den. Sie ist also mehr als eine zwischenstaatliche (Beifall bei der SPD) Einrichtung. Sie hat eigene Rechtsetzungsbefugnisse. nämlich nach der Einheit Deutschlands die Einheit Sie setzt Recht, das bei uns unmittelbar gilt. Sie hat Europas. damit Funktionen, die bei uns nach der Verfassungs- Wir alle haben ja gedacht, daß die Einheit unseres ordnung nur dem Souverän, nur dem Deutschen Vaterlandes erst in einem vereinten Europa erreicht Bundestag selber, zustehen. werden kann. Es ist anders gekommen. Die nationale Mit der in dem neuen Art. 23 vorgenommenen Einheit kam vor der europäischen. Darum ist es Klarstellung bewegen wir uns auf verfassungsrecht- notwendig, unseren Willen zu Europa als Staatsziel im lich sicherem Boden. Zugleich wird die Entwicklung Grundgesetz festzuschreiben. in die Zukunft hinein geöffnet. Das Grundgesetz wird (Beifall bei der SPD) es uns dann erlauben, eines Tages einen europäischen Bundesstaat zu begründen. Es ist ein deutliches Signal, von dem wir hoffen, daß es in Europa, bei unseren Nachbarn, und auch auf der Die vielleicht noch wichtigere Neuerung in Art. 23 anderen Seite des Atlantiks nicht übersehen wird. ist eine Struktursicherungsklausel. Sie besagt, daß wir nicht irgendein Europa wollen, sondern ein demo- In einer Zeit, in der nicht nur der Gedanke des kratisches, ein rechtsstaatliches, ein soziales, ein föde- Nationalstaates eine überraschende Renaissance ratives und dem Grundsatz der Subsidiarität ver- erlebt, sondern blanker, unverhüllter Nationalismus pflichtetes Europa. in Europa wieder um sich greift, sagt der deutsche Verfassungsgeber: Wir wollen nicht zurück in natio- Ich denke, daß das bisher schon Verfassungsrecht nalstaatlichen Egoismus und gar in nationalistischen ist, wie es sich durch Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Überschwang, sondern wir wollen unseren Platz in Art. 20 ergibt. Aber die Verfassungswirklichkeit war einer möglichst engen Vereinigung der Völker Euro- anders. Die bis jetzt geübte Praxis der Hoheitsübertra- pas finden. gungen durch einfaches Gesetz hat dazu geführt, daß zugleich mit den Kompetenzen auch Teile des unan- Dies ist auch eine Antwort auf die Frage, was wir tastbaren Kernbereichs des Grundgesetzes auf eine Deutsche nach der Einheit mit dem Gewinn der vollen Ebene entschwunden sind, auf der — um das wenigste Souveränität wirklich anfangen wollen. Wir wollen sie zu nennen — weder das Demokratiegebot noch das nicht im Bewußtsein wirklicher oder vermeintlicher Föderalismusgebot ausreichend beachtet werden. Stärke für eigensüchtige Interessen einsetzen, son- dern sie auf eine höhere, übernationale Ebene heben. (Peter Conradi [SPD]: Das ist jetzt in Maas- Wir wollen nicht als Muskelprotz über die Bühne der tricht festgeschrieben) Weltpolitik stampfen, sondern unsere Zukunft in der Die europäische Gesetzgebung ist nicht Sache des Gemeinschaft mit unseren Nachbarn gestalten. Europäischen Parlaments, sondern immer noch Sache (Beifall bei der SPD) des hinter verschlossenen Türen tagenden Minister- rats. Je mehr Kompetenzen dieses Europa erhält, ohne Nach den Erfahrungen, die wir in Europa gemacht daß gleichzeitig die Parlamentsrechte ausgeweitet haben, kann der Nationalstaat — noch viel weniger werden, um so größer wird der demokratiefreie der ordinäre Nationalismus — nicht mehr als die Raum. einzige Form der Selbstverwirklichung der Völker betrachtet werden. An dieser Stelle liegt ein entscheidender Mangel des Vertrages von Maastricht. Ich muß hier sagen: Nur (Beifall bei der SPD) mit äußerster Mühe ließe sich die Auffassung konstru- Der Nationalismus jedenfalls ist eine Krankheit, eine ieren, daß der Maastrichter Vertrag den Bedingungen Geißel der Völker. des neuen Art. 23 entspricht. Die europäische Perspektive war im Grundgesetz (Peter Conradi [SPD]: Hört! Hört!) bisher nur in der Präambel verankert. Sie wird jetzt deutlicher und für uns alle verpflichtend. Das neue — Das ist doch bekannt. — Das Dilemma besteht darin, daß wir einen bereits abgeschlossenen Vertrag Staatsziel verpflichtet uns auf die Europäische Union. Zugleich wird geregelt, daß auf diese Union Hoheits- nicht gut an den Bedingungen eines noch zu schaffen- rechte übertragen werden können. Damit wird eine den Grundgesetzartikels messen können. verfassungsrechtliche Zweideutigkeit geklärt. Die In diesem Fall müssen wir uns also — das allerdings bisherige Grundlage für die Übertragung von Ho- zum letztenmal — auf die einschlägige Rechtspre- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9349

Günter Verheugen chung des Bundesverfassungsgerichts, die soge- daß sie nur nach der deutschen Fasson selig werden nannte Solange-Rechtsprechung, stützen. Es hat ja dürfen? keinen Sinn, um unangenehme Tatbestände herum- Ich halte diese Sorge für unberechtigt. Der Stan- zureden. Weder der alte noch der neue Verfassungs- dard, den wir für die Europäische Union festschreiben text erhebt den Vertrag von Maastricht über den wollen, ist der Standard aller ihrer Mitgliedsländer. fundamentalen Einwand der Verletzung des Demo- Das gilt vielleicht mit der Ausnahme des Sozialstaats- kratiegebots. gebots, soweit Großbritannien betroffen ist. Die in (Beifall bei der SPD) ganz Europa angebrochene Diskussion über die Verfassungsrechtliche Grundlage der Ratifizierung Zukunft des europäischen Einigungsprozesses zeigt ja ist daher nicht der Text des Grundgesetzes, ganz deutlich, daß die Völker Europas keine europäi- sche Superstruktur wollen, die das in den einzelnen (Peter Conradi [SPD]: So ist es!) Staaten erreichte Maß an Demokratie und Rechts- sondern die bereits erwähnte Hilfestellung des Ver- staatlichkeit unterminierte. fassungsgerichts. Wem das zuwenig ist — ich kann Daher ist es von unserem Verfassungsverständnis jeden gut verstehen, der so empfindet —, dem muß ich her ganz unumgänglich, daß sich Europa daranmacht, sagen, daß es keine praktikable Möglichkeit gibt, das sich eine Verfassung zu geben. eingetretene Demokratiedefizit rückwirkend zu hei- (Beifall bei der SPD) len. Das gilt auch für den Vertrag von Maastricht. Die Struktursicherungsklausel entfaltet ihre Wirkung erst Das ist nicht nur eine politische Forderung meiner in die Zukunft hinein. Fraktion, sondern es ist auch eine verfassungsrechtli- che Forderung; denn die Struktursicherung ist nur Da die Problematik so wichtig und hier übrigens eine Hilfskonstruktion. Besser ist es allemal, wenn noch nie behandelt worden ist, will ich zumindest weitere Integrationsschritte auf der Grundlage einer noch erwähnen, was wir erwogen und schließlich europäischen Verfassung erfolgen. verworfen haben: Man könnte ja theoretisch Abhilfe schaffen, indem man im Grundgesetz eine Frist setzt, Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Ver- bis zu der die Europäische Union den Bedingungen heugen, lassen Sie noch eine Zwischenfrage zu? der Struktursicherungsklausel entsprechen muß. Was aber tun wir, wenn, wie jedenfalls nicht auszuschlie- ßen ist, diese Frist ohne den erwünschten Fortschritt Günter Verheugen (SPD): Bitte schön. verstreicht? Von Verfassungswegen müßten wir dann (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Danke aus der Europäischen Union ausscheiden, aber das ist schön!) kein gangbarer Weg. Deshalb sage ich: Es gibt keine — Herr Kollege Kittelmann, der Gedanke war gerade praktikable Lösung. abgeschlossen. Aber jede künftige Bundesregierung, die über die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu ver- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr. handeln hat, unterliegt stärkeren verfassungsrechtli- chen Zwängen als alle bisherigen Bundesregierun- Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Entschuldigen Sie, gen. Herr Bundeskanzler, ich halte das nicht für einen Herr Kollege, daß ich Sie unterbreche. — Verkennen Nachteil. Ich sehe darin auch keine Schwächung der Sie nicht, daß hinter dem, was Sie zu Recht beklagen, Verhandlungsposition künftiger Regierungen. Ihnen, nicht irgendeine falsche Auffassung in diesem Hause, Herr Bundeskanzler, braucht man ja keine taktischen sondern die Tatsache steht, daß in Europa gerade zu Ratschläge zu erteilen. Verstehen Sie das bitte auch diesem Punkt essentiell unterschiedliche Auffassun- nicht so. gen bestehen und daß das einzige, worauf man sich in (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P. Maastricht einigen konnte ist, daß eben diese Frage — Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Das höre offenbleibt? ich gern!) Günter Verheugen (SPD): Das verkenne ich über- Sie wissen ja, wie der Rückbezug auf die Verfassungs- haupt nicht. Deshalb habe ich ja gesagt: Die Struktur- lage zu Flause Verhandlungspositionen europäischer sicherungsklausel, auf die wir uns gemeinsam, mit Regierungen auch stärken kann. Zustimmung auch Ihrer Fraktion, bereits verständigt (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Ja!) haben, wirkt in die Zukunft hinein. Aber das bedeutet in der Tat, daß ein zweiter Vertrag von Maastricht Was wir hier machen wollen, ist also wirklich nicht als — das ist jedenfalls meine Rechtsauffassung bzw. etwas zu verstehen, was unsere Verhandlungsposi- mein Verfassungsverständnis —, wenn wir das am tion beim weiteren Einigungsprozeß schwächen soll; Ende in dieser Form beschließen sollten, von einer vielmehr wird es, richtig eingesetzt, eine Stärkung künftigen Bundesregierung nicht unterschrieben unserer deutschen Position sein. werden dürfte. Das bedeutet es in der Tat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, künftige Hoheitsüber- Es gab für uns keinen anderen Weg, als Sicherun- tragungen, die das Grundgesetz berühren, bedürfen gen für die Zukunft einzubauen. Man könnte einwen- einer Zweidrittelmehrheit. Das ist die weitere wich- den, daß diese Sicherungen die weitere Integration tige Bestimmung im neuen Art. 23. Das ist deshalb so erschweren. Man könnte sogar fragen: Wollen die sehr wichtig, weil wir bisher den Zustand haben, daß Deutschen jetzt den anderen Europäern vorschreiben, Hoheitsübertragungen nach Europa Auswirkungen 9350 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Günter Verheugen auf das Grundgesetz haben, ohne daß sie im Grund- diesen Grundgedanken der staatlichen Ordnung wie - gesetz erkennbar sind. Wir haben also eine Überlage- seinen Augapfel zu hüten. Wir haben dafür zu sorgen, rung des Grundgesetzes durch europäisches Recht. daß dieser Staat föderalistisch bleibt. Auch der neue Art. 23 enthält eine Freistellung vom (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Textänderungsgebot. Das ist sehr unbefriedigend; Zuruf von der SPD: Und handlungsfähig!) denn wir wollen ja eine Verfassung haben, die jeder . Es kann nicht sein, daß auf dem Wege von Hoheits- lesen kann und in der wirklich alles steht, was übertragungen nach Europa die Eigenstaatlichkeit Verfassungsrecht ist. Es geht aber nicht, weil sich der Bundesländer verschwindet. Anders als der Bund einfach nicht präzise vorhersagen läßt, wie nach verlieren die Länder ja nicht nur Kompetenzen; sie erfolgter Hoheitsübertragung die Anwendung der verlieren auch die Gestaltungsmöglichkeit der über- europäischen Kompetenz auf das Grundgesetz rück tragenen Kompetenzen, die der Bund ja durch sein wirkt. Mitwirkungsrecht als Mitgliedstaat der Europäischen (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Das ist Union in Brüssel behält. eben Europa!) Wir haben uns darum für eine Lösung entschieden, die den Ländern je nach dem Grad ihrer Betroffenheit Deshalb ist das mit der Freistellung vom Textände- sich steigernde Mitwirkungsrechte einräumt. rungsgebot notwendig gewesen. (Peter Conradi [SPD]: Den Landesregierun- Aber ich möchte hier sehr deutlich als gemeinsames gen, Herr Kollege! — Dr. Renate Hellwig Verständnis auch aller Berichterstatter der Verfas- [CDU/CSU]: Das ist das Problem: Lauter sungskommission klarstellen, daß sich diese Freistel- Bürokraten!) lung nur auf solche Fälle erstrecken kann, in denen sich die Auswirkung auf das Grundgesetz unmittelbar Dies ist kein Freibrief für die Durchsetzung isolierter nicht erschließt. Wo sie sich unmittelbar erschließt, Länderinteressen. — Lieber Peter Conradi, den Zwi- muß selbstverständlich der Text geändert werden. schenruf mit den Landesregierungen habe ich wohl Darum ändern wir auch Art. 28 und Art. 88 im Text. gehört. Ich wünschte mir, daß unsere Kolleginnen und Kollegen in den Landtagen die Diskussion, die wir (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf heute hier führen, auch führten und ihren Landesre- gang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ gierungen einmal klarmachten, daß es so nicht wei- NEN] ) tergehen kann, daß sie nämlich diese Politik betrei- Die Verfassungsdurchbrechung, die bisher durch ben, ohne daß die Länderparlamente einbezogen einfaches Gesetz möglich war, wird künftig nur mit sind. einer Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bun- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem desrat möglich sein. Ich halte das für einen wichtigen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fortschritt. Das können wir ihnen aber schlecht vorschreiben, Erstjetzt — mit voller Absicht erst jetzt — komme ich Peter; gesagt haben wir es ihnen aber. zu der Frage, die bisher die öffentliche Diskussion Ich möchte sagen, daß der kooperative Föderalis- beschäftigt hat, nämlich zur Frage der Mitwirkung mus eine neue Chance bekommt, sich zu bewähren. Dies stand der Länder an der europäischen Einigung. Die neuen Bestimmungen sind kein Freibrief für die im Vordergrund des Interesses, weil die Länder ihre Durchsetzung isolierter Länderinteressen. Wir wissen: Zustimmung zu dem Vertragswerk von einer befriedi- Es lohnt sich, Föderalismus auch in Europa zu bewah- genden Regelung ihrer Mitwirkungsrechte abhängig ren. Wir werden klug genug sein, keine Entwicklung gemacht hatten. eintreten zu lassen, in der die deutschen Europainter- Die ursprünglichen Länderforderungen hatten zu essen atomisiert werden. 17 deutsche Stimmen in der Sorge Anlaß gegeben, die Länder wollten für sich Brüssel wären nicht stärker, sondern schwächer als eine eigene europapolitische Kompetenz begründen eine deutsche Stimme. und damit die einheitliche Vertretung der deutschen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Interessen auf europäischer Ebene erschweren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Der jetzt erreichte Kompromiß gibt zu solcher Sorge neueno- Bundesratsrechte führen zu einem neuen Pr keinen Anlaß mehr. Vielmehr ist es so, daß sich die blem. Wenn diese Rechte im Grundgesetz festge- neuen Bestimmungen aus dem Föderalismusgebot schrieben werden, ist zu fragen: Was ist dann mit den des Grundgesetzes zwingend ergeben. Rechten des Bundestags? Ich kenne die Sorgen der fraktionsübergreifenden (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Sehr Gewerkschaft Außenpolitik, der ich selber angehöre, wahr!) ja gut. Deshalb muß ich meinen geschätzten Kollegin- nen und Kollegen hier sagen, daß die Bewahrung Wir sind in einer vergleichbaren Situation. Der hat im Zuge der europäischen Einigung unseres föderalistischen Staatsaufbaus nicht nur Bundestag Sache der Länder oder des Bundesrats ist; auch der schwere Kompetenzverluste erlitten, Deutsche Bundestag ist verpflichtet, (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Schwerere als die Länder!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann [BÜNDNIS 90/ wissentlich und willentlich. Auf der Gewinnerseite DIE GRÜNEN]) steht immer nur die Regierung, der die dem Bundes- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9351

Günter Verheugen tag verlorengegangenen Kompetenzen in Brüssel einer Fülle von Landesbeamten — allein noch keine zugewachsen sind. Garantie dafür sind, daß europäische Regelungen in - (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Solange wir Zukunft weniger kompliziert sind als heute? diese Regierung haben, ist es eine gute (Beifall der Abg. [Köln] [SPD]) Regierung! — Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Günter Verheugen (SPD): Ich kann dem unbedingt — Das gilt für die Vorgänger von Herrn Bundeskanz- zustimmen, Frau Kollegin, und genau aus diesem ler Kohl auch. Grunde bin ich dafür, daß wir uns in Zukunft stärker Das wäre leicht hinnehmbar, wenn die Rechte des einmischen. Europäischen Parlaments gewachsen wären. Aber da (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das nicht der Fall ist, haben wir eine bedrohliche DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Schlagseite, weil eben legislative Befugnisse auf die CDU/CSU) Exekutive übergegangen sind. Meine Damen und Herren, ich will nur noch auf den (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Art. 28 und das Kommunalwahlrecht für Ausländer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge hinweisen und hier an die Adresse der Union sagen, ordneten der F.D.P.) daß sie mit dieser Minimalposition vermutlich nicht Es ist unsere Sache, die Balance wiederherzustel- durchkommen wird. Auf Dauer hält sich das nicht. len. Zum Art. 88 — Bundesbank — ist bereits gespro- Wenn der Bundestag seinen Einfluß in der prakti- chen worden. Hierzu nur noch ein Hinweis: Wir schen Europapolitik durchsetzen will, kann er das. können natürlich nicht akzeptieren, daß diese Verfas- Grundlinien zwischen den Fraktionen zeichnen sich sungsänderung in Kraft tritt, solange wir nicht wissen, ab. Ich gehe davon aus, daß wir diese Bundestags- ob der Maastricht-Vertrag wirklich in Kraft tritt. Wenn rechte im Grundgesetz verankern werden. er obsolet werden sollte, dann kann diese Grundge- setzbestimmung nicht in Kraft treten. Wir werden (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) keine Verfassungslage schaffen, bei der im Falle des Wir brauchen das nicht so ausführlich zu tun, wie das Scheiterns des Unionsvertrages irgendwann später bei den Länderrechten der Fall ist, weil wir nicht so die Befugnisse der Bundesbank durch einfachgesetz- abstufen müssen; aber die Rechte müssen so formu- liche Regelung doch auf eine europäische Zentral- liert sein, daß die Entscheidungsprozesse in Brüssel bank übertragen werden können. von uns auch tatsächlich beeinflußt werden können. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Keine Verfassungsänderung auf Vorrat! Das werden Der jetzige Zustand, daß wir Brüsseler Entscheidun- wir in den Ausschußberatungen regeln müssen. gen praktisch nur post festum noch zur Kenntnis Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe nehmen dürfen, ist einer Volksvertretung, die diesen versucht, aufzuzeigen, daß der Unionsvertrag eine Namen verdient, unwürdig. Gelegenheit bietet, eine ganze Reihe verfassungs- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der rechtlicher und verfassungspolitischer Fragen von F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ wirklich großer Tragweite zu diskutieren. Mit den NEN) neuen Bestimmungen machen wir uns voll und ganz europafähig. Einen Idealzustand erreichen wir nicht. Ich freue mich über Ihren Beifall, aber ich muß mich Wir tun das Mögliche und das Nötige, und ich finde es jetzt an die Parlamentsmehrheit wenden, weil zwi- gut, daß wir nach außen und nach innen dokumentie- schen Verfassung und Verfassungswirklichkeit ja ren, daß wir das gemeinsam tun wollen. manchmal ein kleiner Unterschied besteht. — Ob das, was wir da machen wollen, eine Wirksamkeit entfal- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem tet, meine Damen und Herren, hängt vom Willen der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Parlamentsmehrheit ab. Wenn Sie die Kontrollrechte und Mitwirkungsrechte, die wir einführen wollen, Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und nicht annehmen, wenn Sie sie nicht ausüben, dann Herren, gestatten Sie mir zum Fortgang der Debatte nützt es nichts. Dazu muß das Parlament insgesamt noch eine kurze Anmerkung. Es folgen jetzt noch vier entschlossen sein. Ich bitte Sie darum, rufe Sie dazu kurze Reden von Mitgliedern des Bundestags. Es ist auf, mit uns gemeinsam diese Rechte, die wir uns keinesfalls so, daß der Bundesrat nicht zu Wort geben wollen, auch wirklich auszuüben. kommt. Er wird sich anschließend in einer hier in (Abg. Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU] meldet diesem I lause vereinbarten Runde dazu melden. sich zu einer Zwischenfrage) Nun erteile ich das Wort unserem Kollegen Dr. Hel- — Bitte schön. mut Haussmann.

(F.D.P.): Verehrter Herr Frau Kollegin Dr. Helmut Haussmann Vizepräsident Helmuth Becker: Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Dr. Hellwig, eine Zwischenfrage. Bitte! möchte für die Freien Demokraten sagen, daß ich mich in der europapolitischen Überzeugung, die Herr Kin- Dr. Renate Hellwig (CDU/CSU): Herr Kollege Ver- kel und Herr Waigel hier geäußert haben, sehr gut heugen, können Sie meine Meinung teilen, daß mehr wiedergefunden habe. Mitwirkungsrechte des Bundesrats — auf deutsch: (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) 9352 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Helmut Haussmann Ich will auch sagen, daß die F.D.P. auf ihrem Die Länder bereiten sich heute unter Vertrauen auf Bundesparteitag in Bremen ein ganz klares Bekennt- die Deutschen auf die Stabilitätsgemeinschaft vor.- nis zu den Maastrichter Verträgen abgegeben hat. Ich Deshalb können die Deutschen sich nicht am Ende will heute sagen, daß diese Maastrichter Verträge aus diesen Ausweg offenlassen. meiner Sicht ökonomisch für uns die wichtigste (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Reform nach Einführung der Sozialen Marktwirtschaft sind. Jedem Bürger ist auch klar: Entweder gibt es bis (Beifall bei der F.D.P.) dahin im Herzen Europas eine stabile D-Mark und damit auch die Voraussetzungen für den Zwang zur Deshalb sollten wir heute nicht die Bedenken überbe- Stabilität im Kern Europas, oder es gibt eine inflatio- tonen, sondern wir sollten vor der Bevölkerung wer- nierte D-Mark, aber dann gibt es auch eine inflatio- ben und deutlich machen, was für diese großartige nierte europäische Währung. Chance für uns in Europa spricht, meine Damen und Herren. (Anke Fuchs [SPD]: Und wie ist es mit der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Verschuldung? — Dr. Renate Hellwig [CDU/ CSU]: Wir sind die Größten!) Lassen Sie mich auch ganz klar sagen: Wir haben derzeit nicht das Recht, uns in Europa als Stabilitäts- — Meine Damen und Herren, die mittelfristige apostel aufzuspielen. Nur zwei Regierungen erfüllen Finanzplanung stellt eindeutig die Weichen, daß wir im Moment die Kriterien. Die Bundesrepublik liegt im 1996 die Stabilitätskriterien in der Tat erfüllen. Mittelfeld. Jeder Kollege ist zunächst an der Heimat- Insofern sage ich: „Befassung" bedeutet aus Sicht front gefordert, die Stabilitätsvoraussetzungen zu der F.D.P. Mitentscheidung des Parlaments darüber, schaffen, damit wir überhaupt in den Club der Stabi- daß die von uns ernstgenommenen Kriterien erfüllt litätsländer kommen. sind. Jede Regierung wäre verrückt, die sich anders (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) als der Bundestag oder der Bundesrat verhalten würde. Lassen Sie mich zweitens sagen: Die Sozialdemo- kraten sind die schlechtesten Ratgeber in Sachen (Beifall bei der F.D.P.) Stabilität. Man muß sich nur die Länderhaushalte im Das bedeutet auch, daß diese klaren Stabilitätskrite- Saarland, in Nordrhein-Westfalen oder sonstwo rien politisch keinen Interpretationsspielraum bieten. anschauen. Ich wünsche mir — das setze ich hinzu, und dann (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Das mußte stimme ich aus Überzeugung zu —, daß die Europäi- einmal sein! — Unruhe bei der SPD) sche Währungsbank in Frankfurt am Main sein wird, Insofern bedürfen wir keinerlei Ratschläge von seiten dort, wo die Stabilität zu Hause ist, dort, wo die Bürger der Sozialdemokraten. Vertrauen haben. Ich finde, die Sozialdemokraten haben bei dieser Frage einen Nachholbedarf. Wäh- (Wolfgang Roth [SPD]: Es war so eine schöne rend sich Frau Wieczorek aus dem hessischen Bereich Rede!) für Frankfurt am Main einsetzt, setzt sich Frau Mat- Meine Damen und Herren, ich habe manchmal den thäus-Maier für Deutschland (Bonn) ein. Wir werden Eindruck, manche Deutschen versagen vor ihrer Ver- den Kampf um den Sitz verlieren, wenn wir zwei antwortung. Ich erinnere mich an meine Zeit als Standorte anbieten. Bonn hat leider nicht die Voraus- Wirtschaftsminister und an die leidenschaftliche Dis- setzungen für eine Europäische Zentralbank. Insofern kussion innerhalb der Koalition, mit den Sozialdemo- müssen wir uns auf Frankfurt am Main eindeutig kraten, innerhalb des Bundeskabinetts, in Gesprä- konzentrieren. chen mit der Deutschen Bundesbank. Ich will offen (Beifall bei der F.D.P. — sagen: Viele von uns hätten nicht gedacht, daß die von [F.D.P.]: Das ist weniger überzeugend, was den Deutschen entwickelten Stabilitätskriterien von Sie hierzu vortragen!) elf anderen Ländern unterschrieben werden. Meine Damen und Herren, ich will wirtschaftshisto- (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Sehr risch an die Erfolgsgeschichte des europäischen Bin- wahr!) nenmarkts erinnern. Das bedeutet auch für die Wirt- Jetzt sind sie unterschrieben, und jetzt haben die schafts- und Währungsunion: Man muß zunächst eine Deutschen Angst vor der eigenen Courage. Vision entwickeln, und man muß diese Vision mit (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — einem konkreten Zeitpunkt verbinden und sich daran Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Vor allen Din halten. gen die Sozis!) (Beifall bei der F.D.P.) Das ist nicht in Ordnung. Man muß auch ganz klar den nationalistischen Popu- listen und den Provinzlern mutig entgegentreten. Drittens will ich sagen: Wir sind nicht für eine Daran mangelt es heute nicht nur in der Politik, Automatik, was die dritte Stufe angeht, aber wir sind sondern auch bei den Unternehmern, bei der Wissen- auch ganz klar gegen eine erneute politische Bewer- schaft und bei den Publizisten. tung, wie das die Sozialdemokraten formuliert haben. Wir sind gegen einen Ausstieg im Sinne des Opting- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — out, und wir sind auch gegen eine zweite Ratifizie- Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Besonders bei rung. den Publizisten!) (Karl Lamers [CDU/CSU]: Das geht doch gar Nur zu gern greifen Landespolitiker in Bayern und nicht!) anderswo, Euro-Bürokraten, die früher in Brüssel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9353

Dr. Helmut Haussmann lange arbeiten konnten, Wirtschaftsjournalisten von kein, obgleich das vielleicht genau die Voraussetzung angesehenen Zeitungen und deutsch-nationale Publi- wäre, um tatsächlich Europa in den Herzen zu veran- - zisten in wichtigen Organen in Hamburg die vorhan- kern. Statt dessen gibt es eine ganze Menge Herz- denen Ängste auf und verstärken sie damit, anstatt sie schmerz, wenn man an das Europa à la Maastricht in der Tat auszuräumen. denkt. Es ist ganz einfach, heute gegen Europa zu argu- Wir sind, was unser Gesetzentwurf für einen Volks- mentieren. Die Menschen in unserem Lande sind entscheid beweist, sehr dafür, die Europäische wegen der vielen Anpassungen durch die deutsche Gemeinschaft den Bürgern nahezubringen. Dazu ist Einheit und die Wirtschafts- und Währungsunion in viel Aufklärung nötig, möglichst auch von solch unab- Deutschland überfordert. Ihnen muß klarwerden, daß hängigen Institutionen, die frei von Verhandlungs- das alles nur Sinn macht — Frau Hellwig, es ist so, wie druck einen nüchternen Blick auf den Vertrag werfen Sie es gesagt haben —, wenn wir letztlich das Ganze können. Ein solch nüchterner Blick fehlt allerdings nach Europa einbringen. auffällig, wenn man dann in dieser eingangs erwähn- (Zuruf des Abg. Georg Gallus [F.D.P.]) ten kleinen Broschüre weiterblättert. Meine Damen und Herren, wir werden in Japan nur Ich komme zu einem ganz bestimmten Aspekt des ernstgenommen — das sage ich auch immer meinem Vertrages, nämlich der gemeinsamen Außen- und Freund und Kollegen Graf Lambsdorff, der gerne in Sicherheitspolitik. Da wird als wesentliche Neuerung Washington und in Tokio große Reden zur Weltwirt- die Verfahrensform der gemeinsamen Aktion er- schaft hält —, wenn dort nicht zwölf Nationalstaaten wähnt, die in Bereichen durchgeführt werden soll, in mit zwölf nationalen Währungen sprechen, sondern denen wichtige Interessen der Mitgliedstaaten beste- wenn dort eine Europäische Gemeinschaft spricht. hen. Dann geht es drei Zeilen unten so weiter: (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD — Dr. Renate Hell Damit kann die Union in der Welt eine Rolle wig [SPD]: Sehr wahr! — Wolfgang Roth übernehmen, die ihrem politischen, wirtschaftli- chen und moralischen Gewicht entspricht. Sie [SPD]: Sehr gut!) wird besser in der Lage sein, Krisen vorbeugend Zum Binnenmarkt wäre es nie gekommen, wenn sich zu begegnen, aktiv auf Ereignisse in der Welt die Bedenkenträger durchgesetzt hätten, Einfluß zu nehmen und sich nicht auf Reaktionen (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) zu beschränken. wenn man mit tausend Vorbehalten gearbeitet und Einmal abgesehen davon, daß eine ehrliche Erläu- wenn man ständig zeitliche Verschiebungen ange- terung darin bestünde, klipp und klar zu sagen, kündigt hätte. welche Rolle das denn sein soll, und zwar nicht durch Nehmen wir also den europäischen Geist auf, und wohlklingende Sprechblasen, würde ich gerne einmal stimmen wir diesen Maastrichter Verträgen zu! ganz konkret wissen, was das „moralische Gewicht (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und bei Europas" ganz genau ist, welcher Einfluß diesem Abgeordneten der SPD) entspricht, Einfluß auf was, Einfluß mit welchen Mit- teln? Wie sieht es bisher mit der Moral gegenüber der sogenannten Dritten Welt aus, und ist das Verhältnis Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und zur sogenannten Dritten Welt das künftige Kriterium Herren, nächste Rednerin ist jetzt unsere Frau Kolle- für das moralische Gewicht Europas? gin Andrea Lederer. Ich komme noch auf eine andere Bemerkung — ich konnte leider die Debatte heute morgen nicht verfol- Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! gen, weil ich in einem Ausschuß war —, nämlich auf Meine Damen und Herren! die These, der Vertrag von Maast richt verhindere den Aufbau einer europäischen Streitmacht. Genau das (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Jetzt einmal stimmt nicht. Es stimmt zwar, daß in diesem Vertrag etwas ganz anderes, als wir erwarten!) noch nicht allzuviel Konkretes steht, dennoch ist es — Sie werden sich wundern. nur die halbe Wahrheit. Zitat: Im Rahmen der WEU nämlich, die ja integraler Europa kann nur entstehen, wenn es nicht nur in Bestandteil der Europäischen Union sein soll, ist schon Verträgen, sondern auch in den Herzen seiner viel mehr beschlossen worden. Dies freilich unter dem Bürger verankert ist. Daher müssen wir unsere Vorbehalt der jeweiligen Verfassung. Hierzulande Gemeinschaft den Bürgern nahebringen. unterliegt diese Verfassung aber einer intensiven So beginnt das Geleitwort von Außenminister Kinkel Bearbeitung, damit eben auch militärisch künftig in einer kleinen Broschüre „Fragen und Antworten mehr möglich ist. zum Vertrag von Maas tricht" . Also müßte ein wirkliches Nahebringen bedeuten, Jetzt kommt das ganz andere, Herr Kittelmann: Ich das, was in dem Vertrag von Maastricht steht, auch kann ihm ausnahmsweise einmal zustimmen. Über- unter Berücksichtigung der nationalen gesetzlichen haupt hätte ich eigentlich große Lust, heute hier Veränderungen zu erläutern. Erst dann können näm- einmal eine äußerst versöhnliche Rede zu halten. Das lich die Bürgerinnen und Bürger genau wissen, ob der Problem ist nur, daß die Bundesregierung es einfach Vertrag tatsächlich den Grundstein zu sozialer Sicher- so ungemein schwermacht, z. B. so etwas wie einen heit, zu friedlicher Entwicklung, zu einem Europa der europäischen Traum überhaupt im Ansatz zu entwik- Völkerverständigung und des wirtschaftlichen Aus- 9354 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Andrea Lederer gleichs legt, um nur einmal einige Eckpfeiler meiner dige Analogie zum deutschen Vereinigungsprozeß: Europaträume zu nennen. Wer nach dem 9. November 1989 noch über Ja oder Ich habe leider nur eine sehr kurze Redezeit. Ich Nein zur Einheit debattierte, der redete wirklich vom möchte aber noch über folgendes informieren: Ich Wetter, als alle Welt von Deutschland redete. Das darf habe in der letzten Zeit an vielen europapolitischen im Blick auf Maastricht nicht erneut passieren. Aber Diskussionen im Ausland teilgenommen. Aus diesem eben deswegen gilt es, entschlossen über Maastricht Grund wundert es mich, daß gestern gemeldet wurde, hinaus zu denken und dann über Maast richt hinaus- daß sich Bundesaußenminister Kinkel in Moskau zugehen. Ist doch der Text von Maas tricht weiter überrascht gezeigt habe, daß Hauptthema seiner nichts als ein Aufgabenkatalog, zu dem die Lösungs- Gespräche die rassistischen und rechtsextremisti- varianten erst noch gefunden werden müssen. Den- schen Ausschreitungen in der Bundesrepublik noch enthält dieser äußerst vorläufige Text drei Deutschland waren. Mich wundert, daß ihn dies Grundentscheidungen von kategorialer Bedeutung: wundert. die für eine Europäische Union, für eine Währungs- union als entscheidenden Schritt zur politischen Ich werde im Ausland ununterbrochen darauf ange- Union und für eine Verfassung, in der alle Entschei- sprochen; dies vor allem deshalb, weil sich die Bun- dungen, wie der Text sagt, in größtmöglicher Nähe desrepublik Deutschland als eine Art Modellmotor für zum Bürger getroffen werden müssen. die europäische Entwicklung darstellt, aber auf der anderen Seite in diesem Bereich Zustände bestehen, Die Union der Völker Europas — sie ist das Pro- die absolut nur — auch was den gesamten europäi- gramm, zu dem es keine Alternative gibt; es sei denn schen Prozeß anbelangt — Bedenken auslösen kön- die Panikmache des Nationalismus, die terroristischen nen. Drohgebärden eines Wahnwitzes, der uns antreibt, im Ich nenne Ihnen ein konkretes Beispiel: Das Kreis herumzulaufen wie jene Unsäglichen, die Abkommen mit Rumänien zur Abschiebung von unlängst auf der Wilsdruffer Straße in Dresden den Roma und Sinti, die hier auf schärfste Weise diesen Hitlergruß wiederbelebten, wenige Meter von den Übergriffen und Ang riffen ausgesetzt sind und die in Trümmern der Frauenkirche entfernt, den schaurigen Rumänien Pogromen ausgesetzt sind, ist ein Beispiel Überbleibseln des gleichen Wahnes zwei Generatio- dafür, wie es nicht sein darf. Leider legt der Vertrag nen früher, der nicht nur dieses Denkmal Europas an von Maastricht, in dem auch noch lobend erwähnt der Elbe in ein Flammenmeer verwandelt hat. wird, daß er in seinen innenpolitischen Regelungen Wir taumeln zurück in die ewige Wiederkehr des über das Schengener Abkommen hinausgeht, genau gleichen Wahnes, wenn wir jetzt nicht die gemein- den Grundstein für alles andere als für eine Völker- same politische Anstrengung unternehmen, uns verständigung. Er legt den Grundstein für eine daran zu erinnern, daß Europa nicht ein Kontinent, Festung Europa. sondern immer ein Konzept gewesen ist, aus Völker- All das müßte Gegenstand einer großangelegten wanderungen und Völkerkriegen zu einer Friedens- Aufklärungskampagne sein. All das müßte denen verfassung zu finden. Gelegenheit geben, die tatsächlich im Kontext dar- über aufklären wollen. Deshalb bitte ich erneut Darum hat Europa immer eine Verfassung gehabt; darum, tatsächlich auf die Frage einzugehen, inwie- zuerst die des vorchristlichen Imperium Romanum, weit die Absicht besteht, auch die deutsche Bevölke- die am Limes endete, dann die des christlichen Römi- rung zu diesen Angelegenheiten zu fragen. Dabei schen Reiches, die Europa vom alten und vom neuen weise ich noch einmal darauf hin: Uns geht es darum, Rom aus in eine westliche und eine östliche Hälfte für eine europäische Union zu werben, die den von mir teilte, indem sie alle vorhandenen Heere einer genannten Eckpfeilern einigermaßen entspricht bzw. gemeinsamen kaiserlichen Befehlsgewalt unter- die den Grundstein für eine solche Entwicklung legt. stellte. Uns geht es aber auch darum, eine Mitentscheidung Als es diese Befehlsgewalt seit dem 17. Jahrhun- über die Frage des Wie herbeizuführen, d. h. eine derts nach dem Ende des 30jährigen Krieges nicht vertragliche Regelung, die nicht kontraproduktiv mehr gab, entstand jenes System der großen Mächte, wäre im Sinne eines tatsächlich demokratischen und die zwar gegeneinander Kriege führten, diese Kriege sozial gerechteren Europas, das vor allem auch den aber gleichzeitig begrenzen konnten, indem sie sich Ausgleich mit dem Rest der Welt sucht. der allseits anerkannten Autorität des europäischen Danke. Völkerrechts unterstellten. (Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem Erst als die von Österreich und Deutschland entfes- Abg. Dr. Ulrich Briefs [fraktionslos]) selten Weltkriege 1 und 2 dieses System und sein internationales Recht für immer liquidierten, entstand Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und jenes Interregnum, jene Verfassungslosigkeit, die, Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Wolf- durch die abermalige Zweiteilung Europas in die gang Ullmann. beiden Systemhemisphären verdeckt, so uns heute in ein weit gefährlicheres Völker- und Kulturchaos zu stürzen droht, als es die spätantike und frühmittelal- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Wolfgang Ullmann terliche Völkerwanderung auch in ihren düstersten NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wo Abschnitten je gewesen ist. es um die Demokratisierung Europas einschließlich Osteuropas geht und um die Europäisierung der Kein Zweifel — Maas tricht ist der Kern einer neuen Demokratie bis nach Osteuropa, dort führt kein Weg Friedensverfassung Europas, und es ist dies, gerade an Maastricht vorbei. Hierin besteht eine offenkun- weil dieser Kern sich aus wirtschaftlichen Einheiten, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9355

Dr. Wolfgang Ullmann der Montanunion und der Europäischen Wirtschafts- Maastricht in den Kernbereich gemeinsamen europäi- gemeinschaft, entwickelt hat. Wer das als ökonomi- schen Handelns zu verlegen, schen Materialismus denunzieren möchte, der sei (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, daran erinnert, daß die deutsche Einheit unter dem der SPD sowie der Abg. Petra Bläss [PDS/- gleichen Druck entstanden ist, jenem Druck, der, von Linke Liste]) der Atlantikküste bis Moskau wirksam, 1989 schließ- lich ein Ende des anachronistischen Versuchs damit Arbeitsmarkt, Wohnungsbau und Städtepla- erzwang, in Mittel- und Osteueropa eine Exklave nung aus ihrer barbarischen Chaotik zu einer huma- nen Form der lokalen und kommunalen Selbstorgani- veralteter Wirtschaftss trukturen mit immer realitäts- ferneren Maßnahmen am Leben zu erhalten. sation übergehen können. Das freilich setzt voraus, daß das Konzept der Seit Tschernobyl wissen wir, daß es auf unserem Regionen im Maastrichter Vertrag soweit konkreti- Planeten nur eine einzige Ökonomie gibt, weil unser siert wird, daß nicht nur Stimmenzahl und Verhältnis Leben auf einer einzigen Physik und einer einzigen im Regionalausschuß festliegen, sondern auch dessen Chemie beruht. Wer das nicht wahrhaben will, wird Beziehung zu den großen Nationalstaaten im Westen eine Politik betreiben, die zu nichts anderem fähig ist, und im Osten Europas, zum Föderalismus der deut- als diese eine gemeinsame Physik und Chemie der schen Länder — Herr Verheugen hat darüber gespro- gemeinsamen Grundlage unseres Leben durch immer chen —, aber auch zur gesamteuropäischen Ebene, neue Tschernobyls zu verwüsten. sowie das Verhältnis der Ebene und ihre Kompeten- zen klar sind. Das sei zuallererst denen ins Stammbuch geschrie- Der Begriff der Subsidiarität wird sich dabei als ein ben, die mit ihren Faseleien vom „Esperantogeld" untaugliches Instrument zur Abwehr der vielerorts und ihren Stammtischphantasien über die Errichtung gefürchteten Bürokratisierung und Hierachisierung eines neuen Limes mittels der Abschaffung des Europas erweisen. Hier gilt es, in Kraft zu setzen, was Grundrechts auf Asyl deutlich zu erkennen geben, die Maastrichter Urkunde über die Europäische Union wes Geistes Kind sie sind. Unlängst hat mir ein als eine Verfassung sagt, die zu dem Zweck errichtet Taxifahrer den Sinngehalt des Satzes „Deutschland wird, daß alle politischen Entscheidungen so bürger- den Deutschen" mit Beispielen aus der Hundezucht nah wie möglich getroffen werden. Hier erwarten wir erläutert. Dahin muß es kommen, wenn eine regie- alles vom Europäischen Parlament, rende Partei der Bundesrepublik Deutschland eine Debatte über die laut Grundgesetz unveräußerlichen (Peter Conradi [SPD]: Ach!) Menschenrechte entfesselt, deren Niveau und Ten- das baldmöglichst die allein ihm zustehende Initiative denzen von der gesamten internationalen Öffentlich- dazu ergreifen sollte, eine Verfassung zu erarbeiten, keit mit wachsendem Befremden verfolgt werden. deren Aufgabe nicht mehr die der Staatsorganisation, sondern der Kern der Verbindung von Menschen- und Nichts charakterisiert die in dieser unverantwortli- Bürgerrechten mit einer Sozialcharta ist, die den chen Debatte grassierende politische Dummheit mehr Selbstorganisationsmöglichkeiten unserer Gesell- als jene Rede vom „Esperantogeld", als ob die globale schaft entspricht. Kommunikation, auf der unser gesellschaftlicher All- Eine solche Verfassung würde für immer sicherstel- tag beruht, Esperanto und nicht vielmehr die Präzi- len, daß die Europäische Union eine politische Union sionssprache der modernen Mathematik wäre, auf der nicht von Staaten, sondern von Völkern und damit sowohl das Funktionieren der Computer wie die eine neue Stufe der Demokratie ist. exponiertesten Diskurse heutiger Grundlangenfor- schung beruhen. (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der Weil bestimmte Dichter und Denker des heutigen CDU/CSU) Deutschlands sich kein anderes nationales Identitäts- symbol mehr vorstellen können als das liebe Geld, sind sie nicht in der Lage, sich klarzumachen, daß die Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Währungsreform von 1948 nur der halbe Schritt in Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Christian eine europäische Friedenswirtschaft war. Auch durch Schmidt das Wort. die Einbeziehung der östlichen Länder Deutschlands am 1. Juli 1990 ist aus diesem halben Schritt noch kein Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Präsi- ganzer geworden. dent! Meine Damen und Herren! Fried rich Dürren- matt hat einmal geschrieben: „Eine Geschichte ist erst Erst der Grenzübergang zur einheitlichen europäi- dann zu Ende gedacht, wenn ihre schlechtestmögli- auf den wir zugehen wollen, wird schen Währung, che Wendung bedacht ist." Die Neinsager zur Euro- endlich der ganze Schritt sein, der die Zeit der päischen Union haben in diesem Sinne die Geschichte nationalen Kriegs- und Planwirtschaften für immer nicht zu Ende gedacht. Die schlechtestmögliche Wen- verabschiedet und das Fundament für eine europäi- dung für uns alle in Europa wäre die Ablehnung von sche Friedensökonomie vollendet. Maastricht und ihre Folgen. (Beifall bei der SPD) Dabei versuchen manche, dies mit einer ziemlich nichtssagenden Floskel zu übergehen: Für Europa Allein auf diesem Fundament werden wir die Stand- seien sie schon, sagen sie, aber nicht für das Europa festigkeit erlangen, die es erlaubt, die Sozialpolitik von Maastricht. Was soll das heißen? — Für mich der Europäischen Union aus dem Zusatzprotokoll von klingt das ein wenig wie ein politisches Radio Eriwan: 9356 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Christian Schmidt (Fürth) „Im Prinzip ja; wenn es dann an die Details geht, anderes als eine Ausformung der Grundentscheidung wollen wir nichts mehr davon wissen." Die Details für das vereinigte Europa. - werden aber immer den eigentlichen Charakter einer Was führt aber zu der großen Zurückhaltung, zu Gemeinschaft ausmachen — wie in einer Ehe: Im dem, was wir in Bonn technokratisch mit „Maas tricht" Alltag muß sich die Liebe bewähren. Deswegen kann bezeichnen? Kaum einer hat den Vertrag wirklich man sich auch nicht bei jedem kleinen Detail, das gelesen, außer denen, die das tun müssen. Zugegebe- nicht ganz nach des eigenen Geistes Strickmuster ist, nermaßen ist er auch nicht sehr lesegängig formuliert. aus dem Staube machen. Es kommt aber darauf an, daß die großen Linien noch Dies gilt um so mehr für das Zusammenleben von einmal nachgezeichnet werden und daß wir auch Staaten. Was bedeutete denn ein Nein? Unsere wirt- unsere Versäumnisse in der politischen Diskussion schaftliche Entwicklung erhielte einen ziemlichen einräumen. Schlag, der Weg zu einer europäischen Außen- und Wir haben versäumt, immerwährend zu wiederho- Sicherheitspolitik, in der die Union gemeinsam han- len, daß wir als Deutsche den europäischen Zusam- delt, müßte für dieses Jahrtausend und weit darüber menschluß brauchen, um die Kräfte zu sammeln, die hinaus ein Traum bleiben. Die Geschehnisse, die wir wir für die Erhaltung des Wohlstandes in Westeuropa in Jugoslawien beklagen, könnten von uns in keiner und für die Sanierung Osteuropas dringend brauchen. Weise beeinflußt werden. Dies ist in dieser Debatte erfreulicherweise mehrfach Es wäre nicht in erster Linie eine Niederlage der angesprochen worden. Regierungen oder der Politiker. Politiker müssen mit Dagegen haben wir Mißverständnisse entstehen Niederlagen leben; lassen. Leider hat das Wort von der „Unwiderruflich- (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das keit" bei vielen unserer Bürger einen falschen, stimmt!) gefährlichen Klang erhalten. Das Wort wird so ver- standen, als ob wir hilf- und steuerlos den übrigen das ist das Spiel der Demokratie. Vielmehr wäre es die Staaten Europas ausgeliefert seien und gemeinsam Niederlage der gemeinsamen europäischen Zukunft, — ohne ins Steuerrad greifen zu können — auf das die uns geschmerzt hätte. Jahr 1996, auf 1998 oder auf andere Daten zusteuer- (Beifall bei der CDU/CSU) ten. Ich meine, wir sollten deswegen in diesem Zusammenhang das Wort „unwiderruflich" nicht Wer sagt, Europa könne diesen Stillstand verkraf- mehr gebrauchen; denn unwiderruflich ist an der ten, und irgendwie würde es schon weiter gehen, Wirtschafts- und Währungsunion nur der Stabilitäts- wenn man Maastricht ablehne, spricht ohne grundsatz. Und der trägt uns zu ihrer Durchfüh- geschichtliche und politische Grundlage. Europa rung. wäre dabei — wie es Professor Walter von der Deut- schen Bank formuliert hat —, seine historische Chance Der Bundeskanzler hat es sich zur Aufgabe auf Integration, auf dauerhafte Überwindung von gemacht, die Rückübertragung von Kompetenzen nationalen Gegensätzen ebenso zu verspielen wie — von Europa weg hin zum Nationalstaat und Bun- seine Anziehungskraft für das im Aufbruch befindli- desland — zu befördern. Dies ist eine sehr wichtige che Zentral- und Osteuropa und seine Rolle als dritter Aufgabe; denn die Verordnungswut, die angepran- Pfeiler der Triade USA, Japan und Europa wegzuwer- gert wird, ist Tatsache. Sie muß bekämpft werden, fen. aber übrigens nicht nur in Brüssel, sondern auch bei uns. Wer weiß denn schon, daß die vielzitierte „Richt- (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ge linie über die Größe von Traktorensitzen", mit der die nauso ist es!) EG-Kommission bzw. deren Beamte gerne zum Noch ein Wort zur Frage eines möglichen Referen- Gespött gemacht werden, auf einer deutschen Vor- dums bei uns. Ich bin nach wie vor der festen Über- schrift beruht! zeugung, daß die gegenwärtig leider — trotz der (Zuruf von der SPD: So ist es!) Verfassungsdiskussion — etwas in den Hintergrund geratenen Lehren der Weimarer Zeit auch für uns Ich habe noch keinen gehört, der sich gegen DIN heute noch deutlich genug sein sollten, mit kurzfristi- Normen gewendet hat; denn wir wissen, welchen gen Experimenten sehr vorsichtig zu sein. Segen DIN-Normen für eine exportorientierte Wirt- schaft darstellen. Deswegen müssen wir sine ira et Denjenigen, die uns vorwerfen, wir hätten Angst vor studio überprüfen, ob wir — erstens — alle Vorschrif- dem Ergebnis einer Volksabstimmung, sage ich: Ich ten brauchen und — zweitens — was passiert, wenn könnte mir eine ganze Reihe von Volksabstimmungen wir die Vorschrift abschaffen. Solch eine „Durchfor- vorstellen, bei denen ich mir sicher wäre, die Unter- stungskommission", die ihre Arbeit sehr bald aufneh- stützung der Bevölkerung schneller als in diesem men muß Deutschen Bundestag zu erhalten. Ich denke nur daran, was zum Thema des Art. 16 GG bei einer (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr Volksabstimmung zu debattieren wäre. Darum geht gut!) es aber nicht. und nicht nur aus Brüsseler Beamten bestehen darf, Wenn es darum gehen sollte, eine Entscheidung für (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Auch oder gegen Europa festzulegen, so empfehle ich das ist richtig!) zuerst die Lektüre der Präambel des Grundgesetzes, muß dann die Spreu vom Weizen trennen. in der schon seit 1949 die Grundentscheidung für das vereinte Europa getroffen ist. Maastricht ist nichts (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9357

Christian Schmidt (Fürth) Was sind unsere Grundsätze für Europa? Erstens Beteiligung aller Mitgliedstaaten verabschiedet wor- wollen wir Stabilität in Europa. Nur daran ist die den. Wirtschafts- und Währungsunion zu messen. Sie wird (Peter Conradi [SPD]: So ist es, das wollte ich oberste Richtschnur sein. Sie wird auch bei unserer hören! — Zuruf von der CDU/CSU: Alle sind Überprüfung 1996, ob Europa reif ist für den Eintritt in schuldig!) die dritte Stufe, Richtschnur sein. Dann muß sich auch der Bundestag noch einmal mit dieser Frage ausein- — Wenn Sie meiner Rede genau zugehört haben andersetzen und sich an der Beurteilung der Stabili- — davon gehe ich aus, Herr Conradi —, dann haben tätskriterien beteiligen. Sie sicherlich vernommen, daß ich mich in dieser Frage auch an unsere nationale Adresse gewendet Ich sage es noch einmal klar: Wir wollen kein habe. Ich bin mir durchaus darüber im klaren, daß wir „Opting-out", wir wollen uns an dieser Entscheidung auch bei uns „schlanker" werden müssen. beteiligen. Wir wollen die Bundesregierung aber auch in ihrer Position im Europäischen Rat 1996 stärken; (Peter Conradi [SPD]: Das ist eine Kritik am denn wir haben doch eigentlich nur die Befürchtung, Bundeskanzler! — Heiterkeit) daß die Stabilitätskriterien in irgendeiner Form aufge- — Nein, es ist einfach wichtig, das Gewicht in Europa weicht werden könnten und daß die, die 1996 politisch einzubringen, das notwendig ist. Da müssen Sie sehr und wirtschaftlich in die zweite Liga Europas gehen genau unterscheiden. müßten, doch versuchen wollten, oben zu bleiben. Drittens und zu guter Letzt geht es um die Vision

Hier bei der strikten Anwendung der Stabilitätskrite- Europa, um Frieden und Freiheit — die Politische rien — auch bezogen auf unser eigenes Land —, Union. Deutsche Außenpolitik hat jetzt andere müssen wir der Bundesregierung den Rücken stärken. Grundlagen als 1989. Aber diese Erkenntnis führt Darum geht es bei der Beteiligung des Bundestages uns auch 40 Jahre nach Adenauer, Schuman und und des Bundesrates 1996. de Gaspari zum gleichen Ergebnis, wie es Franz (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Josef Strauß 1983 fast visionär formuliert hat Zweitens. Föderalismus und Subsidiarität verhin- (Zuruf von der SPD: Warum nur „fast"?) dern, daß alles in Brüssel geregelt wird. Allerdings ist — weil er auch konkret und nicht nur in Visionen die Ankündigung von Kommissionspräsident Delors, gedacht und Politik betrieben hat —: der sich hierzu sehr erfreulich geäußert hat, noch nicht Wenn ich sage, bis zum Jahr 2000, ja, da wird so recht mit Konkretem „übergekommen". mancher von uns nicht mehr da sein und mancher (V o r sitz : Vizepräsidentin ) nicht mehr auf der Bühne stehen, da mag nie- Ich fordere ihn auf, darauf hinzuwirken, daß wir in der mand sagen: Ja, das ist ein weiter Zeitraum. Wer Ausgestaltung des Prinzips der Subsidiarität, wie es in erlebt hat, wie diese Europaidee, von brennender Art. 3 b des Maastrichter Vertrages angelegt ist, vor- Begeisterung getragen, in Fackelzügen in allen ankommen. Ich bin überzeugt, daß Art. 3 b und die deutschen Städten gewissermaßen zur Warnung Begründungspflicht für zukünftige Richtlinien — un- und Mahnung nach dem Zweiten Weltkrieg zum ter vorhergehender Beteiligung nicht nur der Brüsse- Fanal gemacht, in der Zwischenzeit erlahmt und ler Kommission, sondern auch des Europäischen Par- erkaltet, in den Institutionen verkrampft und laments und nationaler Parlamente — das Subsidiari- verkrustet, in den Resolutionen bis zur Unkennt- tätsprinzip gerichtsfest machen. Im übrigen sollte über lichkeit deformiert ist, der wird nicht der Übertrei- das Klagerecht der Regionen in den sie betreffenden bung bezichtigt werden, wenn er das Ziel setzt, Angelegenheiten nachgedacht und seine Verwirkli- daß man wenigstens bis zum Jahr 2000 wieder so chung in Angriff genommen werden. Dazu wird Herr weit ist, daß wir dem Ziel eines Staatenbundes Staatsminister Goppel mit Sicherheit noch ausführlich vielleicht ganz nahegekommen sind . . . Stellung nehmen. Ich stelle fest, daß wir bereits im Jahre 1992 wieder so weit sind, und hoffe, daß der Deutsche Bundestag in seiner Ratifizierungsdebatte in den nächsten Wochen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege deutlich machen wird, daß das deutsche Interesse in Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- einem gemeinsamen europäischen Interesse, in gen Conradi? eimem vernünftig geeinten Europa am besten aufge- hoben ist. Maastricht zeichnet — trotz kleiner Schön- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Bitte sehr. heitsfehler — die große Linie vor, und ein Ja zu Maastricht ist ein Ja zu unserer Zukunft. Ich danke Ihnen. Peter Conradi (SPD): Herr Kollege, Ihre Kritik daran, die EG habe in Brüssel zuviel geregelt, veran- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) laßt mich zu der Frage: Können Sie dem Haus eine EG-Richtlinie nennen, die ohne Mitwirkung eines Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Mini- Ministers der Bundesregierung im Ministerrat zu- ster für Bundesangelegenheiten und Europa des Lan- stande gekommen ist? des Rheinland-Pfalz, Florian Gerster, das Wort.

Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): An der Ver- Staatsminister Florian Gerster (Rheinland-Pfalz): abschiedung einer Verordnung der Kommission sind Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die die Minister der Bundesregierung nicht beteiligt. Länder bejahen den europäischen Einigungsprozeß Aber Sie haben völlig recht: Richtlinien sind unter und begrüßen den Vertrag von Maastricht, den Ver- 9358 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Staatsminister Florian Gerster (Rheinland-Pfalz) trag zur Europäischen Union. Es ist kein Widerspruch tät, der Nachrangigkeit der jeweils höheren staatli- zu dieser Grundzustimmung, daß der Bundesrat in chen Ebene. seiner Ratifizierungsdebatte vor wenigen Wochen Wir halten es — auch aus diesem zwingend abzu- festgestellt hat, daß das Verhandlungsergebnis in leitenden Prinzip der Subsidiarität — für erforderlich, wichtigen Fragen hinter den Vorstellungen des Bun- daß die subnationale Ebene — in Deutschland sind desrates zurückbleibt und daß zentrale Herausforde- das die Länder mit Staatscharakter — einen eigenen rungen ohne ausreichende Antwort geblieben sind. europarechtlichen Status hat. Ich denke, daß wir, Dazu gehören nach Meinung des Bundesrates die wenn wir dieses Prinzip wirklich mit Leben erfüllen, Stärkung des Europäischen Parlaments, die Ausge- die Akzeptanzkrise der Europäischen Gemeinschaft staltung der demokratischen Strukturen der Gemein- beantworten können; denn je größer die neue politi- schaft insgesamt, die soziale Dimension, die gemein- sche Einheit ist — im Falle der Europäischen Gemein- same Außen- und Sicherheitspolitik und die Verge- schaft sind es derzeit 340 Millionen Menschen —, meinschaftung von Asylpolitik und innerer Sicherheit. desto mehr muß die vertraute nähere Umgebung auch Auf diesen wichtigen Feldern sollten wir die Revision in ihrer politischen Dimension — d. h. bei uns konkret: des Vertrages, wenn sie ansteht — also 1996 oder das Land oder gar die Gemeinde mit ihrer kommuna- früher —, sehr ernsthaft in Angriff nehmen. len Selbstverwaltung — eine identitätsstiftende Ebene sein, nicht aber eine, die aus der Ferne dirigiert In einem weiteren Punkt laufen die Interessen nach wird und nur noch Vorgegebenes vollzieht. meinem Eindruck zusammen: Der Bundesrat unter- stützt in vollem Umfang den Parlamentsvorbehalt, (Beifall bei der SPD) den der Deutsche Bundestag angemeldet hat. Auch Wir, also Länder und Regionen, müssen im Alltag wir schließen uns dieser notwendigen Absicherung der Gemeinschaft die neu geschaffenen Initiativ- und der entsprechenden Voraussetzungen der Wirt- Mitspracherechte ausfüllen und ergänzen. — Da kann schafts- und Währungsunion an und denken, daß dies ich auch an den Vorredner, den Abgeordneten in einem schlüssigen, gemeinsamen Verfahren auf Schmidt, anknüpfen. — Dort, wo Abwehrrechte den Weg gebracht werden muß. gegen europäische Rechtsakte noch nicht ausgefüllt Im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses sind, läßt sich dieses Defizit zu einem späteren Zeit- ist es notwendig und unbestritten, daß die nationalen punkt ausgleichen. Mitgliedstaaten Souveränitätsrechte an die Gemein- Zu einem erheblichen Teil sind die Forderungen der schaft abgeben. Dies bedeutet aber nicht, daß damit Länder und des Bundesrates berücksichtigt worden. die jeweils höhere Ebene automatisch die bessere Das liegt auch daran, daß die Länder an den Regie- Problemlöserin ist. Deswegen sollten wir die Kritik an rungskonferenzen beteiligt waren, daß sie diese einem europäischen Zentralismus ernst nehmen und begleitet haben und daß sich die Bundesregierung sie dorthin verlagern, wo es einen Wildwuchs gege- dagegen nicht gewehrt hat. Nun, wo es um eine neue ben hat. Auf der anderen Seite denke ich, daß sich Qualität der Europäischen Union geht, müssen wir Bundestag und Bundesrat gemeinsam wehren sollten über die Länderbeteiligung neu nachdenken und sie gegen die Fundamentalkritik an Maas tricht, wie sie vor allen Dingen innerstaatlich ergänzen. Für die auch von Angehörigen der politischen Klasse — ich Länder darf ich sagen, daß wir mit den Ins trumenten, sage es jetzt mit einem modischen Begriff — geäußert die geschaffen worden sind, verantwortungsvoll und worden ist. effektiv umgehen werden. (Beifall bei der SPD) Der Regionalausschuß wird seine Rechte, die Wir sollten uns auch gegen falsche Schuldzuweisun- sicherlich begrenzt sind, so ausschöpfen, daß sich die gen wehren, z. B. was die Regelungswut angeht. Der Beteiligung der Regionen auf europäischer Ebene in Kollege Conradi hat zu Recht darauf hingewiesen, daß der täglichen Politik der Europäischen Gemeinschaft an dieser Regelungswut der Eurokratie die nationalen widerspiegelt und das ergänzt, was z. B. an Mitwir- Regierungen oft beteiligt waren, nicht zuletzt — wie kung durch das Europäische Parlament oder die man hört — die deutsche Bundesregierung. nationalen Parlamente bereits vorhanden ist oder (Peter Conradi [SPD]: Auch die Länder sehr sogar noch ausgebaut werden sollte. stark!) Lassen Sie mich in wenigen Worten auf die einge- Der Grundsatz der Subsidiarität muß das Struktur- Geschichte des Länderbeteiligungsverfahrens hen, die auf das Jahr 1951 zurückgeht. Bei dem prinzip der Europäischen Gemeinschaft sein. In sei- ner konkreten Ausformung ist der Grundsatz der Gesetzgebungsverfahren zur Montan-Union und im Subsidiarität in Deutschland die föderale Ordnung. Jahre 1957 beim EWG- und beim EURATOM-Vertrag Ich möchte aber ausdrücklich ergänzen: Zu diesem ist bereits die Verpflichtung der Bundesregierung Grundsatz gehört auch die kommunale Selbstverwal- verankert worden, die Länder zu unterrichten. tung als die vierte Stufe, von Europa aus gesehen. Es Die nächste Stufe der Länderbeteiligung war das gehört bei uns die Aufgabenverteilung zwischen Jahr 1979. Damals haben sich der sozialdemokrati- Gesellschaft und Staat dazu, z. B. in wichtigen Berei- sche Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Vorsit- chen des Kultur- und Sozialwesens, des Sports und zende der Ministerpräsidentenkonferenz, Minister- anderen wichtigen Lebensbereichen der Bürger. präsident Franz-Josef Strauß, verständigt, daß die Auch hier wollen wir Staatlichkeit, ganz egal welcher Länder in EG-Angelegenheiten innerstaatlich in Ebene, nicht verstärken, sondern, im Gegenteil, einem qualitativ neuen Beteiligungsverfahren zu gesellschaftliches Engagement verstärken. Auch das beteiligen sind und daß die Bundesregierung von der ist eine Umsetzung des Grundprinzips der Subsidiari- Stellungnahme der Länder in den Fragen, für die sie Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9359

Staatsminister Florian Gerster (Rheinland-Pfalz) zuständig sind, nur dann abweichen darf, wenn es aus Ich bitte Sie alle, den Begriff „Europa der Regio- außen- und integrationspolitischen Gründen geboten nen", der als Programmsatz unumstritten ist, mit ist. Leben zu erfüllen. Ich bitte den Deutschen Bundestag, die Länder und den Bundesrat darin zu unterstüt- Das war also eine weitere wesentliche Stufe, die zen. schließlich in die Einheitliche Europäische Akte von 1987 gemündet hat, wonach der Bund verpflichtet ist, Ich möchte auch betonen, daß der Föderalismus in die Stellungnahme der Länder dort zu berücksichti- Deutschland eine Erfolgsgeschichte ist. Auch die gen, wo sie im innerstaatlichen Verhältnis zuständig Länderbeteiligung an europäischen Angelegenheiten sind, und sie an EG-Verhandlungen durch Bundes- in den letzten Jahren ist eine solche Erfolgsgeschichte, ratsbeauftragte zu beteiligen. die — bei aller Bescheidenheit — auch so etwas wie ein Exportmodell für andere europäische Länder sein Maastricht ist nun der entscheidende nächste könnte. Die Länderbeteiligung macht im Grunde Schritt. Ich denke, unabhängig davon, ob der Art. 23 genommen die Qualitätsveränderung der Europäi- des Grundgesetzes durch die deutsche Einheit obsolet schen Gemeinschaft deutlich. Sie wird eben immer geworden ist oder nicht, ist es mehr als eine sinnhafte mehr zu einer Angelegenheit der europäischen Innen- Zufälligkeit, daß wir nun den ursprünglich für die politik. Sie ist nicht mehr in erster Linie oder aus- deutsche Einheit vorgesehenen Artikel dafür verwen- schließlich eine Angelegenheit der Außenpolitik und den können, die Europäische Gemeinschaft von unten damit ausschließlich der bundesstaatlichen Ebene nach oben zu formen. vorbehalten. (Beifall bei der SPD) Ich möchte aber abschließend — auch um Überspit- zungen auf beiden Seiten, die es in den letzten Wir freuen uns über den Verhandlungsstand der Monaten gegeben hat, zu relativieren — sehr deutlich Gemeinsamen Verfassungskommission zu Art. 23 des sagen: Wir im Bundesrat, wir die Vertreter der Länder Grundgesetzes, der für uns befriedigend ist, auch in diesem Prozeß, haben großes Verständnis für jene wenn er bisher nicht von allen auf der Bundestagsseite Sorgen der Parlamentarier, also der Mitglieder des mit großer Begeisterung mitgetragen wird. Deutschen Bundestages, die wegen des Mangels an (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wir bitten um demokratischer Kontrolle im Europäischen Parla- Entschuldigung!) ment und durch das Europäische Parlament, aber auch hinsichtlich des Bundestages und der Landtage Ich möchte allen Zentralisten, die es in allen Frak- bestehen. tionen gibt, sagen: Den Ländern geht es nicht darum, (Zustimmung bei der F.D.P.) die Kompetenz des Bundes auszuhöhlen. Es geht uns auch nicht um einen Staatenbund, wie das sehr Hier muß auf allen Ebenen nachgebessert werden. prominente Vertreter dieses Staates gesagt haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/- Vielmehr geht es uns darum, daß wir dort beteiligt DIE GRÜNEN) werden, wo die ureigensten Rechte der Länder betrof- Die Regionalisierung und Demokratisierung Euro- fen sind und durch die Europäische Union einge- pas gehören zusammen. Beide sind gleichwertige und schränkt werden. Da wollen wir bei der Kompetenz- hochrangige Ziele, über die wir uns im Prinzip auch verlagerung, aber auch bei den nachwirkenden euro- einig sind. päischen Entscheidungen beteiligt werden. Dies ist (Beifall bei der SPD) eine zwingende Folge der Bundesstaatlichkeit, die von allen Seiten im Prinzip befürwortet werden sollte. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat das Wort der Minister für Justiz, Bundes- und Europaangele- Art. 23 des Grundgesetzes ist für uns eine unabding- genheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern, bare Voraussetzung für die Ratifizierung. Da möchte Herr Herbert Helmrich. ich alle, die noch ein bißchen taktische Überlegungen anstellen, für die nächsten Wochen und Monate bitten, diese zurückzustellen. Für uns besteht ein Minister Herbert Helmrich (Mecklenburg-Vorpom- zwingender Zusammenhang, den wir auch nicht auf- mern): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen lösen lassen werden. und Herren! Mit der Aufnahme des Europaartikels 23 Meine Damen und Herren, alle drei Gesetzesvorha- und mit den Verhandlungen, die dazu geführt haben, ben, die jetzt anstehen und die heute im Deutschen ist der Weg für die Ratifizierung in der Bundesrepu- Bundestag im Ratifizierungsprozeß zum erstenmal blik frei. Ich will mich deshalb damit heute nicht mehr behandelt werden, sind untrennbar miteinander ver- befassen, sondern mit einigen Elementen des Maas- bunden. Ich denke, durch die Art der Behandlung tricht-Vertrages, die das Akzeptanzproblem behan- dieser Vorlagen in den beiden Bundesorganen der deln. Gesetzgebung — Bundestag und Bundesrat — kön- Der Akzeptanzschock, den die Abstimmungen von nen wir an einer ganz entscheidenden Weichenstel- Dänemark und Frankreich und Meinungsumfragen lung unseres Staates bis hin zur Europäischen Union ausgelöst haben, sitzt uns allen noch in den Knochen. beweisen, daß der deutsche Föderalismus und die Die Gründe sind überwiegend sicherlich Unkenntnis, parlamentarische Demokratie lebensfähig und gestal- mangelnde Information, mangelnde Transparenz der tungsfähig sind. Auch dies kann die Akzeptanzkrise in Entscheidungen und das schon viel beklagte Demo- Richtung Europa begrenzen, wenn wir deutlich kratiedefizit. Aber gerade auch darüber ist in Maas- machen können, daß diejenigen, die handeln müssen, tricht verhandelt worden. Und deshalb ist in der dies dort, wo es notwendig ist, gemeinsam tun. Schlußakte, in den Erklärungen dazu, einiges zu 9360 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Minister Herbert Helmrich (Mecklenburg-Vorpommern) lesen, und zwar zunächst, daß der Kommission emp- setz für den Deutschen Bundestag festgehalten wer- fohlen wird, 1993 Maßnahmen vorzuschlagen, die den soll. Als zweites heißt es weiter: - Informationen auch für die Bürger verbessern können. Nach Ansicht der Konferenz ist es ferner wichtig, Damit soll die Transparenz der Entscheidungen ver- daß die Kontakte zwischen den einzelstaatlichen bessert und das Vertrauen in die Organe — so heißt es Parlamenten und dem Europäischen Parlament im Text — erhöht werden. Der Außenminister sagte, insbesondere dadurch verstärkt werden, daß das Zutrauen der Bürger müsse gestärkt werden. hierfür geeignete gegenseitige Erleichterungen Aber darüber hinaus sind weitere Elemente , die das und regelmäßige Zusammenkünfte zwischen Akzeptanzproblem einer Lösung näherbringen kön- Abgeordneten, die an den gleichen Fragen inter- nen, behandelt. Ich nenne fünf weitere Elemente ganz essiert sind, vorgesehen werden. unterschiedlicher Art, die aber in ihrem Zusammen- Früher, ehe das Europäische Parlament direkt wirken hilfreich sein werden. gewählt wurde, hatten wir eine Koppelung durch die Das erste Element, das ich nenne und das hier schon Doppelmitgliedschaft. Sie war ein Mechanismus, der mehrfach genannt worden ist, ist die Subsidiarität in den Kontakt zwischen dem nationalen Parlament und Art. 3 b. Es muß gelingen, zentralistische Fehlentwick- dem Europäischen Parlament stärkte. Die Aufgaben lungen, die deutlich sichtbar sind, zurückzunehmen waren zu groß. Mit der Direktwahl fiel die Doppelmit- und ihnen gegenzusteuern. Die höhere Ebene soll nur gliedschaft weg. Ich glaube aber, daß wir im Ender- dann tätig werden dürfen, wenn dies unabwendbar gebnis zumindest partiell — wie der Vertrag es notwendig ist. Es wird Aufgabe von Bund und Län- vorschlägt — wieder zu gemeinsamen Sitzungen dern sein, das Subsidiaritätsprinzip als Zuständig- kommen müssen. Wir müssen Europa in die nationa- keitszuweisung zu begreifen. Erst dann wird der len Parlamente holen. Es reicht nicht, auf unseren vereinbarte Text das hergeben, was alle sich von der Stühlen sitzenzubleiben und im Parlament Europa zu Subsidiarität erhoffen. fordern und an Europa Forderungen zu stellen. Die Konferenz der Europaminister der Länder weist Europa wird uns nicht auf dem silbernen Tablett gereicht werden. diesem Prinzip besondere Bedeutung zu. Die Länder werden im Rahmen des neuen Art. 23 des Grundge- Es wird zu einem verstärkten Reiseparlamentaris- setzes gemeinsam mit dem Bund über die Einhaltung mus kommen müssen. Wie wir gesehen haben, reicht des Subsidiaritätsprinzips wachen. es nicht mehr, daß 12 Fachbeamte mit der Kommission über Stellungnahmen des Wirtschafts- und Sozialaus- Das zweite Element ist die Stärkung des Europäi- schusses und des Europäischen Parlaments entschei- schen Parlaments. Hierzu ist schon viel gesagt wor- den. Es sind die Parlamente der einzelnen Mitglieds- den; ich kann mir alles Weitere sparen. Nur eines soll nationen gefragt. Die Parlamente müssen selbst an die deutlich werden: Die Anzahl der Parlamentarier wird Informations-, Beratungs- und Entscheidungsfront. selbst dann, wenn das Parlament die vollen Rechte Ich weiß, wie schwer das ist. Aber ich glaube — damit eines sonstigen Parlaments hat, so gering sein, daß sie setze ich noch einen drauf, Herr Conradi; ich sehe Ihr —je nach Gegend — ein bis zwei Millionen Bürger, im Kopfschütteln —, hier werden die Länder in der Durchschnitt 700 000 Bürger repräsentieren. Wir kön- Bundesrepublik wegen unserer föderalen Struktur nen von diesen Parlamentariern einen Informations- ebenfalls eine Beteiligung reklamieren müssen. fluß „bis nach unten" kaum erwarten. Die Mechanis- men der aus dem vorigen Jahrhundert weiterentwik- (Peter Conradi [SPD]: Die haben ja auch sonst kelten Honoratiorendemokratie, von der wir heute nichts mehr zu sagen! Dann haben sie wenig noch zehren, bedürfen einer Weiterentwicklung. stens zu reisen!) Deshalb nenne ich drei weitere Elemente des Ver- — Deshalb habe ich gesagt, daß das, was im Vertrag trages. vorgesehen ist, phantastisch klingt. Das dritte Element des Vertrages, der Regionalaus- Aber das nächste ist noch erstaunlicher. Nennen Sie schuß gem. Artikel 198a, ist vorhin schon erörtert mir die Mechanismen — Sie haben es vorhin von worden. Die Konferenz der Europaminister ist sich diesem Podium aus von den Rednern gefordert —, die darüber einig, daß dieses Instrument von den Ländern die Akzeptanz erhöhen werden. Hierzu ist der Konfe- besonders genutzt werden wird. Wir haben bereits renz in Maastricht etwas Erstaunliches eingefallen. den Entwurf einer Geschäftsordnung für. diesen Die Konferenz Regionalausschuß in die Beratung eingebracht. — die Maastricht-Konferenz — (Zuruf des Abg. Peter Conradi [SPD]) ersucht das Europäische Parlament und die ein- — Darüber kann man reden, Herr Conradi, aber der zelstaatlichen Parlamente, erforderlichenfalls als Anfang der Diskussion darüber ist zumindest Konferenz der Parlamente zusammenzutreten. gemacht. Das sind dann mehrere tausend Parlamentarier. Ich komme zu den beiden letzten Elementen, über die kaum gesprochen wird, wahrscheinlich, weil sie (Zuruf von der CDU/CSU: Da kann man manchem sehr phantastisch anmuten. Aber sie sind im Zwischenlösungen finden!) Vertrag vorgeschlagen, und zwar in den Erklärungen — Ich meine auch, daß man Zwischenlösungen finden in der Schlußakte unter III, Ziffer 13: „Erklärung zur kann. Ich erwähne für die Historiker oder die histo- Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der Europäi- risch Interessierten unter Ihnen, daß die Institutionen schen Union". Hier wird als erstes eine verstärkte im früheren Reich, im Mittelalter auch einen immen- Unterrichtung angesprochen, die auch im Grundge- sen Abstimmungs- und Kooperationsbedarf hatten. Deutscher Bundestag — 12.Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9361

Minister Herbert Heimrich (Mecklenburg-Vorpommern) Der Reichstag von 1418 hat in Konstanz etwa 20 000 Aufmerksamkeit vorfinden, für die wir letztendlich Menschen zusammengeführt. Meine Damen und Her- dankbar sind, weil uns diese Diskussion in den näch- ren, ob einem das paßt oder nicht: Es erscheint sten 20, 30 Jahren begleiten wird. zweifelhaft, daß wir Akzeptanz und Information „bis Wenn ich höre, „ja zu Europa und nein zu Maas- hinunter zu den Bürgern" auf allen Ebenen errei- tricht", dann kommt mir das so vor, als ob jemand chen. erklären würde: Ich bin für die Fortbewegung, aber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ich sage nein zu jedem Gerät, das mir dabei hilft. Das Und ich habe nichts anderes getan, als die Mechanis- ist die Entscheidung, die hier getroffen wird. Für die men zu zitieren, die der Vertrag anspricht. Fortbewegung sind wir alle. Es ist Unfug, das zu Meine Damen und Herren, das Europa der Büro- bestreiten. Die wesentliche Frage ist: Wie komme ich weiter? Welches Vehikel ich nehme, ist . streckenbe- kraten und Technokraten, das 30 Jahre lang Hervor- ragendes erzeugt hat, scheint jetzt an seine demokra- dingt. Streckenbedingt heißt, daß die Entwicklung in tischen Grenzen zu stoßen. Dieses bisherige Europa den nächsten Jahren offenbleiben wird. muß in der Europaunion durch das Europa der demo- Man kann zwar darüber streiten, ob es sinnvoll war, kratisch gewählten Repräsentanten ergänzt werden. im Rahmen der Interpretation zu sagen: Durch die Wir sollten diesen Weg, den der Maastricht-Vertrag Bedingungen der Währungsunion haben wir unum- weist, gehen. Weil er noch kein Trampelpfad ist, kehrbare Vorgaben, und bezüglich der Politischen können wir auch sagen: Diesen Weg sollten wir Union haben wir alles offengelassen. Aber ich persön- riskieren. Ich bin der festen Überzeugung, daß es sich lich bin der Meinung, eine Zielvorgabe, die am Ende lohnt. bindend ist, strukturiert den Weg. Im Gegensatz zu Vielen Dank! meiner Überzeugung von vor zehn Monaten bin ich jetzt der Ansicht, daß es richtig war, in der Politischen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Union nichts festzulegen und letztlich alles offenzu- lassen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Jetzt spricht der Herr Bundesaußenminister, ich glaube, es ist ganz Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenhei- bedeutsam, daß Sie und die Kollegen aus den Mi- ten des Freistaates Bayern, Herr Dr. Thomas Goppel, nisterräten, auch die Ländervertreter, in den nächsten zu uns. fünf Jahren viel Gestaltungsraum bei dem vorfinden, was die Politische Union am Ende ausmacht. Staatsminister Dr. Thomas Goppel (Bayern): Frau Es gibt eigentlich vier Bestandteile des Vertrages. Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich Das ist zum einen die Zeitschiene, die mit der Demo- bin der Diskussion am heutigen Vormittag sehr auf- kratisierung gekoppelt ist. Ich warne auch den Bun- merksam gefolgt. Ich habe dabei einige Übereinstim- destag davor, dem Europäischen Parlament Kompe- mungen und neue Akzente entdeckt, die mir wichtig tenzen dort zuzugestehen, wo im Augenblick alle genug erscheinen, um sie in der Zukunft weiterzuent- Aufgaben noch beim nationalen Parlament oder bei wickeln. den Länderparlamenten liegen. Der Kollege Haussmann hat vom kooperativen Föderalismus gesprochen, ein Begriff, der sicher dem- (Beifall bei der CDU/CSU) nächst die Zeitungen füllen wird, aber hoffentlich Es macht keinen Sinn, zu beklagen, daß wir bei auch Eingang in unsere Geschäftsordnungen finden einer Fülle von Themen unnötigerweise Kompeten- und den Umgang miteinander prägen wird, Herr zen nach Brüssel gegeben haben. Es macht keinen Kollege Conradi, auch wenn wir uns auf Reisen Sinn, in der öffentlichen Diskussion alle diejenigen, irgendwo in der Welt begegnen. die kritisieren, was falsch ist, ständig an der Krawatte Dann gibt es die Feststellung der Frau Kollegin zu packen, vorzuführen und zu sagen: Ihr seid auf dem Süssmuth, die von dem Endzeitpunkt des Regierungs- falschen Dampfer, wir wollen etwas ganz anderes, handelns und von der Verpflichtung, die Parlamente und gleichzeitig in derselben Debatte zu erklären, das in der Zukunft stärker zu beteiligen, gesprochen hat. alles — die Bananenverordnung, die Regelungen zu Ich glaube, daß es auch deshalb ein ganz wichtiger den Traktorsitzen und zu den Karamellbonbons; ob sie Gesichtspunkt ist, die Parlamente insgesamt in der nun alle gelten oder nicht, ist völlig gleichgültig — Zukunft frühzeitiger an der Diskussion über Fortent- müsse in die Zuständigkeit des Europäischen Parla- wicklungen zu beteiligen, weil sie auf Grund ihrer ments gegeben werden. Alle diese Verordnungen größeren Besetzung am ehesten in der Lage sind, die haben dort eigentlich nie etwas zu suchen gehabt, kritische Diskussion in der Bevölkerung aufzunehmen Herr Kollege Conradi. Wenn das in der Zukunft und umzusetzen und sie nicht — wie wir bei der anders werden soll, muß ich einfordern, daß die Europadiskussion sehr wohl gemeinsam festhalten Kompetenz zurückkommt, und gleichzeitig festschrei- müssen — über längere Zeit unberücksichtigt zu ben: Sie bleibt parlamentarisch bei mir und hat lassen. nirgendwo anders etwas verloren. Eines steht fest: Bis zum 10. Dezember 1991 war die (Beifall bei der CDU/CSU — Peter Conradi Ware Europa als Thema nicht an den Mann zu [SPD]: Es waren immer deutsche Minister bringen, abgesehen von der anfänglichen Europabe- dabei! Auch bei den Bananen!) geisterung nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst nach dem 10. Dezember 1991 und den kritischen Einwen- — Herr Conradi, das habe ich nie bestritten. Nur, die dungen einiger unserer Kollegen aus allen politischen Tatsache, daß wir gemeinsam feststellen, daß wir Lagern ist es dazu gekommen, daß wir insgesamt eine selbst Fehler gemacht haben, hindert uns doch nicht, 9362 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Staatsminister Dr. Thomas Goppel klüger zu werden. Diesen Satz von Adenauer sollten An dieser Stelle ist das eine vom anderen abhängig. wir gemeinsam berücksichtigen. Sie haben ihn heute So wird es möglich sein, daß wir 1997 oder 1999 unter- schon ein paarmal zurückgewiesen und gesagt: Ade- Umständen ganz andere Konditionen haben. nauer muß nicht herangezogen werden. Aber an Herr Bundesfinanzminister, ich habe heute früh dieser Stelle wäre es prima, wenn wir beide sagten: ganz aufmerksam gehört, daß Sie gesagt haben, am Klüger zu werden, darf man nie gehindert sein. Denn Ende sollte so etwas wie eine Euro-Mark stehen. Ich das würde uns sonst von der Mehrzahl negativ quit- finde, so etwas kann den Bürger beruhigen, weil er tiert werden. merkt: Von der nationalen Identität soll nichts flöten gehen. Es war ganz wichtig, daß man das draußen in (Dr. Fritz Gautier [SPD]: Sind Sie gegen die 30 Millionen Haushalten hören konnte. gemeinsame Handelspolitik?) Weiterhin haben wir in den nächsten Jahren in der — Nein, ich bin nicht gegen die gemeinsame Handels- Fortentwicklung dieser Thematik neben der Euro politik, aber ich bin dagegen, daß wir hier gegenüber Mark noch die Diskussion darüber, wie wir in die der Bevölkerung jede einzelne Kleinigkeit kritisieren nächsten Jahre hinein unsere gestalterischen Mög- und anschließend erklären: Das ist aber ein Fehler von lichkeiten bis hin zum Parlamentsvorbehalt nutzen. Europa. Wenn wir seine Zuständigkeit nicht wollen, holen wir die Kompetenzen zurück. Aber wenn wir Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Goppel, uns einig sind, daß wir das wollen, bitte hin damit! gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeord- neten Waigel? (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Staatsminister Dr. Thomas Goppel (Bayern): Selbst- Aber dann darf man die Kritik nicht so weiterführen verständlich. wie jetzt. Im Moment sitze ich jeden Abend mit Ihnen im Publikum, und das Publikum erklärt mir am Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Abgeordne- laufenden Band: Was soll ich mit dem Goppel disku- ter. tieren? Er hat unnötigerweise alles weggegeben. Wenn wir nicht gemeinschaftlich begründen können, Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Herr Staatsmi- warum etwas in Europa geregelt werden muß, dann nister, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich will ich es wiederhaben, egal, auf welcher Ebene. die Euro-Mark für Deutschland gut fände, aber selbst- verständlich auch das Euro-Pfund für Großbritannien, (Dr. Fritz Gautier [SPD]: Nicht die Bana den Euro-Franc für Frankreich oder den Euro-Gulden nen!) für Holland, um hier Mißverständnisse auszuräumen, Ich meine, als zweites sollten wir gemeinsam dem die bei unseren europäischen Partnern und Freunden Bundestag helfen, seine unnötig weggebenen Kom- vielleicht entstehen könnten? petenzen bei sich zu bewahren, zu gestalten und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gleichzeitig das, was bis auf die Länder durchgreift, so der SPD) zu ordnen, daß wir im Innenverhältnis mit den The- men zurechtkommen. Staatsminister Dr. Thomas Goppel (Bayern): Herr Abgeordneter Waigel, selbstverständlich kann die (Beifall bei der CDU/CSU) Formulierung, die gewählt worden ist, auch die Jahre Dazu möchte ich ausdrücklich sagen: Ich bin für den des Übergangs betreffen, in denen wir zueinander Art. 23 dankbar, weil er dafür sorgt, daß wir, Länder finden. Wesentlich ist, daß der deutsche Bürger nicht und Bund, endlich ein Innenverhältnis zueinander das Gefühl haben muß, daß er innerhalb von wenigen bekommen, und daß es aufhört, sich immer nur Monaten seine ganze Hosentaschenidentität — so gegenseitig zu beäugen, wer wem was nimmt. Viel- nenne ich sie einmal, weil sie mir nicht reicht — mehr sollte man wissen, wohin etwas gehört, und aufgeben muß; es müßte etwas mehr dazukommen. dabei eine offensive Diskussion im Sinne des Hauss- (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Was?) mannschen kooperativen Föderalismus führen. — Gnädige Frau, wenn Sie nicht auch dauernd Hosen an hätten, wie ich es beobachtet habe, würde ich das Ich habe gesagt, neben der Zeitschiene gibt es drei nicht für möglich halten. Dann ist die Gleichberechti- andere Bestandteile des Vertrages: Es gibt den Wäh- gung ja gewahrt. rungsschwur wie bei Tell den Rütli-Schwur, der — wenn Sie die Geschichte weiterverfolgen — am Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Staatsmini- Ende offenbleibt und nicht endgültig ausgeformt wird. ster, Herr Abgeordneter Waigel hat den Wunsch nach Ich sage dazu immer: Die Währungsunion ist zwar einer weiteren Zwischenfrage. Würden Sie ihm diese ausformuliert, aber ob sie am Ende noch zusätzlich ebenfalls gewähren? weiteren Bedingungen unterliegt — das muß keine Korrektur sein —, sollten wir in Ruhe an Hand der Staatsminister Dr. Thomas Goppel (Bayern): Herr politischen Entwicklungen der Gemeinschaft bere- Abgeordneter Waigel darf immer fragen. den. Wir wissen doch noch nicht, ob die Bedingungen, die zu unserer Deutschen Mark in ihrer heutigen Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Darf ich Sie bitten, Qualität geführt haben, in Europa politisch dublierbar zur Kenntnis zu nehmen, daß ich damit nicht eine sind, ob da eine Dublette möglich ist. Wenn die Diskussion über Hosentaschenmentalität entfalten politischen Verhältnisse nicht hergestellt werden kön- wollte, sondern nur vielleicht mißverständliche nen, wenn sie besser oder schlechter werden, wird die Besorgnisse auf Grund meiner Bemerkung ausräu- Währungsunion mehr Stabilität im Kreuz brauchen. men wollte, und daß ich insofern Ihre Rede mißbraucht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9363

Dr. Theodor Waigel habe, um dies in diesem Parlament noch einmal Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun erteile ich darzustellen? das Wort dem Minister für Bundes- und Europaange- (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Heide legenheiten des Landes Sachsen-Anhalt, Herrn Hans- marie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das war aber in Jürgen Kaesler. Ordnung!) Minister Hans-Jürgen Kaesler (Sachsen-Anhalt): Staatsminister Dr. Thomas Goppel (Bayern): Diese Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frage bedarf wohl keiner Beantwortung. Insoweit heutige Beratung geht uns Länder ganz besonders an. bitte ich Sie, sich wieder hinzusetzen. In der am 16. Juli dieses Jahres beschlossenen Verfas- sung meines Landes heißt es: Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die Frage war Sachsen-Anhalt ist Teil der europäischen Völker- deshalb nach unserer Geschäftsordnung eigentlich gemeinschaft. auch nicht zulässig. Sie dürfen fortfahren. Mit der Wiedervereinigung sind wir in den fünf neuen Bundesländern sofort in die Europäische Wirt- Staatsminister Dr. Thomas Goppel (Bayern): Aber schaftsgemeinschaft eingeliedert worden. Unsere das wird ja nicht auf meine Zeit angerechnet, Frau feste Einbettung in die EG ist eine wesentliche Vor- Präsidentin. aussetzung dafür, daß das Werk — das sage ich mit großem Nachdruck — der inneren Einheit Deutsch- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Doch! Doch! lands gelingt. Wir brauchen Europa. Unsere Bürger — Eckart Kuhlwein [SPD]: Er muß nachher müssen den Nutzen Europas in ihrem täglichen Leben auf der Bank noch nachsitzen!) spüren. Sie müssen am europäischen Einigungspro- — Ich bin bis jetzt noch nie, wenn ich hier gewesen zeß durch Information und Mitsprache beteiligt wer- bin, gleich wieder fortgegangen; das werden Sie den. Daran hat es zweifellos im vergangenen Jahr schon festgestellt haben. gefehlt. Aus dieser Einsicht müssen wir lernen. Darf ich zum Ende kommen, weil auch die Zeit um Der Maastrichter Vertrag ist ein komplizierter Inter- ist. Wir haben vier Positionen, die wir in den nächsten essenausgleich zwischen 12 Staaten; er enthält Jahren gemeinsam berücksichtigen müssen. Das ist bemerkenswerte Fortschritte, sicherlich aber auch zum einen die Angst um das Geld, die unsere Bürger Mängel und Lücken. So hätten wir uns mehr demo- haben. Da hilft das, was wir eben gemeinsam, Herr kratische Kontrolle gewünscht. Die Bundesregierung Bundesfinanzminister, kurz interpretiert haben. hat sich in diesem Sinne für mehr Befugnisse des Da gibt es die Angst um die Erweiterung der Europäischen Parlaments eingesetzt; doch die über- Europäischen Gemeinschaft. Ich bin dankbar, Herr wiegende Mehrheit der 12 hat sich dem bisher leider Bundesaußenminister, für die Festlegungen, die Sie noch verschlossen. Mein Land stimmt gleichwohl dem bei den Diskussionen der letzten Wochen auch in der Vertrag insgesamt zu, weil damit die Integration Türkei getroffen haben. Sie haben den Menschen Europas auf wichtigen Gebieten vorankommt. klargemacht, wann jemand in die Europäische Einige neue Institutionen wie beispielsweise die Gemeinschaft hineinkommen kann und daß es im geplante Unionsbürgerschaft, der Ausschuß der Hintergrund schon so etwas wie eine europäische Regionen und der Bürgerbeauftragte stellen erste Verfassung gibt, selbst wenn wir sie nicht formuliert bedeutsame Schritte in Richtung auf ein bürgernahes haben. Da übrigens beginnt für mich überhaupt erst Europa dar. Das Subsidiaritätsprinzip, über das hier die Diskussion, ob es neue Identitäten gibt oder nicht. schon viel gesprochen worden ist, ist zudem der Zuvor ist gemeinschaftlich anzuerkennen, daß wir entscheidende Einstieg in ein Europa, das sich weg gemeinsame Ziele in Europa haben. von Zentralismus und Bürokratie zur „Basis" der Zum dritten gibt es die Angst um die Souveränität. Bürger und der Regionen hinwendet. Da haben Subsidiarität und der Regionalausschuß Nun bedarf dieser Grundsatz der konkreten Ausfül- eine ganze Menge bewirkt. Der Dank richtet sich an lung; daran werden wir uns aktiv beteiligen. Mein die Länder und speziell auch ein bißchen an das Land kann dem Maastrichter Vertrag auch deshalb - eigene Haus, daß wir in einer Zeit nicht nachgegeben zustimmen, weil der neue Europa-Artikel 23 die haben, in der die Mehrzahl auch von Ihrer Seite gesagt Mitwirkung der Länder im Grundgesetz verankert. hat: Das können wir vergessen; das kommt sicher Dieses Recht auf Mitwirkung werden die Länder in nicht in Frage. Es hat weniger Monate bedurft, das vollem Bewußtsein ihrer gesamtstaatlichen Verant- durchzusetzen, und ich bin glücklich darüber. wortung aktiv ausüben. Schließlich gibt es die Angst vor der Überfremdung. Meine Damen und Herren, Sie können sich darauf Sie spielt eine Rolle auch bei der Frage, wie wir auf verlassen: Wir sind für einen vorwärtsgewandten, Europa zugehen. Wir müssen die kritischen Fragen kooperativen Föderalismus und werden danach auch unserer Tage, wie die Frage nach der Asyl- und in Sachen Europa handeln. Wir unterstützen alle Einwanderungspolitik, unseren Bürgern in der Weise Initiativen für die schnelle Ratifizierung des Maas- nahebringen, daß es leichter ist, innerhalb Europas trichter Vertrages. mit einem Problem fertig zu werden, als wenn wir Dabei kann — wie schon oft in der Vergangenheit — allein gelassen sind. Wenn wir an dieser Stelle mit die deutsch-französische Zusammenarbeit der Motor einem neuen Ansatz vielleicht auch gemeinsam sein. Doch die deutsch-französische Freundschaft ist rascher zu Lösungen kommen können, dann hätte auch in diesem Fall, so hat es Präsident Pompidou Europa seinen Dienst allerbestens getan. einmal ausgedrückt, „ exemplaire ", nicht „exclusive". (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wollen die Völker aller Mitgliedstaaten in die 9364 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Minister Hans-Jürgen Kaesler (Sachsen-Anhalt) Fortentwicklung der Gemeinschaft einbeziehen. Nur wie mir ergangen: Der Sonntag der Entscheidung in ein Europa, das sich auf die breite Zustimmung der Frankreich ist mir tief in die Glieder gefahren, als ich Menschen in allen 12 EG-Staaten stützt, wird auf das Ergebnis hörte, wenn ich bedenke, mit wie Dauer Bestand haben. wenigen Stimmen eine historische Entscheidung so Die Bürger meines Landes bekennen sich eindeutig oder so gefällt worden ist. Nach diesem Ereignis sollte zum gemeinsamen Europa. Sie haben vielfach davon man im deutschen Parlament zumindest danach fra- profitiert. Ich erinnere an den Strukturfonds. Mein gen: Was hat dazu geführt, daß eine derartige Unlust, Land hat nennenswerte Finanzhilfen daraus bekom- ein derartiger Widerstand und eine derartige Abnei- men, und wir erwarten für die Zukunft erhebliche gung gegen das EG-Europa inzwischen entstanden Steigerungen. Für die Einordnung der neuen Länder sind? Welches sind die Ursachen? Ist es wirklich das in die höchste Förderkategorie der sogenannten Ziel- eine oder andere im Maastrichter Vertrag? Sind es 1-Gebiete sind wir dankbar. Wir wollen eine Gleich- Fehler? Natürlich gibt es Schwächen, Unzulänglich- behandlung mit den anderen weniger entwickelten keiten; es gibt sogar Widersprüche, auch in der Frage Regionen Europas, nicht mehr, aber auch nicht weni- der Währungsunion. Es gibt auch Auslassungen in ger. diesem Vertrag. Wir brauchen die Solidarität aus Brüssel ebenso wie Bei alledem muß man aber natürlich bekennen, daß die vom Bund, aber auch Ihre Solidarität, meine der Vertrag ein Kompromiß zwischen 12 Staaten ist. Damen und Herren. Wenn man genau bewertet, was nach vorn gegangen Die bevorstehende Vollendung des Binnenmarktes, ist, ist der Vertrag ein großer Fortschritt. So jedenfalls mehr aber noch die kommende Wirtschafts- und empfinde ich das. Währungsunion setzen unsere Wirtschaft dem eu- ropaweiten Wettbewerb weitgehend ungeschützt aus. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Länder wie Spanien und Portugal konnten sich bei- F.D.P.) nahe acht Jahre lang auf den Binnenmarkt vorberei- ten; wir in den neuen Ländern haben dagegen kaum Wenn ich das aber gesagt habe, bin ich um so zwei Jahre dafür Zeit gehabt. selbstkritischer in der Frage, warum ich das den Meine Damen und Herren! Jacques Delors hat sich Bürgerinnen und Bürgern und unseren Wählern gar im Juni 1991 bei elnem Besuch in Bitterfeld unmittel- nicht verdeutlichen kann. Wo ist eigentlich der Eng- paß, der in der Kommunikation zwischen uns und bar von der schwierigen Lage unseres Landes über- zeugt. Wir vertrauen darauf, daß auch in Zukunft die unseren Wählerinnen und Wählern in der Europa- frage besteht? EG-Zentrale nicht fern von uns entscheidet, sondern im ständigen, offenen Dialog mit uns die Belange Herr Goppel hat gerade das Thema „Währungs- unserer Bürger voll berücksichtigt. union und Hosentaschenmentalität" angesprochen. Heute sagen wir ja zu Maastricht und zum Abkom- Das mag eine Rolle spielen. Es gibt Leute, die sagen, men über den Europäischen Wirtschaftsraum. Maas- die Deutschen lieben die Mark mehr als ihre Frau. tricht ist ein Meilenstein im Einigungsprozeß Euro- pas, aber gewiß nicht sein Abschluß. Maastricht ist (Zuruf von der F.D.P.: Das Auto! — Peter aber auch die Perspektive und Hoffnung für unsere Conradi [SPD]: Oder mehr als ihre Verfas- osteuropäischen Nachbarn, die wir nicht enttäuschen sung! — Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: dürfen. Die neuen Bundesländer haben in dem kom- Was sind das für Männer!) plizierten Prozeß der Einbeziehung Osteuropas in die europäische Einigung eine Brückenfunktion. Dazu Daran ist manchmal auch etwas. Das kann aber brauchen wir auch Maastricht. doch nicht die Sache sein. Wir alle in der Bundesre- Die für 1996 festgelegte Revisionskonferenz wird publik Deutschland wissen, daß die Integration der eine Leistungsbilanz ziehen und die dann nötigen Gemeinschaft und der gemeinsame Markt ein Nachbesserungen im Sinne eines bürgernahen, unglaublicher wirtschafticher Erfolg gewesen sind. demokratischen Europas beschließen. Ich möchte die Frage stellen: Was wäre 1973/74 und 1980/81 in Europa passiert, als die beiden tiefgreifen- Sachsen-Anhalt wird den Weg zur Politischen den Ölpreiskrisen und weltweiten Wirtschaftskrisen Union Schritt für Schritt begleiten, als engagierter stattfanden, wenn wir Europäer nicht zusammen Sachwalter der berechtigten Interessen unserer Bür- gehandelt hätten, sondern eine „beggar my neigh- ger. Denn Europa wird nur dann eine Zukunft haben, bour"-Politik, ein Berauben des Nachbarn betrieben wenn unsere Bürger erkennen: Europa, das sind wir hätten, wie wir es in der Weimarer Republik hatten? selbst. Wer ein bißchen nachdenkt, wer historische Kennt- Ich danke Ihnen. nisse hat, weiß, welche ungeheure historische Bedeu- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tung diese Europäische Gemeinschaft gehabt hat, um tiefe Wirtschaftskrisen abzuhalten.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Abgeordnete Wolfgang Roth das Wort. F.D.P.) Hier bleibt wieder die Frage: Warum vermitteln wir Wolfgang Roth (SPD): Frau Präsidentin! Meine diesen großen Erfolg von Europa überhaupt nicht Damen und Herren! Ich glaube, Ihnen — jedenfalls mehr? Warum können Demagogen, über die Herr denjenigen, die für Maastricht sind — ist es genauso Goppel natürlich nicht reden wollte, wie Herr Gau- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9365

Wolfgang Roth weiler mit diesem blöden Beg riff „Esperantogeld" der Menschen nicht vorwärts? Insofern sehe ich eben soviel Stimmung erzeugen? ein gewaltiges Defizit, Herr Abgeordneter Conradi. (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. Ich kenne Ihre Meinung zu Europa. Das gewaltige Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das war Defizit ist die mangelnde Öffentlichkeit und die feh- schlimm!) lende Verfassung. Das, was Herr Goppel angespro- chen hat, ist doch richtig. Da mischen sich plötzlich — Das ist wirklich schlimm. Abgesehen davon hatte Bürokraten in geheimen Dienstbesprechungen über Esperanto eine grandiose Utopie, egal, ob das so zwei, drei Jahre in ein Thema ein, das wir im Grunde richtig war. Nationale Sprachen sind sicherlich besser gut national lösen können oder das wir sogar den als Esperanto. Daß es aber so gelingt, einen histori- Bundesländern überlassen können. schen Prozeß so leicht zu diffamieren, ist doch eine Frage. Typisch ist ja die Frage der Medienpolitik. In Brüssel wird eine Medien-Richtlinie vorbereitet, und Dasselbe gilt auch bezogen auf unser deutsch- wir in Deutschland dürfen — vielleicht zum Leidwe- deutsches Thema. So wird inzwischen behauptet, man sen vieler Bundespolitiker, nicht zu meinem — den könne die neue Bundesrepublik Deutschland, also die Ländern in der Medienfrage nicht hineinreden. Ich fünf neuen Länder im Osten in die alten Länder im halte das für eine gute Entscheidung. Ich halte es auch Westen, ohne Europa und die Belastungen aus Europa für gut, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland besser integrieren. Dabei ist das Wort vom „Zahlmei- eine Schulpolitik mit Wettbewerbselementen zwi- ster Europas" immer sehr nahe. schen Ländern haben. Meine Damen und Herren! Wenn wir nicht die Hilfe (Günter Verheugen [SPD]: Wenn ich mir die unserer westlichen Partner und auch die großen Praxis ansehe, habe ich Zweifel, ob die das Märkte mit 320 Millionen Menschen in Europa haben, noch können!) dann schaffen wir die Aufgabe, den Osten zu integrie- ren, viel schwerer und zäher, als das jetzt der Fall Auf diese Weise herrscht in unserem Bildungswesen ist. nicht die Stagnation vor, die anderswo zu verzeichnen ist, beispielsweise in den USA. Aber all dies verlangt (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der im Grunde doch nach einer Verfassung in Europa. F.D.P.) Unsereiner wird leicht abgehakt unter dem Thema: (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Das sind die ökonomischen Technokraten, für die der F.D.P.) Wirtschaftswachstum, Produktivität und Leistungsfä- Maastricht ist keine Verfassung. Maastricht ist ein higkeit der Wirtschaft die absolute Priorität haben. Kompromiß von 12 Staaten. Das ist bei mir überhaupt nicht der Fall. Auch beim (Peter Conradi [SPD]: Von 12 Regierungen! Thema Ökologie ist das wirklich eine Überlebens- Die Regierungen sind nicht die Staaten! Das frage. ist schon sprachlich unsauber!) Wer kann Antworten auf die dramatischen ökologi- Insofern wird der gesamte europäische Entschei- schen Fragen finden, ohne daß sich die großen west- dungsprozeß den Bürgerinnen und Bürgern gar nicht europäischen Industrienationen zäh, aber doch all- mehr verständlich; sie können das gar nicht mehr mählich verkoppeln? einsehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deshalb sollte im Bundestag, glaube ich, über die der CDU/CSU und der F.D.P.) engeren ökonomischen, währungspolitischen Fragen Vor zehn, fünfzehn Jahren hat ein französischer hinaus noch ein Wort zu der Zeit nach Maastricht Parlamentarier, wenn wir über Ökologie geredet gesagt werden. Meines Erachtens brauchen wir eine haben, nur Bahnhof oder Vorortbahnhof verstanden. verfassunggebende Versammlung in Europa, Wir mußten sie mühsam überzeugen, daß das eine Aufgabe der Zukunft ist. Ich habe — angeregt durch (Beifall bei der SPD) meinen Kollegen Gautier, d. h. auf einen gewissen bei dem das Europäische Parlament oder die direkt Druck dieses Kollegen hin; er hält es ja nun wirklich gewählten Europa-Abgeordneten einen Anteil und mit dem Lesen — das neue Papier der Europäischen die nationalen Parlamente den anderen Anteil stellen. Gemeinschaft zur Umweltfrage gelesen. Ich kann nur Das wäre ein Prozeß, der allmählich wieder zu mehr sagen: vorzüglich! Das ist ein Dokument, das in die Transparenz, zu mehr Beteiligung und auch zu Aus- Zukunft weist; es ist ein Dokument, das auch hilfreich einandersetzungen quer durch alle Gruppen, Parteien für unsere Diskussion ist. Da reden die Leute, übrigens und Nationen führen könnte. gerade Ökogruppen bei uns, so, als sei der Hauptfeind Es ist ja so: Wenn man bei den Debatten in den Europas, was die Ökologie anbetrifft, die Europäische Fraktionen des Europa-Parlaments zuhört, dann Gemeinschaft. Das ist blanker Unfug. Die EG ist merkt man sehr, sehr schnell, daß die Renationalisie- unsere einzige Chance, die Probleme zu bewälti- rung — von der Banane bis zur Norm für irgendein gen. Hausgerät — schnell vonstatten geht. Das ist ja auch (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der voll verständlich. Eine verfassunggebende Versamm- F.D.P. — Peter Conradi [SPD]: Das sehen wir lung könnte da Abhilfe schaffen. beim Schwerlastverkehr! — Eckart Kuhlwein Meine abschließenden Bemerkungen beziehen sich [SPD]: An den Strukturfonds!) auf das Thema Währungsunion. Ich weiß ja, wer Es bleiben dann immer noch die Fragen, die ich am verhandelt hat. Der Herr Bundesfinanzminister hat Anfang gestellt habe: Warum geht es im Bewußtsein verhandelt, der Herr Pöhl hat damals verhandelt, und 9366 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Wolfgang Roth der Bundeswirtschaftsminister und der Bundeskanz- Das ist unaufrichtig. Ich meine — das ist die Antwort ler haben verhandelt. Ich stehe hier nicht an, zu sagen, auf meine Frage, warum die Stimmung so schlecht ist, daß ich diesen Teil des Maastrichter Vertrages für obgleich die Lage weit besser ist —, wir selbst haben einen großen Erfolg halte. mit Sprüchen wie „Zahlmeister Europas" und „Euro- kraten" mitgeholfen — egal wer; ich kenne viele —, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß dieser Euromuff entstanden ist. Ich bin der Auf- Ich hätte vor zwei Jahren nicht zu hoffen gewagt, daß fassung, das muß aufhören. wir eine unabhängige, autonome europäische Noten- Vielen Dank. bank bekommen würden. Das hätte ich nicht erwartet. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Das ist ein großer Erfolg. Ich danke auch dem früheren F.D.P.) Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Karl Otto Pöhl, daß er in dieser Frage hart geblieben ist. Wir wissen ja auch, daß da ein Tauziehen stattgefunden Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- hat, und zwar auf der europäischen Ebene. Das war lege Dr. Hans Stercken das Wort. ein großer Fortschritt. Dr. Hans Stercken (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Aber ich muß sagen: Mit einem anderen Element Meine Damen und Herren! Mit dem Vertrag über die des Maastrichter Vertrages bin ich überhaupt nicht Europäische Union wird der mit der Gründung der einverstanden. Ich bin nicht damit einverstanden, daß Europäischen Gemeinschaft eingeleitete Prozeß der wir als Bundesparlament oder die Europa-Parlamen- Integration auf eine neue Stufe gehoben. So nimmt es tarier — egal, ob die in Straßburg oder die in den die Präambel des Vertrages für sich in Anspruch. Hauptstädten — überhaupt nicht an der Beantwor- tung der Frage beteiligt werden sollen, ob jetzt die Die Grundlage des Vertrages sind die Römischen Stabilität erreicht ist, die die Menschen mit Blick auf Verträge vom 25. März 1957, an deren Zielsetzung ich die Währungsunion erwarten. Wir können doch kei- heute erinnern möchte. Wir alle haben — so habe ich nen Automatismus hinnehmen. Darm wird uminter- es bisher empfunden — einen speziellen Beitrag in pretiert. Ich kann mir schon vorstellen, wie eine diese Debatte eingebracht. Ich finde, daß sich auf Regierung — ich will das Land nicht nennen — auf Grund dieser Originalität und teilweise auch Kreativi- sein Statistisches Amt einwirkt, damit die Zahlen auch tät eine gute Arbeit in den Ausschüssen des Deut- stimmen. Stichwort: Euro-Statistik. Ich will das Land schen Bundestages anschließen kann. nicht nennen. Aber ich kann mir das gut vorstellen. (Beifall bei der F.D.P.) (Michael Stübgen [CDU/CSU]: Immer Eine Erinnerung an die Zielsetzung der Römischen order- Toskana!) Verträge scheint mir auch deshalb dringend erf lich, weil die Wahrung von Interessen und die strittige Das heißt: Wenn die D-Mark abgeschafft wird, schlägt Erörterung von Sachfragen immer mehr den Blick die Stunde des Parlaments. dafür verstellen, daß bei der Gründung der Europäi- schen Wirtschaftsgemeinschaft bereits die Erwartung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) im Vordergrund stand, ein gemeinsamer Erfolg auf Ich sage: Wir können das so nennen, wie der Herr ökonomischem Gebiet würde eine schnellere Entfal- Bundesfinanzminister es genannt hat. Ich bin sehr tung gemeinsamer politischer Interessen erleich- dafür. Eine Identifikation mit dem Beg riff hat seine tern. Bedeutung. Wenn die Deutschen die gemeinsame Von wirtschaftlicher Integration also erwartete man Währung Euro-Mark und die anderen sie Euro-Fran- eine wesentliche Erleichterung bei der Harmonisie- ken nennen, dann ist das in Ordnung. Nur, in Wahr- rung gemeinsamer politischer Interessen. heit ist es natürlich eine Währung. Man sprach in der Präambel des Vertrages davon, Wenn diese einheitliche Währung da ist, brauchen daß der Zusammenschluß Frieden und Freiheit wahre wir nicht nur formale Entscheidungskriterien, sondern und festige und daß er eine Aufforderung an die wir brauchen zu diesem Zeitpunkt auch das Vertrauen anderen Völker Europas war, die sich zu dem gleichen der Menschen. Die Währungsreform 1948 hat gezeigt, hohen Ziel bekannten, sich diesen Bestrebungen daß Währungen vom Vertrauen der Menschen leben. anzuschließen. Das stammt aus der Präambel der Genau an dieser Stelle weist der Vertrag eine Schwä- Römischen Verträge. So also war bereits die Vision che auf. Hier sollten wir kraftvoll und selbstbewußt von Europa. nachbessern. Nach 35 Jahren sind wir dabei, etwas zu vollziehen, (Beifall bei der SPD) was wir längst beschlossen hatten. Die europäische Öffentlichkeit hatte dies damals mit Enthusiasmus Meine Damen und Herren, ich habe eine letzte Bitte aufgenommen: Endlich war ein Weg gewiesen, die in Richtung Regierung, aber sie richtet sich eigentlich j ahrhundertelangen europäischen Bruderkriege an alle Betroffenen. Es herrscht ja eine eigenartige durch ein neues Konzept transnationaler Politik abzu- Mentalität in nationalen Regierungen und Parlamen- lösen. So haben wir das damals empfunden, weil uns ten vor. Wenn irgend etwas nicht ganz so hinhaut, wie noch die erlebte Erinnerung an einen unmenschlichen man es ursprünglich vorhatte, schauen sehr viele nach Krieg gefangenhielt und weil wir daher die neue Brüssel und gucken, ob sie nicht ein Alibi oder eine Politik europäischer Zusammenarbeit als eine Erlö- Ausrede finden können, warum die Bürokraten in sung empfunden haben. Brüssel schuld sind. Ich mache mir heute Sorgen, der Geschichtsunter- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!) richt an vielen deutschen Schulen könnte unsere Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9367

Dr. Hans Stercken Jugend nicht so problembewußt gemacht haben, daß Unterhaltung geworden. Das ist, meine ich, kein sie diese neue Politik als etwas Außergewöhnliches Meisterstück journalistischer Verantwortung! empfindet. Für mich bleibt dies ein einmaliger histo- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der rischer Wandel, der morgen nicht daran scheitern SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) darf, daß seine Bedeutung heute nicht mehr erkannt wird. • Wie erfreulich ist demgegenüber die Entscheidung unserer Schweizer Nachbarn für den Alpentransit Diese Überlegungen legen es nahe, den Prozeß — ein gutes Omen übrigens für den baldigen Ent- nicht weiter hinauszuzögern, bis sein historischer scheid über den EWR-Beitritt. Die kostenträchtige Ursprung nicht mehr erfaßt und nur noch nach prag- Entscheidung der Eidgenossen für alle europäischen matischen Rezepturen verfahren wird. Auch diese Nachbarn, von der Millionen in Nord und Süd Überlegung gibt Anlaß, den Zeitplan von Maastricht Gebrauch machen werden, konnte man allenfalls in strikt einzuhalten. den vermischten Nachrichten deutscher Gazetten lesen. Wir sollten, meine ich, den Schweizern für diese Mit der Zeit also könnte vergessen werden, welche europäische Entscheidung danken. Das EWR-Ausfüh- Ziele wir einst mit dem Abschluß der Römischen rungsgesetz verdient unsere Zustimmung. Verträge verbunden haben. Von der immer wieder (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) beschworenen Wertegemeinschaft war in der kriti- schen Debatte über den Vertrag am 7. Februar dieses Ein Wort zu den teilweise vermeidbaren Auseinan- Jahres wenig zu hören. Im Vordergrund standen rein dersetzungen mit unseren britischen Freunden. Die merkantile Indikationen, die mit den ethischen Zielen Politik ist viel zu ernst, als daß man sie aufgeregten nichts mehr zu tun hatten, die selbst einer Europäi- Karikaturisten überlassen darf. Hier ist nicht Politik schen Wirtschaftsgemeinschaft zugrunde liegen. beschrieben, sondern Politik gemacht worden. Dafür wählen die Völker, wenn ich es richtig sehe, Parla- Das gemeinsame wirtschaftliche Handeln hatte mente und Regierungen, und die haben die Absicht, besonders den sozialen Frieden der Mitgliedsländer diese Turbulenzen möglichst schnell zu überwinden, fördern sollen. Als wesentliches Ziel bezeichnete man damit Großbritannien ein willkommenes Mitglied der die stetige Besserung der Lebens- und Beschäfti- Europäischen Gemeinschaft bleibt. So sehr seine gungsbedingungen der Völker. Es ist also alles gar Traditionen auch nachwirken, glaube ich doch an eine nicht so wahnsinnig neu, was wir heute anmahnen. weitere Zuwendung zum europäischen Kontinent, Eine neue Solidarität sollte sich durch einen Finanz- wenn wir diesen Prozeß verständnisvoll erleichtern. ausgleich zwischen den Ländern entwickeln. Einen Das setzt allerdings voraus, daß auch auf dem Konti- vergleichbaren Grundsatz der weltweiten Solidarität nent an einer überzeugenden transatlantischen Poli- führte man in bezug auf die überseeischen Länder ein. tik festgehalten wird, die die Grundlage unserer Selbst der Vertrag zur Gründung der Europäischen Sicherheit bleibt. Atomgemeinschaft gab diesem neuen Solidaritätsge- Ich empfehle eine beherzte Zustimmung zu den von fühl Ausdruck und wollte Sicherheit schaffen, um der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwürfen, Gefahren für das Leben und die Gesundheit der die wir nun zügig in den Ausschüssen beraten wollen. Völker auszuschließen. Heute sollte aber schon von dieser Debatte ein Signal Es wäre verhängnisvoll, wenn das Gefühl für die ausgehen, daß wir an unserer grundsätzlichen Hal- historische und ethische Grundlage der Europapolitik tung keinen Zweifel aufkommen lassen. Diese verlorenginge. Dies war einmal das Kernstück, und Debatte, meine ich, hat das geleistet. Die große das muß so bleiben, denn der freie Handel soll die Mehrheit des Deutschen Bundestages hätte gerne Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen stärken, einem Vertragswerk zugestimmt, das vielen weiter- nicht allein seinen Wohlstand. gehenden deutschen Wünschen Rechnung getragen hätte. Sie wird dies auch weiter einfordern. Aber sie (Beifall bei der CDU/CSU) wird dem Vertrag zustimmen, weil sie sein Ziel billigt. Nur diese Perspektive gibt uns auch das Recht, von (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie einer Wertegemeinschaft zu sprechen, die wir heute bei Abgeordneten der SPD) um so stärker beleben sollten, als der dialektische Materialismus kläglich gescheitert ist, weil sich diese Ideologie eben nicht auf solche Wertvorstellungen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat die Kolle- gründete. Das Bewußtsein dieser ethischen Perspek- gin Dr. Cornelia von Teichman das Wort. tiven der Europäischen Gemeinschaft ist von Erörte- rungen verdrängt worden, die eher politischen Mani- pulationen als einer sachlichen Erläuterung dienten. Dr. Cornelia von Teichman (F.D.P.): Frau Präsiden- tin! Meine Damen und Herren! Noch nie war es so Der Zorn französischer Bauern über den Vertrag wichtig wie heute, daß der Deutsche Bundestag in von Maastricht war wirklich schwer zu verstehen, großer Einmütigkeit der demokratischen Parteien sein denn das Wort Landwirtschaft kommt im Vertrag unbeirrtes Festhalten an der Idee der europäischen überhaupt nicht vor. Das hatte die Funktionäre nicht Einigung bekundet. Wichtig ist dies nach innen und daran gehindert, die Bürger zu entmündigen. Däne- nach außen. Nach außen: Selten stand Deutschland mark rettet die D-Mark, schrieb eine deutsche Boule- seit dem Ende des Nazi-Regimes so im Zentrum vardzeitung. Natürlich weiß der Redakteur — ich sage internationalen Argwohns und internationaler Kritik dies als Journalist —, daß das nicht stimmt. Aber es wie in diesen Wochen. Dazu haben die verbrecheri- regt die Leute so herrlich auf. Auch Politik ist eben schen Ausschreitungen gegen Ausländer ebenso bei- 9368 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Cornelia von Teichman getragen wie die von vielen als unzureichend emp- Lassen Sie uns also gemeinsam dieses Zeichen für fundene Reaktion der Polizei und — lassen Sie uns das Europa setzen! Lassen Sie uns den Bürgern sagen: selbstkritisch feststellen — auch der Politik auf diese Dieses Europa ist keine bürokratische Veranstaltung Ausschreitungen. Mancherlei Ungeschicklichkeiten zur Verschwendung von Steuergeldern. Dieses zwischen Frankfurt am Main und Peenemünde haben Europa bringt ganz konkrete Fortschritte und Vorteile ebenfalls dazu beigetragen. für jeden von uns. Nationale und regionale Eigenhei- ten sollen mit Hilfe des Subsidiaritätsprinzips erhalten In dieser Situation gilt es ein Zeichen zu setzen. Das vereinte Deutschland ist nicht nationalistisch; es ist bleiben. europabezogen. Die deutsche Einheit ist Teil der Sicher, dieses Europa ist noch nicht perfekt. Da gibt europäischen Einheit. Deutschland will nichts ande- es noch viel zu tun. Aber das Vertragswerk von res sein als ein gleichberechtigtes Mitglied dieser Maastricht ist ein erheblicher Forschritt auf dem Weg Gemeinschaft und einer zukünftigen Europäischen hin zu einer Europäischen Union. Wir brauchen die- Union. sen Fortschritt, um auch den jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa, die auf unser Modell ihre Deutschland ist bereit, Souveränitätsrechte auf Hoffnungen setzen, eine konkrete und zuverlässige diese Gemeinschaft, diese Union, zu übertragen, so europäische Perspektive bieten zu können. wie unser Grundgesetz dies seit eh und je vorsieht. Deutschland hält unverbrüchlich an dem Gedanken (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- der europäischen Integration fest. ten der CDU/CSU) Dies erreichen wir nicht, indem wir uns in den Es gibt keinen besseren Beweis für die Richtigkeit Euro-Schmollwinkel zurückziehen. dieser Aussage, als unser klares und unzweideutiges Ja zum Vertragswerk von Maastricht. Lassen Sie uns alle hier heute erwähnten Unvoll- kommenheiten anpacken: bei der nächsten Regie- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rungskonferenz, die ja als Teil von Maastricht schon Dieses Vertragswerk hat seine Unvollkommenhei- vereinbart ist, und natürlich auch in der politischen ten; daran kann es gar keinen Zweifel geben. Wie Diskussion davor! Vielleicht gelingt es ja den Regie- sollte es auch anders sein bei einem Vertrag, der die rungen, diese Konferenz vorzuziehen. Lassen Sie uns Interessen von zwölf Staaten ausgleichen soll, zwi- heute also einen wichtigen Schritt zur Einheit Europas schen Potsdam und Porto, zwischen Catania und Cork. gehen! Lassen Sie uns deutlich machen: Das Vertrags- Aber alle diese Unvollkommenheiten wiegen gering werk von Maastricht ist ein ganz wichtiger Meilen- gegenüber dem Fortschritt, den Maastricht bringt, stein dahin! beispielsweise bei der Wirtschafts- und Währungs- Danke schön. union, bei dem Ansatz einer gemeinsamen Außen- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) und Sicherheitspolitik, beim europäischen Kommu- nalwahlrecht und beim Einstieg in die gemeinsame Innen- und Rechtspolitik — ich nenne hier nur Euro- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es spricht Frau pol. Kollegin Petra Bläss. Hinzu kommt die politische Signalwirkung, die von einem klaren Votum für Maastricht ausgehen wird, Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! und dieses ist angesichts der Zweifel einiger Nach- Meine Damen und Herren! „Maastricht, so nicht!" — barn um so wichtiger. dies sagt die PDS/Linke Liste auch und vor allem, weil Signalwirkung ist aber auch nach innen erforder- die soziale Dimension des finanztechnischen und lich. In manchen deutschen Medien scheint es modern wirtschaftspolitischen Unternehmens Europäischer Binnenmarkt bislang völlig unzureichend entwickelt geworden zu sein, Europamüdigkeit zu propagieren. Da sind dann auch immer schnell die Umfrageergeb- wurde. nisse zur Hand, die das angeblich untermauern. Nur, (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das haben leider erfährt man selten, wie viele Menschen über- Sie nicht durchgelesen!) haupt befragt wurden, wie sie ausgewählt wurden — Hören Sie doch bitte erst einmal zu, was ich zu und — das ist ganz entscheidend — wie die Frage sagen habe! lautete. „Maastricht, so nicht!" — dies sagen wir auch und Ich glaube nicht an diese grundsätzliche Europamü- vor allem, weil es wieder einmal die Frauen sind, auf digkeit, und ich finde es, gelinde gesagt, fragwürdig, deren Rücken ein Umwälzungsprozeß ausgetragen wenn Politiker sofort versuchen, ein solches scheinba- werden soll. Wie immer, wenn es um große Politik res Lüftchen in ihre Segel zu leiten, und dafür in geht, drohen sie auf der Strecke zu bleiben. hemmungslosen Populismus verfallen. Populismus (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Nun sollen gehört auch zum Thema Politikverdrossenheit, und Sie mal den Beweis antreten!) wer sich als Politiker so opportunistisch verhält, der Ein Blick auf das Maastrichter Vertragswerk und die verspielt noch den Rest an Glaubwürdigkeit. Glaub- Namen der Unterzeichner bestätigt dies. Frauen kom- würdigkeit in der Politik bedeutet auch, an einem als men nicht bzw. nur am Rand vor. 180 Millionen richtig erkannten Ziel festzuhalten, auch wenn einem aber stellen in den EG-Ländern eine Mehrheit der Wind ins Gesicht bläst. Frauen dar, eine allerdings nach wie vor diskriminierte. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das stimmt!) Trotz aller gutgemeinten, meist aber unverbindli- Das gilt in der Europapolitik genauso, wie es früher chen Resolutionen und Aktionsprogramme haben sie schon einmal in der Nachrüstungsdebatte galt. noch immer nicht die gleichen Chancen und Rechte Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. 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Petra Bläss wie Männer. In der Erwerbs- wie in der Familien- nicht die Anwendung des irischen Abtreibungsver- sphäre sind Frauen mit Mechanismen der Benachtei- bots berühren zu wollen. - ligung konfrontiert, in denen unternehmerische Inter- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) essen und patriarchalische Strukturen zusammenwir- ken. Das äußert sich in der existierenden geschlecht- — Also so lustig finde ich das wirklich nicht! — lichen Arbeitsteilung, die zur mangelnden Repräsen- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das haben tanz von Frauen in allen Bereichen des öffentlichen wir gemeinsam!) Lebens geführt hat, in der Fortdauer der Benachteili- gung auf dem Arbeitsmarkt, in der durchgängigen ungeachtet der beiden Entschließungen des Europäi- Entgeltdiskriminierung, die den meisten Frauen schen Parlaments zur Legalisierung des Schwanger- keine vom Mann unabhängige Existenz gestattet, in schaftsabbruchs. der Nichtanerkennung von Kindererziehung und Von einer doppelten Stagnation auf frauenpoliti- Pflegeleistungen, in strukturellen und personalen scher Ebene spricht der Ausschuß für die Rechte der Gewaltverhältnissen und in der systematischen Dis- Frau des Europäischen Parlaments. Ich zitiere: kriminierung in der Sozialpolitik. Einerseits sind die Mitgliedstaaten noch im Rück- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Nun kommen stand hinsichtlich der tatsächlichen Anwendung Sie doch mal zu Maatricht zurück!) der existierenden Richtlinien, andererseits legt der Rat keine Eile bei der Annahme noch vorlie- — Ich spreche zu Maastricht! Dann hören Sie bitte erst gender Richtlinienentwürfe an den Tag. einmal zu, Herr Kittelmann! Weiter wird ausgeführt: (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das hat doch mit Maastricht alles nichts zu tun!) Die gegenwärtige Lage zeigt den Rückstand der Frauen gegenüber den Männern auf dem In seinem Bericht über den Binnenmarkt 1992 und Arbeitsmarkt. Hat sich dieser Rückstand bis zum seine Auswirkungen für die Frauen in der EG verweist 1. 1. 93 nicht verringert, so werden die neuen der Ausschuß für die Rechte der Frau darauf, welche wirtschaftlichen Gegebenheiten des Europäi- speziellen benachteiligenden Folgen die Freizügig- schen Binnenmarktes die Ungleichheiten und die keit für Personen, Waren, Kapital und Dienstleistun- negativen Faktoren zu Lasten der Frauen noch gen für Frauen haben werde. Die spürbarsten Verän- vergrößern. derungen werden im Bereich des Einkommens und der Existenzsicherung durch die mögliche und erf or- Susanne Schunter-Kleemann bringt es in ihrem derliche Mobilität, in der Entwicklung der Infrastruk- Buch „EG-Binnenmarkt — Euro-Patriarchat oder Auf- tur und Kommunikation sowie im Bereich der Ver- bruch der Frauen?" auf den Punkt: braucherinnen gesehen. Zu befürchten ist, daß das Versprechen von großen Marktfreiheiten für die Frauen Europas zu Die Aktionsprogramme der EG konnten dieser sich abzeichnenden Entwicklung bisher nur Einzelmaß- neuen Unfreiheiten geraten könnte. Statt Freizü- nahmen, befristete Kampagnen und symbolische gigkeit könnte es zur Zurückdrängung an Heim Good-will-Aktivitäten entgegensetzen. Von einer und Herd und verstärkter Ausnutzung ihrer sytematischen und kontinuierlichen Aktivität der Ent- Gebärfähigkeit kommen. scheidungsorgane der EG zugunsten von benachtei- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Diesen gan- ligten Frauen, geschweige denn von einer Verbesse- zen Blödsinn glauben Sie?) rung ihrer Arbeits- und Lebenssituation kann keine Das Gros der Frauen wird sich europaweit im Rede sein. Es bleibt zu befürchten, daß die von der EG Dienstleistungssektor wiederfinden. Allerdings verabschiedeten Richtlinien und Aktionsprogramme wird das weibliche Geschlecht weniger die Frei- den Frauen eine Verbesserung lediglich vorspiegeln, heit haben, die Dienste in Anspruch zu nehmen, aber einer faktischen Verschlechterung ihrer Lebens- als die Freiheit, rund um die Uhr und unterbezahlt situation nichts entgegenhalten können. zu Diensten zu stehen. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Kommen Sie (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Fürchterlich! sich nicht albern vor bei so viel überzogener Sprechen Sie mal über die Frau im Kommu- Polemik?) nismus!) — Ich würde gern eine erfolgreichere Bilanz zie- Unsere Hauptkritik an den Maastrichter Beschlüs- hen. sen besteht darin, daß die Sozialpolitik dabei unter (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Ja, Sie über die Räder kommt. Das Binnenmarktprojekt ist nach ziehen doch!) seinen bisherigen Zielvorgaben in seiner Gesamtheit als Deregulierungskonzept zugunsten des Kapitals — Hören Sie doch bitte zu, Herr Kittelmann, oder angelegt. Bis heute ist die EG als Wirtschafts-, aber verlassen Sie den Saal, wenn Sie nicht zuhören nicht als Solidargemeinschaft konzipiert. Daran wird können! sich wenig ändern, wenn die Sozialpolitik nicht über den Status eines Anhangprotokolls hinauskommt und (Widerspruch bei der CDU/CSU — Peter sozialpolitische Verabredungen Appelle bleiben, de- Kittelmann [CDU/CSU]: Ich darf doch wohl nen jede Rechtsverbindlichkeit fehlt. Diese Konstella- eine Zwischenbemerkung machen!) tion fördert eine Entwicklung, wonach sich die soziale Ein neuerliches trauriges Beispiel dafür ist die und ökonomische Kluft zwischen reichen und ärme- betonte Absicht der Maastrichter Vertragsparteien, ren Ländern der Region weiter vertieft und die in den 9370 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Petra Bläss Regional- und Sozialfonds angelegte Ausgleichsfunk- Für Unternehmer und Konzerne haben nationale tion weiterhin versagt. Grenzen in den letzten Jahren mehr und mehr -an Zu befürchten ist eine Angleichung der sozialen Bedeutung verloren. Die Verwirklichung des EG Standards auf dem absolut niedrigsten Niveau. Binnenmarkts wird das verstärken. Während die Beschlüsse, die in den letzten Monaten in diesem Unternehmer ihren hohen Organisationsgrad und die Haus von der Mehrheit gefaßt worden sind, signalisie- daraus erwachsenden s trategischen Vorteile nutzen, ren, daß die Bundesregierung genau auf diesem Kurs um Arbeitsplatzangst und Konkurrenz unter den segelt. Sie hat die volle Absicht, unter der Flagge des Belegschaften zu schüren, verfügen Arbeitnehmerin- EG-Binnenmarkts störenden Ballast über Bord zu nen und Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften werfen. Es wird bedenkenlos abgetakelt, ausgemu- immer noch nicht über funktionierende Möglichkei- stert und Seemannsgarn gesponnen, um im Bild zu ten, ihre Interessen auf europäischer Ebene wirksam bleiben. zu vertreten. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sie haben (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Billige Pole geradezu die Sehnsucht: Zurück zum Kom- mik bei schlechter Journalistik!) munismus!) Typisch dafür ist die Aufhebung des Nachtarbeits- Der Aufbau einer internationalen gewerkschaftlichen verbots für Arbeiterinnen. Statt sich auf EG-Ebene für Gegenmacht gestaltet sich äußerst zäh. Der Entwurf eine frauenfreundliche und vor allem gesundheitsför- einer Richtlinie „Europäische Betriebsräte" ist absolut dernde Regelung einzusetzen, hat die Bundesregie- unbefriedigend. Mitbestimmungs- und Mitwirkungs- rung nach unten angepaßt und dieses Schutzrecht rechte fehlen völlig. Es sind lediglich eingeschränkte liquidiert. Die Aushöhlung des Kündigungsschutz- Informations- und Konsultationsrechte vorgesehen. rechts zunächst für die Beschäftigten im öffentlichen Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer umfas- Dienst der neuen Bundesländer ist ein weiteres senderen Demokratisierung be trieblicher und wirt- Signal. Die Möllemannschen Deregulierungsabsich- schaftlicher Strukturen. Dazu gehören: Ausbau und ten und die Blümsche Arbeitszeitordnung liegen Sicherung der Mitbestimmung der Arbeitnehmerin- ebenso im Trend wie die im Umwelt-Ost-Programm nen und Arbeitnehmer in Aufsichtsgremien der der 10. AFG-Novelle angelegte Aushöhlung der Tarif- Unternehmen, gesetzliche Rahmenregelung für eine autonomie. europäische Tarifpolitik, Garantie der Tarifautonomie (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wieviel kann und länderübergreifende Streikmöglichkeiten, Betei- man denn in fünf Minuten sagen?) ligung von Interessenvertretungen der Beschäftigten und Gewerkschaften an der Vergabe und Kontrolle — Ich habe noch etwas Redezeit! Sie können noch der öffentlichen Mittel aus dem EG-Fonds und an der zuhören! konzeptionellen Ausgestaltung einer europäischen Die an sich positiv zu bewertende Sozialcharta für Strukturpolitik. die EG bleibt Makulatur, wenn noch vor Eintritt in den Nur so ist es zu gewährleisten, daß nicht nur die Binnenmarkt die sozialen Errungenschaften empfind- Industrielobby vom Binnenmarkt profitiert, sondern lich zurückgestuft werden, dies immer wieder mit der dieser auch eine soziale Dimension erhält. Begründung, daß Sozialpolitik ein nationaler Kosten- Herr Kittelmann, ich bedanke mich ausdrücklich für faktor ist, der die internationale Konkurrenz- und Ihre Geduld. Wettbewerbssituation beeinträchtigt und deshalb zu minimieren ist. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Mit Maastricht jedenfalls wird kein Schritt dazu getan, den sozialpolitischen Anforderungen von Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- heute und den Herausforderungen von morgen lege Gerd Poppe das Wort. gerecht zu werden. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sie sagen Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau bewußt die Unwahrheit! Sie haben Maas Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es gleich tricht gar nicht gelesen! Sonst könnten Sie am Anfang zu sagen: Ich bin für die Übertragung nicht solchen Quatsch reden!) nationalstaatlicher Kompetenzen auf gesamteuropäi- sche Einrichtungen, für die Durchlässigkeit von Gren- — Ich habe Maastricht gelesen und mit sehr vielen zen für gemeinsame Regelungen zum Umweltschutz Expertinnen und Experten gesprochen. Ich war des und zur sozialen Absicherung, für ein gemeinsames öfteren auch schon in Brüssel. Auftreten der Europäer nach außen. Ich bin für eine Im Gegenteil, das Schicksal der Sozialcharta und europäische Verfassung und für die demokratische der Ausstieg Großbritanniens aus einer möglichen Kontrolle der ausführenden Apparate. Kurzum: Ich Sozialunion lassen für die Sozialpolitik im Binnen- bin für die Europäische Union. markt Schlimmeres befürchten. Angesichts der wach- Aber: Kann nicht mit Recht gefragt werden, was senden Aushöhlung der klassischen sozialen Schutz- solche Sätze aussagen? Klingen sie nicht phrasenhaft systeme ist es für die betroffenen Menschen in den und reichlich banal? Das fällt mir gerade bei vielen Mitgliedstaaten notwendig, daß ein gemeinschaftli- Formulierungen des Maastrichter Vertrags zur politi- ches Ziel sozialer Grundversorgung verbindlich fest- schen Union auf: ihre Unverbindlichkeit und Banali- gelegt und mit ihr ein Solidarvertrag als Komplettie- tät. Nur handelt es sich dabei eben nicht nur um so rung von Währungs- und Wirtschaftsunion begründet hingesagte Sätze, sondern um einen Vertrag von wird. größter Bedeutung, auf den sich die Unterzeichner- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9371

Gerd Poppe staaten wie auch die be troffenen Menschen berufen Reform der EG -Strukturen. Und diese wird durch den wollen. Maas trichter Vertrag eben nicht bewirkt. - Dafür genügen die glatten Sätze nicht. Sie sind Der frühere Europaabgeordnete von Nostitz hat das sogar gefährlich, denn sie eröffnen beliebige Spiel- Problem wie folgt beschrieben: räume für Interpretationen. Dafür gibt es genug Bei- All die scheinbar guten Gründe gegen die Erwei- spiele. terung sind nur für die zwingend, die von der EG Wenn ich meine eingangs formulierten Sätze ernst jetzt profitieren und eine Reform verhindern wol- nehme, muß ich von dem Vertrag, der sie erfüllen soll, len. Es erweist sich aber, daß die überfällige entschieden verbindlichere Aussagen verlangen. Die Reform und die Erweiterung der EG die beiden Weichenstellung des Maastrichter Vertrags zur Wäh- Seiten ein und derselben Medaille sind. rungsunion ist so viel deutlicher und präziser, daß die Nicht ein Konzept der mehreren Geschwindigkei- Formeln zur demokratischen, sozialen und ökologi- ten, sondern ein Konzept der abgestuften Integration schen Ausgestaltung fast nur als schmückendes Bei- bietet Aussicht, den neuen Bedingungen in Europa werk zum eigentlichen Kern der Währungsunion gerecht zu werden, ohne manche Staaten auszuschlie- erscheinen. ßen. Die unbes treitbar erheblichen Unterschiede sind Es ist zu befürchten, daß auch diese wohl nicht wie nur durch schnelle Eröffnung einer gesamteuropäi- geplant praktizierbar sein wird. Wer wird denn übrig- schen Perspektive abzubauen, nicht durch die bleiben, wenn schon der reiche Kern der EG seiner Abschottung eines in sich selbst instabilen Währungs- stabilitätspolitischen Ziele nicht mehr gewiß ist? Wie klubs der Reichen. würde sich eine solch fragile Stabilität auf diejenigen Schonjetzt könnte einiges auf der politischen Ebene auswirken, die ohnehin Schwierigkeiten haben, den für die Öffnung getan werden. Was spricht denn z. B. vereinbarten Kriterien zu entsprechen? Mein Kollege gegen einen Beobachterstatus für Polen, Tschechen, Werner Schulz hat auf die möglichen Szenarien Slowaken und Ungarn im Europäischen Parlament? bereits hingewiesen. Sie beziehen sich auf die heuti- Was spricht dagegen, sie schnell in die Europäische gen EG-Staaten. Um vieles mehr werden sie aber auf Politische Zusammenarbeit einzubeziehen? die potentiellen Partner in Osteuropa zutreffen. Zum Abschluß zwei Anmerkungen zum Mangel an Von denen soll im folgenden die Rede sein. Die Akzeptanz, der ja immer wieder beklagt wird. Ich sollen ja eines Tages hinzukommen; das muß wieder denke, er ist nur durch den öffentlichen Diskurs einmal in Erinnerung gerufen werden. Es ist auffällig, überwindbar. Ich habe vor zwei Wochen von dieser daß diese Staaten im Vertrag kaum vorkommen und Stelle aus für eine Verlangsamung der Ratifizierung, auch in der heutigen Debatte nahezu vollständig für eine Atempause plädiert, nicht um den Vertrag zu ignoriert wurden. Es war heute mehr vom Sitz der Fall zu bringen, sondern urn über Chancen und Zentralbank als von der einen Hälfte Europas die Probleme der Europäischen Einheit eine breite öffent- Rede. liche Debatte zu führen, an deren Ende dann ein Volksentscheid stehen sollte. Diese Forderung nach Statt dessen wird heute von der Europäischen Union einem Volksentscheid wird von uns nicht mit dem als dem sogenannten Stabilitätsanker gegenüber den Wunsch eines Nein zu Maast richt, sondern mit dem Unsicherheiten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Wunsch verbunden, eben diese ausführliche Debatte gesprochen. Die Abwehrhaltung ist nicht zu verken- zu führen. Demokratie beinhaltet auch das Recht auf nen. Ein weiteres Mal haben wir die Gleichsetzung Information über die möglichen Folgen derart weitrei- von Westeuropa mit Europa zu beklagen, wie schon chender Entscheidungen. damals, als wir selber noch zum Osten gehörten und als im Westen der Name Deutschland fast immer nur Der Bundeskanzler hat sich vor wenigen Wochen an für die damalige Bundesrepublik verwendet wurde. die französische Öffentlichkeit gewandt. Wie wäre es denn — mit diesem Vorschlag möchte ich schließen —, (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Von uns wenn er jetzt die hierzulande notwendige Diskussion nicht!) mit einem öffentlichen Gespräch mit Bürgerinnen und — Auch von Ihnen. Herr Kittelmann, das war der Bürgern sowie mit Experten, Befürwortern und Kriti- allgemeine Sprachgebrauch. Der war oberflächlich, kern des Maastrichter Vertrages, im deutschen Fern- und es wurde fast nie gesagt, was denn wirklich unter sehen einleitete? diesem Begriff zu verstehen ist. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Es kam viel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) leicht mal vor, aber nicht immer!) Mittlerweile ist jedenfalls Deutschland, ist die Bun- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- desrepublik größer geworden, und jeder weiß oder lege Michael Stübgen das Wort. ahnt wenigstens, daß auch Europa größer ist als die EG. Welchen Wert die Währungsstabilität auch immer Michael Stübgen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! haben mag: Wer ihr den Vorrang einräumt, nimmt Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte billigend in Kauf, daß die Schwelle zum Eintritt in das zunächst feststellen, daß ich über diese große, kon- europäische Haus für viele zu hoch wird. Wer das nicht struktive und ehrliche europapolitische Debatte heute will und zugleich die fatalen Begleitumstände einer in diesem Hause ausgesprochen erfreut bin. überhasteten Währungsunion zu vermeiden sucht, In Richtung der PDS möchte ich feststellen, daß wir steht vor der Notwendigkeit einer grundlegenden uns wohl eher darüber Gedanken machen müßten, 9372 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Michael Stübgen was an Maastricht falsch ist, wenn Sie zustimmen stellt sein, daß diese demokratisch gewählten Parla- würden, als daß es uns belastet, daß Sie es ablehnen. mente genügend Einfluß und Kontrollbefugnisse Sie sind in Ihren Grundhaltungen und -überzeugun- haben. Notwendig erscheint also im Blick auf die gen so weit von den Grundüberzeugungen der demo- künftige Europapolitik eine Abkehr von den bisher kratischen Parteien entfernt, daß Sie uns eher in der praktizierten Gepflogenheiten der klassischen Au- Richtigkeit unseres Weges bestärken, wenn Sie hier ßenpolitik in Gestalt von Verhandlungen und Abspra- platt wie alles, was wir machen — ablehnen und chen hinter verschlossenen Türen. Die so erzielten nicht zustimmen. Ergebnisse, Richtlinien und Vorschriften leisten der so oft festgestellten Europamüdigkeit und Angst vor (Beifall bei der CDU/CSU) einer angeblich übermächtigen Brüsseler Regelungs- Als drittes möchte ich einleitend feststellen: Wenn wut und bürgerfernen Bürokratie Vorschub. In einer man in einer solchen großen, konstruktiven Debatte, funktionierenden Demokratie müssen die Strukturen in der alle Redner von Anfang an die . Sachthemen der Gesetzgebung transparent und natürlich demo- behandelt haben, zu einem relativ späten Zeitpunkt kratisch sein. redet, wie ich das jetzt tue, dann braucht man den Mut zur Wiederholung. Sie werden an meiner kurzen Im Hinblick auf das Europaparlament sind Fort- Rede, die ich jetzt halte, sehen, daß ich diesen Mut schritte zur Stärkung seiner Befugnisse in den Verträ- durchaus habe. gen von Maastricht sichtbar. In dem Verfahren der Kooperation hat das Europäische Parlament zukünf- Es hat sich heute gezeigt, daß über die Parteigren- tig größeren Einfluß auf die inhaltliche Ausgestaltung zen hinweg Einigkeit in mindestens zwei Punkten von Entscheidungen — das geht aus Art. 189c des hinsichtlich Europa und der sozusagen in erster Bera- EG-Vertrages hervor —, und nach Art. 189b des tung angelaufenen Ratifizierung der Maastrichter EG-Vertrages wird das neue Verfahren der Kodezi- Verträge besteht. Zum einen ist dies die Einsicht, daß sion eingeführt, durch das das Europäische Parlament diese Verträge eine notwendige und eine gute Grund- zukünftig das Recht hat, durch Ablehnung der Rats- lage darstellen, um den europäischen Einigungspro- position die Verabschiedung eines Rechtsaktes zu zeß weiterzuführen und zu lenken, und zum anderen, verhindern. daß es bisher nicht ausreichend gelungen ist — das muß eben auch gesagt werden —, den Bürgern die Für die 1996 geplante Revisionskonferenz ist vor- Notwendigkeit und die Vorteile des Maastrichter gesehen, dieses Verfahren auf weitere Bereiche Prozesses nahezubringen. — bisher Binnenmarkt, Gesundheitswesen, Bildung Ich sage ganz bewußt „Maastrichter Prozeß". Denn und Kultur, transeuropäische Netze, Forschung etc. — der Maastrichter Prozeß ist viel mehr als allein dieser auszudehnen, was auch unbedingt notwendig ist, Vertrag. Im Maastrichter Prozeß auf der Grundlage obwohl gerade diese wichtige Kompetenzerweite- dieses Vertrages befindet sich Europa, die EG-Staa- rung auch die Gefahr birgt, daß das Europäische ten, vor einem qualitativen Sprung von einer Wirt- Parlament in strittigen Fällen lediglich als Neinsager schaftsgemeinschaft mit demokratischen Trostpflä- dasteht. Dennoch halte ich die Einrichtung dieses sterchen zu einer Völkergemeinschaft mit bundes- Verfahrens für eine Voraussetzung für eine Erweite- staatlichem Charakter, die den Grundsätzen der Frei- rung der Gesetzgebungsbefugnisse des Europäischen heit, der Demokratie und der Achtung der Menschen- Parlamentes. rechte verpflichtet ist. Revisionsbedürftig — davon ist heute schon ausgie- Wenn man sich einerseits die heutige weltpolitische big gesprochen worden — ist auch der derzeitige Situation und die bedrohlichen und beängstigenden Status der 18 Beobachter im Europäischen Parlament Entwicklungen in vielen Teilen dieser Welt anschaut aus den neuen Bundesländern. Für mich war am und andererseits sieht, daß sich politisch stabile demo- Anfang der heutigen Debatte wichtig, daß nach der kratische Staaten auf dem Wege befinden, eine Poli- Frage des Abgeordneten Dr. Helmut Kohl doch sicher- tische Union zu schaffen, dann braucht man eigentlich gestellt zu sein scheint, daß sich der Bundeskanzler keine Begründung mehr dafür zu liefern, warum das Dr. Helmut Kohl für die Anerkennung dieser 18 Be- für die gesamte Weltpolitik und auch für eine stabile obachter als ordentliche Mitglieder des Europäischen Entwicklung in der Welt wichtig und notwendig ist. Parlamentes intensiv einsetzen wird. Die Möglichkei- Es ist also — das hat sich aber eben auch gezeigt — ten bieten Birmingham in der nächsten Woche oder unsere vordringliche Aufgabe, Europapolitik, die die Gipfelkonferenz in Edinburgh Ende dieses Jah- schließlich die Lebensgestaltung eines jeden einzel- res. nen Bürgers betrifft, für diesen durchschaubar zu machen, um ihm die Möglichkeiten der Mitgestaltung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zu eröffnen. Eine solche wesentliche Mitgestaltungs- Meine sehr verehrten Damen und Herren, das möglichkeit ist die Beteiligung an den Wahlen zu den Europaparlament erfährt durch die Maastrichter Ver- nationalen Parlamenten und zum Europaparlament. träge eine Stärkung. Wie aber sieht es mit den Hier muß ich feststellen, daß natürlich bei einer Befugnissen des deutschen Parlamentes, des Bundes- Wahlbeteiligung zwischen 60 und 70 % z. B. für das tages, aus? Im Gegensatz zu anderen EG-Staaten, z. B. Europaparlament die Bürger ihre Mitgestaltungsmög- Dänemark und Großbritannien, und zum Bundesrat lichkeiten nicht ausreichend wahrnehmen. existiert im Bundestag erst seit einem Jahr ein EG- Es muß aber auch auf etwas anderes hingewiesen Ausschuß. Aus meiner Erfahrung als Mitglied dieses werden, woran nicht die Bürger schuld sind — viel- Ausschusses sehe ich es aber als notwendig an, daß mehr sind wir dafür zuständig —: Es muß sicherge- innerhalb der Organisationsstruktur des Deutschen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9373

Michael Stübgen Bundestages ein Ausschuß für Europaangelegenhei- Dr. Fritz Gautier (SPD): Frau Präsidentin! Liebe ten eingerichtet wird. Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute insofern - eine bemerkenswerte Debatte, als quer durch die (Dietmar Schütz [SPD]: Noch ein Aus großen Fraktionen die Mehrheit für die Ratifizierung schuß?) von Maastricht ist. Ich selber auch. Interessant war Dieser — er könnte vielleicht Unions-Ausschuß hei- aber das, was uns heute morgen die F.D.P. geboten ßen — könnte durch koordinative federführende hat. Außenminister Kinkel und Kollege Haussmann Bearbeitung und Kontrolle europäischer Entschei- haben in zwei bemerkenswerten Reden erklärt, dungsabläufe eine ausreichende Unterrichtung und warum man Maastricht ratifizieren müßte, und der Einbindung des deutschen Parlamentes bei der euro- Fraktionsvorsitzende hat erklärt, eigentlich sei das päischen Gesetzgebung gewährleisten, wie es der alles Unsinn, eigentlich dürfte man das gar nicht Bundesrat beispielsweise schon seit mehreren Jahren ratifizieren. erfolgreich praktiziert. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Hat er doch gar Selbstverständlich bliebe dabei dieser Ausschuß auf nicht!) die unterstützende Mitarbeit der jeweiligen Fachaus- So steht es auch in den Pressemeldungen der „dpa" schüsse angewiesen. Die Mitglieder dieses Ausschus- von heute nachmittag: „Auch nach Ansicht des F.D.P.- ses sollten vom Bundestag beauftragte Verhandlungs- Vorsitzenden Otto Graf Lambsdorff ist der Zeitplan partner gegenüber der Bundesregierung sein. Zwi- der spätestens für 1999 vorgesehenen Währungs- schen Parlament, Fachausschüssen und Unions-Aus- union nicht mehr einzuhalten. " schuß müßten ein ständiger Dialog und eine ständige Zusammenarbeit stattfinden. Selbstverständlich wäre (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Man begibt der Ausschuß dem Parlament gegenüber, aus dem er sich in Gefahr, wenn man zu populistisch ja hervorgeht, rechenschaftspflichtig. Er müßte ihm in redet!) regelmäßigen Abständen Bericht erstatten. Ich frage ihn, warum er dem Vertrag zustimmen Dieser Ausschuß — das ist wichtig — müßte aller- will, wenn er jetzt schon weiß, daß der Zeitplan nicht dings von der Bundesregierung über bevorstehende einzuhalten ist. Wir haben doch noch sieben Jahre Beschlüsse auf Europaebene rechtzeitig und umfas- Zeit. Hätten wir uns vor sieben Jahren, 1985, genauso send informiert werden, damit er die Möglichkeit hat, verhalten wie heute Herr Lambsdorff, hätten wir den eine fundierte Stellungnahme abzugeben, welche die Binnenmarkt wahrscheinlich immer noch nicht. Bundesregierung bei ihren Verhandlungen zu be- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!) rücksichtigen hat. Ein Abweichen sollte nur bei Denn es war 1985, als wir die Beschlüsse über einen gewichtigen außen- und integrationspolitischen einheitlichen europäischen Binnenmarkt gefaßt ha- Gründen möglich sein. ben. Heute, nach sieben Jahren, können wir feststel- Die Zuständigkeiten und Arbeitsmöglichkeiten der len, daß er ein Erfolg ist, und zwar nicht nur hinsicht- Fachausschüsse für EG-Vorlagen würden auf ihren lich des Wirtschaftswachstums und der Beschäfti- Gebieten nicht geschmälert. Im Gegenteil: Sie wür- gungspolitik, sondern auch technologisch, auch unter den vom Unions-Ausschuß politisch gestützt und Umweltgesichtspunkten. koordiniert. Der Unions-Ausschuß wäre demnach Natürlich ist nicht alles gut gelaufen. Aber da stellt eine Art Clearing-Stelle des Parlaments für Europaan- sich die berühmte Frage, ob ein Glas halbvoll oder gelegenheiten. halbleer ist. Ich persönlich bin eher Optimist und Die Einrichtung dieses Unions-Ausschusses erfor- betrachte ein Glas lieber als halbvoll. Andere schei- dert eine Ergänzung der Grundgesetzartikel 23 und nen es mehr als halbleer zu betrachten. Der Binnen- 45. Ich halte die verfassungsrechtliche Verankerung markt war auch unter dem Gesichtspunkt des Ver- eines solchen Ausschusses für Europaangelegenhei- braucherschutzes ein Erfolg. Ich denke nur an die ten für zwingend notwendig. Dies kann nur im Zusam- Produkthaftung, an das Reiserecht usw., wo wir ent- menhang mit der Ratifikation der Maastrichter Ver- scheidende Fortschritte erzielt haben. träge geschehen. Die maßgebliche Mitbestimmung und Kontrolle durch die gewählten Parlamente ist der beste Weg fort Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Gau- von der Geheimdiplomatie, die vor allen Dingen dem tier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bürger nicht gefällt und die der Bürger langfristig Irmer? nicht bereit sein wird mitzutragen. Hin zu mehr Demokratie und mehr Transparenz in der Europa- politik! Ich gehe davon aus, daß diese größere Trans- Dr. Fritz Gautier (SPD): Ja. parenz und mehr Demokratie von den Bürgern begrüßt und unterstützt werden wird. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Ulrich Irmer (F.D.P.): Verehrter, lieber Kollege Gau- tier, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Graf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Lambsdorff heute früh den Versuch gemacht hat, einige der auch öffentlich diskutierten Punkte anzu- sprechen, aber in seiner Quintessenz und seinem Eröffnungsstatement keinen Zweifel daran gelassen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Jetzt hat der Kol- hat, daß die F.D.P.-Fraktion diesem Vertrag selbstver- lege Fritz Gautier das Wort. ständlich zustimmen wird? Er hat das Motto „Mut statt 9374 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Ulrich Irmer Mißmut" sozusagen abgewandelt in „Durch Mißmut die Bundesrepublik ermahnt habe, über die Finanzie- zum Mut" . rung der Lasten der deutschen Einheit Klarheit zu- (Beifall bei der F.D.P. — Heiterkeit bei der schaffen. Das war schon interessant; denn hier beste- CDU/CSU und der SPD — Franz Müntefe hen erhebliche Unklarheiten. Diese Mahnung durch ring [SPD]: Und was ist seine Meinung?) Henning Christophersen richtet sich an die Bundesre- publik Deutschland. Er hat gleichzeitig auch Italien, Großbritannien und Spanien genannt. Das heißt, wir müssen auch uns kritisch fragen, ob wir die Stabili- Dr. Fritz Gautier (SPD): Lieber Kollege Uli Irmer, bei tätskriterien rechtzeitig erfüllen können. dieser Sprachverdrehung bin ich nicht mehr in der Lage, Ihre Aussage inhaltlich nachzuvollziehen. Ich Meine Damen und Herren, noch ein Wort zum empfehle Ihnen, die Rede Ihres Kollegen Haussmann Bundestagsvorbehalt, den wir auch in unsere Ent- nachzulesen, der relativ eindeutig auf die Mäkeleien schließung hineingeschrieben haben. Heute morgen Ihres Kollegen und Parteivorsitzenden Otto Graf hat die F.D.P. gesagt, sie würde dem zustimmen. Auch Lambsdorff eingegangen ist. die Regierungsseite geht mittlerweile in diese Rich- tung. Wir wollen, daß der Bundestag 1998 beschließt, (Beifall des Abg. Peter Kittelmann [CDU/ ob die Kriterien für wirtschaftliche Kohärenz inner- CSU]) halb der Europäischen Gemeinschaft erfüllt sind und Die Sozialdemokraten haben schon vor vielen Jah- ob man den Übergang in die dritte Stufe wagen kann. ren gesagt, daß zum Gemeinsamen Markt auf die Dieser Beschluß soll aus prinzipiellen Gründen vom Dauer auch eine gemeinsame Wirtschafts - und Wäh- Bundestag gefaßt werden. Das kann aus unserer Sicht rungspolitik gehört. Dies steht in vielen sozialdemo- nicht heißen, daß dann, wenn die Kriterien objektiv kratischen Programmen, nicht zuletzt auch in unse- erfüllt sind, der Bundestag nein sagt. Bei einer objek- rem Europawahlprogramm von 1987. Die gemein- tiven Erfüllung der Kriterien für wi rtschaftliche Kohä- same Wirtschafts- und Währungspolitik kann man renz in Europa — also die Frage der Verschuldung der nicht allein der Bundesbank überlassen. Im Augen- einzelnen Mitgliedstaaten und der Inflationsraten — blick ist es de facto die Bundesbank, die die Finanz- müssen wir dann auch zustimmen und nicht ein politik in Europa bestimmt. Dies ist weder für die britisches Opting-out wählen. Das wollte ich noch anderen politisch noch ist es für uns als bundesrepu- einmal klarstellen. blikanische Bürgerinnen und Bürger akzeptabel, die Bundesbank in eine Rolle hineinzudrängen, die sie (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der letztendlich selber nicht erfüllen kann. Für eine grö- F.D.P.) ßere Rolle der D-Mark als Weltreservewährung ist so Ich habe dies jetzt gesagt, weil wir davon ausgehen, nicht der Platz. Wir brauchen eine verstärkte Wäh- daß wir 1998 an der Regierung sind. rungsinstitution und eine einheitliche Währung, um (Karl Lamers [CDU/CSU]: Sehr kühn, Herr tatsächlich die Funktionen einer Weltreservewährung Kollege!) mit entwickeln zu können. Wir haben ja auch Erfahrung mit Regieren. Ich will Die Turbulenzen im Europäischen Währungssy- also prophylaktisch für eine zukünftige Sozialdemo- stem sind mit Sicherheit auch darauf zurückzuführen, daß wir die Wechselkurse nicht rechtzeitig angepaßt kratische Regierung feststellen, daß die Entscheidung haben. Des weiteren hat die Bundesbank — wie es des Bundestages in Brüssel zwingend vertreten wer- ihre Aufgabe ist — eine sehr egoistische deutsche den muß. Politik gemacht, die zu sehr hohen Zinsen und zu Zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur Poli- weiteren Spannungen im Europäischen Währungssy- tischen Union gehören auch andere Politiken. Die stem führt. Für uns beinhaltet seit 1979 das Europäi- Gemeinschaft darf nicht zu einer Freihandelszone sche Währungssystem nicht nur eine Koordinierung verkommen. der Währungspolitiken der Mitgliedstaaten, sondern (Beifall bei der SPD) auch eine Koordinierung der Wirtschaftspolitiken. In Maastricht sind die Grundlagen dafür ,geschaffen Darauf hat die Sozialdemokratie immer Wert gelegt. worden, daß eine Parallelität von Wirtschafts - und Wenn die Europäische Gemeinschaft nicht zu einer Währungspolitik angestrebt wird. Dies ist eigentlich Freihandelszone verkommen will, benötigen wir auch — mein Kollege Roth hat das vorhin deutlich gesagt — andere Politiken. Auf die Umweltpolitik wird mein der am besten formulierte Teil der Maastrichter Ver- Kollege Dietmar Schütz eingehen. Verbraucherpoli- träge. Die Vorschriften über die gemeinsame Wirt- tik, Forschungspolitik und Handelspolitik spielen eine schaftspolitik, die Vorschriften über die gemeinsame Rolle, aber auch — was heute morgen schon kritisiert Währungspolitik und das Statut der zukünftigen Euro- wurde —, eine gemeinsame Industriepolitik. Herr päischen Zentralbank sind für mich die wichtigsten Lambsdorff hat gesagt, das sei etwas, was des Teufels Punkte der Maastrichter Verträge. sei. Aber was geschieht denn in Deutschland in vielen Bereichen anderes als Industriepolitik? Nehmen wir In den Maast chter Verträgen heißt es: „Die Mit- ri den Airbus. Ist das keine Industriepolitik? Die Werf- gliedstaaten betrachten ihre Wirtschaftspolitik als ten, der Stahlbereich, der Schiffbau usw. — das ist eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse und Industriepolitik. koordinieren sie im Rat nach der Maßgabe der ent- sprechenden Artikel. " Daran müssen wir uns natür- (Wolfgang Roth [SPD]: BMFT!) lich auch in unserer eigenen Politik halten. Die Förderung von bestimmten High-tech-Bereichen In der „Süddeutschen Zeitung" von heute steht, daß durch das BMFT ist nichts anderes als koordinierte der für Finanzfragen zuständige EG-Kommissar auch Industriepolitik für Siemens, Philips usw. Die Frage ist Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9375

Dr. Fritz Gautier also nicht, ob wir Industriepolitik machen, sondern die Zwänge und die logischerweise unbestimmten Rich- Frage ist, ob wir der Industriepolitik vernünftiger- tungsanzeigen aus politischen Führungen überall in weise nicht eine europäische Komponente geben der Welt, beunruhigen die Bürger. sollten. Dafür spreche ich mich aus. Die Wanderung ganzer Völkerstämme und ein Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum barbarischer Krieg in Europa verstärken die Sorgen Schluß noch auf zwei Punkte eingehen, die häufig der Menschen. In bewegten Zeiten ist m an bekannt- etwas mißverständlich formuliert werden. Es wird oft lich gut beraten, sich auf das zu besinnen, was sich in so schön gesagt, daß wir in Europa auch eine Sozial- der Vergangenheit bewährt hat. politik benötigen. Ich bin dafür. Zur Symmetrie in Europa gehört auch ein soziales Fundament. Dieses Bewährt hat sich die Europäische Gemeinschaft in soziale Fundament ist leider in Maastricht nicht aus- der Welt. Es scheint vergessen zu sein, was die EG reichend gelungen, weil die Briten nicht mitmachen positiv bewirkt hat. An dieser Stelle möchte ich dem wollten. Das ist bedauerlich, aber auch in Großbritan- Kollegen Roth von der SPD, der dies auch in seinem nien gibt es bald wieder Wahlen. Die Labour Party hat Beitrag in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht hat, gesagt, daß sie mitmachen wolle und diesen Bereich ausdrücklich danken. sofort wieder ändern würde. Als vor Jahren die lateinamerikanischen Schulden (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Es das gesamte inte rnationale Geld- und Kreditwesen gab doch erst Wahlen in Großbritannien!) zusammenbrechen zu lassen drohten, war es nicht Selbst wenn wir aber nur zu elft in diesem Bereich zuletzt die EG, die einen maßgeblichen Anteil an der weiterarbeiten, gibt es hier doch einige positive Überwindung der schwierigen Situation und der Aspekte. Ein Aspekt, den ich ganz besonders heraus- Sanierung hatte. Noch vor zehn Jahren gehörten die heben möchte, ist die vertragliche Festlegung, daß die Veränderungen europäischer Wechselkurse ebenso Sozialpartner auf europäischer Ebene Rahmentarif- zu den täglichen Nachrichten wie die Wetteransage. verträge abschließen können. Ich halte dies für einen Genauso bewegt wie die Wechselkurse waren auch sehr großen Fortschritt. Das hat es in der Geschichte die Kursnotierungen und die Wechsel der Regierun- der Gemeinschaft noch nie gegeben. gen. Hier hat das EWS nicht nur zur Beruhigung Aus diesem Grunde begrüße ich auch ganz aus- beigetragen, sondern es hat durch seine Funktion drücklich, was der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner überhaupt erst die Grundlage für eine Phase der Meyer heute zur Ratifizierungsdebatte gesagt hat: Die wirtschaftlichen Stabilität und Prosperität geschaf- Ratifizierung des Vertrages zur Europäischen Union fen. sei im Interesse der deutschen Arbeitnehmer. Punkt, (Beifall bei der CDU/CSU) ende der Durchsage. Auch ich glaube, daß wir hier etwas eröffnet haben, wo wir Sozialpolitik zum Thema Weitere Leistungen der EG wären leicht aufzuli- machen können, und zwar mit einer vernünftigen sten, etwa die Ausweitung des Osthandels, die Han- Aufgabenaufteilung zwischen den Sozialpartnern, delsabkommen mit Drittländern und vieles andere d. h. einer vernünftigen Aufteilung zwischen dem, mehr. was die Sozialpartner selber regeln können und was (V o r s i tz : Vizepräsident Dieter-Julius Cro- sie auch selber regeln sollen, und dem, was wir nenberg) gesetzlich regeln müssen. Meine Damen und Herren, da ich nicht zu denjeni- Wir alle reden zuwenig über das Positive der gen gehöre, die hier zu lesen versuchen, sondern zu europäischen Integration. Diese Zusammenarbeit hat reden, bin ich wieder etwas über meine Zeit hinaus- eine Gemeinschaft von 360 Millionen Menschen her- gekommen. Ich wollte noch ein paar andere Punkte vorgebracht, die ein Miteinander in Freiheit und ansprechen; aber jetzt ist meine Redezeit abgelaufen. Demokratie, in freien Marktwirtschaften mit Freizü- Ich bedanke mich ganz herzlich. gigkeit von Menschen und Waren regelt. Dies ist ohne Beispiel, wenn man sich darauf besinnt, was in Europa (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten überwunden wurde an Kleinstaaterei, an Krieg und der CDU/CSU und der F.D.P.) Feindschaft.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der Die Europäische Gemeinschaft versammelt Mit- Kollege Wilfried Seibel. gliedstaaten mit Marktwirtschaften von hohem Aus- rüstungsstand, von großer Fähigkeit zur Anpassung an den konkreten Bedarf und von hohem innovativen (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Prä- Wilfried Seibel Standard. Diese große wirtschaftliche Leistungsfähig- sidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! keit ist der Schlüssel für die Bewältigung der Die Wiedervereinigung Deutschlands und der Zusam- Zukunftsaufgaben nicht nur in Europa, sondern auch menbruch des sowjetischen Impe riums haben die in der Welt. europäische Landkarte verändert. Die Menschen, ihre Gemeinschaften und die Staaten auf diesem Konti- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nent sind für ihr Miteinander auf eine neue, ich denke, ordneten der F.D.P.) auf eine grundlegend neue Basis gestellt. Das ist eine Übergangssituation mit Unsicherheiten, mit Zwängen Viele Vorredner haben deutlich gemacht, wo die zur Anpassung und natürlich auch mit Ängsten. Nie- globalen, die europäischen und die nationalen Her- mand, aber auch wirklich niemand sollte in einer ausforderungen liegen. Europa muß und kann seinen solchen Situation behaupten, den einzig richtigen Beitrag dazu leisten, wie in der Vergangenheit, so Weg in die Zukunft weisen zu können. Beides, die auch in der Zukunft. 9376 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Wilfried Seibel Gerade wir als Politiker sind aufgefordert, dazu Ich konnte das als Mitglied der Delegation des Deut- beizutragen, daß die Heuchelei an Stammtischen und schen Bundestages bei der IWF-Tagung in Washing-- in Schlagzeilen beendet wird. ton selbst verfolgen. Es war ein nervenaufreibender Tag, an dem Sie, Herr Minister, alle anderen Termine (Beifall bei der CDU/CSU) abgesagt haben und mit Ihren Beamten und dem Journalisten — das sage ich, ohne daß ich diese Vertreter der Deutschen Bundesbank diesem ganz beschimpfen will — erachten es als Mindeststandard konkret erlebbaren massiven Druck in dieser Konse- ihres Daseins, ihre Phasen der Entspannung in der quenz standgehalten haben. Toskana, an der Riviera oder an der Algarve zu verbringen. Kaum zurückgekehrt, traktieren sie dann (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zu oft ihre Leser oder Zuschauer mit Endzeitpessimis- mus über Europa. Ich bin der festen Überzeugung, daß sich das EWS gerade auch dadurch, daß sich zwei Währungen (Beifall bei der CDU/CSU) kurzzeitig aus dem Verbund entfernt haben und es in Da arbeiten sehr viele Arbeitnehmer im Vertrieb oder aller Ruhe dem Markt überlassen, die Kurse neu in der Transportabteilung ihrer Firma; sie verkaufen festzulegen, bewährt hat. Ich bin im übrigen fest und sie versenden 60 % der wirtschaftlichen Leistung davon überzeugt, daß beide Währungen alsbald in unseres Landes in alle Welt und räsonieren beim Bier den Verbund zurückkehren werden. am Feierabend über das Elend, das Europa ihnen Die jetzt anstehende Beratung und Ratifizierungs- bringe. debatte über die Maastrichter Verträge im Deutschen Es gibt auch zu viele Kollegen in der Politik, die für Bundestag ist eine gute Gelegenheit, sich gerade schwieriger gewordene Zeiten und zunehmende unter den letzten aktuellen Eindrücken europäischer internationale Verpflichtungen die Schuld des büro- Wirtschafts- und Währungspolitik intensiv, engagiert kratischen Molochs Europa beschwören, weil sie zu und sachlich mit jeder einzelnen Bestimmung des träge sind, die Realität differenziert zu würdigen und Vertrages auseinanderzusetzen. daran zu arbeiten. Wir merken: Die einfachen Antwor- ten sind allemal leichter. Daß es zu Klarstellungen, zu Erläuterungen und zu einem Dialog mit den Bürgern über diesen Vertrag (Beifall bei der CDU/CSU) kommen muß, ist nahezu von allen Seiten, auch von In den letzten Wochen haben wir leider Anschau- den Vorrednern, ausgeführt worden. Es ist unerläß- ungsunterricht darüber erhalten, was geschieht, wenn lich, Unklarheiten zu beseitigen und Präzisierungen die einheitliche, entschlossene Politik Europas inter- dort anzubringen, wo die exentiellen Grundlagen für national in Zweifel gerät. Wer es immer noch nicht Wirtschaft und Währungen betroffen sind. begriffen hat oder es immer noch nicht wahrhaben will, dem sei empfohlen, das Geschehen in all seinen Ich will das einmal in einem nicht ganz ernstge- Turbulenzen und in all seinen Facetten in aller Ruhe meinten Bild ausdrücken: Die vereinbarte Wirt- nachzuvollziehen. Es ist ein Lehrstück für deutsche schafts- und Währungsunion ist eine Badewanne mit und europäische Politik. Wir können alle nur gemein- 50 Grad warmem Wasser. Wer mehr Wasser in die sam hoffen, daß die Lernfähigkeit und die Einsicht der Wanne schütten möchte, um einzusteigen, darf dafür Politiker und der Menschen in die Wirtschaftsbezie- nicht 90 Grad oder nur 30 Grad warmes Wasser hungen dazu führt, daß uns ähnliches nicht in kürze- nehmen, um dann zu argumentieren, daß 40 Grad statt ren Zeitabständen erneut widerfährt. 50 Grad doch auch noch eine ganz angenehme Temperatur sei. Die Tatsache, daß das Referendum in Frankreich hinsichtlich seines Ausganges nicht mehr sicher zu (Heiterkeit im ganzen Hause) prognostizieren war und daß immer neue Meinungs- umfragen und neue Nervositäten und Schlagzeilen in Nein, 50 Grad müssen 50 Grad bleiben. Deutschland es unsicher erschienen ließen, ob es denn mit der Ratifizierung der Maastrichter Verträge vor- Gefordert ist die Erfüllung der Konvergenzkriterien wärtsgehe, waren die Einladung dazu, daß unverzüg- des Vertrages; nicht gefordert ist ein politischer Mit- lich spekulative Bewegungen in erheblichem Ausmaß telwert, um alle zu beruhigen oder — um im Bild zu am internationalen Geldmarkt vorgekommen sind. bleiben — um alle lauwarm zu baden. Dies von hier aus zu fordern, ist keine Attitüde deutscher Groß- So ist von vielen internationalen Finanzplätzen und mannssucht, sondern ist das notwendige und wichtige aus vielen Ländern mit hoher Geschwindigkeit Liqui- Bekenntnis zu den bisherigen Leistungen der EG. dität abgezogen worden, die in Deutschland plaziert worden ist, um so Abwertungs- oder Aufwertungs- Gleichzeitig muß die Debatte, die wir heute begin- druck für die Gewinnabsicht der Spekulanten zu nen und die uns in den nächsten drei Monaten erzeugen. Das Europäische Währungssystem geriet in begleiten wird, deutlich machen, daß das Ziel richtig Bedrängnis, aber es hat den Herausforderungen ist, das mit den Maastrichter Verträgen angestebt standgehalten. wird. Nur eine einheitliche europäische Wirtschaft, nur ein stabilitätsorientierter europäischer Währungs- An dieser Stelle möchte ich ein herzliches Danke- verbund und eine hohe Übereinstimmung europäi- schön dem Finanzminister, der gerade im Plenarsaal scher Außen- und Sicherheitspolitik können der ist, sagen. Garant dafür sein, die Probleme Europas und manches (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge andere Problem in der Welt lösen oder mildern zu ordneten der F.D.P.) helfen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9377

Wilfried Seibel In ganz besonderer Weise haben wir die Verpflich- Deutscher. Von der DDR wäre da keine Rede gewe- tung, den Staaten Mittel - und Osteuropas zu hel- sen. - fen. Ich bin ehrlich: Ich würde diese Frage heute sicher- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge lich anders beantworten. ordneten der F.D.P.) (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Wie? — Der dort begonnene demokratische Aufbau die ernst- Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Was fällt weg? haft betriebene Ausrichtung auf Marktwirtschaft Der Sachse?) brauchen die Hilfe der westeuropäischen Staaten. Nur die EG steht als Garant dafür, daß diese Staaten den Aber ich weiß: Viele Bürger der ehemaligen DDR Beitritt zur Gemeinschaft schaffen können. Wie viele haben damals ähnlich gedacht wie ich. Hoffnungen in den osteuropäischen Ländern auf uns gesetzt werden, ist jedem von uns hinreichend geläu- So war es folgerichtig, daß im Herbst 1989 nicht fig. Wir dürfen und wollen diese Hoffnungen nicht wenige Demonstranten die blaue Europafahne bei enttäuschen. sich trugen. Angesichts geschlossener Grenzen und begrenzter Reisemöglichkeiten in die sogenannten Die im Vertrag festgeschriebenen Stabilitätskrite- befreundeten sozialistischen Länder übte die Euro- rien für die Wirtschafts- und Währungsunion sind päische Gemeinschaft auf uns in der DDR eine unge- deshalb eng und st rikt anzulegen. Der Eintritt in die heure Faszination aus. Es war ein erhebendes Gefühl, dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion kann sich auf einem Campingplatz in Ungarn für 14 Tage nur auf der Basis der erwiesenen Stabilität bei erwie- als europäischer Bürger zu fühlen. Ich habe fast sener dauerhafter Haushaltssolidität der beteiligten Hemmungen, an dieser Stelle über unsere damalige Länder erfolgen. naive Sicht der Welt zu sprechen, die natürlich Die künftige europäische Währung muß so stabil zwangsläufig das Ergebnis des Eingesperrt-Seins sein und bleiben wie die Deutsche Mark. Es kann nur war. eine wirtschafts- und finanzpolitische Konvergenz und keine politische Konvergenz geben. Um so schneller mußte ich hier in Bonn begreifen, daß es wohl ein Unterschied ist, ob europäische Bürger Unauflösbar gehört dazu eine politisch unabhän- gemeinsam Urlaub machen oder ob sie sich beispiels- gige und selbständige Europäische Zentralbank, wie weise über die Milchmarktordnung einig werden wir es von der Deutschen Bundesbank kennen. müssen. An diesem Gegensatz wird aber die Aufgabe (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: In Frank der gegenwärtigen Europapolitik sichtbar, nämlich furt!) die Gemeinschaft politisch, wirtschaftlich und recht- Eine Europäische Zentralbank kann nicht der verlän- lich so zu gestalten, daß sie dem Lebensgefühl und gerte Arm einer wie auch immer gearteten Mehrheits- dem Gemeinschaftsbewußtsein der Bürger ent- politik sein. spricht. Vor dem Übergang von der zweiten in die dritte Dies gilt um so mehr für die Neubürger in der Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungs- Gemeinschaft aus der ehemaligen DDR. Wie soll dort union ist eine erneute politische Bewertung der angesichts der gegenwärtigen Situation, die von Entscheidungsgrundlagen und der eingetretenen Arbeitslosigkeit und ungewissen Zukunftsaussichten Realitäten durch Bundestag und Bundesrat erforder- geprägt ist, Europabegeisterung aufkommen? Wer um lich. Wir sollten fordern, denke ich, daß uns Gelegen- seinen Arbeitsplatz bangt oder sich als Existenzgrün- heit zur Diskussion und Beschlußfassung dazu gege- der um die Zukunft seiner Firma ängstigt, wird jeden ben wird. Konkurrenten fürchten. Freizügigkeit wird unter die- sen Umständen nicht nur als Chance, sondern auch als Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Stabilität Bedrohung empfunden. der Währungen sind unauflösbar mit der Fähigkeit zur Bewältigung der schweren Herausforderungen der Wo es — wie in den Ländern Osteuropas und der Zukunft verbunden. Gerade weil dies so ist, wird von ehemaligen DDR — zu einem Umbruch des gesamten uns gefordert, auf diesem Wege entschlossen und Wertegefüges im Bewußtsein der Menschen gekom- - unbeirrt das Ziel einer europäischen Integration zu men ist, gewinnt plötzlich Nationalismus eine verfolgen. Chance. Wo nichts mehr gilt, was den jungen Leuten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gerade noch als absolute Wahrheit verkündet wurde, finden Demagogen leicht Gehör. Da bleibt für den Gedanken eines Europabürgerbewußtseins in den Köpfen der Menschen wenig Platz, vor allem wenn es Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Gerald Thalheim das kaum erfahrbar ist, sondern nur rational begründet Wort. wird. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Erfahrbar ist es doch jeden Tag!) Dr. Gerald Thalheim (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wo — wie gegenwärtig in der ehemaligen DDR — Hätte mich jemand vor der politischen Wende in der inzwischen auch der letzte begriffen haben muß, wie ehemaligen DDR gefragt „Als was für einen Bürger hoch der Preis für die D-Mark eigentlich ist, gewinnt fühlst du dich?", so hätte ich spontan geantwortet: Geld einen hohen Stellenwert. Es ist unter diesen

erstens als Sachse — man kann es nicht verschwei- Bedingungen mehr als nur ein Zahlungsmittel. Die gen —, zweitens als Europäer und drittens, ja, auch als Einführung einer gemeinsamen Währung in Europa 9378 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Gerald Thalheim ist unter diesen Voraussetzungen nicht leicht zu das, was daraus folgte, die logische Konsequenz aus vermitteln. dieser Entscheidung? Ich bin mir nicht sicher, ob mit dieser Beschreibung Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung ist für mich der gegenwärtigen Bewußtseinslage in Ostdeutsch- auch das Ziel einer gemeinsamen europäischen Wäh- land die rechtsextremen Ausschreitungen der letzten rung folgerichtig. Ich gehe davon aus, daß von einer Zeit ausreichend erklärt werden könnten; zu entschul- gemeinsamen Währung Impulse für eine weitere digen sind sie jedenfalls nicht. europäische Einigung ausgehen würden und eine engere Abstimmung der Wirtschafts- und Finanzpoli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tik die zwangsläufige Folge wäre. der PDS/Linke Liste) Aber auch diese Entscheidung ist nur sinnvoll, wenn Wo ausländerfeindliche Aktionen die Diskussion sie von der überwiegenden Mehrheit der Bürger um eine Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft Europas mitgetragen wird. Das ist nur möglich, wenn begleiten, da stimmt etwas nicht. Wenn wir als Politi- die Bürger ein Gefühl der Sicherheit im Hinblick auf ker dem nicht energischer entgegentreten, verspielen die weitere wirtschaftliche und finanzpolitische Ent- wir ein Stück Zukunft. Wie sollen wir Ausländer für wicklung haben. Investitionen in den neuen Ländern gewinnen, wenn sie den Eindruck gewinnen müssen, dort nicht gern Es ist richtig, daß mit dem Vertrag von Maastricht gesehen zu werden? hohe Anforderungen an diejenigen gestellt werden, die der Währungsunion beitreten wollen. Abzulehnen (Beifall bei der SPD) ist dagegen der Automatismus für den Beitritt zur Die notwendige Bewußtseinsänderung erreichen Währungsunion. Aus Gründen der Akzeptanz in der wir aber nicht, solange die Auswirkungen der Euro- Bevölkerung ist es einfach notwendig, über dieses päischen Gemeinschaft für die Menschen nicht positiv Problem noch einmal öffentlich zu diskutieren und die erfahrbar werden. Beispiele dafür gibt es durchaus. letzte Entscheidung dem Parlament vorzubehalten. Ich denke nicht nur an die Reisemöglichkeiten im Weitere Parallelen zur deutschen Einheit sind leicht gemeinsamen Europa, sondern auch an die Wirt- herzustellen. Die Menschen in den neuen Ländern und den schaftsförderung Europäischen Sozialfonds. wurden mit der Einheit von heute auf morgen mit Ich begrüße es deshalb in diesem Zusammenhang, einem völlig neuen Rechtssystem konfrontiert. Ich will daß die neuen Bundesländer Zielgebiet 1 in der an dieser Stelle nicht werten, ob das in jedem Fall Wirtschaftsförderung werden. notwendig oder nützlich war. Tatsache ist, daß dies Die Grenzregionen in Sachsen, Brandenburg und mit erheblichen Eingriffen in den Alltag eines jeden Vorpommern haben nur dann eine Chance, wenn es einzelnen verbunden war. Um wieviel schwieriger ist gelingt, die wirtschaftlichen Verbindungen zur es, im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft Tschechoslowakei und zu Polen zu reaktivieren und Akzeptanz für Regelungen zu erreichen, deren Sinn zu vertiefen. Die Gemeinschaft muß dafür die Voraus- von vornherein in Zweifel gezogen wird und die setzungen schaffen. oftmals nicht nachvollziehbar sind. Angesichts der politischen, wirtschaftlichen und Die Lösung dieses Mißstandes soll jetzt durch mehr ökologischen Herausforderungen unserer Zeit gibt es Subsidiarität erreicht werden. Nach meiner Meinung zu einer europäischen Einigung keine Alternative. wird viel zu abstrakt von diesem Prinzip gesprochen. Der Vertrag von Maastricht ist ein wichtiger Schritt Auch das erinnert mich an jüngste Erfahrungen. So dorthin, auch wenn er in vielen Punkten Kompromisse sprachen gleich nach der Wende alle von der Markt- enthält. Denjenigen, die eine Neuverhandlung dieses wirtschaft wie von einer Zauberformel; von ihren Vertrages fordern, möchte ich die Frage stellen, ob sie Konsequenzen sprach keiner. sich auch eine Diskussion um die Neuverhandlung Deshalb möchte ich bemerken: Wer von Subsidiari- des Einigungsvertrags vorstellen könnten. tät spricht, der muß auch von den Folgen sprechen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Subsidiarität bedeutet den Verzicht auf eine hohe Regelungsdichte, also weg von einheitlichen Rege- Wenn ich mir die Diskussion im Vorfeld des Abkom- lungen auf fast allen Gebieten innerhalb der Gemein- mens von Maastricht und die Zeit seitdem vergegen- schaft. Das bedeutet eine Entwicklung hin zu mehr wärtige, so drängen sich mir viele Parallelen zur Wettbewerb, und zwar zu einem Wettbewerb nicht Entwicklung im geeinten Deutschland auf. Ich bin mir nur der Produkte, sondern auch der Rechtssysteme. bewußt, daß Vergleiche in diesem Bereich hinken; dennoch will ich versuchen, mich dem Thema vor dem Wenn ich die Diskussion zu diesem Thema verfolge, Hintergrund meiner Erfahrungen als Bürger der ehe- bin ich mir nicht klar darüber, ob dieser Zusammen- maligen DDR anzunähern. hang allen bewußt ist. Ich bin für eine solche Lösung; denn nur in einem solchen Wettbewerbsmodell kön- Ich bin der Überzeugung, daß der Wirtschafts- und nen die Regionen ihre Chance finden. Währungsunion, also der Einführung der D-Mark in der ehemaligen DDR, eine Schlüsselbedeutung im Umgekehrt muß aber die Frage erlaubt sein, die Zusammenhang mit der deutschen Einigung zukam. heute an dieser Stelle von der Kollegin Hellwig und Das wird heute oft negiert und vergessen. Dabei dem Kollegen Roth gestellt worden ist, wieviel Subsi- denke ich sowohl an die positiven als auch an die diarität z. B. im Umweltrecht, in der Sicherheitspolitik negativen Momente, die sich daraus für die Effizienz und in bezug auf die sozialen Belange innerhalb der der Wirtschaft ergaben. War nicht der 1. Juli 1990 der Gemeinschaft zu tolerieren ist. In welchem Umfang ist wirkliche Tag der deutschen Einheit, und war nicht eine Harmonisierung der umweltrechtlichen und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. 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Dr. Gerald Thalheim sozialen Bestimmungen notwendig, und in welchem Es gibt auch Ängste, die im Zusammenhang mit Bereich sind Differenzierungen hinnehmbar? Maastricht geäußert werden, die ursächlich mit die- Der Vertrag über die Union bleibt Stückwerk, wenn sem Vertrag überhaupt nichts zu tun haben. Ich nenne auf diese Frage keine klare Antwort gefunden wird. als Beispiel die Ängste der Bauern. Sie hatten für ihre Ich füge hinzu: Diese Antwort kann nicht der jeweili- Erzeugnisse den gemeinsamen Markt bereits mit den gen Kräftekonstellation im Ministerrat überlassen Römischen Verträgen. Der Binnenmarkt bringt ihnen werden. Deshalb muß die Diskussion auch nach der auf der Kostenseite Wettbewerbsgleichheit. Nun Ratifizierung des Vertrages von Maastricht weiterge- erfüllen die Verträge von Maastricht eine alte Forde- hen. Ich kann mir eine endgültige Regelung nur im rung der Agrarpolitiker; sie bringen nämlich die Rahmen einer europäischen Verfassung vorstellen, in gemeinsame Währung. der klar geregelt ist, für was die Gemeinschaft zustän- Die schlimme Lage unserer Bauern und die Krise in dig ist und für was nicht. Eine europaweite Diskussion der Landwirtschaft hängen mit anderen Dingen über eine solche Verfassung wäre ein wesentlicher zusammen, nämlich mit der Überschwemmung der Beitrag, die Akzeptanz für die politische Union zu Märkte durch die wachsende Produktivität, mit der erhöhen und im Bewußtsein des einzelnen Bürgers zu Arbeitsproduktivität, die letztlich zur Freisetzung von verankern. Arbeitskräften führt. Es ist wirklich zu fragen, ob die Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. nationalen Regierungen diese dramatische Entwick- lung hätten besser bewältigen können. Jedenfalls (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste kann man sagen: Der Vertrag von Maastricht verbes- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) sert die Instrumente, um auch die agrarpolitischen Probleme lösen zu können. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Ich halte es für sehr gefährlich und für unverant- hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Martin Mayer. wortlich, wenn man Stimmungen und Ängste dazu mißbraucht, um aus rein vordergründigen Motiven Stimmung gegen Europa zu machen. Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (CDU/CSU): Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vertrag von Maastricht ist ein Kompromiß. Ich sage das an die Ängste müssen wir ernst nehmen, aber wir müssen auf Adresse all derer, die mit vorworfsvoller Stimme der das Ziel schauen. Das ist im persönlichen Leben so, Bundesregierung vorwerfen, das hätte sie nicht das ist im geschäftlichen Leben so, und das ist auch im durchgesetzt und jenes hätte sie Nicht durchgesetzt: politischen Leben so. (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: So ist das (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Sehr eben bei Kompromissen!) wahr!) Wenn in einem solchen Vertrag eine Partei, sei es Wenn ich ein Unternehmen gründe und immer nur Deutschland oder ein anderes Land, alles mit erpres- schaue, was alles passieren könnte, dann werde ich serischen Methoden durchsetzen könnte, dann wäre nie zu einem Erfolg kommen. Auch in Europa müssen es ein Diktat. Das wäre das Schlechteste, was wir von wir nach vorn und auf das Ziel schauen. Dann werden einem solchen Vertrag erwarten könnten. wir es erreichen! (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Es ist wahr, daß wir die europäischen Entschei- dungsprozesse durchsichtiger und durchschaubarer Bei einem Kompromiß ist eine Gesamtbewertung machen müssen und daß wir die notwendig. Wir haben die Wirtschafts- und Wäh- Zuständigkeiten auch sachgerechter abgrenzen müssen, aber der Ver- rungsunion; das heißt, das deutsche Stabilitätssystem trag von Maastricht leistet dazu schon einen Beitrag. wird auf Europa übertragen. Mit denjenigen europäi- Auch das müssen wir einmal sagen. Die Demokratie schen Ländern, die stabilitätsbewußt wirtschaften, wird dadurch gestärkt, daß das werden wir zum Ende dieses Jahrtausends eine Europäische Parla- Wäh- ment in der Gesetzgebung und in der rungsgemeinschaft bilden. Kontrolle der Kommission mehr Rechte hat. Der Vertrag von Maastricht enthält verbindliche Willenserklärungen über die zukünftige europäische (Zuruf von der SPD) Politik in wichtigen Bereichen, z. B. im Bereich der Ich sage nicht, daß das genug ist. Es kommt noch Sicherheitspolitik. Er enthält die Übertragung neuer einiges dazu: Das Europäische Parlament muß ein Zuständigkeiten — das weckt nicht überall Begeiste- uneingeschränktes Initiativrecht bekommen. Ich rung —, und er enthält etwas ganz Wichtiges, nämlich meine, auch der Rat muß ein uneingeschränktes eine Generalklausel zur Zuständigkeit, die die Rechte Initiativrecht bekommen, denn wir werden mit der der Mitgliedstaaten sichert und die letztlich die Viel- Vollendung des Binnenmarkts in eine Phase kommen, falt Europas in der Subsidiarität sichert. wo es nicht nur darum geht, neue Richtlinien und In der Gesamtbewertung kann man sagen: Der Verordnungen zu erlassen, sondern auch darum, Vertrag von Maastricht bringt für alle Europäer und bestehende zu verändern. Auf diesem Gebiet muß der auch für uns Deutsche Vorteile. Gegenwärtig ist Rat schneller und wirksamer handeln können. allerdings die Gefühlslage vieler Europäer anders; es Ich meine, wir müssen auch sehr gründlich darüber ist eine Gefühlslage der Angst. Wir müssen diese nachdenken — ich sage das gerade auch an die Ängste ernst nehmen, wir müssen uns mit ihnen Adresse der SPD —, ob wir immer nur mehr Rechte für auseinandersetzen, und es muß unser Ziel sein, diese das Europäische Parlament fordern sollten. Rat und Ängste abzubauen. Europäisches Parlament haben unterschiedliche Auf- 9380 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) gaben. Deshalb können sie auch nicht völlig gleichar- wenn es Schwächen abbaut und Stärken ausbaut. Die tig behandelt werden. Schwächen sind: Zerstrittenheit und Nationalismus.- (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Na!) Die Stärken sind: der Wille zur Gestaltung und die Gemeinsamkeit in der Vielfalt. — Sie können gleichwertig behandelt werden, aber Konrad Adenauer hat einmal gesagt: Europa, das ist nicht gleichartig. Ich meine, daß dies auch eine ganz wie ein Baum, der wächst, der eine Schicht nach der wichtige Sache ist. anderen ansetzt. Ich füge hinzu: Der Vertrag von (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Was ist Maastricht wird dem gerecht. denn da der Unterschied?) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Der Europäische Rat wird nämlich von seinem Selbst- verständnis her mehr die Interessen der Mitgliedstaa- ten wahrnehmen, während sich das Europäische Par- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort lament von seiner Tendenz her mehr für Gesamteu- hat nunmehr der Abgeordnete Dietmar Schütz. ropa verantwortlich zeigt. Damit der Europäische Rat in Zukunft auch mehr die Interessen der Mitgliedstaa- ten wahrnehmen kann, muß ihn der Deutsche Bun- Dietmar Schütz (SPD): Herr Präsident! Meine destag in Zukunft kritischer als bisher begleiten. Die Damen und Herren! Verfolgt man die öffentliche Ratifizierung von Maastricht ist eine große Chance, Diskussion über den Vertrag von Maastricht, so fällt um dieses kritische Begleiten durch den Deutschen auf, daß das Thema „europäische Umweltpolitik", Bundestag zu verstärken. gemessen an den Fragen der Währungsunion und der politischen Union, nur sehr marginal behandelt (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Deshalb wird. hat die SPD auch das Rechtsstellungsgesetz für den Bundestag vorgeschlagen!) (Beifall bei der SPD — Dr. Helmut Hauss- mann [F.D.P.]: Leider!) Der Deutsche Bundestag muß im Interesse der Vielfalt Europas mit großer Aufmerksamkeit verfol- In einer Zeit, in der immer mehr Menschen besorgt gen, welche Richtlinien und Verordnungen im Mi- über die zunehmende Zerstörung der natürlichen nisterrat behandelt werden, und er muß dafür kämp- Lebensgrundlagen sind, scheint die Umwelt zumin- fen, daß in Europa nur das geregelt wird, was eben in dest in der Europadebatte zu einer Quantité néglige- Europa zwingend geregelt werden muß. able geworden zu sein. Zwar hat Wolfgang Roth an dieser Bewertung vorhin schon gekratzt, aber wir (Beifall bei der CDU/CSU) haben gleichwohl darüber noch nicht diskutiert. Wenn wir dann im Bundestag über die einzelnen Diese Einschätzung überrascht um so mehr, als in Verordnungen und Richtlinien der Europäischen zahlreichen aktuellen Umfrageergebnissen zu den Gemeinschaft, die im Ministerrat verabschiedet wer- uns bewegenden Politikfeldern die Umwelt trotz ein- den, aktuelle und sicher oft auch kontroverse Debat- setzender Rezession zusammen mit der Arbeitsplatz- ten führen werden, dann wird letztlich auch der sicherheit immer noch an der Spitze steht. Diese Bürger mehr Anteil an dem nehmen, was in Europa offensichtliche Diskrepanz findet ihre Erklärung mög- geschieht. Auch deshalb muß über das, was im Mi- licherweise darin, daß die Konstruktion des Maas- nisterrat entschieden wird, im Deutschen Bundestag trichter Vertrages nach wie vor von einem tradierten debattiert werden. Politikverständnis ausgeht. (Beifall bei der CDU/CSU) Wie vor 35 Jahren bei der Unterzeichnung der Ich füge hinzu: Der Deutsche Bundestag kann in der Römischen Verträge bildet auch im Maast richter Ver- Frage der Begleitung nicht schlechter gestellt sein als trag die Ökonomie das eigentliche Fundament einer der Bundesrat. europäischen Union, ergänzt um die klassischen Poli- tikfelder der Außen- und Sicherheitspolitik. (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Das ist Eine gehört leider nicht zu den Ver- sicher wahr! — Peter Kittelmann [CDU/ Umweltunion CSU]: Die vom Bundesrat sind alle schon tragszielen, obwohl gerade die Ökologie ihrem Wesen nach auf eine möglichst enge internationale Zusam- gegangen!) menarbeit angewiesen ist. — Ja, man sieht leider keinen mehr. (Beifall bei der SPD und dem Abg. Dr. Hel- Meine sehr geehrten Damen und Herren, Europa mut Haussmann [F.D.P.]) muß verläßlich bleiben und stärker werden. Nur ein Zwar gehört die Umweltpolitik bereits seit Inkraft- einiges Europa kann sich gegenüber den großen treten der Einheitlichen Europäischen Akte vor fünf Wirtschaftszentren auf der Welt behaupten. Jahren zu den Politikfeldern der Gemeinschaft, aber Wer denn sonst als dieses einige Europa soll denn schon die bisherige Numerierung der Art. 130r bis den Nachbarn im Osten und im Süden Europas 130t zeigt, daß dem Wirtschaftsbaum in dem Vertrag helfen? Wer Gelegenheit hat, in Osteuropa mit Bür- von 1986 ein ökologischer Ast aufgepfropft wurde, gern, mit Politikern oder mit Wirtschaftsvertretern zu ohne daß zumindest damals die weiteren Politikberei- reden, der wird feststellen, welch große Hoffnungen che unter ökologischem Aspekt integrativ vernetzt diese Völker auf Europa setzen. Ich meine, das müßte worden wären. für uns eine Verpflichtung sein. Der Vertrag über die Europäische Union liefert jetzt Europa kann die Herausforderungen im eigenen einen Einstieg in diese notwendige Vernetzung. Haus, in der Nachbarschaft und weltweit nur erfüllen, Reicht das aus? Können wir aus ökologischer Sicht den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9381

Dietmar Schütz Verhandlungen zustimmen? Können wir mit den frage des Kollegen Müller (Pleisweiler) zu beantwor- Ergebnissen von Maastricht zufrieden sein? ten? - Um die Antwort vorwegzunehmen: Ich glaube, daß der Vertrag über die Europäische Union trotz des Dietmar Schütz (SPD): Ja. Fehlens einer Umweltunion einen Fortschritt auf dem Weg zu einer besseren europäischen Umweltpolitik Albrecht Müller (Pleisweiler) (SPD): Lieber Herr darstellt. Zufrieden sein können wir aber noch Kollege Schütz, Sie wissen doch genau wie ich, daß nicht. die Taten der Kommission, aber auch des Rates — ich (Beifall der Abg. Heidemarie Wieczorek denke in diesem Zusammenhang etwa an die Ver- Zeul [SPD]) träge mit der Schweiz und mit Österreich sowie an den diesbezüglich ausgeübten Druck — gerade die Ver- Der Vertrag von Maastricht unternimmt den Ver- kehrspolitik der Europäischen Gemeinschaft unter such, die notwendigen ökologischen Rückkopplun- Umweltgesichtspunkten als sehr fragwürdig erschei- gen zumindest teilweise herzustellen. So wird eine der nen lassen. Primäraufgaben der Gemeinschaft eine ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens zu erreichen, auch Meine Frage: Wieso ist der Vertrag von Maast richt am Kriterium des umweltverträglichen Wachstums für Sie eine Hoffnung, daß sich das verbessert bzw. gemessen. Zu den Tätigkeiten der Gemeinschaft wird zum Guten ändert? Handelt es sich nicht eher um eine jetzt in Art. 3 neben vielen anderen Dingen auch die Bestätigung dieses Kurses, der zumindest bis jetzt Förderung einer Politik der Umwelt als Zielvorstel- ökologischen Gesichtspunkten entgegenläuft? lung vorgegeben. Schließlich wird durch Maast richt neben dem euro- Dietmar Schütz (SPD): Herr Kollege Müller, die päischen Regionalfonds und der Effektuierung des Untaten, die auf diesem europäischen Feld begangen worden sind, sehe ich genauso wie Sie. Die Frage, die Strukturfonds auch ein Kohäsionsfonds geschaffen, der zu Vorhaben in den Bereichen Umwelt und ich untersucht habe, ist aber doch, ob wir Weiterent- transeuropäische Netze auf dem Gebiet der Verkehrs- wicklungen in dem Vertragswerk feststellen können. infrastruktur finanzielle Beiträge leisten soll. Solche Weiterentwicklungen sind eindeutig feststell- bar. Dies ergibt sich aus der Einheitlichen Europäi- Sieht man also die Bestrebungen seit der Ratifizie- schen Akte durch den Zusatz des Kapitels Umwelt. rung der Einheitlichen Europäischen Akte mit dem (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Eben!) Vertrag von Maastricht zusammen, so hat der Umweltschutz ohne Zweifel Fortschritte gemacht. Die In dem Vertrag von Maas tricht ist — ich habe das Tatsache allerdings, daß so wichtige Bereiche wie der soeben ausgeführt — von „integrativen Gedanken" gesamte Naturschutz und der Grundsatz des nachhal- und „Vernetzung" die Rede. Wir müssen darauf achten, daß dementsprechend verfahren wird. Ich tigen Wachstums . — sustainable development — für den Umweltbereich lediglich in Zusatzerklärungen werde in meiner Rede darauf noch näher eingehen. nachgetragen wurden, zeigt den Stellenwert, den die Wir müssen darauf achten, daß das, was wir als Option Ökologie in den Vertragsverhandlungen gehabt — ich sehe das als eine Option — haben, auch in die hat. Tat umgesetzt wird. (Zustimmung bei der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Daß es nicht der Solange eine gleichgewichtige und gleichrangige Subsidiarität anheimfällt!) Behandlung der Umweltpolitik in der Europäischen — Wir werden über Subsidiarität und Harmonisierung Union noch nicht erreicht ist, wird dieser Politikbe- noch reden müssen. Die Frage wird sein, wie wir damit reich auf der Agenda bleiben müssen. Maastricht war umgehen. Ich glaube, es gibt eine Option. Die noch nicht der Abschluß hin zu einer gleichgewichti- Umweltverbände, die diesbezüglich sehr kritisch gen Behandlung der Ökologie. sind, müssen die Diskussion begleiten und ihre Kritik (Beifall bei der SPD) aufrechterhalten. Dies alles muß immer vor dem Hintergrund folgender Fragen gesehen werden: Wie Auch künftig wird die wirtschaftliche Harmonisierung geschieht das eigentlich? Wie wird das in der Praxis der Gemeinschaft vor einem integrativen europäi- gemacht? schen Umweltschutz rangieren. Ich fragte vorhin, ob eine Ratifizierung zu verant- Ist es dann, so frage ich erneut, zu verantworten, daß worten ist. Das betrifft ebenfalls das, was Sie, Herr wir — immer unter dem Gesichtspunkt des Umwelt- Müller, gesagt haben. Wir haben leider nach dem bis schutzes — für eine Ratifizierung eintreten? Unabhän- jetzt geltenden Recht erlebt, daß sich der Europäische gig davon, daß die Frage der Ratifizierung eines solch Gerichtshof z. B. bei der Frage der Verringerung und umfassenden Vertragswerks nicht derart eindimen- späteren Unterbringung der Abfälle der Titandioxid- sional auf ein Politikfeld bezogen werden darf, ist die Industrie auf Grund stärkerer Umweltnormen für die Frage dahin gehend zu ändern, ob wir in Zukunft Harmonisierung und somit gegen den stärkeren umweltpolitische Vorreiterfunktion in Industrie und Umweltschutz in den Gerichtsverhandlungen ausge- Landwirtschaft wahrnehmen können oder ob dies in sprochen hat. Der jetzt zur Entscheidung stehende Zukunft durch den Maastrichter Vertrag „wegharmo- Maastrichter Vertrag hat in dem Konfliktfeld zwi- nisiert" wird. schen Harmonisierungsdruck und Umwelterforder- nissen die Schutzklausel für die Umwelt erhöht. Aller- dings ist das Verfahren in bezug auf die Durchsetzung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- sehr kompliziert. Ich hoffe, daß dieser Schutzwall geordneter Schütz, sind Sie bereit, eine Zwischen- ausreicht, um unsere Probleme, die auch Sie, Herr 9382 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dietmar Schütz Müller, angesprochen haben, in den Griff zu bekom- Meine Damen und Herren, Umweltpolitik hat in der men. geschichtlichen Entwicklung des Politikbereiches — wenn wir bei der schon Der alte Konflikt — Harmonisierung und Umwelter- Umweltpolitik in Europa von Geschichte reden dürfen — immer etwas mit der fordernisse — sowie die Teilantwort im neuen Vertrag nämlich dem Infor- machen deutlich, daß es sehr darauf ankommt, wie die Entwicklung von Bürgerrechten, mationszugang von Bürgern und der Teilhabe von Kommission und wie die Bürokratie in Zukunft derar- Bürgern zu tun. Ich will an dieser Stelle nicht mehr auf tige Konflikte lösen werden. Es bleibt weiter zu die wichtigen Fragen des Parlamentszugangs und der prüfen, ob die notwendige Integration der ökologi- Kontrolle des Parlaments reden, sondern ich will auf schen Erfordernisse in die verschiedenen Politikberei- die Forderungen eingehen, die wir nach der Ausge- che — insbesondere in den der Wirtschaft — staltung der Informationszugangsrechte und der Par- gelingt. tizipationsrechte der europäischen Bürger erheben. Das jetzt noch stärker verankerte Subsidiaritäts- prinzip kann darüber hinaus helfen, eine etwaige Die EG-Richtlinie über den freien Zugang zu Infor- umweltpolitische Avantgardeposition, die wir teil- mationen über die Umwelt ist erfreulicherweise in weise eingenommen haben, innerhalb der Gemein- Kraft. Insofern hat die Europäische Gemeinschaft ihre schaft abzusichern. Unter dem Schild der Subsidiarität Hausarbeiten gemacht. Auf nationaler Ebene tun wir besteht für die Bundesrepublik prinzipiell die Mög- uns sehr schwer, hier zu folgen. Dies Voranschreiten lichkeit, ihre hohen Standards abzusichern und sogar der Europäischen Gemeinschaft auf dem Feld der auszubauen. Umwelt vor den sich sonst so vorbildlich apostrophie- renden Deutschen ist ein gutes Beispiel dafür, daß wir Allerdings kann unter dem gleichen Schild auch die im Umweltkonvoi nicht immer ziehen, sondern Arrieregarde — um im Bild zu bleiben — Substan- manchmal auch gezogen werden. Es gibt auch andere dards im Umweltbereich aufrechterhalten, um im Beispiele, an denen wir das belegen könnten, z. B. die internationalen Wettbewerb billiger zu produzieren Richtlinie über die Umweltverträglichkeit und an- und um durch Umweltdumping einen vermeintlichen dere. Standortvorteil bei den Produktionsbedingungen zu erlangen. Es wird also auch beim Subsidiaritätsprinzip Ich will noch auf die Beteiligungsrechte der EG- wesentlich darauf ankommen, wie die konkrete Aus- Bürger eingehen. Das Einspruchs- und Beteiligungs- gestaltung vorgenommen wird, um sowohl der Vorhut recht über die Grenzen hinweg in Verwaltungs - und als auch der Nachhut die Möglichkeit zu geben, Justizverfahren muß überall gewährleistet sein. Der wieder zum Troß zu kommen. Denn auch wenn wir mündige EG-Bürger muß auch gegenüber der euro- voranschreiten und keiner mehr nachkommt, ist das päischen Politik und der europäischen Bürokratie, eine gefährliche Situation. insbesondere auf dem Felde der Umwelt, mitsprechen dürfen. Er darf nicht durch die Grenzen aufgehalten Der von mir anfangs begrüßte Kohäsionsfonds für werden. Er muß vom Elsaß bis Baden und von Baden den Bereich Umwelt und transeuropäische Verkehrs- bis zum Elsaß in umweltpolitischen Ansiedlungen ist ein weiterer Prüfstein für das Gelingen der netze mitreden können. ökologischen Öffnung bei der Entwicklung europäi- scher Regionen. Der Kohäsionsfonds darf weder Alibi (Beifall bei der SPD) für möglicherweise umweltbeeinträchtigende Maß- nahmen sein, die aus Regionalfonds oder Struktur- Bisher waren die Damen und Herren der europäi- fonds finanziert wurden und werden, noch darf er schen Bürokratie sehr weit weg vom Bürger — so weit, selbst umweltbeeinträchtigende Maßnahmen för- daß sie ihn gar nicht kannten. Dies muß sich ändern. dern, was bei den transeuropäischen Verkehrsnetzen Auch die europäische Bürokratie muß den Bürger — ich sage das ausdrücklich, Herr Müller — nicht kennen- und schätzenlernen. ausgeschlossen ist. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Die Erfahrungen mit den Projekten, z. B. im Natur- Schluß feststellen: Der Vertrag von Maastricht hat schutzgebiet Coto Donana in Südwestspanien, wo zwar noch nicht den notwendigen Durchbruch zu EG-geförderte Landwirtschaftsprojekte dem Natur- einer Umweltunion eröffnet; er bietet aber insbeson- park riesige Wassermengen entzogen, oder die dere in den Art. 2 und 3 Perspektiven für eine Umleitung des griechischen Flusses Acheloos mit den wesentlich verbesserte europäische Umweltpolitik. massiven Umweltauswirkungen zeigen, daß die Ver- Die Selbstverpflichtung, bei der Erzielung von wirf gabe und Verwendung von Mitteln aus den Struktur- schaftlichem Wachstum auf dessen Umweltverträg- fonds ökologisch blind erfolgte. Diese durch zahllos lichkeit zu achten, und die erstmalige explizite Nen- weitere Beispiele belegbaren Fehlhandlungen müs- nung der Umweltpolitik als Tätigkeitsfeld der sen nicht zwangsläufig auf der Gesetzeskonstruktion Gemeinschaft sind Optionen — mehr noch nicht —, beruhen. Der Fehler liegt wahrscheinlich weniger im auf denen aufgebaut werden muß. System als mehr in der Bürokratie und in der Abstim- mung der Bürokratien untereinander. Deswegen soll- Naturzerstörung und Umweltzerstörung kennen ten wir darauf dringen, daß nach der Ratifizierung des keine Grenzen. Eine europäische Umweltpolitik sollte Maastrichter Vertrages mit seinem zweifellos vorhan- dem in nichts nachstehen; auch sie darf keine Grenzen denen Ansatz zu integrativem Umweltschutz dies kennen. auch tatsächlich praktiziert und durchgesetzt wird. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. Die wirtschaftliche Entwicklung eines Raumes in Europa darf der ökologischen Rücksichtnahme nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vorgehen. der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9383

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die erteile ich dem Abgeordneten Dr. Schockenhoff das Debatte um die 1986 vereinbarte Einheitliche Euro- Wort. päische Akte. Auch sie hat zunächst keine Begeiste- rung hervorgerufen. (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Aber so Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Herr Präsi- dent! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Diskus- schlecht war sie nicht!) sion über den Vertrag von Maastricht beschäftigt die Sie wurde nicht in allen Mitgliedstaaten rechtzeitig Menschen in Deutschland. Eine Reihe von Wirt- ratifiziert. Das Gespenst der „Eurosklerose" ging um. schaftswissenschaftlern hat die Vereinbarung von Heute sind wir auf der Zielgeraden des großen Bin-- Maastricht abgelehnt. Wenn man allerdings nach- nenmarktes 1993. Allem miesmacherischen Gerede fragt, dann sind sie sich zwar in der Ablehnung einig, zum Trotz: In den letzten Monaten und Jahren ist die zeigen aber keine Perspektive für die weitere Ent- europäische Integration entscheidend vorangekom- wicklung auf. men. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Diese europäische Perspektive aufzuzeigen, muß der ordneten der SPD und der F.D.P.) Kern unserer heutigen Debatte sein. Das war gut für die Menschen in den Staaten der (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Heiner Europäischen Gemeinschaft. Aber hier dürfen wir Geißler [CDU/CSU]: Es sind 60 von 400 Nat- nicht stehenbleiben. Wenn manche in der Öffentlich- tionalökonomen!) keit Skepsis gegenüber der Wirtschafts - und Wäh- rungsunion und gegen die politische Union verbrei- — „Es sind 60 von 400 Nationalökonomen", sagt mir ten, dann sind wir als Politiker gefordert. Wir müssen gerade mein Freund Heiner Geißler. Aber ich glaube, jetzt für mehr Verständnis sorgen. Wir müssen dieses die anderen 340 verstehen von der Sache auch unbekannte Europa, das viele Bürger mit Bürokratis- etwas. mus verbinden, verständlich machen. Es muß Schluß (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sehr viel damit sein, positive Ergebnisse europäischer Politik zu mehr!) nationalisieren und im Gegenzug negative Ereignisse Manche stellen der europäischen Perspektive den zu europäisieren. Nationalstaat entgegen, den sie erhalten sollen. Aber (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Nationalstaat besteht so, wie das diese Leute glauben, seit langem nicht mehr. Die Staaten der Gerade für Deutschland ist die ökonomische Inte- Europäischen Gemeinschaft haben bereits viele gration Europas von besonderer Bedeutung. Schließ- Zuständigkeiten an die Gemeinschaft abgetreten. Die lich exportiert die Bundesrepublik mehr als 30 % ihrer Menschen in diesen Ländern haben von der europäi- Waren und Dienstleistungen und 60 % dieser Export- schen Integration profitiert. geschäfte werden mit EG-Partnerländer abgewickelt. Hier waren die Wachstumsraten während der vergan- Wir sollten uns auch einmal bewußt machen, daß genen Jahre enorm. Der Export in die EG-Länder stieg die trennenden Grenzen, wie sie vor allem die älteren zwischen 1981 und 1991 um mehr als 80 %. In der Generationen kennen, doch eine sehr neue Sache Bundesrepublik hängen 8 bis 9 Millionen Arbeits- sind. Der Wiener Jude und Schriftsteller Stefan Zweig plätze unmittelbar vom Export ab. Damit hängen etwa beklagt 1941 aus dem brasilianischen Exil, wie sich 5 Millionen Arbeitsplätze an den Exporten in andere die europäischen Nationen voneinander abgeschottet EG-Länder. haben. Er berichtet in seinem Buch „Die Welt von gestern — Erinnerungen eines Europäers", wie er vor Die Verwirklichung des Binnenmarktes 1993 und dem Ersten Weltkrieg ohne jegliches Personaldoku- die geplante Währungsunion vertiefen die ökonomi- ment quer durch Europa gereist ist. Daraus wird sche Integration. Der volkswirtschaftliche Nutzen ist deutlich, daß wir mit der Öffnung der Grenzen in enorm. Der Cecchini-Bericht erwartet durch die Ver- Europa nichts völlig Neues schaffen, sondern wirklichung des Binnenmarktes ein zusätzliches geschichtliche Fehlentwicklungen beseitigen. Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 4 % bis 7 %. Der Wegfall der Zölle wird den Anteil des Handels (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und innerhalb der Gemeinschaft weiter erhöhen. Der der F.D.P.) größte Teil der ausländischen Direktinvestitionen in Die Weiterentwicklung der Europäischen Union Deutschland kommt aus den Ländern der Europäi- braucht klare Ziele. Maastricht ist ein Etappenziel — schen Gemeinschaft. ein Etappenziel, das die meisten noch vor wenigen Jahren für unerreichbar gehalten haben und für das (Zurufe von der CDU/CSU: So ist es!) manche, weil es so fern schien, in der Vergangenheit Dies ist insbesondere für den Aufbau der neuen kaum Verständnis aufbrachten und jetzt dafür kaum Bundesländer von entscheidender Bedeutung. Interesse zeigen. (Beifall bei der CDU/CSU) Natürlich erfüllt der Vertrag von Maastricht nicht alle Wünsche. Aber Maastricht ist ein wichtiger Schritt Beim Erwerb von Unternehmen der Treuhandanstalt auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat. Bei den sind die europäischen Investoren führend. Verhandlungen ist die Bundesregierung an die Gren- Von den Vorteilen des europäischen Binnenmarkt zen des jetzt politisch Machbaren gegangen. Das programmes profitieren alle Bevölkerungsgruppen. haben nicht zuletzt die Volksabstimmungen in Däne- Die Preise geben auf Grund des zunehmenden Wett- mark und Frankreich gezeigt. bewerbs nach. Der Wegfall von Personen- und Zoll- 9384 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Andreas Schockenhoff kontrollen ermöglicht eine mengen- und wertmäßig polemischen Streit. Die Volksabstimmung würde poli- unbegrenzte Einfuhr von Waren aus anderen EG tischen Rattenfängern eine Bühne bieten. Ländern. Eine einheitliche europäische Währung (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Dann wird bringt Kostenvorteile bei Auslandsreisen. Die Wachs- Herr Gysi dabei sein!) tumseffekte des Binnenmarktes schaffen eine Viel- zahl neuer Arbeitsplätze. Die Anerkennung der natio- Drittens sollten wir nicht einerseits die weitverbrei- nalen Berufs- und Hochschulabschlüsse ermöglicht tete Politikverdrossenheit beklagen, andererseits aber vor allem den jungen Menschen eine noch nie dage- mehr über Verfahren als über Inhalte streiten. wesene Chance, überall in Europa die freie Wahl des Mit der für 1996 geplanten nächsten Regierungs- - Arbeitsplatzes zu haben. konferenz müssen insbesondere die Rechte des Parla- ments gestärkt werden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Unternehmen profitieren durch ein sinkendes Preisniveau für Vorleistungen und den Wegfall von Mit dem Vertrag von Maastricht wurden kleine, aber Grenzformalitäten. Die Niederlassungsfreiheit inner- entscheidende Schritte der Demokratisierung ver- halb der EG erlaubt es, Standortvorteile zu nutzen und wirklicht. Mit der nächsten Regierungskonferenz muß neue Märkte zu erschließen. Die europaweite Aus- ein großer Sprung zum demokratischen Europa mit schreibung öffentlicher Aufträge ermöglicht deut- einem starken Parlament erreicht werden. schen Unternehmen, ohne Benachteiligung in den Lassen Sie mich drei zentrale Elemente einer Ver- Nachbarländern tätig zu werden. fassung der Europäischen Union anführen. Europäische Gemeinschaftsprojekte wie der Airbus Erstens brauchen wir eine föderative Gliederung. oder die Ariane überfordern die Leistungskraft der Die erste Stufe dieser Gliederung sind die Länder und einzelnen Nationen und wurden deshalb erst durch Regionen, die zweite Stufe sind die Mitgliedstaaten, die ökonomische Integration Europas möglich. die dritte Stufe die Europäische Union. In dieser föderativen Struktur haben wir schon heute grenz- (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Jawohl!) übergreifende Regionen in Europa wie etwa den Bodenseeraum oder den Oberrhein mit der badischen Sie haben zu mehr Wettbewerb auf den Weltmärkten und elsässischen Seite. Es sind vor allem diese Grenz- geführt. regionen, die Europa weitergebracht haben. Diese Vorteile der Europäischen Union müssen die (Beifall bei der CDU/CSU) Menschen kennen. Wir brauchen jetzt eine ,,Gemein- schaftsinitiative Europa" in ganz Deutschland. Bei dem französischen Referendum haben die Men- schen, die Europa tagtäglich erleben, für Europa Graf Lambsdorff hat heute morgen beklagt, Europa gestimmt und damit die Zustimmung für diese weitere sei zu lange totgeschwiegen worden. Er ist Parteivor- Entwicklung in Europa gesichert. sitzender. Bei dieser „Gemeinschaftsinitiative Eu- (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Gott sei ropa" sind insbesondere die Parteien gefordert. Dank!) (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Sehr rich Zweitens müssen wir in diesem dreistufigen Aufbau tig!) die Kompetenzen klar zwischen Ländern, Mitglied- staaten und der Union verteilen. Wir brauchen keine Mit ihrem Organisationsgrad bis in die kleinste Europäische Gemeinschaft, die alles regelt. Was wir Gemeinde können sie wesentlich mehr zur Informa- aber genauso wenig brauchen, ist eine permanente, tion der Bürger beitragen als alle Ministerien zusam- nicht immer von Sachverstand geprägte Polemik men. gegen Europa. Mancher, der die Regelungswut (Beifall bei der CDU/CSU) beklagt, fordert selbst, wo es ihm gerade paßt, einheit- Zu Herrn Gysi muß ich sagen: Es ist schon ein liche europäische Regelungen. Treppenwitz, wenn ausgerechnet die Partei eine - Volksabstimmung über den Vertrag von Maastricht fordert, deren Vorgänger in der DDR bis vor wenigen Herr Jahren die Menschen geknebelt und mundtot Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Dr. Schockenhoff, auch auf die Gefahr hin, daß Sie gemacht hat. mich der Regelungswut bezichtigen: Sie haben Ihre Was spricht gegen eine Volksentscheidung? Erstens Redezeit deutlich überschritten. Ich wäre Ihnen dank- können wir nicht permanent die Effizienz unserer bar, wenn Sie zum Ende kämen. parlamentarischen Demokratie betonen, uns dann aber aus der Verantwortung stehlen, wenn grundle- gende Entscheidungen für die Zukunft unseres Lan- (CDU/CSU): Ich komme des gefordert sind. Dr. Andreas Schockenhoff zum Schluß: Man kann sich sicherlich streiten, ob in (Beifall bei der CDU/CSU) Brüssel festgelegt werden muß, wie groß ein Boden- seeapfel ist. Wir dürfen uns aber nicht dauernd um Gerade jetzt muß das Parlament seine Handlungsfä- Lappalien streiten, sondern sollten die großen Aufga- higkeit beweisen. ben sehen. Zweitens brauchen wir in Deutschland Informatio- Die Europäische Union ist auf einem guten Weg; nen über die Europäische Union und nicht den Maastricht ist eine wichtige Etappe. Wir werden Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9385

Dr. Andreas Schockenhoff weiter an der Europäischen Union bauen. Es macht Nun sagen mir einige meiner Freunde: Peter, du Spaß, daran mitzuarbeiten. hast ja recht, der Vertrag ist furchtbar. Eigentlich ist er (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge schon seit der Abstimmung in Dänemark tot. Halt den ordneten der SPD) Mund und stimm zu, die Engländer werden diesen Vertrag schon zum Scheitern bringen! (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Werden Sie Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile denn zustimmen?) nunmehr dem Abgeordneten Peter Conradi das Ich halte das für eine unehrliche Haltung. So kann der Wort. Bundestag mit seiner Verfassung, so können wir mit unseren Rechten und Pflichten, auch mit den Rechten- der Länder und Gemeinden nicht umgehen. (SPD): Es ist schön, Herr Präsident, Peter Conradi Meine Bedenken richten sich auf zwei Punkte: meine Damen und Herren, daß nach 23 Befürwortern des Maastricht-Vertrags aus den drei Fraktionen Zum einen ist dies das Demokratiedefizit; das ist für — ich sehe jetzt mal von der PDS ab — hier auch ein mich keine Nebensächlichkeit. Stellen Sie sich bitte Abgeordneter reden darf, der dem Vertrag skeptisch vor, in Deutschland würden die Gesetze nicht vom gegenübersteht. So habe ich mir eine lebhafte parla- Bundestag, sondern vom Bundesrat, also von einer mentarische Debatte vorgestellt. Versammlung von Landesministern, verabschiedet. Diese sind ihren Parlamenten über ihr Verhalten im Ich spreche nicht für meine Fraktion, aber doch für Bundesrat, also von einer Versammlung von Landes- einige aus meiner Fraktion. Ich spreche für die Men- ministern, verabschiedet. Diese sind ihren Parlamen- schen, die gegenüber dem Vertrag Zweifel und Äng- ten über ihr Verhalten im Bundesrat nicht rechen- ste haben. Ich halte es für falsch, diese Menschen in schaftspflichtig. Sie könnten geheim beraten, so daß eine rechtsextreme Ecke zu schieben, sie zu denun- nachher niemand wüßte, welcher Minister im Bundes- zieren, so wie das einige Europaabgeordnete tun. rat so oder anders abgestimmt hat und die Gesetze (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Beifall würden von einer freischwebenden Bürokratie vorbe- bei der PDS/Linke Liste) reitet, die von einer Heerschar von Lobbyisten beraten Das ist menschlich niederträchtig und politisch wird. Abenteuerlich ist diese Vorstellung. Aber so falsch. werden in Europa seit Jahren Gesetze gemacht. Und das wird durch den Vertrag nicht geändert, sondern Wenn in der Öffentlichkeit, nicht nur in Deutsch- festgeschrieben. — Herr Kollege! land, in wenigen Jahren ein tiefer Meinungsum- schwung gegenüber der EG eintritt, dann hat das etwas mit den konkreten Erfahrungen der Menschen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Kol- zu tun, den Erfahrungen mit einer anonymen, fernen, lege Marten, bitte. unkontrollierten Bürokratie, die in die letzten Lebens- bereiche hineinregiert, und den Erfahrungen mit Günter Marten (CDU/CSU): Sind Sie bereit, zur einem schwachen, selbstbezogenen, volksfernen Eu- Kenntnis zu nehmen, daß sich die Landesparlamente ropäischen Parlament. sehr ausführlich, ja mehr als die Hälfte ihrer Zeit, mit Bundesangelegenheiten befassen? Machen wir uns doch nichts vor: Wenn bei uns eine Volksabstimmung stattfände — ich bin froh, daß dies nicht so ist —, dann könnten auch die drei Fraktionen Peter Conradi (SPD): Ich habe die Debatten in dieses Hauses nicht viel mehr als 51 % der Bürger für einigen Landtagen verfolgt, und ich stelle fest, daß die den Maastrichter Vertrag mobilisieren. — Der Landesminister im Bundesrat manchmal ganz anders Abstimmungssieg in Frankreich muß uns nachdenk- abstimmen, als sie vorher in den Parlamenten geredet lich machen; mit 51 % kann man zwar eine Regierung haben. Die Parlamente können sie auch nicht zwin- bilden, aber für die politische Union Europas ist das zu gen, anders abzustimmen, weil die Stimmen des wenig. Wenn diese Union von fast der Hälfte der Landes nur einheitlich abgegeben werden können. Menschen in Frankreich, in Deutschland, in England Ich habe große Zweifel, ob der Art. 79 Abs. 3 unseres und in Dänemark abgelehnt wird, dann ist sie nicht Grundgesetzes, der durch den neuen Art. 23 ja ver- lebensfähig. stärkt werden soll, es dem Bundestag erlaubt, einen großen Teil der Gesetzgebung des Bundes und der Jetzt, nach dem Abstimmungssieg in Frankreich, Länder Institutionen zu übertragen, die den Forderun- beklagt der Bundeskanzler die Bürgerferne, jetzt mahnt er die Subsidiarität an, jetzt klagt er über die gen unserer Verfassung nach Volksherrschaft, nach Regelungswut. Wer hat denn den Vertrag beschlos- Gewaltenteilung, nach Öffentlichkeit, nach Bindung sen? Der Bundeskanzler! Wer hat denn die ganzen der Gesetzgebung an die Verfassung, nach Selbstver- Richtlinien der EG beschlossen, wenn nicht seine waltung der Gemeinden und Mitwirkung der Länder Minister? Wer hat denn das, was der Bundestag in all bei der Gesetzgebung nicht entsprechen. den Jahren gesagt hat, herablassend beiseite Sind Sie sicher, daß das Bundesverfassungsgericht gewischt, wenn nicht diese Regierung? Wer hat denn das alles mitmachen wird? Ich nicht. Ob die „Solange- versäumt, die europäische Gesetzgebung der Bevöl- Rechtsprechung" so noch lange weitergeht, werden kerung transparenter und verständlicher zu machen, wir in Karlsruhe erfahren. wenn nicht Sie? Der Versuch, die politische Einigung Auch die Forderung nach Subsidiarität ist für mich Europas den Völkern von oben her zu verordnen, ist keine Nebensächlichkeit. Subsidiarität ist ein Grund- gescheitert. Daran werden auch die zaghaften Versu- pfeiler unserer Demokratie: Je weiter die Entschei- che der Nachbesserung nichts ändern. dungsebene von den Menschen, die sie betrifft, ent- 9386 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Peter Conradi fernt ist, um so weniger haben sie mitzureden, um so Peter Conradi (SPD): Bitte schön. geringer sind deren Möglichkeiten der Kontrolle. Ich finde, daß der Bundestag oft Dinge entscheidet, Ulrich lrmer (F.D.P.): Vielen herzlichen Dank, Herr die besser bei den Ländern und Gemeinden entschie- Kollege. — Fällt Ihnen nicht auf, daß all das, was Sie den werden könnten. Aber beim Bundestag, verehrte jetzt sagen, zwar richtig sein mag, sich aber genau Kolleginnen und Kollegen, weiß der Wähler, wer für nicht gegen Maast richt richtet, weil Maastricht genau oder gegen das Kindergeld ist, wer für oder gegen die den Versuch macht, zumindest ansatzweise die Mehrwertsteuererhöhung ist, wer für oder gegen die Dinge, die Sie hier anprangern, zu korrigieren? Pflegeversicherung ist. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU- Wer ist denn in Europa verantwortlich? Wer war im sowie bei Abgeordneten der SPD) Ministerrat, wer war in der Kommission, wer war im Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß in Maastricht zum Europäischen Parlament für oder gegen die Freigabe erstenmal überhaupt das Prinzip der Subsidiarität des Energiemarktes? Wer war für oder gegen die verankert wird und daß zweitens hier zum erstenmal Liberalisierung des Schwerlastverkehrs auf unseren die regionale Ebene vertragsmäßig eingeführt wird, Straßen? Von der Bananenrichtlinie will ich hier gar daß also all das, was Sie mit Recht beklagen, in nicht reden! Maastricht gerade korrigiert werden soll? Wenn die Bürger bei uns mit ihrer Stadtregierung, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) mit ihrer Landesregierung oder mit ihrer Bundesre- gierung nicht zufrieden sind, so wählen sie sie bei der (SPD): Herr Kollege, ich sehe einige nächsten Wahl eben ab. Wen sollen sie in Europa Peter Conradi zaghafte Versuche, das zu korrigieren. Aber Sie abwählen? Im Europäischen Parlament sind doch alle werden doch nicht bestreiten, daß die Subsidiarität im nur für Europa. Das hat der trostlose und inhaltlose Maastricht-Vertrag nicht ausgeformt ist, weil die Europawahlkampf 1989 gezeigt. Und die Wähler europäischen Institutionen selbst entscheiden, was sie haben das begriffen. Sie haben sich in großer Zahl an besser regeln können als die nationalen Parlamente. dieser Wahl gar nicht erst beteiligt. Als Beamter der württembergischen Finanzverwal- (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Im Bundes tung habe ich doch von meinem Oberamtsrat gelernt: tag sind doch alle für Deutschland!) Die höhere Ebene hat immer die höhere Einsicht. So — Herr Kollege Geißler, bitte versuchen Sie doch mal, wird es auch hier sein. Das heißt, die höhere Ebene im letzten europäischen Wahlkampf festzustellen, um — Europa — wird für sich immer in Anspruch nehmen, was die Parteien gestritten haben. Da war fast kein alles besser zu wissen als die niedrigere Ebene der Unterschied feststellbar. Das war doch der langweilig- Nationalstaaten. Aus Regierungsabsprachen und Bü- ste Wahlkampf, den wir in Jahren erlebt haben, und rokratenvereinbarungen wie im' Maastricht-Vertrag die Wähler haben das auch so gesehen. wird kein lebenskräftiges Europa entstehen. Ich will die politische Union Europas. Aber die Vereinigten (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zuruf Staaten von Europa werden nur zustande kommen, von der CDU/CSU: Warum haben Sie ihn wenn sie von den Völkern Europas gewollt und nicht farbiger gestaltet?) getragen werden. Das aber leistet der Vertrag von Die Übertragung weiterer Politikbereiche an die EG Maastricht nicht. führt zur Erosion der politischen Verantwortung. Und (Beifall bei der SPD) weil niemand mehr weiß, wer für die Gesetze der EG verantwortlich ist, werden Politik- und Parteiverdros- senheit zunehmen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Peter Kittelmann. Der Maastrichter Vertrag, so wird uns gesagt, sichere die Subsidiarität. Das ist natürlich Unsinn. Nach dem Vertrag entscheiden die EG-Institutionen, Peter Kittelmann (CDU/CSU): Herr Präsident! was sie besser als sie nationalen Parlamente regeln Meine Damen und Herren! Ich finde, daß die heutige Debatte gezeigt hat, wie differenziert man schwierige können. Wer ihre Regelungssucht kennt, der weiß, Sachverhalte beurteilen kann. Alles, was der Maas- daß sie alles glauben besser regeln zu können. Das ist der Traum aller Bürokraten: Gesetze machen, regie- trichter Vertrag bringt oder was er nicht bringt, steht ren ohne Parlament, ohne Wahlen, unabsetzbar, im wesentlichen für uns, für die deutschen Parlamen- tarier auf dem Prüfstand. Wenn der unkontrollierbar und bestens bezahlt. In Osteuropa ist Maastrichter Vertrag nicht ratifiziert werden sollte, was bleibt dann ein derartiges System gerade zusammengebrochen. als Alternative? Eine der Alternativen hat Herr Con- Nur wenn das Subsidiaritätsprinzip verbindlich radi eben aufgeführt, nämlich verneinen, negieren, ausformuliert und gesichert wird, hat die politische keine Alternative bieten, Verunsicherung in die Union Europas eine Chance. Ohne eine europäische Bevölkerung hereintragen und Emotionen schüren. Verfassung, die festlegt, in welchen Schranken die EG (Beifall bei der CDU/CSU) tätig werden darf, werden wir die grenzenlose Büro- kratenherrschaft der EG nicht eindämmen. Herr Conradi, die Frage, ob es sich lohnt, auf Ihren Beitrag einzugehen oder nicht, ist schon deshalb beantwortet, weil der Beitrag nun einmal hier gemacht worden ist. Ich hoffe, daß die Sozialdemokra- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- ten, die den Mut haben, einen Abweichler heute hier geordneter Conradi, der Abgeordnete Irmer möchte zu Wort kommen zu lassen, aufpassen, daß dieser daraufhin gerne eine Zwischenfrage stellen. Abweichler nicht Eier legt und sich vermehrt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9387

Peter Kittelmann Meine Damen und Herren, zu dem was Herr Con- wien vorfinden, sondern sie wollen die f riedlichen radi hier als Konflikt im Hinblick auf Maastricht Verhältnisse, die wir mit Hilfe der Vereinigung Euro- formuliert hat, läßt sich nicht Stellung beziehen. Das, pas beispielhaft für das ganze kommende Europa in was er beklagt, was in Europa zur Zeit nicht vorhan- Westeuropa erreicht haben. den ist, wollen wir größtenteils ja gerade durch den (Beifall bei der CDU/CSU) Maastricht-Vertrag ändern. Das heißt, Herr Conradi, was Sie versucht haben hier als Angst vor Europa zu Ich kann es noch schärfer formulieren: Wer sich definieren, wird mit der Maastricht-Diktion beantwor- heute der politischen Einigung Europas — der Maas- tet. Sie ist die Antwort auf die Ängste und Sorgen. trichter Vertrag ist ein weiterer, nicht der endgültige, Durch die Maastrichter Verträge soll Europa transpa- Schritt in Richtung auf das vereinigte Europa —- renter werden. Und vor allen Dingen: Durch den verweigert, muß damit rechnen, daß die Zukunft Vertrag wird ein wesentlicher positiver Einschnitt zu Europas mehr in die Richtung des Dreißigjährigen mehr politischer Verantwortung auch des Europäi- Krieges geht als in die Richtung eines menschlichen, schen Paralmentes gemacht. Das Europäische Parla- friedlichen Miteinanders. ment, von dem wir alle wissen, daß es bisher zu wenig (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) politische Verantwortung trägt, wird noch längere Zeit warten müssen, weil nicht die Deutschen, son- Das, was wir im Moment in Teilen Europas ganz in der dern andere dies verhindern. Nähe erleben, nämlich im ehemaligen Jugoslawien, muß uns alle zum Nachdenken darüber zwingen, wie Zur Volksabstimmung in Frankreich haben Sie wir diesen Menschen Perspektiven bieten können. einiges gesagt. Die Volksabstimmung in Dänemark haben Sie nicht erwähnt. Das eine war ein bißchen zu (Zuruf des Abg. Albrecht Müller [Pleisweiler] wenig Schnaps. Das andere war eine gerade rechtzei- [SPD]) tige knappe Mehrheit. Sie wissen doch inzwischen Deshalb werden wir bei Maastricht nicht nur an die genau, warum die Franzosen nur mit dieser knappen Vereinigung des westlichen Europa denken, sondern Mehrheit Maastricht zugestimmt haben: weil sich wir müssen über Maastricht hinaus daran denken, daß nämlich die Rechtsradikalen und die Linksradikalen wir den Menschen, den Völkern in Osteuropa nicht verbunden haben und in Frankreich eine Emotions- deshalb dabei geholfen haben, sich zu befreien, um schlacht stattfinden ließen, die mit Maastricht absolut sie jetzt alleinzulassen. nichts zu tun hatte. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Vor allen Dingen die Bauern, die in Frankreich die Meine Damen und Herren, die Debatte hat eine größten Subventionen erhalten, haben gegen die EG erfreuliche Übereinstimmung zwischen den politi- gestimmt, ohne zu wissen, daß sie, wenn die EG schen Parteien gezeigt. Ich lasse die Kommunisten wegfällt, keine Subventionen mehr kriegen und erst außen vor, weil ich den Eindruck habe, daß sie recht vor der Pleite stehen. teilweise noch mit der Diktion vergangener Zeiten, ohne Kenntnis des Inhalts des Vertrages, glauben, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Wähler täuschen und gewinnen zu können. Wir tra- geordneter Kittelmann, gestatten Sie eine Zwischen- gen gemeinsam eine schwere Verantwortung, weil frage? noch immer ein großes Leck zwischen dem Bewußt- sein der Bevölkerung über das, was Europa bringt, Peter Kittelmann (CDU/CSU): Aber gerne, vor und unserer Diskussion besteht. allem wenn sie vom nachdenklichen Herrn Müller Deshalb freue ich mich, daß sich das Bundespresse- kommt. amt entschieden hat — ich würde etwas kritisch hinzufügen: endlich —, eine öffentliche Überzeu- Albrecht Müller (Pleisweiler) (SPD): Ich will es gungskampagne „Was bedeutet Europa positiv für versuchen, Herr Kittelmann. uns " in den nächsten Monaten durchzuführen. Ich (Zurufe von der CDU/CSU: Frage stellen!) bitte das Bundespresseamt, ich bitte die Bundesregie- Herr Kittelmann, würden Sie mir zugestehen, daß in rung, diese öffentliche Kampagne nicht auf Zeitungs- dieser Frage von beiden Seiten mit Emotionen gear- artikel oder Illustriertenbeiträge zu beschränken, son- beitet wird, die jenseits dessen liegen, was sachlich dern überzeugende Argumente dort zu veröffentli- gerechtfertigt ist? Würden Sie dies besonders im chen, wo die Menschen auch Zeit haben, sie zu lesen: Hinblick auf eine Schlagzeile in der Zeitung der auf den Bahnhöfen, in den Zügen, in den Postämtern, Europa-Union zugestehen, die — wenn ich mich recht überall dort, wo Menschen die Argumente wahrneh- erinnere — heißt: Wer gegen Maastricht ist, ist für men, die nicht zufällig eine teure Anzeige in einer Sarajevo? Zeitung lesen. Wenn es uns Politikern nicht gelingt, zu erreichen, daß die Menschen mehr Kenntnisse über das erlangen, was wir gemeinsam in Europa vorha- Peter Kittelmann (CDU/CSU): Diese Schlagzeile gibt in der Verkürzung nicht das wieder, was man ben, werden wir zwar den Maastrichter Vertrag rati- sagen wollte. Aber Schlagzeilen bergen immer diese fizieren, aber zwischen unserem politischen Wollen Gefahr in sich. Man muß den Artikel dazu lesen. Aber und den Sorgen der Bevölkerung wird weiterhin eine lassen Sie mich, gerade weil Sie Sarajevo ansprechen, große Differenz bestehen. antworten — diese Gefahr liegt auch im Vortrag von Frau Wieczorek-Zeul hat in ihrer Rede ein wenig Herrn Conradi —: Herr Conradi, die Menschen, die den Beweis dafür geliefert, wie man zwar gemeinsam sich in Ost- und Mitteleuropa befreit haben, wollen von etwas überzeugt sein kann, dann aber glaubt, dies nicht solche Verhältnisse, wie wir sie jetzt in Jugosla aus Profilneurose gegensätzlich diskutieren zu müs- 9388 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Peter Kittelmann sen. Dies ist kein beispielhafter Beitrag. Beispielhafte Teil die Bedenken vor dem Hintergrund bestimmter Beiträge sind die Ausführungen der übrigen Redner, Situationen, daß sich Bündnisse in einer schwierigen die um die schwere Aufgabe wissen, die Bevölkerung Phase der Umorientierung befinden, daß es Konflikt- zu überzeugen. Wir werden in den nächsten Wochen szenarien nach dem Muster des Golfkrieges gibt, daß und Monaten häufig Gelegenheit haben, die Öffent- einseitige Interessenwahrnehmungen durch Groß- lichkeitsarbeit zu verstärken, Überzeugungsarbeit zu mächte nicht verhindert werden. Dies verstehe ich. leisten. Aber dann sollten wir uns über wesentliche Dinge streiten und nicht darüber, worin wir uns schon Wenn man wöchentlich mit der Situation in West- einig sind. europa zu tun hat, weiß man, daß nicht die Inte rven- tion, sondern die Nichtintervention der Alltag ist, die Schönen Dank. - kollektive Furcht vor Interventionen selbst ange- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sichts solcher Vorgänge, solchen Völkermords — wie es viele von dieser Seite ausgedrückt haben — wie im ehemaligen Jugoslawien. Es ist wirklich zu fragen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile — dies fragen sich auch viele Bürgerinnen und Bür- nun Herrn Abgeordneten Professor Dr. Soell das ger —, weshalb es auf der einen Seite möglich ist, daß Wort. die Staaten der Westeuropäischen Union nach wie vor 2,1 Millionen Soldaten unterhalten und 230 Milliar- den DM im Jahr für Rüstung und Verteidigung aus- Dr. Hartmut Soell (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geben, und auf der anderen Seite das, was bitter verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche hier notwendig wäre und was mit sehr viel weniger Auf- nicht für die Fraktion, sondern füge einige persönliche wand möglich wäre, nämlich die UN-Resolution zu Bemerkungen an, die sich vor allen Dingen auf den unterstützen, um bestimmte humanitäre Maßnahmen Titel V des Maastrichter Vertragswerkes und auf die abzusichern, um — wie es im Irak möglich war — Erklärung der neun WEU-Mitglieder vom Dezember Flugverbotszonen und viele andere Dinge durchzu- 1991 beziehen. Dort soll der Kern einer gemeinsamen setzen, nicht zu leisten ist. Sicherheitsidentität der Europäischen Union durch die Westeuropäische Union geschaffen werden und Hier verzweifeln viele Menschen zu Recht an zugleich ein europäischer Pfeiler der Atlantischen Europa. Deshalb müssen wir gerade auf diesem Allianz gebildet werden. Dies ist eine Absichtserklä- Gebiet unsere Anstrengungen fortsetzen. Um ein rung, die nicht den Rang und schon gar nicht die anderes Beispiel zu nennen: Art. 223 der Römischen Präzision der Teile des Maastrichter Vertrags hat, die Verträge sollte nach dem Willen der Kommission sich mit der Währungsunion befassen. — hier muß man sie loben — verändert, sogar gestri- (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das ist chen werden, weil er noch den nationalen Vorbehalt auch gut so!) bei Fragen des Rüstungsexports beinhaltete. Hierbei hat es gar keinen Fortschritt gegeben. Wenn wir in — Es ist ein merkwürdiger Vorgang, Frau Kollegin Entschließungen der Vereinten Nationen Waffenem- Wieczorek-Zeul, in der bundesdeutschen und euro- bargos fordern, die Europäische Gemeinschaft selbst päischen Öffentlichkeit. In der letzten erregten Dis- aber ihre Aufgaben nicht erfüllt hat, bestimmte Vor- kussion über Maastricht wurde kaum ernsthaft disku- aussetzungen nicht geschaffen hat, müssen wir auch tiert, daß auf der einen Seite die Deutschen die die Bürgerinnen und Bürger verstehen, daß sie der Entscheidungskompetenz über die Staatsfinanzen, Auffassung sind, daß die Europäische Gemeinschaft über die Währung und über die Außenwirtschaft auf auf diesem sensitiven Gebiet — die Bilder von Opfern Brüssel übertragen haben und auf der anderen Seite flimmern jeden Tag über die Mattscheiben — ihre das zweite zentrale Element europäischer Staatsbil Aufgaben nicht erfüllt hat. dung über Jahrhunderte hinweg, nämlich die äußere Sicherheit, nicht integriert ist. Das erste Element hat Die Hindernisse für eine Sicherheitsunion bei die Bundesregierung weggegeben, wobei ich ihr unseren Nachbarn sind mir bekannt. Soweit es die konzediere — auch unter Berücksichtigung dessen, Vorbehalte auf parlamentarischer Ebene bei unseren was angesichts der deutschen Vereinigung zu leisten Kolleginnen und Kollegen in den nationalen Parla- war —, daß ich dafür Verständnis habe. Aber sie hat in menten betrifft, etwa im britischen Unterhaus, in der dem anderen Bereich dafür nichts bekommen. französischen Nationalversammlung, aber auch im Wir wissen, daß andere sehr viel intensiver auf ihrer niederländischen, belgischen, italienischen, spani- national-staatlichen Souveränität beharren. Wir ha- schen und portugiesischen Parlament, habe ich sogar ben dafür nur Absichtserklärungen bekommen. Ich Verständnis dafür. Sie wollen nicht auf ihre nationalen weiß, daß in allen Fraktionen die Probleme der Kontroll- und Initiativrechte verzichten, solange nicht Außen- und Sicherheitspolitik gerade in bezug auf die klar ist, wohin die Reise geht. europäische Integration diskutiert werden. In meiner Deshalb wollen sie an der Westeuropäischen Union Fraktion werden sie sicher sehr viel intensiver und und ihrer Parlamentarischen Versammlung festhal- streitiger diskutiert als in den Koalitionsfraktionen. ten, und zwar über das Jahr 1998 hinaus. Ich selber bin Dies muß man konzedieren. Wenn sich meine Frak- etwas anderer Ansicht und hänge nicht an dem tion über diesen Punkt schon eine Meinung gebildet Vorzeichen Westeuropäische Union. hätte, hätte sie dies zu einem der zentralen Punkte der Auseinandersetzung mit den Koalitionsfraktionen Nur sage ich gerade vor dem Hintergrund der und der Regierung über Maastricht machen können, Subsidiaritätsdebatte, daß wir in diesem Berich insti- ähnlich wie die Probleme der Sozial- und der Umwelt- tutionelle Vorkehrungen brauchen. Subsidiarität ist union. Aber es ist noch nicht soweit. Ich verstehe zum nur eine politisch-moralische, keine justitiable Norm, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9389

Dr. Hartmut Soell jedenfalls nicht bisher. Das heißt, sie muß sowohl festzulegen, wie Bundestag und Bundesrat in Zukunft durch eine konkrete europäische Verfassung mit an den europäischen Dingen mitwirken sollen. klarer Kompetenzabgrenzung etwa nach dem Muster Ich sage Ihnen aber eines und wende mich dabei an eines Bundestaates unterfüttert werden als auch insti- die Bundesregierung: So, wie Sie das vorgeschlagen tutionell durch einen Senat, eine zweite Kammer. Der haben, wird der Deutsche Bundestag das nicht verab- Ministerrat jedenfalls ist diese zweite Kammer nicht. schieden können. Vielmehr müssen wir in den Aus- Es muß ein Senat sein, in dem die nationalen Parla- schüssen erhebliche Korrekturen vornehmen. mente mit vertreten sind und sich prioritär dem Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik widmen. Es heißt zwar im Abs. 2 dieses Vorschlags, in Die WEU-Versammlung versteht sich ein Stück weit Angelegenheiten der Europäischen Union wirkten als Brücke im Bereich der Sicherheit zu einer so der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder ergänzten europäischen Verfassung. mit, dann folgt aber in den weiteren Absätzen eine ausführliche Schilderung dessen, wie der Bundesrat Zum Schluß möchte ich auf ein Problem zu sprechen seine Rechte wahrnehmen darf; aber vom Bundestag kommen, das künftig noch eine bedeutendere Rolle ist nicht mehr die Rede. Dies ist für den Deutschen spielen wird. Henry Kissinger hat sich neulich ironisch Bundestag von seinem Selbstverständnis her schlicht dazu geäußert, daß all die vielen Kürzel, z. B. EG, EU nicht akzeptabel. — Europäische Union —, WEU — Westeuropäische Union— usw., einzelnen Ländern häufig dazu dienen, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der jeweils ihre politischen Interessen und Steckenpferde SPD) durchzusetzen. Wenn wir schon mit Recht sagen, der Bundesrat Andere außerhalb Westeuropas bedienen sich muß für Rechte, die er im Zusammenhang mit dem natürlich ebenfalls dieser Mittel, teilweise unsere europäischen Einigungsprozeß verliert, eine Kom- Nachbarn, teilweise die Japaner, teilweise auch die pensation erhalten, dann müssen wir genauso sagen, Vereinigten Staaten. Gerade bei den letzteren wird auch wir müssen für die Rechte, die wir verlieren, eine deutlich, daß sie ihre Politiken in den einzelnen Kompensation erhalten. Nun muß ich dazusagen: Das Feldern jeweils auf die wichtigsten Verbündeten ist nicht eine Folge von Maastricht — da bitte ich ausrichten. Wenn sie z. B. im Bereich der Sicherheit Herrn Conradi, besonders aufmerksam zuzuhören —, ihre Interessen durchsetzen wollen, setzen sie auf die sondern das ist der lamentable Zustand, in dem sich Briten und auf die Niederländer. Wenn sie bestimmte die Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft Interessen im Bereich der GATT-Verhandlungen überhaupt befindet. durchsetzen wollen, setzen sie auf die Deutschen. Wenn sie bestimmte Interessen im Bereich der Kultur Wir sollten uns auch nicht der Illusion hingeben, daß durchsetzen wollen, setzen sie eher auf die Franzosen. wir das durch den Versuch ändern könnten, als Wenn es in der „chasse gardée" der Franzosen in nationale Parlamente das wiederzuholen, was wir Afrika drunter und drüber geht, dann setzen sie schon einmal aufgegeben haben. Die Lösung kann natürlich auf die Zusammenarbeit mit Frankreich. nur darin liegen, daß das Europäische Parlament auf die Dauer zu einem Vollparlament ausgebaut wird. So etwas zu tun ist legitim. Nur bedeutet dies auch Ich sehe aber überhaupt nicht ein, daß wir, bis das der künftig, wenn sich die Europäer auf diesem sensiblen Fall sein wird, dem Bundesrat exzessive Mitwirkungs- Feld in den nächsten Jahren nicht zusammenschlie- möglichkeiten im Grundgesetz einräumen, selber ßen, daß diese Politik weitergetrieben wird und daß aber über unsere Rechte stillschweigen. der Zerfaserungsprozeß in diesem Bereich weiter- geht. Angesichts der unübersehbaren Tendenzen (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der — bei uns wie anderswo — zur Renationalisierung SPD) kann ich davor nur warnen. Es wird schrecklich Deshalb muß dieser Entwurf in den Ausschußbera- enden, und es wird auch vor dem Hintergrund der tungen dahingehend geändert werden, daß der Deut- Konflikte im ehemaligen Jugoslawien eher noch sche Bundestag in gleicher Weise mitwirken kann. schwieriger werden, gemeinsame Außen- und Sicher- Dieses mag der Bundesregierung unbequem sein. Ich heitspolitik zu betreiben, die von den Menschen auch biete da einen Kompromiß an: Ich bin gerne damit akzeptiert wird. — Das wollte ich hier noch anmerken. einverstanden, daß wir auf eine maßgebliche Mitwir- Ich bin grundsätzlich für Maastricht, aber dies ist ein kung des Deutschen Bundestages verzichten, wenn ganz gravierender Mangel, der hier vermerkt werden Sie sich dazu durchringen können, im Falle des muß. Bundesrates nicht anders zu verfahren. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Das hat nichts mit der Exekutivbefugnis der Bun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten desregierung zu tun, weil wir uns hier im Bereich der der CDU/CSU und der F.D.P.) europäischen Gesetzgebung bewegen. Deshalb soll niemand sagen, das sei eine Einschränkung der Exe- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile kutivbefugnis, wenn wir als Parlament sagen: Wir nunmehr dem Abgeordneten Ulrich Irmer das Wort. wollen da entscheidend mitreden. Bitte, überlegen Sie das noch einmal ganz genau. Ich glaube, die Bundes- Ulrich Inner (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen regierung ist in diesem Punkt vor den Begehrlichkei- und Herren! Wir haben heute auf unserer Tagesord- ten der Bundesländer vorzeitig eingeknickt. nung auch den Gesetzentwurf der Bundesregierung Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf zur Änderung des Grundgesetzes. Es ist vorgeschla- einen Aspekt kurz eingehen: Die Verträge von Maas- gen worden, in Art. 23 des Grundgesetzes die Art tricht befürworten wir aus politischen Gründen. Wir 9390 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Ulrich Irmer sollten hier über den Tellerrand von Westeuropa für viele derjenigen, die ein einiges, im Sinne der hinausschauen. westeuropäischen Tradition zugleich liberal-bürger- (Zustimmung bei der F.D.P.) freundliches und soziales Europa wollen. Sie sind undemokratisch, sie sind bürokratisch-zentralistisch Wir müssen uns der Herausforderung stellen, daß wir und zementieren die wirtschaftliche Vorherrschaft östlich von uns junge Demokratien haben, die wir Europas in der Welt oder versuchen dies zumindest. bisher — ich sage das ganz hart — im Stich gelassen Sie zementieren die Vorherrschaft der ökonomisch haben und für die wir außer Verbalbekundungen starken Länder in Europa. Sie befestigen die Festung nichts unternommen haben. Europa weiter. Sie tragen zur weiteren Hochrüstung (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne bei, und sie schotten Europa weiter gegenüber den- ten der CDU/CSU und der SPD) Armen in Ost und Süd ab. Sie bringen uns auch dem Wir müssen hier wesentlich mehr tun, und wir müssen technologisch hochgerüsteten Überwachungsstaat auch einmal ganz konkret handeln. Schauen Sie sich ein erhebliches Stück näher. Alles das sind wahrhaftig einmal die armen Ungarn an. Sie können kaum mehr Gründe, zu Maastricht nein zu sagen. aufrecht gehen, weil auf ihren Schultern die ganzen Und doch zögert man in der jetzigen Situation, Dankesbezeugungen liegen, die wir ihnen seit Jahren tatsächlich nein zu sagen. Der Grund hierfür ist abstatten. Aber konkret haben wir nichts getan. insbesondere die Entwicklung in diesem Lande, im (Beifall bei der F.D.P.) wieder groß und einigermaßen mächtig gewordenen Wir müssen die Märkte öffnen. Die Assoziierungs- Deutschland. Um — mit Verlaub, Herr Präsident — verträge sind in dieser Hinsicht völlig unzureichend. einen Slogan von der Demo am vergangenen Samstag Wir müssen aber als zweites noch etwas anderes tun: in Frankfurt wiederzugeben: Kaum ist Deutschland Wir haben seinerzeit die Süderweiterung der Europäi- wieder groß, geht der Scheiß von vorne los. schen Gemeinschaft um Spanien, Portugal und Grie- Um es etwas salonfähiger auszudrücken: Kaum sind chenland nur aus politischen, nicht aus wirtschaftli- die Deutschen wieder einig, groß und halbwegs chen Gründen vorgenommen. Wir sind jetzt in einer mächtig geworden, schon werden sie übermütig und vergleichbaren Situation. Wenn wir verhüten wollen, brechen die neonationalistische Entwicklung vom daß die Länder im Osten Europas wieder ins Chaos Zaune, die nicht nur zutiefst unmenschlich ist, sondern oder in undemokratische Zustände zurückfallen, dann die auch das europäische Projekt, die Einigung Euro- müssen wir mehr tun als das, wozu wir bisher bereit pas, um die es hier geht, zu zerstören droht. gewesen sind. Die Rede ist von der Rechtsentwicklung, dem Aus- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne länderhau, dem Rassismus, dem Antisemitismus und ten der CDU/CSU und der SPD) den Pogromen in Deutschland. Die Rede ist von den Ich frage einmal ganz konkret: Warum laden wir auch in der BRD inzwischen alltäglich gewordenen eigentlich nicht Ungarn, Polen oder auch die Tsche- Menschenrechtsverletzungen, die von Deutschen choslowakei — ich habe die Hoffnung noch nicht gegenüber Asylanten und Asylantinnen, gegenüber aufgegeben, daß es vielleicht auch dort noch eine Flüchtlingen, gegenüber Menschen, die aus Not in gedeihliche Entwicklung gibt — ein, sich an der dieses Land kommen, begangen werden. Für diese Europäischen Politischen Zusammenarbeit zu betei- Deutschen, die Urheber dieser Akte sind, für ihre ligen? Warum sitzen sie nicht mit am Tisch der Angriffe auf Kinder, Frauen und Männer und für ihre Minister? Warum haben sie keine Gastdelegationen feigen Morde kann man sich gegenüber Europa und im Europäischen Parlament? Warum öffnen wir, Hart- der Welt und vor allem gegenüber den Betroffenen mut Soell, nicht die Westeuropäische Union oder auch nur schämen. Das Verhalten der deutschen Rechten die NATO in viel stärkerem Maße als bisher für diese ist absolut uneuropäisch. Beschämend und uneuropä- Länder? isch ist aber auch das Verhalten der deutschen Spie- (Zuruf von der SPD: Das haben wir doch!) ßer, die, wie in Rostock, die Bierflasche fest umklam- Wir haben viel geredet, liebe Kollegen. Die Worte mert, Zugabe brüllen, wenn Brandsätze auf Kinder geworfen werden. waren alle gut, und sie sind in Ungarn wohl vernom- men worden. Es ist jetzt an der Zeit, daß wir den Für die darin zum Ausdruck kommende Roheit und Worten Taten folgen lassen. Wir werden von der Brutalität müßten die Repräsentanten dieses Staates F.D.P.-Fraktion aus in den nächsten Tagen konkrete eigentlich die Betroffenen um Verzeihung bitten. Für Vorschläge auf den Tisch legen. Wir bitten dann um den applaudierenden Mob wie für die Täter kann es Zustimmung aller Fraktionen dieses Parlamentes. keinerlei Verständnis geben. Seit wann gibt im übri- Ich danke Ihnen. gen der Verlust des Arbeitsplatzes — ein ja ständig wiederholtes Motiv — das Recht, wildfremde und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) unbeteiligte Menschen zu verletzten, zu verstümmeln und zu töten? Sozialarbeiterlich heranzugehen ist Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort absolut unangebracht. Der rechte Mob und die rech- hat der Herr Abgeordnete Dr. B riefs. ten Täter müssen mit allen politischen und gesell- schaftlichen Mitteln geächtet, isoliert und bekämpft werden. Sie müssen bekämpft werden, um das Projekt Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! Europa aufrechterhalten zu können. Da sie kriminell Meine Damen und Herren! Es knirscht sehr deutlich sind, müssen sie, um den Weg für die weitere Einigung im europäischen Gebälk. Eine Ursache sind die Europas offenzuhalten, mit allen rechtlichen und Maastrichter Verträge. Sie sind ein Schlag ins Gesicht polizeilichen Mitteln belangt werden. Das gilt auch für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9391

Dr. Ulrich Briefs die Sympathisantenszene. Der rechte gewalttätige Vergessen wir nicht, ein Drittel unserer Produktion Sumpf in der deutschen Bevölkerung muß ausge- geht in den Export. Wir sind vom Ausland und vor trocknet werden, auch und gerade im Namen Euro- allen Dingen vom europäischen Ausland wirtschaft- pas, das unter dem deutschen Faschismus, was noch lich durch und durch abhängig. Das gilt auch für gar nicht so lange her ist, so furchtbar gelitten hat. unsere Wissenschaft und Technik. Was bleibt von unserer technologischen Spitzenstellung, wenn wir Denn was bleibt von Europa, wenn der rassistische draußen so behandelt werden, wie unsere Rechte Flächenbrand in Deutschland weiter um sich greift? gemäß ihrem dummen Spruch: Deutschland den Diese Frage wurde bisher gar nicht gestellt. Was wird, Deutschen, Ausländer raus! Ausländer und Auslände- wenn die Pogrome sich gegen weitere Gruppen rinnen hier behandelt? Als gerade gewähltes Vor- ausländischer Mitbürger und Mitbürgerinnen rich- standsmitglied einer Vereinigung französischsprachi- ten? Welches werden die nächsten Ziele sein, nach- ger Informatiker bin ich es einfach satt, draußen dem insbesondere die Neonazis nach dem Zurückwei- immer mehr auf eine Stimmung zu stoßen, die zu den chen der demokratischen Kräfte auch hier in diesem Pogromen in Deutschland sagt: Na ja, das sind halt die Hause einen Erfolg sondergleichen verzeichnen kön- Deutschen; die sind halt so! nen? Sinti und Roma, Bangladeshi, Angolaner und Vietnamesen haben keine starke Regierung, die sie Was wird aus den mehr als 500 000 Deutschen, die schützen könnte. Gilt das aber für alle ausländischen im Ausland und vor allem in den westeuropäischen Mitbürger und Mitbürgerinnen? Werden die Deut- Nachbarländern leben? Der Schaden, den die organi- schen wegen dieses rassistischen Flächenbrandes sierten Neonazis, die Drahtzieher der Pogrome, aber eines Tages nicht völlig isoliert in Europa und in der auch der erwähnte deutsche Mob ange richtet haben, EG sein? Das europäische Projekt wird gescheitert ist bereits groß. Die Rechtsentwicklung kann, wie sein, wenn wegen der Pogrome in Deutschland die gesagt, das Ende der Öffnung Deutschlands zur Welt, italienische, spanische, portugiesische und griechi- insbesondere zu Europa hin sein. Sie kann das Ende sche Regierung sich vor ihre in Deutschland lebenden der Entwicklung Deutschlands zu einem halbwegs Landsleute stellen muß. Der rechte Sumpf, der Mob in offenen, halbwegs europäischen und halbwegs zivili- Rostock, Wismar, Quedlinburg und Dresden, die Ras- sierten Land werden. sisten in Ost- und Westdeutschland, sie stellen die größte Gefahr für Europa dar. Sie können sehr viel Glaube doch niemand, daß nach der Lösung der mehr zerstören als die demokratische Insensibilität sogenannten Asylfrage durch Beseitigung des Asyl- derjenigen, die die Maastrichter Verträge ausgehan- rechts in der Verfassung die ausländerfeindlichen und delt haben. rassistischen Pogrome abebben werden. Das ist doch eine Täuschung. Nein, der Flächenbrand wird blei- Die neue deutsche Rechte ist aber nicht nur ben. Herr Rühe, der als Generalsekretär der CDU unmenschlich. Das Verhalten der Pogromvoyeure und zusammen mit Herrn Gerster und anderen die soge- Pogromtouristen in Rostock erinnert auch daran, daß nannte Asylfrage zur zentralen politischen Aufgabe 1941 nach dem Überfall auf die Sowjetunion deutsche proklamiert hat, bekommt die Geister, die er gerufen Familien in der Lüneburger Heide — man schämt sich, hat, nicht mehr so einfach weg. Herr Rühe, Sie haben das zu erwähnen, aber es war so — Ausflüge an die ein Feuer entfacht, das nunmehr auch die Stellung Stacheldrahtzäune der Kriegsgefangenenlager für Deutschlands in Europa und das europäische Projekt sowjetische Gefangene gemacht haben, um dort zuzu- zu verwüsten droht. Die politischen Kräfte, die mit schauen und zuzuhören, wie die sowjetischen Gefan- Ihnen der Rechten den Rang ablaufen wollen, indem genen elend umkamen, sie immer weiter nach rechts abdriften, wirken des- halb mit an der Zerstörung des europäischen Pro- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Reden Sie zu j ekts. den Maastrichter Verträgen?) Die Antwort auf den Terror der Neonazis und den weil man sie dort ohne Nahrung, Wasser, Kleidung erschreckend umfangreichen rechten Sumpf in der und Behausung — es ging in den Winter hinein — deutschen Bevölkerung muß lauten: Hände weg vom einfach sich selbst überließ. Auch das ist deutsche Asylrecht, für eine weitere Öffnung Deutschlands Geschichte. nach Europa und in die Welt hinaus. Die Antwort muß sein: Einsatz aller strafrechtlichen und polizeirechtli- Die Politik und das Verhalten der neuen deutschen chen Mittel, um die neonazistische Rechte auszuhe- Rechten sind nicht nur unmenschlich, sondern auch ben, dumm. Was wird wohl z. B. aus dem noch ökonomisch starken Deutschland, wenn deutsche Produkte im (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sie reden zu Ausland nicht mehr akzeptiert werden, weil an ihnen den Maastrichter Verträgen?) — nach dem Verständnis unserer europäischen Nach- barn — das Blut unschuldiger Menschen klebt? Was um sie dorthin zu bringen, wo sie mit ihren völkerver- bleibt von der starken D-Mark, jener Grundlage der hetzenden, rassistischen, antisemitischen und krimi- neuen deutschen Großmannssucht, wenn es keine nellen Aktionen und Parolen hingehört: vor Gericht Handelsbilanzüberschüsse mehr gibt? Der dumme und in die Gefängnisse. Einmütiger Widerstand aller Mob in Rostock hat mit dem Applaudieren für die demokratischen Kräfte ist notwendig: gemeinsam mit Pogrome auch einige hundert Arbeitsplätze wegge- unseren Freunden in Europa gegen den dumpfen klatscht. Internationale Konzerne lehnen es wegen Ausländerhaß und gegen den Rassismus in weiten der Gefahren für ihre Mitarbeiter bereits ab, in Ost- Teilen der deutschen Bevölkerung. Wer rassistisch deutschland zu investieren. und antisemitisch handelt oder redet, muß gesell- 9392 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Ulrich Briefs schaftlich und politisch geächtet, stigmatisiert, isoliert fühlsmäßig also gegen den Wechsel, aber es war ihm werden. klar, daß die Chancen für den Regierungswechsel zu (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Jetzt kommt dieser Zeit wahrscheinlich optimal waren. der Maastrichter Vertrag!) Entsprechend verlief auch die Debatte in München. Wir müssen uns einmal klarmachen — insbesondere Strauß war schlichtweg gegen den Wechsel. Das Sie auf der Rechten müssen sich das klarmachen —, Erstaunliche war, daß die gesamte politische Promi- wieviel dieses Land durch die Beiträge von Millionen nenz der CSU in keiner Weise für diesen Wechsel ausländischer Bürger und Bürgerinnen, wieviel es eingetreten war. Erst als Strauß selber nach ca. zwei- durch seine Öffnung nach Europa hin gewonnen hat einhalb Stunden zu schwanken begann, zwischen und um wieviel es ärmer würde, wenn es wirklich Intellekt und Gefühl hin und her gerissen, einmal wieder, wie in der furchtbaren Zeit des Dut- (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Strauß hat nie zendjährigen Reichs, den Deutschen und nur ihnen geschwankt! Der war eindeutig!) gehörte. und sich die Waage so zugunsten des Regierungs- Die wirkliche Gefahr von Europa geht von Deutsch- wechsels senkte, kam die Prominenz der CSU — an land, von der Rechts-Entwicklung in diesem Lande der Spitze , Zimmermann usw. — aus der aus. Diese Situation macht es schwierig, zu den Reserve hervor. Maastrichter Verträgen nein zu sagen, obwohl sie es nach ihrem Inhalt und ihrer Wirkungsweise durchaus Sie sollen nur wissen, mit wem Sie es zu tun haben. verdienen. Ich behaupte einfach, daß diese Art von Opportunis- mus leider längst unsere gesamte Politik durchzieht. Herr Präsident, ich danke Ihnen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Da treten Spitzenpolitiker auf, beschwören die großen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ortwin Lowack das Probleme und Sorgen unserer Menschen, und stellen Wort. sich gleichzeitig daneben, als ob sie damit überhaupt nichts zu tun hätten. Der Finanzminister beklagt den europäischen Zen- Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident! tralismus, aber er selbst hat die Verträge von Maas- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte tricht gerade erst unterzeichnet. Andere beklagen das mit einer kleinen historischen Reminiszenz beginnen Informationsdefizit und tun so, als ob das keine Frage und nicht sofort zum Thema Maas tricht kommen, und kein Problem der Regierung wäre. Vor allen sondern von einem Ereignis berichten, das in Zusam- Dingen wird fast unisono frenetisch die Forderung menhang mit zehn Jahren Regierungszeit Helmut nach einem schärferen Durchgreifen gegen soge- Kohl steht. nannte extremistische Gewalttäter erhoben, aber Ich darf mir trotzdem eine kurze Anmerkung vor- gleichzeitig unterläßt es die Bundesregierung, der weg erlauben. Selten habe ich eine Debatte erlebt, in Polizei die notwendigen Mittel an die Hand zu geben, der eine Bundesregierung so viele Fehler und Ver- und zwar auch materiellrechtlich, um gegen die säumnisse im Zusammenhang mit dem Abschluß allgemeine Gewaltkriminalität, die unglaublich zuge- eines Vertrages eingeräumt hat, um dann doch zu dem nommen hat, vorzugehen. Ergebnis zu kommen, daß alles beim alten bleiben Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht soll. hier doch gar nicht um das Asyl, sondern es geht um Wenn ich an das erinnern darf, was ich ansprechen den Asylmißbrauch, der bekämpft werden muß, und wollte, nämlich zehn Jahre Helmut Kohl, dann reizt es die sich sehr oft darum herumrankenden Straftaten. mich als ehemaliges Mitglied der Christlich Sozialen Nun zu Maastricht. Ich habe vor dem Deutschen Union natürlich, auf ein kleines Ereignis zurückzu- Bundestag jüngst darauf hingewiesen, daß die Maas- kommen, als die Landesgruppe der CSU von Franz einen Josef Strauß eingeladen war, nach München zu kom- trichter Vereinbarungen zur Industriepolitik massiven Eingriff in die marktwirtschaftlichen Struk- men, um dort zusammen mit der restlichen Vorstand- turen bedeuten würden. Alle Fachleute geben mir schaft darüber zu debattieren, ob ein konstruktives darin recht, erfreulicherweise auch Fachleute aus der Mißtrauensvotum gegen Helmut Schmidt zugunsten Union. Man sagt, man sei überfordert und nicht von Helmut Kohl durchgeführt werden sollte oder gefragt worden. Warum, so frage ich, hat m an dann nicht. Strauß war dagegen. Er fühlte sich schlichtweg unterzeichnet? von Helmut Kohl hintergangen. Helmut Kohl hatte ihm 1978 die Kandidatur zur Kanzlerschaft überlas- Nur um die Kollegen, die vielleicht nicht alle sen, wohlwissend, daß er keine Chance gegen Helmut Textpassag en des Maastrichter Vertrags gelesen Schmidt haben würde. haben können, einmal zu fragen, was sie hier ratifi- (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Maastricht!) zieren wollen, möchte ich auf Art. 130 hinweisen und sie fragen, was der Vertrag eigentlich meint, wenn es Außerdem wurde damit verhindert, daß Strauß mit heißt, daß die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten seiner Partei eine bundesweite Liste bei der Europa- eine „Förderung einer besseren Nutzung des industri- wahl 1979 anstreben konnte. ellen Potentials der Politik in den Bereichen Innova- Zudem vermutete Strauß zu Recht, daß Absprachen tion, Forschung und technologische Entwicklung" zu zwischen Kohl und Genscher stattgefunden hatten, gewährleisten hätten. Ich frage mich: Wo ist das abzuwarten, bis Strauß Bonn verlassen hätte, um dann „industrielle Potential der Politik", und was soll damit den Regierungswechsel vorzunehmen. Er war ge- geschehen? Man muß sich solche Sätze auf der Zunge Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9393

Ortwin Lowack zergehen lassen, damit man weiß, welch ein Blödsinn führen, bevor wir derartig weitreichende weitere hier teilweise auch drinsteht. Aber vielleicht erhalten Verpflichtungen eingehen. wir durch die portugiesische oder irische oder däni- Ich bin Thomas Goppel sehr dankbar für seinen sche Urfassung des Vertrages eine notwendige Inter- Beitrag, weil er die Zweifel ja geäußert hat, aber es pretation dazu. bleibt doch dabei: Mit Maastricht soll in wichtige Maastricht, das ist Versailles ohne Krieg, schrieb der Bereiche des Grundgesetzes eingegriffen, es soll der „Figaro" , der sich große Verdienste um die deutsch- europäische Bürger geschaffen werden. Aber die französische Verständigung erworben hat. Wir Deut- Menschen in Deutschland werden zu dieser Statusän- sche sollten endlich lernen, auf unsere wahren derung nicht gefragt. Die Spitzenpolitiker bieten, wie Freunde zu hören und die Lust abbauen, permanent die Entwicklung in Bosnien zeigt, leider allzuoft ein- unsere Gegner zu bevorzugen, und sei es auch nur jämmerliches Bild des Opportunismus, der Unfähig- beim besonders lockeren Umgang mit Steuergel keit, der Unmenschlichkeit und leider auch der Über- dern. heblichkeit. Wer hier so tut, als ob ihn das dänische Nein nichts anginge, der belügt doch nur die eigene Ich behaupte noch mehr: Maastricht birgt — ich Bevölkerung. Natürlich ist das dänische Nein ent- bitte, das zu erwägen — den Keim zur Zerstörung der scheidend für die Frage der Gültigkeit des gesamten Europäischen Gemeinschaft und zur Teilung Euro- Vertrags. Wir sollten die Chance, die uns die Dänen pas, mit großer Wahrscheinlichkeit unter fürchterli- eingeräumt haben, wahrnehmen, um eine Reihe von chen Voraussetzungen, vor allem ständigen Streite- Regelungen dieses Vertrages zu relativieren und den reien, in sich. Vertrag davon zu befreien. Dieses Parlament ist zu Keine künftige Generation in Deutschland — ich dieser Aufgabe aufgefordert. Es kann nicht allem spreche die jungen Menschen in unserem Land an — folgen, was eine innerlich schwache Regierung vorzu- wird sich bei der ungeheuren Anhäufung von öffent- schlagen hat. Wir können nicht über die Köpfe der lichen Schulden in Deutschland auf Dauer bereiter Menschen entscheiden. klären, mit riesigen weiteren Transferzahlungen in Die Alternative, nach der vorhin gefragt wurde, ist: andere europäische Länder wie eine Weihnachtsgans Schaffen wir doch erst einmal den europäischen ausgenommen zu werden. Binnenmarkt vom 1. Januar an! Bekennen wir uns zu Ich bitte Sie: Lesen Sie sich einmal durch, was in der den europäischen Prinzipien, und bauen wir jetzt Drucksache der Europäischen Kommission unter der nicht schon an einem Europa, das sich erst in den Überschrift „Ausreichende Mittel für unsere" — der nächsten Jahren Stück für Stück tatsächlich aufbauen Kommission — „ehrgeizigen Ziele" alles drinsteht. läßt! Dann wissen Sie, welch ungeheure Belastungen auf den Bundeshaushalt — sprich: auf die zukünftigen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Generationen — zukommen sollen. Keine dieser Damen und Herren, ich kann nunmehr die Ausspra- Generationen wird bereit sein, das Leistungsprinzip che schließen. zu Lasten der Deutschen in Europa ad absurdum zu führen. Aber man wird mit Maastricht eine Handhabe Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der finden, die Deutschen ins Unrecht zu setzen, weil sie Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. zur Einset- sich angeblich nicht an vertragliche Abmachungen zung eines Sonderausschusses zum Vertrag vom halten wollten. 7. Februar 1992 über die Europäische Union (Vertrag von Maastricht). Er liegt Ihnen vor auf Drucksache Ich persönlich bin der Auffassung, je flexibler und 12/3373. Wer ist für diesen Antrag? — Wer ist dage- von freiheitlichem Geist getragen Europa bleibt, desto gen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist einstimmig bestandsfähiger wird es sein. Maastricht wird dem angenommen worden. nicht gerecht. Es ist ein in sich nicht gerechter Vertrag Wir kommen nunmehr zu den Überweisungen. und kann nur kontraproduktiv sein. Das sage ich als Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf überzeugter Europäer, der auch an die europäische den Drucksachen 12/3334, 12/3202, 12/3319, 12/3338, Zukunft glaubt. 12/3003, 12/3004, 12/3129, 12/3132, 12/3353, Ich frage Sie nochmals: Wer soll eigentlich die 12/3322, 12/3366 und 12/3367 an die in der Tagesord- großen Probleme in Deutschland lösen, wenn nicht die nung und im Anhang zur Zusatzpunktliste aufgeführ- Deutschen selbst? Wie sollen wir dazu beitragen, daß ten Ausschüsse zu überweisen. Die Zusatzpunktliste die Probleme der anderen Mitgliedsländer der Euro- mit Anhang ist Ihnen heute morgen zugegangen. päischen Gemeinschaft gelöst werden können, wenn Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Ver- wir nicht erst im eigenen Land zu Stabilität und trag über die Europäische Union auf Drucksache — jetzt — neuer Wirtschaftskraft und innerer Sicher- 12/3334 — das ist Tagesordnungspunkt 5 a — soll heit zurückgefunden haben? zusätzlich zur Mitberatung an den Ausschuß für Der Wert des europäischen Protektionismus muß Wirtschaft, den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz doch auch einmal überprüft werden. Er ist doch längst und Reaktorsicherheit überwiesen werden. Die Ent- umstritten. Er war am Anfang gut. Später hat er schließung des Europäischen Parlaments auf Druck- verhindert, daß die Entwicklungsländer wirkliche sache 12/3003 — das ist Tagesordnungspunkt 5 e — Partner werden konnten, und er hat viel dazu beige- soll auch an den Ausschuß für Wirtschaft, den Aus- tragen, daß man beispielsweise auf die japanische schuß für Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuß für Herausforderung zu spät und nicht angemessen rea- Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an giert hat. Das heißt: Wir müssen erst einmal eine den Ausschuß für Forschung und Technologie zur Debatte über die Grundstrukturen der Gemeinschaft Mitberatung überwiesen werden. 9394 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Ich frage nunmehr, ob es weitere Vorschläge gibt. — auch an dieser Stelle sollten wir der deutschen Öffent- Das ist nicht der Fall. Dann darf ich feststellen, daß lichkeit, der deutschen Bevölkerung dafür nachdrück- diese Überweisungen beschlossen sind. lich danken. Zur Erinnerung: Wir hatten den Tagesordnungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. punkt 6 abgesetzt und können nunmehr zum Tages- sowie bei Abgeordneten der SPD) ordnungspunkt 11 kommen: Vereinbarte Debatte über Um so wichtiger ist es, deutlich zu machen: Wer gewalttätig gegen Menschen vorgeht, wer Häuser in Extremismus und Gewalt Brand setzt und Fremdenhaß schürt, ist ein Kriminel- Dazu liegen uns Entschließungsanträge der Frak- ler und muß als solcher behandelt werden. tionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. und drei Ent- schließungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. und sowie ein Entschließungsantrag der Gruppe BÜND- der SPD) NIS 90/DIE GRÜNEN vor. Interfraktionell ist verein- Deshalb muß der Rechtsstaat alle Mittel ausschöpfen. bart worden, daß ich eine Debattenzeit von zwei Wir brauchen einen Solidarpakt aller demokratischen Stunden vorschlage. Ich hoffe, das Haus ist damit Kräfte gegen Extremismus und Radikalismus, um einverstanden. — Das ist offensichtlich der Fall. Dann fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische kann ich dies als beschlossen feststellen und dem Übergriffe zu verhindern und zu bekämpfen, ihren Bundesminister des Innern, Rudolf Seiters, das Wort Ursachen zu begegnen und Ausländer vor Angriffen erteilen. Herr Bundesminister, Sie haben das Wort. wirksam zu schützen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich Rudolf Seiters, Bundesminister des Innern: Herr betonen: Die Polizei versieht ihre schwierige Aufgabe Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Vorlage mit großem Einsatz und vorbildlicher Pflichterfüllung. des Verfassungsschutzberichtes 1991, noch vor der Sie verdient bei ihrem Kampf gegen Rechtsextremis- Welle rechtsextremistischer Gewalt, habe ich das mus und Linksextremismus — den es ja auch nach wie erschreckende Phänomen der Gewalttaten gegen vor gibt, wie die gemeingefährlichen Ausschreitun-

Ausländer gegeißelt und erklärt: Die Gewalttaten gen am 3. Oktober in Berlin zeigen — Anerkennung gegen Ausländer waren und sind schändlich; die und Dank sowie die Unterstützung aller Bürger. Bundesregierung wird es nicht dulden, daß rechtsex- tremistische und neonationalsozialistische Schläger- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. trupps fremdenfeindliche Aktionen und schlimme sowie bei Abgeordneten der SPD) Gewalttaten begehen. Nichts und niemand gibt das Die Innen- und Justizminister des Bundes und der Recht zu ausländerfeindlicher Hetze oder zu Länder werden morgen in einer Sonderkonferenz Gewalt. über die Bedrohungssituation und über Bekämp- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie fungsstrategien beraten. Dazu sage ich: Die Ausein- bei Abgeordneten der SPD) andersetzung mit Fremdenfeindlichkeit, mit Gewalt Dies erkläre ich mit allem Nachdruck auch heute. und Extremismus kann nicht allein von Polizei und Wir Deutschen wissen aus dem leidvollen Teil unserer Justiz geführt werden. Wir brauchen ganz sicher in Geschichte, daß Extremismus, Haß und Gewalt immer Deutschland verstärkte Anstrengungen mit dem Ziel, in Unheil und Verhängnis geendet haben. Straßenter- extremistische Gewaltpotentiale, insbesondere unter ror und brutale Gewalt sind Angriffe auf unsere jungen Menschen, schon im Keim zu unterbinden.

Rechts- und Werteordnung. Sie bedrohen den inneren Ich bin überzeugt, daß die Innen- und Justizmi- Frieden unseres Landes, und deswegen muß sich nister des Bundes und der Länder die Dringlichkeit unsere Demokratie, d. h. wir alle, gegen ihre Feinde der gesamtgesellschaftlichen Aufklärungskampagne mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zur Wehr setzen. ebenso bestätigen wie die Notwendigkeit, durch die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Erziehung in den Familien sowie durch die pädagogi- Meine Damen und Herren, ich sage dies, weil sche Arbeit in der Schule, in Vereinen und in Jugend- verbänden klare Werte und Normen zu vermitteln, ausländerfeindliche Ausschreitungen und Übergriffe und dies insbesondere angesichts der Tatsache, daß die unveräußerliche Würde des Menschen verletzen. Ich sage dies auch, weil die Ereignisse der vergange- nach den Erkenntnissen der Strafverfolgungsbehör- nen Wochen, Gewalttaten mit primitiver, ausländer- den über 80 % der rechtsextremistischen Gewalttäter feindlicher Hetze und brutalen, kriminellen Angriffs- unter 20 Jahren sind. Auch die Medien tragen hier weisen gegenüber anderen Menschen, einen schwe- eine ganz große Verantwortung. ren Schatten werfen auf das Bild Deutschlands in der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Welt. Aber diese gewalttätige Minderheit ist nicht Detlev von Larcher [SPD]: Und die politi- Deutschland, meine Damen und Herren! schen Parteien!) (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Ich stimme zu, daß rechtsstaatliche Stärke und SPD) Besonnenheit gefordert sind. Ich will, daß der Rechts- Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land. staat das bestehende gesetzliche Instrumenta rium 6 Millionen Ausländer leben hier. Sie sind Teil unseres nutzt, um kriminelle Gewalt konsequent zu verfolgen Arbeits- und Gesellschaftslebens. Als die schreckli- und zu ahnden. Ich fordere aber auch uns alle auf, chen Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien passier- unvoreingenommen zu prüfen, welche rechtsstaatli- ten, ging eine Welle der Hilfsbereitschaft durch unser chen Mittel zusätzlich nötig sind, um die Täter zur Land, und diese Welle hält bis heute an. Ich denke, Rechenschaft zu ziehen und vorbeugend zu wirken Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9395

Bundesminister Rudolf Seiters gegen jede Art von Extremismus, Kriminalität und Ich habe das Bundesamt für Verfassungsschutz Gewalt. angewiesen, zu prüfen, ob die Beweislage ausreicht, bestimmte rechtsextremistische Organisationen zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. verbieten. Die Ausschreitungen der jüngsten Zeit und sowie bei Abgeordneten der SPD) die zunehmende Gewalt machen es darüber hinaus dringend erforderlich, das Programm für die innere Die Bundesregierung hat schon vor den gewalttäti- Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland fortzu- gen Ausschreitungen in Rostock die Länderpolizeien schreiben, um der veränderten Lage auf dem Gebiet im Osten bei gewaltgeneigten Versammlungen mas- der inneren Sicherheit Rechnung zu tragen. Ich habe siv durch den Bundesgrenzschutz unterstützt und an die Innenministerkonferenz appelliert, die Arbeit wird dies auch in Zukunft tun. Der Bund unterstützt an der Fortschreibung des Programms zügig fortzu- auch die Ausstattung von Einsatzeinheiten der Bereit- führen. schaftspolizei in den neuen Ländern. Nach der bishe- rigen Planung sind bis 1995 hierfür rund 100 Millionen Meine Damen und Herren! Ich habe ausdrücklich DM vorgesehen. Mit allen neuen Bundesländern betont, daß der Rechtsstaat das bestehende gesetzli- wurden Verwaltungsabkommen über die Bereit- che Instrumentarium konsequent nutzen muß, um schaftspolizei geschlossen. Sechs Bereitschaftspoli- kriminelle Gewalt zu verfolgen und zu ahnden. Wir zei-Abteilungen mit 20 Einsatzhundertschaften befin- sind uns einig, daß die Justiz schnell und hart gegen den sich im Aufbau. Erst für spätere Jahre vorgese- j ede Form politisch verbrämter Gewalt vorgehen muß, hene Haushaltsmittel für die vollständige Ausstattung um über den Einzelfall hinaus abschreckende Wir- mit Führungs- und Einsatzmitteln will ich vorziehen, kung zu erzielen. um eine schnelle, optimale Einsatzbereitschaft sicher- Dazu gehört, daß erkannte Täter sofort festgenom- zustellen. men, schnell vor Gericht gestellt und hart verurteilt Dem dezentralen jederzeitigen Bereithalten gut werden. Von den Möglichkeiten, Personen zur Ver- zu nehmen, trainierter und einsatzerfahrener geschlossener Zu- hinderung von Straftaten in Gewahrsam griffseinheiten durch die Bereitschaftspolizei und den was nach den Polizeigesetzen der Länder möglich ist, Bundesgrenzschutz muß eine hohe Priorität zukom- muß konsequent Gebrauch gemacht werden. Die Möglichkeiten des Versammlungsrechts für ein befri- men. Sie sind besonders wichtig für die Festnahme von Gewalttätern, für die gerichtsverwertbare Be- stetes und räumlich begrenztes Demonstrationsver- weisführung und somit für einen dauerhaften Erfolg bot müssen genutzt und, wo nötig, ausgewertet wer- polizeilicher Maßnahmen. den. Ich fordere darüber hinaus, unvoreingenommen zu Ich werde bei der morgigen Sondersitzung der prüfen — ich wiederhole dies —, ob in bestimmten Innen- und Justizministerkonferenz auch auf die Not- Bereichen eine Verschärfung der Gesetze nötig ist. wendigkeit hinweisen, zu jeder Zeit ein ausreichen- Ich persönlich sage dazu ein klares Ja. des und schnell verfügbares Kontingent von Polizei- beamten bereitzuhalten. (Beifall bei der CDU/CSU) Die jüngsten Erfahrungen zeigen doch, daß die krimi- Ich halte zur weiteren Unterstützung der polizeili- nelle Gewaltanwendung, wie etwa der Angriff mit chen Arbeit die Errichtung eines Meldedienstes Molotowcocktails oder Steinen aus einer Menschen- „Fremdenfeindliche Straftaten" zwischen Bund und menge heraus, oft nicht gerichtsverwertbar aufgeklärt Ländern für geboten. Ziel dieses Meldedienstes muß werden kann. Wer aus der schützenden Anonymität sein, die vor Ort gewonnenen polizeilichen Erkennt- einer selbst keine Gewalt anwendenden Menschen- nisse gerade auch für effektive Bekämpfungsstrate- menge heraus operiert, kann als Tatverdächtiger oft gien in Zusammenhang mit reisenden Mehrfachtätern nicht überführt werden. Deshalb trete ich dafür ein, besser zusammenzuführen und auszuwerten. den Tatbestand des Landfriedensbruchs zu ergänzen, Ich habe schon bei der Vorlage des Verfassungs- damit es Gewalttätern erschwert wird, aus einer schutzberichtes gefordert, mehr Vorfeldaufklärung Menge heraus zu handeln oder in ihr unterzutauchen. durch den Verfassungsschutz durchzuführen. Ich Ich denke daß wir eine Regelung brauchen, nach der hoffe auf einen gemeinsamen Beschluß der Innenmi- sich auch strafbar macht, wer sich im Falle von solchen nister des Bundes und der Länder mit Ihrer Unterstüt- Gewalttätigkeiten oder Bedrohungen aus einer Men- zung, den auf Grund der Wiedervereinigung und des schenmenge heraus trotz Aufforderung durch die Zusammenbruchs der kommunistischen Regime in Polizei nicht entfernt oder sich dieser Menge Osteuropa eingeleiteten Personalabbau in den Ver- anschließt. fassungsschutzbehörden rückgängig zu machen oder (Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. zumindest auszusetzen und die Verfassungsschutzbe- Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE hörden in den neuen Ländern personell zu unterstüt- GRÜNEN] — Wolfgang Lüder [F.D.P.]: Sie zen. müssen erst einmal die Gesetzeslage anwen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den, die wir haben!) Der Verfassungsschutz muß sein Augenmerk neben Ich denke, daß uns die Bilder doch allen gemeinsam der Beobachtung linksextremistischer Entwicklungen noch vor Augen stehen, die wir verstärkt auf rechtsextremistische und gewalttätige (Zurufe von der SPD) ausländerfeindliche Entwicklungen richten. Hierzu sind voll funktionsfähige Verfassungsschutzbehörden in Rostock erlebt haben, Bilder von Kriminellen, von auch in den neuen Bundesländern unverzichtbar. Gewalttätern, die kriminelle Handlungen begangen 9396 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Bundesminister Rudolf Seiters haben, die wir alle gemeinsam verurteilen. Ist es denn Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD): Herr Präsident! wirklich falsch, unvernünftig und angreifbar, wenn Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! wir darüber nachdenken und wenn wir prüfen, wie Über unserem Land entlädt sich seit geraumer Zeit wir künftig auch dadurch, daß wir Täter aus der eine Welle der Gewalt. Ihr Ausmaß ist erschreckend. schützenden Menge entfernen oder eine solche Sechs Menschen haben allein in diesem Jahr bei Menge von den Tätern entfernen, unsere Instrumen- solchen Anschlägen ihr Leben verloren. Mehr als tarien so verbessern, daß diese brutalen kriminellen 400mal sind Menschen angegriffen, Mahnmale Pendler vor Gericht gestellt werden können? beschädigt oder zerstört oder Friedhöfe geschändet (Beifall bei der CDU/CSU) worden. Das ist für sich allein schon bedrückend und beschämend. Bedrückender noch ist, daß die Gewalt- Ich weise auch darauf hin, daß nach geltendem vor allem von jungen Menschen ausgeht und sich fast Recht wegen Landfriedensbruch festgenommene Ge- ausschließlich gegen Ausländer richtet. Und daß die walttäter vom Haftrichter wieder zu entlassen sind, Gewalt auch vor jüdischen Einrichtungen nicht halt- wenn nicht ausnahmsweise Fluchtgefahr besteht. Der macht, das kann auf dem Hintergrund dessen, was von Haftgrund der Verdunkelungsgefahr kommt meist Deutschen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts nicht in Betracht, da es sich regelmäßig um Überzeu- dem jüdischen Volk angetan worden ist, nur als gungstäter handelt, die die Tatbegehung einräumen. Schande, nein als eine Schmach bezeichnet wer- Auf diese Weise können sich diese Kriminellen schon den. bald wieder an weiteren Gewalttätigkeiten beteili- (Beifall im ganzen Hause) gen. Und ich unterstelle, daß wir alle gemeinsam dies nicht wollen und daß wir darüber nachzudenken Das alles ist alarmierend genug. Noch alarmieren- haben, wie wir das verhindern können. der muß für uns alle sein, daß Rechtsradikale mit schlimmen Parolen zur Gewalt aufrufen und sich (Beifall bei der CDU/CSU — Wolfgang Lüder immer häufiger an die Spitze derer setzen, die sie [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischen zuvor aufgehetzt haben. Für uns Ältere, für meine frage) Generation werden da böse Erinnerungen wach: — Ich möchte jetzt im Gesamtzusammenhang vortra- nichts — noch nicht — an die Pogromnacht des Jahres gen. 1938 — das ist eine unzulässige Gleichsetzung —, aber, meine Damen und Herren, an die frühen 30er Deswegen sage ich zum vierten Male: Laßt uns dies Jahre, in denen Menschen gejagt wurden, in denen bitte unvoreingenommen prüfen! Nach meiner Mei- die Saat der Gewalt aufging, die später so furchtbare nung spricht alles dafür, das Haftrecht dahin gehend Ernte hielt. zu verschärfen, daß des Landfriedensbruchs dringend Verdächtige bei Wiederholungsgefahr auch ohne Es ist sicher falsch, die Herausfordentng, mit der wir Vorverurteilung in Untersuchungshaft genommen es zu tun haben, zu dramatisieren. Noch gefährlicher werden können. aber wäre es, sie zu bagatellisieren. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall im ganzen Hause) Meine Damen und Herren, wenn es denn stimmt, Sagen wir es klar heraus und, wenn immer es sein daß die Verhinderung von Gewalttaten Vorrang hat, kann, gemeinsam: Unsere Republik, unser Gemein- die Bestrafung von Tätern ebenso, und wenn wir uns wesen steht in einer ernsten Bewährungsprobe. Dabei in der Zielsetzung einig sind — und wir sind uns doch spielt sicher auch — und ich betone: auch — eine in dieser Zielsetzung einig —, dem Treiben extremi- Rolle, wie sehr die Ereignisse der letzten Wochen stischer Gewalttäter eine eindeutige und entschie- unserem Ansehen in Europa und in der Welt schaden, dene rechtsstaatliche Antwort zu geben, dann müssen einem Ansehen, das verloren war und das wir uns in wir doch auch unvoreingenommen an die Lösung Jahrzehnten gemeinsamer Arbeit mühsam zurücker- dieser Probleme herangehen können. worben haben. Das kann uns nicht gleichgültig sein, auch nicht die wirtschaftlichen Nachteile, die sich (Beifall bei der CDU/CSU) daraus bereits ergeben und auf die gelegentlich Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und verwiesen wird. - Kollegen! Die Bekämpfung der gewalttätigen Aus- Aber für mich ist das nicht das Primäre. Entschei- schreitungen in Teilen unseres Landes ist eine Her- dend ist für mich, daß wir vor uns selbst, daß wir vor ausforderung für Politik, für Sicherheitsbehörden, für den Wertmaßstäben bestehen können, auf die wir uns die Justiz, für alle gesellschaftlichen Gruppen. Dieser unter dem Eindruck der Katastrophen der 30er und Herausforderung muß eine entschiedene, von allen 40er Jahre geeinigt haben. demokratischen Kräften getragene Antwort gegeben werden — im Interesse der politischen Kultur, der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der inneren Sicherheit unseres Landes und der doch von F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- uns allen gewollten wehrhaften Demokratie. NEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Und das heißt, daß sich alle Menschen, die sich in ordneten der F.D.P.) unserem Lande aufhalten, sicher fühlen können: ohne Rücksicht auf ihre Nationalität, ihre Hautfarbe, ihren Glauben oder ihren ausländerrechtlichen Status. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Hans-Jochen Darum kann es auf die Welle der Gewalt nur eine Vogel. Antwort geben, nämlich das entschiedene Nein, das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9397

Dr. Hans-Jochen Vogel gemeinschaftliche Nein aller in unserem Volke und Eine andere Lehre aus jener Zeit lautet übrigens: vor allem aller Demokraten Man kann den Rechtsradikalismus nicht durch Nach- giebigkeit oder dadurch bekämpfen, daß man seine (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Forderungen übernimmt. F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der sowie die gesellschaftliche Ächtung der Gewalt, ihrer CDU/CSU und der F.D.P.) Hintermänner und Drahtzieher, aber auch ihrer Sym- pathisanten, einerlei, ob sie ihre Sympathie offen Man wird seiner nur Herr, indem man kompromißlos — und ich spreche das Wort in Erinnerung an die nein sagt und Widerstand leistet. - Vergangenheit aus — oder klammheimlich zeigen. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke (Beifall im ganzen Hause) Liste) Aber all das genügt nicht. Wir alle können unsere Diese Ächtung haben wir in den 70er Jahren über Verantwortung — und so habe ich Sie auch nicht alle Divergenzen hinweg dem Terror der RAF zuteil verstanden — auch nicht an die Polizei und die werden lassen. Sie muß uns heute ebenso gelingen. Strafjustiz delegieren. Die Verwerflichkeit und die Gefährlichkeit sind nicht geringer, als es damals der Fall war. (Beifall bei der SPD) (Beifall im ganzen Hause) Gefordert ist unsere ganze Gesellschaft mit all ihren Institutionen: Das heißt auch: Der Staat muß sein Gewaltmonopol verteidigen. Er muß alle seine rechtsstaatlichen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Machtmittel einsetzen, auch gegen sogenannte auto- der CDU/CSU) nome Gruppen, wenn sie Gewalt anwenden. die Parteien, die Gewerkschaften ebenso wie die Verbände, die Schulen, die Kirchen und nicht zuletzt (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der die Medien, aber auch Bürgerinitiativen und Grup- F.D.P. sowie des Abg. Konrad Weiß [Berlin] pen, die sich ad hoc auf örtlicher Ebene bilden. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Gefordert sind die Eltern, ist letzten Endes jeder Dabei erscheint mir die Suche nach neuen Instrumen- Bürger und jede Bürgerin dieser Republik. ten und zusätzlichen Regelungen weniger dringlich (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der als der entschlossene Einsatz der bereits vorhandenen F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bewährten Mittel. NEN) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Vergessen wir nicht: Weimar ist nicht zugrunde F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ gegangen am Mangel an Vorschriften oder Strafbe- NEN) stimmungen; daran hat es — siehe Republikschutzge- Notwendig ist auch — da stimme ich mit Ihnen, Herr setz — nicht gefehlt. Gemangelt hat es zuletzt an Kollege Seiters, völlig überein —, daß wir den Beam- Demokraten, an Menschen, die sich für die Demokra- ten der Polizei und des Grenzschutzes, die dem Recht tie und für die Gewaltlosigkeit engagiert haben. Geltung verschaffen, Rückhalt geben, ihnen unsere (Lebhafter Beifall bei der SPD, der CDU/- Solidarität bekunden CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der GRÜNEN) F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜND Sage keiner, auf ihn komme es an, er könne nichts NISSES 90/DIE GRÜNEN) tun. Jeder kann den Angegriffenen und den Bedroh- ten seine Solidarität bekunden und den Angreifern und ihnen für den Dienst, den sie unter schwierigen seine Verachtung — jeder kann das! Bedingungen leisten, danken. Ich tue das heute hier genauso, wie ich das Ende August an Ort und Stelle in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Rostock tun konnte. DIE GRÜNEN) Ebenso deutlich und klar wie das Nein gegen Es war gut, daß an einigen Orten Menschenketten jegliche Gewaltanwendung muß eine weitere Absage Ausländer- und Asylbewerberheime schützend um- sein, nämlich die Absage an alle rechtsradikalen schlossen, daß nicht wenige solche Heime besucht Parteien, Gruppierungen und Aktivitäten. haben. Noch besser wäre es, dies geschähe überall. Es war gut, daß in Sachsenhausen 5 000 und in Frankfurt (Beifall im ganzen Hause) und Nürnberg jeweils über 10 000 Menschen gegen Wenn irgendwo, dann gilt es hier, den Anfängen zu Gewalt, Antisemitismus und Ausländerhaß protestiert wehren und sich unserer jüngeren Geschichte zu haben. Noch besser wäre es, es fänden sich Hunder- erinnern, etwa daran zu denken, daß schon einmal das tausende zusammen, so wie das Anfang der 80er Unheil damit begonnen hat, daß Menschen — damals Jahre aus anderen Anlässen geschehen ist. waren es die Juden — ausgegrenzt, verteufelt und zu (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Objekten des Hasses, eines tödlichen Hasses gemacht dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei worden sind. Abgeordneten der CDU/CSU und der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P.) F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÚ Ich sprach davon, daß sich an Ausschreitungen vor NEN) allem junge Menschen beteiligt haben, in den neuen 9398 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Hans-Jochen Vogel Bundesländern zumal. Wir müssen den Gründen es aus — insonderheit den Republikanern genutzt. Sie nachgehen, warum das so ist, warum so viele rechts- waren die Nutznießer! radikalen Parolen Gehör schenken. Dabei könnten (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und wir an die Erkenntnisse der Enquete-Kommission dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei „Jugendprotest" aus den Jahren 1981 und 1982 Abgeordneten der CDU/CSU und der anknüpfen, etwa an die Erkenntnis, daß Gewalt oft F.D.P.) auch ein Anzeichen für gestörte Kommunikation, für Sprachlosigkeit, für die Unfähigkeit ist, sich und seine Als einer, der seiner Partei — wie andere der ihren — Probleme mitzuteilen. ein Leben lang in vielen Funktionen gedient hat, sage ich: Jetzt ist nicht das Wichtigste, daß die eigene Partei- Weiteres kommt hinzu, so für nicht wenige junge in Meinungsumfragen ein paar Prozente gewinnt und die andere Partei in Meinungsumfragen ein paar Menschen in den neuen Bundesländern — und ich glaube, wir in den alten Bundesländern müssen uns Prozente verliert. Das wichtigste ist jetzt, daß wir immer wieder anstrengen, das zu erfassen und ins gemeinsam unser Gemeinwesen vor Schaden bewah- Bewußtsein zu nehmen —, daß sie im Zuge des großen ren, daß wir seine demokratische und rechtsstaatliche Umbruchs orientierungslos geworden sind, weil die Substanz verteidigen. Das ist das Wichtigste! alten Orientierungen zusammen mit der dauernden (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Fremdbestimmung und Bevormundung verschwun- F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den und neue Orientierungen, die zum sinnvollen NEN) Gebrauch der neugewonnenen Freiheit befähigen würden, noch nicht an ihre Stelle getreten sind; weil es Die deutsche Sozialdemokratie wird dazu die auch an sinnvollen Freizeitangeboten mangelt, sie Erfahrungen ihrer 130jährigen Geschichte einbrin- jedenfalls nicht in ausreichendem Maße zur Verfü- gen, gerade auch die Erfahrungen aus der Zeit, in der gung stehen, und weil sich die Arbeitslosigkeit der — wie andere Demokraten und Demokratinnen — Eltern — ich rede von Lichtenhagen, von denen, die Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen selbst dort ohne normale Beschäftigung sind — wie ein gejagt und verfolgt wurden und nicht wenige über- Schatten auch auf die eigenen Lebensperspektiven haupt nur deshalb überlebten, weil andere Völker legt. Um so wichtiger ist es, den Menschen in den ihnen Asyl gewährten und sie vor Gewalt geschützt neuen Bundesländern durch eine gemeinsame solida- haben. rische Anstrengung wieder eine Perspektive zu Ich danke Ihnen. geben und diesen Schleier zu durchbrechen. (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der PDS/Linke (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei NEN) Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

Wichtig ist es auch, den Menschen in den alten Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Bundesländern klarzumachen, daß sie sich in einer nunmehr dem Abgeordneten Dr. Blens das Wort. Zeit gewaltiger Umbrüche nicht wie Zuschauer ver- halten können, daß die Veränderungsprozesse auch sie, auch uns ergriffen haben, daß auch sie eine neue Perspektive brauchen: nicht eine illusionäre, die zu (CDU/CSU): Herr Präsident! neuer Enttäuschung führt, sondern eine realistische, Dr. Heribert Blens Meine Damen und Herren! Als die Mitglieder des die auf Wahrheit beruht, deshalb glaubwürdig ist und Parlamentarischen Rates vier Jahre nach dem Zusam- aufs neue Vertrauen schafft. Denn nur wer Vertrauen menbruch des Nationalsozialismus darangingen, genießt, kann das leisten, was jetzt vor allem gefordert eine neue deutsche Verfassung zu formulieren, da - und eine ist, nämlich geistig moralische Orientierung schrieben sie an den Anfang zwei einfache Sätze: Politik, die auch auf diese Weise die Gewalt überwin- det. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ achten und zu schützen ist Verpflichtung aller DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der staatlichen Gewalt. CDU/CSU und der F.D.P.) Das war die Antwort auf zwölf Jahre totalitärer Herr- schaft, die Menschen zu bloßen Objekten, zu „Men- Dazu gehört auch, daß wir redlich und verantwor- schenmaterial", zu „Untermenschen" herabgewür- tungsbewußt — und ich wage zu sagen: vielleicht digt hatte: durch Diffamierung, Diskriminierung, Ent- redlicher und verantwortungsbewußter — miteinan- rechtung, Zwangsarbeit, Versklavung, Terror und der umgehen — und das gerade da, wo wir unter- millionenfachen fabrikmäßig betriebenen Massen- schiedlicher Meinung sind, wo jeder wechselseitig mord. meint, er hätte recht und der andere hätte unrecht. Die Antwort unserer Verfassung auf diese Verbre- chen heißt nicht etwa „Die Würde des deutschen Instrumentalisierung von Problemen zur Bekämp- Menschen ist unantastbar". fung des jeweiligen demokratischen Gegners — diese Lektion sollten wir in der letzten Zeit gelernt haben — (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der hat bisher nur den Rechtsradikalen und — ich spreche SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9399

Dr. Heribert Blens Die Antwort unserer Verfassung heißt: „Die Würde allein stammt letztlich die Legitimität seiner des Menschen" — und daß heißt: jedes Menschen — Machtausübung. „ist unantastbar." Oder sagen wir es mit anderen Worten: Staatliche (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Ordnung, rechtsstaatlich organisierte öffentliche Si- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) cherheit sind nicht Gegner, sondern notwendige Denn alle Menschen haben die gleiche Würde: Der Bedingung der Freiheit der Bürger. Schwarze aus Afrika hat die gleiche Würde wie der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Weiße aus Europa. Der Muslim aus dem Kosovo hat sowie bei Abgeordneten der SPD) die gleiche Würde wie der Christ aus München oder der Jude aus Frankfurt. Deshalb sollten wir ohne Vorurteile über eine Verbes- serung der öffentlichen Sicherheit auch durch Ver- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der schärfung von Gesetzen reden und möglichst bald die SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) notwendigen Entscheidungen treffen. Der Sinti oder Roma aus Rumänien hat die gleiche Polizei, Staatsanwaltschaften, Ge richte müssen Würde wie der Deutsche aus Rostock. durchgreifen. Aber damit allein ist es nicht getan. (Beifall bei der CDU/CSU, und F.D.P., der Wenn ein Haus brennt, braucht man als erstes die SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Feuerwehr, damit sie das Feuer schnell löscht. Aber Und weil alle Menschen die gleiche Würde haben, wenn gelöscht ist, stellt sich die Frage: Was war die haben alle Menschen das gleiche, aus der Menschen- Brandursache? Und dann kommt die Frage: Was würde folgende Recht auf Leben und das gleiche, aus müssen wir tun, um in Zukunft weitere Brände zu der Menschenwürde folgende Recht auf körperliche vermeiden? Unversehrtheit. Da gibt es viele zum Teil gegensätzliche Antworten. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Patentrezepte hat keiner von uns. Da wird intensive SPD) Aufklärung über den Nationalsozialismus gefordert. Und das ist sicherlich richtig. Aber der für den Diese Rechte sind nicht nur zu achten, sie sind auch Hauptvorstand der IG Metall arbeitende Psychologe aktiv und wirksam gegen Angriffe zu schützen. Das ist und Soziologe Kowalsky schränkt die Erfolgsaussich- Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. So fordert es ten solcher Aufklärungsaktionen erheblich ein, wenn die Verfassung. er feststellt — ich zitiere —: „Moralische Abscheu und (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Distanzierung lassen sich nicht durch pädagogische SPD) Tricks hervorrufen und nicht anerziehen." Wenn in diesem Land Menschen gejagt und geprügelt Da wird zu fremdenfreundlichen Sympathiekund- werden, weil sie Ausländer sind, wenn in diesem Land gebungen aufgerufen, und das sicher in guter Absicht. Häuser in Brand gesetzt werden, um die darin leben- Aber der Bielefelder Rechtsextremismusforscher Wil- den Menschen zu verbrennen, weil sie Ayslbewerber helm Heitmeyer stellt kritisch fest, „die menschen- sind, dann haben Polizei, Staatsanwaltschaften und überfordernde Fremdenfreundlichkeit, die das Bild Gerichte die selbstverständliche Pflicht, mit aller vom fehlerlosen Fremden transportiert", widerspre- Härte, zu der der Rechtsstaat fähig ist, die Angriffe che „jeglicher Alltagserfahrung". Sie dürfte deshalb abzuwehren, die Täter zu fassen und sie nach den eher das Gegenteil dessen bewirken, was beabsichtigt Gesetzen ohne Nachsicht zu bestrafen. ist. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Was können wir also tun? — Der sächsische Mini- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sterpräsident und sein Innenminister Eggert haben Und die Politiker — das sind wir — haben die nach den Krawallen in Hoyerswerda runde Tische selbstverständliche Pflicht, der Polizei, den Staatsan- eingerichtet, an denen Jugendliche mit Politikern, wälten, den Richtern alle sachlichen und personellen Kommunalbeamten, Kirchenvertretern und Polizei Mittel zu verschaffen, die für durchgreifende Erfolge über ihre Probleme reden können. Dabei dürfen auch gegen Gewalttäter erforderlich sind. Jugendliche aus extremen Gruppen mitreden. Viel- Dazu gehört auch, daß wir die Gesetze verschärfen, leicht gelingt es so, junge Leute im Gespräch für die wenn das notwendig ist, um mit der Gewalt fertigzu- Demokratie zu gewinnen und dadurch das Umfeld werden. rechtsradikaler Gruppen langsam auszutrocknen. (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!) Aber wir werden junge Leute, die durch den Unter- gang der DDR, die durch die Wiedervereinigung ihre Wir, die CDU/CSU-Fraktion, halten das für erforder- bisherige Orientierung und Identität verloren haben, lich. Darüber muß geredet, das muß entschieden auch durch noch so viele Gespräche nicht für den werden. Dabei sollten wir nicht den Fehler machen, zu demokratischen Staat gewinnen können, wenn das glauben, öffentliche Sicherheit und Freiheit, staatli- Ansehen dieses Staates immer weiter demontiert che Ordnung und Liberalität seien Gegensätze, Carlo wird. Demokratie braucht Kritik, und demokratische Schmid hat dazu am 6. Mai 1949 im Parlamentari- Politiker brauchen öffentliche Kontrolle und öffentli- schen Rat gesagt: che Kritik; das ist keine Frage. Aber wenn demokra- Letztlich ist der Staat dazu da, die äußere Ord- tische Politiker von einigen Erzeugnissen der Massen- nung zu schaffen, derer die Menschen zu einem medien Tag für Tag als raffgierige, sich selbst bedie- auf der Freiheit des einzelnen beruhenden nende geistig Minderbemittelte dargestellt werden, die Zusammenleben bedürfen. Aus diesem Auftrag in jedem ordentlichen Beruf Schiffbruch erlitten hät- 9400 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Heribert Blens ten, dann darf man sich nicht wundern, daß es äußerst Auch dafür ist schon wegen der Mehrheitsverhält- schwierig ist, junge Leute für den demokratischen nisse breites Zusammenwirken von Regierungspar- Staat zu gewinnen. teien und SPD in Bund und Ländern, in Bundestag und Bundesrat unerläßlich. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Rich- SES 90/DIE GRÜNEN) tig!) Meine Damen und Herren, dringende Probleme Die Journalisten, die dieses Geschäft betreiben, soll- lösen heißt politisch führen. Wenn es den demokrati- ten einmal ernsthaft darüber nachdenken, wessen schen Parteien nicht gelingt, die dringendsten Pro- Geschäfte sie da letztlich betreiben. - bleme durch vernünftige Zusammenarbeit zu bewäl- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der tigen, d. h., wenn es den demokratischen Parteien SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht gelingt, politisch zu führen, Meine Damen und Herren, Menschen für die Demo- (Zuruf von der SPD: Wo ist die Führung?) kratie gewinnen, das setzt auch voraus, daß der dann wird sich eine wachsende Zahl von Bürgern demokratische Staat die Probleme löst, die die Bürger nach anderen Führern umsehen, die keine Hemmun- als vordringlich ansehen. gen haben, ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Rück- sicht auf das Recht alles zu versprechen, was die Leute (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!) gerade hören wollen. Wir wissen aus der Erfahrung mit der Spätzeit der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Weimarer Republik, daß Rechtsradikale es meister- sowie bei Abgeordneten der SPD) haft verstehen, Defizite der Politik demokratischer Ob Rechtsradikalismus bei uns eine Chance Parteien demagogisch für sich auszunutzen. Wenn wir bekommt, hängt von unser aller Fähigkeit ab, demo- das verhindern wollen, müssen wir möglichst rasch kratische Führung durch gemeinsame konsequente beweisen, daß wir gemeinsam in der Lage sind, vor Problemlösung zu demonstrieren. Das ist unsere Ver- allem drei Probleme zu bewältigen. pflichtung. Daran werden wir gemessen. Dem müssen Erstens. Wir müssen das ungelöste Asylproblem so wir gerecht werden. weit wie möglich lösen, was nach unserer Überzeu- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und gung ohne Änderung des Grundgesetzes nicht mög- der F.D.P. — Beifall bei der SPD sowie des lich ist. Dazu ist die Zustimmung der SPD unerläß- Abg. Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/ lich. DIE GRÜNEN]) (Zustimmung bei der CDU/CSU) Zweitens. Wir müssen die von der Bevölkerung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort deutlich gesehenen Defizite im Bereich der inneren hat nunmehr die Abgeordnete Cornelia Schmalz- Sicherheit beseitigen. Auch dazu ist, soweit es um die Jacobsen. Bekämpfung der organisierten Kriminalität geht, nach unserer Ansicht eine Grundgesetzänderung und damit auch die Zustimmung der SPD erforderlich. Und Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Herr Präsi- ohne die Innenminister SPD-regierter Bundesländer dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Überfälle, geht es auch nicht. die Nacht für Nacht auf Unterkünfte verübt werden, in denen Flüchtlinge leben, die täglichen Attacken, Drittens. Wir müssen die Entwicklung in den neuen Beschimpfungen und Beleidigungen gegenüber Aus- Bundesländern so weit voranbringen, daß die Bürger ländern, die schon lange bei uns leben, sind eine dort deutlich sehen, daß es aufwärts geht und daß ihre Schande für unser Land. Angst vor sozialer Deklassierung nicht mehr begrün- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der det ist. SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- sowie bei Abgeordneten der SPD) NEN) Wir wissen aus der wissenschaftlichen Forschung Darin sind wir uns auch alle einig. Aber die Debatte über das Entstehen rechtsradikaler Bewegungen, daß um das Asylrecht — und fast ausschließlich um das Rechtsradikalismus seine Anhänger hauptsächlich in Asylrecht — hat uns in eine Sackgasse geführt. Schichten und Gruppen findet, die von sozialer De- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie klassierung bedroht und durch autoritäre Denk- und bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Verhaltensformen geprägt sind. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Überwindung der vom SED-Staat in 40 Jahren Mit Paragraphen kann man weder den Wanderungs- geschaffenen autoritären Denkformen wird nicht von druck noch die aufgeheizte Stimmung wegzaubern. heute auf morgen gelingen; um so notwendiger ist es, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Menschen in den neuen Bundesländern durch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) deutlich sichtbare Aufbauleistungen die Angst vor Ebensowenig kann man den Rechtsextremismus Deklassierung zu nehmen und ihnen begründete bekämpfen, indem man ihm die Opfer wegnimmt. Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu geben. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- SPD) NEN) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9401

Cornelia Schmalz-Jacobsen Meine Vorgängerin im Amt der Ausländerbeauftrag- warten sie, und nicht nur darauf; auch hier, bei diesen ten, , hat bereits vor zwei Jahren vor Personen, besteht Handlungsbedarf. einer zunehmenden Ausländerfeindlichkeit gewarnt; sie hat auf schreckliche Weise recht behalten. Meine Damen und Herren, ich male Deutschland nicht schwarz. Aber ich halte es für untauglich, wenn Die Polizei und die Justiz müssen kriminelle Gewalt man sich selbst auf die Schulter klopft und sich Sand in verfolgen — nachhaltig und schneller als bisher. Aber, die Augen streut. meine Damen und Herren, es ist doch in erster Linie Sache der Politik und aller demokratischen Kräfte, (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der PDS/ den gemeinsamen Willen hierzu eindeutig klarzustel- Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len, und zwar ohne auf eigene Vorteile zu schielen NEN) und ohne zu wackeln. Dazu bedarf es eines politischen Meine Kolleginnen und Kollegen, Bonn ist nicht Konsenses, der gewissermaßen wasserdicht ist. Weimar. Darum führt die künstliche Herstellung von Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt haben Ursachenparallelen — vom Nationalsozialismus zum keinen Platz in der Bundesrepublik. Das muß die heutigen Rechtsextremismus — ins Leere. Auch die Botschaft sein! Paranoia — ich kann das gar nicht mehr anders (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der nennen —, mit der „die Ausländer" heute von vielen SPD) zu Sündenböcken gemacht werden — für alle realen Diese Botschaft muß den Bürgerinnen und Bürgern oder vermeintlichen Defizite —, spielt sich doch vor vermittelt werden. Sie muß überzeugend, sie muß einem ganz und gar anderen Hintergrund ab als der glaubwürdig, sie muß konsequent sein, ohne Wenn Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung. Auch und Aber und ohne eine Hintertür für Verharmlosun- wenn die Losungen ähnlich klingen: Es ist etwas ganz gen. anderes. Ich bin froh darüber, daß wir heute eine innenpoli- Der Verfassungsschutz hat uns wissen lassen, daß es tische Debatte führen. Die Frage nach dem Bild, das sich bei den Rechtsextremisten um keine wohlorgani- wir im Ausland bieten, oder auch die Sorgen um sierte Gruppe handelt. Das mag stimmen. Aber ich ausbleibende Investitionen in den neuen Bundeslän- finde es überhaupt nicht beruhigend. dern sind gewiß wichtig. Aber sind sie nicht letzten (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) Endes zweitrangig? Die wirklich zentralen Fragen lauten doch: Was lassen wir eigentlich in unserem Kommandostrukturen, meine Damen und Herren, eigenen Land zu? lassen sich vielleicht eher bekämpfen. Wie aber steht (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei es mit der willkürlich auflodernden Allgegenwärtig- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE keit des Hasses und des Terrors, in der wir zur Zeit GRÜNEN) leben? Was können wir gegen den latenten und offenkundi- Gebenüber diesem eruptiven Aufbrechen der gen Rassismus tun? Dabei schließt Rassismus Antise- Gewalt, die kaum koordiniert, weitgehend planlos, mitismus immer ein. Wo liegen die Ursachen, und wie zeitlos, unberechenbar, aber intensiv und sehr brutal gehen wir mit Konflikten um? ist, sind die Gegenmaßnahmen hilflos und oft schwer- fällig. Es kann jederzeit irgendwo losgehen; und das Es gibt Unterschiede zwischen Ost- und West- tut es leider auch. deutschland. Sie sind in meinen Augen, auch im Zusammenhang mit der heutigen Debatte, gravie- Der Rechtsextremismus, den wir zur Zeit erleben, rend. Festzustellen ist allerdings, daß sich das Klima hat tiefliegende Ursachen, und er hatte wohl auch so für Ausländer in der ganzen Bundesrepublik in dra- etwas wie eine politische Inkubationszeit, meine matischer Weise verschlechtert hat. Damen und Herren. (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Leider!) Damit es gar kein Mißverständnis gibt: Ich entschul- Je fremder sie aussehen, desto schlimmer ist es für sie. dige Gewalt mit keiner Silbe. Erklärung und Entschul- Die Bekundungen, daß niemand etwas gegen „unsere digung dürfen auf keinen Fall miteinander vermischt Ausländer" habe, gegen diejenigen, die bei uns leben werden; das muß ganz klar sein. Aber nichts und und arbeiten, taugen wenig, und den Betroffenen niemand entbindet uns von der Aufgabe, genau helfen sie gar nichts. hinzusehen und uns auch einigen schmerzlichen Wahrheiten zu stellen. (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) Viele haben einfach Angst. Es steht ja nicht auf ihrer (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Stirn geschrieben, woher sie kommen und wie lange Abgeordneten der CDU/CSU) sie schon da sind, ob sie Steuern zahlen oder ob sie Da das heute keine Feierstunde ist, sondern eine Sozialhilfe empfangen. Parlamentsdebatte, will ich dies auch tun. Parteiraster Die Beispiele dessen, was sich die „ausländischen oder andere liebgewordene Stereotype sind an der Mitbürger" — wie sie so schönfärberisch genannt Garderobe abzugeben, meine Damen und Herren; sie werden — alltäglich bieten lassen müssen, würde sind hinderlich. jeden von Ihnen entsetzen. Folgende Punkte halte ich für besonders wichtig. Aber in den offiziellen Stellungnahmen von Sie scheinen mir nach meinen letzten Besuchen in Abscheu und Scham kommen diese Mitbürger fast verschiedenen Städten in den neuen Ländern drin- überhaupt nicht vor. Das vermissen sie sehr. Darauf gender denn je. 9402 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Cornelia Schmalz-Jacobsen Erstens. Wir sollten auch in dieser Hinsicht die rosa Viertens. Das vielleicht schwierigste Thema lautet: Brille „deutsche Einheit" absetzen. Wir müssen die Wie sieht es mit der Bindungsfähigkeit in unserer Spannungen sehen, die zwischen Ostdeutschen und Gesellschaft aus? Wo ist das Gemeinsame, wo ist der Westdeutschen herrschen und dürfen die zu hohen Kitt, der uns zusammenhält? Gerade wir Liberalen gegenseitigen Erwartungen nicht verschweigen oder haben die fortschreitende Individualisierung in der vertuschen. Gesellschaft wohl allzu positiv gesehen. Wenn der (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) Preis dafür die Distanz voneinander ist, das Wegfallen von sozialer Verankerung, dann ist mir der Preis zu Die Bürger in den neuen Bundesländern sind in hoch. einem autoritären Regime aufgewachsen. Die Ausein- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der- andersetzung mit der Geschichte geschah in der DDR SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einseitig und zu Lasten Dritter. Konfliktfähigkeit wurde nicht geübt, statt dessen ein Freund-Freind- Die Tatsache, daß Jugendliche Geborgenheit bei Denken gepflegt. Ostdeutsche und Westdeutsche sind extremen Gruppierungen suchen, statt sie in ihrem mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Le- normalen Lebensumfeld zu finden, ist ein Trauerspiel, bensformen konfrontiert. Wir setzen unterschiedliche und das hat Folgen. Je mehr wir uns voneinander Prioritäten, haben unterschiedliche Einstellungen, entfernen, meine Damen und Herren, desto schwieri- auch im Umgang mit Konkurrenz. ger wird auch jede Integrationsanstrengung gegen- über Fremden. Vierzig Jahre getrennter Entwicklung, meine Damen und Herren, sind einfach nicht zu leugnen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Das schafft Fremdheit und Enttäuschung auf beiden SPD) Seiten, die wir überwinden müssen. Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielschichtig. Unsere Gesellschaft ist unübersichtlich; das ist wahr. Zweitens. Moralische Appelle sind in ihrer Wir- Also machen wir uns doch daran, diese Unübersicht- kung sehr begrenzt. Eigentlich ist das bekannt. Gute lichkeit zu durchdringen; sonst werden immer weitere Absichten haben oft fatale Wirkungen. Besonders Konflikte gespeist. Ich rege eine Anhörung des Bun- töricht sind die Multikulturapostel, die ins Schwärmen destages zum Phänomen Rechtsextremismus an. geraten, (Beifall bei der F.D.P., der SPD, der PDS/ (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne NEN) ten der CDU/CSU) Auf diesem Gebiet ist viel geforscht worden; aber wir ganz so, als sei das Zusammenleben mit Fremden ein als handelnde Politiker wissen offenbar zuwenig dar- nicht enden wollendes Straßenfest. über. Wir sollten eine Generaldebatte darüber begin- Besonders unangenehm sind mir aber auch die nen, wie wir in Zukunft miteinander leben wollen: wir aggressiven Antirassisten, deren Wortwahl ebenso mit uns, wir mit Fremden, wir mit unseren näheren intolerant ist wie die der Rechtsextremisten. Man muß und ferneren Nachbarländern. sich nur einige Slogans auf den Häuserwänden anse- Meine Damen und Herren, das Versteckspiel mit hen. Das trägt zur weiteren Polarisierung bei anstatt der Wirklichkeit muß ein Ende haben. zur Einsicht, die wir brauchen. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Drittens. Es ist bestürzend, daß insbesondere nunmehr der Abgeordneten Frau Jelpke das Wort. Jugendliche zwischen 16 und 24 Jahren für fremden- feindliche Parolen und Aktionen anfällig sind. Ich habe es selbst erlebt — übrigens in Ost- wie in Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Westdeutschland —, daß der negative Begriff „Neo- Meine Damen und Herren! Vorweg möchte ich dem nazi" einfach in etwas Positives, in eine stolze Selbst- Kollegen Ganschow zu seinem couragierten Auftreten bezeichnung umgewertet wird. Also Vorsicht mit und seinen klaren Worten an die Adresse vieler Etiketten! Politikerinnen gratulieren. Zugleich aber möchte ich Sie alle bitten, einige Sekunden darüber nachzuden- Aus allen Untersuchungen wissen wir, daß Rechts- ken, wie die Schlagzeile im „Express" gestern gelau- extremismus seine Ursache auch in fehlender Orien- tet haben würde, hätte z. B. mein Kollege Gregor Gysi tierung hat. Wenn wir diese fehlende Wertorientie- oder ein Autonomer zugeschlagen und die Schläge so rung beklagen, dann hat das etwas Heuchlerisches, begründet wie Kollege Ganschow, nämlich daß die meine Damen und Herren. Neofaschisten offenbar nur diese Sprache verstehen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne und daß es nichts nutzt, wenn Politiker durch Asylbe- ten der SPD und der PDS/Linke Liste) werberheime reisen und Kinderköpfe streicheln. Wir setzen die Normen, wir, die Erwachsenen. Wir Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, ist müssen die Leitbilder sein. sich sicher, daß sämtliche Maßnahmen gegen Asylsu- chende auf Zustimmung einer Mehrheit in diesem Übrigens fände ich eine Sondersitzung der Kultus- Lande stoßen werden, sofern sie mit Ausgrenzung und minister ebenso angebracht wie eine Sondersitzung Entrechtung der Flüchtlinge begründet werden. der Innen- und Justizminister. Gegen diesen Rechtsruck, der den Spielraum militan- (Beifall im ganzen Hause) ter Rassisten bis auf bisher unvorstellbare Weise Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9403

Ulla Jelpke vergrößert hat, hat meine Gruppe dem Parlament Hoyerswerda, Rostock und fast überall am Werke heute drei Entschließungsanträge vorgelegt. sind.

Unserer Meinung nach ist in dieser Situation das (Dr. Hartmut Soell [SPD]: Zu den 40 Jahren Parlament aufgerufen, sich schützend vor Flüchtlinge vorher sagen Sie nichts! Die systematische zu stellen und Rechtsradikalismus und Rassismus Erziehung zum Haß!) entgegenzutreten. Wir brauchen keine neuen Ge- Die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth reagiert setze; wir brauchen statt dessen die kompromißlose auf den Brandanschlag in Sachsenhausen mit folgen- Verteidigung bestehender Grundrechte. den Worten: Meine Damen und Herren, in diesen letzten Mona- Wer heute die Erinnerungsstätten an die Verbre- ten hat die Bundesregierung gezielt eine scharfe chen der NS-Zeit schändet, ist morgen auch Politik gegen Flüchtlinge und Einwanderinnen betrie- bereit, Gewalt gegen Menschen anzuwenden. ben. Ich möchte herausstreichen: Die Bundesregie- rung hat in der Vergangenheit vernichtende Zeug- Meine Damen und Herren, so oberflächlich, gedan- nisse erhalten. An sich müßte es eine Katastrophe für kenlos und ritualisiert werden hierzulande die Sonn- eine Regierung sein, wenn sie sich anläßlich der tagsworte gegen Antisemitismus gesprochen. Fünf Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes von Wochen, nachdem in Rostock mehr als hundert Men- einer ganzen Reihe von Zeitungen nachsagen lassen schen rechtsradikalen Mordbrennern hilflos ausgelie- muß, daß es einen direkten Zusammenhang zwischen fert worden sind, nachdem in sechs Monaten mehr als ihrer Politik gegen die Flüchtlinge und dem Hoch- zehn Menschen aus rassistischen Motiven getötet schnellen der Zahl neofaschistischer Anschläge gibt. worden sind, Zigtausende Flüchtlinge mit Brandsät- Presseorgane wie die „Süddeutsche Zeitung", die zen angegriffen wurden, ihre Tötung wollend in Kauf „Frankfurter Rundschau" oder die „Berliner Zeitung" genommen wurde, warnt Frau Süssmuth, daß sich die haben die Bundesregierung ganz offen für den Terror Gewalt morgen vielleicht auch gegen Menschen rich- an Flüchtlingen und Immigrantinnen mitverantwort- ten könnte. Ich frage: Was sind dann diese Leute, diese lich gemacht. Flüchtlinge gewesen, die angegriffen wurden, die umgebracht wurden? Ergänzt wird dieser Fakt noch durch die Tatsache, Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in daß es eigentlich auch keinen ernsthaften Streit dar- Deutschland, Bubis, hat es gewagt, die Politik der über gibt, daß dieser Staat brandsatzwerfende Neofa- Bundesregierung angesichts der rassistischen An- schisten mit Glacéhandschuhen anfaßt, während er schläge in den letzten Monaten zu kritisieren. Statt die gegen Demonstrantinnen, die — wie in München Gewalt zu bekämpfen, sagte er, habe sich die Politik anläßlich des Wirtschaftsgipfels geschehen — ihren auf eine Asyldebatte konzentriert, die nichts bringe, Protest pfeifend ausdrücken, mit aller Härte vor- außer daß die Gewalttäter das Gefühl bekämen, ihre geht. Taten brächten die Politiker endlich zum Handeln. Vom Regierungssprecher mußte er sich abkanzeln (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke lassen: Bubis habe „eine etwas eigenartige Vorstel- Liste und der SPD) lung" von den Möglichkeiten, die eine Bundesregie- rung habe, ließ ihm eben diese Regierung antwor- Es ist erschreckend, daß es mittlerweile zu einer ten. einfachen Wahrheit in dieser Gesellschaft geworden ist, daß diese Regierung unwillig ist, gegen die neofa- Diese höchstamtlichen Reaktionen machen über- schistischen Banden mit aller Konsequenz vorzuge- deutlich, daß Pogrome, Brandflaschen gegen Asylun- hen. Es wäre doch unvorstellbar, daß z. B. das Bun- terkünfte, Messerstechereien, Überfälle an Auslände- deskanzleramt tagelang mit Steinen und Brandsätzen rinnen in Privatwohnungen — begangen auf der angegriffen wird und daß sich dann, irgendwann, vor Grundlage eines seit Jahren verharmlosten Nationa- laufenden Kameras, die Polizei zurückzieht, um den lismus, Neofaschismus, Rassismus und Antisemitis- mit Regierungsmitgliedern, Ministerialbeamten voll- mus — überhaupt nicht als alltägliche massenhafte, besetzten Westflügel den Angreifern als Beute freizu- akute Gefährdung von Menschenleben begriffen wer- geben — der gesamten Bevölkerung quasi als Lehr- den. stück serviert. Wer glaubt, ein bißchen Rassismus zur Durchset- zung seiner politischen Ziele nutzen zu können, wer Aber das eigentlich Erschreckende ist, daß in der zudem glaubt, in Deutschland sei dieses bißchen Unvorstellbarkeit dieses Gedankens das Wissen Rassismus ohne Antisemitismus zu haben, der irrt. steckt, daß das Leben und die Gesundheit eines Wer in einer sozial so angespannten Situation, wie sie Flüchtlings oder einer vietnamesischen Arbeiterin im derzeit herrscht, diesen Irrtum zur Grundlage seiner Vergleich zu Leben und Gesundheit von hochdotier- Politik macht, spielt mit dem Feuer. Hinter der völli- ten Staatssekretären weniger wert ist. Das zieht sich gen Unfähigkeit dieser Bundesregierung zur Selbst- durch alle Handlungen dieser Regierung. kritik muß der Wille vermutet werden, diesen Zusam- menhang zu verwischen. (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Was soll das denn?) Deshalb, meine Damen und Herren, heißt das Thema der heutigen Debatte auch nicht mehr — wie Der Brandsatz auf die KZ-Gedenkstätte Sachsen- ursprünglich vorgesehen — „Rechtsradikalismus und hausen machte aller Welt deutlich, welche Geister in Gewalt", sondern „Extremismus und Gewalt". 9404 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Ulla Jelpke Meine Damen und Herren, unter dem Motto „Ge- Grundlinien der Regierungspolitik richten müssen. gen Extremismus und Gewalt" wird die alte Hitparade Die Unterstützung der Anträge, die meine Gruppe der inneren Sicherheit heruntergeleiert. Tatkraft wird hier heute eingebracht hat, könnte ein kleiner Anfang demonstriert, und ein wildes Gemisch — vom ver- sein. schärften Haftrecht bis zum Lauschangriff, vom Auf- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) wärmen der Landfriedensbruchdiskussion bis zum Sondermeldedienst für fremdenfeindliche Strafta- ten — steht plötzlich im Programm. Nichts davon hätte Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile meiner Meinung nach etwas gegen die Pogrome nunmehr dem Abgeordneten Konrad Weiß das genutzt. Gefragt war und ist der politische Wille, Wort. - eindeutig gegen Rechtsradikalismus aufzutreten. In merkwürdigem Kontrast zu der jetzigen Hektik Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): steht auch die Auskunft der Bundesregierung, daß Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sich die nach Hoyerswerda durch die Innenminister- schäme mich. Ich schäme mich, Deutscher zu sein. Ich konferenz eingeleiteten Maßnahmen „bewährt ha- schäme mich, in einem Land zu leben, das eine Mauer ben". So heißt es vieldeutig in einer Antwort auf meine der Gewalt, der Gefühllosigkeit, der Selbstsucht um Anfrage zu Rostock. sich baut. Ich schäme mich, in einem Land zu leben, in dem Menschen Beifall klatschen, wenn Menschen Wichtiger Bestandteil des damaligen Maßnahme- angegriffen, verletzt, vertrieben werden. Ich schäme katalogs der Innenministerkonferenz war die schnelle mich, Mitbürger von Feiglingen zu sein, die Frauen Verurteilung der Täterinnen und die Bekanntma- und Kinder schlagen und drangsalieren, die Jagd auf chung der Urteile zur Abschreckung. Was das prak- jene Menschen machen, die bei uns Zuflucht und Hilfe tisch heißt, möchte ich an einem Beispiel darstellen. suchen oder anders sind. Am 17. November 1991 marschierten in Halbe in Zehn Menschen wurden in diesem Jahr von Rechts- Brandenburg etwa 1 000 Neonazis auf. Völlig unge- radikalen getötet. Hunderte wurden geschlagen, hindert von Polizei, Staats- und Verfassungsschutz getreten, verletzt. Tag für Tag werden Menschen, die konnten sie ihre Huldigungen an die Waffen-SS eine andere Hautfarbe haben oder eine fremde Spra- feiern, gegen das Uniformverbot verstoßen und den che sprechen, diskriminiert, benachteiligt, geschän- „Heil Hitler"-Gruß rufen. Ich stellte deshalb einen det. Strafantrag und eine Dienstaufsichtsbeschwerde An- Mehr als 1 300 rechtsradikale Gewalttaten wurden fang Dezember 1991. Heute, nach fast einem Jahr, ist bis Ende September in Deutschland verübt. 400mal der Stand des Verfahrens immer noch nicht wurden Bomben oder Brandflaschen auf Asylbewer- bekannt. berheime oder in die Wohnungen von Ausländern Neue Gesetze würden derartige Verfahren gewiß geworfen. Auch ausländische Diplomaten, Kaufleute nicht beschleunigen. Dasselbe gilt für Festnahmen, und Touristen sind im Land der Deutschen nicht mehr Untersuchungshaft, Landfriedensbruch usw. All die ihres Lebens sicher. Vorhaben haben mit dem Anwachsen rassistischer An jedem Tag dieses Jahres wurden Synagogen Gewalt nichts zu tun. Gesetze und Polizei mit den und jüdische Gräber geschändet, 360mal in zwölf entsprechenden Befugnissen gibt es mehr als Monaten. genug. Und die meisten Deutschen stehlen sich davon und Seit Beginn der 80er Jahre sind einschlägige Unter- schweigen. Was ist das nur für ein Land, in dem suchungen über die Verbreitung rechtsextremisti- Hunderttausende auf die Straße gehen, wenn ihnen scher Weltbilder, antisemitischer und rassistischer der Bau eines Flugplatzes oder eines Atomkraftwer- Grundpositionen bekannt. Die Sinus-Studie von kes mißfällt, die aber von einer kollektiven Lähmung 1980/81 beispielsweise ermittelte bei 54,4 % der CDU/ befallen scheinen, wenn es um das Leben ausländi- CSU-Wählerinnen rechtsextremistisch ausrichtbare scher Mitbürger und Mitbürgerinnen geht? Einstellungen. 1982 ergab eine andere Studie, daß bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20 % der Bevölkerung ausgeprägte antisemitische sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/- Vorurteile vorhanden sind; bei weiteren 30 % sei CSU und der F.D.P.) Antisemitismus in Latenz vorhanden. 1984 ergab eine Studie des Innenministeriums, daß 80 % der Bevölke- Gerade einmal 5 000 Berliner und Brandenburger rung der Meinung sind, in der Bundesrepublik lebten haben am vergangenen Wochenende den Weg zur zu viele Ausländer. Auf dieses Potential hat die verbrannten jüdischen Baracke in Sachsenhausen Regierung mit ihrer Politik gesetzt und damit den géfunden — 5 000 von 5 Millionen. Spielraum für die Neofaschisten vergrößert. Es gibt keine Entschuldigung für das, was heute in Deutschland geschieht und was wir heute in Deutsch- Die jetzt inszenierte Kampagne gegen rechtsextre- land dulden. Weder der mühsame Prozeß der Wieder- mistische Gewalt mit Strafverschärfung und Abbau vereinigung noch unsere schmerzliche Ernüchterung, demokratischer Rechte unterstreicht, daß die Regie- weder Arbeitslosigkeit noch soziale Nöte rechtferti- rung an ihrer Politik der Ausgrenzung und Abschot- gen die aktive und passive Fremdenfeindlichkeit. tung weiterhin festhält. Gestärkt wurde sie darin Weder die unbewältigte Vergangenheit noch die leider auch durch die neue Beweglichkeit der SPD. Deformierungen aus 60 Jahren Diktatur dürfen als Eine Offensive gegen Fremdenfeindlichkeit und Entschuldigung dafür dienen, daß Menschen wie Rassismus, wie sie in den letzten Tagen Gott sei Dank Tiere über Menschen herfallen. Durch nichts kann verstärkt gefordert worden ist, wird sich gegen die diese tausendfache Gewalt gegen schutzlose Men- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9405

Konrad Weiß (Berlin) schen gerechtfertigt oder entschuldigt werden. Diese sungsfeindlichen Symbole nicht pflichtgemäß einge- Fremdenfeindlichkeit so vieler Deutscher ist keine schritten sind, zur Verantwortung zu ziehen. krankhafte Verhaltensstörung, die der rücksichtsvol- len Therapie bedarf, sondern eine Unmenschlichkeit, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die unentschuldbar ist. sowie bei Abgeordneten der SPD, der PDS/ Linke Liste, der CDU/CSU und der F.D.P.) Haben wir Ostdeutschen aus 40 Jahren Unterdrük- kung und Eingesperrtsein wirklich nichts anderes Wir müssen unsere Demokratie radikal verteidigen gelernt als Ausgrenzen, Aussperren und Ausstoßen? — radikal, aber mit friedlichen Mitteln, mit den Und ist die westdeutsche Demokratie nach 40 Jahren Mitteln des gewaltfreien Widerstands, mit den Mitteln - wirklich so schwach und verkommen, daß sie sich des Rechts. Ich unterstütze nachdrücklich den Vor- nicht mehr zu wehren weiß? 813 fremdenfeindliche schlag unseres Kollegen Wolfgang Ullmann, interna- Ausschreitungen wurden bis Ende September auch in tionale Künsterinnen und Künstler zum Boykott der Westdeutschland registriert, fast doppelt so viele wie Kunststadt Dresden aufzurufen, wenn dort erneut ein in Ostdeutschland. Aufmarsch von Rechtsradikalen geduldet werden sollte. Ich rufe meine Mitbürgerinnen und Mitbürger Unsere Demokratie muß sich wehren. Wir dürfen es in Brandenburg auf, die Jahrtausendfeier unserer nicht hinnehmen, daß der Name Deutschlands wieder Landeshauptstadt Potsdam zu boykottieren, solange und wieder von radikalen Gewalttätern beschmutzt das Land Brandenburg eine Hochburg der Intoleranz wird. Jeder und jede in unserem Land muß unsere ist und ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger Demokratie verteidigen. Das beginnt mit scheinbaren dort nicht in Frieden und Sicherheit leben können. Kleinigkeiten, die aber soviel Mut, Wachheit und Zivilcourage erfordern. Denn es braucht Mut, dem Städte und Gemeinden, in denen radikale Gewalt- Taxifahrer oder dem Kollegen, der von „Kanaken" täter aufmarschieren oder sich in Festsälen und Gast- spricht oder fremdenfeindliche Witze erzählt, über häusern versammeln dürfen, sollten wir meiden. Wer den Mund zu fahren. Und es braucht genauso Mut, Rechtsradikalen aus Gewinnsucht oder Feigheit denen entgegenzutreten, die Polizisten als „Bullen" Unterschlupf bietet, soll wissen, daß er sich selbst beschimpfen oder sie bei ihrer Arbeit zum Schutz von isoliert. Mitbürgerinnen und Mitbürgern behindern. Unsere Demokratie muß sich wehren. Dazu gehört (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch, daß der Rechtsstaat das Recht verteidigt, unpar- sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ teiisch und konsequent. Polizeibeamte, die der Ermor- CSU und der F.D.P.) dung eines ausländischen Mitbürgers aus sicherer Entfernung tatenlos zusehen, wie es in Eberswalde Es braucht Courage, nicht wegzusehen oder sich geschah, sind pflichtvergessene Schufte, die bestraft davonzuschleichen, wenn Menschen Menschen be- werden müssen. Staatsanwälte, die Terroristen leidigen und mißhandeln oder wenn Steine und wenige Stunden nach einem versuchten Mord oder Brandflaschen geworfen werden. Es braucht Courage, Anschlag wieder auf freien Fuß setzen, sind nicht dem Nachbarn, der zum Sturm auf Ausländer Beifall minder gemeingefährlich als jene Kriminelle. klatscht, in aller Eindeutigkeit zu sagen, was man von ihm hält, oder den Feiglingen, die sich vermummen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Maske vom Gesicht zu reißen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich kann auch diese sogenannten Antifaschisten Und der Richter, der fünf Mörder zu wenigen Jahren nicht ernst nehmen, die nicht einmal den Mut haben, Jugendstrafe verurteilte, nur weil nicht erkennbar mit ihrem Namen und ihrem Gesicht für ihr Handeln war, wessen Stiefeltritt das Opfer tatsächlich getötet einzustehen. hat, hat sich selbst zum Mittäter gemacht. Ich bin kein Jurist, aber ich meine, wenn Terro risten in der Absicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN losziehen, Menschen „aufzuklatschen", wie es in sowie bei Abgeordneten der SPD und der ihrer schrecklichen Gewaltsprache heißt, oder Bom- F.D.P.) ben zu legen, dann ist der Tod von Menschen gemein- schaftlich gewollt und gemeinschaftlich verübt. Das Es braucht staatsbürgerliche Verantwortlichkeit, allein muß das Strafmaß bestimmen. nicht schweigend zu dulden, wenn Verfassungsfeinde ihre Fahnen und Symbole zeigen und ihre wirren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Reden halten, sondern Anzeige zu erstatten und Polizei und Justiz zu konsequentem Handeln aufzu- Wir brauchen in Deutschland keine neuen Gesetze, fordern. sondern die konsequente Anwendung der gegebe- nen. Am vergangenen Wochenende marschierten in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dresden 500 Neonazis und hatten dabei den Arm zum sowie bei Abgeordneten der SPD) Hitler-Gruß erhoben. Fernsehaufnahmen belegen dies eindeutig. Dennoch schritt die Polizei nicht ein. Oder ist in diesem Land das Leben eines deutschen Ein Polizeisprecher sagte, daß es keine Hinweise auf Politikers oder Industriellen mehr wert als das eines strafrechtlich relevante Handlungen gegeben habe. angolanischen Gastarbeiters oder eines vietnamesi- Gilt der § 86a des Strafgesetzbuches denn in Dresden schen oder rumänischen Asylbewerbers? Warum wer- nicht? Ich fordere den sächsischen Innenminister auf, den linksradikale Terroristen lebenslang in Hochsi- jene Beamte, die gegen die Verwendung der verfas- cherheitsgefängnissen verwahrt, rechtsradikale Ter- 9406 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Konrad WeiB (Berlin) roristen aber nach verübten Anschlägen wieder auf gemeinsame Sondersitzung der Innen- und Justizmi- freien Fuß gesetzt? nister und -senatoren zu diesem Thema stattgefunden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat. sowie bei Abgeordneten der SPD und der Eine nicht unbeträchtliche Zunahme läßt sich auch PDS/Linke Liste) bei fremdenfeindlich motivierten Brand- und Spreng- Eine der Ursachen des Unheils, das wieder über stoffanschlägen feststellen. 405 solcher Taten in den Deutschland gekommen ist, ist die Bejahung von ersten neun Monaten des Jahres 1992 stehen 383 für Gewalt. Die Barbarei der Rechtsradikalen wird aus das ganze Jahr 1991 gegenüber. den vielen kleinen Gewalttätigkeiten gespeist, an die Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter. Die wir uns gewöhnt haben und die wir fast widerstands- - Gewaltbereitschaft nimmt zu. Wir sind an einem los hinnehmen. Wir haben es nur ungenügend Punkt angekommen, an dem durch extremistisch gelernt, Konflikte gewaltfrei zu bewältigen, im klei- radikale und antidemokratische Gruppen an den nen ebenso wie im großen. Wie dulden die Gewalt im Grundwerten der Demokratie gerüttelt wird. Schon Straßenverkehr und die Gewalt der Erwachsenen deshalb müssen wir diesen Exzessen energisch gegen die Kinder. Wir akzeptieren, daß Gewalt gegen begegnen. Vor allem aber sind wir im Hinblick auf die Frauen als Kavaliersdelikt angesehen wird. Wir neh- hierin zum Ausdruck kommende brutale Menschen- men die vielfältigen, die verbalen oder handgreifli- verachtung aufgefordert, den Kampf gegen diese chen Gewalttätigkeiten gegen Minderheiten und schändlichen und verachtenswerten Taten aufzuneh- Andersdenkende gedankenlos hin. Wir dulden unter men. dem Vorwand, die Freiheit der Kultur zu schützen, daß (Beifall im ganzen Hause) uns und unseren Kindern unentwegt die scheußlich- sten Gewalttaten vorgeführt werden. Es ist die Saat Dabei scheint es so, als sei sich gegen den Staat dieser vielfältigen Gewalt, die nun aufgeht. auflehnender Extremismus ein Problem allein der Unsere Demokratie, meine Damen und Herren, neuen Bundesländer. Der Eindruck täuscht. unser Land können wir nur durch eine große Koalition (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) der Menschlichkeit vor dem Rückfall in Barbarei und Totalitarismus bewahren. Diejenigen, die heute Ausländerfeindliche Exzesse verteilen sich auf das Neger „aufklatschen", werden morgen uns und ganze Bundesgebiet. Von 1 296 bis Ende September unsere Familien foltern und töten. Sie werden, wenn registrierten Gewalttaten mit überwiegend fremden- wir sie gewähren lassen, nicht danach fragen, ob wir feindlicher Motivation sind 813 in West- und 483 in Sozialdemokraten oder Kommunisten, ob wir christli- Ostdeutschland begangen worden. che oder liberale Demokraten, ob wir Grüne oder Gewalttätiger Extremismus ist insofern weder ein Bürgerrechtler sind. Wir werden uns gemeinsam in Problem allein der alten, noch ein Problem allein der ihren Vernichtungslagern wiederfinden, so wie es neuen Bundesländer. Nach allem, was die wissen- auch 1933 geschah, wenn wir sie weiter gewähren schaftlichen Erkenntnisse uns bieten, ist auch davon lassen wie bisher. Mancher von uns steht doch schon auszugehen, daß die Mechanismen und Bestim- heute auf ihren Todeslisten. mungsgründe, die die brutale fremdenfeindliche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gewalt erzeugen, in Ost und West wesentlich die sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ gleichen sind. Nur kommt durch die besonderen CSU und der F.D.P.) Bedingungen des schnellen Umbruchs in den neuen Bundesländern die Gewaltbereitschaft unvorhergese- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hen eruptiv zum Ausdruck, die sich in den alten hat die Bundesjustizministerin, Frau Sabine Leutheus- Bundesländern eher etwas schleichend eingenistet ser-Schnarrenberger. hat. Der Rechtsstaat muß sich jetzt die Frage stellen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- warum es gerade Jugendliche sind, die ganz offen- nisterin der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und sichtlich Bereitschaft zeigen, erhebliche Verletzun- Herren! Die Welle schändlicher rechtsradikaler Ge- gen oder gar den Tod von Menschen in Kauf zu walt, die sich gegen Ausländer und Asylbewerber, nehmen. zunehmend aber auch gegen jüdische Mitbürger und Dabei fällt beim Blick auf die neuen Bundesländer Einrichtungen richtet, muß jeden von uns alarmieren. ein Widerspruch auf, der meiner Ansicht nach darin Besonders erschütternd für mich ist, daß die rassisti- zum Ausdruck kommt, daß es gerade viele junge schen Gewalttäter Beifall von Zuschauern finden, die Menschen waren, die durch Flucht und demonstrati- dadurch das Geschehen weiter anheizen. ven Widerstand den Zerfall des ungeliebten DDR Die Fälle von Gewalt werden brutaler. Sie erinnern Regimes wesentlich beschleunigt haben. an die Gewalttätigkeiten linksextremistischer Terrori- sten aus früheren Zeiten. Nach Angaben des Bundes- Ich wage sogar die Behauptung, daß so mancher amtes für Verfassungsschutz sind bis Ende September jener jungen Menschen, die heute in den neuen bei gewalttätigen Ausschreitungen bereits zehn Aus- Bundesländern ohne Skurpel Asylbewerber attackie- länder von erwiesenen bzw. mutmaßlichen rechtsex- ren oder fremdenfeindliche Parolen unterstützen, vor tremistischen Gewalttätern getötet worden. kurzem noch für seine Freiheit auf die Straße ging. 1991 waren es „nur" drei. Dabei hatten 1991 die Um diesen Widerspruch zu klären, ist es meiner Ausschreitungen gegen Ausländer bereits ein solches Ansicht nach wichtig, darauf hinzuweisen, daß den Ausmaß angenommen, daß im Oktober 1991 eine allermeisten Menschen in der ehemaligen DDR die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9407

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Autorität des Staates schon seit Jahren obsolet gewor- Regel, macht aber deutlich, daß unsere geltenden den war. Gesetze ein schnelles effizientes Vorgehen erlau- ben. Was den Menschen in der ehemaligen DDR in den letzten Jahren des Regimes Halt und Orientierung (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der bieten konnte, war ein breiter, wenn auch zum größ- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten Teil latenter Konsens in der Verneinung des Nichtsdestotrotz wird von verschiedenen Seiten ein Regimes. Katalog von Forderungen aufgestellt, der es ermögli- Anders wäre es nur schwer erklärbar, mit welcher chen soll, den Kampf gegen extremistische Gewalttä- Vehemenz, Freude und Erleichterung die Vereini- ter besser zu bestehen. Ich möchte der anlaufenden gung der beiden deutschen Staaten von den Men- Diskussion nicht vorgreifen. Morgen findet in Bonn schen beider Seiten aufgenommen und gefeiert eine Sondersitzung der Innen- und Justizminister- wurde. und -senatoren statt, die sich mit diesen Fragen eingehend beschäftigen werden. Es konnte gar nicht anders sein, als daß mit diesem historisch einmaligen Vorgang höchste Erwartungen Eine persönliche Bemerkung sei auch mir hier verbunden wurden; Erwartungen, die nicht allein auf erlaubt: Viele jetzt erhobene Forderungen sind nicht materiellen Wohlstand, sondern auch auf neue neu, sie sind in den 80er Jahren in gleicher Weise wie Lebensperspektiven und neue Werteorientierungen heute thematisiert worden. Die Verschärfung des ausgerichtet waren. Haftrechts und die Änderung des Landfriedensbruchs als Waffe gegen den Extremismus sind keine originel- Wir alle müssen uns eingestehen, daß der Staat, die len Ideen. Politik und die Gesellschaft diese unbewußt gehegte (Norbert Geis [CDU/CSU]: Deswegen müs- Hoffnung auf Lebensorientierung bisher noch nicht sen sie nicht falsch sein!) zufriedenstellend erfüllt haben — bei aller Konzentra- tion auf die Herstellung gleicher äußerer Lebensbe- Die Änderung der Bestimmungen über den Landfrie- dingungen wohl auch nicht erfüllen konnten. densbruch ist damals nach einer umfänglichen Anhö- rung von Sachverständigen und Praktikern als nicht Ein solches Defizit an Werteorientierung wird von rechtsstaatlich und, mit einem gleich wichtigen Argu- der Psyche keines Menschen toleriert; erst recht nicht ment, als nicht praktikabel verworfen worden. von der des jungen Menschen. Sie werden notgedrun- gen nach alternativen Rastern Ausschau halten und (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der extrem gefährdet sein, wenn es unserer Gesellschaft SPD, der PDS/Linke Liste und dem BOND- nicht gelingt, diese Raster mit demokratisch-rechts- NIS 90/DIE GRÜNEN) staatlichen Werten aufzufüllen. Dies gilt generell für Wir werden deshalb sogfältig zu prüfen haben, ob das, jede Art von Extremismus, auch in den alten Bundes- was uns damals — übrigens nahezu einhellig in Bund ländern, in denen die Werteorientierung, vor allem und Ländern — bewogen hat, von weiteren Verschär- auch über die Ereignisse seit 1989, gleichermaßen zu fungen unseres Strafrechts und Strafverfahrensrechts kurz gekommen ist. Diese jungen Menschen können Abstand zu nehmen, nicht auch heute noch Gültigkeit deshalb zu einem erheblichen Gefährdungspotential hat. für unsere Demokratie werden. Aus meiner Sicht steht fest: Konkrete Gesetzesän- Schon aus diesem Grund dürfen wir die ausländer- derungen allein werden uns nicht helfen, die brutalen feindlichen Anschläge nicht hinnehmen. Wir dürfen Gewalttätigkeiten junger Menschen in den Griff zu sie nicht als vorhandenes Phänomen akzeptieren. Wir bekommen. Wir werden das überhaupt nur erreichen dürfen uns nicht an sie gewöhnen. können, wenn es uns gelingt, unserer Jugend die dem Grundgesetz immanente Werteordnung nahezubrin- (Beifall im ganzen Hause) gen. Was kann der Staat, was kann die Politik gegen (Beifall bei der F.D.P.) extremistische, gewaltorientierte Radikale tun? In Wir müssen dabei einsichtig machen, daß sie ein vielem erinnert mich die Diskussion an das, was zu Werteraster darstellt, das individuelle Freiheit und Zeiten der von schweren Ausschreitungen begleiteten soziale Sicherung garantiert und damit die erhoffte Massendemonstrationen in den 80er Jahren erörtert Lebensorientierung liefern kann. wurde. Dazu sind alle gesellschaftlichen und staatstragen- Richtig ist selbstverständlich, daß der Rechtsstaat den Kräfte aufgerufen, aber auch jeder einzelne von mit aller Konsequenz und Härte gegen die brutalen uns. Wir alle können einen Beitrag leisten. Tun wir Rechtsbrecher vorgehen muß. Aufgabe einer wehr- es! haften Demokratie ist es, den freiheitlichen Rechts- (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem staat zu schützen und die Freiheit der Bürger gegen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- die Feinde des Rechtsstaats zu verteidigen. Daß er zu ordneten der CDU/CSU) einem solchen Vorgehen imstande ist, hat unser Rechtsstaat schon gezeigt. Die Länder sind um eine zeitnahe und nachdrückliche Ahndung der Straftaten Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort bemüht. In vielen Fällen gelingt es, auf die scheußli- hat der Abgeordnete Wolfgang Thierse. chen Taten schnell zu reagieren. So ist ein Brandan- schlag auf ein Asylbewerberheim in Thüringen inner- halb eines Monats mit einer mehrjährigen Freiheits- Wolfgang Thierse (SPD): Herr Präsident! Meine strafe abgeurteilt worden. Das ist sicher nicht die Damen und Herren! Niemals werde ich das Gesicht 9408 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Wolfgang Thierse jenes jungen Mädchens aus Rostock vergessen kön- Das massive Gefühl der Benachteiligung gegen- nen, das strahlenden Blicks seine Unterstützung aus- über dem Westen, die deutlich erkennbar schlechte- länderfeindlicher Gewalttaten, von Verbrechen also, ren Lebensverhältnisse und die drohende Bedeu- in die Fernsehkameras hinein mitteilte. Dieses tungslosigkeit des eigenen Lebens benötigen ein Gesicht konstrastierte auf bedrückende Weise mit den Forum, eine Plattform der Mitteilung. Stellen Politik Blicken der Angst, des Entsetzens, die die Verfolgten und Kultur, die demokratischen Institutionen und uns zusandten, wenn denn eine Fernsehkamera sie für Strukturen ein solches Forum nicht zur Verfügung, auf uns einfing. Denn die Medienstars der vergangenen dem sich Unzufriedenheit „nach oben" artikulieren Wochen waren nicht die Erniedrigten und Beleidig- kann, dann artikuliert sich die Unzufriedenheit in der ten, sondern Skinheads, gewalttätige Jugendliche, Sprache der Gewalt, richtet sie sich „nach unten",- die neuen Faschisten. gegen die Schwächeren und Schwächsten, gegen die Minderheiten der Gesellschaft und zuletzt auch gegen (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Ger das Gedächtnis der Toten. Ausländer und Asylanten linde Hämmerle [SPD]: Leider wahr!) fungieren dabei nur als eine mögliche Zielgruppe der Dieses junge Mädchen war sich wahrscheinlich der Unzufriedenheitsartikulation. Zustimmung ihrer Freunde, ihrer Eltern, ihrer Nach- Reagiert die Politik nun in einer Weise, daß nach barn gewiß. Dies ist das eigentlich Bestürzende, den Gewaltausbrüchen nur das „Asylantenproblem" Alarmierende: Die nicht mehr nur heimliche, sondern als dringlich und vorrangig zu lösen anerkannt wird, lautstarke Zustimmung zu Gewalt, zu rechtsradikalen gibt sie den gewaltausübenden Jugendlichen indirekt Ausbrüchen bei vielen, allzu vielen Menschen. eine politische Rechtfertigung für deren Handeln. Was ist da geschehen? Was geschieht mit den Menschen in Deutschland, drei Jahre nach dem fried- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lichen Umbruch, zwei Jahre nach dem Glück der staatlichen Wiedervereinigung? Nach Aufbruchstim- Die Erfahrung der Jugendlichen lautete dann, erst der mung, Begeisterung, Hoffnung über alle Maßen nun Einsatz von Gewalt führe dazu, daß die eigene Stimme Enttäuschung, Angst, tiefe Verunsicherung und — als gehört wird. Außerdem suggerierte eine solche Poli- ein Ausdruck dessen — zunehmende Bereitschaft tikreaktion, daß Ausländer und Asylanten zumindest und Verführbarkeit zu Gewalt, die Sehnsucht nach mitverantwortlich für die schlimme wirtschaftliche gewaltsamen Lösungen, Kommunikation untereinan- Lage in den neuen Ländern seien. Es wäre eine der in der Sprache der Gewalt. Reaktion der Angst der Politiker vor der Angst der Da ist nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen. Bürger, die den Rechtsradikalen den Eindruck eines Was wir erleben, ist eine besorgniserregende, drama- Sieges verschaffen könnte — eine fatale Wirkung tische Änderung des gesellschaftlichen Klimas. unseres Handelns. Rechtsradikale Gewalt beginnt alltäglich zu werden. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf- Der Feind der Demokratie steht wieder rechts. gang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS NEN]) 90/DIE GRÜNEN) Das eigentliche Problem hat jedoch wenig mit den Ist der Rechtsstaat, so frage ich, wieder, wie schon Ausländern oder Asylbewerbern zu tun, sondern mit einmal in unseliger deutscher Vergangenheit, auf uns selbst, mit der Art und Weise unserer gewohnten dem rechten Auge blind? Es gab in den vergangenen Konfliktbearbeitung, mit zunehmender Konfliktunfä- Wochen schlimme Anzeichen dafür. Eindeutigkeit higkeit, mit Schwierigkeiten, die nahegerückten und Glaubwürdigkeit des rechtsstaatlichen Gewalt- Fremden, das zudringliche Fremde gelassen wahrzu- monopols sind schweren Zweifeln ausgesetzt worden. nehmen. Es hat mit unserer Gesellschafts- und Politik- Manches an Untätigkeit, an Verharmlosung, an Ver- organisation und unseren eingeschränkten Wahrneh- ständnis konnte womöglich gar als indirekte Ermun- mungen der Wirklichkeit zu tun. Aber dies so zu sehen terung irregeleiteter Jugendlicher, verunsicherter scheint uns — nicht nur denjenigen, die Gewalt Erwachsener verstanden werden — gerade in Ost- ausüben — sehr schwer zu fallen. deutschland, wo Größe und Grenzen, Würde und Da jedoch Ausländer und Asylbewerber weder Mühsal des Rechtsstaats erst noch wirklich erfahren Ursache noch einzige Zielgruppe möglicher Haßaus- und angeeignet werden müssen. brüche sind, darf keine Fixierung der Politik auf die Wir behandeln heute gleichwohl kein spezifisch Ausländerfrage oder das Asylantenproblem stattfin- ostdeutsches Problem. Untersuchungen haben ge- den. Die Gewalt verschwindet nicht, wenn die Aus- zeigt, daß Rechtsradikalismus und Ausländerfeind- länder verschwinden. Das Ausländerproblem ist lichkeit unter Ostdeutschen nicht stärker verbreitet zuallererst ein Inländerproblem. sind als unter Westdeutschen. Leider sind wir in dieser (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/- schlimmen Hinsicht vereinter, als wir uns das wün- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schen dürfen. Trotzdem ist die Tatsache nicht zu F.D.P. und der PDS/Linke Liste) übersehen: In den neuen Ländern trägt die rechtsra- dikale Gewalt besonders brutale, eruptive Züge. Wie wir diesen Zusammenhang begreifen und gestal- Diese müssen erklärt werden, ohne irgend etwas zu ten, wird für die künftige politische Kultur in Deutsch- land mit entscheidend sein. rechtfertigen. Sie sind Erscheinungsformen einer um sich greifenden sozialen, psychischen und morali- Was ist zu tun? — „Keine Gewalt! ", das war unser schen Entwurzelung. Die Sprache der Gewalt ist angstvoll besorgter, mahnend appellativer Ruf im deren schrillster Ausdruck. Herbst 1989, adressiert an die Träger, an die Akteure Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9409

Wolfgang Thierse eines zusammenbrechenden Unrechtsregimes. Dieser Erst wenn wir uns diesen unmittelbaren Aufgaben Ruf hat ein wenig geholfen. Ist er heute wieder gestellt haben, werden wir auch die Chance haben, notwendig, sinnvoll? Ich denke: ja. Aber ich zweifle, die tiefer liegenden Ursachen und Probleme zu ob er heute Wirkung zeigte, ob die Angesprochenen bearbeiten: durch eine vernünftige Wirtschafts- und wirklich noch erreichbar sind. Sozialpolitik, durch den Entwurf einer menschlichen Vor allem: Warum sind es immer noch so wenige, Perspektive, einer identitätsstiftenden Vision für die gegen Gewalt protestieren, die die Bereitschaft Deutschland, durch reiche Angebote von Jugend- und demonstrieren, die gefährdete Demokratie zu vertei- Kulturarbeit. Aufklärung und Bildung sind notwen- digen? Die Verteidigung von Demokratie und Huma- dig, ebenso Angebote und Räume, insgesamt ein nität ist doch keine Aufgabe nur der Politiker, sondern gesellschaftliches und kulturelles Klima, wo junge- ist eine Aufgabe der Bürger insgesamt. Leute untereinander und mit uns anders kommunizie- ren können als in der entmenschlichten Sprache der (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und dem Gewalt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ ordneten der CDU/CSU) Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ihre Gefährdung ist, so fürchte ich, nicht bloß kurzfri- NEN) stiger Art, wenn nicht die Mehrheit der Bürger Demo- kratie und Humanität entschlossen verteidigen. Denn Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort wir haben uns darauf einzustellen, daß es in unserem hat die Abgeordnete Frau Dr. Angela Merkel. Lande eine noch länger währende Diskrepanz geben wird zwischen den verständlich ungeduldigen Wün- schen nach wirtschaftlicher, sozialer, politischer, men- Dr. Angela Merkel (CDU/CSU): Herr Präsident! taler Sicherheit, nach Gleichheit der Lebensverhält- Meine Damen und Herren! Im „Kreisstadtecho" für nisse in ganz Deutschland, einerseits und andererseits Neuenahr und Ahrweiler, also unmittelbar vor der den objektiven ökonomischen und sozialen Möglich- Haustür Bonns, erschien in dieser Woche eine keiten, diese Wünsche schnell zu erfüllen. Diese Anzeige einer „Deutschen Liga, Freundeskreis für Diskrepanz ist der soziale und psychische Konflikt- Volk und Heimat". Dieser Freundeskreis lädt — ich stoff, der sich immer wieder neu entzünden kann. Die zitiere — „alle deutschen Männer und Frauen zum Brandstifter haben sich organisiert, sie sind schon ersten nationalen Stammtisch" ein. Dies ist eine unterwegs. Viele Menschen sind in ihrer Angst und Nachricht aus unserer Umgebung, die zeigt, was in Unsicherheit verführbar geworden. diesen Tagen in der Bundesrepublik Deutschland passiert. In solcher Situation müssen wir Demokraten uns vor falschem Parteiengezänk hüten, vor allzu eilfertigen Was aber auch wahr ist und mir Mut macht: Die Versuchen, Gesetze allzu schnell zu ändern. Die Gymnasien, die Evangelische Kirche und alle Jugend- vorhandenen Gesetze müssen endlich konsequent organisationen werden morgen abend gemeinsam angewendet werden. dagegen protestieren. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/ GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. DIE GRÜNEN) und der Abg. Dr. [PDS/Linke Listel) Fast jeden Tag hören wir von Anschlägen auf Ausländer. Ich verurteile diese Übergriffe auf das Wir müssen uns vor dem Eindruck hüten, wir schärfste. Wir müssen aber, denke ich, auch fragen, würden rechtsradikaler Gewalt nachgeben. Jedweder wie wir die Gewaltausschreitungen verhindern kön- Versuch, Ressentiments und Ängste taktisch auszu- nen. Es sind meist junge Menschen, von denen diese nutzen, verbietet sich, weil er der Demokratie insge- Akte der Barbarei ausgehen. Deshalb ist die Jugend- samt schadet. politik besonders gefordert. Wir dürfen nicht nur Der Rechtsstaat muß sich verteidigen, indem er die fragen, was strafrechtlich getan werden kann. Schwächsten, die Opfer von Gewalt, entschlossen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der schützt und verteidigt. Das ist mein Begriff von wehr- F.D.P. und der SPD) hafter Demokratie. Wir müssen nach dem Lebensumfeld der jungen (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ Menschen fragen und überlegen, wie wir präventiv Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ tätig werden können. NEN) Aus meinen Gesprächen mit Jugendlichen an Ort Dazu muß die Bekämpfung des Rechtsextremismus und Stelle weiß ich, daß die Gründe für Gewalt sehr eine Chefsache der Bonner Politik werden. Die Innen- vielschichtig sind. Es gibt einen harten Kern von minister von Bund und Ländern müssen gemeinsames organisierten Rechtsextremisten, die konsequent Vorgehen gegen rechts vereinbaren. Bundeskrimi- strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden nalamt, Bundesanwaltschaft, Verfassungsschutz und müssen. Mit diesen Leuten und ihren Auffassungen Polizei müssen die Kräfte darauf konzentrieren. kann und darf es keine Kompromisse geben. Warum eigentlich kann die Polizei Zwölfjährigen Außer diesen gibt es aber Menschen, die für frem- nicht die Molotowcocktails aus der Hand nehmen und denfeindliche Parolen anfällig sind. Das sind häufig die Kinder dahin schicken, wo sie hingehören? So Jugendliche, die aus Gründen des sozialen Neids fragte zu Recht Wolfgang Benz, einer der renommier- glauben, Ausländer nähmen ihnen etwas weg, die testen deutschen Faschismusforscher. Vorurteilen erliegen und immer wieder auf die Vorur- 9410 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Angela Merkel teile Erwachsener hören. Der Anteil dieser jungen und Probleme richten und in welchem Umfang sie das Menschen liegt in Ost und West bei besorgniserregen- tun. den 30 %. In Rostock habe ich im Gespräch Jugendliche Wir dürfen diese Urteile natürlich nicht hinnehmen. erlebt, die nur darauf aus waren, öffentliche Aufmerk- Wir dürfen diese Jugendlichen aber auch nicht samkeit zu erreichen. Wir wissen auch, daß Medien- abschreiben. Wir müssen uns mit ihren Problemen berichterstattung durchaus zu Wiederholungen und befassen, mit ihnen sprechen, ihre Lebensprobleme Steigerungen von Gewalt anregen kann. ernstnehmen und ihnen Lösungen zeigen. Wer diese Ich glaube, wir sollten uns an die Erfahrungen aus Leute ausgrenzt, nicht mit ihnen spricht, sie stigmati- England erinnern, wo man den Exzessen der Fußball- siert, treibt sie den Extremisten in die Arme. hooligans u. a. deshalb entgegentreten konnte, weil (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Berichterstattung darüber auf das notwendige Minimum beschränkt werden konnte. Wir müssen vor allem den Jugendlichen in den neuen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Bundesländern helfen, sich in ihrer Gesellschaft F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/- zurechtzufinden. DIE GRÜNEN) „Aktionsprogramm gegen Aggres- Hier setzt das Gewalt ist ein gesellschaftliches Phänomen, das wir sion und Gewalt" ein. Wir wollen damit den Jugend- nur dann in den Griff bekommen, wenn alle mithelfen, lichen in der schwierigen Umbruchssituation kon- daß bei uns eine Gesellschaft entsteht, die die Men- krete Hilfe und Orientierung vermitteln. Erste Erfolge schen als gerecht empfinden. Diese Verantwortung sind immer dort sichtbar, wo es gelingt, die jungen richtet sich an den Staat, an die Tarifpartner, an die Menschen in konkrete Projekte einzubinden. Verbände, Vereine und an jeden einzelnen Bürger. Mit dem Programm zum Auf- und Ausbau von Gemeinsam müssen wir zeigen, daß wir eine Entwick- Trägern der Freien Jugendhilfe in den neuen Bundes- lung zur Gewalt nicht tatenlos hinnehmen. Wir sind ländern stellen wir eine Anschubförderung bereit, um eine wehrhafte Demokratie, nicht nur im Sinne von die Jugendarbeit dort nach 40 Jahren neu aufzu- Polizei und Justiz. Wir alle stehen durch unser Verhal- bauen. Damit sollen Verunsicherung und Vereinze- ten in der Verantwortung. lung junger Menschen aufgefangen werden. In Ich danke den vielen, die sich um ein friedliches 40 Jahren Sozialismus ist ein freies Vereinsleben, sind Zusammenleben in unserem Lande kümmern, selbständige Verbände und Initiativen unterdrückt worden. Mit diesem Programm wollen wir entstehen- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) den Zusammenschlüssen in Ostdeutschland helfen, den Runden Tischen und denen, die Tage der Begeg- damit junge Menschen soziales Verhalten, Rücksicht- nung organisieren. Es gibt viele Beispiele dafür; aber nahme auf den Nächsten und demokratische Toleranz es müssen mehr werden. Nur dann können wir ein erlernen können. Es geht dabei vor allem um das Land des äußeren und des inneren Friedens sein, ein Lernen von Regeln und Mechanismen zur friedlichen Land in der Mitte Europas, das weiß, daß es seinen Auseinandersetzung und zur Bewältigung von Kon- Wohlstand und seinen kulturellen Reichtum nicht flikten. zuletzt der Tatsache verdankt, daß zahlreiche Men- schen aus anderen Ländern bei uns arbeiten und Die Aktivitäten des Staates aber können nur ein Teil leben. unserer Aktivitäten als Politiker sein. Eine Demokratie ohne mündige Bürger kann nicht existieren. Jeder (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der einzelne Bürger steht in der Verantwortung. SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wie oft habe ich in den letzten Tagen von Jugend- Diese Menschen sind nicht nur ein fester Bestandteil lichen gehört, daß Erwachsene abfällige Äußerungen unserer Gesellschaft; die ausländischen Mitbürger über Ausländer und Asylbewerber gemacht haben. und Mitbürgerinnen sind auch ein Gewinn für unser Kinder und Jugendliche — das weiß man aus den Land. Gesprächen — übernehmen vieles, was Erwachsene (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der ihnen vorleben. Die Eltern in dieser Bundesrepublik SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland müssen ihren Erziehungsauftrag zuvör- derst wahrnehmen. Diese Verantwortung kann ihnen der Staat nicht abnehmen. Die Eltern müssen vorle- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort ben, wie Konflikte ohne Gewalt gelöst werden kön- hat der Abgeordnete Dr. Jürgen Schmieder. nen. Sie müssen Zeit für ihre Kinder aufbringen, ihren (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) Bedürfnissen nach Zuwendung gerecht werden und sich mit ihnen vor allem geistig auseinandersetzen. Materielle Versorgung von Kindern reicht nicht aus. Dr. Jürgen Schmieder (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tatsache, daß in dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Rostocker Asylantenheim keine Menschen zu Scha- der F.D.P.) den gekommen sind, grenzt an ein wahres Wunder. Jeder Erwachsene muß darauf achten, was er sagt Daß sie dem wütenden Mob schutzlos ausgeliefert, in und wie er über Ausländer spricht. Jeder Bürger steht Todesangst anderthalb Stunden vor laufenden Kame- hier, besonders in unserer Zeit, in der Bewährungs- ras auf Hilfe warten mußten, ist, gelinde gesagt, ein probe. Verbrechen. Auch die Medien müssen sich fragen, wann und wie (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem sie ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Geschehnisse BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9411

Dr. Jürgen Schmieder Für Mord genügt es, daß vom Täter der Tod des Hintergrund der aktuellen Schwierigkeiten und ist Opfers billigend in Kauf genommen wird. Wer Brand- eigentlich nur polemische Effekthascherei. sätze und andere Wurfgeschosse in die Wohnungen (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) wirft, in denen sich Kinder, Frauen und Männer aufhalten, ist ein potentieller Mörder. Das Johlen und An der Stelle darf ich den Angriff vorhin auf das der gröhlende Applaus der beifällig dabeistehenden Präsidentenamt verteidigen. Man kann, wenn man Bürger ist nichts anderes als Beihilfe für Kriminelle. zitiert, die Zitate nicht aus dem Zusammenhang reißen. Frau Süssmuth hat das zwar gesagt, aber an (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der ganz anderer Stelle. Ich denke, man muß die Würde SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) des Hauses hier wahren. Meine Damen und Herren, Deutschland erlebt zur (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Zeit eine Welle rechtsradikaler Gewalt. Damit rückt ten der SPD) verstärkt die innere Sicherheit unseres Staates ins Wir müssen gründlich analysieren, was im Einzelfall Blickfeld, die durch extremistisch-radikale, antide- falsch gemacht wurde. Wir müssen Voraussetzungen mokratische Gruppierungen und durch offensichtlich schaffen, damit der Staat den Tätern vorbereitet und steigende Gewalt und Delinquenzbereitschaft in gut gerüstet bzw. ausgerüstet gegenübersteht. Wir Gefahr zu kommen droht. Bezeichnenderweise wur- müssen die Ursachen beseitigen. den in Rostock einige ehemalige hauptamtliche Mit- arbeiter der Stasi festgestellt, die in vorderster Reihe Die Debatte heute ist dringend notwendig. Man ist agierten. Es stellen sich die Fragen, wer die regiert, nach Rostock zu schnell wieder zur Tagesordnung wer lenkt und leitet, wer wird durch wen und wovon übergegangen und hat sich dem üblichen Politge- begünstigt? schäft zugewandt. Die Bilder von brennenden Asylantenheimen und (Beifall bei der SPD) randalierenden Horden vor beifällig en Zuschauerku- Der Tatsache, daß Rechtsradikale in Deutschland lissen, die seit Monaten andauernden Exzesse in inzwischen in wesentlich kürzerer Zeit mehr Morde Hoyerswerda, Rostock, Saarlouis, Hünxe und anderen auf dem Gewissen haben als die RAF-Terroristen, Orten, der Brandanschlag auf das frühere KZ Sach- muß Rechnung getragen werden. Es müssen sofortige senhausen — dies beunruhigt und beschämt uns Konsequenzen gezogen werden. zutiefst und macht uns betroffen. Aber damit darf es nicht genug sein. Wir müssen hier etwas tun. Der Staat Daß der Rechtsstaat die hilflosen Opfer in Lichten- muß sich zur Wehr setzen, und die demokratischen hagen auf dem Dach des brennenden Hauses verlas- Parteien sind aufgerufen, gemeinsam zu handeln. sen und damit verraten und verkauft hat, grenzt schon an ein Verbrechen der verantwortlichen Politiker. Die Sie sind aufgerufen, über alle Parteigrenzen hinweg Staatsgewalt hat in Rostock Mordversuche der im Kampf gegen solche Akte brutaler Gewalt gemein- Rechtsradikalen und Neonazis zugelassen, die sie sam nach wirksamen Instrumenten zu suchen. Für — soviel steht heute fest — nach Lage der Dinge hätte parteipolitische Profilierungen ist es ohnehin zu spät, verhindern können. und die Situation ist zu ernst. (Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS (Beifall bei der F.D.P.) 90/DIE GRÜNEN) Der mecklenburgische Innenminister hat nicht Wir sind den betroffenen Menschen Solidarität schul- zuletzt vor dem Innenausschuß des Deutschen Bun- dig. destages deutlich gemacht, daß er der Situation in Parteienstrategie und Profilierungssucht einiger Rostock nicht gewachsen war und für seine Funktion Politiker, insbesondere in Landeswahlkämpfen ungeeignet erscheint. Der Untersuchungsausschuß — nicht zuletzt in Baden-Württemberg —, haben das im Landtag muß sich hierzu endlich positionieren. Asylantenproblem zum Wahlkampfthema gemacht, Durch die verzögerte Handlungsfähigkeit der staat- es damit aufgebauscht und mißbraucht. lichen Macht und durch das Beklatschen der Aktionen (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) durch Schaulustige ist ein Flächenbrand ausgelöst worden, der sich gegen die schwächsten Mitglieder Die F.D.P. hat davor gewarnt. Es macht die Republi- unserer Gesellschaft richtet. Hierfür muß doch jemand kaner salonfähig, ermutigt die Rechtsradikalen und die politische Verantwortung übernehmen. lenkt von den in Wirklichkeit größeren Problemen und (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem politischen Versäumnissen des Einigungsprozesses BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ab. (V o r s i t z: Vizepräsident Hans Klein) Auch war es dilettantisch, eine zentrale Aufnahme- stelle mitten in einem von sozialen Spannungen und Fast ist man geneigt, dem Vorwurf des Vorsitzenden Belastungen heimgesuchten Wohngebiet unterzu- des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz bringen. Die Schuld trägt hier nicht nur der Oberbür- Bubis, zuzustimmen. germeister von Rostock. Aber jetzt bringt es nichts, sich in gegenseitigen Aber Rostock zeigt auch, daß die Aktionen gelenkt, Schuldzuweisungen zu üben. Jetzt sind Taten gefragt, geleitet und geführt und darüber hinaus zeitlich so und zwar Taten in voller Ausnutzung der bereits terminiert waren, daß sie noch im schutzlosen Heim in geltenden gesetzlichen Regelungen. Der alleinige Ruf Lichtenhagen stattfinden konnten. Eine Woche später nach neuen Gesetzen ist unseriös. Er vernebelt den wären die Asylanten in Sicherheit gewesen. 9412 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Jürgen Schmieder Die Frage nach den Hintermännern und Drahtzie- personell und materiell so ausgestattet werden, daß hern taucht erneut auf. Wie war es möglich, daß Rechtsbrüche unverzüglich verfolgt und geahndet organisierte Rechtsradikale aus Hamburg und Schles- werden können. Die Ausrüstung der polizeilichen wig-Holstein mit Taxis zum Tatort fahren konnten, Kräfte, die den Randalierern gegenüberstehen, muß ohne daß es Vorfeldkontrollen gegeben hat? Das alles verbessert werden. Man muß jetzt vorübergehend hat mit Asylrecht nichts zu tun. eben verstärkt mit Abordnungen aus dem Westen für Abhilfe sorgen. Die F.D.P. fordert eben dieses schon (Beifall bei der F.D.P., der SPD, bei der seit längerem. PDS/Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die vielfältigen Sanktionen des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsge- Es ist übrigens auch banal, dieses Problem als setzes — nach denen sich z. B. auch strafbar machen ostdeutsches Problem abzutun, wie man es gelegent- kann, wer als Zuschauer Gewalttätern beisteht — lich hört. In Ostdeutschland haben die Bürger auch vor müssen den Straftaten schuldangemessen ange- der Wende mit Ausländern zusammengelebt, bei- wandt, die vorhandenen Strafrahmen ausgeschöpft spielsweise mit den über Werkverträge ins Land werden. Es geht vorrangig darum, nicht durch zu geholten Vietnamesen und Angolanern. Hier hat es mildes Strafmaß zu neuen Straftaten einzuladen. meines Wissens noch keine nennenswerten Zwi- Gleichfalls ist von Möglichkeiten der Verfahrens- schenfälle gegeben. Der Ostdeutsche ist also durch- beschleunigung im Sinne von § 212 der Strafprozeß- aus nicht ungeübt im Zusammenleben mit Auslän- ordnung Gebrauch zu machen durch die Sicherstel- dern. Aber der an völkerwanderungsähnliche Zu- lung einer zeitnahen Verurteilung von Gewalttätern stände erinnernde Ansturm von Sinti und Roma über- durch verstärkt vor Ort eingesetzte Staatsanwälte und fordert jedoch sichtbar das vertretbare und verkraft- Richter. Außerdem sollte über die Schaffung einer bare Maß in den ostdeutschen Kommunen und Län- effektiven mobilen Sondereinsatzgruppe gegen Stra- dern; noch dazu, wo die materiellen Voraussetzungen ßengewalt ernsthaft nachgedacht werden. fehlen und die Bürger und Behörden im Osten schwer Abschließend muß ich aber noch einmal darauf an den Umstrukturierungsprozessen zu tragen ha- hinweisen, daß der Entstehung der Bereitschaft zur ben. Gewalt ein Prozeß zugrunde liegt, der letztlich nicht Die persönlichen Belange müssen neu geregelt und durch strafrechtliche Aktionen bekämpft werden koordiniert werden, und es ist in einigen Regionen viel kann. Hier sind alle demokratischen Kräfte aktiv Geduld mit der wirtschaftlichen Umgestaltung aufzu- gefordert, um insbesondere unserer Jugend zu ver- bringen. Hier ist die Koalition, aber darüber hinaus deutlichen, daß Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sind auch alle demokratischen Kräfte aufgerufen, Achtung des anderen ein Werteraster darstellen, das dringend weitere Ins trumente des wirtschaftlichen soziale Sicherung und individuelle Freiheit garantiert, Aufschwungs Ostdeutschlands einerseits und ande- das Lebensorientierung liefert und für das es sich rerseits auch zur Begrenzung des Zuwanderungs- einzustehen lohnt. stroms wirksam zu machen. Diese Probleme stehen in (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND- jedem Fall vor uns und sind nicht erst durch die NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Untaten der Extremisten ins Blickfeld gerückt. ten der CDU/CSU) Was die Neonazis angeht: Die hat es auch in der ehemaligen DDR gegeben. Sie sind totgeschwiegen Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem worden, und man glaubte, mit der Vogel-Strauß- Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Politik könnte man dem Problem entkommen. Mit der Dr. Herbert Schnoor. Einkehr einer freiheitlichen demokratischen Ordnung kamen sie aus ihren Schlupflöchern, vermehrten sich Minister Dr. Herbert Schnoor (Nordrhein-Westfa- und bekamen Unterstützung durch Gleichgesinnte len): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer aus den alten Bundesländern, die glauben, im Osten sich umsieht in unserem Land, wer genau hinhört, was Deutschlands ihr Unwesen treiben zu können, da dort die Menschen bewegt, was sie sagen, der kommt nicht die Polizei- und Verfassungsschutzstrukturen noch im mehr an der Feststellung vorbei, daß sich der demo- Aufbau sind. kratische und soziale Rechtsstaat heute in einer Es ist gerade noch Zeit, den Anfängen eines größe- schwierigen Phase der Bewährung befindet. ren Unheils zu wehren. Wir müssen das soziale Wir im Westen leben in einer Gesellschaft, die in Umfeld des Rechtsextremismus austrocknen, und wir vier Jahrzehnten sehr wohl erkannt hat, was Freiheit, müssen den Ausschreitungen energisch begegnen. Toleranz, ein hohes Maß an sozialer Gerechtigkeit, Gefordert sind rechtsstaatliche Stärke und Besonnen- Wohlstand und Weltoffenheit geistig und materiell heit. konkret für den einzelnen bedeuten. Diese Gesell- schaft ist aber offensichtlich sehr schnell bereit, fun- Der Rechtsstaat muß das bereits bestehende, breit- damentale Grundsätze in Frage zu stellen, wenn sie gefächerte gesetzliche Ins trumentarium nutzen, um ihren individuellen, vor allem ihrem materiellen kriminelle Gewalt — um nichts anderes handelt es Lebensbereich — von wem auch immer — bedroht sich hier — konsequenter als bisher zu verfolgen und sieht. zu ahnden. Es geht um die konsequente und effektive In Zeiten wirtschaftlicher Krisen, sozialer Unsicher- Anwendung des geltenden Rechts. heit, internationaler Konflikte und einer sich ständig Polizei und andere Ordnungskräfte sowie Gerichte erweiternden geistigen Hilf- und Orientierungslosig- und Justizbehörden müssen unbedingt und vorrangig keit kommt es dann sehr schnell zu Forderungen nach Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9413

Minister Dr. Herbert Schnoor (Nordrhein-Westfalen) einfachen, schnellen, diskussionsfreien, überschau- lität, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlichem Fort- baren und für jedermann einsichtigen Lösungen. schritt unverrückbarer Bestandteil unserer Kultur Diese aber gibt es in komplexen Gesellschaften nicht. geworden ist. Der Preis für die Vereinfachung komplexer Sachver- (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/- wie Friedrich Hacker in seinen halte ist die Gewalt, Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Thesen zur Gewalt gesagt hat. Ich kann nur empfeh- NEN) len, diese immer wieder nachzulesen. Was ist zu tun? Wir müssen in einem realistischen Hier liegen die eigentlichen Gefahren für eine freie Bericht zur Lage der Nation die Problemfelder der demokratische Gesellschaft, und hier setzt der Rechts- Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpoli-- extremismus an, der glaubt, daß nach zwei Jahrzehn- tik, der Wohnungsbau-, Bildungs- und auch der Aus- ten der Erfolglosigkeit, insbesondere nach dem Nie- länderpolitik darlegen und konkrete Lösungen anbie- dergang der NPD, nunmehr seine Stunde gekommen ten. Wir müssen den Mut haben, den Menschen zu sei. Rechtsextremistische Parteien und Vereine haben sagen, wann und in welchem Umfang weitere Opfer Zentimeter für Zentimeter ihren Boden aufbereitet, von uns allen verlangt werden. Wir sollten offen Tabus gebrochen und Themen besetzt. Es gibt dafür bekennen, daß wir nicht alle Probleme von heute auf einen aufnahmebereiten Boden, der Schoß ist frucht- morgen lösen können, z. B. die Probleme mit den bar noch. Zuwanderern. Wir sollten die Desintegrationspro- Die Parteien und Vereine haben sich schwerpunkt- zesse in unserer Gesellschaft nicht länger hinnehmen, mäßig auf Personengruppen konzentriert, die sich in sondern nach Wegen suchen, wie wir dem entgegen- einer individuell komplizierten und sozial schwieri- wirken können. Wir sollten uns erneut und deutlich zu gen Lage befinden: auf junge Menschen, die eine den Prinzipien der abwehrbereiten Demokratie positive Zukunftsperspektive nicht zu erkennen glau- bekennen. ben, auf ungelernte und angelernte Arbeiter, die Nordrhein-Westfalen hat seit jeher den Rechts- Angst um ihre Arbeitsplätze haben, auf ältere und extremismus intensiv, d. h. unter Einsatz nachrichten- einkommensschwache Menschen, die um ihre Woh- dienstlicher Mittel umfassend beobachtet. Dies hat nung in einem sozial schwierigen Umfeld fürchten, mir bis heute Kritik eingebracht, auch von Teilen der auf Jugendliche und Heranwachsende, die sich der eigenen Partei, die ein anderes Verhältnis zum Ver- Leistungs- und Konsumgesellschaft nicht gewachsen fassungsschutz haben. Das sage ich ganz deutlich. fühlen. Hier, aber nicht nur hier, finden die einfachen Erklärungen und schlichten Lösungen der Rechtsradi- Wir haben zugleich die Konsequenzen aus den so kalen Widerhall. gewonnenen Erkenntnissen gezogen und schon 1986 das Verbot der neonazistischen FAP und 1987 der Ich möchte kurz auf das eingehen, was Sie, Frau „Nationalistischen Front", Bielefeld, gefordert. Vor Schmalz-Jacobsen, gesagt haben, Ihnen ausdrücklich dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse, insbeson- zustimmen und in diesem Zusammenhang Wilhelm dere im Blick auf die üble Rolle, die die Kader der Heitmeyer erwähnen. Wir dürfen in der aktuellen „Nationalistischen Front" bei den Krawallen spielen, Debatte über den Rechtsextremismus und über Aus- bedauere ich zutiefst, daß es der Bundesminister des länderfeindlichkeit nämlich nicht dem Trugschluß Innern seinerzeit für nicht erforderlich gehalten hat, erliegen, als könne man den Rechtsextremismus der Initiative Nordrhein-Westfalens zu folgen. dadurch bekämpfen, daß man ihm seine derzeitigen Opfer, nämlich die Asylbewerber, nimmt. Ich weiß natürlich sehr wohl, was gegen Partei- und Vereinsverbote spricht. Das sollten wir sorgfältig Heitmeyer sagt — wie ich meine, zu Recht —, daß abwägen. Aber wenn in dem Kanon, der von der das eigentliche Problem viel tiefer liege, nämlich in CDU/CSU-Fraktion — so habe ich es jedenfalls gele- den zunehmenden sozialen, beruflichen und politi- sen — vorgetragen wird, auch Vereinsverbote enthal- schen Desintegrationsprozessen unserer Gesell- ten sind — ich meine, man muß darüber sprechen —, schaft. Hier liegt das große Problem. Hier müssen wir dann ist es wert, auch hierauf hinzuweisen. Ich habe ansetzen. dies seit langem gefordert. (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Liste) NEN) Der neuartigen Welle der Gewalt soll statt dessen Deswegen herzlichen Dank für die Zustimmung einer mit schärferen Gesetzen begegnet werden. Als ob liberalen Politikerin. Heute sind die Asylbewerber die nicht alles längst geregelt ist: vom Verbot des Hitler- Opfer, morgen vielleicht alle Ausländer, dann die grußes über den Brandanschlag bis zum Landfrie- Obdachlosen, vielleicht die Behinderten oder sonsti- densbruch. gen Minderheiten, kurz: die sogenannten Andersarti- gen, die andersfarbigen, die Andersdenkenden. Sie (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Das ist werden als Sündenböcke für alle individuellen und der Skandal!) gesellschaftlichen Schwierigkeiten verantwortlich Jetzt scheint wieder einmal Ziel das Demonstra- gemacht. tionsrecht zu sein. Es werden gescheiterte Lösungs- Deshalb soll sich niemand der Illusion hingeben, vorschläge vergangener Legislaturperioden ausge- daß bei einer etwaigen Lösung des Asylproblems — so graben. Es werden Themen miteinander verknüpft, notwendig sie ist — die Rechtsextremisten in unserem die wirklich nichts miteinander zu tun haben. Lande Ruhe geben. Sie wollen in Deutschland und (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Europa all das aushebeln, was an Humanität, Libera- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 9414 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Minister Dr. Herbert Schnoor (Nordrhein-Westfalen) Der Straftatbestand des Landfriedensbruchs ist zur — Herr Kleinert, lassen Sie mich zum Ende kom- Beseitigung gewaltsamer Übergriffe gegen Auslän- men. der überhaupt nicht geeignet. Die meisten Anschläge Ich will zum Thema Landfriedensbruch deutlich erfolgen gerade nicht aus einer Menge heraus, son- sagen: Wer aus einer Menge heraus Gewalt übt, muß dern erfolgen heimlich, nachts, wenn Jugendliche festgenommen werden. Er macht sich strafbar und unterwegs sind, sich noch einmal ausländerfeindliche wird vor den Richter gebracht. Wer ihn unterstützt, Parolen gesagt und Alkohol getrunken haben. Das wird wegen Beihilfe bestraft. Wer Anheizer ist, wird sind die meisten Fälle. Wenn sie aus einer Menge bestraft. Das ist alles gesetzlich geregelt. heraus erfolgen, müssen die Straftäter selbstverständ- - lich festgenommen und vor den Richter gebracht Jetzt stellt sich nur noch die Frage, ob Sie auch die werden. Bürger in Lichtenhagen, die dort herumgestanden haben, auch alle verhaften und vor den Kadi bringen (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ wollen. Sie mögen sich einmal überlegen, ob das die Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ richtige Politik ist. Das wäre nämlich die Konsequenz, NEN) wenn Sie den alten Landfriedensbruchtatbestand aus Dafür gibt es seit Anfang der 80er Jahre Festnah- Kaiser Wilhelms Zeiten wieder herausholen wollten. megruppen. Das ist das einfache ABC der Innenmini- ster und der Polizei. Das muß nicht erfunden werden. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Es funktioniert zwar nicht überall bereits, aber wir Liste) dürfen auch nicht mit den Fingern auf diejenigen Ich verstehe ja den Impetus, das ernsthafte Bemü- zeigen, wo es noch nicht funktioniert. Es ist nämlich hen, das hinter den Vorschlägen der CDU/CSU steht; schwierig, dort mit modernen Polizeimethoden zu ich will das deutlich sagen. Wir suchen ja nach einem arbeiten, wo die Polizei noch nicht auf dem besten Weg, wie man den Menschen deutlich machen kann: Stand ist. Deswegen sollten wir behutsam mit den Nie wieder Faschismus! Nur, dann sollten wir nicht Kollegen in den anderen Bundesländern umgehen. Wege wählen, die unsere Rechtsordnung verfremden, wie sich das eben nicht gehört. Vielmehr sollten wir Vizepräsident Hans Klein: Herr Minister, gestatten nach anderen Mitteln suchen. Dabei ist zunächst Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kleinert? einmal die Politik gefragt, aber beispielsweise auch die Bürger. Darauf ist ja hingewiesen worden. Dazu gehört auch, daß sich die politisch Verantwortlichen Minister Dr. Herbert Schnoor, (Nordrhein-Westfa- len): Sie rechnen es mir nicht an? vor die Opfer stellen. Der französische Staatspräsident beispielsweise hat Vizepräsident Hans Klein: Nein. Ich rechne es Ihnen gezeigt, nachdem in seinem Land jüdische Gräber hoch an, wenn Sie die Frage zulassen, Herr geschändet wurden, wie man sich an die Spitze einer Schnoor. großen Demons tration mit über 120 000 Menschen (Heiterkeit im ganzen Hause) stellt und damit deutlich macht: Das französische Volk nimmt diese Exzesse nicht hin. Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Herr Schnoor, (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE wenn man den Satz „Wer morgens mit der Zwille in GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P. der Tasche aus dem Hause geht, um zur Demo zu und der PDS/Linke Liste) eilen, dessen Lebensgefährtin sollte wissen, daß es Dieses Gefühl haben wir doch alle hier, unabhängig keinen Slim hat, das Abendessen warm zu halten" für davon, in welcher Partei oder welcher Fraktion wir eine einigermaßen normale rechtspolitische Maxime sind. hält, dann frage ich Sie: Was ist in Nordrhein- Westfalen geschehen, um in ähnlich vorbildlicher Deswegen frage ich, Herr Bundesinnenminister: Weise wie kürzlich in Mecklenburg-Vorpommern Sollte es in einer solchen Situation nicht möglich sein, sicherzustellen, daß die Leute abends tatsächlich zu daß der Bundeskanzler, der — das sage ich nicht Händen gehalten worden sind, damit nach acht Tagen kritisch — ein Gefühl für Gesten hat, die Ministerprä- sehr schnell ein rechtsstaatliches, aber sehr schnelles sidenten, die Gewerkschaftsführer, die Bischöfe, die Verfahren abgeschlossen werden konnte? Ist Nord- Friedensbewegungen, wir in unseren Parteien dafür rhein-Westfalen da in irgendeiner Weise besonders sorgen, daß wir einmal gemeinsam gegen Rechts auf rühmlich hervorgetreten? die Straße gehen. (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/- Minister Dr. Herbert Schnoor (Nordrhein-Westfa- Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len): Nein, ich will Nordrhein-Westfalen gar nicht NEN) herausstellen. Das, was die Polizeien in Westdeutsch- Ich glaube, das würde vielen Mut machen und würde land in dieser Frage leisten, das leisten sie in allen mit zur Verbesserung unseres Ansehens beitragen. Ländern. Es gibt natürlich in Ostdeutschland einen gewissen Nachholbedarf bei der Polizei. Aber Sie (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, können es doch nicht der Polizei anlasten, wenn es dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei dort Nachholbedarf gibt. Abgeordneten der F.D.P.) (Beifall bei der SPD — Zuruf von der F.D.P.: Aber den Ministern! — Abg. Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.] meldet sich zu einer Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Norbert weiteren Zwischenfrage) Geis, Sie haben das Wort. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9415

Norbert Geis (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsi- nalität, angesichts der Straftaten vor den Asylbewer- dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Anlaß berheimen müssen wir uns auch darüber Gedanken dieser Debatte ist die zunehmende Bedrohung unse- machen, ob es nicht richtiger ist, den Strafrahmen, rer inneren Sicherheit durch rechtsradikale Kräfte. den uns das Strafgesetzbuch im Augenblick zur Ver- Wir können das nicht deutlich genug sagen, damit die fügung stellt, auch wirklich auszunutzen, d. h. die Bevölkerung weiß, woher heute zuallererst die Bedro- Täter auch wirklich zu bestrafen, die S trafe wirklich hung unserer Demokratie kommt. durchzusetzen. Das ist, meine ich, eine richtige For- Anlaß ist natürlich auch die steigende Kriminalität derung. in unserer Gesellschaft. Die Bevölkerung hat allmäh- Immer noch — das dürfen wir nicht vergessen — hat- lich, Herr Schnoor, schon die Hoffnung verloren, daß die Gewalt in unserer Gesetzgebung nicht die richtige wir in diesem Parlament, im Bundestag, und vielleicht Einschätzung. So haben wir seit 120 Jahren einen auch in den Ländern draußen noch die Kraft aufbrin- Unterschied zwischen dem Rechtsgut körperliche gen, gesetzliche Maßnahmen zu verabschieden, die Unversehrtheit und dem Rechtsgut Eigentum. Derje- die Polizei wirklich in die Lage versetzen, Gewalt und nige, der eine Körperverletzung begeht, kann mit Kriminalität zu bekämpfen. Freiheitsentzug von maximal drei Jahren bestraft Wir kämpfen hier schon seit Wochen und Monaten werden. Aber derjenige, der nur einen versuchten um eine vernünftige Regelung im Rahmen der Orga- Diebstahl begeht, kann zu fünf Jahren Freiheitsstrafe nisierten Kriminalität und haben sie bis jetzt noch verurteilt werden. Das ist doch ein Mißverhältnis. nicht durchgesetzt, obwohl alle Fachleute der Polizei, Darüber müssen wir uns Gedanken machen und auch aus Nordrhein-Westfalen, uns sagen, versuchen, das gerade angesichts der Gewaltkrimina- lität zu ändern. Das kann doch nicht verkehrt sein, (Minister Dr. Herbert Schnoor [Nordrhein Herr Schnoor. Westfalen]: Ich auch!) — Sie auch, aber nicht alle in Ihrer Partei; sagen Sie (Beifall bei der CDU/CSU) das in Ihrer Partei weiter —, daß wir endlich gesetzli- Natürlich müssen wir uns auch überlegen, ob es che Regelungen treffen müssen, mit denen wir Gewalt angesichts der Gewaltkriminalität, angesichts der wirklich bekämpfen können. Straftaten vor Asylantenheimen richtig ist, die Rechts- Die Bekämpfung der steigenden Gewaltkriminali- politik fortzusetzen, Strafen möglichst oft und mög- tät ist auch eine Forderung an die Rechtspolitik. Die lichst mehrmals zur Bewährung auszusetzen. Strafge- heutige Debatte hätte ihren Sinn verfehlt, und die richte neigen in den letzten Jahren immer mehr dazu, Entschließung, die wir nachher hoffentlich gemein- Freiheitsstrafen zur Bewährung auszusetzen. Dieser sam verabschieden, wäre das Papier nicht wert, wenn Trend, meine ich, muß gestoppt werden. Gewalttäter wir uns nicht im Anschluß daran Gedanken machen müssen wissen, daß ihnen das Gefängnis droht und würden, wie wir konkret auch mit gesetzlichen Maß- die Freiheitsstrafe nicht nur auf dem Papier steht. nahmen, Frau Ministerin, vor allem auch mit den Strafprozesse sind keine Alibiveranstaltung für die Mitteln des Strafrechtes den Versuch unternehmen Politik und keine Gesellschaftsspiele für Kriminelle, können, der Gewaltkriminalität entgegenzutreten. sondern sie haben die wichtige Funktion, die Achtung vor unserer Rechtsordnung zu wahren. Ich möchte von vornherein klarstellen, daß ich nicht zu denen gehöre, die in der Strafjustiz das Allheilmit- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- tel gegen Gewalt sehen. Das Verhängen von Strafen ordneten der F.D.P.) ist immer Ultima ratio staatlichen Handelns. Wer sich Ich teile Ihre abfälligen Äußerungen über die Über- aber von vornherein jeglichem Gedanken an eine legungen, den zu mögliche Ergänzung und eine Prüfung, ob unser Landfriedensbruchparagraphen überdenken, nicht, Herr Schnoor. Dieser Tatbestand strafrechtlicher Rahmen so, wie wir ihn im Augenblick spielt in der Rechtspraxis — das wissen Sie ganz haben, noch geeignet ist, der Gewalt zu begegnen, genau — überhaupt keine Rolle, und zwar deshalb versperrt, der wird, glaube ich, dem Anspruch dieser nicht, weil er unpraktikabel ist. Man kann ihn genau- Debatte und vor allen Dingen dem Anspruch, den die sogut aus dem Strafgesetzbuch streichen. Er ist das Bevölkerung an uns hat, nicht gerecht. Papier nicht wert. Es erfolgt daraus keinerlei Rechts- (Beifall bei der CDU/CSU) praxis. Die Polizei kann damit nicht umgehen, weil der Wenn ich mich nun auf den strafrechtlichen Aspekt Tatbestand selbst ungeeignet ist. beschränke, tue ich dies sehr wohl in dem Bewußtsein Deshalb meine ich wirklich, daß die Forderung des — ich wiederhole das —, daß das Strafrecht gegen Innenministers und auch die Forderung, die der CDU/ Gewalt kein Allheilmittel ist. Aber daß wir uns dar- CSU-Fraktionsvorstand erhoben hat, nicht verkehrt über natürlich Gedanken machen müssen, scheint mir sein kann, darüber nachzudenken, wie man ihn bes- notwendig zu sein. ser formulieren kann, und zwar so, daß er wirklich Es taucht zunächst einmal die Frage auf, ob wir nicht anwendbar ist. Ich fordere dazu nachdrücklich in der zu anderen strafrechtlichen Rahmen kommen müs- Diskussion nach dieser Debatte auf. sen. In der rechtspolitischen Diskussion — ich habe (Beifall bei der CDU/CSU) mich daran beteiligt — haben wir uns in der Vergan- genheit vor allem darüber Gedanken gemacht, wie Meine Damen und Herren, ganz unerträglich ist es wir zu einem Täter-Opfer-Ausgleich kommen können auch, daß die Polizei nach derzeitiger Gesetzeslage und wie es dann vielleicht möglich ist, dem Täter die Randalierer — oft unter höchstem Einsatz — zwar Strafe zu erlassen. Ich halte diese Diskussion für festnehmen kann und muß, aber nur, um die Persona- richtig. Aber angesichts der steigenden Gewaltkrimi- lien festzustellen. In der Regel muß sie dann die 9416 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Norbert Geis Gewalttäter wieder laufen lassen, weil unsere Straf- stalten handhaben, dürfen wir es den Gewaltverbre- prozeßordnung es nicht vorsieht, daß man solche chern nicht machen. Wer eine Gewalttat begeht, darf Gewalttäter schon nach der Ersttat in Sicherungshaft nicht darauf hoffen, in Kürze die Wohltaten des nehmen darf. Deshalb kann es doch nicht verkehrt offenen Vollzuges zu erhalten. Wir müssen deshalb sein, wenn wir uns Gedanken darüber machen, wie auch beim Strafvollzug die Gewaltverbrechen anders wir die Strafprozeßordnung an die steigende Gewalt- bewerten. kriminalität anpassen. Wir werden uns darum bemühen müssen, alle diese Unsere Bevölkerung hat Angst. Es gibt nicht nur die Forderungen sorgfältig zu prüfen. Es geht nicht um Bedrohung der Asylantenheime und Asylbewerber, Schnellschüsse, aber es geht darum, daß wir der sondern die Menschen bei uns haben Angst davor, steigenden Gewaltkriminalität auch mit den Mitteln abends auf die Straße zu gehen, Angst vor Schläge- des Strafrechtes entgegentreten. Dabei sind wir uns reien und davor, beraubt zu werden. U-Bahn-Statio- bewußt, daß ein säkularisierter Staat vor allem gegen- nen werden nachts nicht mehr besucht, weil die über der Jugend ständig im Begründungszwang steht, Bevölkerung Angst vor Gewaltkriminalität hat. Des- warum das eine erlaubt und das andere nicht erlaubt wegen kann es doch nicht richtig sein, daß der oder warum nicht alles erlaubt ist. Das kann und darf Polizeibeamte den einzelnen faßt, aber nur seine uns nicht daran hindern, auch auf dem Gebiet der Personalien feststellen kann und ihn dann wieder Rechtspolitik alle Anstrengungen zu unternehmen, laufen lassen muß, weil der Haftrichter gar nicht in der der steigenden Gewaltkriminalität entgegenzutre- Lage ist, eine Sicherungsverwahrung anzuordnen. ten. Der Landfriedensbruch, Herr Schnoor, muß deswegen Danke. in den § 112 a StPO eingefügt werden, so daß jemand, der dagegen verstößt, schon bei seiner ersten Tat (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- festgesetzt werden kann. ordneten der SPD) Das gleiche gilt natürlich auch für den, der einen Raub auf offener Straße begeht. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Claudia (Beifall bei der CDU/CSU) Nolte, Sie haben das Wort. Der, der eine Raubtat begeht, muß nicht erst beim zweiten- oder drittenmal erwarten, daß er festgesetzt wird, sondern bereits bei der ersten Tat muß Siche- Claudia Nolte (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr rungsverwahrung gegen ihn möglich sein. Deswegen geehrte Damen und Herren! Vor 20 Jahren wies der müssen wir die Strapfprozeßordnung, insbesondere damalige Münchner Oberbürgermeister auf die den § 112 a StPO, überdenken. Frau Justizministerin, Gewalt in New York hin und warnte, die Gegenwart hier dürfen Sie sich nicht sperren. Ich meine, das ist ein dieser einen Stadt könne die Zukunft aller Städte sein. dringendes Erfordernis. Er prophezeite, daß sich die Zentren in steinerne Dschungel verwandeln würden, in denen Gewalt, (Beifall bei der CDU/CSU) Haß, Verderben und Untergang herrschten, wenn sich Ein Wort noch zu den gewalttätigen Jugendlichen: die Politik nicht ändere. Wir beobachten mit großem Erschrecken die Entwick- 1980, zwölf Jahre nach der Hochzeit der APO, lung der Gewaltkriminalität insbesondere bei Ju- begann wieder eine Welle der Jugendkrawalle in gendlichen und Heranwachsenden. Jugendliche rot- Deutschland. Man sah Punks die Häuser besetzen, die ten sich zu Banden zusammen und verunsichern die Polizei angreifen und Geschäfte plündern. Sie verach- Bevölkerung. Straßenraub ist in den Großstädten an teten die „verspießte Elterngeneration" und deren der Tagesordnung. Im Rhein-Main-Gebiet ist der „dumpfe Gewohnheiten". Straßenraub 1991 um mehr als 20 % angestiegen. In den Großstädten ist die Quote noch höher. Das muß Jetzt, 1992, sind es die Skinheads, die uns nicht zur man sich einmal vorstellen! Viele der Täter sind Ruhe kommen lassen. Sie sind entschieden ausländer- Jugendliche. feindlich eingestellt, werden gewalttätig gegen Fremde und Fremdes, werfen Brandsätze in Asylbe- Hier müssen wir uns natürlich überlegen, ob wir werberheime und vertreten die rechtsextremen Paro- unser Jugendstrafrecht noch richtig handhaben. len von vorgestern. Es macht mich betroffen, daß es Natürlich muß im Jugendstrafvollzug der Erziehungs- vor allem junge Menschen sind. Ob Gewalt gegen den gedanke Vorrang haben. Dafür haben wir jahrelang Staat oder gegen Ausländer und Minderheiten ausge- gekämpft, das muß auch seinen Bestand haben. Ange- übt wird, immer ist es ein Anschlag auf die freiheitli- sichts der steigenden Gewaltkriminalität muß aber che Demokratie. Sicherheit der Bevölkerung auch der Gedanke der Auch im Überwachungsstaat DDR, der die Men- entsprechend berücksichtigt werden. Das müssen wir schen von der Wiege bis zur Bahre versorgte und im Jugendstrafrecht entsprechend einpassen. kontrollierte, entstanden gewaltbereite Gruppen von Ein Wort noch zum Strafvollzug. Was für den Skinheads, deren Aktivitäten weder verhindert noch Jugendstrafvollzug gilt, hat natürlich erst recht für den verheimlicht werden konnten. Damals wie heute ist Strafvollzug bei Erwachsenen zu gelten. Die Praxis Gewalt eine Schande für unser Volk. Die Politik darf der Vollzugslockerungen hat sich im großen und dazu nicht schweigen. Deshalb sind die heutige ganzen bewährt, und daran wollen wir auch festhal- Debatte und der gemeinsame Entschließungsantrag ten. Gewaltverbrecher müssen wir künftig aber härter aller Fraktionen dieses Hauses ein Zeichen dafür, daß anfassen. So leicht, wie es manche Strafvollzugsan- wir uns des Ernstes der Lage bewußt sind und das in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9417

Claudia Nolte unseren Möglichkeiten Stehende tun wollen, um der Rechtsextremistisches Gedankengut zu vertreten Gewalt in unserm Lande Einhalt zu gebieten. ist kein Kavaliersdelikt. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) SPD) Es reicht nicht aus, nur das Verbreiten von Propagan- Extremismus und Gewalt waren und sind nicht nur damitteln sowie das Verwenden von Kennzeichen mit ein deutsches Problem. Jedoch haben gerade wir neonazistischem Inhalt zu bestrafen. Auch bei Ver- Deutsche im Hinblick auf unsere jüngere Geschichte fremdung und Verzerrung von Kennzeichen, die aber eine besondere Verantwortung dafür, wie wir mit deutlich an Nazi-Symbole erinnern, muß geprüft wer- Ausländern umgehen. Es reicht nicht mehr aus, den, ob ein Verbot sinnvoll sein könnte. Betroffenheitsadressen auszutauschen. Die Ursachen Jugendliche sind zur Mitgestaltung aufgerufen. Sie der Gewalt von Jugendlichen müssen wir ernstneh- sollten Bewährungsfelder finden, selber Verantwor- men. Orientierungslosigkeit, Desintegration infolge tung übernehmen können. An der Schwelle zum kaputter Familien und Arbeitslosigkeit sowie Unsi- dritten Jahrtausend besteht die historische Chance, cherheit, die Angst produziert, sind solche Ursachen. daß Ideale Wirklichkeit werden, die die junge Gene- Gerade Jugendliche in den neuen Bundesländern ration schon seit jeher bewegten. machen verstärkt diese Erfahrung. Die demokratischen Parteien tragen gemeinsam Auch deshalb muß sich die Politik für junge Men- Verantwortung für den inneren und äußeren Frieden. schen als Querschnittsaufgabe für alle politischen Es liegt an uns, ob vom Vertrauen in die Politik und Bereiche und auf allen politischen Ebenen verstehen. von der Glaubwürdigkeit der Politik nicht nur gespro- Neben der Stärkung der Familien, damit Kinder dort chen wird, sondern ob sie erlebbar ist. Manche rheto- wieder Geborgenheit spüren und die Verbindlichkeit rische Attacken, die den politischen Gegner treffen von menschlichen Beziehungen erleben, tragen die sollen, beschädigen die parlamentarische Demokratie Schulen eine besondere Verantwortung. Viele insgesamt. Jugendliche fühlen sich hilflos und alleingelassen und (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der sind somit besonders auf Unterstützung angewiesen. SPD) Schulen dürfen deshalb nicht nur der reinen Wissens- Ich kritisiere damit nicht den politischen Streit. Im vermittlung dienen. Gegenteil, ich bin entschieden der Meinung, daß die Integration und Hilfestellung können Jugendver- Parteien, besonders die großen Parteien, ihr Profil bände und Vereine bieten. Dem Auf- und Ausbau deutlich zeigen sollen. An einer starken Regierung freier Träger der Jugendhilfe in den neuen Ländern und einer starken Opposition, die auch offensiv und kommt deshalb besondere Bedeutung zu. Dies muß sachlich streiten kann, stößt sich die Bevölkerung ergänzt werden durch einen Jugendaustausch, der nicht, ja, man erwartet es sogar. Aber dann wird auch junge Menschen unterschiedlicher Altersgruppen der parteiübergreifende Konsens erwartet. und sozialer Schichten im In- und Ausland umfaßt. Es gibt keine Patentrezepte gegen Gewalt und Früher bekamen wir in der DDR verordnet, wer unsere Extremismus. Freunde zu sein hatten. Das waren größtenteils Freundschaften auf dem Papier, aber nicht in den Herzen. So durften wir Studenten damals von uns aus Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Sie sind keinen Kontakt zu Sowjetsoldaten aufnehmen. Die schon ein gutes Stück über Ihre Redezeit. Vietnamesen haben isoliert auf engstem Raum gelebt (Paul Breuer [CDU/CSU]: Aber sie ist hervor- und gingen mindestens zu zweit einkaufen, weil sie ragend!) Angst vor Pöbeleien hatten. Die Vielfalt, das Anders- sein als Gewinn zu betrachten, ist eine Erfahrung, die den Deutschen, welche im realsozialistischen Teil- Claudia Nolte (CDU/CSU): Hier reicht es nicht aus, staat lebten, fremder ist als den Altbundesbürgern. Bei nur nach dem Staat zu rufen. Jeder von uns, jeder Themen wie Europa und Integration von Ausländern Bürger dieses freiheitlichsten Gesamtstaates, den es je ist es wichtig, daß die Menschen die Entwicklung auf deutschem Boden gab, trägt die Verantwortung nachvollziehen können, daß wir sie nicht überfordern. für den inneren Frieden und für das Bild, das unser Wir müssen sie darüber informieren, was wir wollen Vaterland nach außen darstellt. und warum wir es wollen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, der Idealismus der Jugend wurde in diesem Jahrhundert zu oft miß- braucht. Den Extremisten von heute dürfen wir nicht Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- gestatten, junge Menschen zu verführen. che. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der ßungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und SPD) F.D.P. auf Drucksache 12/3374 (neu). Wer stimmt Die Anstifter müssen zur Rechenschaft gezogen wer- dafür? — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — den. Wer zu Gewalt aufruft und wer Gewalt gegen Der interfraktionelle Entschließungsantrag ist ange- Sachen und besonders gegen Menschen anwendet, nommen. muß mit Strafen bis hin zum Freiheitsentzug rech- Wir stimmen jetzt über drei Entschließungsanträge nen. der Gruppe PDS/Linke Liste ab. 9418 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Vizepräsident Hans Klein Wer stimmt für Drucksache 12/3381? — Gegen- Politik dies auch beschließt —, trete ich beim Einsatz probe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag von Wehrpflichtigen unbedingt für Freiwilligkeit ist abgelehnt. ein. Wer stimmt für Drucksache 12/3382? — Gegen- Die Unsicherheiten und andauernden öffentlichen probe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag Diskussionen über die Legitimität selbst waffenloser ist ebenfalls abgelehnt. Einsätze der Bundeswehr bei UNO -Blauhelm-Mis- Wer stimmt für Drucksache 12/3383? — Gegen- sionen belasten nach meinen Feststellungen die Moti- probe! — Enthaltungen? — Der Entschließungsantrag vation unserer Soldaten. Wie auch immer die Ent- ist abgelehnt. scheidung ausfallen möge: Je breiter und deutlicher Wir stimmen jetzt noch über den Entschließungsan- der parlamentarische Konsens auch in der Beantwor- trag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf tung der Sinnfrage sein wird, desto eher werden nicht Drucksache 12/3392 ab. Wer stimmt für diesen Ent- nur die Soldaten, sondern auch die Gesellschaft Auf- schließungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — Wer trag und Aufgaben im Rahmen der UNO mittragen. enthält sich der Stimme? — Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Ich füge aber hinzu: Wer für Out-of-area-Einsätze — in welcher Form auch immer — eintritt, muß gleichzeitig auch ein Paket begleitender sozialer Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf: Maßnahmen auf den Tisch legen. Beratung der Beschlußempfehlung und des Be- richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- (Walter Kolbow [SPD]: Sehr wahr!) schuß) zu der Unterrichtung durch den Wehr- Auch diese Fürsorge ist Voraussetzung der Akzep- beauftragten tanz. Jahresbericht 1991 (Walter Kolbow [SPD]: Jawohl!) - Drucksachen 12/2200, 12/2782 — Ich begrüße es deshalb, daß seit wenigen Tagen zur Berichterstattung: Ressortabstimmung ein sogenanntes Auslandsunter- Abgeordnete Claire Marienfeld stützungsgesetz als Artikelgesetz vorliegt, Dieter Heistermann Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die (Zuruf von der CDU/CSU: Als Entwurf!) Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Damit das der Absicherung von Soldaten und Bundesbeam- besteht offensichtlich Einverständnis. Dann ist es so ten bei der Unterstützung humanitärer Maßnahmen beschlossen. im Ausland dienen soll. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Wehr- beauftragten des Deutschen Bundestages, Alfred (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Biehle, das Wort. Dazu zählen Versicherungsfragen, Soldatenversor- gungsgesetz , Zulagen, Schadensregulierungen wie Alfred Biehle, Wehrbeauftragter des Deutschen beim Auswärtigen Dienst und weitere Problemberei- Bundestages: Herr Präsident! Meine sehr verehrten che. Wenn das Gesetz das Licht der Welt erblicken Damen und Herren! Im Gegensatz zu früheren Jah- wird, scheint mir in diesem Fürsorgebereich des resberichten hat der wesentliche Inhalt des Jahresbe- Dienstherrn ein zentnerschwerer Stein von den Solda- richtes 1991 auch im Herbst 1992 kaum an Aktualität ten und den Familien genommen zu sein. Die kurzfri- verloren. Die Lehren aus dem Golfkrieg sowie die stige, über Zeitabschnitte umstrittene Bürgschaftszu- Umstrukturierung und der Neuaufbau der Bundes- sicherung kann nur eine vorübergehende Lösung wehr sind, so meine ich, nach wie vor Dauerbrenner, sein. Es gilt nun, keine Zeit mehr zu verlieren, da die nicht nur in der parlamentarischen Diskussion, son- Soldaten einen Anspruch auf gesetzliche Regelung dern auch im Alltag der Soldaten. der Besoldungs-, Versorgungs- und Versicherungs- Die Diskussion über den Umfang und die Grenzen fragen haben, bevor sie zu Einsätzen befohlen wer- künftiger neuer Aufgaben der Bundeswehr hat sich den. inzwischen erfreulicherweise in den parlamentari- Ich meine, wir alle müssen den Soldaten und ihren schen Bereich verlagert. Die UNO-Hilfe der Bundes- wehr im Sanitätsbereich in Kambodscha und die Familien zu erkennen geben, daß wir ihre oft mit politische Entscheidung zugunsten der Teilnahme großem Risiko durchzuführenden Aufträge über unserer Marine an den Überwachungsmaßnahmen in Wochen und viele Monate hinweg als eine außerge- der Adria sowie weitere Aufträge — ich denke an die wöhnliche Dienstleistung für unser Vaterland und Heeresflieger im Irak oder an die Transportflieger in anderer Völker Freiheit bewerten. Dem muß die Sarajevo und Somalia — regen immer wieder die familiengerechte Fürsorge des Staates für die Solda- Diskussionen um den Auftrag der Bundeswehr an. Sie ten entsprechen. erfordern aber, so meine ich, gerade für die Zukunft Ein besonderes Lob, meine ich, gilt den Wehrpflich- dringend klare Vorgaben und Grenzziehungen durch tigen, die seither bei Aufträgen im Rahmen der UNO die Politik. dabei waren. Sie haben ihren Dienst in vorbildlicher

Erweiterte Landesverteidigung im Bündnisgebiet Weise mit den Berufs - und Zeitsoldaten, denen in der NATO ist die Grundlage für den Einsatz aller gleicher Weise Dank zu zollen ist, erfüllt. Sie sind — so Soldaten der Bundeswehr, vom Grundwehrdienstlei- meine Feststellung nach vielen Besuchen bei den stenden bis zum Zeit- und zum Berufsoldaten. Soweit Soldaten außerhalb unseres Landes — hervorragend es über das Bündnisgebiet hinausgeht — und die motiviert. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9419

Wehrbeauftragter Alfred Biehle Die innere Lage der Streitkräfte wird nach wie vor Mauer in den Köpfen vieler Betroffener verhindert wesentlich von dem Aufbau der Bundeswehr in den wird. neuen Bundesländern und vom Personalabbau bzw. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der von den Umgliederungsmaßnahmen zur Einnahme SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke der neuen Strukturen bestimmt. Wenn auch manches nach den Anlaufschwierigkeiten des vergangenen Liste) Jahres nun in ruhigeren Bahnen läuft und deutliche Der Ausbau der Infrastruktur, z. B. bei Truppen- Fortschritte erkennbar sind, stehen die Streitkräfte unterkünften, macht dagegen hervorragende Fort- nach der Gründerzeit wohl vor der zweitgrößten schritte. Fast keine ostdeutsche Garnison ist mehr Herausforderung. ohne Baugerüst. 1,8 Milliarden DM standen bisher zur- Verfügung. Daß dies natürlich zu Lasten westdeut- In den neuen Bundesländern kommt es derzeit scher Garnisonsplanungen geht, sollte überall Ver- besonders darauf an, neben der Lösung von Sachfra- ständnis finden. Die von Quartal zu Quartal in Ost- gen und materiellen Fragen die ehemaligen NVA deutschland steigende Zahl der heimatfern einberufe- Soldaten in der Bundeswehr in die Gesellschaft zu nen Wehrpflichtigen wirkt sich oft negativ auf die integrieren und sie vom Image der früheren Partei- Stimmungslage der betroffenen Soldaten aus. armee zu befreien. Zudem müssen, so meine ich, Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, daß Große Sorge bereitet der mangels attraktiver, aber die vermehrt zu erwartenden Versetzungen von West auch einfacher Freizeitangebote steigende Alkohol- nach Ost für die Soldaten und für deren Familien konsum bei den Soldaten ostdeutscher Garnisonen. akzeptabel werden. Hier besteht politisch eiliger Freizeiteinrichtungen sollten ähnlich den Küchen- Handlungsbedarf, z. B. in der Wohnungsfürsorge. Da und sanitären Anlagen beim Ausbau der Infrastruktu- müßten seit langer Zeit die Alarmglocken schrillen. ren in entfernten Garnisonen Priorität erhalten. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Solange allerdings westdeutsche Offiziere und SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Unteroffiziere verständlicherweise von Freitag bis Liste) Montag zu ihren Familien zurückkehren, weil sie in ostdeutschen Garnisonen keine Wohnungen bekom- Besonderes Augenmerk gilt der Tatsache, daß die men, stagniert auch hier die Integration. Wohnungssituation auch im alten Bundesgebiet nach wie vor völlig unbefriedigend ist. Wenn im Rahmen (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) des Stationierungskonzepts jährlich bis zu 30 000 Versetzungen anstehen, aber die Wohnungen fehlen, Es fehlt häufig wegen dieser Mängel an notwendigem werden wir immer mehr zur Pendlerarmee mit Solda- persönlichen Kontakt westdeutscher Soldatenfami- ten in Wochenendehen. lien zu Nachbarn, in der Schule, im Kindergarten oder in Vereinen der neuen ostdeutschen Garnisonsorte. (Zuruf von der F.D.P.: Leider wahr!) Viele Klagen von Frauen beim Wehrbeauftragten Ich stelle die Frage, ob es im Rahmen der notwendig bestätigen dies. Hier baut sich Frust auf. Ich habe gewordenen Nachbesserung des Stationierungskon- deshalb in meinem Amt ein koordinierendes Referat zepts nicht sinnvoller wäre, beabsichtigte Verlegun- für Fürsorge und Familie eingerichtet. Die Stelle ist im gen geschlossener größerer Einheiten und Einrichtun- übrigen mit einer Frau besetzt. gen von West nach Ost angsichts der Wohnungs- und der daraus entstehenden Familienprobleme zumin- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der dest zeitlich zu verschieben, wobei in finanzieller SPD) Hinsicht gewiß auch die allgemeine Haushaltslage In Zukunft ist für diesen Bereich der Familie auch eine Rolle spielen sollte. die Militärseelsorge gefordert. Militärgeneralvikar (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, darüber muß Dr. Niermann hat dazu gestern bei der Gesamtkonfe- man nachdenken!) renz der katholischen Militärseelsorger in Augsburg ausgeführt: Dabei könnte inzwischen auch das soziale Umfeld, Die Auswertung der Seelsorgerberichte ergibt das die Soldaten dann erwartet, geklärt werden. ein differenziertes Bild der Lage der von jenen Konsequenzen betroffenen Soldaten und Solda- Dankbar bin ich dem Bundesrat, dem Verteidi- tenfamilien. Berichtet wird über Unsicherheit in gungsausschuß und seinem Unterausschuß Streitkräf- der Berufs- und Lebensplanung; Befürchtungen, tefragen in den neuen Bundesländern dafür, daß durch Versetzungen Beheimatungen zu verlie- durch entsprechende Initiativen eine Verordnung ren; über das vielen gemeinsame Gefühl einer zunächst gestoppt wurde, die aus den zu überneh- Ohnmacht, die zu negativer Solidarisierung menden SaZ-2 - Soldaten der ehemaligen NVA — wie führt ... Versetzungen führen zu Wochenend- es in vielen Eingaben formuliert wurde — Soldaten ehen, diese nicht selten zu familiären Problemen. zweiter Klasse in der Bundeswehr machen würde. Betroffen seien vielfach heranwachsende Kinder, Man kann nicht eine gemeinsame Bundeswehr pro- die der Verlust sozialer Beziehungen und den klamieren, aber dann für eine Minderheit die Alters- Schulwechsel nur schwer ertrügen. versorgung auf 35 % beschneiden. Ich hoffe, daß dieser sozialpolitische Zündstoff ebenso wie die Mit Dr. Niermann stelle ich aber auch fest, daß sich gestrichene Übergangshilfe für zu entlassende SaZ- Vorgesetzte auf der Brigadeebene und darüber hin 2-Soldaten rasch geklärt und damit ein Wachsen der aus, auch schon auf der Bataillonsebene, redlich um 9420 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Wehrbeauftragter Alfred Biehle sozialverträgliche Lösungen für ihre Soldaten bemü- der Kontrolle dienlich und beugt einer Isolierung der hen. Streitkräfte vor. Letztlich ist die Friedenssicherung Die Übergeordneten entscheidenden Personalstel- eine Aufgabe aller Bürger, und sie kann nicht nur auf len sollten allerdings in Härtefällen öfter einmal eine Berufsarmee als „Sicherheitsagentur" abgescho- flexibel Hürden überspringen, wenn von unten her ben werden. Es darf jedenfalls keine Wohlstands- sozialverträgliche Lösungen angeboten werden, auch lösung geben nach dem Motto: Die einen genießen, wenn das nicht immer in das große Konzept paßt. und die anderen setzen ihr Leben ein. Lücken sollten jedenfalls schnellstens geschlossen (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der werden, um auch dem letzten Soldaten und seiner SPD) Familie endlich zu sagen, wo er künftig seinen Dienst- sitz haben wird. Die Entscheidung für die Wehrpflicht in der Bundes- republik Deutschland ist Bestandteil unserer Verfas- Die Militärseelsorge hat übrigens einen Stellenwert sung, ist im Grundgesetz verankert und damit demo- wie kaum zuvor. Das hat sich gerade bei den vielen kratisch legitimiert. Hieraus folgt, daß es nicht Auf- Einsätzen der Soldaten im Rahmen der UNO abseits gabe der Bundeswehr sein kann, gegenüber Bürgern, von Familie und Heimat gezeigt. In Ostdeutschland aber auch von Vorgesetzten gegenüber Untergebe- gibt es da leider noch — besonders in der evangeli- nen, ständig erneut die verfassungsrechtliche Legiti- schen Kirche — einige Hürden der Vergangenheit zu mation als Wehrpflichtarmee und ihre eigene Existenz überwinden. begründen zu müssen. Wenn etwas neu begründet (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Sehr werden muß — lassen Sie mich das ganz kritisch wahr!) sagen —, dann sind dies künftige neue Aufträge bzw. Aufgaben der Bundeswehr. Hier gibt es, was die Zum Personalstärkegesetz gab es nach dem Stand erforderlichen Klärungen angeht, dringenden politi- von September 17 172 Anträge. 12 308 wurden positiv schen Handlungsbedarf. beschieden. Hierzu liegen beim Wehrbeauftragten schon rund 400 Eingaben vor. Häufig wird darin ein Zur Wehrpflicht gehört natürlich auch die Wehrge- Mangel an Flexibilität kritisiert, da trotz terminlich rechtigkeit, die eigentlich mehr unter dem Stichwort befristeter ziviler Chancen oder Ausbildungsmöglich- Dienstgerechtigkeit zu sehen ist. Es sollte rasch dar- keiten keine vorgezogene Bearbeitung erfolgte. über nachgedacht werden, wie die 25 % junger Bür- Hinzu kommen Zweifel an der mit dienstlichem ger, die keinen Dienst in der Bundeswehr und keinen Bedarf begründeten Ablehnung oder Nichtberück- Zivildienst leisten, endlich auch in diesem Staat in die sichtigung persönlicher Belange. Pflicht genommen werden. Ich bin Herrn Staatssekretär Dr. Wichert sehr dank- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bar, daß er sich — wie er mir versichert hat — dieser Unter diese Rubrik gehört auch die Überprüfung Probleme besonders annehmen will. der Tauglichkeit. Ein Wehrpflichtiger, der zur Zeit Lassen Sie mich an dieser Stelle auch deutlich seinen Grundwehrdienst ableistet, schrieb mir dazu unterstreichen, daß ich ein engagierter Verfechter der sehr bildhaft: Wehrpflicht bin. In den Streitkräften mit allgemeiner Meine bisherigen Einschränkungen lauten: Wehrpflicht spiegeln sich meiner Meinung nach auch Keine belastenden Tätigkeiten für beide Hand- die Grundanschauungen der Gesellschaft wider. Die gelenke; kein Heben und Tragen von mehr als Wehrpflicht fördert zudem die Diskussion in der 10 kg; kein Knien oder Hocken, kein Marsch von Gesellschaft über die Sicherheitspolitik. mehr als 5 km, kein Laufen von mehr als 1 000 m; (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) keine Ball-, Sprung- oder Kampfsportarten. Einige meiner Vorgesetzten fragten mich: Was Unbeschadet der Tatsache, daß eine Berufsarmee wollen Sie denn bei der Bundeswehr? Das frag' unter Ausbildungs- und Kostengesichtspunkten bei ich mich mittlerweile selbst. Mein jetziger Tages- näherer Betrachtung nicht besser dastünde, liegen die ablauf besteht hauptsächlich aus Stubenhocken, für meine Überzeugung ausschlaggebenden Gründe und dazu habe ich keine Lust mehr. Weder zur Beibehaltung der Wehrpflicht in einem anderen Schieß- oder praktische Ausbildungsabschnitte Bereich: Jede Berufsarmee birgt die Gefahr eines darf ich mitmachen. Meine Kameraden finden Eigenlebens und eines Elitebewußtseins in sich, die das ziemlich übel. eine Entwicklung der Armee zum „Staat im Staate" hin vorantreiben könnte. Das Prinzip der Wehrverfas- Erfreulich ist auch aus meiner Sicht — es hat etwas sung, nämlich die Einbindung der Wehrpflichtarmee länger gedauert, hat aber funktioniert — die Wehr- in Staat und Gesellschaft, verhindert hingegen eine solderhöhung für alle Wehrpflichtigen ab 1. Oktober Isolierung der Streitkräfte. Wir haben ein Rotationssy- 1992 um 2 DM pro Tag und die anstehende Erhöhung stem: Zivilbürger — Staatsbürger in Uniform — wie- des Weihnachtsgeldes auf 450 DM; das Gesetz wird ja der Zivilbürger; und das hat sich hervorragend nachher noch in erster Lesung beraten. Dringend bewährt. fällig ist aber auch eine Überprüfung und deutliche Verbesserung des Unterhaltssicherungsgesetzes, ins- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der besondere auch zur Mietbeihilfe. Was sagt man denn SPD) einem 24jährigen Grundwehrdienstleistenden, der Dies fördert die Diskussion und die Auseinanderset- seine Wohnung in München, Hamburg oder einer zung, aber auch das Wissen der Gesellschaft um die anderen Stadt während seiner zwölfmonatigen Wehr- inneren Zustände der Bundeswehr. Selbst wenn nicht dienstzeit beibehalten und 900 DM Miete bezahlen immer ein erfreuliches Bild gezeichnet wird, ist dies muß, weil er sie sonst nachher nicht wieder bekommt? Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9421

Wehrbeauftragter Al fred Biehle Mit Miete und einigen anderen festen Ausgaben — so finanzielle Abfindungen der Wehrpflichtigen und schreiben mir Soldaten — haben sie am Ende ihrer schleppende Abwicklung beim Wehrbereichsgebühr- Wehrdienstzeit 4 000 bis 5 000 DM Schulden. Das nisamt VII zurückzuführen waren. kann doch nicht im Sinne des Erfinders sein! 1 141 Eingaben zur Menschenführung berühren (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der besonders das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und SPD) Untergebenen. Da ist jeder einzelne Fall einer zuviel, da muß noch sehr viel Dienstaufsicht hinzukommen. Unter Einschränkung großzügiger Einberufungs- Innere Führung muß immer wieder aufs neue als praxis aus den 80er Jahren muß der Wehrdienst für die Menschenführung von allen Dienstgraden vorgelebt Lebensplanung wieder überschaubarer werden. Dazu werden. ist, meine ich, rasch eine gesetzliche Reduzierung des Einberufungshöchstalters von 28 Jahren auf 25 Jah- Die Wehrübungsungerechtigkeit läßt neben der ren anzustreben, wie es jetzt administrativ auch schon auch hier oftmals gestellten Sinnfrage bei den Reser- gehandhabt wird. Die Einberufung sollte künftig im visten die Zahl der Eingaben um über 20 % steigen. Regelfall zum 19. Lebensjahr erfolgen, damit die Das hat seine Ursache sicherlich auch darin, daß der Wehrpflichtigen ihre berufliche Ausbildung verbind- Dienst der Reservisten nicht immer sinnvoll ist. Wenn licher planen können — auch im Blick auf die nach- man einen 42jährigen 22 Jahre nach Ableistung folgenden Reserveübungen, die auf vier Jahre à sechs seines Grundwehrdienstes zur Bundeswehr holt, und Tage beschränkt sein werden. zwar zu einer Einheit, in der er als Wehrpflichtiger seinen Dienst geleistet hat, und wenn er dann zum Die am 1. Juli begonnene Dienstleistung der ersten Kontrollieren der Ausweise und als Telefonist einge- 450 Wehrpflichtigen aus Westdeutschland in Ost- setzt wird, zu Hause aber sein Geschäft leidet, hat er deutschland wird das noch mangelhafte Verständnis sicherlich kein Verständnis für eine solche Reserve- für die Probleme in den fünf neuen Bundesländern übung. sicher erheblich verbessern. Immer wieder werden Mängel im musterungsärzt- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — lichen Dienst beklagt. Ich habe festgestellt — und das Zuruf von der SPD: Wer macht denn so einen war für mich überraschend —, daß innerhalb von drei Quatsch?) Jahren 1 733 Wehrpflichtige nach der Einstellungs- Nicht alles an Problemen der Bundeswehr, meine untersuchung bei der Truppe wieder nach Hause Damen und Herren, läßt sich in dieser Stunde abhan- geschickt wurden, weil bei den Musterungen in den deln. Ich habe bewußt einige Themen aktualisiert. Kreiswehrersatzämtern gesundheitliche Fehler über- Das übrige ist umfassend niedergelegt. Das Bundes- sehen worden waren. Ich halte das für untragbar. ministerium der Verteidigung hat umfassend zum Welch ein unnötiger Aufwand zur Einberufung, Ein- Jahresbericht Stellung bezogen und die darin enthal- kleidung und Wiederauskleidung bei der Truppe! tenen Vorkommnisse und Auffassungen auch weit- Hoffentlich sind Ausmusterungen und damit Freistel- gehend bestätigt. lungen vom Bundeswehrdienst nicht von gleichen Lassen Sie mich zum Schluß dem Verteidigungsaus- Fehlerquellen belastet. schuß und dem Parlament für die Unterstützung und Offiziere und Unteroffiziere haben eine große Ver- die gute Zusammenarbeit Dank sagen, Dank auch antwortung für die ihnen anvertrauten Wehrpflichti- dem Verteidigungsminister und seinen Mitstreitern. gen. Gerade jetzt mit den Ausuferungen des Rechts- Manche Themen wurden rasch aufgegriffen — ich extremismus in der freien Gesellschaft muß der staats- denke an die Gleichstellung ostdeutscher Wehrpflich- bürgerliche Unterricht mehr denn je auch in der tiger —, und das wurde dann auch parlamentarisch Bundeswehr höchste Priorität erhalten oder gar aus- sehr schnell umgesetzt. gedehnt werden. Dazu muß sich jeder Vorgesetzte trotz hoher Anforderungen an den militärischen Persönlich danken möchte ich auch meinen Mitar- Dienst die notwendige Zeit nehmen. beitern im Amt. Sie haben nicht nur im Hause selbst, sondern auch bei vielen Truppenbesuchen die einge- Sorgen bereitet mir die mangelnde Einbindung der forderte Aufgabe gut und hervorragend gemeistert. Funktion der Vertrauenspersonen besonders der Mannschaften durch Vorgesetzte. Nicht nur fehlende Dennoch, es bleibt noch viel zu tun. Die Freiheit und bzw. mangelhafte Einführung in das Amt oder auch die Sicherheit in Frieden sind es wert, daß wir uns die Bereitstellung von notwendigen Unterlagen, son- dafür täglich aufs neue einsetzen. Dank allen Soldaten dern auch die bis zur Mißachtung der Funktion der und Zivilbediensteten mit ihren Familien. Vertrauenspersonen gehende Einstellung erfordert Dank Ihnen allen, daß Sie mir so lange zugehört ein Umdenken vieler Vorgesetzter. Wir wollen doch haben. Gehorsam aus Einsicht und nicht Kadavergehorsam. (Beifall im ganzen Hause) Das bedeutet einfach Information vor Entscheidungen und das Gespräch mit dem Untergebenen und nicht nur Kenntnisnahme nach vollzogenen Entscheidun- gen. Da gibt es noch viele Lücken. Vizepräsident Hans Klein: Herr Biehle, Sie sind der Die Zahl der Eingaben beim Wehrbeauftragten ist Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages. Ich zwar formal rückläufig, aber gemessen am Maß der darf Ihnen und allen Ihren Mitarbeitern im Namen des bisherigen Reduzierung der Armee um über 10 % ganzen Hauses für die Vorlage des Berichts dan- steigend. Bei der Bundeswehr Ost entfallen 1 261 ken. Eingaben des Vorjahres, die auf unterschiedliche (Beifall im ganzen Hause) 9422 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Vizepräsident Hans Klein Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidi- wären weitreichende negative Auswirkungen auf die gung, Herr Volker Rühe. außenpolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands zu befürchten. Es ist aber nicht ausreichend, jetzt lediglich in Bundesminister für Verteidigung: Volker Rühe, europäischen Strukturen und Prozessen zu denken. Es Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! genügt nicht, für deren Entwicklung Programme zu Auch ich möchte gleich am Anfang dem Wehrbeauf- entwerfen. Was wir vordringlich brauchen, ist ein tragten, Ihnen, lieber Herr Kollege Biehle, sehr herz- ist das Verständnis der Deutschen lich für die gute Zusammenarbeit danken, vor allem Mentalitätswandel, für die veränderte Situation. Wer Sicherheitspolitik aber für die engagierte Art und Weise, mit der Sie sich nur in Abkürzungen erklärt, wie auch wir als soge- immer wieder für die Soldaten der Bundeswehr ein- nannte Experten das immer wieder tun, der muß gesetzt haben. Das ist auch als Dank an Ihre Mitarbei- wissen, daß er die Bevölkerung damit nicht erreicht. ter zu verstehen. Staat und Gesellschaft müssen zu einem gemeinsa- Der Bericht, den Sie vorgelegt haben, ist umfassend. men Verständnis finden, daß der Einsatz militärischer Er hat fast alle Themen angesprochen, die auch mich Macht für eine gerechte Sache möglich und gelegent- und das Bundesministerium der Verteidigung bewe- lich notwendig ist. gen. Ihre Erkenntnisse decken sich im wesentlichen mit unseren Beobachtungen. Wir prüfen Ihre Anre- Wir müssen uns daran gewöhnen, daß unsere Sol- gungen und werden die notwendigen Maßnahmen daten auch außerhalb der eigenen Grenzen einge- einleiten. setzt werden. Ich habe in einer der letzten Debatten schon deutlich gemacht, daß es für andere Länder in Der Wehrbeauftragte hat sich in dankenswerter den letzten vier Jahrzehnten ganz normal war, mit Weise den veränderten Rahmenbedingungen und der ihren Soldaten nach Deutschland zu kommen, um ihr Akzeptanz der Bundeswehr in Politik und Gesell- eigenes Land und das Bündnis in Deutschland zu schaft gewidmet. Fürsorge und Betreuung haben verteidigen. Jetzt kommen umgekehrt solche Auf ga- einen herausgehobenen Platz im Jahresbericht. Da ben auf uns zu. Europas Sicherheit braucht ein zwei- sich der Wehrbeauftragte gleichermaßen den aktuel- felsfreies deutsches Engagement. len politischen Fragen wie den praktischen Proble- men unserer Soldaten zuwendet, ist er eine wichtige, Wir wählen dabei nicht zwischen NATO und WEU. eine glaubwürdige Instanz für die Bundeswehr, für die Die Allianz und die europäische Integration sind kein Bundesregierung, für das Parlament, für die Öffent- Gegensatz, sondern sie ergänzen einander. Ich denke, lichkeit geworden. es wird sich bald zeigen, daß für das Euro-Korps eindeutige Unterstützungsverhältnisse geschaffen Die großen Veränderungen in Europa, aber auch werden. Je nach Lage werden NATO oder WEU über die Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Golf- diesen Verband verfügen können. konflikt machen es notwendig, Auftrag und Sinn unserer Bundeswehr intensiv zu diskutieren. Nur so (Walter Kolbow [SPD]: Na, na!) stellen wir die notwendige Akzeptanz her. Es kommt Damit erhalten die Allianz und Europa mehr Hand- darauf an, in den Grundfragen deutscher Sicherheits- lungsfähigkeit, und die Skeptiker, Herr Kollege Kol- politik und für den Auftrag der Bundeswehr eine bow, können sich beruhigt zurücklehnen, was Sie ja breite Übereinstimmung zwischen Politik, Gesell- schon getan haben. schaft und Streitkräften zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der (Heiterkeit) SPD) Von der Bevölkerung können wir auf Dauer nur Wir brauchen eine zukunftsweisende Sicherheits- Unterstützung erwarten, wenn alle wissen, was auf konzeption, die das Bewährte aus den Jahrzehnten uns zukommt. Die Bürger müssen verstehen, welche erfolgreicher Bündnispolitik mit der gebotenen Neu- Chancen und Risiken sich für deutsche Sicherheitspo- orientierung verbindet. litik künftig ergeben. Sie müssen verstehen lernen, auf welchen Tragpfeilern die europäische Sicher- Fragen der Sicherheitspolitik bewegen unsere heitsarchitektur ruht, welche Rolle die Bundeswehr Bevölkerung nicht mehr so wie zu Zeiten des Kalten für Europa, für die Allianz und neu für die Vereinten Krieges. Das Verständnis von Sicherheitsvorsorge Nationen spielen soll. hat sich gewandelt. Wir stehen in der bemerkenswer- ten Situation, daß einerseits der enorme Zugewinn an Deutschland kann sich auf Dauer nicht der Pflicht Sicherheit, der gerade Deutschland durch die Über- entziehen, auch an Operationen zur Wahrung und windung der Teilung, durch Abrüstung und durch Wiederherstellung des Weltfriedens und der interna- neue europäische Zusammenarbeit zugewachsen ist, tionalen Sicherheit teilzunehmen. in der öffentlichen Debatte schnell konsumiert ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Andererseits aber wird leicht verdrängt, daß es krisen- und konfliktträchtige Entwicklungen gibt, auf die wir Wir Deutschen müssen Schritt für Schritt Abschied unsere Sicherheitsvorsorge neu ausrichten müssen. nehmen von der uns selbst auferlegten Zurückhal- tung. Unsere Verantwortung für Europa und die Welt Parteien und Regierung müssen in dieser Situation wird andernorts außerhalb Deutschlands deutlicher zu einem Konsens in der Sicherheitspolitik finden, die den geänderten außen- und sicherheitspolitischen formuliert als im eigenen Lande. Bedingungen entspricht. Sie muß die Interessen unse- Deutsche Soldaten brauchen ein neues Selbstver- res Landes ebenso berücksichtigen wie die Ängste, ständnis. Die Herausforderungen der Zukunft verlan- die Gefühle und die Sehnsüchte unseres Volkes. Sonst gen ein anderes Militär. Die Mission des Soldaten im Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9423

Bundesminister Volker Rühe 21. Jahrhundert wird heißen: schützen, retten, helfen. nen. Dabei wird die Bundeswehr in Zukunft noch Ich stimme daher mit dem Wehrbeauftragten unein- mobilmachungsabhängiger. Deshalb hat Entwick- geschränkt überein und greife seine Forderungen an lung und Regeneration eines motivierten und gut Parlament, Politik und staatliche Bildungseinrichtun- ausgebildeten Reservistenpotentials einen hohen gen auf. Es gilt zu verdeutlichen, daß Frieden in Stellenwert. Freiheit für uns Deutsche, aber auch für alle Europäer davon abhängen, daß Sicherheit und Stabilität in Europa, an der Peripherie zu Europa und in anderen Vizepräsident Hans Klein: Herr Minister, gestatten Regionen der Welt zu gewährleisten ist. Sobald wir die Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin? erforderlichen rechtlichen, politischen und militäri- schen Voraussetzungen geschaffen haben, werden Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: wir uns auch an Friedensmissionen der Vereinten Ja. Nationen beteiligen. Für solche Einsätze sollen alle Berufs- und Zeitsoldaten herangezogen werden kön- nen. Wehrpflichtige — und da sind wir uns einig, Herr Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Minister, nachdem Wehrbeauftragter — sollen in den dafür vorgesehe- Sie eben von der Brücke zum Volk sprachen: Wie nen Verbänden nur auf Grund freiwilliger Meldung würden Sie es denn beurteilen, daß in Belgien und eingesetzt werden. Holland jetzt die Wehrpflicht abgeschafft wird? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: Das Wobei ich auf Grund der Erfahrungen, die wir z. B. mit muß jeder für sich selbst beurteilen. Ich will da nicht den Freiwilligenmeldungen für den Einsatz in Kam- hereinreden. Aber für Deutschland ist das die einzig bodscha gemacht haben, überhaupt keinen Zweifel richtige Entscheidung. habe, daß es mehr Meldungen als Plätze geben wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aber dennoch ist das genau das richtige Prinzip für Wehrpflichtige. Ich bin, wie gesagt, dankbar, daß der Parteitag anders entschieden hat, als Sie das vorhatten. Die Bundeswehr steht in einem tiefgreifenden Der Wehrbeauftragte hat eine Reihe von Problemen Umbruch. Einige möchten in dieser Phase auch noch für die Fürsorge und die Betreuung angesprochen. Ich die Freiwilligenarmee einführen. Ich will nicht nach- stimme den meisten seiner Beobachtungen zu. Ich bin treten, denn die verantwortungsbewußten Kollegen mir bewußt, daß wir gerade in der nächsten Zeit vor von der F.D.P. haben auf ihrem Parteitag schon in allem Investitionen für die Menschen brauchen, für hervorragender Weise für eindeutige Beschlüsse bessere Lebens- und Dienstbedingungen. Probleme gesorgt. bei Standortverlegungen, der Wohnungssituation (Zuruf von der F.D.P.) oder auch bei der Personalstruktur werden vorrangig Aber ich bin trotzdem dankbar, daß der Wehrbeauf- angepackt, vor allem aber auch der Nachholbedarf in tragte hier auch noch einmal ein klares Wort zur den neuen Bundesländern. Wehrpflicht gesagt hat. Denn die Debatte in der F.D.P. Fürsorge und Betreuung hat eine ideelle und eine ist ja nicht künstlich — ein bißchen schon —, materielle Seite. Es kommt jetzt darauf an, daß sich die (Heiterkeit) Vorgesetzten in besonderem Maße den Problemen der Mitarbeiter stellen. Man kann es nicht oft genug aber sie spiegelt natürlich eine Diskussion in der wiederholen: Führen heißt zuallererst, sich kümmern. Gesellschaft wider. Deswegen ist es richtig, daß wir Dies gilt auch für die Familien unsere Soldaten. Sie auch hier die Argumente deutlich machen. tragen große Belastungen klaglos mit. Wir alle wissen, (Walter Kolbow [SPD]: Die Opposition ist daß ein solches Verhalten keine Selbstverständlich- hier, Herr Minister! — Heiterkeit) keit mehr in unserer Gesellschaft ist. Deswegen ver- dient diese Solidarität der Familien unsere Anerken- — Gut, daß Ihr das immer wieder deutlich macht. Aber nung und unseren Respekt. ich freue mich, daß es in diesen Fragen gerade unter (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. den großen Parteien stabile Verhältnisse gibt. Deswe- sowie Abgeordneten der SPD) gen habe ich auch gar nicht gezittert um den Parteitag in Bremen herum. Die Herausforderungen militärischen Dienstes sind nämlich ohne den Rückhalt durch die Familien nicht Wer die Freiwilligenarmee einführen will, über- zu bewältigen. Die Motiviation und die Einsatzbereit- spannt den Bogen. Er würde die Bundeswehr überfor- schaft unserer Soldaten hängen nicht zuletzt davon dern, so daß sie in Gefahr wäre, daran zu zerbre- ab, wie es um ihre Familien bestellt ist. Ich werde chen. deshalb der wachsenden Bedeutung der Familie Es ist eben schon deutlich geworden: Wir wollen einen wesentlichen Teil meiner Aufmerksamkeit und keine deutschen Streitkräfte, die Fremdkörper im damit auch der Arbeit widmen. eigenen Lande sind. Die Verankerung unserer Bun- Der Standortwechsel, also die Versetzung, wird in deswehr im Bewußtsein der Bevölkerung ist von ganz den kommenden Jahren eher die Regel sein als das entscheidender Bedeutung, und die Wehrpflicht ist Verbleiben am Standort. Die dramatische Lage am eine Brücke zwischen Volk und Armee. Deswegen Wohnungsmarkt ist bekannt. Trotz aller Anstrengun- muß die Bundeswehr eine Wehrpflichtarmee bleiben. gen wird es auch in naher Zukunft nicht gelingen, in Ihre Struktur wird so ausgelegt, daß auch Grundwehr- ausreichendem Maße familiengerechten und bezahl- dienstleistende einen sinnvollen Dienst ableisten kön- baren Wohnraum verfügbar zu machen. Bei allen 9424 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Bundesminister Volker Rühe Personalmaßnahmen kommt daher der Wohnungs- seiner Rede — ich möchte sagen — sich mehr in fürsorge besondere Bedeutung zu. philosophischen Betrachungen ergangen hat

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zurufe von der CDU/CSU: Das muß auch Deswegen haben wir das erste Mal in der Geschichte sein! — Das können wir von Ihnen leider des Verteidigungshaushalts hier einen eigenen Titel nicht erwarten!) eingeführt über das hinaus, was der Wohnungsbaumi- nister zu tun hat. Den Soldaten und ihren Familien soll und die eigentlichen Probleme mit der Bemerkung: ein Standortwechsel ermöglicht werden, ohne daß „ Wir werden ihre festgestellten Mängel und Anregun- ihnen Einbußen an Wohn- und Lebensqualität abver- gen überprüfen und nach Lösungsmöglichkeiten langt werden. suchen" nur gestreift hat. In der Spannung zwischen begrenzten Mitteln für Herr Wehrbeauftragter, Sie haben das, was Sie hier Investitionen und Bet rieb müssen die verfügbaren vorgetragen und was Sie in Ihrem Bericht ausgeführt Mittel so rationell wie möglich für die Bundeswehr der haben, engagiert gemacht. Sie haben damit erneut Zukunft eingesetzt werden. den Nachweis dafür erbracht, daß Sie der Wehrbeauf- Neben der materiellen Qualität brauchen unsere tragte des Deutschen Bundestages sind und nicht der Streitkräfte moralische, geistige und vor allem profes- Wehrbeauftragte einer Koalition oder gar einer Bun- sionelle Qualitäten. Qualität zieht junge Menschen desregierung. Dafür danken wir Ihnen ganz beson- an, die ihr gewachsen sind. Wer hohen Anforderun- ders. gen nicht gewachsen ist, der wird sich abwenden. Wer sich heute aber entscheidet, in die Bundeswehr ein- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste zutreten, wer bereit ist, Verantwortung zu überneh- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und men, der hat große Chancen und auch großartige der F.D.P.) Aufgaben vor sich. Er dient unserem Land und seinen Bürgern. Und manchen, die nach der Motivation Wir danken Ihnen auch dafür, daß Sie den Mut gehabt fragen, fällt es jetzt auf Grund der tragischen Ereig- haben, in einer kritischen Zeit die Dinge so deutlich nisse, die man jeden Abend am Fernsehschirm sehen anzusprechen, wie sie angesprochen werden mußten. kann, ganz leicht zu verstehen: Nur wer Streitkräfte Der Dank, den ich hier ausspreche, gilt natürlich auch hat und wer einem Bündnis angehört, mit dem wird Ihren Mitarbeitern, die Ihnen Tag für Tag zuarbeiten nicht so umgegangen, wie leider in Jugoslawien mit müssen. den Menschen umgegangen wird. Ich glaube, daß deswegen immer mehr Bürger auch spüren, welchen Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten hatte tra- Dienst tagtäglich die Streitkräfte im Bündnis für sie ditionell immer den Charakter eines Mängelberichts, leisten. weil er sich vornehmlich auf den Inhalt und die Zahl der eingegangenen Eingaben stützen muß. Diejeni- Der Soldat in der Bundeswehr dient unserer Frei- gen, die ein wenig Einblick in die Eingabenvielfalt heit. Er hilft mit, eine bessere und eine friedlichere und in die Inhalte der meisten Eingaben haben Zukunft zu gestalten. Es gibt diese Männer und durften, werden mir zustimmen, daß wenig Erfreuli- Frauen, es gibt sie schon heute, überall in der Bundes- ches in Schriftform an den Wehrbeauftragten des wehr. Ich denke, Sie werden mir alle zustimmen, daß Deutschen Bundestages herangetragen wird. Das war wir stolz auf sie und ihre Arbeit sein können. in den vergangenen Jahren so, und so ist es auch im Vielen Dank. Berichtsjahr 1991 gewesen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Man könnte also sagen: Kein Grund zu besonderer Beunruhigung, wäre da nicht die Zahl von 9 864 Eingaben! Das ist die zweithöchste Zahl in 33 Be- richtsjahren. Auch wenn Sondereinsätze der Bundes- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Alfred Stei- wehr im Rahmen des Golfkrieges die Zahl der Einga- ner, Sie haben das Wort. ben an den Wehrbeauftragten erhöht haben, so ist das nicht der eigentliche Grund für diese Fast-Rekord- marke. Vielmehr machten die in den Eingaben formu- lierten Sorgen, Ängste und Beschwerden die Unzu-

Heinz-Alfred Steiner (SPD): Herr Präsident! Meine friedenheiten der Soldaten deutlich, die zur Zeit die sehr verehrten Damen und Herren! Wie schon in wohl einmalige und schwierigste Umbauphase in der Ihrem letzten Jahresbericht haben Sie, Herr Wehrbe- Geschichte der Bundeswehr durchmachen müssen. auftragter, auch in Ihrem Bericht für das Jahr 1991 ein wirklich zutreffendes Bild über die Ihnen bekanntge- Viele Soldaten und zivile Mitarbeiter fühlen sich wordenen Mängel innerhalb der Bundeswehr, über und fühlten sich in den vergangenen Jahren lediglich Probleme im Verhältnis zwischen politischer und administriert, aber nicht geführt. Sie waren nicht oder militärischer Führung, über den allgemeinen Zustand schlecht informiert und fühlten sich deshalb häufig der Bundeswehr und über Fehlentwicklungen in der auch angeschmiert. Sie wurden nicht wie Staatsbür- Planungsphase für den Umbau der Bundeswehr ger in Uniform behandelt, sondern wie Marionetten gezeichnet. Sie haben das dankenswerterweise heute verplant und eingesetzt, und sie fühlten sich häufig noch aktualisiert. Ich glaube, damit haben Sie auch auch als Verfügungsmasse. Ich denke da insbeson- die Themen angesprochen, die unsere Soldaten wirk- dere auch an Ihre kritischen Anmerkungen, die Sie, lich berühren, während der Herr Minister hier in Herr Wehrbeauftragter, zu Recht gemacht haben, als Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9425

Heinz-Alfred Steiner die Soldaten für einen Einsatz in der Türkei bereitge- Dabei wäre es gerade in dieser so schwierigen stellt worden sind. Umbruchphase besonders wichtig, den ernsthaften — ich sage hier wirklich: den ernsthaften — Versuch (Sehr richtig! bei der SPD — Zuruf von der zu unternehmen, einer gefährlichen Dissonanz bei der CDU/CSU: Das muß man differenziert Festlegung der zukünftigen Aufgabenstellung für betrachten!) unsere Streitkräfte durch koalitionsübergreifende Gesprächsrunden entgegenzuwirken. Es ist müßig, hier noch eine nachträgliche Abrech- nung mit dem damaligen Amtsinhaber vornehmen zu (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Dann wollen. Das möchte ich uns ersparen, weil es auch für müssen Sie flexibler werden, Herr Kollege die Zukunft wenig hergibt. Ich habe aber diese Steiner!) wenigen Bemerkungen machen müssen, um zu ver- deutlichen, daß sich ein neuer Berichtszeitraum mit Ich habe die große Sorge, Herr Kollege Dr. Altherr, neuen Verantwortlichen für die Bundeswehr in sei- daß wir uns durch immer neue naßforsche, gegensei- nem letzten Quartal befindet. Im nächsten Jahr wer- tige Unterstellungen langsam, aber sicher auseinan- den Sie, Herr Minister Rühe, hier auf dem Prüfstand derdividieren, so daß der zu Beginn der 50er Jahre, stehen und Rechenschaft abzulegen haben. Sie wer- d. h. zu Beginn unserer Demokratie, gefundene, müh- den dann darlegen müssen, ob Sie in der Lage waren sam erreichte Grundkonsens in sicherheitspoliti- — wie Sie es heute angekündigt haben —, die schen Fragen dabei unter die Räder kommen angelaufenen Fehlentwicklungen zu stoppen, den könnte. aufgezeigten Handlungsbedarf abzudecken und grobe Mängel zu beseitigen. Ich glaube, obwohl der (Zuruf von der CDU/CSU: Es gab schlimmere Verschleiß an Ministern und Staatssekretären im Zeiten!) Verteidigungsministerium in den letzten Jahren — in Genauso wichtig wie die Pflege des Grundkonsen- den letzten zehn Jahren, muß ich sagen -- erheblich ses zwischen den Parteien ist die Rücksichtnahme auf war, haben Sie zumindest statistisch die gute Chance, die Befindlichkeiten unserer Bevölkerung zu den zu dem nächsten Jahresbericht des Wehrbeauftragten sicherheitspolitischen Feststellungen und Fragestel- für das Jahr 1992 als Verteidigungsminister Stellung lungen. Daß unsere Bürger sensibler sind, als wir es zu nehmen. Es wird von Ihrer Führungsqualität häufig unterstellen, haben der Golfkonflikt und die abhängen, ob es der Wehrbeauftragte in seinem große Zahl der damit zusammenhängenden Eingaben nächsten Jahresbericht bei Mahnungen belassen von Soldaten an den Wehrbeauftragten gezeigt. kann oder ob er und wir offene Kritik an der Amtsfüh- rung und den Entscheidungen des Verteidigungsmi- Ich meine: Tagespolitische Auseinandersetzungen nisters üben müssen. Bisher ist es ihm jedenfalls noch müssen sein; aber diese dürfen das parallel dazu zu nicht überzeugend gelungen, auf die veränderten führende Gespräch zwischen den Fraktionen nicht Rahmenbedingungen, mit denen unsere Soldaten und ausschließen, Gespräche mit dem Ziel, Gemeinsam- ihre Familien ebenso wie die zivilen Mitarbeiter der keiten auszuloten und Gegensätze abzubauen, auch Bundeswehr fertigwerden müssen, plausible Antwor- in ganz praktischen Fragen, wie wir das in dieser ten zu geben oder gar ein klares Konzept für die Woche auch im Verteidigungsausschuß des Deut- Zukunft der Bundeswehr zu entwickeln. Sie haben ja schen Bundestages erfolgreich praktiziert haben. eben selbst noch darauf hingewiesen, daß Sie da noch in einer Phase sind, die möglicherweise als Ermuti- Ich hätte mir einen konstruktiven Gedankenaus- gung aufgefaßt werden kann, daß Sie das doch noch tausch über die zukünftigen Aufgaben der Streit- zustande bringen. kräfte, über die Stationierungsplanung, zum Thema „Truppenübungsplatz-Konzept" und über die Perso- An dieser Aussage ändert sich auch nichts, wenn Sie nal- und Organisationsstruktur für den militärischen jetzt die mutige Entscheidung getroffen haben, einen und für den zivilen Teil der Bundeswehr gewünscht, bereits toten Jäger 90 dann auch noch öffentlichkeits- und zwar bevor Entscheidungen getroffen sind oder wirksam zu beerdigen. Sie haben von Ihrem Amtsvor- bevor die koalitionsinterne Abstimmung abgeschlos- gänger eine abenteuerliche Standortplanung sowohl sen ist. für die militärische als auch für die zivile Komponente unserer Bundeswehr — wie es scheint: kritiklos — (Zuruf von der CDU/CSU: Aber die SPD- übernommen, und Sie sind dabei, mit der Truppenü- Ministerpräsidenten waren ganz froh dar- bungsplatz -Konzeption zumindest für den Bereich über!) der neuen Bundesländer der Bundeswehr eine wei- tere — und ich glaube: nicht leichte — Hypothek Ich bin sicher: Jeder öffentliche Streit über die aufzuladen. Bundeswehr schadet unserer Bundeswehr und scha- det ihren Soldaten in dieser wirklich schwierigen Und Sie schauen eher zu, wie weiter an einer Umbruchphase. Wer wie Sie, Herr Minister — dann konkreten Aufgabenstellung für die Bundeswehr überfallartig für bereits getroffene Entscheidungen gebastelt wird, und setzten uns alle damit der Gefahr unsere Zustimmung einfordert, der wird nicht ent- aus, daß der Grundkonsens in sicherheitspolitischen täuscht sein dürfen, wenn wir diese Zustimmung, die Fragen zwischen den staatstragenden Parteien weiter überfallartig angefordert wird, nicht geben können. beschädigt werden könnte. Es hilft auch nicht weiter, wenn Sie — wie Sie das heute wieder demonstriert haben — nach außen den (Zuruf von der CDU/CSU: Hat Ihnen das Frau Eindruck vermitteln, als gäbe es einen hinreichend Zapf aufgeschrieben?) großen Gedankenaustausch zwischen dem Verteidi- 9426 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Heinz-Alfred Steiner gungsminister und der SPD-Bundestagsfraktion. Den täuscht wären, würde ihr eindeutiges Votum bei den gibt es nämlich zur Zeit noch nicht. Regierenden keine Beachtung finden. (Zuruf von der CDU/CSU: Aber den Ham- (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ burger kleinen Dienstweg gab es!) Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN ) Dabei wäre es so wichtig und nützlich, auch zu den vom Wehrbeauftragten in seinem Jahresbericht ange- Der Wehrbeauftragte hat in seinem Jahresbericht sprochenen konkreten Problemen gemeinsam nach zu Recht die völlig unzureichende Wohnungsfürsorge Lösungen zu suchen. Da genügt es nicht, die 33. Kom- für die Angehörigen der Bundeswehr angesprochen, mandeurtagung der Bundeswehr unter das Motto zu und Sie sind auch darauf eingegangen. Statt bisher- stellen: „Wandel und Aufbruch — Bundeswehr: Streit- etwa 11 000 Versetzungen im Jahr werden im Rah- kräfte der Einheit". Was damit gesagt werden soll, men der Umstrukturierung wahrscheinlich zwischen muß durch praktisches, politisches Handeln glaub- 20 000 und 30 000 Soldaten mit eigenem Hausstand würdig gemacht werden. Dazu paßt der Kabinetts- jährlich versetzt werden. Das bedeutet, daß bis Ende beschluß, mit dem das Ruhegehalt für die Soldaten der 1994 eine Versetzungswelle in Gang gesetzt wird, von ehemaligen NVA geregelt ist, die jetzt als Berufssol- der allein in den alten Bundesländern 25 000 Offiziere daten in die Bundeswehr übernommen werden, nicht. und 87 000 Unteroffiziere mit ihren Familien betroffen So darf man nicht mit den Menschen umgehen, von sein werden. Diese Situation kann man nicht häufig denen treuer Dienst für unsere Bundeswehr erwartet genug schildern. Sie ist auch darauf zurückzuführen, wird. daß wir in den zurückliegenden Jahren im Bereich der (Beifall bei der SPD) Wohnungsfürsorge viel zuwenig getan haben. Jetzt kommen durch die Umstrukturierung der Bundes- So schafft man keine Streitkräfte der Einheit, so trägt wehr noch Versetzungen hinzu, und das bei einer man höchstens sozialpolitischen Zündstoff in unsere angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt. Wir Streitkräfte. Das wird ihnen nicht guttun. bringen die Soldaten mit ihren Familien in eine Der Wehrbeauftragte wird mir zustimmen, wenn ich unzumutbare Situation. Ich muß denen recht geben, hier eine die Besonderheiten des militärischen die heute schon von Streitkräften der getrennten Dienstes berücksichtigende Regelung anmahne. Ich Familien sprechen. Es rächen sich die Fehler der verlange keine Privilegien für Soldaten. Ich bin aber Vergangenheit, die zu den erheblichen Versäumnis auch nicht dazu bereit, Schlechterstellungen von sen hinzukommen. Wir werden auch bei all den Soldaten gegenüber vergleichbaren Gruppen unserer Anstrengungen, die jetzt unternommen werden und Gesellschaft hinzunehmen. die ich begrüße, in den kommenden Jahren noch nicht zu einer spürbaren Entlastung kommen. (Claire Marienfeld [CDU/CSU]: Richtig!) Nun ließe sich an den Standorten, in denen kurzfri- Wer Streitkräfte der Einheit schaffen will, benötigt stig Wohnungen der Alliierten frei werden, eine dazu auch die Zustimmung der Menschen außerhalb bessere Wohnungsversorgung erreichen, würde zu- der Bundeswehr, der Menschen in unserer Republik. mindest ein Teil dieser Wohnungen vom Finanzmini- Sie, Herr Minister, haben selbst den Maßstab dazu ster für die Besetzung durch Angehörige der Bundes- vorgegeben. Im ersten Beratungsdurchgang zum wehr freigegeben. Ich zitiere jetzt aus einem Schrei- Truppenübungsplatzkonzept haben Sie gesagt: „Ich ben des Finanzministers an den Deutschen Bundes- werde bei meinen Entscheidungen die Befindlichkeit wehr-Verband vom 5. Februar: „Der Bundeswehr der Bevölkerung berücksichtigen.... Jede Brachial- mußte in ihrer Aufbauphase ein gewisser Vorrang entscheidung erschüttert das Vertrauen in die Demo- eingeräumt werden. Nachdem diese Aufbauphase kratie, weil es eine Entscheidung gegen den aus- jetzt jedoch abgeschlossen ist, besteht kein Anlaß drücklichen Mehrheitswillen der Bevölkerung ist." mehr dazu, Bundeswehrangehörigen bei der Woh- nungsvergabe einen Vorrang einzuräumen." Was (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das ist mag Herr Waigel sich wohl dabei gedacht haben, als doch ein Kompromiß!) er diesen Brief unterschrieben hat? Herr Minister Rühe, ich möchte Sie bitten, mit Ihrem Kollegen Wenn man diesen selbst auferlegten Maßstab an einmal eindringlich darüber zu sprechen, daß er Ihre Entscheidung, den Truppenübungsplatz Colbitz- zuzugestehen hat, daß wir uns in einer Phase befin- Letzlinger Heide weiter militärisch nutzen zu wollen, den, die unvergleichlich schwieriger ist als die Phase, anlegt, kann man nur zu dem Ergebnis kommen, daß von der er hier gesprochen hat. der Maßstab inzwischen verbogen ist. Dort haben sich vier Anliegerkreise des Truppenübungsplatzes und Auch die Beteiligungsrechte für Soldaten gehören der Landtag von Sachsen-Anhalt mit guten Argumen- nach wie vor zu den Kritikpunkten im Be richt des ten gegen eine weitere militärische Nutzung ausge- Wehrbeauftragten. In seinem Bericht für das Jahr 1990 sprochen, zusätzlich unterstützt von 102 Gemeinde- hatte der Wehrbeauftragte darauf hingewiesen, daß vertretungsbeschlüssen. Ich wiederhole, was ich dazu das Ende 1990 verabschiedete Gesetz über die Betei- schon im Verteidigungsausschuß gesagt habe: Neh- ligung der Soldaten und der Zivildienstleistenden men Sie die Willensäußerung der Menschen in dieser einen Kompromiß darstellen würde. In diesem Jahr Region bitte nicht auf die leichte Schulter. Es sind enthält sein Bericht Anmerkungen darüber, daß bei Menschen, die nach Jahrzehnten der Diktatur jetzt der Umsetzung und der Auslegung des Soldatenbetei- von ihrem demokratischen Recht erstmals Gebrauch ligungsgesetzes offenbar teilweise erhebliche gemacht haben und ihre Meinung artikuliert haben, Schwierigkeiten bestehen. Insbesondere treibt den die Beschlüsse gefaßt haben und die maßlos ent- Wehrbeauftragten die Sorge um, daß die Beteili- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9427

Heinz-Alfred Steiner gungsrechte nicht in dem gebotenen Umfang wahrge- Auffassung, Herr Steiner, daß diese prekäre Woh- nommen werden können. Diese Einschätzung bekräf- nungssituation seit langer Zeit absehbar gewesen ist. tigt nur die Kritik der SPD an diesem Gesetz, die ich Ich kann mich erinnern, daß es vor etwa drei bis vier bereits bei der Debatte über den letzten Bericht des Jahren noch Hunderte leerstehender Wohnungen in Wehrbeauftragten hier geäußert habe. Das soge- der Region gab und daß diese Verschärfung erst in der nannte Streitkräftebeteiligungsgesetz läßt sich noch jüngsten Zeit, etwa in den letzten zwei Jahren, einge- nicht einmal als Kompromiß bezeichnen. Es ist ein treten ist. Im Wohnungsbaubereich muß ja längerfri- Zaun, gebaut von Ihrem Vorgänger, Herr Minister, um stig geplant werden. unsere Soldaten von der gesellschaftlichen Normalität (Heinz-Alfred Steiner [SPD]: Diese Wohnun- - fernzuhalten. gen hatten auch einen schlechten St andard; Nicht zuletzt befaßt sich der Wehrbeauftragte in deshalb wurden sie nicht genommen! — seinem Bericht auch kritisch mit den Fragen der Zuruf von der CDU/CSU: Das war Neue Wehrgerechtigkeit. Die Verfahrensweise, nur noch in Heimat!) Ausnahmefällen Wehrpflichtige über 25 Jahre einzu- berufen, hält er für verfassungsrechtlich bedenklich. — Das ist unterschiedlich zu sehen. Jedenfalls gab es Wir übrigens auch. Auch hier gelte es, so der Wehr- eine ganze Menge leerstehender Wohnungen. beauftragte, den Wehrpflichtigen mehr Sicherheit in Wir sind jetzt natürlich aufgefordert, in dieser ihrer beruflichen und Lebensplanung zu geben. Die schwierigen Lage Lösungen zu finden. Deshalb ist es SPD teilt diese Kritik des Wehrbeauftragten und sehr dankenswert — auch darauf hat Herr Steiner schließt sich seiner Forderung nach Herabsetzung des hingewiesen —, daß wir durch die Zusammenarbeit gesetzlichen Einberufungshöchstalters uneinge- aller Fraktionen jetzt in der Lage sind, gemeinsame schränkt an. Wir werden hierzu eine Gesetzesinitia- Anträge vorzulegen. tive ergreifen. In diesem Zusammenhang ist zunächst einmal die Der Bericht des Wehrbeauftragten macht deutlich, Einführung einer Ballungsraumzulage zu erwähnen, daß sich die Probleme der Bundeswehr nachhaltig durch die dem gestiegenden Mietpreisniveau in den verändert haben. Besorgnis bereitet uns nicht — wie in dichtbesiedelten Regionen insbesondere der Groß- vielen Jahren zuvor —, daß das Verhalten einiger städte Rechnung getragen werden soll. Nur so können unqualifizierter Vorgesetzter vielleicht zu Beschwer- zu versetzende Soldaten die Mieten noch tragen. Die den Anlaß gegeben hätte. Besorgnis bereiten uns die Soldaten brauchen eine monatliche Zulage, die eine zunehmenden Defizite, insbesondere auch bei der gänzlich andere Wirkung hat als die jetzt bewilligte politischen Führung. Spätestens bei der Debatte des Einmalzahlung. Wehrbeauftragtenberichts in diesem Jahr ist deutlich Gerade den jüngeren Familien mit Kindern, deren geworden, daß hier Handlungsbedarf auf vielen Bezüge noch nicht sehr hoch sind, deren finanzielle Feldern besteht, auf Feldern, die nur gemeinsam Belastungen aber gerade jetzt durch Zusatzaufgaben beackert werden können. I lerr Minister, Sie werden für Kinder hoch sind, muß damit geholfen werden. Der bei der Debatte des Wehrbeauftragtenberichts für das junge Soldat muß die Chance haben, etwas für seinen Jahr 1992 daran gemessen werden, ob es Ihnen beruflichen Werdegang zu tun, aber auch seiner gelungen ist, verhängnisvolle Entwicklungen zu stop- Familie die Möglichkeit zu bieten, auch in Großstäd- pen und die Altlasten Ihres Vorgängers zu beseiti- ten vernünftig zu leben. gen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl, Mutter (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ Courage!) Linke Liste und dem BÜNDNIS 90/DIE GRU NEN — Paul Breuer [CDU/CSU]: Nur zum Unsere Vorstellung ist, daß sich die Höhe der zu Teil gut!) gewährenden Zulage am Nettoeinkommen der betreffenden Soldaten im Verhältnis zum Mietpreisni- veau ausrichtet. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Claire Marienfeld, ich erteile Ihnen das Wort. Mit einem weiteren Antrag, der von der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD eingebracht worden ist, reagieren wir auf eine Forderung des Wehrbeauftrag- Claire Marienfeld (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich in mei- ten nach Erhöhung der Fördersätze für Familien- nem Redebeitrag vor allem auf den Teil des Berichts heime. Diese Fördersätze sollen nach unserem Willen des Wehrbeauftragten stützen, der die Versorgung auf einen zinsgünstigen Darlehensbetrag von der Soldaten im weitesten Sinne zum Inhalt hat und 75 000 DM angehoben werden. Wer an der Notwen- den ich gerade im Hinblick auf die Personalfürsorge digkeit dieser Maßnahme noch zweifelt, den mag der für sehr wichtig halte. Hinweis überzeugen, daß seit 1971 bis jetzt ein Be trag von 35 000 DM gilt. Ich denke, in dieser Zeit hat sich Da ist zum einen der Bereich der Wohnungsfür- eine Menge getan. Die Erhöhung ist nur recht und sorge. Der Wehrbeauftragte weist darauf hin, daß wir billig. durch die Umstrukturierung der Bundeswehr einer höheren Versetzungsquote gegenüberstehen. Herr (Paul Breuer [CDU/CSU]: Das wollen alle Steiner hat die Zahlen eben schon genannt. Vernünftigen!) Die Verschärfung der Wohnungssituation im allge- Wir wollen damit auf die gestiegenen Grundstücks- meinen trifft auch unsere Soldaten. Auch davon hat und Baupreise reagieren. Auch einer ganz besonde- Herr Steiner gesprochen. Ich teile allerdings nicht Ihre ren Nachfrage in den neuen Bundesländern nach 9428 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Claire Marienfeld Offizieren, die von West nach Ost versetzt werden, soll Bau von Wohnungen in den neuen Bundesländern damit Rechnung getragen werden. deutliche Zeichen gesetzt. In einem weiteren Punkt entsprechen alle im Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) teidigungsausschuß vertretenen Fraktionen den Auch durch die Neufassung der Vergaberichtlinien Wünschen des Wehrbeauftragten. Dabei handelt es haben sich die Bedingungen verbessert. sich um die Bereitstellung eines festen Kontingents von frei werdenden Wohnungen für die Bundeswehr Kurzum: Das BMVg kann die erforderlichen Kraft- beim Abzug der ausländischen Streitkräfte. anstrengungen — ich habe vorhin schon darauf hin- gewiesen — nicht allein erbringen; wir brauchen- die Insbesondere in Berlin, wo ein be trächtlicher Teil Mitwirkung der Bundesbauministerin und des Bun- von Wohnungen an den Bundesfinanzminister desfinanzministers. Besondere Verhältnisse erfordern zurückfällt, ist dieses Bestreben realistisch. auch ein besonderes Handeln. (Paul Breuer [CDU/CSU]: Da müssen wir die Im Rahmen eines weiteren Beitrags geht der Wehr- Bundesvermögensverwaltung auf Trab brin beauftragte in seinen persönlichen Anmerkungen auf gen!) die großartigen Leistungen der Bundeswehr im humanitären Bereich ein. Der Einsatz unserer Solda- Hier muß durch eine Begrenzung der Grundmiete bei ten in der Türkei und im Iran hat international größeren Wohnungen bezahlbarer Wohnraum bereit- Anerkennung gefunden. gestellt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Eine weitere Möglichkeit, Umzüge zu vermeiden Der Verteidigungsausschuß konnte sich in einer — das ist mir häufig vorgetragen worden; ich denke, Anhörung durch betroffene Soldaten über die hohe das gilt auch für den Wehrbeauftragten —, ist die Motivation und den enormen Einsatzwillen informie- Planung von zwei Verwendungen von Soldaten, und ren, und er hat dies auch honoriert. Ich denke noch an zwar dann, wenn erkennbar ist, daß die zweite Ver- die Ausschußsitzung zurück, in der wir alle von den wendung wieder in die frühere Region zurückführt. In Schilderungen der Soldaten sehr betroffen waren. solchen Fällen könnte die Familie gleich am ersten Wohnort verbleiben. Gerade für Familien mit Kin- Nicht minder ist der Einsatz unseres Sanitätsdien- dern, die bei Umzügen schwere Lasten zu tragen stes bei der Unterstützung der UNO - Soldaten in haben, weil es zum Schulwechsel kommt, weil Kambodscha zu werten. Die Unsicherheit bezüglich Freundschaften aufgegeben werden müssen, was der Versorgung der Soldaten gegenüber früheren Kinder sehr hart trifft, wäre dies eine große Erleichte- Hilfsaktionen konnte gänzlich ausgeräumt werden. rung. Dafür sei Dank. Wir können heute feststellen, daß alle am Einsatz (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — beteiligten Soldaten eine ausreichende Versicherung Paul Breuer [CDU/CSU]: Ein sehr intelligen haben. Die sogenannte Kriegsklausel in den allgemei- ter Vorschlag, Frau Kollegin!) nen Bedingungen für die Lebensversicherung kommt Bei allen Maßnahmen, außer der letztgenannten, bei humanitären Einsätzen der Bundeswehr — hierzu sind wir auf die Mithilfe der beteiligten Ressorts gehört auch der UNTAC-Einsatz der Bundeswehrsol- angewiesen. Ich möchte an die Verantwortlichen in daten in Kambodscha — auch dann nicht zur Anwen- den beteiligten Ressorts, aber auch an die Parlamen- dung, wenn es zur Gewaltanwendung gegen die tarier, die dort beratend tätig sind, appellieren, diese entsandten Soldaten kommt. Für den kurzfristigen Maßnahmen zu unterstützen. Keine Berufsgruppe des Einsatz in Kambodscha ist des weiteren ein Rahmen- öffentlichen Dienstes ist so be troffen und gleichzeitig vertrag zur besonderen Absicherung des sogenannten so von Maßnahmen und Unterstützungen seitens des passiven Kriegsrisikos im Bereich der privaten Unfall- Dienstherrn abhängig wie die der Soldaten. Wenn wir versicherung abgeschlossen worden. uns die Zahl der Umzüge unserer Soldaten vor Augen In diesem Zusammenhang muß insbesondere die führen, dann wird klar, daß dieses Wort Gültigkeit versorgungsrechtliche Lage der jungen Soldaten und hat. ihrer Familien mit geregelt werden. Diese Regelung und diese Sicherheit waren im Interesse der Soldaten (Zuruf von der CDU/CSU: Sie bedürfen einer und ihrer Familie dringend erforderlich. Dies sind besonderen Fürsorgepflicht!) verläßliche Aussagen. Meine Damen und Herren, es Auch im Hinblick auf die Zukunft der Bundeswehr gibt keinen Grund, hier noch Zweifel oder Unsicher- ist dies unbedingt erforderlich; denn ein junger Mann heiten zu hegen. Es liegen Zusagen der Regierungen wird seine Entscheidung, ob er sich bei der Bundes- vor. wehr weiterverpflichten will, auch von diesen Der schweren und verantwortungsvollen Aufgabe Umständen abhängig machen. Deshalb liegen diese trägt dieses Land mit zusätzlichen Bezügen für die Anstrengungen auch im ureigensten Interesse der Soldaten Rechnung. Lassen Sie uns an dieser Stelle Bundeswehr. den Soldaten für die Bereitschaft, diesen Dienst im Rahmen des Friedensdienstes der UNO und im Inter- Dessen ist sich der Bundesminister der Verteidi- esse der betroffenen Menschen in Kambodscha zu gung, so denke ich, bewußt. Er hat vorhin davon tun, danken. gesprochen, daß in erster Linie etwas für die Men- schen zu tun sei. In diesem Bereich hat er durch die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. erstmalige Einstellung von 40 Millionen DM für den sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9429

Claire Marienfeld

Herr Biehle, auch Ihnen gilt unser herzlicher Dank für daß der Auftrag der Landes - und Bündnisverteidi- Ihre Arbeit und für Ihren engagierten Einsatz für gung nicht nur innerhalb deutscher Grenzen erfüllt unsere Soldaten. Dieser Dank ist selbstverständlich werden muß, sondern innerhalb des Gebiets der auch an Ihre Mitarbeiter gerichtet. NATO — der Bundesminister der Verteidigung hat ja (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. vorhin darauf hingewiesen —, also auch in Anatolien, sowie bei Abgeordneten der SPD) auf der Iberischen Halbinsel oder in Norwegen. Ich bedauere, daß dieser eigentliche Auftrag der Bundes- wehr, nämlich die Verteidigung des Landes und des Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege Bündnisses, in der öffentlichen Diskussion viel zuwe- Günther Nolting. nig Beachtung findet. - Meine Damen und Herren, wir müssen unseren Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Herr Präsident! Soldaten auch sagen, daß der Soldatenberuf erhebli- Meine Damen und Herren! Ich möchte gleich zu che Unterschiede gegenüber anderen Berufen auf- Beginn dem Herrn Wehrbeauftragten und natürlich weist und daß sie sich des Risikos eines gefährlichen auch seinen Mitarbeitern für die engagierte Arbeit, Einsatzes bewußt sein müssen. Wir haben zwar keine die in dieser Zeit wahrlich nicht leicht ist, danken. direkte Bedrohung mehr, aber es besteht eine Viel- Herr Wehrbeauftragter, die F.D.P. wird Ihre Arbeit zahl von Risiken. Die Welt hat sich verändert, aber auch in Zukunft konstruktiv unterstützen. leider wird nicht nur der Frieden der Ernstfall sein. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Meine Damen und Herren, um unseren Soldaten sowie bei Abgeordneten der SPD) endlich Rechtssicherheit und gesetzliche Rückendek- Meine Damen und Herren, die Bundeswehr befin- kung bei eventuellen Einsätzen außerhalb des Bünd- det sich in der größten Umstrukturierung seit ihrer nisgebietes geben zu können, müssen schnellstens Gründung vor nunmehr 36 Jahren. Auch die relativ die erforderlichen Grundgesetzänderungen erfolgen. hohe Zahl von Eingaben an den Wehrbeauftragten In diesem Zusammenhang möchte ich mich, Herr des Deutschen Bundestages ist ein Spiegelbild dieses Kollege Kolbow, direkt an Sie, an die Damen und schwierigen Prozesses. Herren der SPD-Fraktion wenden und Sie ermuntern, Die Frage nach dem Auftrag der Bundeswehr in Herr Kollege, sich nicht zu verweigern oder auf einer sich verändernden Welt wird von einer zuneh- halbem Wege stehenzubleiben. menden Zahl von Mitbürgern und auch Soldaten Bei einem möglichen Einsatz im Rahmen der UNO gestellt. Wir dürfen aber nicht nur die Frage nach dem muß aus Sicht der F.D.P. die Bundeswehr an allen Auftrag der Bundeswehr insgesamt stellen — wir Einsatzarten teilnehmen können. Es darf eben nicht müssen sie natürlich auch beantworten —, sondern der Eindruck entstehen, daß sich die Bundesrepublik müssen von diesem Auftrag auch ableiten, wie der die Rosinen aus dem Kuchen pickt Auftrag der einzelnen Teilstreitkräfte aussehen soll. Jetzt muß die Frage nach dem Wieviel und dem Wofür (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) für jede einzelne Teilstreitkraft beantwortet werden, und risikoreiche Aktionen wiederum anderen über- und dies, Herr Minister, bevor der neue Bundeswehr- läßt. plan aufgestellt wird. Wir werden hier auch die Frage stellen, ob die Schwergewichte in Zukunft noch so (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sehr beim Heer liegen oder ob wir Veränderungen Wir brauchen auch in der Sicherheitspolitik die zugunsten der anderen Teilstreitkräfte vornehmen notwendige Handlungsfreiheit und dürfen hier nicht können. in die Isolation geraten. Ich hoffe, Herr Kollege, daß (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne die SPD auch in dieser Frage zum Konsens bereit ist, so ten der CDU/CSU) wie es der Kollege Steiner hier vorhin ja schon angesprochen und auch angemahnt hat. Meine Damen und Herren, die Aussagen des Wehr- beauftragten zu den Auswirkungen des Golfkriegs (Uwe Lambinus [SPD]: Bei der jetzigen verdeutlichten — ich will dies hier in aller Offenheit Struktur der UNO?) ansprechen — auch ein nicht unerhebliches Defizit — Das ist ein wichtiger Punkt, der auch in der der Politik. Es gab im Zusammenhang mit dem Golf- öffentlichen Diskussion, glaube ich, dementspre- krieg sowohl in der Bevölkerung als auch unter den chend gewürdigt werden sollte und zu dem auch die Soldaten Unsicherheiten und Verunsicherungen be- Öffentlichkeit einen Konsens im Plenum des Deut- züglich eines möglichen Einsatzes. Es herrschte schen Bundestages erwartet. Unkenntnis darüber, daß die Operation in der Osttür- kei im Rahmen des NATO-Vertrages verlief, also (Uwe Lambinus [SPD]: Bei der jetzigen innerhalb des Bündnisses. Es war weitgehend unbe- Struktur der UNO?) kannt, daß ein Angriff des Irak auf die Türkei den Meine Damen und Herren, zur sozialen und recht- Bündnisfall hätte auslösen können. lichen Absicherung der Soldaten haben der Wehrbe- Die Bundeswehrführung und vor allem die Politik auftragte und auch die Kollegin Marienfeld schon waren offensichtlich unzureichend vorbereitet, und es gesprochen. Ich schließe mich den Ausführungen kam dann zu den bekannten Diskussionen über dieses vorbehaltlos an und will nur eines hinzufügen: Ange- Thema in der Öffentlichkeit und in den Medien. sichts der Einsätze unserer Soldaten in Kambodscha, Meiner Meinung nach sind die politische und mili- im Irak, im Golf ist diese Entscheidung längst überfäl- tärische Führung, letztlich aber wir alle als Gesetzge- lig. Wir haben auch in dieser Hinsicht unseren Solda- ber aufgefordert, der Bevölkerung zu verdeutlichen, ten zu danken. 9430 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Günther Friedrich Nolting Meine Damen und Herren, in seinem Bericht macht Wehrpflichtigen zwischen Ost und West ist, denke ich, der Wehrbeauftragte deutlich, daß die Zahl der Ein- ein wichtiger und ein richtiger Schritt auf dem Wege gaben in Personalangelegenheiten gegenüber 1989 zur Normalisierung. um ca. 5 % gestiegen ist. Darin zeigt sich, daß der Personalabbau und die vielen Versetzungen für den (Beifall des Abg. Torsten Wolfgramm [Göt- einzelnen und seine Familie durchaus zu Härtefällen tingen] [F.D.P.]) führen können. Meine Damen und Herren, die Akzeptanz des Die Eingliederung der Soldaten der ehemaligen Wehrdienstes schwindet innerhalb und außerhalb der NVA in die Strukturen der Bundeswehr und die Bundeswehr. Es ist daher dringend geboten, die rechtzeitige Reduzierung auf 370 000 Mann sind ein Attraktivität des Wehrdienstes zu steigern. Dieses äußerst komplexer und schwieriger Prozeß, bei dem Problem berührt die Grundlagen unseres Staates und ein Höchstmaß an Sensibilität den Soldaten gegen- bedarf dringend der Lösung. Die F.D.P. hält die über gefordert werden muß. Bundeswehr als Wehrpflichtarmee — so auch der Beschluß des letzten Bundesparteitags — für ein Das künftige Stationierungskonzept der Bundes- unverzichtbares Instrument zur Sicherung des Frie- wehr und die Politik der Information darüber haben in dens in Freiheit. verschiedenen Truppenteilen und Einheiten zu teil- weise großer Verunsicherung geführt. Ich weiß, daß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dies nicht immer direkt am BMVg lag, sondern auch Es ist eine wichtige Aufgabe politischer Bildungsar- an untergeordneten Kommandoebenen. Es ist aber beit, darüber aufzuklären, daß die Bundeswehr auch unbedingt notwendig, daß alle Entscheidungen, die in Zukunft zur Risikovorsorge benötigt wird, um eben im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Ich will hier Bundeswehr stehen, transparenter gemacht werden die Schweizer Liberalen zitieren, die da sagen: Jedes und daß auch auf den unteren Befehlsebenen der Land hat eine Armee, entweder eine eigene oder eine Informationfluß funktioniert, damit alle Soldaten, fremde. Zivilbeschäftigte und ihre Angehörigen frühzeitig unterrichtet werden. (Paul Breuer [CDU/CSU]: Das gilt für alle Liberalen!) Wir werden eine Versetzungswelle von mehr als 20 000 pro Jahr haben. Dabei müssen wir die Befind- — Das übernehme ich gern für alle Liberalen, lichkeiten der Betroffenen berücksichtigen. Die Sol- jawohl. daten und ihre Familien dürfen keine beliebige Ver- Deshalb sind wir alle aufgefordert, die Sinnhaftig- schiebungsmasse sein, die man wie Schachfiguren keit von Dienstzeit und Ausbildung aufzuzeigen. von einem Ort an den anderen setzen kann. Diese muß dann aber auch sinnvoll und fordernd für Meine Damen und Herren, die Eingliederung der den einzelnen Soldaten sein. Der Herr Wehrbeauf- Soldaten der ehemaligen NVA und damit die Schaf- tragte hat auf diese Problematik hingewiesen. fung wirklicher gesamtdeutscher Streitkräfte ist auch Gleichzeitig sind natürlich Maßnahmen zur Verbes- im Berichtszeitraum ein großes Stück vorangekom- serung der sozialen Situation der Längerdienenden men. Seit Anfang dieses Jahres werden vor dem und der Wehrpflichtigen unerläßlich. Beim nächsten Ausschuß zur Eignungsüberprüfung die Übernahme- Tagesordnungspunkt wird darauf aber noch der Kol- anträge von Berufs- und Zeitsoldaten behandelt. Am lege Koppelin eingehen. vergangenen Freitag, dem Vorabend des zweiten Jahrestages der deutschen Vereinigung, wurden in Zu den sozialen Maßnahmen zählt u. a. auch — das Leipzig durch den Bundesminister der Verteidigung sage ich hier ganz bewußt und mit Stolz — die die ersten Soldaten der ehemaligen NVA als Berufs- maßgeblich von der F.D.P. mitgeschaffene Dienstzeit- soldaten in die Bundeswehr übernommen. Dieser Tag regelung. Der Verteidigungsminister hat sich dazu im ist, denke ich, ein Markstein in der Geschichte der Verteidigungsausschuß geäußert und hat positive Bundeswehr. Wirkungen dieser Regelungen aufgezeigt. Wir wer- den uns als F.D.P. nicht verschließen — wir sind in Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, dieser Frage offen —, eine Überprüfung der geltenden im Namen der F.D.P.-Bundestagsfraktion auch einmal Dienstzeitregelung durchzuführen. Dabei sollte dann allen Verantwortlichen in Ost und West, die diesen auch über attraktivere finanzielle Ausgleichsmaßnah- geordneten Prozeß ermöglicht haben, zu danken. men nachgedacht werden.

Auch in dieser Frage, denke ich, übernimmt die Der Bereich der Wohnungsfürsorge — damit Bundeswehr eine Vorbildfunktion. Ich wäre froh, komme ich dann zum Abschluß — ist hier bereits wenn in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens angesprochen worden. Soldaten gehören zu den der Fortschritt der Einigung schon soweit gediehen wenigen Berufsgruppen, die sich ihren Arbeitsort wäre. nicht aussuchen können. Der Soldat muß ständig mit eventuellen Versetzungen rechnen. Ich denke, daß Meine Damen und Herren, es bleibt natürlich noch wir bei den weiteren Beratungen des Haushaltsplans eine große Anzahl von Aufgaben zu erfüllen, bis auch 1993 entsprechende Maßnahmen ergreifen können, in den neuen Bundesländern in allen Bereichen die wie sie die Kollegin Marienfeld schon angesprochen gleichen Verhältnisse wie in Westdeutschland herr- hat. schen. Moderne Kasernen und soziale Betreuungsein- richtungen lassen sich eben nicht über Nacht aus dem Meine Damen und Herren, wir haben heute die Boden stampfen. Aber der beginnende Austausch von Stellungnahme des Bundesverteidigungsministers Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9431

Günther Friedrich Nolting Rühe gehört. Er hat dabei aufgezeigt, daß die Hardt- ständnisses in der Bundeswehr genommen. Wir soll- höhe die Probleme sieht, die sich aus der Verkleine- ten froh sein über diese neue Art von Berufssoldaten, rung und Umstrukturierung der Bundeswehr erge- die im Kern eine ganz neue Art von Streitkräften ben, und daß das Verteidigungsministerium bemüht entstehen lassen, die wehrhaft sind, aber nicht ist, darauf zu reagieren und sie zu beseitigen. Es bedrohlich. kommt jetzt darauf an, im Rahmen der Politik klare Das Bewußtsein vieler Soldaten, in einer kriegeri- Vorgaben zu schaffen und bereits getroffene Ent- scher Auseinandersetzung eingesetzt zu werden, wie scheidungen zügig und umfassend durchzusetzen. es sich im Golfkrieg als denkbar darstellte, hatte sich Die F.D.P.-Fraktion wird sich hieran konstruktiv betei- häufig auf die Vorstellung beschränkt, die Bundesre- ligen. publik Deutschland auf heimischem Ter ritorium ver- Vielen Dank. teidigen zu müssen, konstatiert der Wehrbeauftragte. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Weil die Bedrohung für Deutschland aber inzwischen eingestandenermaßen als gering angesehen werden muß, sinkt die Bereitschaft der Soldaten zum militäri- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Lambinus, schen Einsatz. hier oben herrscht Uneinigkeit über Ihren Zwischen- ruf vorhin. Da ich nicht das Protokoll abwarten will, Den Wehrbeauftragten hat bei seinen gelegentli- bitte ich Sie einfach, ihn zu wiederholen. chen Truppenbesuchen erschreckt, wie auch bei län- gerdienenden Soldaten diese Möglichkeit verdrängt (Uwe Lambinus [SPD]: Bei der jetzigen wurde. Warum die sinkende Bereitschaft von Solda- Struktur der UNO!) ten, Krieg zu führen, erschreckend sein soll, ist für — Völlig in Ordnung. Danke vielmals. mich allerdings nicht nachvollziehbar, ist doch die (Zuruf von der CDU/CSU: Und der jetzigen sinkende Bereitschaft zum militärischen Einsatz ein Struktur der SPD!) Zeichen wachsender Friedensfähigkeit. Das Wort hat die Abgeordnete Vera Wollenber- Es ist nicht so, daß gewachsene Friedensfähigkeit ger. ein Verschwinden der Bereitschaft bedeutet, Deutsch- land zu verteidigen. Ich habe jedenfalls niemanden unter den Soldaten getroffen, bei dem das zugetroffen Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hätte. Sie weigern sich allerdings, weiterhin wie im Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lek- Kalten Krieg eine Bedrohung für die Welt darzustel- türe des Berichts des Wehrbeauftragten ist spannend len. Das ist gut so. Die Zeit der alten Ang riffs- und und lehrreich. Unvermutet und aus unverdächtiger Verteidigungsarmeen ist endgültig vorbei. Die Solda- Feder geht aus ihm hervor, wie erfreulich weit die ten, von denen eben die Rede war, haben das eher Entmilitarisierung unserer Gesellschaft schon fortge- begriffen als manche Politiker, die lieber mit viel schritten ist. Die Armee eines Volkes, das stets eine Mühe und Not an alten Relikten des Kalten Krieges unheilvolle Begeisterung für alles Militärische hegte festhalten und mit neuer Rhetorik die alte Politik der und das in diesem Jahrhundert zwei Kriege angezet- Stärke fortsetzen wollen. telt hat, beginnt Eigenschaften abzulegen, die in der Vergangenheit die Welt das Fürchten lehrten: solda- Statt nun zu überlegen, wie der Wehrbeauftragte es tischer Eifer, mechanische Disziplin und Kadaverge- sich wünscht, wie die Soldaten wieder dazu gebracht horsam. Die Bereitschaft sich selbst und andere auf werden können, einen nicht im Belieben des einzel- Befehl zu Tode zu bringen, ist erfreulich gesunken. nen stehenden Auftrag gegebenenfalls unter Einsatz des eigenen Lebens und ohne die Garantie einer Ich halte die Abkehr von allem Militärischen für das gesunden Heimkehr auszuführen, sollte endlich über hoffnungsvollste Zeichen im vereinten Deutschland, die Funktion der Bundeswehr in einer von Grund auf da gerade in den letzten Wochen und Monaten geänderten sicherheitspolitischen Lage nachgedacht rechtsradikale Gewalt und ihre beschämende Billi- werden. gung durch beifallklatschende Mengen und sensa- tionslüsterne Medien alte Ängste der Welt vor Dazu gehört auch die Diskussion über Sinn und Deutschland frisch geschürt hat. Unsinn der Beibehaltung der Wehrpflicht. Unsere Während der Golfkrise, bemerkte der Wehrbeauf- Haltung dazu ist bekannt, und ich möchte sie deshalb tragte, habe sich die Zahl der Anträge auf Kriegs- hier nicht wiederholen. Es geht nicht darum, krampf- dienstverweigerung verdoppelt. Es stellten immer haft neue Aufgaben für die Bundeswehr zu suchen mehr Zeit- und Berufssoldaten den Antrag auf Aner- oder, wie der Wehrbeauftragte es ausdrückt, mit kennung als Kriegsdienstverweigerer. Der Wehrbe- welchem Etikett ihre Aktivitäten versehen werden, es auftragte registriert das mit einer gewissen Fassungs- geht um die Grundsatzentscheidung, welcher Art die losigkeit. Er macht geltend, daß doch jeder dieser Streitkräfte des vereinten Deutschlands sein sollen. Berufssoldaten bei seinem Eintritt in die Bundeswehr Diese Grundsatzentscheidung sind wir allen Soldaten, den militärischen Einsatz in seiner Lebensplanung ins die in dieser Armee Dienst tun, schuldig. Es geht nicht Auge gefaßt haben müßte. an, daß die Politiker auf dem Rücken der Soldaten ihre politischen Unklarheiten ausfechten. Aber ich kann aus meiner Erfahrung durch Gesprä- che in der Truppe bestätigen, daß es tatsächlich eine (Paul Breuer [CDU/CSU]: Auch Sie nicht!) Reihe junger Offiziere gibt, die keinesfalls gewillt ist, — Ich tue das sowieso nicht, Herr Breuer. Deutschland irgendwo in Asien, Afrika oder auf dem Balkan zu verteidigen. Sie haben die Aussage „Frie- Meine Damen und Herren, wie Sie meinen Ausfüh- den ist der Ernstfall" als Grundlage ihres Dienstver- rungen entnehmen konnten, gilt meine Kritik am 9432 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Vera Wollenberger Wehrbeauftragten vor allem, wenn er versucht, sich in rechnet mit neuen Kampfaufträgen aufhalten wollen. die politische Sinnfindung für die Streitkräfte einzu- Statt durch ideologische Feldzüge unter dem B anner schalten. Wenn ich das Amt des Wehrbeauftragten sogenannter neuer Risiken bei der Bevölkerung richtig verstehe, ist das auch gar nicht seine Auf- Akzeptanz für Kriegseinsätze erzeugen zu wollen, gabe. sollte den friedenserhaltenden Aktivitäten der Abrü- Wo er aber seine Aufgaben wahrnimmt, ist der stungssoldaten endlich die Beachtung eingeräumt Bericht — ich habe es schon gesagt — sehr informativ werden, die sie verdienen. und — ich wiederhole das — spannend. Das betrifft Die Offiziere und Unteroffiziere vom Zentrum für vor allem die Aussagen über das Informationsverhal- Verifikationsaufgaben haben als erste deutsche Sol- ten des Dienstherrn, das Teile der Truppe bis an den daten in Uniform Rußland, die Ukraine, Litauen und Rand der Disziplinlosigkeit verärgert hat. Wo hätte es Polen besucht. Sie haben dabei nicht nur Militärob- das in einer deutschen Armee schon einmal gege- jekte und Kriegsgeräte ihres ehemaligen Gegners ben? inspiziert, sondern Freundschaften geschlossen, die noch vor drei Jahren undenkbar waren. Wenn heute Es spricht für ein erfreulich gewachsenes Demokra- einem deutschen Offizier am Rande eines Massen- tiebewußtsein, wenn Weisungen von oben nicht mehr grabs, in dem 14 000 russische Gewaltopfer bestattet widerspruchslos hingenommen werden. sind, von einem russischen Offizier gesagt wird: das Ich würde jetzt gerne weiter detailliert auf den waren nicht die Deutschen, das waren die Faschisten, Bericht des Wehrbeauftragten eingehen, aber die so ist das mehr, als ein Deutscher erwarten kann. Es geringe Redezeit unserer Gruppe läßt das leider nicht sollte unsere vornehmlichste Aufgabe sein, solches zu. Ich möchte deshalb am Schluß noch auf zwei Dinge Vertrauen, das uns von diesen Völkern wieder entge- eingehen, die im Jahresbericht des Wehrbeauftragten gengebracht wird, zu rechtfertigen. nicht erwähnt werden. Das, meine lieben Kolleginnnen und Kollegen, wird Kurz nach dem 2. Jahrestag der Deutschen Einheit uns am besten gelingen, wenn wir uns den Symbolen der Abrüstungssoldaten anschließen: „V" nicht für möchte ich an dieser Stelle sagen, daß wir heute mit der Gestaltung der inneren Einheit wesentlich weiter „victory", sondern für Vérité, Vernunft, Völkerver- wären, wenn sich alle gesellschaftlichen Institutionen ständigung und Vertrauen. in gleicher Weise darum bemüht hätten wie die Vielen Dank. Bundeswehr. (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das ist Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Leni wohl wahr! — Beifall bei der CDU/CSU) Fischer, Sie haben das Wort. Das sage ich, um Mißverständnissen vorzubeugen, ausdrücklich nicht in bezug auf die Eingliederung Leni Fischer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine von ehemaligen NVA-Soldaten in die Bundeswehr, Damen und Herren! Erlauben Sie mir, daß ich ganz der ich nach wie vor sehr skeptisch gegenüberstehe, kurz, in einigen Sätzen, auf das eingehe, was Frau auch weil ich weiß, daß es in neonazistischen Kreisen Wollenberger gesagt hat. Ich fand das in einigen der DDR usus war, als Zeitsoldat für zehn Jahre in die Punkten höchst interessant. Sicher werden wir nicht NVA zu gehen. Dies ist nach meinem Eindruck als völlig einer Meinung sein. Ich teile auch nicht Ihre Problem noch gar nicht erkannt worden. Nein, ich Meinung, was den Bereich der früheren Gegnerschaf- meine den persönlichen Einsatz vieler örtlicher Kom- ten angeht. Ich teile schon gar nicht Ihre Auffassung, mandeure für den Aufbau der neuen Bundesländer. die dahin geht, daß die Frage der früheren Soldaten Ich kenne viele gute Beispiele von Soldaten und der Bundesrepublik genauso zu sehen ist wie die der Offizieren, die aktiv an den Angelegenheiten ihrer früheren Soldaten innerhalb der NVA und des War- Stationierungsorte Anteil nehmen. Leider wird diese schauer Pakts. gute Wirkung mancherorts durch unsensible Ent- (Paul Breuer [CDU/CSU]: Keinesfalls!) scheidungen von oben wieder zunichte gemacht. So Ich glaube, wir sollten versuchen, diesen immensen besteht bisher die Absicht, den Truppenübungsplatz Unterschied in einem Gespräch miteinander auszulo- Wittstock für die Bundeswehr weiter zu nutzen. Dies ten. Ich denke nämlich, daß in den Jahren der deutli- gegen den entschiedenen, geschlossenen Widerstand chen Abgeschlossenheit im östlichen Teil des deut- der betroffenen Bevölkerung. Diesem Beispiel wäre schen Landes doch viele Dinge als Schreckgespenster ein weiteres anzufügen, aber das muß ich mir aus aufgebaut worden sind, die so innerhalb der NATO Zeitgründen sparen. und innerhalb des Bündnisses nie gesehen wurden. Leider hat der Wehrbeauftragte den sympathisch- (Beifall bei der CDU/CSU) sten und zukunftsträchtigsten Teil der Bundeswehr in Dies heute zu tun würde sicher den Rahmen sprengen. seinem Bericht nicht erwähnt. Ich meine die Abrü- Aber ich biete Ihnen dazu ein Gespräch an. stungssoldaten. Das ist besonders bedauerlich, wenn man bedenkt, daß allgemein über Imageverlust der Auch ich möchte dem Herrn Wehrbeauftragten Bundeswehr geklagt wird. Die Abrüstungssoldaten ganz herzlich für die deutlichen Aussagen in seinem haben dieses Problem nicht; im Gegenteil, sie wären Jahresbericht 1991 und seinen heutigen Ausführun- geeignet, der Bundeswehr ein neues positives Image gen danken. Als langjähriger Vorsitzender des Vertei- zu geben. digungsausschusses hat er die Erfahrung, aus den Eingaben, die ihn aus allen Bereichen der Bundes- Leider werden sie vor allem von jenen vergessen, wehr erreichen, die Probleme zu erkennen und die die das sinkende Ansehen der Bundeswehr ausge- richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9433

Leni Fischer Eine große Anzahl von Problemen, die in seinem Hatte in der Vergangenheit das Aufkommen an letzten Jahresbericht dargestellt wurden, sind vom ungedienten Bewerbern ein Verhältnis von 7 :1, d. h. Bundestag und vom Verteidigungsministerium aufge- von sieben Bewerbern wurde ein Bewerber eingestellt griffen worden. Des weiteren gibt es eine Beschluß- — es wurde also eine qualitative Auslese getroffen —, empfehlung vom 10. Juni 1992. In einigen Problem- so besteht heute ein Verhältnis von 3 : 2. Ich denke, wir bereichen konnte bereits Abhilfe geschaffen wer- sollten auch in den nächsten Monaten und Jahren den. unser Augenmerk auf die Gewinnung von gutem Gleichwohl sollten wir uns darüber im klaren sein, Nachwuchs lenken. Wir sollten alles tun, damit für die daß in diesem Jahr bis zum 30. September fast 8 000 jungen Soldaten in Zukunft das Dienen in der Bun- Eingaben im Amt des Wehrbeauftragten eingegan- deswehr ebenfalls als ein attraktiver Beruf angesehen gen sind, gegenüber 9 644 Eingaben im gesamten wird. Zeitraum des Vorjahres. Sollte diese Entwicklung Danke. weiter anhalten, wird die Anzahl der Eingaben in (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der diesem Jahr die Höhe des Vorjahres erreichen oder SPD) sogar noch höher sein als im vergangenen Jahr; dies gilt trotz der Tatsache, daß die Bundeswehr zahlen- Ich erteile das Wort der mäßig reduziert wurde. Vizepräsident Hans Klein: Kollegin Dr. Ruth Fuchs. Wir haben schon viel von den Problemen gehört, die (Paul Breuer [CDU/CSU]: Wie heißt die? — mit der Auflösung von Standorten verbunden sind. Rotfuchs?) Aber wir vergessen häufig genug, zu sagen, daß wir alle diese Politik gewollt haben. Wir stehen jetzt vor einer der größten Herausforderungen in Friedenszei- Dr. Ruth Fuchs (PDS/Linke Liste): Für Sie, Herr ten. Dieser Bewältigung sollten wir mit Freude entge- Breuer: Ich heiße Ruth Fuchs. gensehen. (Horst Sielaff [SPD]: Das muß man einmal sagen!) (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) — Wenn er sich in der Vergangenheit mit Sport beschäftigt hätte, dann wüßte er, mit wem er es zu tun Der Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe, hat. Aber das macht nichts. Ich wi ll darauf nicht näher hat zu Recht in seiner Rede am 2. Oktober 1992 in eingehen. Ich komme jetzt lieber zu meiner Rede. Leipzig zum Tag der Deutschen Einheit auf die Erfolge der Bundeswehr bei der Reduzierung, der Umstrukturierung, der Integration von Teilen der Vizepräsident Hans Klein: Über alle Parteigrenzen ehemaligen Nationalen Volksarmee und dem Aufbau hinweg: Frau Fuchs war Olympia-Siegerin. der Garnisonen in den neuen Bundesländern hinge- (Heiterkeit und Beifall) wiesen, die für viele andere Bereiche beispielhaft sind. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sowie des Dr. Ruth Fuchs (PDS/Linke Liste): Herr Präsident, Ausschusses haben sich bei vielen Besuchen in den bitte ziehen Sie mir das nicht von meiner Redezeit Garnisonen der neuen Bundesländer über den Fort- ab! gang der Arbeiten informiert. Auch die Probleme (Zurufe: Den Beifall?) wurden den Mitgliedern so vor Augen geführt. — Ja, den Beifall. Beifall in diesem Haus ist für mich Wir müssen — wie dies auch die Vorredner und bzw. für unsere Partei ungewohnt. Vorrednerinnen gesagt haben — die zusätzlichen Der Jahresbericht des Wehrbeauftragten des Deut- Belastungen insbesondere für die verheirateten Offi- schen Bundestages berührt die aus seiner Sicht ent- ziere, Unteroffiziere und Mannschaften jetzt und in scheidenden Probleme der Bundeswehr. Ich stimme den nächsten Jahren in ganz besonderer Weise im ihm zu, wenn er als Ausgangspunkt für seine Ein- Auge behalten. schätzung die tragenden Rahmenbedingungen, näm- Es wird demnächst zu sehr vielen Versetzungen lich die Auslandseinsätze der Bundeswehr, ihre kommen. Wir wissen, daß wir auch mit diesem Pro- Umstrukturierung und den Aufbau in den neuen blem fertigwerden müssen. Auch die vielen Eingaben Bundesländern, an den Anfang seiner Analyse stellt. im Personalbereich werden uns in den nächsten Das sind tatsächlich die Kernfragen, die so oder anders Jahren sicher weiter beschäftigen. Die Eingaben im alle nachgeordneten Fragen — auch die sogenannten Bereich der finanziellen Abfindung der Wehrpflichti- kleinen Dinge des militärischen Alltags — wesentlich gen sowie die Eingaben im Bereich der Versorgung beeinflussen. Wie schon bemerkt wurde: die Zeit ist sind wohl stark zurückgegangen. Dies ist — das hoffe fortgeschritten. Wir kommen nicht umhin, den Be ri cht ich jedenfalls — Folge unserer guten Politik. von 1991 auch unter dem Blickwinkel unserer heuti- gen Kenntnisse zu beurteilen. Ein wesentlicher Bestandteil im Leben eines Solda- ten ist seine Motivation. Ist sie nicht oder nicht mehr Zu den Rahmenbedingungen: Im Be richt heißt es vorhanden, läßt auch seine Bereitschaft zum Dienen unter 2.1. — ich zitiere —: nach. Es kommt also wesentlich darauf an, den tägli- Es hat mich mit großer Sorge erfüllt, daß die chen Dienst und das soziale Umfeld so zu gestalten, erstmalige Entsendung deutscher Soldaten in die daß der Soldat die Sinnhaftigkeit seines Dienens Randzone einer kriegerischen Auseinanderset- sowie des Dienstes einsieht. Die Motivation der Sol- zung erfolgte, ohne daß diese Entscheidung von daten wirkt sich darüber hinaus auch auf die Attrak- einem breiten parlamentarischen Konsens getra- tivität der Bundeswehr insgesamt aus. gen war. 9434 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Dr. Ruth Fuchs Ich füge hinzu: Mich auch. länglichkeit und ihre konsequente Ausrichtung auf die Verteidigung des eigenen Staatsgebietes. Ich erinnere Sie, meine Damen und Herren, an unsere Sondersitzung im Zusammenhang mit der Der uns vorliegende Bericht konstatiert eine Ver- Entscheidung der Bundesregierung über die militäri- doppelung der Zahl der Kriegsdienstverweigerer sche Überwachung der Sanktionen gegen Jugosla- während der Golfkrise, und er erwähnt die Auffassung wien. Auch hier wäre es beinahe ohne eine entspre- vieler Soldaten, die Bundesrepublik Deutschland nur chende Debatte im Parlament möglich gewesen, deut- auf heimischem Territorium verteidigen zu wollen. sche Soldaten in einem Krisengebiet zum Einsatz zu Bedenken Sie: Das sind in der überwiegenden Zahl bringen. Ähnliches darf unter gar keinen Umständen nicht Gegner der Bundeswehr und nicht ausschließ- wieder passieren. lich Pazifisten. Ich zitiere weiter aus dem gleichen Punkt des uns Die Ursachen für solche und ähnliche Einstellungen vorliegenden Berichts: „Mit Erleichterung haben wir liegen auf der Hand: Es ist das Begreifen des Fehlens ihre gesunde Rückkehr" — gemeint sind die deut- einer erkennbaren, direkten militärischen Bedro- schen Soldaten — „zur Kenntnis genommen, zumal hung; es ist der Unwille, für irgendwelche persönlich der Krieg auch einen anderen Verlauf nehmen nicht mehr begreifbare höhere Interessen das eigene könnte. " Mein Kommentar: Kriege nehmen meistens Leben aufs Spiel zu setzen; es ist der Zweifel daran, ob in allen bisherigen Konflikten auch wirklich das einen ernsteren Verlauf. Dieses Mal somit Glück gehabt, oder? Instrumentarium politischer, ökonomischer und diplo- matischer Mittel in vollem Umfang ausgeschöpft Künftige Einsätze deutscher Soldaten außerhalb wurde. des deutschen Staatsgebietes liegen nach dem Stand Bezug nehmend auf die vorangegangene Debatte: der Dinge vor uns. Noch könnten wir sie ausschließen. 1991 wurden in der Bundeswehr Einzelfälle von Aber die Forderungen nach Auslandseinsätzen sind in rechtsextremen Ausschreitungen von Soldaten regi- der Bundeswehrplanung — d. h. in ihrer Struktur, striert. Inzwischen ist in unserem Land der Rechtsex- ihrer Ausrüstung und ihrem Einsatzkonzept — schon tremismus weiter auf dem Vormarsch, mehr, als man- festgeschrieben. cher es wahrhaben will. Der Wehrbeauftragte fordert in seinem Bericht, daß Ich stimme deshalb dem Wehrbeauftragten zu, daß die deutschen Verpflichtungen, die Beteiligung an man solchen Erscheinungen mit der gebotenen Ent- einem europäischen Korps im Rahmen der WEU sowie schlossenheit und unter Ausnutzung aller rechtlichen die Aufstellung hochbeweglicher und für den Einsatz Möglichkeiten entgegentreten muß. Ich hoffe, daß die auch außerhalb unseres Staates vorbereiteter Ver- ähnlich lautende Stellungnahme des Verteidigungs- bände politisch nicht umstritten sein dürfen. Sie sind ministeriums zu diesem Punkt des Berichts des Wehr- aber politisch umstritten. Ich kann für Deutschland beauftragten mit Entschiedenheit in der Truppe nur hoffen, daß dieser Streit an öffentlicher Breite, durchgesetzt wird. an Tiefe, Schärfe und vor allem an Konsequenz zu- Mir liegt noch ein Problem besonders am Herzen. Es nimmt. ist die im Bericht erwähnte Gleichbehandlung der Ich jedenfalls finde es seltsam, wenn das Bundesmi- Soldaten in den alten und neuen Bundesländern. nisterium der Verteidigung und — in der öffentlichen Mich erreichen immer wieder Briefe und Beschwer- Diskussion — die Bundesregierung zur Begründung den ehemaliger NVA-Angehöriger mit der Darstel- für militärische Auslandseinsätze immer wieder auf lung von Fakten über eine ungerechte Behandlung im die sogenannte deutsche Sonderrolle hinweisen. sozialen Bereich und eine pauschale Ausgrenzung. Meine Damen und Herren, ich habe es Gott sei Der Deutsche Bundeswehrverband hat als Interes- Dank nicht erleben müssen, aber die Geschichte hat senvertreter aller Soldaten nach einer gründlichen bewiesen, welche Sonderrolle Deutschland in diesem Analyse der Tatsachen einen Forderungskatalog für Jahrhundert zweimal gespielt hat. Es war nicht eine die Gleichstellung im Dienstrecht der Soldaten erar- Sonderrolle der Zurückhaltung, sondern der Aggres- beitet. Diese Forderungen, beruhen auf Sachkompe- sionen. Die Sonderrolle der Zurückhaltung, die tenz, Augenmaß und politischem Verantwortungs- Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einnehmen gefühl. mußte und die so schlecht gar nicht war, scheint auf Ich plädiere dafür, daß der Deutsche Bundeswehr- einmal nicht mehr zu passen. Verstehen kann ich das verband seine Vorstellungen von Gleichbehandlung nicht, denn in keiner Weise ist widerlegt, daß die der Soldaten in geeigneter Form den parlamentari- Völker der Welt die Fortführung einer Politik deut- schen Gremien zur Kenntnis geben kann. scher Selbsteinschränkung auch weiterhin mit Ach- Ich bitte den Wehrbeauftragten des Deutschen tung und Respekt annehmen würden. Bundestages, die Vorstellungen des Deutschen Bun- Ist ein militärischer Konflikt erst einmal da, entwik- deswehrverbandes nicht nur zu prüfen, sondern nach kelt er seine Eigendynamik, die — das hat die Möglichkeit wirksam zu unterstützen. Geschichte wiederholt bestätigt — alle früheren Frie- Ich danke für die Aufmerksamkeit. densbeteuerungen und friedenssichernden Maßnah- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) men parlamentarischer Gremien überrollen wird. Aus meiner Sicht gibt es nur eine mehr oder weniger zuverlässige Sicherung gegen ein Hineinziehen in Vizepräsident Hans Klein: Ich muß aus gegebe- einen militärischen Konflikt: Das ist der Abbau der nen Anlaß eine kleine Bemerkung machen: Es gab in Streitkräfte nach dem Prinzip der vernünftigen Hin- I den ersten Legislaturperioden — ich glaube in der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9435

Vizepräsident Hans Klein ersten oder zweiten — eine sehr berühmte Abgeord- geringere Ruhestandsgelder als ihre Kollegen im nete, die der CDU/CSU-Fraktion angehörte und Westen. Helene Wessel hieß. Sie hat bei langen Sitzungen dem (Zuruf von der SPD: Das ist wirklich be damaligen Bundeskanzler Adenauer mitunter ein -dauerlich!) Stückchen Schokolade oder ein Bonbon zugesteckt. Aber der damalige Bundeskanzler hat unauffällig Gleiche Bedingungen gibt es lediglich für verheira- gekaut. tete Wehrpflichtige in Ost und West, die sich durch hohe Miet- und Lebenshaltungskosten am Ende ihrer (Heiterkeit — Zuruf von der SPD: War der so Wehrdienstzeit einem Schuldenberg von mehreren spät noch im Plenum? — Dr. Jürgen Rüttgers tausend Mark gegenübersehen, da Wehrsold und- [CDU/CSU]: Das steht in einer großen Tradi Mietbeihilfe völlig unzureichend sind. tion!) Wir von der SPD fordern deshalb eine baldige Ich erteile dem Kollegen Gerhard Neumann das Verbesserung des Unterhaltssicherungsgesetzes und Wort. eine Erhöhung der Mietbeihilfe. (Beifall bei der SPD) Zu einem weiteren Problem: Für viele der 6 000 Gerhard Neumann (Gotha) (SPD): Herr Präsident! Offiziere der NVA, die für drei Jahre auf Zeit — sozu- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 12. März 1992 sagen auf Bewährung — in die Bundeswehr übernom- legte der Wehrbeauftragte seinen Jahresbericht vor. men wurden, steht jetzt die Entscheidung der Über- Wie schon gesagt wurde: Traditionell ist das ein nahme oder Entlassung vor der Tür. Eine Entlassung Mängelbericht. Diese Tradition setzt sich auch 1991, erfolgt oft nur, weil keine Planstellen vorhanden sind. im Jahr des Golfkrieges, dem ersten Jahr des Aufbaus Hier müssen vom Verteidigungsministerium sozial der Bundeswehr Ost, mitten in der Umstrukturierung verträgliche Regelungen geschaffen werden. Diese auf 370 000 Mann fort. Offiziere dürfen jetzt, nach zwei Jahren, nicht denen So ist es auch nicht verwunderlich, daß 1991 gleichgestellt werden, die die Bundeswehr sofort wesentlich mehr Kritik als üblich geäußert wurde: Es verlassen haben oder gar nicht erst zur Bundeswehr gab fast 10 000 Eingaben an den Wehrbeauftragten. gegangen sind. Das ist die zweithöchste Zahl seit 33 Jahren! Unverständnis und große Verärgerung ruft bei den Zwar treten im Bericht die Verletzungen der inne- ehemaligen NVA-Offizieren auch die Regelung zur ren Führung und Menschenrechtsverletzungen, wie Anrechnung von Dienstzeiten auf die Rentenzeit sie in den letzten Jahren zu beklagen waren, in den hervor. Bei einem Rentenalter von 65 Jahren werden Hintergrund. Wir von der SPD begrüßen dies. ihnen höchstens fünf Jahre NVA-Dienstzeit aner- kannt. Der Ruhestand für Westoffiziere beginnt schon Trotz vieler Hindernisse ist die Integration der mit dem 53. Lebensjahr. Das bedeutet, daß ein Bun- Bundeswehr im Osten schon weiter vorangeschritten deswehroffizier Ost mit einem Ruhegehalt von 35 % als in einigen zivilen Bereichen. seines ursprünglichen Gehaltes bis zu zwölf Jahren (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) leben muß. Sein Kamerad im Westen erhält in gleicher Situation bis zu 75 %. Hier gilt unser Dank den Offizieren und Unteroffizie- ren, die sich mit viel Engagement und Einfühlungs- Eine weitere Benachteiligung für Ostoffiziere ist die vermögen gleich nach der Wende der Aufgabe „Auf- Anzahl der Heimfahrten. Ich habe erfahren, daß bau Bundeswehr Ost" widmeten. Westsoldaten monatlich vier Heimfahrten zustehen, Ostsoldaten aber nur zwei. Dies kann ich jedoch nicht (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) mit 100 %iger Sicherheit sagen. Ausdrücklich verurteilt werden muß an dieser Stelle (Paul Breuer [CDU/CSU]: Dann läßt man das allerdings das soldatenunwürdige Verhalten einiger besser ganz! — Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Offiziere, die in Kasernen der neuen Bundesländer Küster [SPD]: Ich glaube, das läßt man als eingesetzt werden und ihren Kameraden tagtäglich Frage für den nächsten Redner so stehen!) vorrechnen, welche Zuschläge sie für diesen Einsatz erhalten. — Ja, ich möchte das als Frage im Raum stehenlas- sen. Wir fordern deshalb, die Zahlung von hohen Son- dervergütungen, auch „Buschgelder" genannt, mög- Diese Mißstände müssen schnellstens beseitigt wer- lichst bald einzustellen. Wegen der in den fünf neuen den, damit nicht — trotz aller Integrationsbemühun- Ländern wirkenden Rahmenbedingungen zieht sich gen — bei den Soldaten in den fünf neuen Ländern der auch durch die Bundeswehr ein Riß, der die Soldaten Eindruck entsteht, sie seien Bürger zweiter Klasse. deprimiert. Das birgt Zündstoff, der nicht durch Son- Noch einige Worte zu den Lebensbedingungen und derzahlungen und Sondervergünstigungen ent- dem Arbeitsalltag in den Kasernen der fünf neuen flammt werden darf. Verteidigungsminister Rühe Länder: Obwohl Soldaten aus Ost und West dort irrte, als er bei einem Besuch in Halle erklärte, es gäbe täglich zusammenarbeiten, gibt es kaum p rivate Kon- keine Unterschiede zwischen Soldaten Ost und Solda- takte in der Freizeit. ten West. Die Gründe hierfür sind vielschichtig: Da angemes- Soldaten und Offiziere der neuen Länder erhalten sener Wohnraum in den neuen Ländern nur begrenzt nur 60 % des Westgehaltes — darüber brauchen wir zur Verfügung steht, bleibt die Familie des Westsol- uns nicht weiter zu unterhalten — und wesentlich daten oft im Westen. Den Ostsoldaten plagen in der 9436 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Gerhard Neumann (Gotha) Freizeit zahlreiche p rivate Probleme, z. B. das Ausfül- Die Forderungen des Bundesverteidigungsministeri- len der Steuererklärung, Geldsorgen, Wohnungs- und ums schaden dem Ansehen der Bundeswehr in den Grundstücksprobleme, so daß für weitergehende neuen Ländern. Kontakte oft keine Zeit bleibt. Auch dies ist ein sehr (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) ungünstiger Zustand, der das Zusammenwachsen dieser beiden Teile nicht unbedingt befördert. Auch General von Scheven kommt zu dem Ergebnis, daß das Truppenübungsplatzkonzept der Bundes- Ein fehlendes Freizeitangebot in abgelegenen wehr in dieser Form zum Akzeptanzproblem wird. Standorten in den neuen Ländern sowie die mangel- Die Flächenforderung von 140 000 Hektar ist für die hafte Ausstattung der Offiziers- und Unteroffiziers- Bürger in den neuen Ländern nicht nachvollziehbar,- heime führt dort außerdem verstärkt zu Alkoholmiß- Zum Vergleich: In den Westbundesländern sind es brauch; das ist schon gesagt worden. bisher 148 000 Hektar für Bundeswehr und Alliierte. Verteidigungsminister Volker Rühe ist aufgef or- In den Flächenvorgaben im neuen Konzept sind die dert, auch für diese Kasernen ein sinnvolles Freizeit- Standortübungsplätze noch nicht eingerechnet. angebot zu schaffen und damit diese Mißstände zu Wie fehlgeleitet die Vorstellungen der Bundes- beseitigen. Militärseelsorge allein kann wohl kaum wehrplaner sind, zeigt der Widerstand gegen das als angemessenes Freizeitangebot gewertet werden. vorgelegte Konzept. Hier gibt es nicht nur Proteste der Bürgerinitiativen und Anliegergemeinden, selbst Die Dienstgestaltung in den neuen Ländern läßt CDU-regierte Länder wie Sachsen-Anhalt und Meck- ebenfalls zu wünschen übrig. Nach den Worten Alfred lenburg-Vorpommern kündigten ihren Widerstand Biehles bestimmten Aufräumen, Bewachen und an. Abschieben des von der NVA übernommenen militä- (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) rischen Materials im Berichtszeitraum den dienstli- chen Alltag. Das hat sich nun hoffentlich geändert. Wittstock, Letzinger Heide, Lübthen, aber auch Ohr- Damals hörte man häufig die Frage: Wie soll ein Soldat druf stehen weiter auf dem Prüfstand. Bedürfnisse der unter solchen Umständen einen Sinn in seiner Arbeit Bundeswehr dürfen nicht maximiert werden. erkennen? In der Übergangsphase war diese Arbeit Die Bürger in den neuen Ländern erwarten von der notwendig. Jetzt aber müssen schnellstens Verände- Hardthöhe einen Anflug von Verteilungsgerechtig- rungen eintreten. keit. Auch die Art und Weise, wie die Entscheidungen zur Übungsfläche fielen, hat dem Ansehen der Bun- Die Politiker der Regierungsparteien müssen sich deswehr Ost Schaden zugefügt. zudem vorwerfen lassen, den Soldaten der Bundes- wehr nur unzureichende Zukunftsperspektiven an- So hatte z. B. das Erfurter Verteidigungsbezirks- bieten zu können. Es herrscht Ungewißheit über die kommando für Mitte Juni für den Truppenübungs- zukünftige Zielsetzung der Bundeswehr, ihr Einsatz- platz Ohrdruf ein Lärmemissionsschießen angekün- gebiet, ihre endgültige Personalstärke. digt. Erst nach Auswertung der Messungen sollte eine endgültige Entscheidung über die weitere Nutzung Die Bedeutung der Bundeswehr im Rahmen künfti- des Platzes getroffen werden. Im Bonner Konzept aber ger deutscher später auch europäischer — Sicher- befanden sich zu diesem Zeitpunkt schon genaue heitspolitik muß herausgearbeitet werden. Nicht der Aussagen über geplante Schießbahnen. Ich kann Soldat muß sich rechtfertigen; es ist die Aufgabe Ihnen hier versichern: Keiner glaubt mehr an eine staatlicher Institutionen, vor allem Aufgabe von saubere Entscheidung über diesen Truppenübungs- Regierung und Parlament, Sinn und Auftrag der platz. Streitkräfte zu definieren. (V o r s i t z: Vizepräsident Helmuth Becker) Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, die Lassen Sie mich zu einem abschließenden Urteil Ungewißheit in der Stationierungsplanung, dem kommen: Die oben aufgeführten Entwicklungen zei- Besoldungsgesetz, beim Personalabbau und in der gen, daß trotz einiger positiver Ansätze auch die Wohnungsfürsorge für Soldaten durch eindeutige Bundeswehr in den neuen Ländern wohl noch eine Vorschläge zu beseitigen. Den Soldaten der Bundes- Zeitlang geteilt bleiben wird. Wer darüber die Augen wehr ist heute keine klare Lebensplanung möglich; verschließt, ist blind. Ich kann damit leben, wenn wir das Vertrauen der Soldaten in die Führung ist ange- das Ziel nicht aus den Augen verlieren, dies zu schlagen. Diese bedauerliche Mängelliste ließe sich verändern. fortführen. Danke. Wir von der SPD haben bereits im November 1991 (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke ein Truppenübungsplatzkonzept gefordert. — Da- Liste) mals war noch Herr Stoltenberg Minister, jetzt haben wir einen neuen. — Fast zwölf Monate später aber liegt es immer noch nicht vollständig vor. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, als letztem Redner in dieser Debatte erteile Die Vorschläge, die der Bundesverteidigungsmini- ich jetzt unserem Kollegen Paul Breuer das Wort. ster hier vor zwei Wochen gemacht hat, können in dieser Form nicht akzeptiert werden. Sie bleiben korrekturbedürftig, weil sie die Bedürfnisse der Men- Paul Breuer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine schen in den neuen Ländern nicht berücksichtigen. Damen und Herren! Ich möchte am Anfang — nicht deshalb, weil alle das getan haben, lieber Alfred (Paul Breuer [CDU/CSU]: Man muß Dek Biehle, sondern deshalb, weil der Wehrbeauftragte kungsvorschläge machen!) des Deutschen Bundestages und seine Mitarbeiter das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9437

Paul Breuer wirklich verdient haben — für die Fraktion der CDU/ Sicherheit für uns alle auch höchsten politischen Rang CSU ein ganz herzliches Dankeschön sagen. haben müssen. Der Umbruch in Europa hat auf absehbare Zeit eine existenzielle Bedrohung Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU — Zustimmung lands beseitigt. Die sicherheitspolitische Situation in des Abg. Günther Friedrich Nolting Europa und weltweit ist jedoch weniger berechenbar. [F.D.P.]) Eine mittel- oder gar langfristige Voraussage über die Der Jahresbericht 1991 des Wehrbeauftragten, den Sicherheitspolitik ist heute nicht möglich. wir heute debattieren, ist eine sachliche und kon- Deutsche Sicherheitspolitik ist immer auch Bünd- struktive Bestandsaufnahme einer sich im tiefgrei- nispolitik. In dieser Erkenntnis ist die Bundesrepublik - fendsten Wandel ihrer Geschichte befindlichen Bun- Deutschland einer Reihe von Systemen kollektiver deswehr. Mit welcher Tiefe sich dieser Wandel voll- Sicherheit beigetreten, deren Ziel die Verteidigung zieht, wird insbesondere an der Entwicklung in drei von Frieden und Freiheit in Europa, der westlichen Bereichen deutlich: erstens im sich verändernden Demokratien und weltweit ist. In der Wahrnehmung sicherheitspolitischen Umfeld, zweitens in der Um- dieser vertraglichen Verpflichtungen in den Systemen strukturierung der Streitkräfte und drittens im Aufbau kollektiver Sicherheit kommen die Streitkräfte der Bundeswehr in den neuen Bundesländern. Deutschlands daher ihrer verfassungsrechtlichen Ver- Der Zusammenbruch des Sozialismus, die Auflö- pflichtung zur Verteidigung nach. Umfang, Struktur, sung des Warschauer Pakts und das Auseinanderfal- Ausbildung und Ausrüstung deutscher Streitkräfte len der Staaten der ehemaligen Sowjetunion und ihre müssen diesem Auftrag entsprechen. Folgen in der Überwindung der Teilung Deutschlands Meine Damen und Herren, zu Recht betont der und Europas haben ein politisches — insbesondere Wehrbeauftragte die im Parlament getroffene Fest- sicherheitspolitisches — Erdbeben ausgelöst. stellung, daß der Primat der Politik auch durch die Meine Damen und Herren, bei aller Freude und Politik künftig wieder sichtbarer und spürbarer wer- Genugtuung darüber müssen wir heute nüchtern den muß. Es ist Aufgabe dieses Parlaments, sich dieser feststellen, daß der Weg zu einem friedlichen Gesamt- Verantwortung zu stellen. Die Gesellschaft — nicht europa doch länger ist, als wir in der Hochstimmung der Soldat — muß sich rechtfertigen. Die Gesellschaft der Jahre 1989 und 1990 anzuerkennen bereit waren. muß die Bundeswehr rechtfertigen, nicht der Soldat. Die Gefahr neuer Krisen und Konfrontationen ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. seitdem nicht kleiner, sie ist unüberschaubarer und sowie bei Abgeordneten der SPD) zum Teil größer geworden. Freiheit, Unabhängigkeit und Souveränität der europäischen Staaten bedürfen Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich ein- daher weiterhin eines wirksamen europäischen deutig zu dieser Verantwortung. Schutzes und eines Schutzes durch das NATO-Bünd- Aus dem Auftrag der Verfassung, einen Beitrag zu nis. einer wirksamen Bündnisverteidigung und zu frie- (Beifall bei der CDU/CSU) denserhaltenden und friedensschaffenden Maßnah- men im Rahmen kollektiver Sicherheitssysteme zu Bei allem feststellbaren Wandel des sicherheitspoli- leisten, leitet sich die Aufgabe deutscher Streitkräfte tischen Umfeldes bleiben die Grundlagen unserer ab, im Rahmen der bestehenden Fähigkeiten für - und Sicherheitspolitik deshalb unverändert. Außen die Bundesrepublik auf Anforderung der Vereinten Unsere Verantwortung für die Schaffung und Bewah- Nationen Menschen und Material auch für humani- rung von Frieden und Freiheit in Europa und in der täre Hilfe innerhalb und außerhalb des Bündnisgebie- Welt ist gewachsen. Wir müssen deshalb zur Vertei- tes zur Verfügung zu stellen. Der Auftrag bedingt aber digung unseres Landes und des Ter ritoriums unserer auch die Schaffung und den Erhalt der Fähigkeiten, Verbündeten weiterhin politisch willens und militä- deutsche Streitkräfte im Rahmen der Charta der risch fähig sein. Vereinten Nationen für Maßnahmen bei Bedrohung (Beifall bei der CDU/CSU) oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen zur Verfügung zu stellen. Wir müssen weiter zur Verantwortung gegenüber der Völkergemeinschaft, gegenüber den Vereinten Na- Vor dem Hintergrund der angestrebten Politischen tionen und gegenüber der KSZE bereit sein. Nur mit Union Europas würde die Verweigerung der Solidari- dieser Verantwortungsbereitschaft können wir unsere tät zum Frieden die Europaunfähigkeit Deutschlands Interessen wahrnehmen. bedeuten. Die Verweigerung dieser Solidarität würde unser Land im Bündnis und weltweit isolieren. Im Interesse unserer Gesellschaft, aber insbeson- dere auf Grund unserer Verantwortung für die Ange- (Beifall bei der CDU/CSU) hörigen der Bundeswehr muß eine Sicherheitspolitik, Es ist deshalb unsere Überzeugung, daß hierfür eine die sich nicht am Tagesstreit und bloßer Geschäftig- inhaltliche Änderung des Grundgesetzes nicht erf or- keit orientiert, langfristig an dem Erhalt einer einsatz- derlich ist. und verteidigungsfähigen Bundeswehr ausgerichtet sein. (Walter Kolbow [SPD]: Das steht aber nicht im Wehrbeauftragtenbericht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Gleichwohl, Herr Kollege Kolbow, werden wir uns ordneten der F.D.P.) einer verfassungspolitischen Klarstellung des Auftra- Freiheit und Sicherheit haben für die Bürger der ges deutscher Streitkräfte nicht widersetzen, wenn Bundesrepublik Deutschland höchsten Rang. Das dies zur Bildung eines gesellschaftspolitischen Kon- heißt, meine Damen und Herren, daß Freiheit und senses im Sinne dieser Aufgabenbeschreibung bei- 9438 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Paul Breuer trägt. Dabei dürfen wir die Möglichkeiten des Grund- Zuruf gesagt, daß ich, wenn Sie sich gegen einzelne gesetzes allerdings nicht einschränken. Teilbereiche wehren, Deckungsvorschläge erwarte. Wenn Sie sagen, das stehe nicht im Bericht des Sie wissen natürlich genau, daß hier Ihre Schwäche Wehrbeauftragten, dann möchte ich Ihnen dazu liegt. Es ist sehr leicht, den Bürgern zu sagen, ich sagen: Wenn der Wehrbeauftragte den Konsens for- unterstütze die Einrichtung eines Truppenübungs- dert, dann muß man die Bedingungen darstellen, auf platzes nicht, ohne gleichzeitig zu sagen, wo er denn deren Basis der Konsens hergestellt werden kann. angelegt werden soll. Wenn Sie Flächenbedarf vorrechnen, dann sollten (Horst Niggemeier [SPD]: Was Sie damit Sie dazusagen, daß die Belastungen — das wissen Sie getan haben!) sehr genau — in Zukunft zu 80 % in den alten und zu — Sehr richtig, Herr Kollege Niggemeier. 20 % in den neuen Ländern sein werden. Ich denke, Meine Damen und Herren, die Bundeswehr steht hier ist eine faire Betrachtung geboten. Lieber Kollege nicht nur international vor großen Herausforderun- Neumann, ich bin davon überzeugt — das weiß ich aus gen. Mit der notwendigen Reduzierung der Streit- der Erfahrung mit Ihnen als hochgeschätztem Kolle- kräfte auf 370 000 Soldaten bis 1994 und der hier- gen —, daß Sie zu dieser Fairneß fähig sind. durch bedingten Stationierungsentscheidung nach Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. der deutschen Einheit kommt auf die Bundeswehr — (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wir haben heute mehrfach etwas dazu gehört — eine gewaltige Aufgabe zu. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Die Bundeswehr der Zukunft ist die Bundeswehr Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich der Einheit. Ein gewaltiges Zerstörungspotential in schließe die Aussprache. Gestalt des Mate rials der ehemaligen nationalen Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Volksarmee ist in Verschrottung begriffen oder wartet Verteidigungsausschusses auf Drucksache 12/2782 darauf — und alles ohne einen Schuß, ohne Blutver- ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die gießen, ohne Zerstörung und Vernichtung, ohne Sie- Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Die Be- ger und Besiegte. schlußempfehlung ist bei drei Stimmenthaltungen (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: angenommen. Hört! Hört!) Dies ist ein nicht hoch genug einzuschätzender politi- Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 8 auf: scher Erfolg, meine Damen und Herren. Es ist auch ein Erste Beratung des von der Bundesregierung Erfolg der Bundeswehr. eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Gesetzes zur Änderung des Wehrsoldgeset- zes Die Bundeswehr hat im Zusammenwachsen von Ost — Drucksache 12/3330 — und West Vorbildliches geleistet. Ich bin dankbar dafür, Herr Kollege Neumann, daß Sie soeben darauf Überweisungsvorschlag: eingegangen sind. Innenausschuß (federführend) Verteidigungsausschuß Auf dem Weg zur inneren Einheit unseres Vater- Haushaltsausschuß mitberatend landes können wir hier allerdings — das will ich und gemäß § 96 GO deutlich sagen — noch nicht stehenbleiben. Wir sind Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die erst am Beginn des Weges der inneren Einheit. Wir Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre haben ihn bei der Bundeswehr sicher schon etwas und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so weiter beschritten als in anderen gesellschaftlichen beschlossen. Bereichen, aber er ist längst nicht zu Ende. Dies gilt Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unser psychisch und materiell für die Soldaten innerhalb der Kollege Georg Janovsky. Bundeswehr und für ihre Familien außerhalb der Bundeswehr. Georg Janovsky (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Nach dem 3. Oktober 1990 haben die Soldaten in Kolleginnen und Kollegen! Die allgemeine Wehr- den neuen Ländern Vorbildliches geleistet. Diese pflicht ist Ausdruck eines gesamtgesellschaftlichen Haltung brauchen wir auch weiterhin. Business as Konsenses über die Notwendigkeit und den Erhalt usual ist nicht angesagt, meine Damen und Herren. einer wirksamen Landesverteidigung. Da dies das (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Prinzip der Verteidigungspolitik der CDU/CSU-Frak- SPD) tion ist, fühlen wir uns den Wehrpflichtigen, d. h. den Grundwehrdienstleistenden, den Reservisten und den Ich möchte ein kurzes Wort zu der Diskussion über Zivildienstleistenden, besonders verpflichtet. das Truppenübungsplatzkonzept von Verteidigungs- Wehrpflichtige müssen ihre berufliche Laufbahn minister Volker Rühe sagen. unterbrechen und erleiden finanzielle Einbußen. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Aber kein Wort des Wehrsold ist kein Lohn, sondern ein Taschengeld. Lobes!) Wehrpflichtige erbringen durch ihren Dienst ein Ich finde dieses Truppenübungsplatzkonzept ausge- Opfer für das Gemeinwohl, das wir hoch anerkennen wogen, weil es auf die Bedürfnisse der Menschen und wofür wir danken. auch in den neuen Ländern eingegangen ist. Herr (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Kollege Neumann, ich habe vorhin schon in einem SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9439

Georg Janovsky Deshalb — und weil im Mittelpunkt der CDU/CSU 4. Dezember ist, der Erhalt der besonderen Zuwen- Politik immer der Mensch steht — begrüßt meine dung sichergestellt ist. Fraktion den von der Bundesregierung vorgelegten Gut drei Jahre seit der letzten Wehrsolderhöhung ist Gesetzentwurf zur Änderung des Wehrsoldgesetzes. eine lange Zeit. Trotzdem ist die ab dem 1. Oktober Bereits im Mai dieses Jahres haben Verteidigungs- 1992 wirksam werdende Wehrsolderhöhung im Hin- politiker der Union nach einer Sitzung ihrer Arbeits- blick auf die insgesamt angespannte Finanzlage ein gruppe in Berlin die Wehrsolderhöhung als ein dring- gutes Werk. Immerhin entstehen jährliche Mehrko- liches Anliegen der CDU/CSU hervorgehoben. Mit sten in Höhe von mehr als 200 Millionen DM. Als dem Beschluß der Bundesregierung vom 12. Juli 1992, Abgeordneter aus Sachsen freue ich mich besonders die Wehrsoldtagessätze für wehrpflichtige Grund- darüber, daß die Erhöhungen des Wehrsoldes und des- wehrdienstleistende und Reservisten um einheitlich Weihnachtsgeldes unseren Grundwehrdienstleisten- 2 DM ab 1. Oktober 1992 zu erhöhen, den aus und in den neuen Bundesländern voll zugute (Walter Kolbow [SPD]: Höchste Zeit!) kommen. hat das Kabinett dem entsprochen. (Beifall des Abg. Gerhard Neumann [Gotha] (Walter Kolbow [SPD]: Endlich!) [SPD]) Demzufolge, lieber Kollege Kolbow, war Ihr Antrag Ich halte es für wichtig, in diesem Zusammenhang vor der Sommerpause längst überholt und diente nur nochmals darauf zu verweisen, daß Grundwehr- parteipolitischer Profilierungssucht. dienstleistende in Ost und West seit gut einem Jahr sind, d. h.: gleicher Wehrsold, gleiches (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — gleichgestellt Weihnachtsgeld und gleiches Entlassungsgeld. Von Widerspruch bei der SPD) dieser Stelle danke ich den Kollegen des Haushalts- Der heute diskutierte Gesetzentwurf geht noch ausschusses, die dazu beigetragen haben, daß die darüber hinaus, indem auch das Weihnachtsgeld um Wehrsolderhöhung zum 1. Oktober 1992 erfolgt und 60 DM auf 450 DM angehoben wird. Weiterhin stellt das Geld bereitsteht. dieser Entwurf durch die Änderung der Anspruchs- voraussetzungen für diese besonderen Zuwendungen Meine Damen und Herren, trotz vieler Unkenrufe: sicher, daß jeder Grundwehrdienstleistende diese Die Union hat zu ihrem Wort gestanden. Auf uns ist Zuwendung erhält. Denn nach der Verkürzung des eben Verlaß! Grundwehrdienstes auf 12 Monate waren die im Danke schön. November und am 1. Dezember Einberufenen ausge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schlossen, weil sie die Wartezeiten im Jahr der Einbe- rufung nicht erreicht hatten und im Entlassungsjahr bereits vor dem Stichtag ausschieden. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Horst Nigge- Janovsky, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- meier. legen Kolbow?

Georg Janovsky (CDU/CSU): Bitte, Herr Kollege Horst Niggemeier (SPD): Herr Präsident! Meine Kolbow. lieben Kolleginnen und Kollegen! Da schloß doch der Kollege Janovsky mit der überzeugenden Bemer- Walter Kolbow (SPD): Da Sie gegenüber der Oppo- kung: „Auf uns ist eben Verlaß!" sition den ungeheuerlichen Vorwurf erhoben haben, (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) wir hätten einen Showantrag gestellt, frage ich Sie, Dies hätte mich fast dazu veranlaßt, Beifall zu klat- wie Sie, Herr Kollege Janovsky, die gestrigen Ausfüh- schen. Aber ich weiß es besser: Auf Sie und Ihr rungen des Generalsekretärs der F.D.P. auf der Bun- Kabinett ist in der Frage der Wehrsolderhöhung leider destagung des Bundeswehrverbandes für Wehrpflich- kein Verlaß; ebensowenig ist auf Sie Verlaß auf tige kommentieren, wonach die späte Vorlage des Ge- anderen Gebieten. setzentwurfes zur Wehrsolderhöhung allein ein Ver- säumnis der Bundesregierung sei. (Beifall bei der SPD) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das neh- In der jüngeren Zeit men Sie sofort zurück!) (Zuruf von der CDU/CSU: Wann war das?) — ich sage Ihnen das gleich — haben wir den (CDU/CSU): Herr Kollege Kolbow, Georg Janovsky Wehrsold in einem Rhythmus von etwa drei Jahren ich kenne diese Aussage nicht, aber wir stehen zu erhöht. Die letzte war im Juni unserem Wort. Wenn Sie meine Rede noch weiter Wehrsolderhöhung 1989. Ich frage mich allen Ernstes: Warum gibt es verfolgen, werden Sie meinen Standpunkt dazu eigentlich diesen verrückten bei gleich erfahren. Dreijahresrhythmus der Solderhöhung für Soldaten, von denen wir sagen, (Beifall bei der CDU/CSU) daß sie eine großartige Pflicht gegenüber unserer Dies ist nun zugunsten der Grundwehrdienstlei- Gesellschaft erfüllen? Dagegen werden im öffentli- stenden, da in der Regel für Freitag, Samstag und chen Dienst die Einkommen vernünftigerweise Jahr Sonntag nicht einberufen wird, so geregelt, daß selbst für Jahr angehoben. Nur unsere Soldaten müssen drei dann, wenn der Einberufungstag ein Tag bis zum Jahre auf die nächste Wehrsolderhöhung warten. Ich 9440 Deutscher Bundestag — 12.Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Horst Niggemeier meine, dies ist eine gemeinsam überprüfungswürdige Paul Breuer (CDU/CSU): Ich finde das sehr instruk- Angelegenheit. tiv. Können Sie denn erklären, was die ökologische (Beifall bei der SPD — Claire Marienfeld Effizienzrevolution ist? [CDU/CSU]: Wie war das unter SPD-Regie rungen?) (SPD): Diese ökologische Effi- — Das kann ich nicht so genau sagen, Frau Marien- Horst Niggemeier zienzrevolution hat unser neuer umweltpolitischer feld. Wir beide sind zur gleichen Zeit ins Parlament Sprecher, Michael Müller, erst kürzlich in der „taz" gekommen. verkündet, und ich nehme das sehr ernst. Genau (Paul Breuer [CDU/CSU]: Da war es deshalb wollen wir die Mineralölsteuer erhö-- genauso! Aber wir sind bereit, darüber nach hen. — — Sind Ihre Fragen jetzt ausreichend beant- zudenken!) wortet? Es ist prima, wenn es uns gelingt, Sie dazu anzuregen. (Paul Breuer [CDU/CSU]: Wir sollten ihn — Es ist zwar in unserer Fraktion noch nicht bespro- einmal gemeinsam befragen, denke ich!) chen worden, aber nach meiner Auffassung bietet sich eine Dynamisierung des Wehrsolds für unsere Solda- — Okay. ten an, damit wir diese Diskussion, wie wir sie heute (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der führen, nicht mehr führen müssen und nicht der eine CDU/CSU und der F.D.P.) Redner vom anderen sagt: Auf mich oder auf uns ist Also, jetzt ist das mit der Mineralölsteuer klar; sie ist Verlaß. erhöht worden. Die Lebenshaltungskosten sind zwischenzeitlich dank der Preis- und Wirtschaftspolitik der Koalitions- (Leni Fischer [Unna] [CDU/CSU]: Das kriegt fraktionen und der von ihnen gestellten Bundesregie- ihr nie klar!) rung erheblich gestiegen. Besonders gestiegen ist der — Das kriegen wir nie klar? Frau Fischer, die ökolo- Benzinpreis. Das belastet die spärlich gefüllten Geld- gische Effizienzrevolution müßte auch Ihnen geläufig beutel unserer Wehrpflichtigen sehr. Viele Grund- sein. wehrdienstleistende sind bei den Familienheimfahr- Bisher war die Wehrpflicht in unserer Gesellschaft ten auf die Benutzung eines privaten Kraftfahrzeuges relativ unumstritten. Die Mehrheit der Bürger trägt angewiesen, weil an vielen Standorten keine zumut- diese Wehrpflicht mit. Ihre Akzeptanz hängt wesent- baren Verbindungen mit öffentlichen Verkehrsmit- lich von den sozialen und finanziellen Bedingungen teln bestehen. Deshalb geht diese kräftige Erhöhung ab, denen sich die Grundwehrdienstleistenden und der Mineralölsteuer besonders zu Lasten unserer Reservisten sowie deren Familien ausgesetzt sehen. Soldaten. Deshalb hat die SPD-Fraktion im Verteidigungsaus- schuß im Rahmen der Haushaltsberatungen — jetzt Herr Kollege Nig- Vizepräsident Helmuth Becker: kommt es, Herr Kollege Janovsky — gemeier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- gen Breuer? (Georg Janovsky [CDU/CSU]: Ich lausche!) seit zwei Jahren strukturelle Verbesserungen beim Horst Niggemeier (SPD): Aber selbstverständlich! Wehrsold gefordert. Diese Anträge wurden in den Vorjahren jeweils durch die Fraktionen der CDU/CSU Paul Breuer (CDU/CSU): Herr Kollege Niggemeier, und der F.D.P. abgelehnt. wenn Sie auf die Erhöhung der Benzinpreise und (Walter Kolbow [SPD]: Richtig!) insbesondere der Mineralölsteuer abstellen, ist Ihnen doch sicher bekannt, daß die SPD erheblich weiterge- Da sitzen die Herrschaften, die das gemacht haben. hende Erhöhungen fordert. Wie stehen Sie dazu? (Walter Kolbow [SPD]: Unerhört! — Weiterer Zuruf von der SPD: Hört, hört!) Horst Niggemeier (SPD): Herr Kollege Breuer, das Das, was ich hier vortrage, läßt sich also nachprü- ist eine gute Frage. Die von Ihnen gestellte Bundesre- f en. gierung hat von 1989 bis heute die Mineralölsteuer zwischen 31 und 37 Pfennig pro Liter erhöht; das ist (Walter Kolbow [SPD]: Herr Kollege, fragen eine beachtliche Zahl. Diese Erhöhung diente dazu, Sie einmal: Warum?) Ihre Finanzpolitik zu kaschieren. Wenn wir die Mine- — Das werden die sicher gleich im Anschluß an meine ralölsteuer erhöhen wollen, dann deshalb, um die Ausführungen erklären. ökologische Effizienzrevolution in Gang zu bringen. Bereits im April 1991, meine Damen und Herren von (Lachen und Beifall bei der CDU/CSU und der Koalition, wurde durch einen fraktionsübergrei- der F.D.P.) fenden Antrag von der Bundesregierung — auf die Regierung ist Verlaß, Herr Janovsky! —, eine „struk- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Nig- turelle Verbesserung des Wehrsolds" gefordert, wie gemeier, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des es der Verteidigungsausschuß formuliert hat. Es sollte Kollegen Breuer? ein Bericht durch den Minister vorgelegt werden. Das Ergebnis wurde am 29. September 1991 dem Horst Niggemeier (SPD): Aber gerne. Verteidigungsausschuß durch den damaligen Parla- mentarischen Staatssekretär Ottfried Hennig — der Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Kollege jetzt als Oppositionsführer in Schleswig-Holstein sein Breuer. Dasein fristet — dem Ausschuß mitgeteilt. Dies ist Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9441

Horst Niggemeier ganz wichtig zu hören — September 1991, Staatsse- Kette derer sind, die ihren Dienst für die Gesellschaft kretär Henning aus dem Verteidigungsministe- leisten. rium —: (Walter Kolbow [SPD]: Was meinen Sie denn Ich sehe zur Zeit keinen Handlungsbedarf für damit genau, Herr Kollege?) weitere Verbesserungen beim Wehrsold. -- Ganz einfach; ich nenne einmal ein Beispiel: Wir als Abgeordnete erfüllen unseren Dienst gegenüber dem Das war, wie gesagt, im Herbst 1991. deutschen Volk für 10 000 DM im Monat und der (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Jetzt Soldat für 450 DM im Monat. sind wir ein Jahr weiter!) (Vera Wollenberger [BÜNDNIS 90/ - DIE GRÜNEN]: Für 400 DM!) — Richtig, aber ein Jahr weiter, Herr Nolting, ohne Das ist der kleine Unterschied, Herr Kollege Kol- daß die Wehrpflichtigen in den Genuß einer Wehrsol- bow. derhöhung gekommen wären, wie das bei allen ande- ren Beschäftigten in diesem deutschen Lande der Fall (Paul Breuer [CDU/CSU]: Aber ich habe das ist. auch einmal für dieses Geld gemacht!) — Ja, so lustig sehen Sie jetzt auch aus. (Beifall des Abg. Walter Kolbow [SPD] — Günter Friedrich Nolting [F.D.P.]: Dann kön (Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie denn nen wir uns ja darüber unterhalten, wie wir in gedient?) Zukunft verfahren!) — Natürlich, ich bin Major der Reserve. — Ich sage Ihnen, das ist eine ganz einfache Regelung: (Zuruf von der CDU/CSU: Wunderbar! Wir dynamisieren den Wehrsold, und dann hat es Respekt, Respekt!) sich. Die jungen Männer, deren Wehrsold erhöht werden soll, werden sich natürlich sehr darüber freuen. Dann kam der neue Verteidigungsminister Volker Rühe; auch das ist ein ganz interessanter Aspekt. Aber ich meine, wir sollten um der politischen Dieser kündigte im Mai 1992 — nachdem im Septem- Wahrheit und Klarheit willen auch deutlich machen, ber 1991 alles abgelehnt worden war — auf der daß wir als Sozialdemokraten sehr lange dafür fighten Kommandeurstagung in Leipzig und in den Medien mußten, daß es so weit gekommen ist. Ich denke, wir eine Initiative zur Erhöhung des Wehrsolds noch für alle sollten uns in Zukunft ein bißchen stärker darum das Jahr 1992 an. bemühen, daß solche Vorgänge, wie wir sie in der Vergangenheit im Hinblick auf den Wehrsold hatten, (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Freuen nicht wieder vorkommen. Immerhin, nach drei Jahren Sie sich doch!) haben wir als Politiker eine Anpassung des Wehrsol- des an die gestiegenen Preise angeboten und verspro- Wie bereits erwähnt, war das sowohl von der SPD als chen. Das Kabinett und der Bundestag mußten damals auch dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundes- nur zustimm en. Alle Zivildienstleistenden und Reser- tages seit langem vergeblich gefordert worden. visten haben daran geglaubt, daß wir das tun würden. Wer bösartig ist Aber das war leider nicht der Fall. Wie gesagt, im August 1992 stand alles noch auf des Messers (Walter Kolbow [SPD]: Das ist hier nie Schneide. Inzwischen ist aber Gott sei Dank alles mand!) geregelt worden. — das ist hier niemand; ich bin es auch nicht —, der (Zuruf von der CDU/CSU: Dank der Koali könnte jetzt sagen, daß eine solche Art, Wehrsoldpo- tion!) litik zu machen, eine Politik nach Gutsherrenart ist. Ich hoffe sehr, daß wir uns in Zukunft etwas stärker darauf besinnen, daß wir parteitaktisches Vorteils- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Gut, daß denken, wie das gerade in der Wehrsoldfrage zum das keiner sagt! — Heiterkeit und Beifall bei Ausdruck gekommen ist, zurückstellen können, der CDU/CSU und der F.D.P.) indem wir gemeinsam, CDU/CSU, F.D.P. und SPD, — Sehr gut. — Aber ich will einmal weiter denken, darüber nachdenken, wie wir die Sicherheitspolitik was er vielleicht sagen könnte. Wenn der neue Herr und alles, was damit zusammenhängt, von parteitak- auf dem Rittergut ankommt, tischen Überlegungen freihalten können. Wer mich kennt, weiß, daß ich sehr dafür bin, daß Sicherheits- (Walter Kolbow [SPD]: Hardthöhe!) politik eine Angelegenheit des gesamten Deutschen Bundestages und nicht nur einer Partei ist. dann tut er seinem Gesinde etwas Gutes. So hat das auch Rühe gemacht. Diese Rittergutsbesitzeraura (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut! könnte Rühe schnell loswerden, indem er beispiels- Bravo!) weise unseren Vorschlag aufnimmt und dafür sorgt, Deswegen bitte ich darum, daß wir gemeinsam dafür daß wir durch ein vernünftiges Wehrsoldkonzept zu sorgen, daß der Wehrsold erhöht wird. einer Dynamisierung kommen. Schönen Dank. Selbstverständlich sind wir — damit auch da keine (Beifall bei der SPD — Dr. Jürgen Rüttgers Zweifel aufkommen — für die Erhöhung des Wehrsol- [CDU/CSU]: Das war eine rhetorische Effi des, weil wir meinen, daß die Soldaten einschließlich zienzrevolution! -- Heiterkeit bei der CDU/ der Zivildienstleistenden das schwächste Glied in der CSU) 9442 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und — Nein, das weiß ich; ich meinte die Sozialdemokra- Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen ten. Die können auch Sonntagsreden halten; das Jürgen Koppelin. machen wir ja auch. (Paul Breuer [CDU/CSU]: Einige, aber nicht der!) Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Wir sprechen jedenfalls auch in dieser Form den Damen und Herren! Nach diesem Mineralölsteuerde- Grundwehrdienstleistenden unseren Dank aus. battenbeitrag unter Berücksichtigung der Gutsherren darf ich vielleicht auf das Thema Wehrsold zurück- (Beifall bei der F.D.P.) - kommen. Uns allen ist klar, daß der Wehrsold bei weitem kein Nach der eben stattgefundenen Beratung über den Ausgleich für entgangenes Einkommen oder geop- Bericht des Wehrbeauftragten finde ich es gut, daß wir ferte Freizeit ist. Andererseits sind wir auch nicht der gleich eine Forderung des Wehrbeauftragten durch Auffassung, daß die Wehrpflichtigen die Sparkasse praktische Politik erfüllen. Ich meine den Hinweis in des Verteidigungshaushaltes darstellen sollen. Kol- seinem Bericht auf die notwendige Erhöhung des lege Niggemeier, ich fand sehr gut, was Sie gesagt Wehrsoldes. Ich begrüße es ausdrücklich, daß nach- haben. Ich möchte Sie ausdrücklich in einem Punkt dem der Be richt veröffentlicht wurde, sowohl der unterstützen. Ich finde, daß wir bei dieser Gelegenheit Verteidigungsminister als auch die Koalitionsparteien einmal darüber nachdenken sollten, ob wir vom sofort erklärt haben, daß sie selbstverständlich ge- bisherigen dreijährigen Rhythmus der Erhöhung des willt seien, in diesem Jahr den Wehrsold anzu- Wehrsoldes abkommen und zukünftig den Wehrsold heben. vielleicht in kürzeren Zeitabständen erhöhen sollten. Das wird dann natürlich nicht in der Höhe sein, wie wir (Beifall bei der F.D.P. --- Zuruf von der SPI): es jetzt vornehmen. Insgesamt sollten wir aber von Wild entschlossen!) dem dreijährigen Rhythmus abkommen. — So war es. Ich habe bereits eingangs gesagt, die Koalitionspar- teien und der Verteidigungsminister hätten deutlich In einem Entschließungsantrag haben wir — CDU/ gemacht, daß sie für eine Erhöhung des Wehrsoldes CSU, F.D.P. und auch die SPD — Anfang Juni im zum 1. Oktober dieses Jahres eintreten und eingetre- Verteidigungsausschuß die Bundesregierung aufge- ten sind. Daran, meine ich, Kollege Kolbow, konnte es fordert, die Voraussetzungen für eine Wehrsolderhö- keinen Zweifel geben. Um so bedauerlicher fand ich hung um 2 DM pro Tag ab 1. Oktober 1992 zu schaffen. es, daß die SPD es für notwendig erachtet hat, Unsi- Dieser Aufforderung ist die Bundesregierung mit dem cherheit und — das sage ich ausdrücklich — damit Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung auch Parteienverdrossenheit bei den Wehrpflichtigen des Wehrsoldgesetzes nachgekommen. zu schüren. Ich will für die F.D.P. ausdrücklich begrüßen, daß (Beifall bei der F.D.P. — Zuruf von der wir bei unserer Forderung nach Erhöhung des Wehr- CDU/CSU: Ungeheuerlich!) soldes den Bundesminister der Verteidigung von Anfang an auf unserer Seite hatten. Ich meine, diese Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen, Kol- Haltung verdient um so mehr Anerkennung, als in lege Niggemeier und Kollege Kolbow! dieser Zeit, wo das Geld so knapp ist und im Haushalt Einsparungen vorgenommen werden müssen, immer- (Walter Kolbow [SPD]: Ein erheblicher Vor hin — um nur eine Zahl zu nennen — für 1993 wurf!) 221,5 Millionen DM zusätzlich bereitgestellt werden Der Kollege Janovsky hatte vorhin recht, insofern will müssen. So ein Betrag ist, glaube ich, wohl kein ich gerne ihm zur Seite stehen. Kollege Kolbow, Sie Zuckerschlecken. hatten in einer Erklärung vom 27. Juni behauptet, die Koalitionsparteien hätten in der Bundestagssitzung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — am 26. Juni einem Antrag der SPD auf Erhöhung des Walter Kolbow [SPD]: Das sieht die Regie Wehrsoldes nicht zugestimmt. rung aber anders!) (Zurufe von der F.D.P. und der CDU/CSU: Auch die Erhöhung des Weihnachtsgeldes für Unerhört!) Grundwehrdienstleistende um 60 DM auf 450 DM findet natürlich unsere volle Zustimmung. Es erfreut Tatsache ist, daß es am 26. Juni über die Erhöhung vor allem, Herr Staatssekretär, daß alle das Weih- des Wehrsoldes gar keine Abstimmung gegeben nachtsgeld erhalten, auch diejenigen, die im Novem- hat. ber oder Dezember einberufen werden. (Zurufe von der F.D.P. und der CDU/CSU: Damit machen wir, so glaube ich, deutlich, daß wir Warum sagt ihr dann das? — Walter Kolbow nicht nur bei Gelöbnisfeiern oder bei Sonntagsreden, [SPD]: Die haben Sie verhindert! — Abg. Kollege Nieggemeier, den Grundwehrdienstleisten- Walter Kolbow [SPD] meldet sich zu einer den unseren Dank und unsere Anerkennung ausspre- Zwischenfrage) chen. Der Antrag der SPD, am 26. Juni gestellt, wurde nach (Paul Breuer [CDU/CSU]: Herr Niggemeier unserer Geschäftsordnung auf die nächste Sitzungs- ist kein Sonntagsredner!) woche verwiesen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9443

Jürgen Koppelin Und jetzt steht in meinem Protokoll — Sie können es Jürgen Koppelin (F.D.P.): Nein, das habe ich nicht, wirklich nachlesen —: Frage des Kollegen Kolbow. aber ich habe damit gerechnet. Bitte schön. (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/- (Heiterkeit im ganzen Hause) CSU)

Walter Kolbow (SPD): Wenn Sie damit gerechnet Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Kop- haben, will ich Sie nicht enttäuschen, Herr Kollege. pelin, ich bedanke mich. Das Wort zu einer Zwischen- Glauben Sie das, was Sie gerade gesagt haben? frage hat der Kollege Kolbow. - Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ich weiß nicht, was für Sie Walter Kolbow (SPD): Herzlichen Dank, Herr Kol- „glauben" heißt. Glauben heißt ja normalerweise: lege. Jetzt muß ich Sie auch fragen, ob Sie bereit sind, nicht wissen. Ich bin von dem überzeugt, was ich hier Ihren Generalsekretär zu fragen, ob er auf der von mir sage. schon zitierten Wehrpflichtigentagung des Deutschen (Paul Breuer [CDU/CSU]: Haben Sie denn Bundeswehrverbandes dann zu Unrecht die Bundes- zwei Fragen in Ihrem Redemanuskript ste- regierung der Verzögerung bei der Wehrsolderhö- hen?) hung gezeitigt hat. — Er hat schon danach gefragt; ich war auf weitere Fragen eingestellt. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Der Generalsekretär Was wollte ich damit sagen? Deswegen habe ich das kommt gerade aufs Stichwort durch die Tür. Sie auch zitiert, Herr Kollege Kolbow. Als Parlamentarier, können ihn nachher selbst fragen. Ich will aber die der zum erstenmal in den Bundestag gekommen ist, Frage in meiner Form beantworten und hoffe, diese war ich darüber enttäuscht, daß Sie nicht darauf Antwort ist dann eindeutig. Ich hatte mir ja aufge- bestanden haben, daß über Ihren Antrag abgestimmt schrieben, daß von Ihnen eine Zwischenfrage kommt. wird. Inzwischen bin ich aber etwas klüger geworden. Wie Ihre Darstellung zu deuten ist, hat der Kollege Sie hatten überhaupt kein Interesse daran, über Ihren Heistermann sehr deutlich gemacht. Er hat es nämlich Antrag abstimmen zu lassen, weil Sie ganz genau überhaupt nicht begriffen. Leider ist er heute nicht wußten, daß die Koalition und der Verteidigungsmi- hier, aber ich muß einmal die Presseerklärung des nister ihr gegebenes Wort halten würden. Das wußten Kollegen Heistermann vom 12. August zitieren. Kol- Sie ganz genau; deswegen haben Sie auch auf eine lege Heistermann sagt: Abstimmung in der darauffolgenden Sitzungswoche Freilich lehnten die Regierungsparteien CDU/ überhaupt keinen Wert gelegt, obwohl Sie das Recht CSU und F.D.P. noch in der letzten Sitzungswo- dazu gehabt hätten. che vor der parlamentarischen Sommerpause (Walter Kolbow [SPD]: Abenteuerlich, Herr einen entsprechenden Antrag der SPD im Bun- Kollege!) destag ab. Mit dem jetzt vorgelegten Entwurf zur Änderung Das stimmt meines Erachtens nicht. Das stimmt des Wehrsoldgesetzes lösen wir trotz damit verbunde- überhaupt nicht. ner jährlicher Mehrkosten in Millionenhöhe unser (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — gegebenes Versprechen ein. Die Wehrpflichtigen in Zuruf von der CDU/CSU: Der war doch der Bundeswehr wissen also, daß die Koalition und obsolet! — Walter Kolbow [SPD] meldet sich das Ministerium zu ihrem Wort stehen. zu einer weiteren Zwischenfrage) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Jetzt sage ich noch etwas, was wie ein Bumerang auf Meine Damen und Herren! Für die F.D.P.-Fraktion die SPD zurückkommt. Sie können sich wieder set- spreche ich allen unseren Wehrpflichtigen in der zen! Bundeswehr den Dank für ihren Dienst aus. Uns ist (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ klar, daß weitere Verbesserungen für die Grundwehr- dienstleistenden notwendig sind. Wir, die F.D.P., sind CSU) bereit, an Verbesserungen mitzuarbeiten. Die Koali- Der Kollege Heistermann hat gesagt: tion insgesamt ist gewillt, das zu tun. Wir laden die Nach diesem parteipolitischen Taktieren braucht Sozialdemokraten herzlich dazu ein, ebenfalls ihren man sich nicht mehr über die Politikverdrossen- Beitrag zu leisten. Dem vorliegenden Gesetzentwurf heit unserer Bürger und insbesondere der jungen werden wir zustimmen. Ich danke für Ihre Aufmerk- Leute zu wundern. samkeit. Hier gebe ich ihm vollkommen recht; nach diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Taktieren braucht man sich wirklich nicht mehr zu wundern. Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Vera Wollenberger das Wort. Herr Kollege Kop- Vizepräsident Helmuth Becker: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): pelin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Vera Wollenberger Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem Kollegen Kolbow? — Bitte, Kollege Kolbow. konstruktiven Ende des letzten Redebeitrages und dem Angebot, gemeinsam darüber nachzudenken, Walter Kolbow (SPD): Darf ich Sie zunächst fragen, wie man über den heutigen Gesetzentwurf hinaus Herr Kollege, ob Sie in Ihrem Manuskript eine weitere noch mehr für die Wehrpflichtigen tun kann, möchte Zwischenfrage von mir aufgeführt haben. ich gleich einmal einen konstruktiven Vorschlag 9444 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Vera Wollenberger machen und daran erinnern, daß unsere Vorgänger, eine Wehrsolderhöhung und die Anhebung des DIE GRÜNEN im Bundestag, regelmäßig beantragt Weihnachtsgeldes bemüht hat, und dies mit Erfolg. haben, den Wehrsold doch mindestens dem Sozialhil- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — fesatz im Westen anzugleichen. Dies würde bedeuten, Walter Kolbow [SPD]: Die Jahre!) daß der Wehrsold jetzt auf mindestens 507 DM fest- gelegt werden müßte. Dabei ist das immer noch Kollege Niggemeier, ich will hier gar nicht differen- zuwenig; denn der Paritätische Wohlfahrtsverband zieren. fordert bereits eine Mindestsicherung von 770 DM. (Walter Kolbow [SPD]: Das muß man, Herr Ich frage Sie, meine lieben Kolleginnen und Kolle- Kollege!) gen: Wenn Sie so glühende Verfechter der Wehr- Entscheidend ist, daß wir zum Erfolg gekommen sind; pflicht sind und wenn Sie hier des langen und des das sollte man herausstellen. breiten über die schwere Pflicht unserer Vaterlands- Die politische Leitung des Bundesministeriums hat verteidiger reden, was hindert Sie eigentlich daran, schon in der Haushaltsdebatte dargestellt, daß die diese jungen Menschen mit einer Mindestsicherung Bundesregierung der Sorge um die Menschen in der zu versehen, die allen anderen Bürgern zusteht? Bundeswehr Vorrang gibt. Dabei bedürfen die Grundwehrdienstleistenden unserer besonderen Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Wol- Aufmerksamkeit. Darin werden Sie mir zustimmen, lenberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- Kollege Kolbow. Die überwältigende Mehrheit des legen Breuer? — Bitte, Herr Kollege Breuer. Deutschen Bundestages sagt ja zur Wehrpflicht. Die- ses Ja bedeutet, daß wir uns um die Wehrpflichtigen Paul Breuer (CDU/CSU): Frau Kollegin Wollenber- kümmern müssen. Wehrdienst in der Bundeswehr ist ger, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Dienst an unserem Volk. Das verlangt neben guter Unterschied zwischen einem Wehrdienstleistenden Ausrüstung und fordernder Dienstgestaltung auch und einem Sozialhilfeempfänger darin besteht, daß angemessene finanzielle Zuwendungen. Ich bin mir der Sozialhilfeempfänger seinen gesamten Lebens- wohl bewußt, daß der Dienst, den unsere Wehrpflich- unterhalt, inklusive Kleidung und Nahrung, davon tigen in den Streitkräften leisten, mit dem Wehrsold bestreiten muß, wohingegen der Wehrpflichtige und den Unterhaltsleistungen nur teilweise abgegol- zusätzliche Einkünfte durch alle möglichen Leistun- ten wird. Um so wichtiger muß es für Parlament und gen hat? Ich denke, wir sollten sehr deutlich sehen, Regierung sein, unseren jungen Soldaten zukommen daß hier erhebliche Unterschiede bestehen. zu lassen, was immer möglich ist. In einer Zeit, da der Staat sparen muß, fallen Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin mir dieser Unterschiede wohl bewußt. Wir alle finanzielle Erhöhungen generell nicht leicht. Bei den haben aber den Bericht des Wehrbeauftragten gele- Wehrpflichtigen haben wir jedoch ein Gebot, das sen, der mehrere Beispiele dafür gebracht hat, wie höherwertig ist, nämlich das Gebot, Wehr- und sich junge Wehrpflichtige verschulden müssen, um Dienstgerechtigkeit zu verwirklichen. Frau Kollegin ihren Lebensstandard während der Wehrdienstzeit zu Wollenberger, ich darf darauf hinweisen: Wir haben halten. Angesichts der Wehrungerechtigkeit, die von Wehrgerechtigkeit. Diejenigen, die wehrtauglich sind allen Parteien zugegeben wird, denke ich, sollte man und keiner gesetzlichen Ausnahme unterliegen, die- diesen Zustand ändern und vor allem diesen jungen nen heute schon zu 97 %, und zwar über 50 % in der Wehrpflichtigen helfen, daß sie nicht mit Schulden aus Bundeswehr und die anderen bei Polizei, BGS, Zivil- dem Wehrdienst ausscheiden. dienst, Freiwilliger Feuerwehr oder in anderen Berei- chen. Aber das Gebot der Dienstgerechtigkeit ver- (Paul Breuer [CDU/CSU]: Aber das Beispiel langt, jeden, der dienen kann, zum Wehrdienst oder mit dem Sozialhilfeempfänger ist nicht zu einem anderen gleichwertigen Gemeinschafts- gut!) dienst heranzuziehen, und jeden, der dient, sozial so Ich habe jetzt gerade gemerkt, daß ich in der zu stellen, daß er gegenüber dem, der aus gesundheit- Beantwortung Ihrer Frage einigermaßen das ausge- lichen oder anderen Gründen nicht dienen kann, nach führt habe, was ich ohnehin sagen wollte. Unsere Möglichkeit nicht benachteiligt ist. Vorschläge liegen auf dem Tisch. Wir wollen eine Ich darf ferner darauf hinweisen, daß wir den Angleichung des Wehrsoldes mindestens an den So- Wehrsold seit 1984 nunmehr zum drittenmal erhöhen. zialhilfesatz; nach oben sind aber keine Grenzen Wir haben dies gerade 1989 in einer überaus deutli- gesetzt. Ich hoffe sehr, daß Sie sich unseren Vorschlä- chen Weise getan. Damals sind wir weit über eine gen anschließen werden. Vielen Dank. Dynamisierung hinausgegangen. Insofern haben wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den Wehrpflichtigen eine große Hilfe zuteil werden lassen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Ich darf auch darauf hinweisen, daß wir, als es Herren, nunmehr erteile ich das Wort unserem Kolle- darum ging, von W 15 auf W 18 zu gehen, gen, dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung, Bernd Wilz. (Walter Kolbow [SPD]: Und wieder zu- rück! ) Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär beim Bundesmini- die Abfindung von 1 170 DM im Jahre 1990 auf ster der Verteidigung: Herr Präsident! Liebe Kollegin- 2 500 DM erhöht haben. Wir haben es bei dieser nen und Kollegen! Ich bin sehr dankbar, daß die Erhöhung auf 2 500 DM belassen, obwohl wir die Debatte eindeutig gezeigt hat, daß sich der Bundes- Dauer des Wehrdienstes auf 12 Monate beschränkt minister der Verteidigung aktiv und rechtzeitig um haben. Ich glaube, das macht deutlich, wie wichtig uns Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9445

Parl. Staatssekretär Bernd Wilz die Unterstützung unserer Wehrpflichtigen jetzt und Beschlußempfehlung und Be richt des Rechts- auch in Zukunft ist. ausschusses (6. Ausschuß) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — Drucksache 12/3337 — Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf folgen wir der Berichterstattung: bewährten Linie der Bundesregierung, daß die Auf- Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer wendungen für den Menschen Vorrang vor der mate- Dr. Eckhart Pick riellen Ausstattung der Streitkräfte haben müssen. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat war für Diese Politik ist gerade bei einem Sparhaushalt von diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. Inzwi- besonderer Bedeutung. Mit der angestrebten Wehr- schen ist mir mitgeteilt worden, daß die vorgesehenen - solderhöhung werden wir in die Lage versetzt, unse- Redner ihre Reden zu Protokoll geben wollen. Das ist ren jungen Soldaten, die einen so wichtigen und dabei eine Abweichung von der Geschäftsordnung. Ich bitte nicht einfachen Dienst an unserem Volk leisten, ein um Zustimmung. — Ich höre und sehe keinen Wider- Zeichen für unsere Anerkennung zu geben. spruch. Dann ist das so beschlossen *). Mein besonderer Dank gilt heute allen Kolleginnen Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung und Kollegen im Hause, die sich mit der politischen über den von den Fraktionen der CDU/CSU und Führung des BMVg um die Verbesserung der Lage F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur unserer Wehrpflichtigen bemüht haben. Um Ihrer Verkürzung der Juristenausbildung auf den Drucksa- aller Unterstützung für die Belange der Bundeswehr chen 12/2280 und 12/3337. Ich bitte diejenigen, die bitte ich auch in Zukunft, denn ich glaube, unsere dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustim- Wehrpflichtigen haben dies wahrlich verdient. men wollen, um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Herzlichen Dank. Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlos- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Vizepräsident Helmuth Becker: Ich schließe die Wir treten jetzt in die Aussprache. dritte Beratung Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/3330 an die in der diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es len, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — dazu anderweitige Vorschläge? — Ich sehe, das ist Stimmenthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist damit nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so auch in dritter Lesung einstimmig angenommen. beschlossen. Unter Buchstabe b seiner Beschlußempfehlung Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser empfiehlt der Rechtsausschuß, den Gesetzentwurf des Stelle dem Herrn Wehrbeauftragten und seinen Mit- Bundesrates auf Drucksache 12/2507 für erledigt zu arbeitern noch einmal dafür danken, daß sie auch bei erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? der Beratung dieses Tagesordnungspunktes noch — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Auch das ist anwesend waren. Es gab ja, wie der Kollege Koppelin einstimmig so beschlossen. dargelegt hat, einige weitführende Äußerungen zum Thema Wehrsold, von der Mineralölsteuer bis zu anderen Dingen. Ich rufe nunmehr Punkt 10 der Tagesordnung (Walter Kolbow [SPD]: Schwierigsten Din auf: gen, Herr Präsident!) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frei- Vielleicht kann man das mit beherzigen. mut Duve, Angelika Barbe, Hans Gottf ried Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ich rufe nun Punkt 9 der Tagesordnung auf: tion der SPD — Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Einrichtung eines Gedenkortes für Walter ordneten Norbert Geis, , Benjamin in Port Bou Horst Eylmann, weiteren Abgeordneten und Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abge- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre ordneten Detlef Kleinert (Hannover), Sabine und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van Essen, beschlossen. weiteren Abgeordneten und der Fraktion der Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Redner unserem Kollegen Freimut Duve das Wort. zur Verkürzung der Juristenausbildung — Drucksache 12/2280 — (Erste Beratung 86. Sitzung) Freimut Duve (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir wollen heute abend sehr kurz mit — Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat allseits gutem Willen eine Sache besprechen, die eingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset- schon einmal auf einem sehr guten Weg war, auf zes zur Änderung des Deutschen Richtergeset- diesem Weg dann ins Stolpern gekommen ist und die zes wir nun hoffentlich gemeinsam wieder hinkriegen. — Drucksache 12/2507 — (Erste Beratung 93. Sitzung) *) Anlage 2 9446 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Freimut Duve Es ist eine Angelegenheit, die vom Auswärtigen entspricht —, dann können wir die Sache glücklich zu Amt befürwortet wird, für die der Bundespräsident Ende bringen. Daß wir als Sozialdemokraten das Interesse bekundet hat, die unter der Schirmherr- wollen, ist auch der Grund dafür, warum ich so schaft des ehemaligen Außenministers Genscher friedlich und ohne jeden Zorn, obwohl es Anlaß zum stand und für die sich der jetzige Außenminister Zorn gibt, hier überhaupt nicht mit der Bundesregie- Kinkel engagiert. Dafür sollten schon einmal, nämlich rung ins Gericht gegangen bin, obgleich es Anlaß 1991, Finanzmittel in den Haushalt eingestellt wer- dazu gibt. den, was dann aber an den erhobenen Augenbrauen Ich danke für die Aufmerksamkeit und bitte sehr, der Rechnungsprüfer gescheitert ist. Wir sind eigent- daß wir es noch schaffen. lich hier heute zusammengekommen, um zu verhin- dern, daß die Sache scheitert. (Beifall im ganzen Hause) Worum geht es? Es geht um eine Gedenkstätte, die an jenem Nadelöhr der Hoffnung, aber auch der Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat unser Verzweiflung eingerichtet werden soll, durch das Kollege Dr. Volkmar Köhler. Tausende von Flüchtlingen des Nazi-Terrors gegan- gen sind. Einer von ihnen ist in diesem Nadelöhr hängengeblieben. Er hat sich in Port Bou das Leben Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) (CDU/CSU): Herr genommen. Es war Walter Benjamin. Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will nur einen Satz von ihm zitieren, den er 1922 Wir haben es noch im Ohr, daß wir heute nachmittag als Schlußsatz seines wunderbaren Buchs über Goe- hier eine Debatte geführt haben, zu der man Bertolt thes „Wahlverwandtschaften" geschrieben hat: Brecht zitieren könnte: „Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich, und die Bosheit nahm an Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Kräften wieder einmal zu." Deswegen haben wir allen Hoffnung gegeben. Grund, mit großem Ernst zu betonen, daß das, was an Austreibung von Intelligenz und kritischem Denken Damit schließt er seinen Essay. in diesem Land einmal geschehen ist, nicht vergessen Port Bou ist sicher auch ein Symbol für das, was in werden darf und weiterhin von jedem Einsichtigen als diesem Satz zum Ausdruck kommt: Viele wollten eine der abscheulichsten Taten in diesem Jahrhundert dorthin. Vielen, vielen ist es nicht gelungen. Walter und in diesem Lande eindeutig erkannt werden Benjamin liegt dort begraben. muß. Die Vorgespräche mit der spanischen Regierung, (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sehr mit der katalanischen Regierung, mit der Gemeinde, gut!) mit dem israelischen Bildhauer Dani Karavan sind Ich glaube, wir haben gerade an diesem Tag deswe- geführt worden. Das Projekt selber ist an vielen Orten gen Grund, die Frage eines Gedenkortes für Walter in Europa ausgestellt worden. Nicht nur die deut- Benjamin unter diesem Gesichtspunkt zu diskutieren. schen, auch andere europäische Feuilletons haben Die Bedeutung von Walter Benjamin bedarf hier über diese Anlage eines solchen Gedenkortes — es keiner Diskussion. geht nicht um ein Denkmal — geschrieben und Es bedarf vielleicht einer Erinnerung daran, wie zunächst mit Verblüffung, nachher aber mit ungläubi- verzweifelt ein solches menschliches Schicksal gewe- gem Staunen festgestellt, daß dieses Projekt zwischen sen sein muß. Es bedarf auch der Erinnerung daran, Bundestag und Bundesregierung zerrieben worden daß wir hier nicht über einen noch so beklagenswer- ist. ten einzelnen Menschen sprechen. Er steht für eine Wir haben einen Antrag eingebracht und hoffen, ganze Gruppe, die wegen ihrer Einstellung und ihres daß wir bis nächste Woche zu einer Form gelangen, in Denkens, aber auch wegen ihrer Rasse verfolgt der das zustande kommen kann. Ich freue mich sehr wurde. und bin dem Ministerpräsidenten von Baden-Würt- All dies, meine ich, erlaubt es uns nicht, nach dem temberg dankbar, der zugestanden hat, daß beklagenswerten Verlauf dieser ganzen Projektdis- 200 000 DM für dieses Projekt aus dem baden- kussion zur Tagesordnung überzugehen. württembergischen Haushalt aufgebracht werden. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Ich denke, schon dadurch gerät auch der Bund in ein SPD) gewisses Obligo. Ich habe deshalb als Vorsitzender des Unteraus- Ich finde es außerordentlich interessant, daß die schusses Auswärtige Kulturpolitik dem Arbeitskreis F.D.P.-Fraktion sehr engagiert gesagt hat: Und wenn selbständiger kultureller Institutionen im Einverneh- wir nicht alles Geld beschaffen können, dann müssen men mit den Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit wir sehen, wie wir es aus eigener Kraft aufbringen. gegeben, uns die Geschichte und das Wesen dieses Das geht sicher nicht nur mit Beiträgen von Abgeord- Projektes vorzutragen, und habe die Fraktionen gebe- neten, wie es in Ihrer Erklärung steht. Aber vielleicht ten, aus diesem Vortrag ihre Folgerungen zu ziehen. ist das dann das dritte Element für dieses Projekt. So beraten wir heute über diesen Antrag. Wenn wir das schaffen und vielleicht bis näch- Die Vorgeschichte hat schlimme Züge. Wir brau- sten Mittwoch noch das vierte Element prüfen, näm- chen uns nicht über die Qualitäten des entwerfenden lich den Gedenkstättenetat des Innenministers — dort Künstlers, Dani Karavan, zu unterhalten. Sein Anse- gibt es ja inzwischen ein Programm, das, wie ich hen ist in der Kunstwelt eindeutig definiert. Aber man meine, dem Ansinnen dieser Gedenkstätte in Port Bou darf mit solchen Leuten auch nicht in der Form Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9447

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) umgehen, daß man sie arbeiten läßt und eines Tages machen. Ich bin Frau Wisniewski außerordentlich sagt: Und nun hat es uns leid getan. dankbar, daß sie sozusagen das Erstgeburtsrecht des Unterausschusses Auswärtige Kulturpolitik aner- Es wäre z. B. interessant, sich darüber zu unterhal- kannt hat, mit dem Ziel, nichts unversucht zu lassen, ten, welche Verpflichtungen hier entstanden sind. Ich was eine gemeinsame Anstrengung möglich macht. weigere mich auf Grund meiner ganzen Erfahrung auf diesem Gebiet, jemanden in diese Arbeit hineinzu- Ich bitte auch die Beamten der involvierten Ministe- schicken, ohne daß man eine Verpflichtung für die rien — das betrifft nach diesem Vorgang nicht mehr Anerkennung der geleisteten intellektuellen und allein das Außenministerium —, noch einmal zu auch physischen Arbeit akzeptiert. Das heißt aber auf versuchen, phantasievoll an das Projekt heranzuge- deutsch: So ganz ohne Kosten kommt man sowieso hen. n icht davon. Nirgendwo steht geschrieben, daß diese Summe in (Beifall im ganzen Hause) einem Jahr fällig sein muß. Nirgendwo steht geschrie- ben, daß sie nicht auch von anderer Seite unterstützt Das zweite. Hier sind Gutachten in Umlauf gesetzt werden kann, wenn wir richtig darum bitten. Das alles und Presseveröffentlichungen verfaßt worden, die der sollten wir versuchen. Sache schon deshalb nicht gerecht werden, weil sie unwahr und falsch sind. Allerdings muß auch klar sein: Nach einem Vorlauf über mehrere Jahre können wir dem Künstler nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der mehr zumuten, seinen Entwurf zu verstümmeln oder SPD und der PDS/Linke Liste) unwesentlich zu machen. Das geht nicht. Wir können uns nicht einfach der dadurch erzeugten (Beifall im ganzen Hause) Stimmung beugen, denn dann würden wir uns dem Dann wäre ein klares Wort richtiger. Aber nach Unwahren und dem Falschen beugen. Ich sehe es meiner Ansicht haben wir noch nicht alle Möglichkei- nicht als eine Möglichkeit für uns an, das zu tun. ten erschöpft. Wir sollten uns nicht mit Blick auf den Es gibt in der Tat Probleme. Dieses Parlament ha t. Haushalt vor der Bedeutung dieses Themas drük- nicht zu vertreten, daß in gutem Glauben schon so ken. weit gearbeitet wurde. Erst danach kam die Situation, Ich weiß, daß in diesem Moment jeder sagt, wir Herr Staatsminister, in der unter dem Druck der brauchen jeden Pfennig für die neuen Bundesländer, öffentlichen Meinung und angesichts einer immer und ich bin ganz gewiß bereit, das zu akzeptieren. engeren Finanzierungslage unsere Haushälter glaub- Aber ich erinnere a ach dai an, daß die alte Bundeste ten, nein sagen zu müssen. Sie fühlten sich auch jetzt, publik mit der moralischen und materiellen Wieder- als Herr Minister Kinkel versuchte, die Angelegenheit gutmachung nicht bis zu dem Tag gewartet hat, an wieder in Gang zu bringen, nicht in der Lage, das jetzt dem bei uns im Lande alle Probleme gelöst waren; einfach schnell durch Draufsatteln zu bewilligen. vielmehr haben wir im ersten Moment, als wir dies tun Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß „ ins konnten, nicht nur die äußeren Eirichtungen dieses allen, auch denjenigen — und das sind ja letzten Landes repariert, sondern wir haben mich alles getan, Endes auch alle —, die für die in dieser Situation um die Wunden, die dieses Land in seiner Seele trägt, dringend gebotene Sparsamkeit verantwortlich sind, zu reparieren. von der Summe her etwas zugemutet wird. Vielleicht Deswegen haben wir die Pflicht, in den nächsten hätte man, würde man heute zu planen anfangen, eine Tagen alles Mögliche zu tun, um diese Angelegenheit andere Größenordnung wählen müssen. Aber dies ist aus dem Raum herauszuholen, in dem letzten Endes geschehen und nicht ungeschehen zu machen. uns, dem Parlament, obwohl wir erst relativ spät in die In der Situation bleibt nur noch eines übrig. Wir Sache hineingekommen sind, ein Versagen vorge- sollten uns in den nächsten Tagen — das ist mein Ruf worfen würde. Dies können wir uns als Parlament an den Innenausschuß wie an die Mitglieder des nicht leisten, wenn wir heute der Intoleranz, der Gewalttätigkeit, der Bedrohung Andersdenkender Auswärtigen Ausschusses sowie der Unterausschüsse und Andersseiender mit der Entschiedenheit entge- — zusammensetzen und versuchen, unsere Phantasie gentreten, die heute nachmittag hier geäußert - zu strapazieren, um eine Lösung zu finden. Es ist uns dadurch ein Stück leichter gemacht worden, daß wir wurde. diese gute Nachricht aus Baden-Württemberg gehört Ich danke Ihnen. haben, von der ich hoffe, daß sie zutrifft. Vielleicht ist (Beifall des ganzen Hauses) es auch möglich, noch Spenden zu mobilisieren, obwohl wir das nicht als Hauptausweg betrachten dürfen. Vielleicht ist es möglich, noch anderes zu Vizepräsident Helmuth Becker: Der nächste Redner prüfen, etwa den Europäischen Kulturfonds, und zu ist unser Kollege Gerhard Schüßler. Bitte sehr, Herr versuchen, im Zusammenhang mit dem Gesamtvolu- Kollege. men des Gedenkstättenprogramms, in dem ja die verschiedensten Dinge, von den Gedenkstätten in Auschwitz bis zur Erhaltung der sowjetischen K rieger- Gerhard Schüßler (F.D.P.): Herr Präsident! Meine denkmäler, gefördert werden, den richtigen Weg und sehr verehrten Damen und Herren! Jeder Versuch, die richtigen Gewichtungen zu finden. der Persönlichkeit Walter Benjamins und der Symbol- Meine Fraktion weiß, daß meine Kollegin, Frau kraft seines Schicksals in 30 Minuten Bundestagsde- Professor Wisniewski, hier heute sprechen wollte, um batte gerecht zu werden, ist zum Scheitern verur- diesen Vorschlag seitens der Innenpolitiker zu teilt. 9448 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Gerhard Schüßler So sehr ich es begrüße, daß seine mit der Geistesge- Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt nach- schichte dieses Jahrhunderts aufs engste verbundene drücklich die Einrichtung einer Gedenkstätte zu Ideenwelt durch diese Debatte noch einmal sehr Ehren und zum Gedächtnis Walter Benjamins. nachdrücklich in Erinnerung gerufen wird, so sehr (Beifall bei der F.D.P., der SPD und der bedauere ich den Anlaß, auf den die Kollegen Duve PDS/Linke Liste) und Köhler schon hingewiesen haben. Um die Grabstätte von Walter Benjamin in einen Diese Debatte wäre unter den gegebenen Vorzei- würdigen, angemessenen Zustand zu versetzen, tre- chen eigentlich nicht notwendig gewesen; denn wir ten wir neben der notwendigen öffentlichen Bezu- streiten uns doch wohl nicht darüber, ob dieser Reprä- schussung für eine private Spendenaktion zur baldi- sentant deutscher Geistesgeschichte, der in seiner gen Realisierung dieses Vorhabens ein. Bis heute Person die Widersprüche deutschen Denkens und das mittag haben bereits zahlreiche Mitglieder der F.D.P.- Leid, das Deutschen von ihresgleichen in der ersten Fraktion eine persönliche Geldspende geleistet. Es Hälfte dieses Jahrhunderts angetan wurde, beispiel- handelte sich heute mittag um einen Betrag von haft darstellt; wir streiten uns doch nicht über ein 5 000 DM. Ich gehe davon aus, daß sich das noch angemessenes Denkmal am Orte seines Leidens und erheblich verstärken wird. Freitodes. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD) Ich meine, einer würdigen Gedenkstätte für Walter Benjamin kann aus deutschem Geschichts- und Kul- So möchten wir die Mitglieder der anderen im turverständnis und als Mahnung für künftige Genera- Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen und tionen nur mit vollem Herzen zugestimmt werden. Gruppen sowie alle Bürger, Unternehmen und Ver- bände ebenfalls auffordern, sich an diesem Projekt zu Wer die kläglichen und erniedrigenden Bedingun- beteiligen und so zu dokumentieren, daß die Gedenk- gen der Flucht deutscher, namentlich jüdischer Intel- stätte Walter Benjamins breite Unterstützung in der lektueller vor den Nazigreueln kennt, vermag zu deutschen Bevölkerung findet. Es ist eine alte Erfah- ermessen, was heute in Flüchtlingen vorgeht. Wieder rung, daß privates Engagement vieler Bürger viel müssen Menschen unter Verfolgungs- oder Kriegs- eindringlicher deutlich macht, daß sich deutsche druck bei Nacht und Nebel ihre Heimat verlassen. Landsleute für eine würdige Gestaltung der Gedenk- Auch damals gab es Schlepper und Fluchthilfeorgani- stätte auch persönlich einsetzen. sationen, die den Weg über die grüne Grenze wiesen. Wie gesagt, diese Debatte hätte nicht stattfinden Dabei gab es auch Geschäftemacher und dubiose müssen. Den Beteiligten soll ein individueller Vorwurf Organisationen, die den Verfolgten die Taschen leer- gar nicht gemacht werden. Aber ersparen wir uns die ten. Blamage einer längeren und fruchtlosen, aufs höchste mißverständlichen Kontroverse über dieses Thema! Heinrich, Nelly und Golo Mann, Alma Mahler und Die Umstände des Todes von Walter Benjamin werden Franz Werfel war die Flucht gelungen, wo Walter sich wohl nie in allen Einzelheiten klären lassen, so Benjamin zunächst die körperlichen und dann die kurz vor dem Ziel der Freiheit, wie er in Port Bou stand. seelischen Kräfte verließen. Aber ein klares Wort zur Gestaltung des Gedenkorts ist nötig, und zwar bald. Ich hoffe, daß uns das Was hat das deutsche Volk sich angetan, daß es gemeinsam gelingen wird. diese Menschen vertrieben oder zerstört hat? (Beifall im ganzen Hause) Doch auch ein anderer Gesichtspunkt sollte uns beim Ernst dieser Debatte aus diesem Anlaß leiten: Wie teuer muß ein Monument sein, um der Würde des Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile unserer Ereignisses, um der Person des Geehrten gerecht zu Kollegin Frau Angela Stachowa das Wort. werden? Hätte Walter Benjamin selbst, dem jegliche Ruhmessucht und jegliches Renommieren persönlich- keitsfremd waren, nur das Teuerste und Beste, nur ein Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Mahnmal vom Feinsten für sich in Anspruch genom- dent! Meine Damen und Herren! men, er, der ein letztes verschollenes Manuskript in Walter Benjamin war einer der wenigen Großen. einer schäbigen Aktentasche durch die Weinberge Ihm und seinem Gedenken gegenüber haben wir der Pyrenäen trug? eine bleibende Verpflichtung. (Beifall bei der F.D.P., der SPD und der So der Bundespräsident Richard von Weizsäcker, PDS/Linke Liste) Schirmherr des Internationalen Benjamin-Kongresses in Osnabrück, im Juni dieses Jahres. Kann der israelische Künstler Dani Karavan, kön- Um so trauriger, ärgerlicher, beschämender ist es, nen alle Beteiligten nicht davon überzeugt werden, daß sich der Deutsche Bundestag heute mit dem sich noch einmal zusammenzusetzen, um einigerma- Problem der Einrichtung eines Gedenkortes für Wal- ßen akzeptable Bedingungen für eine angemessene ter Benjamin befassen muß. Warum mußte diese Gedenkstätte zu finden? Dem Vernehmen nach — der Frage zu einer höchstpolitischen werden, die den Hinweis auf das Land Baden-Württemberg ist schon Bundestag beschäftigt? Ich kann nicht daran glauben, gegeben worden — gibt es hier auch schon Vorüber- daß es jemanden in diesem Saal gibt, der ernsthafte legungen, die nach meiner Überzeugung in die rich- Bedenken gegen die Einrichtung eines solchen tige Richtung weisen. Gedenkorts in Port Bou hat. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9449

Angela Stachowa Ich persönlich unterstütze diesen Antrag auf Errich- Viele von ihnen haben ihre Sprache in den Ländern, tung einer Stätte, die einem M ann zum Gedenken in denen sie gelebt haben, nicht so in den Dienst eines geschaffen werden soll, der auf der Flucht vor einem Kunstwerks stellen können, wie es zu Hause möglich unmenschlichen System war, der Rettung erhoffte, der war, weil sie in diesen Ländern sehr häufig keinerlei das Ziel schon vor Augen hatte, der fest glaubte und kulturelle Reaktion erfuhren, es sei denn, sie waren darum kämpfte, den faschistischen Schergen zu ent- damals schon so berühmt wie Thomas Mann. gehen, und zum Schluß an einer unmenschlich Ich muß aber noch einmal den Hergang der ganzen gehandhabten Ausreisepolitik verzweifelte. Für ihn Geschichte klären, damit hier nicht falsche Vorstel- war in dieser Situation der Tod der einzige Ausweg. lungen im Raum bleiben. Ich will versuchen, mich sehr Ich möchte hier nicht weiter darauf eingehen, wel- kurz zu fassen. Es ist — das ist vorhin von Herrn Köhler che Desinformationskampagne, gepaart mit gewis- auch zu Recht gesagt worden -- schon seit 1985 das senloser Infamie einiger Journalisten, zu diesem heu- Bemühen des Auswärtigen Amtes gewesen, in Port tigen Tagesordnungspunkt geführt hat. Ich kann aber Bou eine Gedenkstätte zu ermöglichen. 1991 ist, wie nicht umhin, anzumerken, daß sich dahinter auch eine Sie wissen, nach verschiedenen Anregungen von — freundlich gesagt — Fehlleistung des Auswärtigen Künstlern und auch des Bundespräsidenten ein Pro- Amts verbirgt. Diese Blamage reiht sich würdig in jektentwurf des israelischen Künstlers Dani Karavan Entscheidungen ein, die mit der Absage der Durch- in Höhe von 980 000 DM nach eingehenden Prüfun- führung der Menschenrechtskonferenz einen Höhe- gen unter Beteiligung des Bundesministeriums für punkt fanden. Raumordnung, Bauwesen und Städtebau als eine (Wolfgang Lüder [F.D.P.]: So kann man es vielversprechende und anspruchsvolle Lösung aufge- wohl nicht sehen!) griffen worden. Das Auswärtige Amt hat nun für den Haushalt 1992 — Doch. die zusätzliche Einstellung der genannten Summe zur Die Erinnerung an Leben und Tod von Walter Verwirklichung des Projektes beantragt. Frau Kolle- Benjamin veranlaßt mich zu einer Bezugnahme auf gin, hier können sie nicht von einer Fehlleistung des heute. Jeder Freitod eines Menschen ist ein Tod Auswärtigen Amtes sprechen, wenn dann im Haus- zuviel. Ich verzweifle eigentlich, wenn ich mir vor- haltsausschuß am 16. Dezember 1991 die Berichter- stelle, daß in unserer heutigen Welt Menschen ein statter die Finanzierung der hohen Kosten des Pro- solches Schicksal erleiden. Es sind nicht wenige, die jekts einstimmig abgelehnt haben, und zwar — das heute auf der Flucht sind, auf der Flucht vor darf man hier bitte nicht übersehen —, nachdem der Unmenschlichkeit, vor Diskriminierung, vor Terror, Bundesrechnungshof in derselben Sitzung nach- vor Hunger, und die nichts anderes wollen als ein drücklich Einwendungen gegen die finanzielle menschenwürdiges Dasein, oft sogar nur einfach Dimension dieses Denkmales gemacht hatte. Geneh- überleben wollen. migt wurden vom Haushaltsausschuß damals Ich würde mir wünschen, daß die Erinnerung an die 60 000 DM für die Errichtung einer Gedenktafel in Schicksale vieler deutscher Emigranten in der Zeit des Port Bou. Faschismus auch heute bei der Diskussion um die Gleichwohl hat sich das Auswärtige Amt — auch Handhabung des Asylrechtes in Deutschland Berück- das haben Herr Duve und Herr Köhler richtig darge- sichtigung fände. stellt — bemüht, diese Summe noch einmal für 1993 Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. einzustellen. Es hat auch den Versuch gegeben, auf (Beifall bei der PDS/Linke Liste) die AsKI — das ist die Künstlergemeinschaft, der Herr Karavan angehört — einzuwirken, die Projektkosten zu senken. Das ist von diesem Arbeitskreis abgelehnt Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und worden. Es blieb bei der Summe, die ursprünglich von Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Staatsminister im Herrn Karavan und dem Arbeitskreis benannt worden Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer, das Wort. ist.

Herr Staatsminister, Staatsminister im Auswärtigen Vizepräsident Helmuth Becker: Helmut Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Amt: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sehr wohltuend, daß heute abend der Tonfall der Duve? Reden — bis auf die Rede der Vertreterin der PDS, die Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen eine gewisse Polemik hereingebracht hat — überein- Amt: Ich habe eine sehr kurze Redezeit, Herr Duve. stimmend deutlich gemacht hat, wie sehr uns daran Aber wenn Sie es wollen: ja. liegt, diese Frage zu lösen. Es geht hier ja um mehr als nur um eine Gedenk- Freimut Duve (SPD): Ich möchte Ihnen von Ihrer stätte. Es geht auch darum, ein Zeichen zu setzen. Es Redezeit überhaupt nichts wegnehmen; und es wird geht darum, daß mit dem Schicksal von Walter Ben- Ihnen tatsächlich nichts weggenommen. Aber ich jamin natürlich auch das Schicksal all der Emigranten finde, es ist der Sache und dem gemeinsamen Bemü- angesprochen wird, die Deutschland verlassen muß- hen doch nicht so angemessen, wenn wir jetzt hier ten und die wie er zwar ins Ausland gelangt sind, Herr Bälle zwischen Parlament und Regierung hin- und Kollege Schüßler, aber sich dort das Leben genommen herschieben. haben, etwa Stefan Zweig. Sie sind an der nationalso- zialistischen Realität verzweifelt und haben befürch- Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen tet, daß dieses Regime seine Siege fortsetzt. Das muß Amt: Ist das eine Frage oder eine Feststellung? Sie man sehen. haben doch schon gesprochen. 9450 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Freimut Duve (SPD): Es ist eine dramatische, für uns Betracht kommenden Ministerien die Bereitschaft alle sehr peinliche Angelegenheit, und wir sollten uns dazu besteht. Herr Duve, Sie haben einen Vorschlag jetzt gemeinsam bemühen, daß wir das zustande gemacht. Wir wissen inzwischen auch, daß ein Bun- bringen. desland schon bereit gewesen ist, im Blick auf die viel diskutierte Subsidiarität 200 000 DM zur Verfügung Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen zu stellen. Ich würde vorschlagen, daß auch einige alte

Amt: Herr Kollege, Sie stellen keine Frage, wenn ich Bundesländer auf die Idee kommen, es Baden-Würt- das feststellen darf; Sie haben jetzt mehrere Sätze temberg gleichzutun und dem Bund und dem Bundes- gesprochen. haushalt dadurch eine gewisse Entlastung zuteil wer- den zu lassen, damit wir gemeinsam mit unseren Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Duve, Spenden — ich bin bereit, mitzuwirken; vielleicht ist Sie müssen fragen. Sie haben nicht gefragt. — Herr es auch die SPD-Fraktion; die CDU/CSU-Fraktion ist Staatsminister, fahren Sie bitte fort. es sicher — eine Lösung finden, die jeden Geruch von Peinlichkeit vermeidet und das, was vorgesehen war, Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen doch noch ermöglicht. Amt: Ich komme auf Ihre Vorschläge zurück. Aber wir Vielen Dank. müssen hier noch einmal verdeutlichen, wie diese (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Geschichte entstanden ist, damit Vorwürfe, die ja schon ausgesprochen worden sind, nicht im Raume bleiben und falsche Anschuldigungen, die in der Vizepräsident Helmuth Becker: Der letzte Redner zu Presse zu lesen waren, nicht unbeantwortet bleiben. diesem Tagesordnungspunkt ist unser Kollege Es wurde ja auf das angebliche Versagen des Auswär- Dr. Wolfgang Ullmann. tigen Amtes hingewiesen. Sie werden mir erlauben, das zurechtzurücken. Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich darf in dem Zusammenhang darauf zurückkom- NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als men, daß der Bundesrechnungshof zweimal ganz erstes habe ich den Kolleginnen und Kollegen der SPD erhebliche Einwendungen erhoben hat, was dazu meinen Dank dafür abzustatten, daß sie durch ihren geführt hat, daß der Haushaltsausschuß nicht Antrag für die Einrichtung eines Gedenkortes für beschließen konnte, die vorgesehene Summe zu zah- Walter Benjamin in Port Bou dem Deutschen Bundes- len. tag die Gelegenheit geben, der heute in so vielen Es ist inzwischen — auch das wurde nicht Worten zur Extremismusdebatte geäußerten Ent- erwähnt — seitens des Auswärtigen Amtes in Port Bou schlossenheit alsbald eine Tat folgen zu lassen. Ich eine Benjamin-Gedenkausstellung initiiert und möchte mit allem Nachdruck für die Annahme dieses durchgeführt worden; Kostenpunkt 180 000 DM. Es ist Antrages durch das Hohe Haus werben und dafür drei also nicht so, als ob überhaupt nichts getan worden Gründe benennen. sei. Walter Benjamin war ein Flüchtling. Er ist in Port Ich muß nun sagen, daß der Bundesaußenminister Bou aus Verzweiflung darüber gestorben, daß er immer wieder öffentlich deutlich gemacht hat, daß abgewiesen wurde und fürchten mußte, den ihn ihm sehr daran liegt, daß wir eine Lösung finden, nach verfolgenden Nazis in die Hände zu fallen. Möglichkeit die vorgeschlagene, also das Projekt des israelischen Bildhauers. Aber auch beim letzten Walter Benjamin war derjenige unter den deut- Gespräch Herr Duve, Sie haben selber darauf schen Publizisten, der durch seine Briefsammlung „Deutsche Menschen" in den 30er Jahren dokumen- hingewiesen — am 8. September haben die Bericht- tiert hat, daß es in Deutschland Leute gab, die wußten, erstatter mit Ausnahme eines einzigen ihre Meinung nicht geändert. was Menschen sind und was Menschlichkeit ist — im Gegensatz zu vielen, die für deutsche Sprache und Es geht jetzt aber wirklich darum — ich bin sehr deutsches Denken Verantwortung trugen und durch dankbar, Herr Köhler und Herr Duve und Herr Schüß- ihr ständiges Reden von deutscher Seele und deut- ler, daß Sie das hier angeregt haben, ganz zu schwei- schem Geist etwas ganz anderes dokumentierten, gen von der Initiative meines Fraktionsvorsitzen- nämlich das, worüber schon Hölderlin verzweifelt den —, von der typisch deutschen Betrachtungsweise war: daß es in Deutschland nur Deutsche gäbe, aber wegzukommen, daß alles, aber auch alles, was in keine Menschen. irgendeiner Weise kulturell wichtig ist, vom Staat finanziert werden muß und ausschließlich vom Staat Walter Benjamin war — drittens —Jude. Als solcher finanziert werden kann, statt gelegentlich auch an die trug er in seiner Tasche, als er der spanischen Grenze zu appellieren, die in diesem Lande sicher bereit zustrebte, jene Thesen über den Begriff der wären, durch Spenden dazu beizutragen, daß ange- Geschichte, die die erste deutsche Aufklärung, die mit sichts der ungeheuren Belastungen dieses Haushalts, Lessings Thesen zur Erziehung des Menschenge- von dem wir nun dauernd sprechen und mit dem wir schlechts begann, abschlossen; ein lebendiges Zeug- dauernd beschäftigt sind, vielleicht auch gemeinsame nis dafür, daß ohne den Anteil des Judentums, von Anstrengungen dazu führen, die Gedenkstätte doch Moses Mendelssohn bis zu Hermann Cohen, Aufklä- zu bauen. Genau das, Herr Duve, haben Sie und Herr rung in deutschen Landen nicht möglich war. Köhler hier vorgeschlagen. Ich greife diesen Vor- (Beifall bei der SPD) schlag deshalb sehr gern auf. Walter Benjamin war Jude. Der Deutsche Bundes- Lassen Sie uns möglichst schnell zusammenkom- tag — das möchte ich nun doch sagen dürfen, Herr men, um konkret zu sehen, inwieweit bei den in Staatsminister; ich hoffe, daß wir da übereinstimmen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9451

Dr. Wolfgang Ullmann — und auch die deutschen Länder sollten dokumen- Überweisungsvorschlag: tieren, daß sie an der Seite derer stehen, deren Innenausschuß (federführend) Grabsteine in den letzten Wochen und Tagen Rechtsausschuß geschändet worden sind. Im Ältestenrat war eine Aussprache von fünf Minu- Ich danke Ihnen. ten vereinbart worden. Ich sehe keinen Widerspruch, (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ daß wir diese Aussprache nicht stattfinden lassen, Linke Liste sowie bei Abgeordneten der sondern die Reden zu Protokoll nehmen. CDU/CSU) (Zustimmung im ganzen Hause) - — Dann ist das so beschlossen.* ) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor- Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vor- lage auf Drucksache 12/2071 an die in der Tagesord- lage auf der Drucksache 12/3039 an die in der nung aufgeführten Ausschüsse vor. Ich höre und sehe Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie keinen Widerspruch. — Dann ist die Überweisung so damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen beschlossen. Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlos- sen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- ordnung. Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 11 auf: Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid destages auf morgen, Freitag, den 9. Oktober 1992, Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 9 Uhr ein. NEN Die Sitzung ist geschlossen. Entbindung ehemaliger Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes von der ihnen auf er- (Schluß der Sitzung: 22.34 Uhr) legten Schweigepflicht — Drucksache 12/2071 — *) Anlage 3

Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9453*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich Schluckebier, Günther SPD 08. 10. 92* entschuldigt bis Abgeordnete(r) von Schmude, Michael CDU/CSU 08. 10. 92* einschließlich Dr. Soell, Hartmut SPD 08. 10. 92* Antretter, Robert SPD 08. 10. 92* Dr. von Teichman, F.D.P. 08. 10. 92 Bindig, Rudolf SPD 08. 10. 92* Cornelia Blunck (Uetersen), SPD 08. 10. 92* Terborg, Margitta SPD 08. 10. 92* Lieselott Vosen, Josef SPD 08. 10. 92 Böhm (Melsungen), CDU/CSU 08. 10. 92* Welt, Jochen SPD 08. 10. 92 Wilfried Brandt, Willy SPD 08. 10. 92 Zierer, Benno CDU/CSU 08. 10. 92* Büchler (Hof), Hans SPD 08. 10. 92* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 08. 10. 92* lung des Europarates Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 08. 10. 92 ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versamm- lung Caspers-Merk, Ma rion SPD 08. 10. 92 Clemens, Joachim CDU/CSU 08. 10. 92 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 08. 10. 92* Gattermann, Hans H. F.D.P. 08. 10. 92 Anlage 2 Genscher, Hans-Dietrich F.D.P. 08. 10. 92 Grochtmann, Elisabeth CDU/CSU 08. 10. 92 Zu Protokoll gegebene Reden Großmann, Achim SPD 08. 10. 92 zu Tagesordnungspunkt 9 Grünbeck, Josef F.D.P. 08. 10. 92 (Gesetzentwurf zur Verkürzung der Juristenausbildung und Entwurf eines Haack (Extertal), SPD 08. 10. 92 Vierten Gesetzes zur Änderung Karl-Hermann des Deutschen Richtergesetzes)') Hackel, Heinz-Dieter F.D.P. 08. 10. 92 Dr. Hartenstein, Liesel SPD 08. 10. 92 Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Es gehört sich, Heistermann, Dieter SPD 08. 10. 92 daß ein Gesetz zur Kürzung und Straffung der Juri- Heyenn, Günther SPD 08. 10. 92 stenausbildung auch in möglichst kurzer Zeit und Jaunich, Horst SPD 08. 10. 92 straffer parlamentarischer Beratung verabschiedet Kastning, Ernst SPD 08. 10. 92 wird. Im vorliegenden Fall ist diese Wunschvorstel- Kittelmann, Peter CDU/CSU 08. 10. 92' lung auch Wirklichkeit geworden: nur etwa 6 Monate Dr. Kolb, Heinrich F.D.P. 08. 10. 92 sind seit der Einbringung des Gesetzentwurfes der Leonhard Koalitionsfraktionen bis zur heutigen 3. Lesung ver- Lenzer, Christian CDU/CSU 08. 10. 92' gangen. Dr. Leonhard-Schmid, SPD 08. 10. 92 Das mit der heute zur Abstimmung stehenden Elke Änderung des Deutschen Richtergesetzes verfolgte Lummer, Heinrich CDU/CSU 08. 10. 92* Ziel hat breiteste Zustimmung gefunden: bei Bund, Marten, Günter CDU/CSU 08. 10. 92* Ländern und mitberatenden Bundestagsausschüssen Dr. Mildner, Klaus CDU/CSU 08. 10. 92 und auch bei den Betroffenen. Worum geht es? Die Gerhard Juristenausbildung in Deutschland dauert zu lange. Dr. Modrow, Hans PDS/Linke 08. 10. 92 Die Mindestzeit der Ausbildung von 3 1 /2 Jahren Liste Studium und 2 1 /2 Jahren Vorbereitungsdienst wird Dr. Müller, Günther CDU/CSU 08. 10. 92* derzeit aus den unterschiedlichsten Gründen nur noch Oesinghaus, Günther SPD 08. 10. 92 in seltenen Ausnahmefällen eingehalten. Die tatsäch- Opel, Manfred SPD 08. 10. 92** liche Ausbildungsdauer liegt - in den einzelnen Ländern der Bundesrepublik Deutschland in unter- Dr. Pfennig, Gero CDU/CSU 08. 10. 92 schiedlichem Maße - wesentlich höher und beträgt Dr. Pflüger, Friedbert CDU/CSU 08. 10. 92 derzeit über 9 Jahre. Pfuhl, Albert SPD 08. 10. 92* Pofalla, Ronald CDU/CSU 08. 10. 92 Zwar ist die Ausbildungsdauer der deutschen Juri- sten seit 25 Jahren in etwa gleich geblieben, es haben Dr. Probst, Albert CDU/CSU 08. 10. 92* sich aber innerhalb Deutschlands und für Deutschland Rawe, Wilhelm CDU/CSU 08. 10. 92 in Europa neue Probleme und Herausforderungen Reddemann, Gerhard CDU/CSU 08. 10. 92* ergeben, die die Verkürzung der Juristenausbildung Rempe, Walter SPD 08. 10. 92 notwendig machen. Der Aufbau einer funktionsfähi- Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 08. 10. 92 gen Rechtspflege in den neuen Ländern bringt einen Ingrid erheblichen Bedarf an kurzfristig zur Verfügung ste- Sauer (Salzgitter), CDU/CSU 08. 10. 92** henden Nachwuchsjuristen mit sich. Außerdem gilt Helmut Dr. Scheer, Hermann SPD 08. 10. 92* *) Vgl. Seite 9445 C 9454 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 es, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Juristen in 5. Der Landesgesetzgeber hat nunmehr die Mög- der Europäischen Gemeinschaft sicherzustellen. lichkeit, zu bestimmen, daß schriftliche Prüfungslei- Die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. haben stungen im Referendarexamen abgeschichtet werden deshalb einen Gesetzentwurf zur Verkürzung der können, frühestens jedoch nach Ablauf von 2 1 /2 Stu- Juristenausbildung eingebracht. Auch der Bundesrat dienjahren. Über die Abschichtung ist im Rechtsaus- hat einen Gesetzentwurf hierzu vorgelegt. Die Zielset- schuß ausführlich und kontrovers diskutiert worden. zung beider Gesetzentwürfe wurde im Rechtsaus- Von seiten der Koalitionsfraktionen wurde darauf schuß einmütig begrüßt. Der Ausschuß hat deshalb hingewiesen, daß die Erfahrungen mit der Abschich- die in den beiden Vorlagen vorgeschlagenen Maß- tung von Prüfungsleistungen eher negativ sind. In der nahmen zu einem Gesetzentwurf zusammengeführt, Tat ist zu befürchten, daß viele Studenten eine Uni- wobei der Koalitionsentwurf zur Grundlage der versität bevorzugen werden, an der die Abschichtung Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses gemacht möglich ist, in der Hoffnung, daß das Examen dort einfacher zu bewältigen ist. und zahlreiche Vorschläge des Gesetzentwurfes des Bundesrates ohne Änderungen eingefügt wurden. Ich möchte nicht verhehlen, daß auch ich diese Im Interesse einer schnellen Verwirklichung des Gefahr sehe. Machen wir uns doch nichts vor: natür- gesetzten Zieles haben wir uns im Ausschuß bei der lich ist es einfacher, eine abgeschichtete Prüfung zu strittigen Frage der Abschichtung von Prüfungslei- absolvieren, als den gesamten Prüfungsstoff in einem stungen, zu der den Gesetzentwürfen unterschiedli- Termin präsent haben zu müssen. Der Qualitätsstei- che Auffassungen zugrunde lagen, um einen Kompro- gerung dient dies sicher nicht. Deshalb würde ich im miß bemüht. Dieser konnte schließlich auch gefunden Interesse einer hochqualifizierten Leistungskontrolle werden, so daß der nunmehr zur Abstimmung vorlie- der Prüfung des gesamten Prüfungsstoffes in einer gende Gesetzestext von der Zustimmung aller Mit- zusammenhängenden. Prüfung klar den Vorzug ein- glieder des Rechtsausschusses getragen ist. räumen und möchte deshalb der Hoffnung Ausdruck geben, daß möglichst viele Länder an der bisherigen Lassen Sie mich die wesentlichen Änderungen, die Prüfungspraxis festhalten und von der Möglichkeit der Gesetzentwurf nunmehr am Deutschen Richterge- der Abschichtung nicht Gebrauch machen. Dies wäre setz vornehmen will, darlegen: auch im Interesse der Einheitlichkeit und damit Ver- 1. Der Stoff des Studiums wird hinsichtlich der gleichbarkeit der Prüfungen zwischen den einzelnen Pflichtfächer auf die Kernbereiche des bürgerlichen Bundesländern wünschenswert. Rechts, des Strafrechts, des öffentlichen Rechts und Die nunmehr gefundene Regelung ist, ich sagte es des Verfahrensrechts konzentriert. Neu in die Pflicht- schon, ein Kompromiß im Interesse einer zügigen fächer mit aufgenommen werden die europarechtli- Verabschiedung der ausbildungsverkürzenden Maß- chen Bezüge der eben erwähnten Kernbereiche, nahmen. Außerdem wollte sich der Rechtsausschuß womit der fortschreitenden europäischen Integration, insgesamt nicht dem mit großer Mehrheit beschlosse- insbesondere dem bevorstehenden Europäischen Bin- nen Vorschlag des Bundesrates, die Möglichkeit der nenmarkt Rechnung getragen werden soll. Abschichtung einzuführen, verschließen. 2. Das Landesrecht kann nunmehr bestimmen, daß Wir sind deshalb übereingekommen, die Möglich- die Ausbildung bei den Pflichtstationen bei überstaat- keit der Abschichtung auf den schriftlichen Teil des lichen, zwischenstaatlichen oder ausländischen Aus- ersten Examens zu begrenzen, d. h. also, daß die bildungsstellen oder einem ausländischen Rechtsan- mündliche Prüfung nach wie vor über den gesamten walt erfolgen kann. Auch dies erfolgt im Hinblick auf Prüfungsstoff und am Ende des ersten Examens die europäische Integration und entspricht im übrigen erfolgt; außerdem — und dies ist ebenfalls Teil des auch einem Wunsch der Studentenschaft. Kompromisses — haben wir die Abschichtung im 3. In Zukunft gibt es nur noch eine Wahlstation, zweiten Examen nicht zugelassen. Denn wir sind der deren Dauer je nach landesrechtlicher Regelung 4 bis Meinung, daß im Assessorexamen als der letztendlich 6 Monate betragen wird. wichtigeren Prüfung der Kandidat seine Kenntnisse und Fähigkeiten zum Ende der Ausbildung bei der 4. Die studienbegleitenden Leistungskontrollen bis letzten Pflichtstation umfassend soll unter Beweis Ende des 2. Studienjahres werden abgeschafft. Diese stellen können. Im übrigen würde eine Abschichtung 1984 eingeführten Prüfungen, die in einem sehr im Assessorexamen auch keine verkürzende Wirkung frühen Studienabschnitt feststellen sollten, ob der haben und somit dem Hauptanliegen des Koalitions- Student für die weitere Ausbildung fachlich geeignet entwurfs nicht Rechnung tragen. ist, haben sich als ineffizient erwiesen. Sie haben an den Universitäten erheblichen Verwaltungsaufwand 6. Der juristische Vorbereitungsdienst wird wieder bewirkt und den Lehrkörper zusätzlich belastet. Die von 2 1 /2 auf 2 Jahre verkürzt. Ein so gestraffter und ihnen zugedachte Funktion, ungeeignete Studenten konzentrierter Vorbereitungsdienst von 2 Jahren zu einem frühzeitigen Ausscheiden aus dem rechts- reicht aus, um den angehenden Juristen die notwen- wissenschaftlichen Studiengang zu veranlassen, ha- digen Erfahrungen, Rechtskenntnisse und berufs- ben sie nicht erfüllen können. Da die Mißerfolgsquote praktischen Fähigkeiten zu vermitteln, die für ein bei den Leistungskontrollen unter 3 % liegt, stellen sie selbständiges und verantwortliches Handeln in den ein untaugliches Instrument dar. Mit ihrer Einführung juristischen Berufen der Rechtsprechung, der Verwal- ist weder die Durchfallquote in der 1. Staatsprüfung tung und der Rechtsberatung notwendig sind. Ich noch die durchschnittliche Studiendauer gesunken selbst habe auch einen nur zweijährigen Referendar- oder die Anzahl der Studenten, die frühzeitig aus dem dienst absolviert und kann dies voll und ganz bestäti- Jura-Studium ausgeschieden sind, gestiegen. gen. Eine merkliche Verbesserung der Ausbildung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9455* durch die Verlängerung der Referendarzeit konnte im besagt u. a.: „Als am stärksten karriereorientiert übrigen bei den Landesjustizverwaltungen nicht fest- erweisen sich die künftigen Be triebswirte, Maschi- gestellt werden. nenbauingenieure und Juristen." Nun kann man dieser Aussage eine eher negative Tendenz entneh- 7. Nun wird bundesweit der erstmals in Bayern 1990 men. Aber es gibt auch Positives zu vermelden. eingeführte sogenannte Freischuß möglich gemacht. Besagte Studie führt weiter aus: „Juristen hingegen Damit gilt eine erfolglose erste Prüfung als nicht (i. G. zu angehenden Ingenieuren) können reformeri- unternommen, wenn der Kandidat sich frühzeitig zur schen Gedanken bis zu einem gewissen Grad etwas Prüfung gemeldet und sie vollständig erbracht hat. Er abgewinnen." hat also einen Freiversuch, mit dem sein Mut zum früheren Prüfungsantritt belohnt und risikolos ge- Was auch immer das heißt: Der Gesetzgeber sollte macht werden soll. nicht hinter dieser maßvollen Bereitschaft zur Reform zurückstehen und in der Tat das reformieren, was Die Erfahrungen mit dem Freischuß in Baye rn sind notwendig ist. Ich habe schon bei der ersten Lesung uneingeschränkt positiv: haben im Jahr 1990 in darauf hingewiesen, daß die Ausbildungsdauer des Deutschland die Kandidaten, die sich erstmals der juristischen Nachwuchses ein besonderes Ärgernis ersten juristischen Staatsprüfung unterzogen haben, darstellt, insbesondere im Hinblick auf die Juristen zuvor im Durchschnitt 10,57 Semester studiert, so aus den anderen EG-Staaten, die durchweg jünger in konnte die durchschnittliche Studiendauer solcher das Berufsleben einsteigen. Nun hat ein überlanges Kandidaten in Bayern damit bereits auf 9,49 Semester Studium die verschiedensten Ursachen. Sie können in gesenkt werden. Die Schnelligkeit des Prüfungsab- erster Linie im persönlichen Bereich der StudentInnen schlusses ist auch nicht auf Kosten der Qualität der liegen. Sie beruhen aber auch auf den Anforderungen Ausbildung gegangen: in allen drei bisher beschlos- des Studiums, der Prüfungen und ihres Ablaufs sowie senen Prüfungsterminen haben die Freischützen eine ihrer Dauer. Zum Studium kommen dann zusätzlich niedrigere Mißerfolgsquote und einen höheren Anteil Vorbereitungsdienst und Prüfung. Was der Staat sei- an Prädikatsexamen erzielt als die übrigen erstmals an nerseits tun kann, um allzu lange Studienzeiten zu der Prüfung teilnehmenden Kandidaten. Damit wird verhindern, sollte er konsequent verfolgen. Wir unter- zugleich den Studenten gezeigt, daß die erste juristi- nehmen dies heute mit der einstimmig im Rechtsaus- sche Staatsprüfung mit dem gegenwärtig üblichen schuß verabschiedeten Empfehlung zur Änderung Prüfungsstoff durchaus bereits nach einer Studienzeit des Deutschen Richtergesetzes. von 8 Semester bewältigt werden kann. Nun gehören die JurastudentInnen sicher nicht zu Von der bundesweiten Einführung der Freischußre- den Extremfällen bei der Dauer des Studiums. Die gelung erwarten wir nach diesen Erfahrungen des- Tübinger Soziologen hielten 1990 den Rekord mit halb den größten Effekt im Hinblick auf eine Verkür- 19 Semestern bis zum Diplom. Demgegenüber wirkt zung der juristischen Ausbildung und auch hinsicht- die durchschnittliche Studiendauer der JuristInnen lich einer Verbesserung der Examensergebnisse. Die mit (1988) 11,7 Semestern gering, trotzdem ist sie zu Modalitäten der Durchführung des Freiversuchs blei- lang. Sie ist übrigens von Universität zu Universität ben dabei in die Kompetenz der Länder gestellt. unterschiedlich. Sie reicht von 10,3 (Hamburg) bis 14,1 Semester (Augsburg). Angesichts dieser Sach- Bei Kombinierung aller im vorliegenden Gesetzent- wurf enthaltenen Verkürzungsmaßnahmen können lage kommt es darauf an, die Selbstverantwortung der StudentInnen zu stärken. Sie ersparen sich und den Studenten künftig um zwei bis drei Jahre früher als im Durchschnitt bisher einen juristischen Beruf aufneh- Ländern Kosten, die besser anderswo angelegt wären als bei einer unnötigen Belastung der Hochschulen. men. Es ist zu hoffen, daß die Länder einerseits und die Studenten andererseits von den nunmehr ermöglich- Dem Bundestag lagen zwei ganz unterschiedliche ten Verkürzungsmaßnahmen auch Gebrauch ma- Vorschläge zur Beratung vor. Einmal der des Bundes- chen. rats, zum anderen der der Koalitionsfraktionen im Ich möchte zum Schluß vor allem meinem Bericht- Bundestag. Es hätte vollauf genügt, wenn die Koali- erstatter-Kollegen Prof. Dr. Pick sehr herzlich für die tion ihre abweichenden Standpunkte gegenüber dem Bundesratsentwurf in Form von Änderungsanträgen überaus sachliche und gute Zusammenarbeit danken, eingebracht hätte. So hat sie das Verfahren kompli- die nicht zuletzt dazu beigetragen hat, daß der nun- zierter gemacht und außerdem ein nicht gerade bun- mehr vorliegende Kompromiß vom gesamten Rechts- ausschuß mitgetragen wird. desratsfreundliches Verhalten an den Tag gelegt. Immerhin haben 15 von 16 Bundesländern den Ent- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Rechtsaus- wurf eingebracht, und die Länder sind es auch, die schuß empfiehlt Ihnen einstimmig, den Gesetzentwurf Studium und Ausbildung organisieren müssen. Die der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. anzu- SPD hätte die weitergehenden Vorschläge des Bun- nehmen und den Gesetzentwurf des Bundesrates für desrats gemessen am Koalitionsentwurf am liebsten erledigt zu erklären. ohne Einschränkung übernommen, stellen sie doch schon einen Kompromiß dar, der dem kleinsten gemeinsamen Nenner entspricht. Demgegenüber Dr. Eckhardt Pick (SPD): Es gab kürzlich eine beschränkt sich der Koalitionsentwurf auf eher orga- Umfrage unter 3 000 Studienanfängern. Sie wurden nisatorische Maßnahmen wie die Abschaffung der nach ihren Motiven und Absichten zur Wahl ihres studienbegleitenden Leistungskontrollen, die bun- Studiums gefragt. Dabei hat sich hinsichtlich der desweite Einführung des sog. Freischusses und die künftigen Juristinnen folgendes ergeben. Die Studie Verkürzung des Vorbereitungsdienstes. 9456e Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Alle diese Vorschläge sind auch im Bundesratsent- Die Empfehlung des Ausschusses sieht im ersten wurf enthalten, und er weist darüberhinaus weitere Staatsexamen eine Abschichtung nur der schriftlichen Verbesserungen auf. Deswegen bin ich froh darüber, Prüfungsleistungen vor. D. h. ab dem 5. Semester daß es gelungen ist, beide Gesetzentwürfe gemein- können Teile der schriftlichen Prüfung abgelegt wer- sam zu beraten und nicht eine Art Abschichtung zu den. Ich erwarte von der Abschichtung, daß damit die veranstalten, d. h. zuerst Verabschiedung des Koali- Angst vor der „flächendeckenden" Prüfung abgebaut tionsentwurfs und erst später Behandlung der Bun- wird, der Examensdruck vor der alles entscheidenden desratsinitiative. Dem hätte die SPD nicht zugestimmt, Gesamtprüfung verringert und demgegenüber die übrigens auch nicht der Bundesrat. Es ist hingegen Bereitschaft gesteigert wird, früher ins Examen zu gelungen, aus zwei Entwürfen einen konsistenten gehen. Auch hier wollen wir den Ländern Freiraum Vorschlag zu machen. geben, in welcher Form und nach welchem Semester „Ballast über Bord werfen", heißt ein Stichwort aus Teile der schriftlichen Prüfung abgelegt werden. Das der Reformdiskussion der vergangenen Jahre, übri- mündliche Examen soll sich allerdings wie bisher auf gens nicht nur in bezug auf das juristische Studium. den gesamten Prüfungsstoff beziehen. Ich befürchte Dazu leistet die Empfehlung des Rechtsausschusses nicht, wie das auch in der Diskussion geltend gemacht auf der Grundlage der Vorschläge des Bundesrats wurde, eine Entwertung des Examens. Ich gehe auch einen wichtigen Beitrag. davon aus, daß man nach einiger Zeit Bilanz ziehen muß, welche Modelle sich bewährt haben. Ich ver- Ich hebe die Konzentration des Studienstoffes der traue aber auch darauf, daß die Länder sich insoweit Pflichtfächer auf die Kernbereiche des Bürgerlichen verständigen als die Vergleichbarkeit der Prüfungs- Rechts, des Strafrechts, des öffentlichen Rechts und anforderungen gewährleistet sein muß. Unser Ver- des Verfahrensrechts hervor. Wichtig ist auch die trauen ist also fast grenzenlos. zusätzliche Einbeziehung der jeweiligen europa- rechtlichen Bezüge. Damit ist zum ersten Mal ein Beim zweiten Staatsexamen soll es im wesentlichen Einstieg in die Begrenzung des Studienstoffes gelun- bei der bisherigen Möglichkeit der Abschichtung gen. Es liegt nun an den Ländern und den Hochschu- bleiben. Hier sehen wir angesichts des straffen Voll- len, dies auch umzusetzen. Mit der ausdrücklichen zugs des Vorbereitungsdienstes weitere Abschichtun- Aufnahme des Europarechts wird unterstrichen, wie gen als nicht so zwingend an. wichtig dieser Bereich des Studiums jetzt schon ist und dies mit zunehmender Tendenz. Auch unsere JuristIn- Neben der Verkürzung des Vorbereitungsdienstes nen müssen sich fit für Europa machen. auf jetzt zwei Jahre soll künftig auch ermöglicht werden, daß eine Station bei einer internationalen Alle Beteiligten sind sich einig, die sog. studienbe- Behörde oder einem ausländischen Rechtsanwalt gleitenden Leistungskontrollen wieder abzuschaffen. abgeleistet werden kann. Dies trägt einerseits der Sie haben die Erwartungen nicht erfüllt. Die vorzei- Tendenz zur Internationalität Rechnung, zum ande- tige Selbstkontrolle der Studierenden, ob sie für das ren auch der gestiegenen Bedeutung der rechtsbera- Jurastudium geeignet sind, wurde nicht erreicht. Die tenden Berufe, in denen der Großteil der JuristInnen ja damit verbundene organisatorische und administra- tätig ist. tive Belastung der Fakultäten und Fachbereiche hat sich nicht ausgezahlt. Insgesamt ist bei Ausschöpfung aller Möglichkeiten der Konzentration in Studium, Prüfungen und Vorbe- Einige Länder haben es bereits unternommen, reitungsdienst eine effektive Verkürzung der Ausbil- einen besonderen Anreiz zu schaffen, damit die Stu- dung um zwei bis zweieinhalb Jahre möglich. Dies ist dierenden möglichst frühzeitig das erste juristische ein großer Schritt in Richtung der allseits geforderten Staatsexamen ablegen und damit das Studium flott Straffung der Ausbildung im universitären wie admi- absolvieren. Die Erfahrungen stimmen zuversichtlich, nistrativen Bereich. Es ist nun Sache der Betroffenen, so daß sich der Ausschuß entsprechend dem Koali- StudentInnen, Universitäten und Länder, die gebote- tionsvorschlag entschlossen hat, die sog. Freischußre- nen Chancen zu nutzen. gelung in das Gesetz aufzunehmen. Sie besagt nun, daß die erste Prüfung — wenn sie nicht bestanden Die SPD begrüßt den einstimmig im federführenden wird — dann als nicht abgelegt gilt, wenn der Bewer- Ausschuß gefundenen Kompromiß, auch im Interesse ber sich frühzeitig zur Prüfung gemeldet und die der neuen Bundesländer, die nun eine gute Grund- vorgesehenen Prüfungsleistungen vollständig er- lage beim Aufbau der Juristenausbildung haben. Er bracht hat. Das ist ein Wink mit dem goldenen ist gleichzeitig eine Antwort auf die gestern im Hoch- Zaunpfahl, das Studium ökonomisch zu gestalten. schulbericht angesprochene Überlastung der Hoch- Auch dies als Angebot an die Bundesländer. Sie schulen. Es wird darin von einer kritischen Lage entscheiden, ob sie sie übernehmen wollen. gesprochen. Meines Erachtens ist der vom Rechtsaus- Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Frage, schuß gewiesene Weg der Reform der angemessene. inwieweit Prüfungsleistungen in den beiden Examina Die Einführung eines Nummerus Clausus ist j eden- sukzessive abgelegt werden können, die Möglichkeit falls die ungerechteste der Lösungen, um den Zustrom der Abschichtung von Prüfungsteilen. Dies ist der zu den Universitäten zu kanalisieren. eigentliche Kernpunkt der Reform. Sie steht in engem Ich möchte am Schluß allen danken, die am Zustan- Zusammenhang mit dem Bestreben, Studium und dekommen dieses Ergebnisses Anteil haben, vor Examen zu verkürzen. Der Bundesratsentwurf sah allem den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aus den eine unbeschränkte Möglichkeit der Abschichtung Justizministerien von Bund und Ländern. sowohl im ersten als auch im zweiten Examen vor. Wir haben uns dem nicht so weitgehend angeschlossen. Die SPD stimmt dem Gesetzentwurf zu. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9457*

Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Nach den trü- allen Ländern empfehlen. Sehr wesentlich erscheint ben Erfahrungen mit früheren Versuchen, die Juri- mir die Möglichkeit, den recht toten und quälenden stenausbildung praxisgerechter zu gestalten, haben Zwischenraum zwischen mündlichem und schriftli- wir bei dieser Gelegenheit uns den vom Bundesrat chem Examen durch die freie Station auszufüllen und gestellten Aufgaben nur mit gedämpfter Begeisterung damit etwa ein halbes Jahr, wie es auch immer genutzt zugewandt. Das heißt überhaupt nicht, daß wir das werden möge, zusätzlich einzusparen. Ziel einer vernünftigen mehrheitlich ausgerichteten Die Ausbildung der zukünftigen Juristen würden Juristenausbildung aufgegeben haben, es heißt ledig- wir gern grundlegender mit dem Ziel einer für die lich, daß wir erkannt haben, daß eine unverkennbare zukünftige Tätigkeit besser vorbereitenden Ausbil- Indolenz bei den Landesjustizverwaltungen und den dung ändern. Daran sind wir aus den gleichen Grün-- Hochschulen uns nach der Verfassungslage zwingt, den wie bei der vor etwa 15 Jahren mißlungenen den Gedanken an eine vernünftige Reform zunächst Ausbildungsreform gehindert. Der pragmatische ruhen zu lassen. Weg, einzelnen erkannten Mißständen mit gezielten Somit tragen wir die praktischen Dinge, die vorge- Maßnahmen abzuhelfen, führt uns vielleicht im Wege schlagen worden sind, mit. Dies allerdings mit unter- von Versuch und Irrtum besser in die seinerzeit schon schiedlicher Begeisterung. beabsichtigte Richtung. In diesem Sinne wünschen Ob man das Studium durch das neuerdings in Mode wir denen, die dieses Gesetz anwenden sollen, eine gekommene sogenannte Abschichten sinnvoll ver- glückliche Hand. kürzen kann, ist mir zweifelhaft. Auch in anderen Bereichen, z. B. bei Medizinern oder Ingenieuren, Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Der Bundes stellt sich heraus, daß scheinbar eine besondere Wis- tag sollte heute über einen Gesetzentwurf der Koali- senstiefe in dem jeweils anstehenden Einzelbereich tionsfraktionen entscheiden, mit dem die Juristenaus- erzielt wird, die sich jedoch am Tag nach der Einzel- bildung verkürzt werden soll. prüfung in Luft auflöst. Nur die im Einzelfach über- zeugende Prüfung führt dazu, daß gleichmäßig, wenn Diese Verkürzung war nach der Begründung dieses auch nicht so tief wie bei der Abschichtung, Wissen Entwurfes die entscheidene Intention der Verfasser. erworben wird, das dann etwas mehr Aussicht hat, in Begründet wird deren Notwendigkeit unter anderem späteren Jahren des Berufslebens auch noch präsent mit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit, für zu sein. die dringend und vorzeitig neu ausgebildete Juristin- nen benötigt werden. Wir stimmen trotz dieser Überlegungen dem Begeh- ren der großen Zahl der Bundesländer zu, obwohl uns Bedenkt man aber die Dauer der jetzigen Juristen- die bayerische Auffassung sympathischer ist. Wir ausbildung von ca. zehn Jahren und die Erwartung stimmen zu, weil wir in den Unterhaltungen, die wir der Verfasser, diese Dauer um ca. ein Jahr zu verkür- unter den Kollegen aller Fraktionen, wie es sich zen, so offenbart die Berufung auf die Deutsche gehört, gepflogen haben, einen Kompromiß finden Einheit allenfalls das Unverständnis und die Hilflosig- konnten, der jedenfalls für das mündliche Examen die keit der Verfasser. gleichzeitige Präsenz des Wissens erfordert. Wir stim- In der Tat: Die Juristenausbildung ist reformbedürf- men auch zu, weil es zunächst die Hoffnung gibt, daß tig. Notwendig ist sogar ein Gesamtkonzept der die Abschichtung der Klausuren, wenn die Länder von grundsätzlichen Neuordnung der Juristenausbildung. ihnen möglichst geschickt Gebrauch machen und die Dagegen hätte der Entwurf der Koalitionsfraktionen erste Klausur z. B. aus dem grundlegenden Bereich nur Stückwerk bedeutet. Dieser Entwurf griff aus des bürgerlichen Rechts wählen, auf andere Weise einer Gesamtheit notwendiger Reformregelungen nur den weitgehend fehlgeschlagenen Versuch einer bestimmte Teile über die Prüfungsabläufe heraus. Zwischenprüfung ersetzen könnte. Vielleicht gelingt es ja doch, daß der eine oder andere, der für die So begrüßenswert einige Regelungen dieses Ge- Juristerei wirklich etwas weniger geeignet ist, bei setzentwurfes zur Erleichterung der Prüfungsbedin- Gelegenheit einer solchen ersten Klausur zur Einsicht gungen waren: Ausreichend konnten sie für eine kommt und sich und anderen seine weitere Laufbahn Verbesserung der Studien- und Ausbildungsbedin- als Jurist erspart. gungen nicht sein. Die Anwaltsstation im Rahmen der Ausbildung ist Zu einer Verkürzung der Juristenausbildung gehört hervorgehoben worden, weil dies nach den tatsächli- meines Erachtens zwingend eine Regelung über den chen Berufszielen der jungen Juristen das mindeste während der Ausbildung zu vermittelnden und ist, was zu geschehen hat. Die Zahl der Richter beträgt schließlich zu prüfenden Stoff. Mit der Verkürzung derzeit etwa 18 000, die Zahl der Rechtsanwälte hat der Ausbildung ergibt sich doch auf jeden Fall das die Zahl 60 000 überschritten; darüber hinaus ähneln Problem, wie in der kürzeren Ausbildungszeit der die Berufsbilder derjenigen, die in der Wirtschaft, in Studien- und Prüfungsstoff von allen Beteiligten Verbänden, in der allgemeinen öffentlichen Verwal- bewältigt werden soll. Es zeigt sich die Gefahr, daß die tung tätig werden, viel mehr dem des Rechtsanwalts Studentinnen und Studenten und die Auszubildenden als dem des Richters. verstärkt belastet werden, so daß letztlich das beab- Die Festschreibung des sogenannten Freischusses sichtigte Ziel, die Verkürzung der Ausbildungszeiten, halten wir für eine gute Möglichkeit, dem Ziel einer wieder in Frage steht. Studienverkürzung näher zu kommen. Wir wissen, Insofern ist der im Rechtsausschuß erzielte und hier daß die Regelung auch ohne dieses Gesetz möglich nun zur Abstimmung stehende Kompromiß nur zu gewesen ist, möchten aber die insbesondere in Baye rn begrüßen. Ich begrüße die Abschichtung der ver- eingeführte und bewährte Regelung auf diesem Wege schiedenen Prüfungen für beide Staatsexamen, den 9458* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

sog. Freischuß, die Konzentration und Beschränkung nung auf eine bessere Prüfungsvorbereitung zahlen des Ausbildungsstoffes auf den Kern der klassischen können, ein angesichts der ehemals geforderten Rechtsgebiete, des EG-Rechts und schließlich des Chancengleichheit auch für sozial schwächere Stu- Wahlfaches. Ich begrüße auch, daß die Notwendigkeit dentInnen ein unhaltbarer Zustand. gesehen wird, zusätzlich noch den Prüfungsstoff zu beschränken. Hassemer-Kübler übt vor allem deshalb Kritik an den Justizprüfungsämtern und den prüfenden Prakti- Ich werde diesem Vorschlag des Rechtsausschusses kern, weil diese in den Prüfungen Prüfungsstoff mit zustimmen, weil er die Situation aller Beteiligten, Kasuistik völlig überfrachten, so für die StudentInnen insbesondere der auszubildenden JuristInnen verbes- und Referendarinnen unberechenbar und kaum zu sern und erleichtern kann. Angesichts der besonderen bewältigen erscheinen lassen. Hassemer-Kübler und Härte dieses Studiums und der juristischen Referen- andere universitäre Prüfer ziehen die Konsequenz, darzeit halte ich eine Erleichterung für dringend daß das 1. Staatsexamen eine echte Universitätsprü- geboten. Der Beschlußempfehlung des Ausschusses fung und damit eine Prüfung des an den Universitäten für Bildung und Wissenschaft stimme ich deshalb auch angebotenen Lernstoffes sein soll. Sie forde rn die nicht zu. weitgehende Zurückdrängung der fallorientierten, den Prüfungsstoff völlig überlastenden Praktiker und Ich bin mir andererseits auch darüber im klaren, daß der Justizprüfungsämter. Mir scheinen diese Vorstel- auch dieser Vorschlag letztlich nicht ausreichend ist. lungen für ein weiteres, grundlegenderes Gesetzes- Deutlich wird dies meines Erachtens an § 5 d Buch- vorhaben dringend überlegenswert. stabe a des Entwurfes. Es wird hier leider nichts über die konkrete Gestaltung des Prüfungsstoffes, ebenso- Ähnliche Erwägungen leiten auch den Deutschen wenig etwas über das System der Vermittlung und Anwaltverein bei seinem Modell einer Reform der schließlich der Prüfung des vermittelten Stoffes aus- Juristenausbildung. Dem Anwaltverein geht es eben- gesagt. falls um eine Entfrachtung des unkontrollierbaren und die StudentInnen und ReferendarInnen völlig überfor- Mit der Stoffülle steht meines Erachtens aber auch dernden Prüfungsstoffes, wobei diese Entfrachtung die Tauglichkeit des universitären Ausbildungs- und auch dazu dienen soll, daß die angehenden JuristIn- Prüfungssystems und die der sich daran anschließen- nen sich mit ihrem Fach sowie auch mit anderen den Referendarzeit zur Diskussion. Auch das juristi- Studienfächern verstärkt wissenschaftlich auseinan- sche Ausbildungssystem zeigt eine krisenhafte Ent- dersetzen können. wicklung, ich nenne nur einige Krisenerscheinungen wie überfüllte Hör- und Seminarsäle, die unzurei- Es geht also um eine gesetzlich garantierte Kon- chende sachliche und personelle Ausstattung der trolle der Prüfungen, des Prüfungsstoffes, der Über- Fachbereiche und Gerichte, der steigende Zustrom einstimmung von Lehr- und Prüfungsstoff und schließ- von StudentInnen und schließlich auch von Referen- lich auch um die Kontrolle der Prüfer. Eine solche darInnen auf der anderen Seite, die wachsende Zahl gesetzliche Regelung steht noch aus, sollte aber bald derjenigen, die durch die Prüfung fallen und schließ- in Angriff genommen werden. lich die immer lauter werdende Warnung vor den Solche gesetzlichen Regelungen haben nun aber Gefahren des völligen Zusammenbruchs der akade- wenig Sinn, wenn nicht oder nur unzureichend dar- mischen Ausbildung, so auch der juristischen Ausbil- über nachgedacht wird, wie die beschriebenen dung. Die bloße Verkürzung der Stoffülle löst so in der Krisenerscheinungen behoben werden können. Die Tat nicht das Problem, zumal wenn man noch darüber Tatsache, daß über solche Fragen während der Bera- diskutiert, den bundesdeutschen Juristen für den tungen über die verschiedenen Gesetzentwürfe nicht nationalen und internationalen Konkurrenzkampf diskutiert wurde, läßt mich vermuten, daß es bei der besser auszustatten. Gerade solche Konkurrenz- Verkürzung der Juristenausbildung auch um Einspa- kämpfe haben die Anforderungen hochgetrieben. rungen geht. Auf die Dauer ist dies aber keine Lösung. Zusätzlich zu diesen Krisenerscheinungen und den Man schiebt das Problem nur vor sich her. in den Entwürfen genannten Problemen zeigen sich Die Bundesregierung und der Bundestag können entscheidende Probleme offenbar in der krassen Dis- sich auf Dauer auch nicht damit herausreden, daß die krepanz von Ausbildungs- und Prüfungsstoff, die in Länder letztlich für die Lösung der krisenhaften Pro- keiner der Gesetzentwürfe überhaupt nur erwähnt bleme zuständig seien. Es handelt sich hier um eine wird. Tatsächlich gelingt es weder während des Gemeinschaftsaufgabe nach Art. 91 a Abs. 1 GG, die Studiums noch während der Referdarausbildung, die den Bund zugleich auffordert, etwas zu unternehmen. Fülle der Möglichkeiten der Prüfungsthemen und Dazu gehört natürlich auch, die krisenhaften Erschei- -fragen ausreichend zu vermitteln. Hassemer-Kübler nungen bei der finanziellen, sachlichen und personel- sieht in seinem Gutachten zu dem deutschen Juristen- len Ausstattung der Ausbildungseinrichtungen zu tag 1990 den Kern studentischer Ängste vor der beheben. juristischen Prüfung in der krassen Differenz von Ausbildungs- und Prüfungsstoff und in dem Umstand, Unter den zusätzlich von mir genannten Vorausset- daß am ersten Staatsexamen Praktiker folgenreich zungen läßt sich dann auch über weitere sinnvolle mitwirken. Dies seien die Gründe dafür, daß so viele Vorschläge, etwa den des Deutschen Anwaltvereins, JurastudentInnen ihr Heil bei Repetitoren suchen, die nachdenken, bereits in der Ausbildung zum ersten die Diskrepanz zwischen Ausbildung und Prüfung zu Staatsexamen ein 13 Monate dauerndes Praktikum mildern versuchen, nicht unbedingt mit durchschla- aufzunehmen. Ich halte das vorliegende Gesetzesvor- gendem Erfolg aber mit hohen Kosten. Bis zu haben demgegenüber nur für eine vorübergehend DM 4 000,— müssen die Studentinnen für ihre Hoff- akzeptable Lösung, der ich aber aus den genannten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9459*

Gründen zustimmen werde, in der Erwartung, daß die behandelt. Der Rechtsausschuß hat hier einen, wie ich Probleme weitergehende Regelungen erzwingen meine, guten Kompromiß gefunden: Nur die schriftli- werden. chen Leistungen der ersten Prüfung können, wenn der Landesgesetzgeber dies bestimmt, abgeschichtet werden. Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi nister der Justiz: Lassen Sie mich für die Bundesregie- Die Verkürzung des Vorbereitungsdienstes ist rung — die dazu keinen Gesetzentwurf vorgelegt gemeinsames Anliegen des Bundesratsentwurfes und hat — mit wenigen Sätzen hervorheben, wie sie das des Fraktionsentwurfes. Trotz mancher Kritik halte ich Ergebnis der Beratungen im Deutschen Bundestag einen Vorbereitungsdienst von zwei Jahren für aus- sieht. reichend, vorausgesetzt, daß diese Zeit voll genutzt- wird. Die Effektivität der einzelnen Stationen hängt Dem Rechtsausschuß ist es gelungen, aus den vor allem von den Ausbildern und den Referendarin- beiden dem Hohen Hause vorliegenden Gesetzent- nen und Referendaren selbst ab. würfen zur Juristenausbildung die sich ergänzenden Teile zusammenzufügen und dort, wo Divergenzen Ein weiterer zentraler Punkt in der Reformdiskus- waren, tragfähige Lösungen zu entwickeln. Ich danke sion ist die bessere Vorbereitung der jungen Juristen dem Rechtsausschuß für seine Bemühungen um einen auf Europa. Nach der Empfehlung soll das Europa- Kompromiß. Die seit 1986 erneut und lebhaft geführte recht als Teil des Pflichtfachstudiums einbezogen Debatte zur Reform der Juristenausbildung hat damit werden. Wie das zu geschehen hat, muß dem Landes- ein gutes Ergebnis erzielt. Es ist nicht spektakulär, recht und vor allem der Praxis überlassen bleiben. Zu doch das Gesetz wird für die Beteiligten von Nutzen unterschiedlich ist bei den Pflichtfächern, die Haupt- sein. gegenstand der Ausbildung sind, die unmittelbare oder mittelbare, die gegenwärtige und die künftige Ein zentraler Punkt der neuerlichen Reformdiskus- Bedeutung des Europarechts. — Ein Pluspunkt für sion ist die übermäßige Dauer der Ausbildung. Mög- Europa ist ferner, daß nach der Empfehlung auch lich und notwendig zur Verkürzung der Gesamtaus- Pflichtstationen im Ausland absolviert werden kön- bildungsdauer sind Anreize zu einem rascheren nen. Und schließlich ist alles, was zur Verkürzung Abschluß des Studiums, eine Verkürzung des Vorbe- unserer deutschen Juristenausbildung geschieht, ein reitungsdienstes und ein Abbau der Prüfungszeiten. Beitrag zu gleichen Chancen in Europa. Das vorgeschlagene Gesetz enthält zu diesen drei Punkten praktikable Neuerungen, indem es Regelun- Durch die zügige Behandlung des Entwurfs durch gen des Fraktionsentwurfs und des Bundesratsent- das Hohe Haus kann die dringend notwendige Ver- wurfs zusammenführt. kürzung der Juristenausbildung rasch verwirklicht werden, zugleich wird den neuen Ländern der bun- Auf der Grundlage des Fraktionsentwurfs soll der desgesetzliche Rahmen für die Neuordnung ihrer Freiversuch im Bundesrecht verankert und bundes- Juristenausbildung gegeben. weit eingeführt werden. Bayern war mit dem Freiver- such vorangegangen und konnte, wie unterdessen auch andere Länder, erstaunliche Erfolge melden. Allerdings wird nur ein Teil der Studentenschaft über den Freiversuch zu einer Senkung der durchschnittli- Anlage 3 chen Studiendauer beitragen. Es werden nur die Studentinnen und Studenten sein, die sich dies Zu Protokoll gegebene Reden zutrauen und möglichst bald ihren angestrebten Beruf zu Tagesordnungspunkt 11 ergreifen wollen. Der Gesetzgeber darf nicht nur (Antrag betr. Entbindung ehemaliger Mitarbeiter diesen Teil der Studentenschaft vor Augen haben. des Staatssicherheitsdienstes von der ihnen auferlegten Schweigepflicht) *) Es ist deshalb zu begrüßen, daß die Vorschläge des Rechtsausschusses, dem Bundesratsentwurf folgend, Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die auch eine Beschränkung des Lehr- und Prüfungsstof- Bundesregierung muß die dienstliche Schweige- fes vorschreiben. Der Stoffbegrenzung dient die jetzt pflicht, die allen hauptamtlichen und inoffiziellen an die Adresse der Länder gerichtete Verpflichtung, ehemaligen Mitarbeitern des MfS bis heute grund- den Stoff der ersten Prüfung so zu bemessen, daß das sätzlich obliegt, endlich förmlich aufheben. Studium nicht nur von qualifizierten, sondern auch von durchschnittlichen Studenten nach dem vierten Soweit der Ministerrat der ehemaligen DDR diese Studienjahr abgeschlossen werden kann. Verpflichtung im Mai 1990 gelockert hat, ist dieser Beschluß, der nach dem Einigungsvertrag wirksam Die dritte Maßnahme zur Verkürzung der Studien- bleibt, natürlich völlig unzureichend. Denn in wichti- zeit, die jetzt vorgeschlagen wird, war zumindest in gen Bereichen — und das war die eigentliche Inten- ihrem Ausmaß nicht unumstritten: Die „Abschich- tion jenes Beschlusses — besteht die förmliche tung" von Prüfungsteilen. Von den Befürwortern wird Schweigepflicht fort: geltend gemacht, daß dadurch die Prüfungsangst abgebaut und die Studienzeit herabgesetzt werden 1. hinsichtlich MfS-Tätigkeit, soweit diese der DDR kann. Die Kritiker befürchten einen Leistungsabfall Verfassung entsprach. Leider müssen wir davon aus- und betonen, daß kein Rechtsanwalt ein Rechtsgebiet gehen, daß der größte Teil der Stasi-Praktiken formal als „abgeschichtet" betrachten darf. Andererseits im Einklang mit der damaligen Rechtslage erfolgte. wird im Vorbereitungsdienst und in der zweiten Prüfung ohnehin der Stoff der ersten Prüfung erneut *) Vgl. Seite 9451 C 9460* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

2. Die Schweigepflicht besteht hinsichtlich aller das genaue Gegenteil juristisch überzeugend begrün- geheimdienstlichen Tätigkeiten fort: also gerade det. Wie also gelangt die Regierung zu ihrer nebulö- bezüglich der empörendsten Aktivitäten des MfS. sen Annahme, auch hinsichtlich der Untersuchungs- 3. Ehemalige hauptamtliche MfS-Mitarbeiter dür- ausschüsse? fen sich nicht einmal gegenüber einer Person ihres Schließlich drittens: Was hindert denn die Bundes- Vertrauens offenbaren. regierung eigentlich, den fraglichen Beschluß aufzu- 4. Zwar dürfen ehemalige Mitarbeiter gegenüber heben und statt dessen den einen Satz zu verabschie- Polizei und Staatsanwaltschaft aussagen, aber gegen- den: „Alle ehemaligen Mitarbeiter des MfS/AfNS sind von ihrer dienstlichen Schweigepflicht entbunden. "? über Gerichten gilt weiterhin die Schweigeverpflich- - tung. Daß es ein einziges Gerichtsurteil gibt — näm- Warum war die Bundesregierung bisher nicht bereit, lich des Kammergerichts Berlin im Mauerschützen hier Rechtssicherheit zu schaffen und Behinderung verfahren gegen den Zeugen Neiber —, welches die der künftigen Aufarbeitung zu verhindern? grundsätzliche Aussagepflicht auch gegenüber Ge- Ich hoffe, daß die Ausschußberatungen über unse- richten bejaht hat, ändert an dem Problem nichts. ren Antrag sehr zügig durchgeführt werden und daß Denn diese einmalige kühne Auslegung eines sich die anderen Fraktionen unserem Anliegen Gerichts erfolgte entgegen dem ausdrücklichen Wort- anschließen werden. laut des fraglichen Ministerrats-Beschlusses. Daraus läßt sich für die Zukunft nicht herleiten, daß gericht- Rolf Schwanitz (SPD): Das Berufen auf eine fortbe liche Aussagen nicht aus formalen Gründen verwei- stehende Schweigeverpflichtung durch ehemalige gert werden können. Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit hat 5. Schließlich dürfen Ehemalige auch gegenüber die Öffentlichkeit mittlerweile in mehreren Fällen heutigen parlamentarischen Untersuchungen schwei- miterleben müssen. Insbesondere der Auftritt von gen. Denn von der Schweigepflicht entband sie der Herrn Neiber beim Mauerschützen-Prozeß vor dem Ministerrat nur bezüglich Untersuchungen von Kom- Berliner Kammergericht ist uns noch sehr gut in missionen in der DDR — die nicht mehr existieren — Erinnerung. Die Menschen in Ost- und Westdeutsch- und außerdem nur bezüglich Tätigkeiten, die der land können ein derartiges Verhalten, ein Zurückgrei- DDR-Verfassung widersprachen. Auch dies betrifft, fen auf geltendes Bundesrecht, nicht verstehen. Im wie bereits gesagt, allenfalls einen geringen Teil der Gegenteil, wenn Stasi-Offiziere sich bei ihrem fort- MIS-Aktivitäten. dauernden und mittlerweile unerträglichen Schwei- gen zu ihren Taten von gestern heute auch noch auf Die Streichung der Schweigepflicht gegenüber Par- bundesdeutsches Recht berufen können, so sind Wut lamentarischen Untersuchungsausschüssen ist beson- und Enttäuschung bei den Mitmenschen nur zu ders wichtig, wenn wir z. B. an die künftige Arbeit der berechtigt. KoKo-Ausschüsse im Bundestag und in Bayern den- ken, an die hiesige DDR-Enquete oder an den Bran- Um so mehr begrüßen die Sozialdemokraten die in denburger Stolpe-Ausschuß. In diesem letztgenann- der Drucksache 12/2071 vorliegende Intitative der ten Ausschuß haben sich auch bereits mehrere Zeu- Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Diese Initiative ist längst überfällig, und man ist versucht, sich gen auf die Schweigepflicht berufen. Und ihre Rechts- anwälte haben in jener Ausschußsitzung am 19. Mai erstaunt die Augen zu reiben und zu fragen, weshalb noch niemand vorher auf dieses Problem gestoßen 1992 hinzugefügt, schließlich habe ja gerade die ist. Bundesregierung den damals zuständigen DDR- Innenminister bedrängt, den einschlägigen Minister- Doch Fragen drängen sich gerade für einen Ost- ratsbeschluß zu fassen, der die Schweigepflicht deutschen auch noch in anderer Richtung auf. Es war grundsätzlich aufrecht erhält. Der Fortbestand dieses ein Beschluß des Kabinetts Lothar de Maizière, wel- Beschlusses ist ja sodann im Einigungsvertrag zwi- cher am 16. Mai 1990 dafür gesorgt hat, daß die schen den Verhandlungsführern Diestel und Schweigeverpflichtung der Stasi-Mitarbeiter nicht Schäuble ausdrücklich festgeschrieben worden. vollständig aufgehoben worden ist. Nach diesem Ministerratsbeschluß soll die Schweigerverpflichtung Zu diesem Sachverhalt hat die Bundesregierung unter anderem dann fortbestehen, wenn es sich um nun auf meine Anfrage wie ein Orakel geantwortet. mit der Verfassung der Deutschen Demokratischen Erstens könne sie diese Darstellung über die Entste- Republik in Übereinstimmung stehende frühere hung der fraglichen Regelung „nicht bestätigen". Wir geheimdienstliche und nachrichtendienstliche Tätig- meinen jedoch: die Regierung schuldet der Öffentlich- keit handelt. Welche Geheimnisse der Stasi-Tätigkeit keit Aufklärung, wie es quasi unter den Augen ihrer glaubte die aus freien Wahlen hervorgegangene damaligen Ost-Berater — voran der heutige Präsident Regierung der DDR Mitte Mai des Jahres 1990 noch des Bundesamtes für Verfassungsschutz — zu diesem schützen zu müssen? Lag hier nicht ein vollkommen skandalösen Beschluß kommen konnte sowie zu des- anderes Bild vom DDR-Geheimdienst vor, eine Eintei- sen Zementierung im Einigungsvertrag durch Herrn lung in die gute und in die böse Staatssicherheit? Aus Schäuble. welchem Ressort kam die Kabinettsvorlage damals, Zweitens hat die Bundesregierung — sogar schon und wie intensiv sind die Folgen dieses Beschlusses zweimal geantwortet, sie „gehe davon aus", daß die auf der Ministerratssitzung am 16. Mai 1990 beraten Schweigepflicht gegenüber „Strafverfolgungsbehör- worden? Und vor allem, was hat die Bundesregierung, den" und parlamentarischen Untersuchungsaus- die im Oktober 1990 richtigerweise von einem ganz schüssen nicht gelte. Dies hat nun allerdings sogar das anderen, von einem realistischeren Stasi-Begriff aus- Kammergericht nicht anzunehmen gewagt, sondern gegangen ist, bewogen, diesen Ministerratsbeschluß jedenfalls bezüglich Polizei und Staatsanwaltschaft als weitergeltendes Recht in den Einigungsvertrag Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9461 aufzunehmen? Die Abgeordneten der Volkskammer zum Beispiel — schon gern als Rechtsnachfolger von und, ich fürchte, auch die Abgeordneten des Bundes- Herrn Erich Mielke gelten. Sich die demokratisch tages, hatten im September 1990 jedenfalls keinerlei gewählte Regierung der Bundesrepublik Deutschland Chancen, dieses Überbleibsel aus vergangenen DDR- als treusorgenden Dienstherren der hauptamtlichen Zeiten im Dickicht des Einigungsvertrages bei den und inoffiziellen Mitarbeiter des verbrecherischen Beratungen zu entdecken. Ministeriums für Staatssicherheit vorzustellen — das Über diese und andere Fragen werden wir unter ist noch nicht einmal komisch. Neben diesen psycho- anderem auch in den Ausschußberatungen noch ein- logisch durchaus wichtigen Überlegungen gibt es für mal Gelegenheit haben nachzudenken, auch deshalb den Rechtsstandpunkt der Regierung gute weitere - verdient dieser Antrag unsere Unterstützung. Gründe. Allerdings haben wir alle nicht die Zeit, uns recht- Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Der lich streitig über die Frage auseinanderzusetzen, ob Untersuchungsausschuß Kommerzielle Koordinie- nun der Standpunkt des Berliner Kammergerichtes rung hat sich bisher zweimal mit der Frage der sich durchsetzen wird oder die Meinung der Bundes- formalen Entbindung ehemaliger Stasi-Mitarbeiter regierung. Wir brauchen in Untersuchungsausschüs- von der ihnen auferlegten Schweigepflicht beschäf- sen und Enquete-Kommissionen, aber auch vor den tigt. Gerichten, jetzt die Aussagebereitschaft der ehemali- Auf Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN soll gen Stasi-Mitarbeiter. Wir müssen jetzt aufarbeiten eine vom DDR-Ministerrat am 16. Mai 1990 beschlos- und aufklären. Wir müssen den letzten MfS-Getreuen sene „Festlegung zur Aufhebung der Schweige- jetzt verbieten, sich auf eine imaginäre Schweige- pflicht" abgeändert werden. Ziel des Antrages ist pflicht zu berufen. die den hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern Wir sollten deshalb in gründlichen Beratungen des des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit auf- Innenausschusses und des Rechtsausschusses einen erlegte Verpflichtung zur Verschwiegenheit über gerichtsfesten Weg suchen. Mir ist sehr an einer anvertraute Staats- und Dienstgeheimnisse aufzuhe- Erarbeitung eines gemeinsamen Standpunktes gele- ben. gen. Sollten andere Wege nicht gangbar sein, würde Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte ein glei- ich persönlich folgendes Verfahren vorschlagen: ches Ergebnis erreichen. Es gibt keinerlei Begrün- Unter Aufrechterhaltung des Rechtsstandpunktes dung für eine Aufrechterhaltung der Schweigepflicht. entbindet die Bundesregierung vorsorglich alle ehe- Sie kann und darf in der Praxis keine Rolle mehr maligen Mitarbeiter des MfS von der unter DDR-Recht spielen. Deshalb sind auch die Beschränkungen auf vorhandenen Schweigepflicht. Damit würden keiner- Staatsanwaltschaften und Gerichte, wie sie durch die lei Aussagehindernisse entstehen und wir könnten „Festlegungen" der DDR-Regierung beschlossen zeitgerecht die Aufarbeitung dieses Teils der deut- worden sind, obsolet geworden. schen Geschichte weiter voranbringen. Die Bundesregierung teilt diesen Standpunkt. Sie erklärt, daß der bereits zitierte Beschluß des Minister- Dr. Jürgen Schmieder (F.D.P.): Das Sachanliegen, rats nach bundesdeutschem Recht als allgemeine welches hinter dem Antrag von BÜNDNIS 90/DIE Verwaltungsvorschrift, Richtlinie oder allenfalls als GRÜNEN steht, verdient es allemal, hier im Bundes- Regierungsakt zu qualifizieren sei. Sie verweist auf tag vordringlich behandelt zu werden. Die Vorlage den Einigungsvertrag. Der Ministerratsbeschluß vom 12/2071 muß an die zuständigen Ausschüsse überwie- 16. Mai 1990 sei dort nicht aufgeführt, obwohl in der sen werden und dem Plenum schnellstmöglich wieder Anlage II des Vertrages im übrigen durchaus andere zur abschließenden Beschlußfassung vorgelegt wer- Anordnungen verzeichnet sind. den. Die Bundesregierung stellt sich weiter auf den Es geht darum, unverzüglich alle geeigneten und Standpunkt, daß ein nicht mehr existenter Staat, wie erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die am die DDR, seine „Geheimnisse" nicht mehr schützen 16. Mai 1990 vom DDR-Ministerrat beschlossenen könne. Mangels einer bestehenden Schweigepflicht „Festlegungen zur Aufhebung der Schweigepflicht" sei deshalb auch eine Entbindung von derselben nicht dahingehend abzuändern, daß alle ehemaligen Mit- nötig. arbeiter des MfS im vollen Umfang von der ihnen Für die praktische Arbeit, z. B. im 1. Untersuchungs- auferlegten Schweigepflicht über anvertraute Staats- ausschuß bedeutet dies: „Die Bundesregierung geht und Dienstgeheimnisse entbunden werden. Aus mei- davon aus, daß alle früher in der öffentlichen Verwal- ner Sicht verdient die dringende Klärung der Fortgel- tung beschäftigten Arbeitnehmer zum Thema des tung und des Umfangs der Fortgeltung der „Fest- 1. Untersuchungsausschusses auszusagen haben", so legungen zur Aufhebung der Schweigepflicht" der Parlamentarische Staatssekretär der Finanzen, besondere Aufmerksamkeit, da sowohl der 1. Unter- Dr. Grünewald, in einem Schreiben vom 3. September suchungsausschuß „Kommerzielle Koordinierung", 1991. möglicherweise die Enquete-Kommission zur „Auf- Diese Rechtsauffassung wird vom Berliner Kam- arbeitung der Geschichte und der Folgen der SED mergericht leider nicht geteilt. Es geht bei einem Diktatur", als auch auf jeden Fall die Untersuchungs- Urteil im Rahmen des „Mauerschützenprozesses" von ausschüsse der Landtage in ihrer Arbeit behindert einem zumindest teilweisen Weiterbestehen der werden. Schweigepflicht aus. Der Beschluß des DDR-Ministerrates scheint mir aus Ich kann die Haltung der Bundesregierung sehr gut heutiger Sicht ziemlich fragwürdig, unscheinbar und verstehen. Wer möchte — als Bundesinnenminister nicht nachvollziehbar. 9462* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992

Bekanntlich hat das Kammergericht zu Berlin in Rolle der Zeugen vor Gericht die Auskunft zu verwei- seiner Entscheidung vom 5. Dezember 1991 in einem gern. Hintergrund ist aber, daß es derzeit völlig Ordnungsgeldverfahren gegen den früheren stellver- unkalkulierbar ist, ob nicht eine Zeugenaussage, tretenden Minister für Staatssicherheit, Dr. Gerhard selbst wenn sie mit dem ehrlichen Anspruch, zur Neiber, festgestellt, daß die in dienstlichen Angele- Aufklärung beizutragen, gemacht wurde, umgehend genheiten früher auferlegte Schweigepflicht zumin- zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den dest teilweise auch nach dem Beitritt der DDR zur Zeugen führt. Bundesrepublik Deutschland fortbesteht. Das Kam- Was also den notwendigen Prozeß der gesellschaft- mergericht Berlin folgert die Fortgeltung der entspre- lichen Aufarbeitung ungemein erschwert, ist das hier- chenden Festlegungen aus Art. 19 des Einigungsver- für ungeeignete Ins trument der Strafjustiz. Dieses ist trages, und zwar als sogenannte Allgemeinverfügung, tatsächlich kontraproduktiv für eine umfassende Ana- das heißt als ein Verwaltungsakt mit einem zwar nicht lyse und Aufarbeitung der Tätigkeit eines Geheim- bestimmten, aber eindeutig bestimmbaren Personen- dienstes wie des MfS. kreis. Wer einen Mindeststandard an Rechtsstaatlichkeit Die Bundesregierung vertritt hingegen die Auffas- aufrecht erhalten will — nämlich daß Beschuldigte sung, daß für Mitarbeiter des ehemaligen MfS/AfNS und Angeklagte das Recht zu schweigen haben, gegenüber Strafverfolgungsbehörden oder parlamen- Zeugen ein Auskunftsverweigerungsrecht haben tarischen Untersuchungsausschüssen heute keine dort, wo sie sich selbst belasten könnten —, der müßte Schweigepflicht hinsichtlich der im Zusammenhang die im Einigungsvertrag getroffene Regelung akzep- mit der früheren Tätigkeit erlangten Informationen tieren, zumal sie nur ein Argumentationsstrang ist, um mehr besteht. Hierin kann man die Bundesregierung ein bestehendes Auskunftsverweigerungsrecht zu nur bestätigen und jetzt entschieden darum bitten, begründen. Oder es soll doch bitte gleich offen gesagt aktiv zu werden. Das Bundesministerium des Innern werden, daß die Rechte von Beschuldigten und Zeu- sollte zur Vorbereitung der Behandlung der Thematik gen nicht für Mitarbeiter des ehemaligen MfS gelten im Innenausschuß einen Bericht über seine Einschät- sollen, und dann eigentlich auch nicht für all diejeni- zung der Rechtslage vorlegen und sofortige Möglich- gen, die derzeit unter dem Stichwort Regierungskri- keiten zur weitgehenden Aufhebung gemäß der minalität verfolgt werden, also einige Zigtausend. Rechtsprechung des Kammergerichtes zu Berlin fort- bestehender Schweigepflichten prüfen und zur Dis- 2. Die Forderung nach Transparenz, die eine Tradi- kussion stellen. tion übrigens nicht nur in den DDR-Bürgerbewegun- gen, sondern auch in demokratischen und linken Bewegungen der BRD hat, ist eine Forderung, die das (PDS/Linke Liste). Auf den ersten Andrea Lederer Brechen von Herrschaftswissen beinhalten sollte. Blick scheint der Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wohlwollend interpretiert könnte man annehmen, in NEN zur Aufhebung der Schweigepflicht ehemaliger dem Antrag stecke diese Intention. Dem ist allerdings Mitarbeiter des MfS ja logisch zu sein: die Verfassung nicht so: denn erstens gibt es keine Herrschaft mehr der DDR und die Behörden der DDR, die zur bei denjenigen, deren Offenbarung nunmehr gefor- Schweigepflicht binden können, gibt's nicht mehr, dert wird, und zweitens sind diese Leute derzeit der und das Auspacken über Geheimdienstmethoden BRD-Justiz ausgeliefert. Sie ist dann keine fortschritt- könnte theoretisch und generell ein Beitrag zur Auf- liche Forderung mehr, wenn mit ihr gleichzeitig klärung über geheimdienstliche Tätigkeit sein. rechtsstaatliche Prinzipien aufgegeben werden, was Aus einem gründlicheren zweiten Blick aber erge- kurz-, mittel- und langfristig katastrophale Auswir- ben sich Zweifel, politisch, juristisch und sogar mora- kungen für den rechtsstaatlichen und demokratischen lisch: Stand dieser Gesellschaft hat. Mal ganz abgesehen 1. Da heißt es im Antrag: „Insbesondere erschwert von der Frage, was davon eigentlich die Opfer der die Schweigepflicht den notwendigen Prozeß der Bespitzelung und Repression in der DDR haben. gesellschaftlichen Aufarbeitung (in dem bestehen- 3. Und es gibt ein moralisches Argument, auch gebliebenen Umfang) ungemein". Das bestreite ich, wenn ich mir der nun folgenden, politisch motivierten weil dieser Satz die Verwechslung von Ursache und empörten Reaktion hier im Hause bewußt bin. Jeder Wirkung beinhaltet. Wenn erstaunlicherweise im liebt den Verrat, keiner den Verräter. Unter der Einigungsvertrag die nun beanstandete Regelung Vorgabe, die Strukturen in Erfahrung bringen zu enthalten war, dann war dies vermutlich der Tatsache wollen, werden Fragen nach anderen Personen geschuldet, daß Drittstaaten Bedenken angemeldet gestellt. Bestes Beispiel ist die Verhörmethode im oder solche zu befürchten gewesen wären, wenn die Schalck-Untersuchungsausschuß, an der sich auch die Tätigkeit der DDR-Nachrichtendienste in vollem Gruppe Bündnis 90 einigermaßen erfolgreich betei- Umfang auf den Tisch gekommen wäre. Indiz dafür ist ligt: „Kennen Sie den und den, der für das MfS übrigens auch, daß es mal die CDU/CSU war, die ein gearbeitet hat? — Ja — Aha", im Anschluß die Straffreiheitsgesetz für ehemalige Mitarbeiter der Pressemitteil ung, daß nunmehr der Kontakt zur Stasi Nachrichtendienste der DDR eingebracht hatte. Was erwiesen sei, und das Klagen über mangelndes Aktiv- dann kam, nachdem der Vertragspartner DDR schlicht werden der Strafjustiz. Gelegentlich folgt auch der untergegangen ist, hatte Kohl nicht versprochen. Hinweis an die Staatsanwaltschaft auf dem Fuße. Massenhafte Ermittlungsverfahren, die sich auf Die gesamte Strafprozeßordnung kennt kein Mittel immer weitere Berufsgruppen erstrecken. und keinen Weg, zum Verrat von Mittätern zu zwin- Die Schweigepflicht ist eine Begründung, die ehe- gen. Das aber genau wird verlangt von denjenigen, malige Mitarbeiter des MfS heranziehen, um in der die sich auf die Schweigepflicht stützen wollen. Stel- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 110. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 8. Oktober 1992 9463* len wir uns irrwitzigerweise einmal kurz vor, die BRD Antrag zugrunde liegende Rechtsauffassung, dieser sei der DDR beigetreten. Und die DDR-Regierung Beschluß des Ministerrats sei nach Art. 9 des Eini- würde die Anklage gegen Mitarbeiter des BND und gungsvertrages nach wie vor geltendes Recht, ist nicht des Verfassungsschutzes betreiben. Welche Achtung zutreffend. Gemäß Art. 9 Abs. 2 des Einigungsvertra- hätten Sie gegenüber solchen Mitarbeitern, die die ges bleibt nur das in Anlage II des Einigungsvertrages Kollegen preisgeben würden um den Preis, daß diese aufgeführte Recht der DDR mit den do rt genannten ebenfalls verurteilt würden? Dies unabhängig von der Maßgaben in Kraft. Der Ministerratsbeschluß vom Frage, ob man generell die Tätigkeit von Geheim- 16. Mai 1990 ist jedoch nicht in diese Anlage II diensten politisch mitträgt oder nicht, was ich nie aufgenommen worden. Aus diesem Grunde können getan habe. die „Festlegungen" zur Verschwiegenheitspflicht Und ich erinnere an den subjektiven Aspekt dieser nicht als fortgeltendes DDR-Recht angesehen wer- Problematik. Der eine empfindet seine Aussage als den. Beitrag zur Aufklärung, der andere als Verrat an Im übrigen könnte auch die Heranziehung des Art. 9 Kollegen. Letzterem können Sie diese subjektive des Einigungsvertrags zu keiner Fortgeltung des Empfindung nicht absprechen. Und man sollte nie- Ministerratsbeschlusses führen. Dieser Beschluß ist manden dazu zwingen, sich subjektiv als Verräter nämlich kein Verwaltungsakt oder eine gleichartige wahrzunehmen, auch wenn man den gleichen Vor- Verwaltungsentscheidung, was er sein müßte, um gang selbst anders sieht. nach Art. 19 des Einigungsvertrages fortzugelten, sondern muß vielmehr als allgemeine Verwaltungs- Aus diesen Gründen werden wir diesen Antrag vorschrift, Richtlinie oder evtl. auch als Regierungsakt ablehnen. qualifiziert werden. Vor allem kann generell der Geheimnisschutz als Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim Teil der staatlichen Selbstorganisation nur so lange Bundesminister des Innern: Ich halte eine Beschluß- andauern wie die Staatsgewalt selbst, die ihn ver- fassung im Sinne des Antrags der Kollegin Köppe und langt. Ein nicht mehr existenter . Staat wie die DDR der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Drucksa- kann seine „Geheimnisse" mithin nicht mehr schüt- che 12/2071 zur Entbindung ehemaliger Mitarbeiter zen. Schon aus diesem Grunde kann hier nicht vom des Staatssicherheitsdienstes von der ihnen auferleg- Fortbestehen einer früheren Schweigepflicht ausge- ten Schweigepflicht nicht für angezeigt. gangen werden. Die Bundesregierung hat diese Auf- Selbst eine Annahme dieses Antrags würde an der fassung bereits in den Antworten auf die Schriftlichen bestehenden Rechtslage nichts ändern, da sich die Fragen des Kollegen Lowack in Drucksache 12/2318 ehemaligen Stasi-Angehörigen bereits jetzt nicht und der Kollegin Köppe in Drucksache 12/3047 zum mehr auf eine Verschwiegenheitspflicht berufen kön- Ausdruck gebracht. nen. Der Beschluß des DDR-Ministerrats vom 16. Mai Da es einer Aufhebung des Beschlusses des DDR- 1990 mit den „Festlegungen zur Aufhebung der Ministerrates vom 16. Mai 1990 nicht bedarf, geht der Schweigepflicht" ist mit der Herstellung der Einheit Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ins Deutschlands gegenstandslos geworden. Die dem Leere.