Plenarprotokoll 12/41

Deutscher Bundestag

Stenographischer Bericht

41. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Inhalt:

Begrüßung des Präsidenten der National- d) Erste Beratung des von der Bundesre- versammlung der Republik Ungarn und gierung eingebrachten Entwurfs eines einer Delegation sowie Hinweis auf die Ent- Gesetzes zu dem Abkommen vom hüllung einer Gedenktafel am Reichstags- 30. Oktober 1990 zwischen der Bun- gebäude 3355 A desrepublik Deutschland und der Re- publik Indonesien zur Vermeidung Erweiterung der Tagesordnung 3355 C der Doppelbesteuerung auf dem Ge- biet der Steuern vom Einkommen Vertagung der von der PDS/Linke Liste be- und vom Vermögen (Drucksache antragten Aktuellen Stunde 3355 D 12/757) e) Erste Beratung des von der Bundesre- Tagesordnungspunkt 4: gierung eingebrachten Entwurfs eines Überweisungen im vereinfachten Ver- Gesetzes zu dem Abkommen vom fahren 2. November 1987 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und Neu- a) Erste Beratung des von der Bundesre- seeland über den Luftverkehr (Druck- gierung eingebrachten Entwurfs eines sache 12/938) Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Juni 1988 zwischen der Bundesre- f) Erste Beratung des von der Bundesre- publik Deutschland und dem König- gierung eingebrachten Entwurfs eines reich der Niederlande über die ge- Gesetzes zu dem Abkommen vom genseitige Hilfeleistung bei Katastro- 18. September 1985 zwischen der phen einschließlich schweren Un- Bundesrepublik Deutschland und der glücksfällen (Drucksache 12/758) Argentinischen Republik über den Luftverkehr (Drucksache 12/759) b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines g) Erste Beratung des von der Bundesre- Gesetzes über die Unterlagen des gierung eingebrachten Entwurfs eines Staatssicherheitsdienstes der ehema- Gesetzes zu dem Abkommen vom ligen Deutschen Demokratischen Re- 8. April 1987 zwischen der Bundesre-

publik (Stasi-Unterlagen -Gesetz — publik Deutschland und der Republik StUG) (Drucksache 12/1093) Venezuela über den Luftverkehr (Drucksache 12/1057) c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs ei- h) Erste Beratung des von der Bundesre- nes Gesetzes zu dem Abkommen vom gierung eingebrachten Entwurfs eines 29. Mai 1990 zwischen der Bundesre- Gesetzes zu dem Abkommen vom publik Deutschland und der Volksre- 25. April 1989 zwischen der Regie- publik Bangladesch zur Vermeidung rung der Bundesrepublik Deutsch- der Doppelbesteuerung auf dem Ge- land und der Regierung der Vereinig- biet der Steuern vom Einkommen ten Staaten von Amerika zur Ergän- (Drucksache 12/756) zung des Abkommens vom 7. Juli II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

1955 über den Luftverkehr (Druck- s) Beratung des Antrags des Präsidenten sache 12/1058) des Bundesrechnungshofes i) Erste Beratung des von der Bundesre- Rechnung des Bundesrechnungsho- publik eingebrachten Entwurfs eines fes für das Haushaltsjahr 1990 (Drucksache Gesetzes zu dem Abkommen vom — Einzelplan 20 — 12/893 [neu]) 16. Mai 1991 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und t) Beratung des Antrags des Bundesmi- der Regierung der Union der Soziali- nisters der Finanzen: Einwilligung in stischen Sowjetrepubliken über die die Veräußerung eines Grundstücks Beendigung der Tätigkeit der Sowje- in Berlin gemäß § 64 Abs. 2 der Bun- tisch-Deutschen Aktiengesellschaft deshaushaltsordnung (Drucksache Wismut (Drucksache 12/939) 12/1008) j) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines in Verbindung mit Dritten Gesetzes zur Änderung des Eichgesetzes (Drucksache 12/746) Zusatztagesordnungspunkt 2: k) Erste Beratung des von der Bundesre- Erste Beratung des vom Bundesrat einge- gierung eingebrachten Entwurfs eines brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Gesetzes zur Übertragung der Auf ga- derung des Gesetzes zum Ausgleich von ben der Bahnpolizei und der Luftsi- Auswirkungen besonderer Schadenser- eignisse in der Forstwirtschaft (Forst- cherheit auf den Bundesgrenzschutz - (Drucksache 12/1091) schäden-Ausgleichsgesetz) (Drucksache 12/1056) 3355 D 1) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Tagesordnungspunkt 5: Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juni 1991 zwischen der Bundesre- Beratung der Beschlußempfehlung und publik Deutschland und der Republik des Berichts des Wahlprüfungsausschus- Polen über gute Nachbarschaft und ses zu den gegen die Gültigkeit der Wahl freundschaftliche Zusammenarbeit zum 12. Deutschen Bundestag eingegan- (Drucksache 12/1131) genen Wahleinsprüchen (Drucksache 12/1002) m) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines CDU/CSU 3358 A Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. No- Johannes Singer SPD 3358 C vember 1990 zwischen der Bundesre- publik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwi- Tagesordnungspunkt 6: schen ihnen bestehenden Grenze Beratung der Beschlußempfehlung und (Drucksache 12/1132) des Berichts des Verteidigungsausschus- ses zu der Unterrichtung durch den n) Erste Beratung des von der Bundesre- Wehrbeauftragten gierung eingebrachten Entwurfs eines Jahresbericht 1990 (Drucksachen 12/230, Gesetzes zur Änderung des Außen- 12/1073) wirtschaftsgesetzes, des Strafgesetz- buches und anderer Gesetze (Druck- Alfred Biehle, Wehrbeauftragter des Deut sache 12/1134) schen Bundestages 3359 C o) Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU 3361 A SPD: Maßnahmen gegen Israel-Boy- kott-Verpflichtungen deutscher Fir- Dieter Heistermann SPD 3362 C men bei Verträgen mit Drittländern Jürgen Koppelin FDP 3364 B (Drucksache 12/554) Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 3365 D p) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Moratorium für Rüstungsex- Günther Friedrich Nolting FDP . . . 3366 B porte in den Nahen und Mittleren Claire Marienfeld CDU/CSU 3367 A Osten (Drucksache 12/744) q) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD 3368 B SPD: Keine weiteren israelischen Paul Breuer CDU/CSU 3368 C Siedlungen in den besetzten Gebie- ten (Drucksache 12/824) Heinz-Alfred Steiner SPD 3368 D r) Beratung des Antrags der Fraktion der Günther Friedrich Nolting FDP . . . 3369 D SPD: Bericht zu Stand und Perspekti- Dr. , Bundesminister ven der politischen Bildung in der BMVg 3370 D Bundesrepublik Deutschland (Druck- sache 12/825) Walter Kolbow SPD 3371D, 3373 A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 III

Tagesordnungspunkt 7: b) Beratung der Beschlußempfehlung a) Beratung des Antrags der Abgeordneten des Petitionsausschusses: Sammel- Wolfgang Roth, (Wies übersicht 19 zu Petitionen (Rechts- loch), Manfred Opel, weiterer Abgeord- stellung der Dienstpflichtigen — Ent- neter und der Fraktion der SPD: Aus- lassungsgeld) (Drucksache 12/685) gleich der Folgen von Abrüstung, Trup- c) Beratung der Beschlußempfehlung penreduzierungen und Standortauflö- des Petitionsausschusses: Sammel- sungen in strukturschwachen Regionen übersicht 24 zu Petitionen (Einkom- (Drucksache 12/882) mensteuer) (Drucksache 12/810) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten d) Beratung der Beschlußempfehlung Achim Großmann, Norbert Formanski, und des Berichts des Haushaltsaus- Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und schusses zur Unterrichtung durch die der Fraktion der SPD: Verbilligte Abgabe Bundesregierung: Verringerung der von Grundstücken sowie von Wohnun-- Schuldenlast der AKP-Staaten gegen- gen aus Bundesbesitz für den sozialen über der Gemeinschaft — Mitteilung Wohnungsbau und für andere gemein- der Kommission an den Rat — Rats- nützige Zwecke (Drucksache 12/884) dok. Nr. 4345/91 — (Drucksachen Gert Weisskirchen (Wiesloch) SPD . . . 3373 D 12/187 Nr. 2.2, 12/311 [Berichtigung], 12/1113) Ernst Hinsken CDU/CSU 3375 B Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 3377 C in Verbindung mit Dr. Walter Hitschler FDP 3378 D Zusatztagesordnungspunkt 3: Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär Beratung der Beschlußempfehlung und BMWi 3380 B des Berichts des Ausschusses für Wirt- Brigitte Schulte (Hameln) SPD 3381 D schaft zu der Verordnung der Bundesre- gierung: Aufhebbare Einhundertvier- Jürgen Koppelin FDP 3382B, C zehnte Verordnung zur Änderung der Elke Wülfing CDU/CSU 3383 D Einfuhrliste — Anlage zum Außenwirt- Ernst Schwanhold SPD 3385 D schaftsgesetz — (Drucksachen 12/623, 12/1157) 3397 C Ernst Hinsken CDU/CSU . . . 3386A, 3387B Günther Friedrich Nolting FDP . . . 3386 B Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): Günther Friedrich Nolting FDP 3388 A Fragestunde — Drucksache 12/1141 vom 13. Septem- Ernst Schwanhold SPD 3388 C ber 1991 — Walter Kolbow SPD 3388D, 3389 A Dieter Heistermann SPD 3389 C Vollstreckungshilfevertrag mit dem König- reich Thailand; Betreuung der deutschen In- , Parl. Staatssekretär haftierten in thailändischen Gefängnissen BMF 3390 D MdlAnfr 12,13 Otto Reschke SPD 3391 B Jürgen Koppelin FDP Hans-Wilhelm Pesch CDU/CSU 3393 D Antw StMin Helmut Schäfer AA . 3398C, 3399 A SPD 3394 A ZusFr Jürgen Koppelin FDP . . . 3398D, 3399 A Dr. Walter Hitschler FDP 3394 B ZusFr Dr. Hans de With SPD 3399 C Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär BMBau 3395 D Kontrollmöglichkeiten der internationalen Atombehörde (IAEO) im Irak Otto Reschke SPD 3396 A MdlAnfr 15 Tagesordnungspunkt 8: Klaus Harries CDU/CSU Beratungen ohne Aussprache Antw StMin Helmut Schäfer AA 3399 D a) Zweite Beratung und Schlußabstim- ZusFr Klaus Harries CDU/CSU 3400 A mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Hilfe für die Bevölkerung der sowjetischen zes zu dem Abkommen vom 18. De- Republiken bei einer drohenden Hungersnot zember 1989 zwischen der Regierung im Winter; Bedingungen für die Gewährung der Bundesrepublik Deutschland und finanzieller und wirtschaftlicher Hilfe der Regierung der Republik Ungarn MdlAnfr 16, 17 über den Luftverkehr (Drucksache SPD 12/341) Antw StMin Helmut Schäfer AA . 3400B, 3401B Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr (Drucksache ZusFr Gernot Erler SPD . . . . 3400D, 3401B 12/789) ZusFr Eike Ebert SPD 3401 D IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Intervention gegen die weitere Versteige- Information der „beteiligten Stellen" über rung enteigneten sudetendeutschen Immo- die „Gesamtdarstellung der BND-Behand- bilienbesitzes durch CSFR-Behörden, insbe- lung der Schalck-Golodkowski-Angelegen- sondere in Karlsbad heit einschließlich der Frage der Personaldo- kumente"; personelle Konsequenzen aus der MdlAnfr 18 falschen Unterrichtung des Bundeskanzler- Eike Ebert SPD amtes Antw StMin Helmut Schäfer AA 3402 A MdlAnfr 69 ZusFr Eike Ebert SPD 3402 B Horst Peter (Kassel) SPD ZusFr Gernot Erler SPD 3402 C Antw StMin Dr. Lutz G. Stavenhagen BK . 3409D Gespräche von Bundesaußenminister Gen- Tagesordnungspunkt 9: scher über die Auslieferung von Erich Beratung der Beschlußempfehlung des Honecker bei seinem jüngsten Besuch in Petitionsausschusses: Moskau Sammelübersicht 13 zu Petitionen (Ab- MdlAnfr 20, 21 fallbeseitigung) (Drucksache 12/381) . 3409D Dr. Hans de With SPD Tagesordnungspunkt 10: Antw StMin Helmut Schäfer AA . 3402D, 3403 B Beratung der Beschlußempfehlung des ZusFr Dr. Hans de With SPD . . 3402D, 3403 B Petitionsausschusses: ZusFr Gernot Erler SPD 3403 C Sammelübersicht 23 zu Petitionen (Ver- kehrstarife) (Drucksache 12/809) . . . 3410A Ausstattung von Bundestag und Bundesbe- hörden mit Öko-Lampen Tagesordnungspunkt 11: MdlAnfr 64 Erste Beratung des von den Fraktionen Jutta Müller (Völklingen) SPD der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung Antw PStSekr BMU . 3403 D der Familien und zur Verbesserung der ZusFr Jutta Müller (Völklingen) SPD . . . 3404 B Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeitsplätze (Steueränderungsge- Ausklammerung der Beanstandungen der setz 1992 — StÄndG 1992) (Drucksache Trinkwasserqualität in den neuen Bundes- 12/1108) ländern im von Bundesumweltminister Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 3410 C Dr. Töpfer vorgelegten Bericht „Sofortpro- gramm Trinkwasser 1990" ; Bereitstellung Ingrid Matthäus-Maier SPD . . 3411A, 3414 D der Mittel zur Untersuchung und Sanierung Dr. Norbert Wieczorek SPD 3417 A der Trinkwasseraufbereitungs- und versor- gungsanlagen Wilfried Seibel CDU/CSU 3419B FDP 3421 C MdlAnfr 65, 66 Hans H. Gattermann Susanne Kastner SPD Dr. CDU/CSU 3425 A Antw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU . 3404 C, Ingrid Matthäus-Maier SPD 3426 C 3405 A Dr. Theodor Waigel CDU/CSU . . . 3427 C ZusFr Susanne Kastner SPD . . . 3404D, 3405 C Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste . . . 3429 B Änderung der vom Bundesnachrichtendienst Hans H. Gattermann FDP 3431 A (BND) dem Bundeskanzleramt vorgeschla- Eike Ebert SPD 3434 B genen Antwort auf die Schriftliche Anfrage 1 Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU . . . 3435 C in Drucksache 11/6737 betr. Unterstützung des ehemaligen DDR-Staatssekretärs CDU/CSU 3437 B Dr. Schalck-Golodkowski bei dessen Flucht Dr. Peter Struck SPD 3437 C aus der DDR durch den BND Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ MdlAnfr 67, 68 Linke Liste 3439 B Peter Conradi SPD Hermann Rind FDP 3440 C Antw StMin Dr. Lutz G. Stavenhagen BK . 3406C, 3408 C Dr. Ulrich Briefs PDS/Linke Liste . . . 3440 D Michael Habermann SPD 3442 C ZusFr Peter Conradi SPD . . . . 3406D, 3408 C Peter Harald Rauen CDU/CSU 3445 B ZusFr Friedhelm Julius Beucher SPD 3407A, 3409 B ZusFr Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE 3407 C, Tagesordnungspunkt 12: 3409 C Erste Beratung des von der Bundesregie- ZusFr Horst Peter (Kassel) SPD 3407 C rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung der Finanzgerichts- ZusFr Wolfgang Roth SPD . . . 3407D, 3409 B ordnung und anderer Gesetze (FGO-Än- ZusFr Dorle Marx SPD 3408 A derungsgesetz) (Drucksache 12/1061) . 3446D Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 V

Tagesordnungspunkt 13: Anlage 4 Erste Beratung des von der Bundesregie- Zu Protokoll gegebene Rede zu Tages- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- ordnungspunkt 11 (Steueränderungsgesetz setzes zu der Vereinbarung vom 8. Okto- 1992) ber 1990 über die Internationale Kom- mission zum Schutz der Elbe (Druck- (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 3459*C sache 12/869) 3447 A Anlage 5 Tagesordnungspunkt 14: Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- Beratung des Antrags der Gruppe BÜND- nungspunkt 12 (Entwurf eines Gesetzes zur NIS 90/ DIE GRÜNEN: Transparenz über Änderung der Finanzgerichtsordnung und Reisen des Deutschen Bundestages ge- anderer Gesetze) genüber den Steuerzahlern und Steuer- zahlerinnen (Drucksache 12/612 [neu]) Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . . 3461*D Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 3447 C Dr. Franz-Hermann Kappes CDU/CSU . . 3463* A Wolfgang Lüder FDP 3448 A Dr. Hans de With SPD 3463' D Dr. Bündnis 90/GRÜNE 3464* C Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von der Gruppe PDS/ Anlage 6 Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rechtsgleichstellung von Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- nungspunkt 13 (Entwurf eines Gesetzes zu Homosexualität und Heterosexualität im der Vereinbarung vom 8. Oktober 1990 über Strafrecht (Sexualgleichstellungsgesetz) die Internationale Kommission zum Schutz (Drucksache 12/850) der Elbe) Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . . 3448 D Dr. Norbert Rieder CDU/CSU 3465* C Tagesordnungspunkt 16: Dietmar Schütz SPD 3466' C Beratung des Antrags der Gruppe der Reinhard Weis (Stendal) SPD 3467*D PDS/Linke Liste Dr. Jürgen Starnick FDP 3469*A Einsetzung eines Untersuchungsaus- schusses (Stasi-Unterlagen) (Drucksache Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 3470*A 12/881) 3450 C Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU . 3471*A Vizepräsidentin 3450 B Anlage 7 Nächste Sitzung 3450 D Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- nungspunkt 14 (Antrag betr. Transparenz Anlage 1 über Reisen des Deutschen Bundestages ge- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 3451*A genüber den Steuerzahlern und Steuerzah- lerinnen) Anlage 2 Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 3471*C Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- Gudrun Weyel SPD 3472*B nungspunkt 9 (Sammelübersicht 13 zu Peti- Wolfgang Lüder FDP 3473* A tionen — Abfallbeseitigung —) Dr. PDS/Linke Liste 3473* C Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU 3451*D Horst Peter (Kassel) SPD 3454 B Anlage 8 Birgit Hamburger FDP 3454' D Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- ordnungspunkt 15 (Sexualgleichstellungs- Jutta Braband PDS/Linke Liste 3456* A gesetz) Horst Eylmann CDU/CSU 3474*B Anlage 3 Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD 3474* D Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- nungspunkt 10 (Sammelübersicht 23 zu Peti- Jörg van Essen FDP 3475' C tionen — Verkehrstarife —) Christina Schenk Bündnis 90/GRÜNE . 3476*C Jürgen Augustinowitz CDU/CSU 3456*D Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 3477* A Horst Peter (Kassel) SPD 3457' B Anlage 9 Horst Friedrich FDP 3457' D Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 3458* C nungspunkt 16 (Einsetzung eines Untersu- Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär BMV 3459* A chungsausschusses) VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 3478* A SchrAntw PStSekr Bernd Schmidbauer BMU 3484* A SPD 3479' A Dr. Jürgen Schmieder FDP 3479* D Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 3480*C Anlage 13 3481* D Ursula Jelpke PDS/Linke Liste Einsatz von Altöl und nicht handelsüblichen Brennstoffen in Zementwerken Anlage 10 Neugestaltung der Politik gegenüber Zaire MdlAnfr 62, 63 — Drs 12/1141 — Dr. Peter Paziorek CDU/CSU MdlAnfr 14 — Drs 12/1141 — Ortwin Lowack fraktionslos SchrAntw PStSekr Bernd Schmidbauer SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA -. . . 3483* C BMU 3484* D

Anlage 11 Revisionsvorschläge der Bundesregierung Anlage 14 an die verbündeten Streitkräfte zum NATO Information der „beteiligten Stellen" über Truppenstatut und zum Zusatzabkommen die „Gesamtdarstellung der BND-Behand- MdlAnfr 19 — Drs 12/1141 — lung der Schalck-Golodkowski-Angelegen- SPD heit einschließlich der Frage der Personaldo- kumente" ; personelle Konsequenzen aus der SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . . 3483 D falschen Unterrichtung des Bundeskanzler- amtes Anlage 12 MdlAnfr 70 — Drs 12/1141 — Einführung des Katalysators für dieselbetrie- Horst Peter (Kassel) SPD bene Pkw und Lkw MdlAnfr 61 — Drs 12/1141 — SchrAntw StMin Dr. Lutz G. Stavenhagen Klaus Harries CDU/CSU BK 3484*D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3355

41. Sitzung

Bonn, den 19. September 1991

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen Meine Damen und Herren, amtlich ist folgendes und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet. mitzuteilen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte Als erstes möchte ich auf der Ehrentribüne den Prä- sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste auf- sidenten der Nationalversammlung der Republik Un- geführt: garn, Herrn Professor Dr. György Szabad, mit einer parlamentarischen Delegation ganz herzlich begrü- 1. Aktuelle Stunde: Wohnungspolitisches Konzept der Bun- ßen. desregierung und Wohnungsnot (In der 41. Sitzung bereits erledigt.) (Beifall im ganzen Hause) 2. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs Ich glaube, ich brauche heute morgen nicht zu sagen, eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zum Ausgleich wie eng die Beziehungen zwischen Ihrem und unse- von Auswirkungen besonderer Schadensereignisse in der Forstwirtschaft (Forstschäden-Ausgleichsgesetz) — Druck- rem Parlament sind, wie eng die Beziehungen ge- sache 12/1056 — knüpft sind — das hat sich seit Dienstag wieder ge- zeigt — und wie intensiv die Gespräche bereits statt- 3. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Aus- gefunden haben. schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Einhundertvierzehnte Ver- Ich freue mich ganz besonders, daß ein Anlaß Sie ordnung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage zum Au- —ßenwirtschaftsgesetzDrucksachen 12/623, 12/1157 — nach Bonn und morgen nach Berlin führt, der mit dem zu tun hat, was uns ganz entscheidend zum Durch- 4. Aktuelle Stunde: Der Krieg in Jugoslawien — eine Heraus- bruch zur deutsch-deutschen Einheit verholfen hat, forderung für Europa zu dem, was wir heute sind, nämlich e i n Deutschland, 5. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und ein geeintes Volk. FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch — Drucksa- Auf unsere gemeinsame Anregung hin wird morgen che 12/1154 — am Berliner Reichstag eine Ehren- und Gedenktafel enthüllt, die an die Öffnung der ungarischen Grenze 6. Erste Beratung des von der Frak tion der SPD eingebrachten für Deutsche aus der ehemaligen DDR vor zwei Jah- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch — Drucksache 12/1155 — ren erinnern soll. Ich verlese kurz die Inschrift der Gedenktafel. Der Text lautet: Soweit erforderlich, soll von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden. 10. September 1989, ein Zeichen der Freundschaft, Sind Sie damit einverstanden? — Dazu höre ich kei- zwischen dem ungarischen nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. und dem deutschen Volke für ein vereinigtes Deutschland, Des weiteren wurde interfraktionell vereinbart, die für ein unabhängiges Ungarn, auf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke Liste für für ein demokratisches Europa. heute vorgesehene Aktuelle Stunde auf Mittwoch nächster Woche zu verschieben. Eine gleiche Tafel wird in Kürze als unser Geschenk am Parlament in Budapest angebracht werden. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 und den In diesen Gedenkworten sollen unsere ganze Dank- Zusatzpunkt 2 auf: barkeit und Anerkennung gebündelt werden. Sie sol- len unseren Beziehungen ein festes Fundament ge- 4. Überweisungen im vereinfachten Verfahren ben. a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Ich wünsche Ihrem Besuch hier in Bonn und in Ber- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- lin einen guten Erfolg. zes zu dem Abkommen vom 7. Juni 1988 zwischen der Bundesrepublik Deutschland (Beifall im ganzen Hause) und dem Königreich der Niederlande über 3356 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth die gegenseitige Hilfeleistung bei Kata- Deutschland und der Argentinischen Repu- strophen einschließlich schweren Un- blik über den Luftverkehr glücksfällen — Drucksache 12/759 — — Drucksache 12/758 — Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr (federführend) Innenausschuß (federführend) Finanzausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Ausschuß für Wirtschaft heit g) Erste Beratung des von der Bundesregie- b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 8. April 1987 zes über die Unterlagen des Staatssicher- zwischen der Bundesrepublik Deutschland heitsdienstes der ehemaligen Deutschen und der Republik Venezuela über den Luft- Demokratischen Republik (Stasi-Unterla- verkehr gen-Gesetz — StUG) — Drucksache 12/1057 — — Drucksache 12/1093 — Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr (federführend) Innenausschuß (federführend) Finanzausschuß Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- Ausschuß für Wirtschaft ordnung Rechtsausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO h) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- c) Erste Beratung des von der Bundesregie- zes zu dem Abkommen vom 25. April 1989 rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zwischen der Regierung der Bundesrepu- zes zu dem Abkommen vom 29. Mai 1990 blik Deutschland und der Regierung der zwischen der Bundesrepublik Deutschland Vereinigten Staaten von Amerika zur Er- und der Volksrepublik Bangladesch zur gänzung des Abkommens vom 7. Juli 1955 Vermeidung der Doppelbesteuerung auf über den Luftverkehr dem Gebiet der Steuern vom Einkommen — Drucksache 12/1058 — — Drucksache 12/756 — Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr (federführend) Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft Finanzausschuß (federführend) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit i) Erste Beratung des von der Bundesregie- d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 16. Mai 1991 zes zu dem Abkommen vom 30. Oktober zwischen der Regierung der Bundesrepu- 1990 zwischen der Bundesrepublik blik Deutschland und der Regierung der Deutschland und der Republik Indonesien Union der Sozialistischen Sowjetrepubli- zur Vermeidung der Doppelbesteuerung ken über die Beendigung der Tätigkeit der auf dem Gebiet der Steuern vom Einkom- Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft men und vom Vermögen Wismut — Drucksache 12/757 — — Drucksache 12/939 — Überweisungsvorschlag : Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß (federführend) Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Finanzausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 2. November j) Erste Beratung des von der Bundesregie- 1987 zwischen der Bundesrepublik rung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Deutschland und Neuseeland über den Gesetzes zur Änderung des Eichgesetzes Luftverkehr — Drucksache 12/746 — — Drucksache 12/938 — Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr (federführend) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft k) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- f) Erste Beratung des von der Bundesregie- zes zur Übertragung der Aufgaben der rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Bahnpolizei und der Luftsicherheit auf den zes zu dem Abkommen vom 18. Septem- Bundesgrenzschutz ber 1985 zwischen der Bundesrepublik — Drucksache 12/1091 — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3357

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag : Innenausschuß (federführend) Auswärtiger Ausschuß (federführend) Rechtsausschuß Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ausschuß für Verkehr Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO r) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Bericht zu Stand und Perspektiven der poli- 1) Erste Beratung des von der Bundesregie- tischen Bildung in der Bundesrepublik rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Deutschland zes zu dem Vertrag vom 17. Juni 1991 zwi- — Drucksache 12/825 — schen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nach- Überweisungsvorschlag: barschaft und freundschaftliche Zusam- Innenausschuß (federführend) menarbeit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft —Drucksache 12/1131 — s) Beratung des Antrags des Präsidenten des Überweisungsvorschlag: Bundesrechnungshofes Auswärtiger Ausschuß (federführend) Rechnung des Bundesrechnungshofes für Innenausschuß das Haushaltsjahr 1990 — Einzelplan 20 — m) Erste Beratung des von der Bundesregie- — Drucksache 12/893 (neu) — rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Überweisungsvorschlag: zes zu dem Vertrag vom 14. November Haushaltsausschuß 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen beste- t) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen henden Grenze Einwilligung in die Veräuße- rung eines Grundstücks in Berlin gemäß —Drucksache 12/1132 — § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung Überweisungsvorschlag: — Drucksache 12/1008 — Auswärtiger Ausschuß (federführend) Innenausschuß Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß n) Erste Beratung des von der Bundesregie- ZP 2 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des zes zur Änderung des Außenwirtschaftsge- Gesetzes zum Ausgleich von Auswirkungen setzes, des Strafgesetzbuches und anderer besonderer Schadensereignisse in der Forst- Gesetze wirtschaft (Forstschäden-Ausgleichsgesetz) —Drucksache 12/1134 — — Drucksache 12/1056 — Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Innenausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Auswärtiger Ausschuß (federführend) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Finanzausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß Eine Debatte ist nicht vorgesehen. Interfraktionell o) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tages- Maßnahmen gegen Israel-Boykott-Ver- ordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. pflichtungen deutscher Firmen bei Verträ- Sind Sie auch damit einverstanden? — Dann ist es so gen mit Drittländern beschlossen. — Drucksache 12/554 — Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 5 auf: Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Beratung der Beschlußempfehlung und des Be- Auswärtiger Ausschuß richts des Wahlprüfungsausschusses zu den ge- gen die Gültigkeit der Wahl zum 12. Deut- p) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD schen Bundestag eingegangenen Wahlein- Moratorium für Rüstungsexporte in den sprüchen Nahen und Mittleren Osten — Drucksache 12/1002 — — Drucksache 12/744 — Berichterstatter: Überweisungsvorschlag: Abgeordnete Horst Eylmann Ausschuß für Wirtschaft Johannes Singer q) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Wieland Sorge Keine weiteren israelischen Siedlungen in Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Zwei Bericht- den besetzten Gebieten erstatter wünschen aber das Wort zur Berichterstat- — Drucksache 12/824 — tuna. 3358 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Das Wort hat als erster der Abgeordnete Horst führt worden ist. Mein Mitberichterstatter, Herr Kol- Eylmann. lege Singer, wird hierauf noch näher eingehen. Der zweite Schwerpunkt der Wahlanfechtungen bezog sich auf die Nichtzulassung von Parteien zu Horst Eylmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe dieser Wahl durch den Bundeswahlausschuß. Auch Kolleginnen und Kollegen! Vor Ihnen liegt die Be- hierzu einige Zahlen: Dem Bundeswahlausschuß la- schlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses auf gen insgesamt 70 Anmeldungen von Parteien und Drucksache 12/1002 zu den gegen die Gültigkeit der politischen Vereinigungen zur Teilnahme an der Wahl zum 12. Bundestag eingelegten Wahleinsprü- Wahl vor. Insgesamt 30 hat der Bundeswahlausschuß chen. als Parteien abgelehnt. Zum überwiegenden Teil er- Am 2. Dezember 1990 haben die Bürgerinnen und folgte die Ablehnung mit der Begründung, diese Ver- Bürger des wiedervereinigten Deutschlands durch einigungen böten keine ausreichende Gewähr für die ihre Stimmabgabe bei der ersten gesamtdeutschen Ernsthaftigkeit der Zielsetzung, an der politischen Wahl nach 1949 das erste gesamtdeutsche- Parlament Willensbildung im Parlament mitwirken zu wollen. gewählt. Gemäß Art. 41 des Grundgesetzes liegt die Auch hierzu wird mein Kollege Singer gleich noch Prüfung der Gültigkeit dieser wie auch der anderen weitere Ausführungen machen. Bundestagswahlen in der Verantwortung dieses Hau- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ses. Die Wahlprüfung ist dazu bestimmt, die richtige, d. h. die gesetzmäßige Zusammensetzung des Bun- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der destages zu gewährleisten. Entsprechend dem An- SPD) fechtungsprinzip ist jedoch nicht die gesamte Wahl durchzuprüfen; vielmehr richtet sich der Prüfungsum- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Der zweite Bericht- fang nach dem Vorbringen des jeweiligen Einspruch erstatter ist der Abgeordnete Johannes Singer. führers. Ich möchte ein paar Zahlen nennen, um die Relatio- (SPD): Frau Präsidentin! Liebe nen zu verdeutlichen. Hinsichtlich der Wahlen zum Johannes Singer Kolleginnen und Kollegen! Die von meinem Vorred- 12. Deutschen Bundestag sind insgesamt 83 Wahlein- ner bereits angesprochenen Schwerpunkte bei den sprüche eingegangen. Hiervon sind zwei zurückge- Wahlanfechtungen, die zu kurzen Fristen bei B rief- nommen worden; einer konnte nicht als Wahlein- wählern aus dem Ausland einerseits und die Nichtzu- spruch gewertet werden. Es verbleiben also 80 Wahl- lassung von Parteien zur Wahl und — damit einherge- anfechtungen, über die heute eine Sachentscheidung hend — die Nichtzulassung von Einzelbewerbern und zu treffen ist. Kandidaten der politischen Vereinigungen anderer- Diese Bilanz von nur 83 Wahleinsprüchen bei ins- seits, geben Anlaß, das gegenwärtige Wahlverfahren gesamt 60 Millionen Wahlberechtigten, von denen und das Wahlprüfungsverfahren einer kritischen Be- 47 Millionen — gleich 78 % — an der Wahl teilgenom- standsaufnahme zu unterziehen. men haben, zeigt die bestehenden Relationen deut- Es ist zunächst zu ergänzen, daß sich von den 80 lich auf. Sie beweist die überwiegende Akzeptanz der heute zur Entscheidung anstehenden Wahleinsprü- Durchführung der Wahl und der Rechtmäßigkeit ihrer chen 20 mit der Nichtzulassung von Parteien, Wähler- Ergebnisse in der Bevölkerung. gruppen oder Einzelbewerbern befassen. Weitere Um so erfreulicher ist es, daß sich diese Relationen 14 Einsprüche beziehen sich darauf, daß Briefwahlun- auch bei der ersten gesamtdeutschen Wahl im Ver- terlagen überhaupt nicht oder jedenfalls zu spät zuge- gleich zu den früheren Bundestagswahlen nicht nen- gangen sind, wovon wiederum 11 Einsprüche von nenswert verschoben haben. Dies zeigt ein Blick auf Auslandsdeutschen eingelegt wurden. die Statistik früherer Zahlen. In der 1. bis 8. Legisla- Hervorzuheben ist auch, daß sich allein drei Ein- turperiode waren insgesamt 259 Wahleinsprüche und sprüche mit Unregelmäßigkeiten und mit Mängeln damit im Durchschnitt 32,4 Einsprüche pro Wahlpe- bei der Kandidatenaufstellung der CDU in Hamburg riode zu verzeichnen. Im 9. Bundestag gab es befassen. 58 Wahleinsprüche; in der 10. und 11. Wahlperiode sind jeweils 47 Einsprüche eingelegt worden. Insge- Die aufgeworfenen Probleme geben Anlaß zu fol- samt hat somit nur ein ganz geringer Teil der Wahl- genden Überlegungen: berechtigten Einspruch eingelegt. Die verkürzten Wahlvorbereitungsfristen waren Ein Schwerpunkt der Einsprüche lag bei dieser eine Folge davon, daß der Termin für die erste ge- Wahl einerseits bei den wiederholt als zu kurz bemes- samtdeutsche Wahl auf ein möglichst frühzeitiges Da- sen monierten Fristen in der Wahlvorbereitungs- turn festgesetzt wurde. Sie sind vor dem Hintergrund phase. Für deutsche Briefwähler, die im Ausland des Einigungsprozesses zu sehen. Es ist zu erwarten, — zumal im außereuropäischen Ausland — leben, daß die Fristen bei künftigen Wahlen regelmäßig wie- war es schwierig, teilweise sogar unmöglich, die B rief- der ausreichen werden, um Briefwählern die Teil- wahlunterlagen in der zur Verfügung stehenden Zeit nahme an der Wahl zu ermöglichen, ganz gleich, wo zu erhalten und zum Wahltermin fristgemäß zurück- sie wohnen. Insofern sehe ich keinen Handlungsbe- zusenden. Dies ist größtenteils auf für die für Wahl darf. zum 12. Deutschen Bundestag verkürzten Fristen zu- Zu erwägen ist jedoch, die Fristen für die Einlegung rückzuführen. Es gab aber auch schon in der vergan- eines Wahleinspruchs oder einer Wahlprüfungsbe- genen Wahlperiode Anlaß zu Beschwerden, wobei zu schwerde von einem Monat auf zwei Monate auszu- berücksichtigen ist, daß die Wahlberechtigung der dehnen und als Fristbeginn den Tag der Bundestags- Auslandsdeutschen erst zur 11. Wahlperiode einge- wahl zu nehmen. Diese Fristen wären einfacher zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3481* doch auch bei der Mehrheit dieses Parlamentes einige dies erkennen kann; und ich habe die Angelegenheit rote Warnleuchten aufleuchten lassen können! sehr aufmerksam verfolgt — stets ausgewichen.

Ich nenne Ihnen folgende konkrete Beispiele für 2. Wo sind diese Unterlagen jetzt? Zurückgegeben den weiteren Aufklärungsbedarf in diesem Komplex an den Sonderbeauftragten, wie das z. B. der wohl und für das weitere Antwortverhalten: bald verabschiedete Gesetzentwurf von Regierung und Fraktionen zu den Stasi-Akten vorsähe? Auch 1. Auf eine umfangreiche Kleine Anfrage meiner dazu haben wir auf Nachfragen keine Auskunft be- Gruppe zu diesem Komplex antwortet mir die Bundes- kommen, außer der von Herrn Neusel (ich gebe das regierung Anfang letzten Monats (BT-Drs. 12/1043), mal etwas salopp wieder), diese Rechtspflicht sei doch indem sie — wie zum Beleg ihrer Auskunftsfreude — bloße Zukunftsmusik. in einer Vorbemerkung auf zwei bereits erfolgte Be- richte im Ausschuß sowie auf sage und schreibe elf 3. Schließlich — last, not least — erscheint dringend Antworten auf Kleine Anfragen verweist. Da kann aufklärungsbedürftig, welche Rolle der heutige Präsi- doch wirklich keiner mehr meckern, wird jede unbe- dent des Bundesamts für Verfassungsschutz, Herr fangene Leserin denken. Denn diese wird auch kaum Werthebach, bei der Lieferung von Akten an das Amt den Aufwand treiben, einmal nachzulesen. Macht womöglich gespielt hat. Denn nach meiner Kenntnis man sich diese Mühe jedoch, stellt sich heraus: Diese war Herr Werthebach von seiner BMI-Position in der Antworten beziehen sich meist auf völlig andere Fachaufsicht über das Bundesamt zu Herrn Diestel als Sachverhalte und sind ihrerseits derart dürftig und dessen Berater gewechselt. Dort war er genau in der zum Teil lückenhaft, daß hierdurch die Notwendig- fraglichen Zeit der Aktenübermittlung offenbar auch keit weiterer Untersuchungen nur noch zusätzlich be- noch tätig. Wie kam es also, daß auf das dringende legt wird. Ersuchen des BMI Herr Diestel (oder wer sonst?) die Auslieferung der Akten veranlaßte, und zwar entge- Das 2. Beispiel belegt, daß die Bundesregierung auf gen der damaligen Rechtslage, und daß er darüber Nachfragen den Abgeordneten in diesem Komplex sogar noch die Volkskammer belügen mußte? Heute glattweg die Unwahrheit gesagt hat und dabei offen- jedenfalls, soviel scheint klar, kann Herr Werthebach bar darauf baut, niemand könne all das nachlesen. in seinem neuen Amt mit diesen Akten arbeiten.

Ich hatte die Regierung gefragt, warum der Gene- Wir unterstützen den Antrag der PDS/Linke Liste ralbundesanwalt von Stahl in der Sitzung des Rechts- und bitten Sie, dies ebenfalls zu tun. ausschusses am 11. Juni dieses Jahres die Aktenliefe- rung auch an den Verfassungsschutz nicht erwähnt habe, sondern auf Fragen hin entgegen der Wahrheit erklärte (Ich zitiere das Sitzungsprotokoll S. 99 wört- Ursula Jelpke (PDS/Linke Liste): Es ist unzumutbar lich): „Die Akten haben nur dem BKA und uns vorge- für Abgeordnete und Öffentlichkeit, über ein Gesetz legen, niemandem sonst." Die Regierung antwortete zu entscheiden, in dem der zukünftige Umgang mit da doch glattweg: „Die ihm zugeschriebene Erklä- den Stasiunterlagen geregelt werden soll, solange der rung hat der Generalbundesanwalt nicht abgege- bisherige Umgang mit den Unterlagen im Dunkel der ben" ; siehe Protokoll S. 99. Geheimdienste, der staatlich gedeckten Geschäfte- macherei und der Irreführung der Öffentlichkeit ge- Doch die Regierung — und damit bin ich bei dem halten wird. Verschwunden sind ja nicht nur Schalcks 3. Beispiel — legte noch drauf und antwortete weiter: Aktenkoffer. Verschwunden bzw. der Öffentlichkeit „Der Bundesanwaltschaft sind durch ... Dr. Diestel und dem Sonderbeauftragten für die Stasiunterlagen keine Akten übergeben worden." Daß Herr Diestel entzogen sind Stasiakten in unbekanntem Ausmaß. dies nicht höchstpersönlich tat, ist allen klar. Doch Alle Verantwortlichen haben von sich aus bisher kei- inhaltlich scheint Herr von Stahl auch hier zu wider- nen Schritt zur Aufklärung des Aktenverbleibs getan. sprechen, indem er in jener Ausschußsitzung erklärte: Mit Anfragen, öffentlichem Druck und zum Teil ge- „Wir haben ... vom ehemaligen Zentralen Kriminal- zielter Indiskretion konnten nur immer mühsam amt" (ich ergänze: also in späterer Verantwortung von Bruchstücke des großen Deals zusammengesetzt wer- Minister Diestel!) „Unterlagen erhalten". Und ge- den. Und während Parteien und Betroffene in klein- nauso haben die Ausschußmitglieder, z. B. Herr lichste angeblich rechtsstaatlichen Grundsätzen ge- Hirsch in seiner Zusammenfassung, das ausweislich nügende Gesetzesformulierungen gefesselt wurden, des Protokolls auch verstanden und verstehen müs- griffen Polizei und Geheimdienste mit großzügig aus- sen. Ich frage: Sagte Herr von Stahl oder nun die Bun- gelegten Generalvollmachten zu. desregierung uns die Unwahrheit? Dies muß durch einen Untersuchungsausschuß aufgeklärt werden. Die Tatsachen sind: Einerseits hat bis heute kein Opfer der Stasi-Repression legal Einsicht in seine Ak- Weiterhin aufklärungsbedürftig sind folgende drei ten nehmen können. Andererseits haben aber das Fragen: BKA und die bundesdeutschen Geheimdienste die Gehaltslisten des MfS, Unterlagen aus Abhörmaßnah- 1. Wieviel Aktenstücke mit Angaben über wieviel men des MfS über führende Industriemanager und Personen sind nun eigentlich an die maßgeblichen Politiker, aber auch Angehörige der bundesdeutschen Behörden geliefert worden? Abgeordnete auch aus Linken, Unterlagen der Spionageabwehr, der elektro- anderen Fraktionen haben dies bei mehreren Gele- nischen Aufklärung, der Terrorabwehr, der Sicherung genheiten mündlich und schriftlich erfragt. Diese Re- der Volkswirtschaft und der Hauptabteilung Aufklä- gierung oder deren Sprecher sind bisher — soweit ich rung. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3359

Johannes Singer handhaben und könnten einen Ausgleich dafür schaf- Berichterstatter: fen, daß es im Wahlprüfungsverfahren keine Wieder- Abgeordnete Paul Breuer einsetzung in den vorigen Stand gibt. Dieter Heistermann Ein in einer demokratischen Gesellschaft besonders Nach Vereinbarung des Ältestenrates ist für die kritisch zu betrachtender Punkt ist die Nichtzulassung Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dazu sehe ich von Parteien, Wählergruppen oder Einzelbewer- keinen Widerspruch. bern. Die Prüfung der Parteieigenschaft durch den Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundeswahlausschuß — nicht zu verwechseln mit Bundestages, Herr Alfred Biehle. dem Wahlprüfungsausschuß, für den ich hier heute spreche — darf nicht unter Opportunitätsgesichts- punkten erfolgen. Sie hat nach § 2 des Parteiengeset- zes nur den Zweck, die ordnungsgemäße Durchfüh- Alfred Biehle, Wehrbeauftragter des Deutschen rung der Wahl zu gewährleisten. Deswegen muß Bundestages: Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine diese Frage vom Bundeswahlausschuß sehr restriktiv, sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! sehr kritisch behandelt werden. Liebe ehemalige Kollegen! Der Jahresbericht 1990, In diesem Zusammenhang ist auch zu überdenken, über den hier heute debattiert wird, wurde zum Ende ob das Verfahren vor dem Bundeswahlausschuß nicht eines Jahres vorgelegt, das sicherlich wie kaum ein transparenter gestaltet werden könnte und ob man anderes Jahr seit Bestehen der Bundesrepublik vor der Bundestagswahl, nach ablehnenden Entschei- Deutschland von außergewöhnlichen Rahmenbedin- dungen des Bundeswahlausschusses, nicht die Mög- gungen, Entwicklungen und Ereignissen gekenn- lichkeit einer Beschwerde zu einem unabhängigen, zeichnet war. mit Berufsrichtern besetzten Beschwerdegericht vor- Insoweit war es in der Tat ein außergewöhnliches sehen könnte. Berichtsjahr. Das war für mich auch der Anlaß, dem Schließlich gebe ich zu bedenken und zu erwägen, Bericht — anders als seinen Vorläufern — einen Abriß ob eine Neuregelung des Wahlprüfungsgesetzes dieser politischen Rahmenbedingungen voranzustel- nicht das schriftliche Verfahren als Regelfall vorsehen len. Es liegt auf der Hand, daß die Dramatik des Jahres sollte. Zur Zeit ist das mündliche Verfahren als Regel- 1990 zu Gewichtungen im Be richt geführt hat, die fall vorgesehen. In der Praxis wird es jedoch kaum mich darauf verzichten ließen, einzelne Vorkomm- gehandhabt. Denn Sinn macht das mündliche Verfah- nisse in den Bericht aufzunehmen, die in den Jahren ren nur dann, wenn über streitige Tatsachen Beweis zuvor sicherlich erwähnenswert gewesen wären. erhoben werden müßte. Das ist in dieser Wahlperiode Vieles — das sei auch angemerkt — ist für die Bun- genausowenig erforderlich geworden wie in den mei- deswehr aber auch 1991 nicht leichter geworden. sten Wahlperioden vorher. Man sollte also der Praxis Rechnung tragen und es den Einsprechern akzeptab- Lassen Sie mich in Kürze einige Anmerkungen zu ler machen, daß grundsätzlich das schriftliche Verfah- dem Bericht machen, nachdem auch die Stellung- ren durchgeführt wird und nur unter den besonderen nahme des Bundesministers der Verteidigung hierzu Umständen der Notwendigkeit einer Beweiserhe- vorliegt. Ausführlich bin ich auf den Aufbau der Bun- bung ein mündliches Verfahren die Akzeptanz des deswehr im beigetretenen Teil Deutschlands einge- Einspruchsführers erfährt. gangen. Hier konnte allerdings zunächst nur eine Art Da bei den vorliegenden, heute zur Entscheidung Zustandsbeschreibung erfolgen, weil meine formelle anstehenden Wahleinsprüchen in keinem Fall Wahl- Zuständigkeit für die Bundeswehr in den neuen Bun- fehler festgestellt werden konnten, die auf die Man- desländern erst ab dem 3. Oktober des vergangenen datsverteilung im Deutschen Bundestag Einfluß ge- Jahres gegeben war, mithin also nur drei Monate be- habt haben oder hätten haben können, bitte ich Sie, stand. entsprechend der Beschlußempfehlung des Wahlprü- Ich denke, daß man trotz aller nach wie vor beste- fungsausschusses auf Drucksache 12/1002, die Wahl- hender Probleme die Feststellung treffen kann, daß einsprüche zurückzuweisen. sich die Übernahme von Soldaten der ehemaligen Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. NVA im großen und ganzen reibungsloser gestaltet hat, als wir es vielleicht alle angenommen haben. (Beifall im ganzen Hause) Die Bundeswehr ist oftmals als Beispiel für die Zu- sammenführung im Rahmen der Wiedervereinigung Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Wir kommen zur herausgestellt worden. Ich kann dies nur unterstrei- Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfeh- chen. lung des Wahlprüfungsausschusses auf Drucksache 12/1002? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Da- Ich glaube, daß insbesondere die Einberufung von mit ist die Beschlußempfehlung bei einer Enthaltung Wehrpflichtigen aus dem Osten zur Absolvierung der angenommen. dreimonatigen Grundausbildung im Westen sehr dazu beiträgt, gegenseitiges Verständnis zu fördern und so die Menschen zusammenzuführen. Innere Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Führung wird so — wie ich meine — sehr schnell in Beratung der Beschlußempfehlung und des Be- der Praxis erlebt. Innere Führung hat somit Konjunk- richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- tur. schuß) zu der Unterrichtung durch den Wehr- Eine Einberufung von West nach Ost — auch das sei beauftragten Jahresbericht 1990 angemerkt; es ist auch im Parlament wiederholt ge- — Drucksachen 12/230, 12/1073 — sagt worden — sollte übrigens nicht länger tabu sein; 3360 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Wehrbeauftragter Alfred Biehle I denn wir sind in der Zwischenzeit eine Bundeswehr gende Zahl der Eingaben von Reservisten, verbunden geworden. mit der Sinnfrage zur Bundeswehr.

(Beifall des Abg. Karl Stockhausen [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie CSUJ) bei Abgeordneten der SPD) Lassen Sie mich noch darauf aufmerksam machen, Im Bericht 1990 bin ich auch ausführlich auf den daß sich das Ganze auch verwaltungsmäßig entwik- Beschluß eingegangen, die Streitkräfte bis zum Ende kelt hat, wir uns aber bemühen, die Probleme vor Ort des Jahres 1994 auf maximal 370 000 Soldaten zu mit den Soldaten in vielen Gesprächen zu lösen. Dabei reduzieren. Ich möchte diese Thematik zum Anlaß stehen bei den Zeit- und Berufssoldaten Personalfra- nehmen, von dieser Stelle aus an Sie einen Appell zu gen und soziale Probleme im Vordergrund. Das sollte richten. Viele Soldaten, darunter zunehmend auch uns alle aufhorchen lassen. Was wir hier tun können, Reservisten, bemängeln, daß im öffentlichen Bereich, muß sicherlich noch eingehend beraten werden. Ich in der Politik so selten auf die Belange der Bundes- bitte Sie insgesamt, die vielfältigen Sorgen der Solda- wehr und unserer Soldaten, unserer Staatsbürger- in ten nicht aus den Augen zu verlieren und daran zu Uniform, eingegangen wird. Sie wünschen sich — das denken, daß auch das neue ist ein häufiger Wunsch — , daß wieder von unserer Stationierungskonzept für die betroffenen Soldaten im Ostteil und im Westteil Bundeswehr und nicht nur von der Bundeswehr gere- Deutschlands große det wird. familiäre, finanzielle und andere Probleme aufwirft. Für die gesamte Bundeswehr (Bernd Wilz [CDU/CSU]: Sehr gut!) nenne ich nur die Stichworte Wohnungsknappheit, die Frage der Wehrgerechtigkeit, die Wehrübungsge- Sorge bereitet das vielfach auch schon in höchsten rechtigkeit — denn auch die Zahl der Eingaben der militärischen Kreisen beklagte Fehlen von Antworten Reservisten nimmt laufend zu — , die Führerdichte, auf die Sinnfrage und die künftigen Aufgaben der die Wachbelastung und das Personalstärkegesetz, das Armee. Das Stationierungskonzept und die Heeres- vor der Tür steht. struktur 5 oder auch die Abrüstungsdebatte unter Ich danke dem Verteidigungsminister stellvertre- Hinweis auf den Sicherungsauftrag allein ersetzen tend für alle Soldaten und Beamte für die gute Unter- den Soldaten diese eingeforderten Antworten über stützung bei der Abwicklung der dem Parlament die Zukunft der Bundeswehr nicht mehr voll. Hier übertragenen Aufgaben. Es ist eine gute Zusammen- fehlt den Soldaten — ich möchte es einmal so formu- arbeit. Den besonderen Dank möchte ich aber auch lieren — die „sicherheitspolitische Marschrichtungs- dem Verteidigungsausschuß mit seinem Vorsitzenden zahl" über die Zukunft der Armee, die den Soldaten Dr. , den Sprechern der dort vertrete- und auch der Gesellschaft den Sinn und die vielfälti- nen Fraktionen und den Berichterstattern, dem Abge- gen Aufgaben der Bundeswehr in der heutigen Zeit ordneten Paul Breuer und dem Abgeordneten Dieter und für die Zukunft wieder klar und deutlich vermit- Heistermann, für die hervorragende Zusammenarbeit telt. bei der Erstellung des Jahresberichts und auch für die Zusammenarbeit im Ausschuß selbst aussprechen. Wir sprechen immer davon, daß wir den motivierten Herzlichen Dank auch persönlich! Soldaten brauchen. Motivation ist aber nicht nur eine Frage der Gestaltung des täglichen Dienstes, also den Dies gilt in gleicher Weise auch den Abgeordneten Vorgesetzten vor Ort überlassen, sondern — wie ich des Haushaltsausschusses. meine — auch und vielleicht gerade primär eine Auf- gabe, die von der Politik maßgeblich geleistet werden Mit dem Dank an Sie, an das Parlament als meinen muß. Dabei verkenne ich nicht die außerordentlich Auftraggeber, für Ihre Unterstützung bei meinen Auf- schwierige Situation und die vielen komplexen Fra- gaben und bei der Lösung von Problemen möchte ich gen, die damit beantwortet werden müssen. Die heute zum Schluß kommen. Mit der Gleichstellung der 470 000 in Ost und West dienenden Soldaten erwarten Wehrpflichtigen zwischen Ost und West — das ist ein so, daß auch — lassen Sie mich das anführen, weil es ganz wichtiger Punkt in der Vergangenheit gewe- immer wieder beklagt wird — die aufgebrochenen sen —, mit dem Entlassungsgeld und dem Weih- Fragen betreffend den Einsatz der Bundeswehr „out nachtsgeld, mit den neuen Planstellen im Unteroffi- of area" alsbald beantwortet werden. Die Soldaten ziersbereich und im Hauptleutebereich, aber auch mit sagen immer wieder, sie hofften, daß es auch einen den ersten Maßnahmen — das sei anerkennend ge- weitestgehenden Konsens im parlamentarischen Be- sagt — zur Verbesserung der Infrastruktur in den ost- reich gibt, damit Irritationen, wie sie z. B. beim Einsatz deutschen Garnisonen sind viele Dinge vorangetrie- in der Türkei oder im Mittelmeer sichtbar wurden, ben worden. Es gibt kaum noch eine Garnison, bei der vermieden werden. nicht schon eine Baustelle vorhanden ist. Auch das wird immer wieder aufmerksam verfolgt und dankbar (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) anerkannt. Damit möchte ich schließen und Ihnen gleichzeitig Lassen Sie mich noch darauf aufmerksam machen, insgesamt für die Zusammenarbeit, aber auch für die daß sich das Eingabeaufkommen im Jahre 1991 wie- Aufmerksamkeit heute in dieser morgendlichen derum steigend entwickelt. Wir werden voraussicht- Stunde sehr herzlich danken. lich die höchste Eingabenzahl mit annähernd 11 000 Petitionen bekommen. Per heute liegen bereits rund (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD 7 500 Eingaben vor; davon 30 To aus dem Bundes- sowie bei Abgeordneten des Bündnisses wehrbereich Ost. Sorgenvoll sehe ich auch die stei 90/GRÜNE) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3361

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Biehle, ich darf Streitkräfte wissen, welche Aufgaben auf sie zukom- Ihnen und Ihren Mitarbeitern im Namen des Hauses men könnten. ganz herzlich für die Vorlage des Berichtes danken. Unsere Soldaten hat zum Teil in der Tat verunsi- Ich eröffne jetzt die Aussprache. Als erster hat das chert, an Einsätzen der Bundeswehr teilzunehmen, Wort der Abgeordnete Paul Breuer. die im parlamentarischen Bereich noch heftigst disku- tiert wurden. Dieser Be richt des Wehrbeauftragten zeigt also nicht nur Defizite oder mögliche Fehlent- Paul Breuer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine wicklungen in Richtung Ministe rium oder militärische Damen und Herren! Wir beraten heute über den er- Führung, Innere Führung, sondern verlangt von uns sten Bericht, den Alfred Biehle als Wehrbeauftragter Parlamentariern, von der Politik politische Klärung. dem Parlament, dem Deutschen Bundestag, erstattet hat. Dieser erste Bericht ist — und er hat es soeben Er fordert uns auf, die Antwort darauf zu geben, noch einmal hervorgehoben — angesichts seiner zeit- welche künftigen Einsätze im Rahmen von Systemen lichen Beziehungen zu den geschichtlichen Umwäl- kollektiver Sicherheit auf welchen verfassungsrecht- zungen, die völlig veränderte Rahmenbedingungen lichen Grundlagen möglich sein sollen. Die Soldaten, geschaffen haben, zugleich eine sehr außergewöhnli- meine Damen und Herren, erwarten darauf eine Ant- che Beschreibung der Situation in unserer Bundes- wort, die von einem breiten parlamentarischen Kon- wehr. Die Integration des Personals in den neuen Bun- sens getragen wird. Da wird sich niemand wegstehlen desländern, der Abbau der Personalstärke der Bun- können. deswehr, aber auch die Golfkrise markierten eine Ent- Es zeichnen sich dazu unterschiedliche Positionen wicklung, die ihren besonderen Niederschlag in der ab. Meine Überzeugung ist es, daß sich Deutschland Arbeit des Wehrbeauftragten finden mußte. Für die — durch die Wiedervereinigung voll souverän — sei- engagierte Arbeit in diesem besonderen Umbruch ist ner gewachsenen, weltpolitischen Verantwortung dem Wehrbeauftragten und den Mitarbeitern seines stellen muß. Das Gewicht als einwohner- und wirt- Hauses sehr herzlich zu danken. schaftsstärkste europäische Nation ist dabei zu beach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten. Die große Quote der Eingaben aus den neuen Bun- Meine Fraktion hält es für ein Gebot dieser Verant- desländern, meine Damen und Herren, dokumentiert wortung, daß sich die Bundeswehr an Aktionen zur das hohe Ansehen des Wehrbeauftragten und das Friedenssicherung oder Wiederherstellung des Frie- Vertrauen zu seinem Amt. Die Institution verdeutlicht dens beteiligen kann. Diese Option gilt im Rahmen zugleich Bürgern und Soldaten des Beitrittsgebietes, eines Einsatzes der UN oder auch im Auftrag des daß mit der hervorgehobenen Stellung des Wehrbe- freien Europa. auftragten das innere Gefüge unserer Bundeswehr sehr aufmerksam und mit einer ganz anderen als dort Ebenso deutlich sage ich, daß rein nationale Ein- gewohnten Intention und Qualität beobachtet wird. sätze ohne UN-Mandat oder außerhalb einer europäi- Eine demokratisch legitimierte und kontrollierte Ar- schen Struktur oder der NATO nicht zur Debatte ste- mee wie die Bundeswehr ist so grundlegend anders hen. Eine Renationalisierung der Sicherheitspolitik als eine Parteiarmee wie die NVA, die ein Repres- wäre ein geschichtlicher Rückfall. sionsinstrument des Unrechtsstaates DDR war. Alle sind aufgefordert, eine Klarstellung der Verf as- Ein vom Inhalt her sehr wesentlicher Teil des Be- sung politisch zu erreichen. Sie darf Deutschland richtes von Alfred Biehle befaßt sich mit der Sinnge- keine rechtlichen Einschränkungen aufgeben, denen bung für die Bundeswehr und den damit für die Sol- seine Partner nicht unterliegen. Dies gilt vor allem im daten verbundenen Auswirkungen. Es sind zwei Blick auf die Europäische Politische Union. Die Folgen Komplexe, die zu dieser Fragestellung führen. einer Isolation der Bundesrepublik Deutschland dür- Erstens. Der Warschauer Pakt ist inzwischen aufge- fen nicht unterschätzt werden. löst. Die Armee der vormaligen Union der Sozialisti- schen Sowjetrepubliken zieht sich zurück. Deutsch- Das Problem der Verfassungsinterpretation dürfen land ist vereint. Der Grundwehrdienst konnte als wir meines Erachtens nicht vor uns herschieben. Wir Folge dessen zeitlich verkürzt werden, und der um- müssen vermeiden, möglicherweise am Beginn eines fangreichste Personalabbau innerhalb der Bundes- Konfliktes in einer emotional aufgeladenen Atmo- wehr hat begonnen. Das traditionelle Bedrohungs- sphäre entscheiden zu müssen. Diese Entscheidung bild, das Gefüge Europas hat sich verändert. Welche muß vielmehr mit der gebotenen Sorgfalt und in Ruhe Rückschlüsse sind daraus für eine fortzuschreibende getroffen werden. Sicherheitspolitik zu ziehen? Der Wehrpflichtige und Beim Nachdenken über die Sinngebung der Bun- der Längerdienende, die Soldaten, wollen ihren deswehr wird die ganze Tragweite der Umwälzungen Dienst sinnvoll begründet wissen. bewußt. Das atlantische Bündnis ist nicht das Schreck- Zweitens. Es stellt sich mit der Golfkrise, in deren gespenst, das eine Gefahr für den Frieden darstellt, Folge es zu einem multinationalen Einsatz von Streit- wie Kritiker nicht müde wurden zu behaupten, womit kräften kam, um Frieden, Freiheit und Recht zu si- sie auch Wehrpflichtige und Soldaten zu verunsichern chern, die Notwendigkeit, die Einsatzmöglichkeiten versuchten. Die NATO wird heute ganz klar als der der Bundeswehr angesichts der veränderten weltpoli- stabilisierende Schutzfaktor nicht nur in Europa ange- tischen Lage einer Überprüfung zu unterziehen. Der sehen. Polen, Tschechen und Ungarn, Staaten, die Wehrbeauftragte hat zu Recht formuliert, Wehrpflich- sich Zentraleuropa zugehörig fühlen, suchen hier Halt tige und Zeitsoldaten müßten vor ihrem Eintritt in die und Sicherheit. Erklärtermaßen steht die NATO den 3362 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Paul Breuer Staaten der ehemaligen Sowjetunion nicht konfronta- Wende als segensreich umworbener Wirtschaftsfak- tiv, sondern kooperativ gegenüber. tor. Es waren Regionen dabei, die uns im Umgang mit Die Prinzipien der neuen Sicherheitspolitik sind der Bundeswehr und insbesondere der Akzeptanz klar erkennbar. Sie beruhen auf der politischen und junger Wehrpflichtiger Sorgen bereitet haben. Die militärischen Fähigkeit zum Krisenmanagement und Frage der Sinngebung der Bundeswehr und die Frage auf flexibel, multinational und integrativ strukturier- der Diskussionsbeiträge der Opposition stellen sich ten Streitkräften. Wir sind gefordert, den Weg der vor diesem Hintergrund in einem ganz anderen Zu- Bundeswehr in diese Zukunft politisch zu gestalten. sammenhang. Vor allem aus der Opposition wird die Forderung Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. nach einer stärkeren Senkung der Verteidigungsaus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gaben laut. (Günter Rixe [SPD]: Prima, daß Sie das sa gen! — Vera Wollenberger [Bündnis- 90/ GRÜNE]: Genau! Sehr richtig!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der Abgeordnete Dieter Heistermann das Wort. Das muß man genau werten. Die Bundeswehr ent- läßt derzeit nicht nur Soldaten, mottet nicht nur Pan- zer ein oder verschrottet sie, gibt nicht nur Kasernen und Gelände zurück; sie muß zugleich die frühere NVA, deren Gerät, Waffen und Munition in einem Dieter Heistermann (SPD) : Frau Präsidentin! Meine unglaublichen Ausmaß sowie deren Liegenschaften Damen und Herren! Die veränderten politischen Rah- abbauen, Umweltrisiken beseitigen, den Kontakt zur menbedingungen sind es, die den Jahresbericht 1990 Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte halten, Ab- des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages zug und Aufenthalt begleiten und vieles andere prägen. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutsch- mehr. land hat es nie so außergewöhnliche Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen gegeben. Es (Günter Rixe [SPD]: Eine interessante Fest sind Entwicklungen eingetreten, die nicht für möglich stellung!) gehalten wurden. Auch dies ist nicht zum Nulltarif zu haben. In der Tat, es sind gerade die Soldaten der Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wehr, die sich zwischen Freude und persönlicher Be- troffenheit hin und her gerissen fühlen. Wie wir alle Das muß deutlich gesagt werden. begrüßen sie die Wiedervereinigung Deutschlands, ja Die Modernisierung der heruntergekommenen, sogar die Reduzierung der Bundeswehr auf 370 000 zum Teil menschenunwürdigen Unterkünfte der frü- Soldaten und die damit eingetretenen Veränderun- heren NVA, die die Bundeswehr für ihre Verwendung gen. braucht, verschlingt enorme Summen. Die Ostkaser- Andererseits wissen sie, daß ihre persönlichen und nen müssen — auch das ergibt sich aus den Anmer- beruflichen Perspektiven davon nicht unberührt blei- kungen des Wehrbeauftragten — deutlich verbessert ben werden. Die eingetretenen Entwicklungen haben und auf westlichen Standard gebracht werden, und besonders die Frage nach dem Sinn der Bundeswehr zwar im Interesse der Wehrpflichtigen und der Zeit- und der Akzeptanz von Streitkräften in der Gesell- und Berufssoldaten. schaft erneut hervorgerufen, und zwar, wie ich be- Diese Forderungen werden auch von der Opposi- tone, nicht nur in der Bundeswehr. tion unterstützt. Der dazu notwendige Etat allerdings Einige der Fragen lauten: Wozu brauchen wir noch wird von ihr insgesamt heftig kritisiert. die Bundeswehr? Welchen Auftrag hat die Bundes- (Günter Rixe [SPD]: Das muß man!) wehr künftig zu erfüllen? Warum muß ich noch mei- nen Wehrdienst ableisten? Herr Bundesverteidi- Die Bundeswehr braucht Geld nicht für Aufrüstung, gungsminister, dies sind Fragen, die die Soldaten be- sondern für ihre eigene sozialverträgliche Reduzie- reits im Jahr 1990 an Sie gestellt haben. rung und für die notwendige Gleichbehandlung in Ost und West, die auch für den Bereich der Infrastruk- Wie ist der Sachstand heute? Der Auftrag der Bun- tur zutrifft. Sie muß damit einen wesentlichen Kern deswehr ist immer noch nicht festgelegt. Ebensowe- von Verbesserungen verwirklichen, deren Ausblei- nig ist festgelegt, wo die Grenzen dieses Auftrags lie- ben bislang noch berechtigten Anlaß zu Eingaben an gen. den Wehrbeauftragten gibt. Die Soldaten in der Bundeswehr erwarten zu Recht, Es war insgesamt bemerkenswert — auch das paßt daß die politische Führung des Verteidigungsministe- in dieses Bild —, wie gerade diese Oppositionspoliti- riums klare und eindeutige Regelungen trifft. Seit Mo- ker, gedrängt von ihrer kommunalen Basis, sich auf naten dümpelt das Bundesministerium der Verteidi- der Hardthöhe die Klinke in die Hand gaben, um vor- gung vor sich hin, ohne daß erkennbar wird, wohin die stellig zu werden, damit Bundeswehrstandorte erhal- Reise gehen soll. Dies ist weder den Soldaten der Bun- ten bleiben. deswehr noch diesem Parlament zumutbar. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Das sogenannte geldverschlingende Ungeheuer, so dem Bündnis 90/GRÜNE) war kürzlich in der „Hannoveraner Allgemeinen Zei Eine solche Führungsschwäche kann nur dazu füh- tung" zu lesen, entpuppte sich plötzlich nach der ren, daß die Verunsicherung in der Truppe zu- statt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3363

Dieter Heistermann abnimmt. Dafür trägt allein der Bundesminister der Da liest man: Verteidigung die Verantwortung. Auch das Postulat, daß Freizeitausgleich Vorrang (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der vor finanziellem Ausgleich haben soll, rechtfer- CDU/CSU — Dr. Karl-Heinz Hornhues tigt keine Vernachlässigung der zu erreichenden [CDU/CSU]: Dummes Zeug!) Ausbildungsziele und darf nicht zu einer Gefähr- dung der Einsatzbereitschaft führen. Einheitsfüh- Wen wundert es eigentlich nicht, daß unter diesen rer, die Ausfälle in der Ausbildung hinnehmen, Bedingungen die Bewerberzahlen stark zurückgehen nur um den Dienstzeitausgleichsregelungen in und die Motivation der Soldaten insgesamt sinkt. Form von Freizeit zu entsprechen, können sich Wenn der Wehrbeauftragte an die politische Verant- nicht auf diesen Erlaß berufen. wortung dieses Parlamentes appelliert, spricht er die Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause an, die ja die Soweit das Zitat. Ursache für die Politik der Exekutive sind, gegenüber Hinter dieser Tonlage steht noch ein Bedrohungs- der er kritische Anmerkungen macht. bild, das den heutigen Gegebenheiten nicht mehr ent- Wenn von dem Soldaten zu Recht verlangt wird, spricht. Wer mit der Zeit des Menschen, mit seinen dem Primat der Politik zu folgen, dann muß die Politik persönlichen Lebens- und Berufsplanungen so um- auch Entscheidungen treffen. Und daran mangelt geht, als verfüge er alleine darüber, wird wenig Zu- es. stimmung finden. (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Sehr wahr!) Während um uns herum die Dauer der Wehrdienst- Viele der Problemfelder, die sich im Bereich des zeit verringert wird, operiert der Bundesminister der Wehrbeauftragten wiederfinden, sind selbstgestrickt. Verteidigung immer noch so, als könne man nicht in Auch dafür trägt diese Bundesregierung die Verant- zwölf Monaten eine vernünftige Ausbildung inner- wortung. Aus dieser Verantwortung werden wir sie halb der Bundeswehr erreichen. nicht entlassen. (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Der hat keine Selbst in diesem Jahr ist nicht erkennbar, welche Phantasie, der Junge!) Lösungsansätze diese Bundesregierung bei der Be- Die Infragestellung einer Wehrpflichtarmee nimmt antwortung der Fragen der Soldaten eigentlich ver- zu. Da reicht es nicht aus, das Prinzip Wehrpflicht zu folgt; z. B. bei den Fragen der mangelnden Wehrge- bekräftigen. Entscheidend ist, wie dieses Prinzip si- rechtigkeit, die einen Schwerpunkt bei den Eingaben chergestellt wird. Ich frage den Herrn Bundesminister ausmachen. der Verteidigung: Wie wollen Sie denn die Wehr- Noch immer hat die Bundesregierung keine Ent- pflichtarmee unter den neuen Bedingungen einer re- scheidung darüber getroffen, wie sie die Heranzie- duzierten Armee sicherstellen? Ich möchte von Ihnen hung lebensälterer Wehrpflichtiger regeln will. Seit heute wissen, wie das im Hause geplant wird. März 1991 liegt dem Verteidigungsausschuß ein An- Die SPD-Fraktion wird ihre eigenen Positionen zur trag der SPD vor, die gesetzliche Festlegung des Ein- Wehrpflichtdauer im Deutschen Bundestag erneut berufungsalters vom 28. auf das 25. Lebensjahr herab- einbringen. Ebenso kündige ich an, daß die SPD-Bun- zusetzen. Bis heute sah sich die Bundesregierung destagsfraktion den Antrag auf eine gesetzliche nicht in der Lage, ein gesetzmäßiges Konzept vorzu- Dienstzeitregelung für Soldaten einbringen wird. Wir legen. Vielmehr operiert sie mit Erlassen. Sie riskiert sind der festen Überzeugung, daß der Auftrag der dabei, wie bereits durch ein Verwaltungsgericht ent- Bundeswehr in jener gesellschaftlichen Normalität zu schieden, sich vorhalten lassen zu müssen, ein Gesetz erfüllen ist, die auch für viele andere Bereiche gilt. Wir durch Erlasse zu ändern. sind gespannt darauf, zu erfahren, warum die Ausbil- dungsziele bei normaler Dienstplangestaltung nicht Es wundert uns, wie leichtfertig sich die Bundesre- erreicht werden können. gierung über gesetzliche Vorschriften hinwegsetzt. Statt klare Verhältnisse zu schaffen, dümpelt man Mein Kollege Steiner wird über weitere Bereiche auch auf diesem Gebiet weiter vor sich hin. des Wehrbeauftragtenberichtes sprechen. (Bernd Wilz [CDU/CSU]: Das ist doch alles Ich nehme noch eine kurze Bewertung des Jahres- übertrieben!) berichtes 1990 vor. Es darf doch niemanden wundern, daß, wenn das Wir nehmen diesen Bericht zum Anlaß, denen Dank Prinzip Zufall bei der Ableistung des Wehrdienstes abzustatten, die unter nicht immer leichten Bedingun- eine Rolle spielt, dies zu immer tieferer Verunsiche- gen ihren Dienst in der Bundeswehr zu erfüllen hat- rung und Unzufriedenheit bei den Betroffenen führt. ten. Dies gilt für die Soldaten, für die zivile Verwal- tung und für die vielen Mitarbeiter im Bundesministe- (Paul Breuer [CDU/CSU]: Wo sind denn Ihre rium der Verteidigung. konstruktiven Vorschläge?) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Was hat das denn eigentlich mit Wehrgerechtigkeit zu FDP) tun? Die Reduzierung und die Umstellung der Streit- Was die Dienstzeit und die Dienstzeitgestaltung kräfte haben einen Einsatz erfordert, dem wir unseren betrifft, kann die Stellungnahme der Bundesregie- Respekt zollen, auch wenn wir uns nicht in allen Ent- rung nur verwundern. scheidungen wiederfinden können. (Paul Breuer [CDU/CSU]: Welche Lösung Wir danken auch dem Wehrbeauftragten für seine schlagen Sie vor?) wertvolle Zuarbeit und seine realistische Lagebeurtei- 3364 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dieter Heistermann lung. Ohne seine Hilfe würde dieses Parlament nicht resbericht 1990 auch die politischen Veränderungen immer wieder gezwungen, sich mit den Soldaten und widerspiegelt. ihren Problemen auseinanderzusetzen. Die wohl tiefste Veränderung der Bundeswehr ist (Beifall bei der SPD) die in der Geschichte einmalige Integration einer an- Wir stimmen Ihnen zu, Herr Wehrbeauftragter, daß deren Armee, nämlich der NVA. Sehr viele menschli- das innere Gefüge der Bundeswehr stabil ist. Nicht che und organisatorische Probleme mußten und müs- folgen können wir Ihrer Aussage, die Stimmung sei sen dabei überwunden werden. insgesamt gut. Besonders müssen wir unser Augenmerk darauf Die politischen Versäumnisse der Bundesregierung richten, daß das Prinzip der Inneren Führung auch in sind nicht zu übersehen. Es ist ihr gelungen, aus einer den neuen Bundesländern durchgesetzt wird. intakten Armee innerhalb kürzester Zeit eine orientie- rungslose, in tiefer Sinn- und Identitätskrise befindli- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten che Bundeswehr zu machen. der CDU/CSU) - (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP Es erfüllt mit Sorge, daß der Wehrbeauftragte — Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: schreibt, in den neuen Bundesländern bestehe in der Wie in der SPD-Baracke!) Verwirklichung der Grundsätze der Inneren Führung noch eine Kluft zwischen Anspruch und Wirk lichkeit. — Daß Sie reagieren, zeigt mir, daß dieser Vorwurf Und wer wollte widersprechen, wenn gesagt wird: Es sitzt. Es ist auch nicht zu übersehen, daß die Bundes- darf keine Soldaten erster und zweiter Klasse ge- wehr darüber hinaus große Teile der Akzeptanz in der ben. Öffentlichkeit verloren hat. Herr Wehrbeauftragter, bitte übermitteln Sie auch (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten allen Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unser der CDU/CSU) ganz herzliches Dankeschön. Richtig ist, daß auch in der Bundeswehr West die Die SPD-Bundestagsfraktion stimmt der Beschluß- „Innere Führung" nicht von einem auf den anderen empfehlung des Verteidigungsausschusses zu. Tag durchgesetzt werden konnte. Aber wenn es im Bericht heißt, bei der Umsetzung der Inneren Führung (Beifall bei der SPD — Bernd Wilz [CDU/ in den neuen Bundesländern bedürfe es Zeit und Ge- CSU]: Das ist ja toll!) duld, Herr Wehrbeauftragter, meine ich: Wir haben keine Zeit, noch haben die Soldaten in den neuen Bundesländern Geduld; sie erwarten die gleichen Be- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat der dingungen in Ost und West. Abgeordnete Jürgen Koppelin das Wort. Es ist zu begrüßen, daß die Zahl der Eingaben über Verstöße bei der Menschenführung erheblich zurück- Jürgen Koppelin (FDP): Frau Präsidentin! Meine gegangen ist. Ich hoffe nur, daß die Eingaben von den Damen und Herren! Lieber Kollege Heistermann, eine Betroffenen nicht zurückgehalten werden, weil diese kurze Anmerkung zu Ihrem Beitrag. Ich meine, mit Fragen hinter anderen Problemen zurückstehen. Je- pauschaler Kritik und Rundumschlag gegen den Bun- dem Soldaten sei von dieser Stelle aus gesagt, daß wir desminister der Verteidigung und gegen die Bundes- bei allen Problemen, die wir zur Zeit in der Bundes- regierung wird man dem Bericht des Wehrbeauftrag- wehr zu bewältigen haben, die Menschenführung ten in keiner Weise gerecht. nach wie vor als vorrangig ansehen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich lade Sie sehr herzlich zu einem Truppenbesuch der CDU/CSU) ein. Ich mache das häufig. Aber ich habe den Ein- Konkrete Mängel im Führungsverhalten von Vor- druck, Sie haben lange nicht mehr die Truppe be- gesetzten sollten daher immer offen angesprochen sucht. Machen wir das einmal zusammen! Ich glaube, werden. Im übrigen scheint es mir wichtig, noch ein- dann kommen Sie zu völlig anderen Erkenntnissen, mal darauf hinzuweisen, daß Vorgesetzte besondere lieber Kollege Heistermann. Akzeptanz dann erfahren, wenn Ausbildung und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dienst insgesamt mehr zivilorientiert und leistungsbe- Dieter Heistermann [SPD]: Nun ist er drei zogen gestaltet werden. Tage im Verteidigungsausschuß, und schon Ich will bei dieser Gelegenheit auch unterstützen, weiß er alles über die Bundeswehr!) daß, wie seit Mitte 1989 geschehen, eine Befragung —Ich antworte gern auf Ihren Zuruf. Es ist richtig, daß ausscheidender Soldaten auf freiwilliger Basis durch- ich erst seit einem halben Jahr im Verteidigungsaus- geführt wird. Dadurch ist es vielleicht möglich, schuß bin; aber Sie habe ich auf jeden Fall gut ken- schneller Mängel zu erkennen und abzubauen. nengelernt, Kollege Heistermann. Wenn ich davon spreche, daß wir gleiche Bedin- Es muß ausdrücklich begrüßt werden, daß der Jah- gungen bei der Bundeswehr haben müssen, erlauben resbericht 1990 des Wehrbeaufragten diesmal nicht Sie mir, einen Vorgang anzusprechen, den ich für nur ein Mängelbericht ist. Denn 1990 war — wer unerfreulich gehalten habe. Ich meine die sehr wollte das bestreiten — ein außergewöhnliches Jahr schleppende Diskussion darüber, welche Abfindung — das ist ja schon gesagt worden — und für den und welches Weihnachtsgeld die Wehrpflichtigen in Wehrbeauftragten ein außergewöhnliches Berichts- den neuen Bundesländern erhalten sollten. Auch hier jahr. Darum ist es selbstverständlich, daß dieser Jah war für die FDP-Fraktion von vornherein klar, daß es Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3365

Jürgen Koppelin nicht Soldaten erster Klasse und Soldaten zweiter visten wissen, die nicht einsehen können, warum Klasse geben darf. sie Wehrübungen machen sollen, obwohl allge- mein abgerüstet wird. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) So der Wehrbeauftragte. Im Jahresbericht 1990 hat der Wehrbeauftragte auf Weiter heißt es hier: das Fehlen von Motivation und Disziplin bei Wehr- Biehle räumte ein, daß gerade bei Wehrübungen dienstleistenden hingewiesen. Das trifft vor allem auf Ungerechtigkeiten herrschen. Er sprach sich da- die Soldaten in den neuen Bundesländern zu. Dafür für aus, bis zum Herbst ein neues Konzept zu gibt es Gründe. Die Soldaten in den neuen Bundes- erarbeiten. ländern erwarten mit Recht, daß ihre räumlichen Ver- Die Freien Demokraten unterstützen diese Forde- hältnisse denen der Bundeswehr West angepaßt wer- rung und mahnen das Konzept für Wehrübungen den. Die Unterkünfte und die sanitären Einrichtungen an. sind so sehr sanierungsbedürftig, daß ich mich frage, ob wir es den Soldaten zumuten können, -in diesen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Unterkünften zu wohnen. Auch der Zustand der Trup- Dieter Heistermann [SPD]: Sind Sie eigent penküche ist oft mehr als erschreckend. Dieser Zu- lich mit in der Regierung, oder mahnen Sie stand muß sehr schnell geändert werden. das einfach nur an?) — Herr Kollege Heistermann, ich kenne noch die Zeit Zur Motivation trägt auch nicht bei, daß ehemalige der sozialliberalen Koalition. Damals war es genauso NVA-Soldaten im ungewissen über ihre Aussichten schwierig, manches durchzusetzen. sind. Wir sollten alles daransetzen, daß jeder, den wir übernehmen wollen, weiß, wann er übernommen (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: wird, und daß er es möglichst bald erfährt, damit seine Schwieriger, fast unmöglich!) persönliche Unsicherheit beseitigt wird. Das ist jedenfalls meine Erfahrung in einer Koali- Auch die hohe Wachbelastung wirkt sich demoti- tion. vierend auf die jungen Soldaten in den neuen Bundes- (Dieter Heistermann [SPD]: Also die CDU ländern aus. Der Grundwehrdienst in den neuen Bun- bremst, dürfen wir daraus entnehmen!) desländern kann nicht nur aus Wachdienst bestehen. Die Politik bleibt weiterhin aufgefordert, Herr Kol- Ich sehe mit großer Sorge, daß in den neuen Bundes- lege Heistermann, dafür zu sorgen — da kann ich Sie ländern in den Bereichen der politischen Bildung, der direkt ansprechen — , daß unsere Soldaten wirklich Inneren Führung und des Sports nur sehr einge- wissen, wo es künftig langgeht. Die Bundeswehr schränkt ausgebildet wird. Auch hier ist Abhilfe drin- braucht klare Aussagen der Politik über den künfti- gend geboten. gen Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der UNO. Die beschlossene Reduzierung der Bundeswehr, die Die Bundeswehr braucht ferner klare Aussagen dar- damit verbundene Schließung von Standorten und über — dabei werden Sie uns ja wahrscheinlich unter- eventuell auch Versetzungen haben zu persönlichen stützen — , welche Aufgaben unsere Teilstreitkräfte Sorgen in der Truppe geführt. künftig haben werden. Diese persönlichen Sorgen wurden dadurch ver- (Gudrun Weyel [SPD]: Wer soll diese Aussa stärkt, daß durch die Kürze der Planungszeit und die gen machen?) Größe des Vorhabens die Information der Truppe nur Herr Wehrbeauftragter, im Namen der FDP-Frak- unzureichend realisiert werden konnte. Ich muß an tion danke ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern für die dieser Stelle wiederholen, was ich hier schon einmal gute Zusammenarbeit. Ich sichere sie Ihnen auch für gesagt habe: Auch die Vorabteilinformationen aus die Zukunft zu. dem Ministerium führten zu Unruhe und Spekulation unter den Soldaten; und Unruhe und Spekulation sor- Der Beschlußempfehlung stimmt die FDP-Fraktion gen nicht für Motivation in der Truppe. zu. Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. Jetzt kommt es darauf an, daß bei der Auflösung oder Verlegung von Einheiten dem Gebot der Für- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sorge Rechnung getragen wird. Wir unterstützen da- her als FDP die Forderung des Wehrbeauftragten nach Sozialplänen. Dazu gehört, daß Maßnahmen für Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht die Soldaten angeboten werden, die sich unter völlig die Abgeordnete Vera Wollenberger. anderen Rahmenbedingungen Verpflichtungen auf- erlegt haben. (Bündnis 90/GRÜNE) : Frau Prä- Lassen Sie mich abschließend über einen Bereich Vera Wollenberger sidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man sich sprechen, den der Wehrbeauftragte sowohl in seinem die Mühe macht, die Berichte der Wehrbeauftragten Jahresbericht wie auch in Interviews genannt hat. Der der letzten Jahre nochmals durchzulesen und mit dem Wehrbeauftragte sagte z. B. in einem Gespräch mit hier zur Debatte Stehenden zu vergleichen, hat man dem „Flensburger Tageblatt" am 15. Juni — ich darf schnell den Eindruck, eine Erfolgsstory über zeitge- zitieren, Frau Präsidentin — : mäße Menschenführung in den Streitkräften vor sich Soldaten wollen wissen, wo es langgeht. Es sind liegen zu haben. Aber hinter der Fassade wird eben- nicht nur die aktiven Soldaten, die wissen wollen, falls Jahr für Jahr deutlich, daß der Be richt des Wehr- wo es langgeht; genausogut wollen es die Reser beauftragten viel mehr beschönigt, als daß er eine 3366 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Vera Wollenberger realistische Schilderung der Situation in den Streit- Die Wehrpflichtigen müssen als Manövriermasse kräften gibt. für die Planungsfehler der Bundeswehr herhalten. Je (Paul Breuer [CDU/CSU]: Dann haben Sie nach Erfordernis und dem jeweiligen Stand der Dis- keinen einzigen Be richt gelesen!) kussion über die künftige Struktur der Bundeswehr — da ist ja mittlerweile mehr Chaos als Substanz fest- Der Bericht war und ist auch heute ein Gefälligkeits- zustellen — wird ihre Zahl mal hinauf- und mal her- in dem die Sorge vor einer Sinnkrise der bericht, untergeschraubt. Streitkräfte mehr Gewicht als die Wahrnehmung der parlamentarischen Kontrollfunktion hat. So klagt der Jetzt komme ich zu dem Punkt Abschaffung der Wehrbeauftragte mehr über das sinkende Bedro- Wehrpflicht. Wir sind für eine sofortige Abschaffung hungsbewußtsein und über die fortschreitende Ent- der Wehrpflicht und aller anderen Zwangsdienste. fremdung zwischen Militär und Gesellschaft, als daß (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) er über die wirklichen Sorgen und Probleme beson- Wir wollen noch in diesem Jahr einen entsprechenden ders der Wehrpflichtigen ungeschönt berichtet. Antrag im Bundestag einbringen. Wer sich aber mit Wehrpflichtigen in Ost- und West unterhält, wird ihre Schilderung des Truppenalltags (Zuruf von der CDU/CSU: Wer ist denn im Bericht des Wehrbeauftragten kaum finden. Wer „wir"? — Zuruf von der FDP: Für wen brin sich die Lage der Wehrpflichtigen ansieht, kann nicht gen Sie den ein?) umhin, festzustellen, daß auch in diesem Jahr die Be- — Unsere Gruppe Bündnis 90/GRÜNE. troffenen kaum eine Lobby haben, während den Sinn- Wir sind für die Abschaffung der Wehrpflicht, weil suchenden und den Legitimationsbeschaffern in den es keine ernst zu nehmenden Argumente für deren Streitkräften und um diese herum vom Wehrbeauf- Béibehaltung mehr gibt. Der einschneidende Wandel tragten sogar kräftig zugearbeitet wird. der sicherheitspolitischen Situation in Europa macht Der rapide Anstieg der Zahl der Kriegsdienstver- eine Massenarmee, die nur über die Wehrpflicht auf- weigerer besonders während des Golfkrieges hat rechtzuerhalten ist, völlig überflüssig. Darüber hinaus deutlich gemacht, daß sich nun auch die Wehrerfaß- wird sich die Tendenz zu mehr Wehrungerechtigkeit ten und Wehrpflichtigen mehr Gedanken über Sinn in kaum noch zumutbarem Maße fortsetzen. Für die und Unsinn, über Funktion und Dysfunktion der Beibehaltung der Wehrpflicht in ihrer herkömmlichen Streitkräfte machen und entsprechende Schlußfolge- Form gibt es sicherheitspolitisch, militärisch, ökono- rungen ziehen. Diese Entwicklung wird von uns aus- misch und gesellschaftspolitisch keine überzeugen- drücklich begrüßt und mit großer Freude zur Kenntnis den Argumente mehr. Die steigenden KDV-Zahlen genommen. Wir freuen uns über jeden jungen Men- beweisen neben der Bewußtwerdung über die Funk- schen, der sich gegen das Militär und gegen einen tion des Militärs, daß sich die Wehrpflicht überlebt Dienst in den Streitkräften entscheidet. hat. Wir wollen die unberechtigten und willkürlichen (Paul Breuer [CDU/CSU]: Ohne die Bundes Eingriffe in die Lebensplanung junger Menschen be- wehr wären Sie nicht frei! — Zuruf von der enden. Jedoch sehen wir die Alternative nicht in der CDU/CSU: Sie sind hier völlig deplaziert!) Berufsarmee. Vielmehr möchten wir ein Konzept ei- ner Wir mahnen aber auch in diesem Jahr an, was die Sicherheitstruppe verwirklicht haben, die sich aus Freiwilligen zusammensetzt und vor allem bei den GRÜNEN vor uns Jahr für Jahr forderten, nämlich endlich auch ein entsprechendes Kontrollorgan für die wirklich brisanten Sicherheitsproblemen, bei ökologi- scher Bedrohung, humanitären Aufgaben etc. einge- Zivildienstleistenden einzuführen, damit der jetzige Möchtegernbeauftragte für den Zivildienst eine wirk- setzt werden soll. liche Kontrolle wahrnehmen kann. (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro nenberg) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Abgeordnete Daß wir die Abschaffung der Wehrpflicht und damit Wollenberger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des die Abschaffung aller übrigen Zwangsdienste for- Abgeordneten Nolting? dern, heißt nicht, (Zuruf von der FDP: Was für Zwangsdien Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Ja, ste?) bitte. daß wir das Amt des Wehrbeauftragten aufgeben wol- len. Im Gegenteil, es soll erhalten und ausgebaut wer- Günther Friedrich Nolting (FDP): Frau Kollegin, den, damit er seine Kontrollfunktion gegenüber einer kann ich Ihren Ausführungen entnehmen, daß Sie die freiwilligen Sicherheitsorganisation als eine von meh- Abschaffung der Bundeswehr befürworten? reren noch zu schaffenden Kontrollmöglichkeiten wahrnehmen kann. Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Ja, da ha- Vielen Dank. ben Sie ganz recht mit Ihrer Annahme. Ich mache (Paul Breuer [CDU/CSU]: Kein Beifall? Wo ist sogleich Ausführungen dazu. denn Ihre Fraktion? — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Die stehen unter dem Günther Friedrich Nolting (FDP) : Darf ich eine Zu- „Zwangsdienst" !) satzfrage stellen?

Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Vielleicht Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat danach. die Abgeordnete Frau Marienfeld das Wort. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3367

Claire Marienfeld (CDU/CSU): Herr Präsident! teroffiziere, prägt stark das Ansehen unserer Streit- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der heute kräfte. Der Weg, in diesem Bereich Weiterbildungs- zu diskutierende Be richt des Wehrbeauftragten fällt in maßnahmen anzubieten, sollte weiter ausgebaut wer- einen Zeitraum, der von zwei entscheidenden Ereig- den. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt, bei nissen gekennzeichnet war: zum einen durch die sich dem wir noch eine Menge zu tun haben werden. für uns verändernde sicherheitspolitische Situation (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit den durch die Auflösung des Warschauer Pakts verbundenen Abrüstungsinitiativen bis hin zur Dis- Im Bereich der Wohnungsfürsorge besteht Hand- kussion über die Reduzierung der Streitkräfte, zum lungsbedarf. Für viele Soldaten, die Versetzungen er- zweiten durch die Integration der NVA in die Bundes- warten, stellt dies ein zentrales Problem dar. wehr. Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus der In den von uns allen angestrebten und politisch unterschiedlichen Ausstattung der Kasernen in Ost gewollten erfreulichen Entwicklungen wurde es zu- und West; das ist schon verschiedentlich angespro- nehmend schwerer, die Sinnhaftigkeit des- Dienstes chen worden, und hier verweise ich auf die Forderung für Sicherheit und Verteidigung unseres Landes zu unseres Verteidigungsministers nach menschenwür- begreifen. Hinzu kommt: Was ich bereit bin zu vertei- digen Kasernen im Ostteil unseres Landes. Was wir digen, muß ich zuerst einmal lieben. dort vorfanden — daran mag auch erinnert sein —, war katastrophal: Im SED-Staat gab es für Waffensy- Dies wird deshalb um so schwerer, weil viele Schu- steme geheizte Hallen, für Offiziere und Unteroffi- len unseres Landes auf diesen elementaren Bildungs- ziere einigermaßen erträgliche Unterbringungen und auftrag nicht eingehen oder ihn zumindest vernach- für die Soldaten nur miserable Massenunterkünfte. lässigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ein weiterer wichtiger Punkt, der sich aus dem Be- Woher nimmt ein junger Mann das Bewußtsein, daß es richt und für unsere Zukunft ergibt, ist die Frage: Wie sich lohnt, für die Sicherheit dieses Landes Verant- gehe ich nach der Verringerung unserer Streitkräfte wortung zu übernehmen und die Freiheit zu verteidi- mit den um? Ich denke, aus gen, wenn weder er noch die meisten seiner Lehrer ausscheidenden Soldaten dem vorliegenden und zu beratenden Personalstärke- Unfreiheit erlebt haben? Freiheit wird leider erst dann gesetz ergibt sich die Verantwortung, die wir für diese als hohes Gut empfunden, wenn sie gefährdet ist; wie Menschen haben; ich fordere die SPD auf, daran mit- man sich der Gesundheit erst dann bewußt wird, zuarbeiten. Diese zuerst genannten Maßnahmen er- wenn man krank ist. fordern allerdings allesamt neben kernigen Forderun- Ich bitte um Nachsicht für diesen kurzen Exkurs. gen, die die Kollegen der SPD ebenfalls gern erheben, Doch er hat auch etwas mit dem zu tun, womit wir uns auch Geld. Da ist die Zustimmung schon nicht mehr so beim Bericht des Wehrbeauftragten auseinanderset- groß. zen müssen; denn Ziel ist es, daraus zu lernen und Konsequenzen zu ziehen. Ich gebe allerdings die Es ist sehr populistisch — wie auch vorhin wieder geschehen — , ständig die Reduzierung der Streit- Hoffnung auf, in diesem Land in bezug auf die Schul- politik Änderungen zu erreichen; es sei denn, wir ge- kräfte und Einsparungen im Verteidigungshaushalt zu fordern, ohne die Hintergründe dafür darzulegen winnen die nächste Wahl. — jeder der SPD-Kollegen, der im Verteidigungsaus- (Dieter Heistermann [SPD]: Da haben Sie schuß ist, weiß, wie kompliziert das ist — , warum der aber Hoffnungen, Frau Marienfeld!) Verteidigungshaushalt noch so umfangreich ist. Des- — Ja, ich denke schon. wegen bitte ich Sie, auch auf Ihre Kolleginnen und Kollegen in der Fraktion Einfluß auszuüben, den Bür- Die Akzeptanz der Bundeswehr ist nicht allein, gern darzulegen, warum das so ist. Es hat keinen Sinn, doch im wesentlichen von ihrer Attraktivität abhän- nur ständig zu fordern, ohne die Hintergründe zu er- gig. Diese wird vor allem vom Ansehen der Soldaten klären. und der damit verbundenen sozialen Lage sowie vom inneren Gefüge beeinflußt. Fragen, die mit diesen bei- (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Erzählen Sie mir den Punkten im Zusammenhang stehen, waren Inhalt einmal, warum der Jäger 90 weiterentwik des größten Teils der Eingaben. kelt wird!) Da war aber vor allem auch die Verzahnung zwi- Lassen Sie mich noch zwei Punkte ansprechen, die schen östlicher und westlicher Bundeswehr, die nicht in weiten Bereichen in die Themenstellung dieses Be- nur ein organisatorisches Problem darstellte, sondern richts eingreifen. Stichwort: Wehrgerechtigkeit. Er- auch eines der geistigen und menschlichen Integra- stens geht es dabei nicht nur um das subjektive Emp- tion. Ich denke, die Bundeswehr hat diese Herausfor- finden des einzelnen, sondern vor allem um die Ak- derung angenommen. Mit der finanziellen Gleichstel- zeptanz der Bundeswehr und der Wehrpflicht. lung der Soldaten aus beiden Teilen unseres Landes Zweitens müssen unsere Soldaten wissen, was zu- ist ein wichtiger Schritt in Richtung Integration er- künftig ihre Aufgabe ist. Ich spreche hier den Einsatz folgt. der Bundeswehr in Konfliktfällen an. Wir können im (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) investiven Bereich noch so gute Voraussetzungen schaffen: Wenn wir unsere Soldaten nicht ideell und Im wesentlichen ergeben sich aus dem vorliegen- moralisch stützen, erfüllen wir nicht unsere Sorgfalts- cht des Wehrbeauftragten folgende Forde- den Beri pflicht. rungen: Das fachliche Können und das Führungsver- halten der jungen Vorgesetzten, insbesondere der Un- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 3368 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Claire Marienfeld Dies geht vor allem an die Adresse der Opposition. Paul Breuer (CDU/CSU): Frau Kollegin Marienfeld, Statt Eiertänze aufzuführen, sind hier klare Worte ge- können Sie mir zustimmen, daß nach dieser Formulie- fragt. rung des Bundesparteitages der SPD der Oppositions- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig! — führer im Deutschen Bundestag, Herr Vogel, hier in Weitere Zurufe von der SPD) Bonn erklärt hat, dafür sei gar keine Verfassungsän- derung notwendig? — Ja, das ist ja das Problem. Wem von der Führung soll man noch glauben? Engholm, Lafontaine, Vogel, Herr Ab- jeder hat eine andere Meinung und die Verteidi- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: geordneter Breuer, ich mache Sie darauf aufmerksam, gungspolitiker haben noch eine weitere. Keiner weiß, daß die Dreiecksfragen in unserem Hause auch bei so woran er sich zu halten hat. geschickter Formulierung nicht möglich sind. Frau (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD) Abgeordnete, Sie müssen die Frage nicht unbedingt Der Soldat hat ein Recht darauf zu erfahren, ob er beantworten. möglicherweise künftig auch außerhalb -des NATO- Gebietes gefordert sein wird. Dies alles sind Fragen, Claire Marienfeld (CDU/CSU): Ich denke, er hat die die Soldaten beschäftigen und auf die die Politiker seine Frage selbst beantwortet. Ich fahre fort in mei- eine Antwort geben müssen. Es ist an der Zeit, diese nem Bericht. Unsicherheit auszuräumen. Es ist vorhin der breite Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang auf die Konsens angesprochen worden. Herr Heistermann, humanitären Einsätze unserer Bundeswehr einzuge- ich denke, in einer solchen Frage stehen Sie mit in der hen. Ich bin mit dem Wehrbeauftragten der Meinung, Verantwortung. daß dies viel zuwenig in der Öffentlichkeit gewürdigt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wird. Wo waren die Medien, als unsere Minensucher Ich möchte noch weitergehen. Ich gehe davon aus, im internationalen Einsatz mit fünf Booten und daß der größte Teil der Damen und Herren von Ihnen 570 Mann Besatzung im Persischen Golf ca. 100 Mi- im Verteidigungsausschuß mit uns einer Meinung ist. nen und Bomben geräumt haben? Wo waren die Me- Aber Sie können sich in Ihrer Fraktion nicht durchset- dien, als Hubschrauber der Bundeswehr in der Türkei zen. Das ist doch das Problem. 910 und im Iran 500 Einsätze zur Verteilung von Hilfs- gütern und zur Leistung medizinischer Hilfe geflogen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — sind? Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Pro (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) blem!) Wo waren die Medien, als unser Sanitätsdienst mit fünf Ärzteteams und einem Feldlazarett 25 600 Pa- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- tienten behandelt und 280 Operationen durchgeführt geordnete, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des hat? Wo waren die Medien, als Gebirgspioniere und Abgeordneten Kolbow zu beantworten? Luftlandepioniere ein Flüchtlingsdorf mit 1 000 Zelten aufgebaut haben? Allenfalls im hinteren Teil der Ta- Claire Marienfeld (CDU/CSU): Ja, wenn das nicht geszeitungen und mit fünf Zeilen wurden diese Akti- auf meine Zeit geht. vitäten bedacht. Aber auch solche Einsätze beantworten die Frage Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das der Sinngebung. Dabei möchte ich besonders die werde ich nicht auf Ihre Zeit anrechnen. schweren psychischen Belastungen erwähnen, denen junge Soldaten, aber auch die Führung ausgesetzt Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort. sind. Auch hier ist einmal ein Wort des Dankes ange- bracht. Walter Kolbow (SPD): Frau Kollegin, sind Sie bereit, Meine Damen und Herren, der scheidende Gene- zur Kenntnis zu nehmen, daß die SPD auf ihrem Bun- ralinspekteur, Admiral Wellershoff, der hier auch an- desparteitag in Bremen beschlossen hat, einer Grund- wesend ist, hat einmal vor der Presse sinngemäß ge- gesetzänderung für den Einsatz von Blauhelmen, d. h. sagt: 700 000 Menschen bedeuten auch die statisti- zu friedenserhaltenden Maßnahmen zuzustimmen, sche Wahrscheinlichkeit, daß Fehler gemacht wer- daß wir aber bis heute auf einen verfassungsändern- den. — Lassen Sie uns gemeinsam mit den Soldaten den Vorschlag der Bundesregierung warten? und den Politikern daran arbeiten, daß die kommen- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wissen, daß den Berichte immer weniger Kritikpunkte aufzeigen Sie sich die Sache etwas einfach machen!) werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Claire Marienfeld (CDU/CSU): Ich habe vorhin auf die Unstimmigkeiten in Ihrer Führungsriege verwie- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat sen. der Abgeordnete Steiner das Wort. Doch gestatten Sie mir in diesem Zusammen- Heinz-Alfred Steiner (SPD): Herr Präsident! Herr hang — — Wehrbeauftragter! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorab möchte auch ich dem Wehrbeauftrag- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nein, ten bestätigen, daß sein Bericht über das Jahr 1990 in Frau Abgeordnete, Sie werden noch einmal unterbro- vielen Passagen eine zutreffende Beschreibung des chen. Der Abgeordnete Breuer möchte Sie noch etwas Zustandes unserer Bundeswehr enthält, daß er aufge- fragen. tretene Mängel und Unzulänglichkeiten aufgezeigt, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3369

Heinz-Alfred Steiner und daß er sich auch einige kritische Bemerkungen Meine Damen und Herren, das sogenannte Streit- erlaubt hat. Diese letzte Bemerkung erlaube ich mir kräftebeteiligungsgesetz, welches in einem Schnell- deshalb, weil Sie, Herr Wehrbeauftragter, sehr sanft verfahren im letzten Jahr die seit langem geforderte mit der Bundesregierung umgegangen sind, auch gesellschaftliche Normalität in Mitbestimmungsfra- dort, wo mehr Deutlichkeit der Sache sicherlich nicht gen für die Bundeswehr bringen sollte, wird diesem geschadet hätte. Das versuche ich an einigen Themen Anspruch bei weitem nicht gerecht. Dieses Gesetz in der Kürze meiner Redezeit nachzuholen. ohne Ausführungsbestimmungen und damit ohne An- wendungshilfen für unsere Soldaten ist auch kein Einige Anmerkungen zu einem wesentlichen Teil Kompromiß, Herr Wehrbeauftragter, es ist ein vom der Inneren Führung, nämlich der Menschenführung Beharrungsvermögen konservativer Denkweisen ge- in den Streitkräften. Zu Recht räumt der Wehrbeauf- prägtes Machwerk. Ich sage das in dieser Deutlich- tragte diesem Thema auch diesmal in seinem Jahres- keit, weil es von der gesellschaftlichen Normalität bericht viel Platz ein. Zu Recht hebt er besonders her- weit entfernt ist. So wird Innere Führung von uns nicht vor, daß die Anforderungen an die Menschenführung verstanden. So läßt sich eine zeitgerechte Menschen- gerade zu Beginn der 90er Jahre nicht nur auf Grund führung nicht verwirklichen. der außenpolitischen, sondern auch wegen der sich (Beifall bei der SPD) verändernden gesellschaftspolitischen Rahmenbe- dingungen hoch bleiben. Er leitet folgerichtig daraus Mußte man sich bei der Vorlage des Gesetzentwurfs ab, daß die Anforderungen an die Führer und Unter- schon fragen, wie es möglich war, daß hohe Militärs führer weiter wachsen. Das kann ich nur positiv dick und die politische Führung auf der Hardthöhe mit die- unterstreichen. Es ist auch gut zu erwähnen, daß un- sem antiquierten Gesetzentwurf jegliche Zurückhal- sere Bundeswehr mit den Unteroffiziers- und Offi- tung aufgegeben hatten, unseren Soldaten die Reife ziersschulen und dem Zentrum für Innere Führung für einen verantwortungsbewußten Umgang mit ech- über Ausbildungseinrichtungen verfügt, in denen die ten Mitbestimmungsrechten abzusprechen, so muß Grundsätze einer zeitgemäßen Menschenführung an man jetzt realisieren, daß dies Methode hat. Es ist Offiziere und Unteroffiziere vermittelt werden. schlimm, daß das Verteidigungsministerium bis heute keine Ausführungen zu diesem Gesetz gemacht hat, Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, daß und es ist ganz schlimm, statt dessen den Deutschen unmittelbar nach dem 3. Oktober 1990 Offiziere und Bundeswehr-Verband zu kritisieren, der im Rahmen Unteroffiziere der ehemaligen Nationalen Volksar- einer Selbsthilfe, in Lehrgängen seine Mitglieder in mee als sogenannte Weiterverwender an diese Schu- der Handhabung dieses Gesetzes schult und damit len als Lehrgangsteilnehmer kommandiert wurden, ureigenste Aufgaben der Bundeswehr, des Bundesmi- um insbesondere über die Grundsätze der Menschen- nisteriums für Verteidigung übernimmt. führung in der Armee eines demokratischen Staates In diesem Zusammenhang vermute ich einen weite- unterrichtet zu werden. Das ist wichtig und richtig ren Anschlag auf die Weiterentwicklung in diesem zugleich und wird von uns Sozialdemokraten auch Bereich in der Verlegung des unabhängigen Sozial- ausdrücklich begrüßt. Wir brauchen eine, wie es der wissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr von Wehrbeauftragte formuliert, zeitgerechte Menschen- München nach Strausberg his Ende 1994. Ein interna- führung. „Zeitgerecht" bedeutet aber, daß die gesell- tional anerkanntes Institut, das in unmittelbarer Nach- schaftlichen Weiterentwicklungen in die Innere Füh- barschaft von Universität, von Hochschule und vielen rung der Bundeswehr Eingang finden müssen. Es be- anderen Instituten intensiv und anerkennenswert an deutet die ständige Anpassung auch der Lehrinhalte der Weiterentwicklung der Inneren Führung arbeitet, an den Schulen der Bundeswehr an die positiven Ver- soll zusammen mit der Akademie für Information und änderungen in unserer Gesellschaft. Gerade diese Kommunikation und einer Außenstelle des Zentrums Anpassung wird von der Bundesregierung, vom Bun- Innere Führung nach Strausberg auf die grüne Wiese desminister der Verteidigung nicht in genügendem verlegt werden. Maße vollzogen. Herr Ab- Der Wehrbeauftragte stellt in diesem Zusammen- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: geordneter Steiner, sind Sie bereit, eine Frage des hang richtig fest — ich zitiere —, Abgeordneten Nolting zuzulassen? daß sich viele junge Soldaten zunehmend an zivi- len Werten und Normen orientieren. Mitbestim- Heinz-Alfred Steiner (SPD): Wenn es nicht auf mung und Beteiligung haben im gesellschaftli- meine Redezeit angerechnet wird. chen Leben der Bundesrepublik Deutschland, in der Wirtschaft, in der Industrie und im öffentli- Günther Friedrich Nolting (FDP): Herr Kollege, Sie chen Dienst einen hohen Stellenwert. Nicht nur sind so lange dabei, daß Sie wissen müßten, daß das die Wehrpflichtigen, insbesondere auch die jün- nicht angerechnet wird. geren Berufs- und Zeitsoldaten, beklagen sich über ungenügende Möglichkeiten der Mitwir- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- kung und Beteiligung in den Streitkräften. geordneter, das hängt vom Präsidenten ab. Ganz so ist es auch nicht. Er sagt weiter: (Zuruf von der SPD: Oberlehrer Nolting!) Vor diesem Hintergrund kommt dem Ausbau die- ser Rechte eine besondere Bedeutung zu. Günther Friedrich Nolting (FDP): Herr Präsident, ich kenne Ihre Einstellung. Insofern hatte ich das jetzt (Beifall bei der SPD) vorausgesetzt. 3370 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Günther Friedrich Nolting Herr Kollege Steiner, würden Sie mir zustimmen, Verfügung steht, nur die wichtigsten Maßnahmen er- daß die Arbeit eines Instituts nicht vom Standort ab- wähnen. hängig ist, sondern von seiner Unabhängigkeit, und An Standorten, die aufgelöst werden, dürfen nach daß es hier keine Rolle spielt, ob dieses Institut in dem Personalgesetz ausscheidende Soldaten nicht München ansässig ist oder in Strausberg, wo wir ja aus ihren Wohnungen gekündigt werden. An Stand- auch die Nähe zu Universitäten, z. B. in Berlin ha- orten, die erhalten bleiben, ist ein Neubauprogramm ben. für Bundesdarlehenswohnungen erforderlich. Dabei (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ist zu beachten, daß die Fördersätze den erheblich gestiegenen Baupreisen angepaßt werden und auch dem von Ihnen verursachten hohen Zinsniveau. Mit den Fördersätzen, die zur Zeit zur Verfügung stehen, Heinz-Alfred Steiner (SPD): Herr Kollege Nolting, die Arbeit eines Instituts, einer Einrichtung, der Mit- ist es nicht möglich, Bauträger für Bundesdarlehens- arbeiter hängt immer von den Rahmenbedingungen wohnungen zu gewinnen. ab, die gegeben sind. - (Beifall bei der SPD) Wenn sie optimal sind — das scheint in München Meine sehr verehrten Damen und Herren, der der Fall gewesen zu sein — sind auch die Arbeitser- Wehrbeauftragte hat auch auf die notwendigen An- gebnisse entsprechend. Ich habe bisher jedenfalls forderungen an die Planungsarbeiten im Personalbe- keine Veranlassung gesehen, den Standort des Sozi- reich hingewiesen, indem er ausführt: alwissenschaftlichen Instituts jetzt zu verändern. Um den durch die Bundesregierung vorgegebe- Ich sage nur: Hier liegt die Vermutung nahe, die nen Personalumfang einzunehmen, hat der Bun- Arbeitsergebnisse des Instituts — die für diese Regie- desminister der Verteidigung ein sorgfältig abge- rung nicht immer schmeichelhaft waren stimmtes Personalkonzept zu erstellen, . . . (Jürgen Koppelin [FDP]: Das hat damit nichts Ich befürchte, auf Grund des abenteuerlichen Kabi- zu tun!) nettsbeschlusses zum Haushalt 1992 wird dieses Ziel nicht zu erreichen sein. Kegelgerechter Abbau heißt und auch nicht sein konnten — künftig besser einer doch, ein rücksichtsloses Rasenmäherkonzept zu ver- Kontrolle unterwerfen zu können. folgen. Das ist nicht der gleitende Personalabbau bis (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ende 1994 unter Berücksichtigung von Dienstgestal- Möglicherweise soll das in dem großen Stationie- tung, Einsatzfähigkeit und Sozialverträglichkeit. Es rungswurf des Verteidigungsministers unauffällig so bedeutet praktisch die Fortsetzung der unausgewoge- geregelt werden, daß die Akademie für Information nen Altersstruktur mit allen Folgen eines verschärften und Kommunikation und das Sozialwissenschaftliche Verwendungs- und Beförderungsstaus und den Ver- Institut künftig Abteilungen des Zentrums für Innere zicht auf die bisher für notwendig erachtete höhere Führung werden und damit ihre Eigenständigkeit ver- Führerdichte in den Einheiten und Verbänden. lieren. Ein ungeliebtes, weil unbequemes Kind soll in Meine Damen und Herren, dies waren in aller Kürze ein Spezialinternat kommen. nur einige Beispiele, die vom Wehrbeauftragten in Ein besonders gravierendes Problem stellt nach wie seinem Jahresbericht erwähnt worden sind. Hier be- darf es wirklich der Verbesserung. Ich hoffe wie Sie, vor die mangelnde Wohnungsfürsorge dar. Eine mei- Frau Kollegin, daß wir im nächsten Jahr über diese ner Vorrednerinnen hat bereits darauf hingewiesen. Wir haben seit Jahren — ich darf auch sagen: seit Jah- Mißstände nicht noch einmal diskutieren müssen. ren gemeinsam — immer wieder eindringlich auf die Vielen Dank. negative Entwicklung in diesem Bereich hingewie- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ sen. Wir haben wiederholt darauf gedrängt, zu han- GRÜNE) deln. Doch anstatt neue, moderne Wohnungen für unsere Soldaten und ihre Familien zu bauen, haben Sie, Herr Minister, und Ihre Vorgänger das damals Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- noch vorhandene Geld lieber in die Entwicklung und teile ich dem Bundesminister der Verteidigung, Beschaffung neuer Waffensysteme gesteckt. Der Be- Dr. Stoltenberg das Wort. richt des Wehrbeauftragten belegt eindeutig — das gilt nicht nur für diesen Bericht, das gilt auch für die Berichte seiner Vorgänger — die bisherigen Ver- Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- säumnisse. Suchten 1989 ca. 7 300 Angehörige der teidigung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bundeswehr nach einer geeigneten Wohnung, so wa- Ich möchte zunächst dem Wehrbeauftragten, Ihnen, ren es im Jahre 1990 bereits fast 10 000. Die Reduzie- lieber Herr Biehle, für die gute Zusammenarbeit in rung des Friedensumfangs der Bundeswehr auf Ihrem ersten Amtsjahr danken, insbesondere auch für 370 000 bis Ende 1994 und die damit verbundene die engagierte Art und Weise, mit der Sie sich für die weitreichende Neuorganisation der Streitkräfte wird Soldaten der Bundeswehr einsetzen. noch zu einer weiteren Verschärfung an den neuen In Ihrem ersten Jahresbericht haben Sie Ihr Amts- Standorten der Bundeswehr führen. Insbesondere we- verständnis mit dem Beg riff „parlamentarisches Früh- gen der erheblichen sozialen Folgen der Versetzung warnsystem" beschrieben. Sie haben es als eine Ihrer sind im Interesse der Soldatenfamilien flankierende wichtigsten Aufgaben charakterisiert, die Konse- Maßnahmen bei der Wohnungsfürsorge erforderlich, quenzen aufzuzeigen, die sich für die Bundeswehr und zwar Maßnahmen, die diese Bezeichnung auch und damit für jeden ihrer Angehörigen aus den tief- verdienen. Ich will in der Kürze der Zeit, die mir zur greifenden politischen Entscheidungen und Entwick- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3371

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg lungen ergeben. Ich halte das für sehr wichtig; denn — Ich mache das nicht sehr polemisch. es sind ja in der Tat die großen Veränderungen in Wenn es um Menschen geht, ist Handeln mit Sorg- Europa, vor allem natürlich auch die Einheit unseres falt und Bedacht kein Zögern. Herr Heistermann, Landes, die seit dem vergangenen Jahr unser Han- wenn Sie persönliche Überlegungen vortragen, tun deln bestimmen. Sie das in einer differenzierten Weise. Wenn Sie dann Es geht um den Aufbau der Bundeswehr in den wieder auf Ihr Manuskript schauen, kommen einige neuen Ländern. Es geht um die Rückführung des ganz schreckliche Sätze, und anschließend kommt Streitkräfteumfangs auf 370 000 Soldaten, und es geht wieder eine ruhigere Passage. Man kennt das schon. um die Neuformulierung der konzeptionellen Grund- Ich will das nicht weiter kommentieren. lagen für den Auftrag, die Führung und die Ausbil- Vom Tag der Einheit an haben wir uns bemüht, eine dung in den Streitkräften. einheitliche Führung und die Umsetzung einer jetzt Damit sind zugleich auch noch einmal die Schwer- einheitlichen Wehrverfassung zu verwirklichen, punktthemen Ihres Jahresberichts 1990 kurz benannt. schrittweise die gleiche Situation für die Soldaten und Er zeigt auf, wie sehr die Veränderungen der- politi- auch die Wehrpflichtigen in West und Ost herzustel- schen Rahmendaten unmittelbare persönliche Folgen len, die Lebens- und Dienstbedingungen in den Trup- für die Existenz, für das Lehen der Soldaten, der zivi- penteilen der neuen Bundesländer Schritt für Schritt len Mitarbeiter und ihrer Angehörigen haben. denen in Westdeutschland anzugleichen und vor al- lem denen, die sich nach den Vorschriften des Eini- Um die Folgen für die betroffenen Menschen ging gungsvertrages zunächst als Soldaten auf Probe be- es auch heute in dieser Debatte vor allem. Das hat man worben haben, ein umfassendes Informations- und in der öffentlichen Diskussion der letzten Monate Bildungsangebot zu machen, um die Bedingungen manchmal übersehen. Da wurde im Sommer die Bun- der Bundeswehr in der Demokratie und der Inneren deswehr als Wirtschaftsfaktor entdeckt. Führung kennenzulernen. Ich finde hier die Zwi- (Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]: schenbilanz insgesamt ganz ermutigend. So ein Unsinn!) Natürlich gibt es unverändert Probleme. Natürlich — Ich spreche hier von anderen, Frau Wollenberger, sind wir von den gleichen Lebensbedingungen noch nicht von mir. ein Stück entfernt. Aber wenn wir im p rivaten Sektor, wenn wir in der Verwaltung insgesamt in zehn Mona- (Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]: ten noch nicht die gleichen Einkommensverhältnisse Es ist trotzdem Unsinn!) haben, dann können sie auch bei den Berufs- und Da wurde die Bundeswehr als Wirtschaftsfaktor ent- Zeitsoldaten noch nicht verwirklicht sein. Wichtig ist deckt und plötzlich hoch gepriesen von vielen — auch nur, daß die Menschen überzeugt sind — auch die in in der Sozialdemokratischen Partei — , die zuvor we- der Bundeswehr — , daß das Ziel der Erreichung glei- nig Verständnis für ihren Auftrag und ihre Erforder- cher Lebensverhältnisse ernst gemeint ist. nisse gezeigt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nach einer unwidersprochenen, nicht bezweifelten In der Tat, meine Damen und Herren, Entscheidun- Analyse, die wir schon im Frühjahr vorgelegt haben, gen über die Bundeswehr sind seit der Einheit müssen wir dafür kurzfristig mehr als 16 Milliarden Deutschlands zunächst einmal Entscheidungen über DM in den neuen Ländern investieren: in Kasernen- 500 000 Soldaten und fast 200 000 zivile Mitarbeiter — anlagen, die wir weiterhin brauchen, in die Beseiti- wie gesagt: mit allen Wirkungen für die Angehörigen, gung von Umweltlasten, für die zivile Verwaltung. für die Lebensplanung von Menschen. Wie können Sie denn, meine Damen und Herren Wir haben uns dieser Aufgabe gestellt. Wir haben von der SPD, auf der einen Seite die Herstellung glei- —da Sie ja den Bericht des Wehrbeauftragten in eini- cher Verhältnisse für die Soldaten fordern und auf der gen Passagen kritisiert haben, will ich das hinzufü- anderen Seite den Eindruck erwecken, Sie könnten gen — in sehr vielen unabhängigen Kommentaren in Milliarden aus einem ohnehin knapp bemessenen der deutschen und internationalen Öffentlichkeit Verteidigungsetat herausstreichen? auch Anerkennung dafür gefunden, wie wir die Her- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ausforderung der Auflösung der früheren NVA-Struk- Dr. Joseph- [CDU/CSU]: Die turen und des beginnenden Aufbaus der Bundeswehr können das! — Zuruf von der SPD: Um in den neuen Ländern angepackt haben. schichtung!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das nimmt Ihnen kein intelligenter und nachdenkli- Ich könnte Ihnen eine eindrucksvolle Vielfalt von Zi- cher Mitbürger und kein Soldat ab. taten vortragen. (Abg. Walter Kolbow [SPD] meldet sich zu (Dieter Heistermann [SPD]: Das hat doch nie einer Zwischenfrage) mand kritisiert!) — Herr Kolbow, bitte sehr. — Sie haben doch gesagt, wir dümpelten da vor uns hin, lieber Herr Heistermann. Dann möchte ich das unterstreichen, was nicht gerade mit dem Begriff Walter Kolbow (SPD) : Herr Bundesminister der Ver- „dümpeln" umschrieben werden kann. Ich glaube, teidigung, würden Sie mir recht geben, daß ein Ver- teidigungsetat, der Bet wir müssen dies gemeinsam weiter anpacken. riebskosten in Höhe von 75 enthält, das, was Sie jetzt gerade für die neuen Länder (Zurufe von der SPD) verlangen, nicht ermöglicht? 3372 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- Meine Damen und Herren, natürlich ist es so, daß teidigung: Wenn wir dem Konzept des Regierungs- wir nicht nur reduzieren, sondern auch zukunftswei- entwurfs folgen und in den nächsten Jahren die ange- sende Entscheidungen brauchen. Hier will ich die messene Ausstattung sichern, können wir dadurch, Bedeutung eines den künftigen Aufgaben angemes- daß wir wichtige investive Vorhaben im Westen zu- senen Personalkonzepts unterstreichen. rückstellen — das tun wir ja, auch da, wo sie eigent- Es ist nicht so, Herr Kollege Steiner, daß die Regie- lich notwendig wären — , die Mittel für den investiven rung beabsichtigt, hier schematisch vom vorhandenen Bereich mobilisieren, die in einer Reihe von Jahren die Kegel einfach etwas zu kürzen. Wir sind in den Ge- gleichwertigen Verhältnisse gewährleisten. sprächen in der Regierung, vor allem mit dem Bundes- (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das kön minister der Finanzen, so weit gekommen, daß wir nen wir auch!) den Ausschüssen des Deutschen Bundestages ein, wie ich glaube, einheitliches Personalstrukturkonzept für Aber es ist keine Verfügungsmasse mehr für Kürzun- Offiziere und Unteroffiziere vorlegen können, das gen in Milliardenhöhe vorhanden, Herr Kolbow. Das - eine Verbesserung bringt. Wir brauchen diese Ver- ist meine Beurteilung. Ich bin gerne bereit, das im besserung in der Bundeswehr von morgen. Ich freue Verteidigungsausschuß zu vertiefen. mich, daß wir uns jedenfalls in diesem Punkt einig Im übrigen, Herr Kollege Steiner — Sie sprachen sind. das Münchener Institut an — : Wir verlegen Einrich- tungen, Schulen, zentrale Institutionen der Bundes- Die Zeit reicht nicht mehr — ich sage das mit Blick wehr in erheblichem Umfang in die neuen Bundeslän- auf die Uhr und auf die Tagesordnung des Hohen Hauses — , auf weiterführende Fragen der Strategie der. Dies ist keine Strafaktion. Das will ich einmal in aller Deutlichkeit sagen. und des Auftrags unter den veränderten sicherheits- politischen Rahmenbedingungen einzugehen. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden in anderem Zusammenhang sicher Gelegen- Das ist eine Entscheidung, die wir aus nationaler Ver- heit dazu haben, das auch im Plenum zu tun. antwortung treffen, Nur eine abschließende Bemerkung. Natürlich er- (Paul Breuer [CDU/CSU]: Integration!) wachsen aus dem Umbruch, aus der positiven Ent- wicklung des Abbaus der Konfrontation in Europa die auch von Ihren politischen Freunden drüben er- auch Fragen in der Bundeswehr, an die Bundeswehr wartet wird. Nur, die Art, wie Mitarbeiter in verschie- und vor allem an die politisch Verantwortlichen. Dar- denen Institutionen darauf reagieren, ist ein Lehrbei- auf angemessene Antworten zu geben ist wichtig, wie spiel für die unterschiedliche innere Verfassung. sich unter den veränderten politischen Bedingungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — — in der Zwischenbilanz insgesamt positiv — Auftrag Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]: und Selbstverständnis der Bundeswehr entwickeln. Außerdem kostet es Geld, was man einspa Diese Debatte müssen wir führen. ren könnte!) Nur wende ich mich dagegen, daß versucht wird, Dies will ich gerne an anderer Stelle noch einmal ver- daraus eine generelle Legitimationskrise der Bundes- tiefen, aber nicht hier und heute. wehr herbeizureden. Meine Damen und Herren, wir haben im Jahr 1991 (Zuruf des Bündnisses 90/GRÜNE: Aber sie grundlegende Entscheidungen getroffen — wobei wir ist doch einfach da! Die muß nicht erst her kurz vor der letzten von drei Entscheidungen ste- beigeredet werden!) hen — : im April die Reform der Führungsorganisation und der Struktur der Teilstreitkräfte, im August, nach Die Legitimationsgrundlage für die Soldaten ist die einer mehrmonatigen nationalen öffentlichen De- Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die batte, die Neustationierung für die Streitkräfte unter eine wehrhafte Demokratie vorsieht. So hat Kurt Einbeziehung der Truppenverwaltung. Wie Sie wis- Schumacher sie verstanden, so hat Carlo Schmid sie sen, werden wir in Kürze einen dritten großen Schritt verstanden, so hat sie verstanden. Ich mit einer weitreichenden Strukturreform für unsere hoffe, daß die Sozialdemokratie wieder zu einem kla- Wehrverwaltung und für die Verwaltung im Rü- ren Bekenntnis kommt, daß dies eine wehrhafte und stungsbereich tun. Dies ist neben der beschriebenen verteidigungswerte Demokratie ist. Aufgabe, in den neuen Ländern voranzukommen, Daß trotz all dieser positiven Veränderungen Frie- eine ungewöhnliche Herausforderung für alle, die den keine Selbstverständlichkeit ist, wie manche be- daran mitzuwirken haben, auch für die Mitarbeiter im haupten oder angenommen haben, erleben wir in be- Ministerium. stürzender Weise gegenwärtig im Kernbereich Euro- Ich freue mich, Herr Heistermann, daß Sie dies in pas in den bedrückenden Meldungen dieser Tage. einem Beitrag auch anerkannt haben. Wenn Sie denn Nein, auch in Zukunft sind wir darauf angewiesen, alle würdigen, nur nicht den Minister, dann kann ich bündnisfähig zu sein und zu bleiben. Die NATO, von damit leben. Es stört mich nicht. Wenn Sie die Lei- weiten Teilen der SPD als überholt bezeichnet, ge- stung unserer Mitarbeiter in den Ministerien, in der winnt an Anziehungskraft. Bundeswehr und in der Verwaltung anerkennen, dann begrüße ich das. (Widerspruch von der SPD) (Dieter Heistermann [SPD]: Sie kriegten von — Aber natürlich! Lesen Sie doch die Studie des Herrn uns Lob, wenn Sie noch ein bißchen besser Kollegen Scheer. Wann haben Sie denn dem öffent wären!) lich widersprochen, meine Damen und Herren, was Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3373

Bundesminister Dr. Gerhard Stoltenberg hier von vielen Mitgliedern Ihrer Partei gefordert Ausgleich der Folgen von Abrüstung, Trup- wird? penreduzierungen und Standortauflösungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — in strukturschwachen Regionen Zuruf von der SPD: Das ist doch Unfug! — — Drucksache 12/882 — Abg. Walter Kolbow [SPD] meldet sich zu Überweisungsvorschlag: einer Zwischenfrage) Ausschuß für Wirtschaft (federführend) — Herr Kollege Kolbow, Sie können eine Zwischen- Auswärtiger Ausschuß frage stellen. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Kol- Haushaltsausschuß lege Kolbow, bitte. Ich mache allerdings darauf auf- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten merksam, daß die für den Minister eingeplante Zeit, Achim Großmann, Norbert Formanski, Iris wohlwissend, daß ich ihm verfassungsmäßig das - Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Frak- Recht zu reden nicht nehmen kann, im Grunde abge- tion der SPD laufen ist. Verlibilige Abgabe von Grundstücken sowie von Wohnungen aus Bundesbesitz für den so- Walter Kolbow (SPD) : Herr Bundesminister der Ver- zialen Wohnungsbau und für andere gemein- teidigung, darf ich Sie als früheren Bundesfinanzmini- nützige Zwecke ster der intellektuellen Redlichkeit halber fragen, ob Sie mit mir einverstanden sind, daß ein einzelner Ab- — Drucksache 12/884 — geordneter der SPD nicht weite Teile derselben Partei Üb erweisungsvorschlag: darstellen kann? Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (federführend) (Zurufe von der CDU/CSU) Haushaltsausschuß Der Ältestenrat hat vorgeschlagen, darüber zwei Dr. Gerhard Stoltenberg, Bundesminister der Ver- Stunden lang zu diskutieren. Erhebt sich gegen diese teidigung: Ich könnte hier die Äußerungen des stell- Empfehlung Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. vertretenden Bundesvorsitzenden Oskar Lafontaine Dann ist dies beschlossen. und vieler anderer anführen und sagen: Weite Teile Ihrer Partei haben sich auch in Erklärungen von dem Zunächst erteile ich dem Herrn Abgeordneten Konzept der künftigen Mitgliedschaft und der Bedeu- Weisskirchen (Wiesloch) das Wort. tung der NATO verabschiedet. Das gilt nicht für die ganze Partei, das gilt nicht für Sie, Herr Kolbow. (Walter Kolbow [SPD]: Sie kennen die Pro Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Herr Präsi- grammatik und die Parteibeschlüsse!) dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr — Die zu erörtern reicht die Zeit jetzt in der Tat Minister, wenn das richtig wäre, was Sie am Schluß nicht. gesagt haben, dann gäbe es ja in der Tat keine Ver- Ich sage ganz kurz: Wir brauchen keine neue Legi- wirrung oder zumindest keine Unklarheit in der De- timation für die Bundeswehr. Wir würden der Bundes- batte darüber, wie es mit der Bundeswehr weitergeht. wehr helfen, wenn wir in den Grundfragen der Ver- Das haben wir aber nun einmal festzustellen. teidigung und in den Grundfragen der Sicherheits- (Beifall bei der SPD) politik wieder mehr Einvernehmen erzielen, wie es Anfang der 80er Jahre der Fall war. Dafür zu arbeiten Einer der Gründe dafür, warum Fragen gestellt wor- ist unsere gemeinsame Aufgabe. den sind, auf die es bislang noch keine überzeugen- den Antworten gibt, liegt doch da rin, daß die Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) regierung bisher in der Tat — jetzt komme ich zu dem jetzt zu behandelnden Tagesordnungspunkt — in den Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nachdem Fragen der Standorte und der Umstellung der Rü- die Debatte nun beendet ist, können wir über die stungsgüterproduktion auf zivile Güterproduktion Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses bislang jedenfalls noch keinen deutlich definierten auf Drucksache 12/1073 abstimmen. Wer stimmt für Rahmen vorgestellt hat. diese Beschlußempfehlung des Verteidigungsaus- (Beifall bei der SPD) schusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung angenommen Die Unruhe, die es in manchen Teilen unserer Repu- mit den Stimmen der SPD-, der CDU/CSU- und der blik, in manchen Regionen gibt, ist genau darauf zu- FDP-Fraktion bei Enthaltung der parlamentarischen rückzuführen, daß Sie — auch das Ministe rium — die Gruppen. Öffentlichkeit bisher nicht immer deutlich genug und klar genug darüber unterrichtet haben, wie denn die nächsten Schritte aussehen sollen. Wenn Sie also Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den schon eine kritische Frage an die Opposition stellen Tagesordnungspunkt 7 auf: — das ist Ihr gutes Recht —, dann gibt es viele kriti- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolf- sche Fragen, die an die Bundesregierung gestellt wer- gang Roth, Gert Weisskirchen (Wiesloch), den müssen und die bisher noch nicht deutlich und Manfred Opel, weiterer Abgeordneter und der klar genug mit einem durchdachten Konzept beant- Fraktion der SPD wortet worden sind. 3374 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Gert Weisskirchen (Wiesloch) Konversion — das ist der Punkt, über den wir jetzt Geschwindigkeit dieser Prozesse nochmals beschleu- debattieren — ist eine große Chance. Die Frage ist nigt. nur: Werden wir diese Chance nutzen? Die Umstel- lung der volkswirtschaftlichen Produktion auf aus- Es ist also nicht so, daß man an die Prozesse mit schließlich zivile Ziele wird Potentiale von Fähigkei- unklaren Überlegungen herangehen müßte. Nein, die ten mobilisieren, die Kreativität von Ingenieuren und Dinge sind schon seit vielen Monaten deutlich er- Facharbeitern und die Leistungsbereitschaft von Un- kennbar. Es ist jedoch nicht deutlich erkennbar, wie ternehmern abfordern und die schließlich die in der darauf durchdacht geantwortet wird. und die für die Bundeswehr Arbeitenden vor schwer Die Sicherheitsdefinition, bislang militärisch domi- zu lösende Aufgaben stellen. niert, muß um ökologische, soziale und wirtschaftliche Es wäre vielleicht gar nicht schlecht gewesen — ich Gesichtspunkte erweitert werden. Daran hat auch der weiß nicht, wer gerade vom Wirtschaftsministe rium Golfkrieg nichts geändert. Im Gegenteil: Wer ge- anwesend ist; glaubt haben mochte — und solchen Zynismus gibt es - ja manchmal, wenn jemand seinen Blick ausschließ- (Zuruf von der CDU/CSU: Der Herr Staatsse lich auf die Gewinne richtet, die ihm das Geschäft mit kretär!) dem Tod einbringt —, mit der Steigerung von Rü- guten Morgen, Herr Staatssekretär! —, stungsexporten könnten Konfliktregionen durch ein Gleichgewicht der Abschreckung in diesen Regionen (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Der ist schon eingedämmt werden, der hat am Golf seinen Irrtum länger als Sie hier!) erkennen müssen. Die Vorgeschichte des Golfkriegs wenn sich die Bundesregierung und das Wirtschafts- ist untrennbar verbunden mit dem verhängnisvollen ministerium schon frühzeitiger auf die Probleme der Wettlauf der Rüstungsexporteure. Die Forderung Umstellung eingestellt hätten. Wenn das geschehen nach Transparenz, Selbstbeschränkung, Kontrolle wäre, wäre jetzt schon sehr viel klarer, welche Chan- und Notifizierung von Rüstungsexporten wird der Rü- cen es für Arbeitnehmer gibt, welche Chancen es für stungsindustrie politisch Schranken auferlegen. Facharbeiter und Ingenieure gibt — gerade dann, Der letzte Fluchtweg für die Rüstungsindustrie ist wenn die Rüstungsproduktion auf zivile Ziele umge- jetzt auch endlich deutlich versperrt. Die Militarisie- stellt wird. Da gibt es nämlich sehr viele neue Chan- rung der Dritten Welt hat viele Länder in die Schul- cen für unsere Indust rie. Es wäre endlich an der Zeit, denfalle gelockt. Ich bin sehr zufrieden, daß unser daß die Bundesregierung auch dazu einmal ein klar zuständiges Ministerium für wirtschaft liche Zusam- durchdachtes Konzept vorlegen würde. menarbeit jetzt auch dazu übergegangen ist, daß die (Beifall bei der SPD) Vergabe von Projekten in die Dritte Welt in der Tat auch mit Bedingungen der Demilitarisierung in diesen Darauf warten die industriellen Investoren und die Regionen selbst verkoppelt werden muß. Das ist sehr Klein- und Mittelbetriebe — besonders auch die Zu- gut, lieferer für die großen Rüstungsbetriebe —; denn sie (Beifall bei der SPD) brauchen verläßliche Signale für ihre Entscheidun- gen. Darauf warten die Forscher und Entwickler in aber es macht auch deutlich, daß die Rüstungsindu- den Konzernen, in den Ingenieurbüros und an man- strie nun endlich auch ein anderes, ein deutlich poli- chen Hochschulen; denn die Zukunft ihrer Projekte tisches Signal von der Bundesregierung bekommt, steht auf dem Spiel. Und schließlich warten wir alle damit sie weiß, welche Zukunftsaufgaben sie zu be- auf das überzeugende Konzept der Bundesregie- wältigen hat. rung. (Beifall bei der SPD) Wenn Sie die Anträge, die wir heute diskutieren In den USA hat die wissenschaftliche Kritik am mili- und die wir dem Parlament schon vor einem Jahr im tärisch-industriellen Komplex früh und scharf einge- Grundriß übergeben haben, aufgenommen hätten setzt. Das, worüber wir hier diskutieren, ist nicht et- und dazu ein eigenes durchdachtes Konzept entwik- was, das von irgendwelchen Ideologen geboren wor- kelt hätten, dann wäre nicht so viel Unruhe in den den ist, sondern diese Kritik kommt aus den USA Betrieben, dann wäre nicht so viel Unruhe in der Bun- selbst, und dort ist sie bisher am schärfsten formuliert deswehr. worden. Sie beobachtete die rapide verfallende inter- nationale Wettbewerbsfähigkeit der US-amerikani- (Zuruf von der CDU/CSU: Wer schürt denn schen Industrie und Technologie. diese Unruhe?) (Zuruf von der CDU/CSU: Was habt ihr mit Hier liegt allerdings kein Versäumnis der Opposition den USA?) vor, sondern eines der Bundesregierung. Sie fragte danach, zu welchen Ergebnissen die Zivil- (Beifall bei der SPD) güterindustrie führt, wenn sie gegenüber der Rü- Klar ist doch, daß spätestens mit dem Abschluß des stungsindustrie bei vergleichbaren Bedingungen und CFE-Vertrags vom November 1990 über konventio- demselben Einsatz von Investitionsmitteln arbeitet. nelle Rüstungsbegrenzung, Umbau und Dislozierung Das Ergebnis war klar und wissenschaftlich überzeu- von Streitkräften in Europa Gewißheit darüber be- gend. Es wird auch für die deutsche Indust rie durch steht, daß sich die schon seit längerem anbahnenden eine Ifo-Studie, die in den letzten Wochen veröffent- Trends zum Abbau von Waffensystemen und Trup- licht worden ist und die das Wirtschaftsministerium in penstärken bestätigen. Der Zerfall des Warschauer Auftrag gegeben hat, bestätigt. Die Untersuchungen Paktes und das Ende der alten Sowjetunion haben die des sogenannten Spin-off-Effekts der Wehrtechnik Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3375

Gert Weisskirchen (Wiesloch) und der Zivilgütertechnik belegt, daß es in jedem Fall kable Vorschläge an die Hand gibt, damit wir als Par- günstiger ist, die Forschungsmittel gleich in den Zivil- lamentarier die Grundlage haben — haben wollen bereich zu stecken, als den merkwürdigen Umweg und auch haben können —, hier mitzuwirken, mitzu- über die Militärtechnik zu gehen. reden, und das Ganze zu einem vernünftigen, guten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ende geführt wird. Ein Blick auf die Marktbeziehungen der Rüstungs- (Beifall bei der CDU/CSU) güter macht klar, warum volkswirtschaftlicher Reich- Meine Damen und Herren, wie so vieles hat auch tum verschlungen wird. Der Staat steht als Monopol- die Frage des Truppenabbaus der Bundeswehr und nachfrager Unternehmensleitungen als Monopolan- der verbündeten Streitkräfte einen erfreulichen und bieter gegenüber. Wo bleibt da der Markt, muß man einen unerfreulichen Aspekt. Erfreulich ist, daß die sich da wirklich einmal fragen. Diejenigen müssen politischen und militärischen Verhältnisse in Europa sich das besonders fragen lassen, die immer die und in der Welt eine Reduzierung der Streitkräfte in Marktwirtschaft wie eine Trophäe vor sich hertragen. unserem Lande ermöglichen. Das Motto „Frieden Sie müssen sich fragen: Wo bleibt eigentlich auf die- schaffen mit immer weniger Waffen" — in diesem sem Sektor der Markt? Nichts davon ist übrig. Alles Falle müßte man hinzufügen: mit immer weniger Sol- sind reine Monopolbeziehungen. daten! — erfährt nun schneller eine Realisierung, als (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Ernst so mancher angenommen hat und annehmen Hinsken [CDU/CSU]: Auch wenn Sie noch so durfte — dank und seiner hervorragen- laut schreien — das wird nicht richtiger!) den Politik des Jahres 1982, als Sie, meine Damen und Da weder der Zwang zu wirklichem Wettbewerb Herren von der SPD, Ihren damaligen Kanzler Helmut der Marktteilnehmer besteht noch von der Produkti- Schmidt im Stich gelassen haben. onsseite ein entscheidender innerbetrieblicher Druck (Lachen bei der SPD) auf die Produktivitätsentwicklung spürbar ist, haben sich in dieser Nische Verhaltensweisen herauskristal- Der Truppenabbau hat aber auch einen unerfreuli- lisiert, die sich eher dem untergegangenen Modell des chen Nebeneffekt, nämlich wirtschaftliche und regio- staatsmonopolistischen Kapitalismus annähern als nale Begleiterscheinungen. Und siehe da, plötzlich wirklichen Marktbeziehungen. sind auch positive Töne zur Bundeswehr von solchen zu hören, die sie in der Vergangenheit am liebsten Noch einmal: Konversion ist eine große Chance. verdammt hätten. Bundesverteidigungsminister Stol- Wenn Sie die Anträge, die wir Ihnen heute vorlegen, tenberg hat — meines Erachtens zu Recht — vorhin nutzten und aufgriffen — Sie brauchen ja nicht gleich bereits darauf verwiesen. alle zu akzeptieren — , dann fänden Sie darin eine Reihe von Instrumenten, mit denen Sie die Betroffe- Meine Damen und Herren, ich sage bewußt „Ne- nen an einen Tisch holen könnten, nämlich die Arbeit- beneffekt", weil Abrüstung und Truppenreduzierung nehmer, die Arbeitgeber, Bund und Länder, die Indu- in erster Linie eine Frage der Sicherheits- und Vertei- strie und die betroffenen Regionen. Dann könnte man digungspolitik, nicht aber in erster Linie ein Instru- ein Programm entwickeln, mit dem den rund 1,5 Mil- ment der Regionalpolitik sind. Gleichwohl haben wir lionen Menschen, die in den nächsten vier Jahren von erwartet, daß dort, wo es verteidigungspolitisch meh- Umstellungen betroffen sein werden, nämlich in der rere Möglichkeiten gab, der regionalpolitisch scho- Rüstungsindustrie, bei der Bundeswehr und bei den nendsten Alternative der Vorzug gegeben wird. zivilen Beschäftigten so geholfen wird, daß ihre per- Herr Minister Stoltenberg, ich möchte mich an die- sönlichen und sozialen Interessen berücksichtigt wer- ser Stelle bei Ihnen und dem anwesenden Staatsse- den, und das dann in den Regionen neue Arbeits- kretär herzlich bedanken. Sie haben im großen und plätze schafft, die endlich dazu dienen könnten, daß ganzen die Erwartungen erfüllt und die Argumente zivile Güterproduktionsziele erfüllt werden. So könn- der Wirtschafts- und Regionalpolitiker, übrigens auch ten wir endlich aus den Verstrickungen mit der Rü- durch das Votum der Länder vertreten, von Anfang an stungsgüterproduktion herauskommen. in Ihre Überlegungen einbezogen. Herzlichen Dank. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Die überarbeitete Fassung des Truppenabbaukon- zepts hat durch die stärkere Berücksichtigung der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- strukturschwachen Gebiete eine deutliche Verbesse- teile ich dem Abgeordneten Hinsken das Wort. rung gegenüber dem ersten Entwurf gebracht. Offen ist freilich noch ein genauer Zeitplan für den Abzug Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Präsident! Ver- der Soldaten an den einzelnen Standorten. Ein solcher ehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die Aus- Zeitplan wäre für die weitere Planung natürlich schon führungen des Kollegen Weisskirchen rekapituliere, sehr wünschenswert, und ich bitte, darum besorgt zu dann stelle ich fest: Wenn Sie so weitermachen, dann sein, daß uns möglichst bald auch hier klare Fakten an sind Sie in fünf oder sechs Jahren tatsächlich ein trag- die Hand gegeben werden. barer Marktwirtschaftler! Momentan haben Sie aber Ich möchte mich außerdem bedanken, daß Sie noch nicht die Zusammenhänge als solche erkannt — das Verteidigungsministerium — in sehr kurzer und gesehen, die hier erforderlich sind. Zeit die Grundstruktur des Konzepts vorgelegt haben, Ich darf bei dieser Gelegenheit auch darauf verwei- so daß jetzt ausreichend Zeit bleibt, die wirtschaftli- sen, daß gerade diese Bundesregierung die Probleme, chen Auswirkungen mit den uns vorliegenden Instru- die es zu lösen gilt, anpackt, aufgreift und uns prakti- menten zu bewältigen. Ein umfangreiches Zahlen- 3376 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Ernst Hinsken werk gibt Auskunft über die Bedeutung des Wirt Ein zweiter, allerdings sehr dünner Wirkungsstrang Den Ländern wurde Ge--schaftsfaktors Bundeswehr. betrifft die Rüstungsindustrie. Hier ist ein spezielles legenheit gegeben, zu den Auswirkungen der Redu- Programm zu Produktionsumstellungen im Zusam- zierung im einzelnen Stellung zu nehmen. menhang mit dem Truppenabbau nicht erforderlich, da der Truppenumstrukturierungsdruck auf die Pro- In diesem Zusammenhang sind drei Wirkungs- duktpalette im Zuge der Abrüstungspolitik die ge- stränge von großer Bedeutung: samte Branche gleichermaßen trifft. Der erste Wirkungsstrang bezieht sich auf das im Hier, meine ich, ist die Wirtschaft gefordert, sich Zuge der frei- Standortreduzierung bzw. -stillegung darauf einzustellen. Wir haben auch im Unteraus- zusetzende Personal. Selbstverständlich besteht zwi- schuß „Regionale Wirtschaftspolitik" den Beschluß schen dem Abbau der Truppe und dem Abbau der gefaßt, uns mehrmals unmittelbar vor Ort zu informie- ein unmittelbarer Zusammenhang. Zivilbeschäftigten ren, Gespräche mit Firmenmanagements, aber auch Die Zivilbeschäftigten sind den Truppenteilen funk- mit Betriebsräten zu führen, um hier flankierend ei- tional zugewiesen. Logischerweise muß sich bei ei- nen Beitrag zu leisten, damit wir das gemeinsame, nem Abbau der Soldaten auch die Zahl der- Zivilbe- hier mehrmals angesprochene Ziel auch erreichen, schäftigten reduzieren. Man kann schließlich nicht daß in diesen strukturschwachen Gebieten — das einen Standort schließen, alle Soldaten abziehen, aber möchte ich nicht ausschließen — möglichst wenige die Beschäftigten in der Truppenkantine weiter ko- Arbeitslose entstehen. chen lassen. Aber, meine Damen und Herren von der SPD, Sie (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: So ist es widersprechen sich doch selber, ganz genau!) (Zuruf von der SPD: Langsam!) Vielleicht sollten diejenigen, die eine Reduzierung der Bundeswehr auf 200 000 oder gar 100 000 Mann wenn Sie auf der einen Seite eine Verringerung der fordern — oder gefordert haben — , diese Konsequenz Rüstungsausgaben, aber überall dort, wo eine Verrin- ehrlicherweise auch einmal gegenüber den Zivilbe- gerung stattfindet, sofort finanzielle Ausgleichsmaß- schäftigten deutlich machen. nahmen in ganzer Breite fordern. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: So ist (Beifall bei der CDU/CSU — Konrad Gilges es!) [SPD]: Wieso widersp richt sich das? Das ist logisch!) Erfreulich aber ist, daß die Stellen der Zivilbeschäftig- — Ja, sicher. Sie befinden sich in der Opposition und ten im Vergleich zu denen der Soldaten verhältnismä- mögen es als Recht der Opposition betrachten, auf der ßig geringer abgebaut werden. einen Seite immer mehr Einsparungen, gleichzeitig Der Personalabbau hat für den einzelnen betroffe- aber auf der anderen Seite immer mehr Ausgaben zu nen Beschäftigten gravierende Auswirkungen, aber fordern. wir stehen diesen Auswirkungen nicht ratlos und mit Nur, meine Damen und Herren, ein konstruktiver leeren Händen gegenüber. Beitrag zur Problembewältigung ist das nicht. Auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden Sie dadurch in der Öffentlichkeit nicht glaub- würdiger; Personalabbau ist kein einmaliger Vorgang, er pas- siert tagtäglich in der Privatwirtschaft. Unser soziales (Rudolf Kraus [CDU/CSU]: Recht hat er!) Sicherungssystem stellt dafür eine breite Palette an denn die Leute haben dieses Gehabe und Getue, das Möglichkeiten, etwa im Arbeitsförderungsgesetz, zur Sie hier an den Tag legen, schon längst durch- Verfügung. Herr Kollege Weisskirchen, genau das schaut. war der Satz, der auf Ihre marktwirtschaftlichen Aus- führungen hier gepaßt hat. Der dritte Wirkungsstrang bet rifft die struktur- schwachen Gebiete. Auch für diesen Bereich stehen Diese Palette reicht von der Förderung der berufli- uns Gremien und Instrumentarien zur Verfügung. So chen Bildung bis hin zur Umschulung. In einem sozia- hat der Bund-Länder-Planungsausschuß bereits im len Rechtsstaat benötigt man für die Bewältigung die- Januar, also vor ungefähr acht Monaten, ein Sonder- ser Probleme weder Krisenstäbe noch runde Tische, programm für die betroffenen strukturschwachen sondern vielmehr die Bereitschaft aller Beteiligten, im Gebiete beschlossen. Der Bundesminister der Finan- Rahmen der vorhandenen Instrumente Lösungen zu zen hat hierzu angeboten, innerhalb der Gemein- finden. schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt- Insgesamt, meine verehrten Kolleginnen und Kolle- schaftsstruktur " ein Sonderprogramm aufzulegen, gen, kann man sagen, daß die Zivilbediensteten in der das bis 1997 laufen könnte. Für dieses Angebot Bundeswehr auf Grund von Tarifverträgen oder Be- möchte ich mich bei Bundesfinanzminister Waigel amteneigenschaft vielfach besser abgesichert sind, als ganz besonders herzlich bedanken, dies in der Privatwirtschaft der Fall ist. Sollte es bei (Konrad Gilges [SPD]: Wieder eine Danksa dem Zeitplan für den Personalabbau bis 1995, zum gung!) Teil auch bis zum Jahre 2000 bleiben, so kann davon da es zum Ausdruck bringt, daß die Bundesregierung ausgegangen werden, daß der Abbau ohne soziale wirklich alles tut, um ihrer Verantwortung für die Probleme vonstatten gehen kann. Das ist unser ge- strukturschwachen Gebiete auch in dieser Frage meinsames Ziel, das Ziel des Verteidigungsministers Rechnung zu tragen. und das Ziel der Parlamentarier, aber auch das Ziel des Bundeswirtschaftsministers. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3377

Ernst Hinsken Ich gehe aber davon aus — das ist meine Bitte an dungsträger insgesamt Maßnahmen bereitgestellt den Bundesfinanzminister, an Herrn Staatssekretär bzw. Instrumente zur Verfügung gestellt haben, die Carstens, aber auch an den Bundeswirtschaftsmini- die sozialen und strukturellen Flankierungen des ster — , daß möglichst bald, und zwar in den nächsten Truppenabbaues ermöglichen. Wir sollten nun ge- Wochen, genaue Finanzzahlen darüber vorliegen, wie meinsam darangehen, die Einzelheiten auszuloten, man das Ganze flankieren möchte. wobei auch die konstruktive Mitwirkung der Opposi- tion der Sache dienlich sein könnte. Die Forderung der Länder, neben der Förderung der strukturschwachen Gebiete auch einen Anteil für Ich hoffe, daß Sie sich im Interesse aller Betroffenen die übrigen betroffenen Gebiete in Form einer Art zu einer solchen konstruktiven Mitwirkung durchrin- Strukturhilfezuweisung vorzusehen, ist sicher nicht gen können. Das wäre das beste, was Sie uns im Rah- von der Hand zu weisen. Aber — auch das möchte ich men dieser Debatte versprechen könnten. sagen — : Die Länder dürfen auch finanziell nicht aus Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ihrer regionalpolitischen Verantwortung entlassen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden. - (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Ein verstanden!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- teile ich dem Abgeordneten Dr. Seifert das Wort. Wenn das so gut funktioniert, wie bei uns in Bayern, dann ist es kein Problem. (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! (Lachen bei der SPD) Dr. Ilja Seifert Meine Damen und Herren! Die internationale Lage Wenn es aber so schlecht funktioniert wie in Bremen bietet die historische Chance, tatsächlich zu namhaf- oder in Schleswig-Holstein, dann sehe ich durchaus ten praktischen Abrüstungsschritten überzugehen. Probleme. Wenn es keinen Warschauer Pakt mehr gibt, dann (Beifall bei der CDU/CSU) kann ihn ja wirklich beim besten Willen niemand mehr als Bedrohung empfinden. Die Reduzierung von Für die neuen Bundesländer, die ja in ihrer Gesamt- Garnisonen sowohl der Bundeswehr als auch aller heit in die Gemeinschaftsaufgabe einbezogen sind, ausländischen Streitkräfte kann bei solchen namhaf- aber auch in den alten Bundesländern ist insbeson- ten Abrüstungsschritten ein wichtiger Teil sein. dere die Frage nach der Nutzung der freiwerdenden Flächen von Bedeutung. Nun gibt es aber — soweit ich das beurteilen kann; im Westen noch viel stärker als im Osten — in zahlrei- In diesem Zusammenhang halte ich es für erf order- chen Garnisonsstädten große Befürchtungen, daß die lich, daß die genaue Bezeichnung der freiwerdenden Auflösung der Militärstandorte, also die Auflösung Flächen und die Pläne für die dazugehörige Bebau- von „Festungen" , wirtschaftliche Probleme mit sich ung so schnell wie möglich vorgelegt werden, um eine bringen werde. Ich muß sagen, daß es mich mit großer zügige Planung vor Ort zu ermöglichen. Sorge erfüllt, wenn Menschen, darunter nicht wenige Ich bedaure in diesem Zusammenhang sehr, daß in Politiker, lieber Kriegsgerät horten, als sich Gedanken den alten und in den neuen Bundesländern freiwer- darüber zu machen, wie man die einmalige Chance dende Flächen, die sich zur Industrieansiedlung eig- nutzen kann, daß beträchtliche Potenzen sowohl per- nen, nicht verbilligt für gewerbliche Zwecke abgege- soneller als auch materieller, finanzieller und — last, ben werden können, da dies gegen EG-Recht ver- not least — ideeller Art für ausschließlich zivile, also stößt. Alle erdachten Konstruktionen, die darauf ab- ausschließlich friedliche Zwecke freiwerden. zielen, dieses Verbot zu umgehen oder zu durchbre- Ich möchte daran erinnern, daß vor nicht einmal chen, werden von der EG-Kommission leider mit Si- einem Jahr ein ganzer Staat Hals über Kopf in eine cherheit nicht akzeptiert werden. Konversion gestürzt wurde, die alle Bereiche des Le- Sicher zur Freude der durch die Standortreduzie- bens — wohlgemerkt: alle Lebensbereiche! — von rung betroffenen Kommunen, hat der Bundesfinanz- 16 Millionen Menschen betraf. Sie, meine Damen und minister erklärt, daß er bereit ist, bundeseigene Herren von der Koalition, sind doch diejenigen, die Grundstücke für bestimmte förderungswürdige nicht müde werden, gerade das als eine ausschließlich Zwecke verbilligt zu verkaufen. Nach seiner Planung, positive Sache darzustellen, eben wegen der vielen die ich ausdrücklich begrüße, sollen Grundstücke für Veränderungen, eben wegen der Kreativität, eben den sozialen Wohnungsbau und für Studentenwohn- wegen der zahlreichen Initiativen, die diese Lage heime um bis zu 50 % unter dem Verkehrswert veräu- zwingend herausfordert. ßert werden, und für gemeinnützige Einrichtungen Warum nun also ein solches Lamento, wenn man in soll die verbilligte Veräußerung ebenfalls gefördert einem Ort oder in einer — im Verhältnis zur DDR klei- werden. nen — Region neue Arbeitsplätze schaffen und eine neue Wirtschaftsstruktur finden muß? Noch dazu, (Zuruf von der SPD: Der Bundesfinanzmini wenn man sich darauf jahrelang konzeptionell, perso- ster als Spekulant!) nell, organisatorisch und finanziell vorbereiten kann? Für die betroffenen Kommunen zeichnet sich hier Noch dazu, wenn das weitere Umland — ich spreche eine positive Entwicklung ab. jetzt vor allem vom Westen — nicht nur intakt ist, son- dern in weiten Bereichen auch blüht und gedeiht? (Beifall bei der CDU/CSU) Oder will jetzt jemand behaupten daß auch in der Meine Damen und Herren, zusammenfassend alten BRD vorwiegend eine marode Wirtschaft anzu- möchte ich feststellen, daß die beteiligten Entschei- treffen ist? 3378 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dr. Ilja Seifert Eine der naheliegenden Möglichkeiten der zivilen über ein Einkommen, welches den Erwerb von Woh- Nutzung von Militärobjekten ist der Bau von Woh- nungseigentum oder die Bezahlung von Mieten in nungen auf diesen Grundstücken, insbesondere sogenannten freien Wohnungen zuläßt. dann, wenn sie ohnehin in bewohnten Gebieten, also Die Finanzausstattung der Kommunen reicht noch in Städten, liegen. Da Kasernen in aller Regel ver- nicht einmal aus, um allen gesetzlichen Verpflichtun- schiedene Produktions- bzw. Reparatureinrichtungen gen nachzukommen. Woher also sollen sie das Geld haben, ist auch eine Verbindung von Wohn- und Ar- nehmen, um Grundstücke zu kaufen, selbst wenn beitsplatz durchaus gegeben. diese billiger sein sollten als der sogenannte Ver- (V o r sitz : Vizepräsident Hans Klein) kehrswert? Die vorliegenden SPD-Anträge, insbesondere der Das alles zwingt zu der Schlußfolgerung: In den zweite, fordern die verbilligte Abgabe der Grund- neuen Bundesländern sind solche Grundstücke und stücke an die Kommunen, damit sie für den sozialen Wohngebäude, die dem Bund aus dem staatlichen Wohnungsbau nutzbar werden. Ich gehe im Namen Vermögen der DDR zugefallen sind oder die ihm der PDS/Linke Liste aber noch weiter und verlange durch den Abzug der sowjetischen Streitkräfte noch die kostenlose Übergabe zumindest im Osten zufallen werden, die für den sozialen Wohnungsbau Deutschlands; denn die Kommunen dort können auch oder andere gemeinnützige Zwecke benötigt werden, die Preise von 20 % des Verkehrswertes nicht aufbrin- den Kommunen grundsätzlich kostenlos zu übertra- gen. Selbst die kostenlose Übergabe stellt die Kom- gen. Was die durch die Reduzierung der Streitkräfte munen bei ihrer katastrophalen Finanzausstattung und den Truppenabzug frei werdenden Wohnungen vor fast unlösbare Probleme. angeht, so fordern wird ebenfalls die kostenlose Über- gabe in die Verfügungsgewalt der Kommunen und Die Aufgabe der Politik besteht meines Erachtens den vordringlichen Einsatz öffentlicher Mittel für die u. a. darin, das Menschenrecht auf angemessenen Sanierung des Bestandes. Wohnraum für jedermann tatsächlich zu gewährlei- Die Konversion bietet also den Kommunen eine sten, sowie darin das Wohnumfeld menschengerecht große Chance, ihre Kreativität zu gestalten. „Menschengerecht" heißt: für Eltern zu beweisen. Dazu be- und Kinder, für Alte und Jugendliche, für Menschen dürfen sie jedoch der Unterstützung der Bundesregie- rung, z. B. wie gesagt, durch die kostenlose Übergabe mit und Menschen ohne Behinderungen, für Familien der Grundstücke. und Singles, für Frauen und Männer, für Deutsche und Ausländer, für Arbeiter, Angestellte, Freiberufler, Wir als Parlamentarier haben die Pflicht, darauf zu für alle Menschen also: Platz, Freiraum für die Entfal- achten, daß hier nicht eine neue Quelle für riesige tung aller Menschen, ohne Diskriminierung gegen ir- Spekulationsgewinne erschlossen wird, sondern daß gendwen. wir dem Ziel, das Menschenrecht auf angemessenen Wohnraum zu gewährleisten, näherkommen. Aber dem stehen die wachsende Zinsbelastung und die rapide steigenden Grundstückspreise gegenüber, Gestern, in der Aktuellen Stunde, forderte ich die die den Wohnungsbau für die breite Masse der Bevöl- Bundesbauministerin auf, Wohnungen zu bauen und kerung unbezahlbar machen. In der von der Bundes- keine Luftschlösser. Heute füge ich hinzu: Errichten regierung mit dem Finanzplan 1991-1995 vorgeleg- wir Kinderspielplätze auf Festungsgeländen. ten Projektion wird dies mit vornehmer Zurückhal- Ich danke für die Aufmerksamkeit. tung wie folgt umschrieben: (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Im Vergleich ... dürfte die Wohnungsbautätig- keit angesichts gestiegener Bau- und Finanzie- rungskosten trotz eines nach wie vor hohen Woh- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Herr nungsbedarfs nur unterproportional zunehmen. Abgeordnete Dr. Walter Hitschler. Mit dieser Erklärung kapituliert die Bundesregierung in der Frage der Sicherung bezahlbarer Wohnungen Dr. Walter Hitschler (FDP): Herr Präsident! Meine für alle vor den Profitinteressen des Großkapitals und sehr verehrten Damen und Herren! Eine gute Außen- der Grundstücksspekulanten. Wir als Abgeordnete politik und für uns glückliche Entwicklungen haben dürfen das nicht zulassen. es ermöglicht, daß große Truppenteile unserer bisher in der Bundesrepublik stationierten alliierten Verbün- Der vorliegende Antrag kann sicher nicht als umfas- deten abgezogen werden können und daß wir unsere sende Lösung der Finanzierbarkeit des sozialen Woh- eigenen Streitkräfte erheblich reduzieren können. nungsbaus betrachtet werden, aber sehr wohl als ein Schritt in die richtige Richtung. Zumindest ist er ge- Für die alliierten Streitkräfte ist noch nicht in eignet, das ungebremste Überwälzen der Grund- vollem Umfang bekannt, welche Standorte wo und stückspreise auf die Mieten etwas zu dämpfen. Aus- wann aufgelassen werden. Für die Bundeswehr liegt gehend von der Situation in den neuen Bundeslän- das Ressortkonzept, das Planungssicherheit gewähr- dern sind wir jedoch der Auffassung, daß er unzurei- leistet, vor. Für den Teil der zivilen Verwaltung ist chend ist. Vergegenwärtigen wir uns die Situation: eine Konzeption in Arbeit. Dadurch werden bisher Die Bevölkerung der DDR hatte nur wenig Gelegen- militärisch genutzte Liegenschaften frei und stehen heit, Ersparnisse anzusammeln; das Wenige wurde für eine zivile Anschlußnutzung zur Verfügung. mit der Währungsunion noch halbiert. Angesichts der Das ist ein Teil der Friedensdividende, von der katastrophalen Wirtschaftslage, der Massenarbeitslo- Hans-Dietrich Genscher immer gesprochen hat. Es sigkeit und generell niedriger Einkommen verfügt nur kommt jetzt darauf an, sie nicht zu verplempern, son- ein winziger Bruchteil der Bevölkerung der Ostländer dern als Chance für den Strukturwandel zu begreifen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3379

Dr. Walter Hitschler und zu nutzen. Die Dividende hätte sicher hier und da Die flankierenden Maßnahmen sollten geeignet sein, noch etwas reichlicher ausfallen können, wenn es bei die sozialen Auswirkungen zu mildern und die räum- der Erstellung des Ressortkonzepts gelungen wäre, liche und wirtschaftliche Struktur eines Standortes zu statt lediglich zu vielfacher Ausdünnung von Stand- verbessern. orten zur verstärkten Zusammenlegung und Konzen- Große Sorgen bereitet dabei die Handhabung der tration von Einheiten zu kommen. Verwertung des dem Bund zugefallenen Grundver- Auch hätten wir uns gewünscht, daß der Grundsatz mögens und seiner Aufbauten. In diesem Zusammen- des Entsatzes von Ballungsgebieten und der Belas hang müssen wir die Erfüllung verschiedener Forde- sung von Einheiten in strukturschwachen Regionen rungen bei der Bundesregierung reklamieren: stärkere Berücksichtigung gefunden hätte. Wir wis- Erstens. Wir wollen sichergestellt wissen, daß eine sen allerdings auch, daß das ein schwieriges Geschäft unverzügliche Anschlußnutzung durch die Bundes- war, bei dem sich viele Interessenlagen gekreuzt ha- vermögensverwaltung in der Praxis auch tatsächlich ben. gewährleistet wird. - (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Der Truppenabbau hat in vielen Regionen überwie- der SPD) gend wünschenswerte Effekte, insbesondere in Bal- Zweitens. Die Bundesvermögensverwaltung sollte lungsgebieten mit entlastenden Wirkungen auf den sich bei der Grundstücksverwertung, da sie erfah- Arbeits- und Wohnungsmärkten. In strukturschwa- rungsgemäß dazu alleine nicht in der Lage ist, der chen Räumen hingegen ist der Truppenabzug mit er- Hilfe erfahrener Fachleute und Institutionen bedienen heblichen negativen Auswirkungen im Blick auf ent- können. Gegebenenfalls sollte der Bund diese Auf- fallende Arbeitsplätze und auf die Wohnungsmärkte gabe den Ländern in Auftragsverwaltung übertra- durch Kaufkraftentzug und durch den Wegfall von gen. Aufträgen an die mittelständische Wirtschaft verbun- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den. der SPD) Diese Entzugseffekte werden dabei zu einem Zeit- Drittens. Die Bundesregierung muß Vorsorge dafür punkt wirksam, in dem auch andere Hilfen, beispiels- treffen, daß wertvolle Gebäulichkeiten und techni- weise durch Umschichtungen von Mitteln für den sche Anlagen, beispielsweise auf Flugplätzen, gewar- Straßenbau, den Wohnungsbau oder die Städtebau- tet, instand gehalten und bewacht werden, damit sie förderung, entfallen sowie die Mittel aus dem Struk- weder dem bevorstehenden Winter noch dem Vanda- turhilfegesetz umgelenkt werden. lismus zum Opfer fallen. Die strukturschwachen Regionen werden davon (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zum Teil in erheblichem Ausmaß betroffen. Drei Zah- der SPD) len mögen dies verdeutlichen: Der Anteil der Ausga- ben der Stationierungsstreitkräfte an der Bruttowert- Viertens. Der Verkauf von Liegenschaften darf we- schöpfung einer Region macht beispielsweise im der durch langwierige Verkehrswertermittlungen Landkreis Osterholz in Niedersachsen zwischen 8 und noch durch jahrelange Aufrechnungsverhandlungen 10,7 % insgesamt aus. Im Landkreis Kitzingen in Bay- mit den Alliierten ern sind es zwischen 9,7 % und 12,9 % und im Land- (Beifall der Abg. B rigitte Schulte [Hameln] kreis Kaiserslautern in Rheinland-Pfalz zwischen [SPD]) 24,6 und 33,0 % insgesamt. Das heißt, die Wirkungen über Kosten der Altlastenbeseitigung hie und Bewer- kumulieren und häufeln sich zu echten Problemsitua- tung der Aufbauten da verzögert werden. tionen. (Zurufe von der SPD: Richtig! — Sehr gut! — (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: So ist es, Da bewegt sich ja etwas!) Herr Kollege!) Fünftens. Das zu erwartende Altlastenproblem darf Wir sind daher der Auffassung, daß der Bund, aber nicht dazu führen, daß eine sinnvolle zivile Verwer- wirklich beschränkt auf gravierende Fälle, flankie- tung auf Jahre blockiert bleibt. rend helfen muß, um einen sinnvollen Strukturwandel zu ermöglichen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD — Otto Reschke [SPD]: Wenn Sie so (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten weitermachen, kann ich meine Rede weg der CDU/CSU) werfen!) Der Bundeswirtschaftsminister wird deshalb aufge- Die Altlastenbeseitigung sollte vom Bund aus dem fordert, umgehend ein Programm vorzustellen, das für Topf der Erlöse aus dem Verkauf dieser Grundstücke strukturschwache Regionen Hilfen zum begleitenden mitfinanziert werden. Strukturwandel hin zur zivilen Anschlußnutzung bis- (Beifall bei der FDP) her militärisch genutzter Flächen vorsieht. Sechstens. Beim Verkauf sind Rückerwerbswün- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sche der früheren Eigentümer des Grund und Bodens, der CDU/CSU) die in vielen Fällen enteignet wurden, angemessen zu Die Initiative und Entwicklungsplanung dazu muß berücksichtigen, sofern diese nicht bereits einen An- selbstverständlich vor Ort geleistet werden. Bund, spruch aus der Rückenteignungsklausel des § 57 des Länder und Kommunen haben dabei bereits zusam- Landbeschaffungsgesetzes geltend gemacht haben mengearbeitet und müssen dies auch weiterhin tun. oder geltend machen. 3380 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dr. Walter Hitschler Eine Bevorzugung der Kommunen, wie viele sie chen Problem haben wir es auch im vorliegenden Fall wünschen, kann unsererseits bei der Grundstücksver- zu tun. wertung aber keineswegs in Frage kommen. (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das ist aber (Beifall bei der FDP) ein Witz!) Da den Kommunen jedoch die Planungshoheit über Der Antrag der SPD-Fraktion zu Tagesordnungs- die Grundstücke zusteht, ist auf ein enges Zusammen- punkt 7 a läuft in weiten Teilen Überlegungen bzw. wirken mit ihnen Bedacht zu nehmen. Planungen der Bundesregierung für das Konversions Die Bereitschaft des Bundesfinanzministers, erheb- programm hinterher; liche Preisabschläge vom Verkehrswert einzuräu- (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das ist ein men, wenn die Grundstücke bestimmten sozialen Witz, Herr Kollege Beckmann!) Zwecken dienen sollen, wird von uns besonders be- zum anderen werden vom Bund Aktivitäten gefordert, grüßt. Wir machen darüber hinaus den Vorschlag, den die in den Kompetenzbereich der Länder fallen. verbleibenden Restwert, der bar zu entrichten- wäre, in Form einer Sachleistung des Bundes als seinen För- Lassen Sie mich grundsätzlich folgendes feststellen. deranteil vorrangig p rivaten Investoren oder den Erstens. Wir alle haben die Abrüstung gewollt; denn Kommunen über die Länder als Finanzhilfe des Bun- sie bringt uns nicht nur mehr Sicherheit, sondern setzt des zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus und auch in erheblichem Maße Ressourcen für wichtigere der studentischen Wohnraumversorgung zur Verfü- Zwecke frei. Zweitens. Wir alle wissen, daß die Abrü- gung zu stellen. stung für viele Regionen kurzfristig mehr Vorteile als Belastungen mit sich bringt. Dies gilt insbesondere für (Beifall bei der FDP) die Ballungsgebiete. Das Wort Friedensdividende Nur auf diese Weise kann unseres Erachtens gewähr- — eben schon aufgegriffen — ist mit Sicherheit kein leistet werden, daß auch tragbare Sozialmieten kal- leeres Wort. kuliert werden und daß dann ausschließlich die Aus- Ich möchte mich auf einige wesentliche Punkte des bau- und Umbaukosten einer solchen Modernisierung Antrages der SPD-Fraktion beschränken: die Höhe der Miete bestimmen. Gerade die sozial Schwächsten, die mit Wohnberechtigungsschein mit Erstens. Die Bundesregierung soll dem Antrag zu- Dringlichkeit, könnten davon in erheblichem Maße folge eine umfassende Strukturanalyse der Standorte profitieren. Sie wissen, daß wir an den Wohnungs- der Bundeswehr und der Stationierungsorte der aus- märkten bei der Versorgung dieser Problemgruppen ländischen Streitkräfte vorlegen, um die regionalwirt- auch tatsächlich die größten Schwierigkeiten haben. schaftlichen Konsequenzen der Abrüstungsschritte beurteilen zu können. Auf der Basis dieser Analyse Die beiden vorliegenden Anträge der Opposition — so der Antrag der SPD — soll dann ein umfassendes bedürfen der genauen Prüfung in den Ausschüssen. Sonderprogramm zur Flankierung der Abrüstungs- Ich verkenne nicht, daß sie Elemente enthalten, die folgen konzipiert werden. Die Bundesregierung, diskussionsfähig sind; aber nach dem, was ich ausge- meine Damen und Herren, kann dies natürlich ma- führt habe, ist, glaube ich, auch hinreichend deutlich chen, wenn das Parlament es ausdrücklich wünscht; geworden, daß wir sie in vielen Einzelpunkten, wie nur werden wir wenig mit solchen Strukturanalysen wir das eben von der Opposition leider auch gewohnt anfangen können, sind, für maßlos überzogen halten. — Vielen Dank. (Walter Kolbow [SPD]: Ja, Sie nicht!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU — Walter Kolbow [SPD]: Der denn nach den Regeln des Grundgesetzes liegt die Schluß war nicht so gut, aber sonst . . .! — Durchführung regionalwirtschaftlicher Förderpro- Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Es kann gramme bei den Ländern. noch etwas werden!) (Zustimmung bei der FDP) Damit entscheiden auch die Länder über die konkre- ten Projekte und auch darüber, inwieweit sie die Er- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem gebnisse solcher Strukturanalysen bei der Regional- Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesmini- förderung berücksichtigen. ster für Wirtschaft, Klaus Beckmann. (Otto Reschke [SPD]: Aber Herr Beckmann, wie sollen die Länder in drei Monaten Kon zepte entwickeln?) Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- — Es ist deshalb eindeutig Aufgabe der Länder, Herr desminister für Wirtschaft: Herr Präsident! Meine sehr Kollege Reschke, solche Strukturanalysen durchzu- verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wie wir alle wis- führen. Ich gehe auch davon aus — das will ich hier sen, ist Oppositionsarbeit ja oft mit Enttäuschungen betonen — , daß die Länder diese Analysen bereits verbunden, durchgeführt haben; denn ansonsten wäre mir unklar, (Walter Kolbow [SPD]: Ja, Sie haben sie auf welcher Basis denn die Forderungen der Länder schon lange nicht mehr gemacht! — Otto gegenüber dem Bund entwickelt worden sind. Reschke [SPD]: Opposition kommt von Op (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!) fer!) Meine Damen und Herren, auch die Bundesregie- weil der Oppositions-Hase meistens etwas später am rung ist für ein regionales Flankierungsprogramm im Ziele ankommt als der Regierungs-Igel. Mit einem sol Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe, wie es im Pla- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3381

Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann nungsausschuß bereits am 25. Januar dieses Jahres gerade jetzt wäre es abwegig, die knappen öffentli- beschlossen worden ist. Ich komme gleich darauf zu- chen Mittel nach dem Gießkannenprinzip zu vertei- rück. len. Zum Stichwort „Sozialplan für Berufssoldaten so- Die Bundesregierung hält es strukturpolitisch für wie für zivile Beschäftigte bei der Bundeswehr und bei sinnvoller, die bestehenden bewährten regionalpoliti- den alliierten Streitkräften" lassen Sie mich folgendes schen Förderinstrumente zu nutzen und zu verstär- sagen. Wie Sie wissen, hat das Bundeskabinett am ken. Deshalb denken wir ganz besonders an folgende 24. Juli dieses Jahres den Entwurf des Personalstärke Fördermaßnahmen zur regionalpolitischen Flankie- gesetzes beschlossen. Für die ausscheidenden Berufs rung der Abrüstungsfolgen: soldaten ist damit ein dichtes soziales Netz ge- (Walter Kolbow [SPD]: Jetzt sind wir aber knüpft. gespannt!) (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Und für die erstens an ein Sonderprogramm im Rahmen der Ge- Kantinenmitarbeiter?) meinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen - Wirtschaftsstruktur" und zweitens an ein Sonderpro- Die Bundesregierung wird damit ihrer Verantwortung gramm für städtebauliche Sanierung und Entwick- gegenüber den Soldaten und ihren Familien ge- recht. lungsmaßnahmen in strukturschwachen Gebieten. (Walter Kolbow [SPD]: Zu wenig! — B rigitte Auch die zivilen Beschäftigten bei der Bundeswehr Schulte [Hameln] [SPD]: Wie finanziert?) und den alliierten Streitkräften werden nicht durch das soziale Sicherungsnetz fallen. Ein weiteres Stichwort, meine Damen und Herren, betrifft die Sanierung von Altlasten auf militärischen (Walter Kolbow [SPD]: Na?) Liegenschaften. Auf Angestellte und Arbeiter der Bundeswehr sollen (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das ist die Tarifverträge über den Rationalisierungsschutz doch Ihre Aufgabe!) angewendet werden. Vorzeitiges Ausscheiden ab Lassen Sie mich diesbezüglich ein Wort zur Rechts- dem 55. Lebensjahr soll in Anlehnung an das für die lage sagen: Freiwerdende militärische Liegenschaf- Beamten geltende Anpassungsgesetz erfolgen. Für ten gehen in die allgemeine Vermögensverwaltung die zivilen Beschäftigten bei der Truppe wird der ge- des Bundes über. Als Eigentümer ist der Bund für die plante Beschäftigungsabbau bis 1995 zu etwa zwei Altlasten, für die Gefahrenabwehr und grundsätzlich Dritteln abgeschlossen sein. Für die Beschäftigten in auch für die Altlastensanierung zuständig. Er ist aber der Wehrverwaltung ist ein Zeitraum bis über das Jahr nicht verpflichtet, die Liegenschaften um jeden Preis 2000 hinaus vorgesehen. und sofort zu sanieren. Der Bundesminister der Ver- Die meisten Arbeitnehmer, die bei den Stationie- teidigung erfaßt deshalb zur Zeit sämtliche Altlasten- rungsstreitkräften entlassen werden müssen, haben verdachtsflächen und ermittelt den Bedarf an Gefah- Anspruch auf Leistungen nach dem Tarifvertrag „So- renabwehr. ziale Sicherung". Dieser Tarifvertrag unterstützt die Meine Damen und Herren, die Bundesregierung allgemeinen Maßnahmen zur Wiedereingliederung setzt sich darüber hinaus aktiv für eine zügige zivile dieser Arbeitnehmer durch zusätzliche, insbesondere Anschlußnutzung der militärischen Liegenschaften finanzielle Hilfen. Sie sehen also, meine Damen und ein. Sie ist deshalb auch bereit, Preisabschläge für Lie- Herren: Den Sozialplan, den die SPD-Fraktion hier genschaften mit Altlasten in Höhe der Sanierungsko- fordert, gibt es bereits. sten, maximal bis zur Höhe des Verkehrswerts, zu gewähren. Über die verbilligte Abgabe von bundesei- (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Das ist doch gar nicht wahr! Es ist nicht annähernd genen Liegenschaften wird gleich noch mein Kollege Carstens sprechen. quantifiziert!) Meine Damen und Herren, der heute von der SPD Zum Stichwort „regionalwirtschaftliche Förder- Fraktion eingebrachte Antrag zu Tagesordnungs- programme" möchte ich folgendes sagen: Die Bun- punkt 7 a kann der Bundesregierung leider keine desregierung ist grundsätzlich bereit, durch regional- neuen Wege für ein wirksames Konversionspro- wirtschaftliche Förderprogramme dort zu helfen, wo gramm weisen. Wir, die Bundesregierung, werden Abrüstungsmaßnahmen einschneidende regional- tun, was notwendig ist. wirtschaftliche Konsequenzen haben. Die SPD-Frak- tion fordert in ihrem Antrag regionale Sonderpro- Vielen Dank. gramme. Ich wäre wirklich sehr dankbar gewesen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wenn Sie dies etwas konkreter formuliert hätten, denn auch Ihnen sind die regionalwirtschaftlichen Förder- Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete B ri instrumente des Bundes bekannt. Aber ich denke, -gitte Schulte, Sie haben das Wort. vielleicht wollten Sie nur Ihren Parteifreunden in den Landesregierungen nicht in die Parade fahren; denn in den Gesprächen, die wir mit den Ländern geführt Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Herr Präsident! haben, wurde sehr deutlich, daß insbesondere den Meine Damen und Herren! Als die SPD-Fraktion, Herr alten Bundesländern an einer Neuauflage des Struk- Kollege Beckmann, am 1. Juli 1991 ihren Antrag zum turhilfegesetzes liegt, und zwar mit der Folge, daß der Ausgleich der Folgen von Abrüstung, Truppenredu- Bund im Grunde keine Möglichkeit hätte, sicherzu- zierung und Standortauflösung in strukturschwachen stellen, daß die Mittel auch wirklich dort ankommen, Gebieten einbrachte, da hatte sie noch die Hoffnung, wo sie gebraucht würden. Meine Damen und Herren, daß so schwierige Fragen im Konsens zwischen Regie- 3382 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Brigitte Schulte (Hameln) rung und Opposition einvernehmlich behandelt wer- Niedersachsens anwesend war und daß er auch am den könnten. Es war jedoch ein Irrtum. Der Bundes- 5. August da war. verteidigungsminister, der heute morgen vom Kon- (Widerspruch bei der CDU/CSU) sens in der Verteidigungspolitik gesprochen hat, hat — Entschuldigung, ich kenne ja nun die Mitarbeiter am 5. August verkündet, wo er die Truppenreduzie- der Ministerien! Auch schon vorher haben wir diese rung in den nächsten drei Jahren vornehmen will. Zusammenarbeit angestrebt. Eine seriöse Beratung Berechtigte Wünsche der Länder, berechtigte Wün- war aber nicht möglich. Ein so unfaires Umgehen des sche besonders betroffener Regionen wurden so gut Bundes mit den Ländern und den durch sie vertrete- wie gar nicht berücksichtigt. Die Länder hatten gar nen Kommunen hätte ich mir nicht träumen lassen. nicht die Chance, eine anständige Analyse vorzube- reiten. Im übrigen bleibt dabei festzustellen: Was die (Beifall bei der SPD) Bundeswehr hier vorlegt, verantwortet vom Bundes- Ich stelle mir vor, wir Sozialdemokraten hätten in der ministerium der Verteidigung und von seinem Mini- Verantwortung so etwas getan! ster, ist ein reines Reduzierungskonzept. Es- hat nichts mit einer zukunftsweisenden Bundeswehrstruktur zu Vizepräsident Hans Klein: Erlauben Sie eine wei- tun. tere Zwischenfrage? (Beifall bei der SPD — Zuruf von der FDP: Sie hatten gar kein Interesse daran!) Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Bitte. —Wir hatten sehr viel Interesse daran. Sie reden hier das Gegenteil von dem, was Sie genau wissen. Jürgen Koppelin (FDP) : Frau Kollegin, sind Sie be- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Nieder reit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir zwar am 5. Au- sachsen!) gust darüber beraten haben und daß Niedersachsen — Ich bin u. a. Vorsitzende der sicherheitspolitischen da auch vertreten war, Kommission in Niedersachsen. (Zuruf von der SPD: Aha!) (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Sie ja, daß ich mir aber die Anwesenheitslisten der Länder aber nicht der Ministerpräsident!) angeschaut und festgestellt habe, daß auch Schles- — Der hatte ein großes Interesse. Wir haben das sehr wig-Holstein so gut wie nie daran beteiligt war? genau abgestimmt. Sie, meine Damen und Herren von der Opposi- Brigitte Schulte (Hameln) (SPD) : Also, das kann ich tion — — nicht sagen. Das machen Sie bitte unter sich aus. (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Das Entscheidende ist ganz schlicht, daß die Län- —Das war ein vorauseilender Wunsch, aber es wird ja der, um die wir uns kümmern, genauso betroffen wa- bald so sein, wenn Sie so weitermachen. ren und daß sich sozialdemokratisch geführte Länder wie christdemokratisch und christlich-sozial geführte (Beifall bei der SPD) Länder schlecht behandelt fühlen, und dies zu Alle Folgen, die die betroffenen Gemeinden, die Recht. Regionen und die Länder durch den raschen Abbau (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wo sind —unkoordiniert übrigens zwischen den Streitkräften die Vertreter der Länder denn heute?) unserer Partner und der Bundeswehr — zu tragen ha- ben, hätten wir gemeinsam bedenken müssen, denn Lieber Herr Kollege Beckmann, es wird ja sogar sie werden außerordentlich schwierig werden. noch ein Stück dreister. Was ist denn hier in bezug auf die Forderung, daß tatsächlich eine finanzielle Entla- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) stung der Kommunen und der betroffenen Regionen durch den Bund erfolgen muß, passiert? In den Ver- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Koppelin zu handlungen des Vermittlungsausschusses und auf einer Zwischenfrage. Druck der Minister — unter Unterstützung übrigens der süddeutschen Länder — ist Ihnen abgetrotzt wor- den, daß überhaupt ein Fonds eingerichtet wird. Bis Jürgen Koppelin (FDP): Frau Kollegin, ist Ihnen be- dahin haben Sie gar nichts vorliegen gehabt! Obwohl kannt, daß bei Sitzungen des Verteidigungsausschus- allen im Bundesministerium der Verteidigung und in ses auch die Länder Vertreter entsenden können? der Bundesregierung klar war, daß besonders die Dann hätten sie natürlich die Diskussionen miterlebt, ländlichen Räume durch die Reduzierung betroffen die wir im Verteidigungsausschuß hatten. Sind Sie sein werden, gab es keine Vorschläge zur Konver- bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß nur die Länder sion. Bayern und Baden-Württemberg regelmäßig Vertre- Das, was Sie heute vorlegen und worüber meine ter bei den Sitzungen des Verteidigungsausschusses Kollegen noch ausführlich reden werden, reicht über- hatten? haupt nicht aus. Sie sind zum Jagen getragen worden, (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört! — weil es entsprechenden Protest und glücklicherweise Zuruf von der FDP: Das ist sehr interes- auch eine andere Zusammensetzung des Bundesrates sant!) gibt. Da können wir uns erfreulicherweise, Herr Kol- lege Hinsken, zwar nicht so sehr auf Sie, aber, so denke ich, doch auf das Land Bayern, verlassen. Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Herr Koppelin, ge- rade bei diesen wich tigen Fragen möchte ich Ihnen ( [CDU/CSU]: Auf Ernst Hins sagen: Nehmen Sie zur Kenntnis, daß der Vertreter ken kann man sich auch immer verlassen!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3383

Brigitte Schulte (Hameln) — Sonst ja, aber heute bei der Rede kann ich das aus- beitsplatz findet. Es geht um den Sachbearbeiter einer drücklich nicht sagen. Standortverwaltung, der seine Lebensplanung anders Besonders erfreut war ich in diesem Zusammen- eingestellt hat. Es geht, Herr Kollege, wirklich auch hang darüber, daß auch die Kommandeure vor Ort, um den Arbeiter, der mehr als 30 Jahre die Pflege der Herr Staatssekretär, der Sie heute das Bundesministe- Plätze vorgenommen hat und der jetzt mit 45 bis rium der Verteidigung vertreten, die Probleme gese- 50 Jahren sagt: Er findet keinen neuen Arbeitsplatz. hen haben, die in ländlichen Räumen durch eine Ich sage Ihnen: Das ist es, worum es wirklich geht. starke Reduzierung eintreten. Das hat nicht dazu ge- (Beifall bei der SPD) führt, daß es bis Bonn weitergegeben worden ist und Die Entlastungswirkungen in den Ballungsräumen daß es sich in Bonn entsprechend ausgewirkt hat. begrüßen wir wohl alle, weil das in der Tat notwendig Meine Damen und Herren, wie unausgewogen, wie ist. Ich habe mich zunächst auch gefreut, Herr Kollege wenig sorgfältig, wie überhaupt in den Folgen nicht Glos, daß nicht der hier angesprochene Finanzmini- abzuschätzen die bisherigen Pläne der Bundesregie- ster, dem gedankt wurde, sondern Haushalts- und rung sind, ist auch daraus erkennbar, daß wir- bis zum Verteidigungskollegen der Union und der FDP am heutigen Tage nicht wissen, wo die zivile Verwaltung 19. Juni den Versuch unternommen haben, wenig- der Bundeswehr abgebaut wird und welche Folgen stens eine Verbilligung der Liegenschaften vorzu- das für die Region zusätzlich hat. Ich will Ihnen nur ein nehmen. Offensichtlich sind die alle weit weg von der paar Beispiele sagen. finanziellen Lage der Kommunen, offensichtlich wis- Diese sehr schwierige Frage der Reduzierungen, sen sie alle nicht, wie groß eigentlich der Wert der die ganz besonders ländliche Räume treffen wird Grundstücke ist! Offensichtlich wissen sie nicht, daß — niemand von uns ist doch unglücklich darüber, daß fast alle Kommunen diese attraktiven Grundstücke in wir über Abrüstung reden können, und niemand ist den Innenstädten nicht bezahlen können, dafür aber doch auch traurig darüber, daß Regionen betroffen auf dem flachen Land, wo viele Flächen frei werden, sind, die durch die Spannungszeiten, die wir vorher überhaupt keine Interessenten da sind, um diese zu hatten, ganz besonders mit militärischen Einrichtun- kaufen. gen belastet waren. Ich hatte am Anfang, Herr Kollege Dr. Hitschler, Da denke ich genauso an Rheinland-Pfalz wie an gehofft, daß Sie Ihre wirklich guten Ansätze auch kon- Bayern, an Nordhessen, an Niedersachsen oder an sequent durchführen würden. Das hat mir gefallen. Schleswig-Holstein. Aber dieser gravierende Abbau Nur haben Sie hinterher gesagt, die Kommunen könn- ist eben, Herr Kollege Beckmann, der Verlust von tau- ten da keine Vergünstigung haben. Ich bitte Sie sehr senden Dauerarbeitsplätzen. Wenn Sie mal Weser- herzlich: Denken Sie darüber nach, wie Sie für eine Ems nehmen: Dort haben Tausende von Menschen Stadt wie Wilhelmshaven oder eine Stadt wie Olden- gewußt: Wenn ich als Unteroffizier und Feldwebel zur burg, traditionell militärische Standorte, am Ende Bundeswehr gehe, dann habe ich da mein Einkom- wirklich neue Arbeitsplätze schaffen können. Wenn men; ich werde in meinem Umkreis bleiben. Für den wir auch den 55jährigen nach Hause gehen ließen, so gibt es keinen neuen Arbeitsplatz. Ich muß Ihnen ehr- haben der Sohn oder die Tochter noch nicht den Ar- licherweise sagen: Wenn in einem Bundesland wie beitsplatz, den sie früher bei der Bundeswehr gefun- Niedersachsen — deswegen wundert es mich, daß der den hätten. Dies möchten wir Ihnen sehr ans Herz Handwerksmeister darüber nichts gesagt hat, denn legen. Sozialdemokraten sind im Interesse der betrof- Bayern ist genauso betroffen — früher über 100 000 fenen Region, im Interesse der Arbeitnehmer keines- Soldaten ernährt wurden, 100 000 Soldaten unterge- wegs dazu bereit, hier nur düstere Prognosen zu ma- bracht wurden, und es werden jetzt nicht mal 60 000 len. Wir wären auch bereit gewesen, gemeinsam in sein —, einem Konsens diese Aufgaben zu lösen. Sie haben (Michael Glos [CDU/CSU]: Ihr seid doch für die ausgestreckte Hand abgelehnt. Sie tragen die Fol- viel mehr Abrüstung gewesen!) gen. Und wir werden das draußen deutlich sagen. dann trifft es ganz besonders Handwerk und Handel. (Beifall bei der SPD — Ernst Hinsken [CDU/ Wenn von 33 000 Bediensteten am Ende 20 000 übrig- CSU]: Für das Negative waren schon immer bleiben werden, dann sind das Dauerarbeitsplätze, wir zuständig!) die Sie nicht ersetzen können. Dafür hätten Vorberei- tungen getroffen werden müssen, und die sind nicht erfolgt. Das Wort hat die Abge- (Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP] mel Vizepräsident Hans Klein: det sich zu einer Zwischenfrage) ordnete Elke Wülfing.

Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete, ge- statten Sie eine Zwischenfrage? Elke Wülfing (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wie ist es doch verwunderlich, in was für einem hektischen Ak- Brigitte Schulte (Hameln) (SPD): Nein, nicht tionismus sich inzwischen die SPD befindet, wenn es mehr. um das Thema Abrüstung und seine Folgen geht. Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Kollege: Es geht (Beifall bei der CDU/CSU) nicht um den Berufsoffizier, es geht auch nicht um den zivilen Mitarbeiter im höheren Dienst, es geht um die Am 25. Juni hat die SPD eine Kleine Anfrage gestellt, Kantinenfrau, die mit 40 Jahren keinen neuen Ar- zu deren Beantwortung allein 42 eng beschriebene 3384 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Elke Wülfing DIN-A-4-Seiten erforderlich waren. Die Antwort liegt freuen uns ebenfalls darüber, daß wir nun wieder ein seit dieser Woche vor. souveräner Staat sind, der in gleichberechtigter Part- (Zuruf der Abg. Brigitte Schulte [Hameln] nerschaft selbst bestimmen kann, wie unsere Vertei- [SPD]) digungsbereitschaft auszusehen hat. Deswegen sind wir ebenfalls froh, daß sich Teile unserer Indust rie von — Offensichtlich haben Sie die Antworten schon vor- der Rüstungsgüterproduktion auf die zivile Produk- her gewußt. Denn Sie haben Ihren Antrag, den wir tion umstellen können. heute beraten, fünf Tage nach Stellung der Anfrage eingebracht. Dort sind Forderungen enthalten, die Ich wundere mich allerdings über die plötzliche durch die Beantwortung Ihrer Kleinen Anfrage und Sorge der SPD um die Rüstungsindustrie. So haben die Beantwortung der Kleinen Anfrage der CDU/CSU Sie das bisher noch nie an den Tag gelegt. Ich wun- vom 4. Juni 1991 schon erledigt waren. Hätten Sie dere mich auch darüber, daß Sie die Einsparungen im etwas mehr Geduld bewiesen, hätten Sie heute besser Verteidigungshaushalt, die erst in den kommenden ausgesehen. Jahren entstehen werden und entstehen können, mit - (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Ihrer Forderung nach regionalen Sonderprogrammen, Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Sagen Sie die in regionalen Konversionskonferenzen an soge- das den Menschen draußen!) nannten runden Tischen erarbeitet werden sollen, zum hunderttausendsten Mal verteilen wollen. Es — Ich bin noch nicht fertig. wäre sicherlich eine Fleißarbeit wert, nachzuzählen, Außerdem kann ich die Horrorvisionen von leerge- wie viele Verwendungszwecke Sie für diese Einspa- räumten Landschaften und armen Kommunen, die auf rungen inzwischen gefunden haben. Grund des Truppenabbaus Ihrer Meinung nach ent- stehen werden, verehrte Vorrednerin, so wirklich Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Fol- nicht teilen. Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, gen des Truppenabbaus in den einzelnen Regionen daß gerade Sie es waren, die seit Jahren Truppenab- unseres Landes bringen für die Länder und Kommu- bau in weit größeren Ausmaß gefordert haben, ohne nen sowohl große Chancen als durchaus auch Risiken sich auch nur im mindesten Gedanken darüber zu mit sich. Hier gehen wir mit Ihnen konform. machen, wie das auf die Betroffenen wirkt. Die Chancen bestehen z. B. im Bereich des Grund- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge stücks- und Wohnungsmarktes. Es ist wirklich nicht ordneten der FDP — Dieter Heistermann so, als hätten wir zu viele Grundstücke und Wohnun- [SPD]: Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?) gen, wie Sie das gestern in der Aktuellen Stunde zum — Entschuldigen Sie, ich bin Tochter eines Offiziers. Wohnungsbau und eben hier nochmals zum Ausdruck Ich habe unter Ihnen oft genug leiden müssen. So gebracht haben. Hier haben wir also eine Chance. etwas lasse ich mir nicht sagen. Eine zweite Chance besteht vor allen Dingen im (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Uwe Küster Bereich der weniger belasteten Infrastruktur. Das ist [SPD]: Das geht zu weit! — B rigitte Schulte sicherlich in unser aller Sinne, vor allen Dingen, wenn [Hameln] [SPD]: Unverschämt! — Weitere es um die Verkehrsinfrastruktur geht. Die Chancen Zurufe von der SPD) bestehen ferner im Umweltbereich, wenn z. B. in der freien Landschaft nicht mehr soviel geübt werden muß. Vielleicht können wir sogar den einen oder an- Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Frau Kolle- gin. Ich darf Sie vielleicht einen Moment unterbre- deren Standort oder Truppenübungsplatz in ein Na- chen. Ich bin immer für Munterkeit bei Auseinander- turschutzgebiet verwandeln. Diese Forderung unter- setzungen. stützen wir, auch wenn sie von der SPD kommt. (Walter Kolbow [SPD]: Unsere Leidensfähig Außerdem haben wir in den alten Bundesländern, keit ist auch zu Ende!) wie Sie alle wissen, einen großen Facharbeiterman- Nur, Frau Kollegin Schulte, waren Sie in Ihrer Rede gel, der durch die entlassenen Soldaten und zivilen nicht schüchtern. Dann brauchen Sie bei der Antwort Mitarbeiter zum Teil wieder ausgeglichen werden auch nicht so heftig zu reagieren. kann. Trotzdem ist auch die CDU/CSU-Fraktion der Ansicht, daß wir in den strukturschwächeren Räumen (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Daß wir für die ausfallende Kaufkraft und für die ausfallenden nichts für die Soldaten gemacht haben, Herr Aufträge beim örtlichen Handel und Handwerk Kom- Präsident!) pensationsmöglichkeiten brauchen. (Zuruf von der SPD: Welche?) Elke Wülfing (CDU/CSU): Ich erinnere mich sehr gut an die Demonstrationen, die Sie zum Teil ange- — Ich bin ja noch nicht fertig. Seien Sie doch mal führt haben. Ich muß ganz ehrlich sagen: Meine Ge- ruhig, hören Sie ein bißchen zu. Ich habe Ihnen auch fühle als Offizierstochter meinem Vater gegenüber zugehört. waren doch andere als die, die Sie heute äußern. Dazu dient als erstes die verbilligte Abgabe bun- (Beifall bei der CDU/CSU) deseigener Liegenschaften für Zwecke des sozialen Wir freuen uns auch weiterhin darüber, daß auf Wohnungsbaus, für sonstige soziale Zwecke, in Ein- Grund der großartigen Entwicklung, die Bundeskanz- zelfällen sogar für die Städtesanierung. Die Verbilli- ler Kohl und Michail Gorbatschow am Kaukasus ein- gungen gehen, wie wir eben von Herrn Beckmann geleitet haben, die Truppen in ganz Deutschland und gehört haben und von Herrn Carstens gleich sicher- in Ost- und Westeuropa reduziert werden können. Wir lich noch hören werden, je nach Verwendungszweck Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3385

Elke Wülfing von 15 % über 30 % und 50 % bis zu 75 % in den neuen leider nicht mehr fließen. So kann man auch auf ande- Bundesländern. rer Leute Kosten seinen Etat sanieren. Wichtig für Liegenschaften in den neuen Bundes- (Zuruf des Abg. Dieter Heistermann [SPD]) ländern sind außerdem Stundungsmöglichkeiten so- — Das war eine Aussage von Herrn Schleußer, die ich wie die Möglichkeiten über einen verbilligten Erb- selber auf einer Veranstaltung der IG Metall auf bauzins in bestimmten Fällen wie z. B. beim Woh- meine Nachfrage hin gehört habe. Fragen Sie ihn nungsbau und auch beim Studentenwohnungsbau. bitte. Herr Schleußer ist — für den Fall, daß Sie es Neben diesen verbilligten Grundstücksverkäufen nicht wissen — Finanzminister des Landes Nordrhein- ist natürlich eine regionalpolitische Flankierung nö- Westfalen. tig. Da aus gutem Grund die Regionalpolitik eine Sa- Zum Wohle des strukturschwachen ländlichen che der Länder ist, die ja häufig vor Ort besser Be- Raums, der auf Grund des Truppenabbaus Kaufkraft- scheid wissen, sind Länder und Kommunen frühzeitig verluste und Auftragseinbrüche hinnehmen muß, an der Stationierungsplanung beteiligt worden. kann ich nur hoffen, daß sich die Länder bald einigen - und daß die Durchsetzung von Länderegoismen nicht (Zuruf von der SPD: Das ist nicht richtig!) wieder zu Lasten der wesentlich bedürftigeren neuen — Genauso ist es. Außerdem hätten Sie sich als Abge- Bundesländer geht, wie es vor nicht allzulanger Zeit ordnete zum Fürsprecher Ihrer Region machen kön- beim Länderfinanzausgleich schon einmal in beschä- nen. Warum haben Sie das eigentlich nicht getan? mender Art und Weise der Fall war. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Welche Veranstal (Dieter Heistermann [SPD]: Halten Sie sich tung haben Sie denn hier erwartet?) eigentlich an Verträge zwischen Bund und Ländern?) Außerdem werden zur Zeit in ständig laufenden — Wenn Sie etwas fragen wollen, müssen Sie Zwi- Verhandlungen seitens der Bundesregierung und der schenfragen stellen. Länderregierungen die Möglichkeiten ausgelotet, wie denn eine regionalpolitische Flankierung aussehen Zur sozialen Abfederung für die betroffenen Solda- kann. ten und Zivilbeschäftigten wird ein Gesamtpaket auf (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!) den Tisch gelegt, daß niemand gegen seinen Willen entlassen wird. Allerdings — das muß man dazusa- Sie besteht im Bereich von Sonderprogrammen der gen — muß man in Einzelfällen natürlich bereit sein, Gemeinschaftsaufgabe, wie Herr Beckmann das hier sich einmal versetzen zu lassen, wenn man denn im eben schon angeführt hat. Daneben kann natürlich öffentlichen Dienst bleiben will und vor Ort nicht un- auch ein Programm nach Art. 104a des Grundgeset- terkommen kann. Ich weiß, daß viele Betroffene davor zes gewährleistet werden. Die Regionen, die hiervon Angst haben. Ich kann allerdings zu ihrer Beruhigung profitieren würden, müssen nicht unbedingt identisch sagen: Man kann auch solche Umzüge überstehen. sein. Ich bin während meiner Schulzeit selber dreimal um- Wie man eben gehört hat, sind die Interessen be- gezogen. In dieser Zeit ist mein Vater sechsmal ver- züglich dieser beiden unterschiedlichen Sonderpro- setzt worden. Sie sehen ja, was aus mir geworden ist. gramme in den alten und den neuen Bundesländern Ich hoffe, Sie finden das gut. ebenfalls sehr unterschiedlich. Die neuen Bundeslän- (Beifall bei der CDU/CSU — Heiterkeit bei der wünschen sich vor allem Investitionshilfen aus der SPD — Michael Glos [CDU/CSU]: Vor dem Sonderprogramm der Gemeinschaftsaufgabe. allem die Versetzung nach Bonn war eine Das ist auch verständlich, denn die Regionen sind alle gute Entscheidung der Wähler!) von diesem Programm erfaßt. Die alten Bundesländer Außerdem wird bei den laufenden Tarifverhandlun- sind eher an einem Sonderprogramm nach Art. 104 a gen für die bei der Bundeswehr Beschäftigten der des Grundgesetzes interessiert, da sie dann die Mög- Aspekt des sozialverträglichen Personalabbaus natür- lichkeit haben, erstens selbst mehr Einfluß zu nehmen lich mit berücksichtigt. und zweitens zusätzlich zur Gemeinschaftsaufgabe Fördermittel zu erhalten. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Truppen- abbau ist notwendig. Wir sollten ihn nicht mit Katzen- Nun bin ich als Nordrhein-Westfälin, was derartige jammer begleiten, sondern uns darüber freuen, daß Strukturhilfemittel angeht, selbstverständlich ein ge- die Ost-West-Konfrontation der Geschichte angehört branntes Kind. Ich sehe schon wieder kommen, in und daß wir uns nicht mehr derartig waffenstarrend welcher Manier die SPD-Landesregierung in Nord- gegenüberstehen. rhein-Westfalen die Bundesmittel austeilt, nämlich Vielen Dank. nach dem Motto: Die böse Bundesregierung nimmt euch die Soldaten weg, deswegen müssen wir, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) SPD-Landesregierung, jetzt Wohltaten über euch ver- teilen. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So machen die ordnete Ernst Schwanhold. das!) Ich warne Unvorsichtige: Wenn es ans Eingemachte Ernst Schwanhold (SPD): Herr Präsident! Meine geht, dann ziehen Sie ganz schnell die Milch wieder sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin hoch! So hat man beispielsweise bei den Strukturhil- Wülfing, ich finde es angesichts der Situation in Wil- femitteln gehandelt, die vom Bund für 1991 noch zu- helmshaven, wo AEG kurz vor der Schließung steht gesagt waren, die aber im Land Nordrhein-Westfalen und 10,4 % der Bruttowertschöpfung der Kommune 3386 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Ernst Schwanhold von der Bundeswehr erwirtschaftet wird, zynisch, von grüße. Genauso wie den Abbau der ausländischen „Katzenjammerbegleitung" zu sprechen. Dies gilt vor Streitkräfte begrüße ich auch den Abbau der Bundes- allem angesichts der Folgen für die Leute, die dort wehr ausdrücklich. keinen Arbeitsplatz finden und in den nächsten fünf (Zuruf von der CDU/CSU: Aber nur den Ab Jahren auch keine Chance haben, dort einen Arbeits- bau bei Ihnen nicht!) platz zu finden. (Beifall bei der SPD) — Darum geht es nicht. Es geht darum, ein regional ausgewogenes Konzept durchzusetzen. Es geht darum, die Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schwan- sozialen Folgen und die Folgen für die hold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wirtschaft möglichst sinnvoll abzufedern. Dazu Hinsken? komme ich gleich. Aus diesem Abbauprozeß ergeben sich übrigens Ernst Schwanhold (SPD) : Auf die Zwischenfrage auch Chancen. Ich habe die große Sorge, daß diese des Herrn Hinsken freue ich mich besonders.- Chancen verspielt werden. (Manfred Opel [SPD]: So ist es!) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Herr Kollege Schwan- hold, können Sie mir sagen, wann seitens der Bundes- Die Chancen würden sich in den großen Herausforde- wehr das letzte öffentliche Gelöbnis in Wilhelmsha- rungen, die wir zu bewältigen haben und die Sie ven stattgefunden hat? Damit können Sie die große — das sei nebenbei bemerkt — nach meiner Meinung Verbundenheit zur Bundeswehr in der Vergangenheit auch nicht in ausreichendem Maße angehen, bieten: unter Beweis stellen. beim ökologischen Umbau der Industriegesellschaft, bei der Ausgestaltung der sozialen Sicherheit, bei der Ernst Schwanhold (SPD) : Ich kann Ihnen nicht sa- Verbesserung der Lebensbedingungen in der Dritten gen, wann das letzte öffentliche Gelöbnis stattgefun- Welt und beim Wiederaufbau Osteuropas. den hat. Diese vier Chancen verbinden sich auch mit der (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das liegt lange, Reduktion der Bundeswehr. So positiv sich diese lange zurück! — Brigitte Schulte [Hameln] Chancen langfristig darstellen, so werden — das ist [SPD]: Es gibt einen ausgesprochen guten meine Beurteilung — kurzfristig eklatante Fehler ge- Kontakt!) macht. Aber die öffentlichen Gelöbnisse sind auch nicht der Die Bundeswehr ist bei der Installierung in regio- entscheidende Faktor bei der Bewältigung der sozial- nal- und strukturschwache Gebiete hineingegangen. politischen Folgen, die sich durch den Abzug erge- Die Menschen dort haben die Last der Bundeswehr ben. ertragen, denn es ist nicht immer Lust, einen Bundes- (Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist richtig!) wehrstandort zu haben. Und sie werden jetzt zum zweiten Mal Verlierer, weil es keine sozialen und Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schwan- keine regionalen Ausgleichsmaßnahmen gibt. hold, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kol- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das macht ja legen Nolting? keinen Sinn!) Ernst Schwanhold (SPD): Aber natürlich. Kommunen und Länder sind nicht frühzeitig betei- ligt worden. Der Verteidigungsminister hat über ei- Günther Friedrich Nolting (FDP) : Herr Kollege, nen langen Zeitraum im Verborgenen unterhalb der könnten Sie uns Ihr Konzept vorstellen, das benötigt Öffentlichkeitsdecke diskutiert. Die Länder haben wird, wenn wir die Bundeswehr auf 200 000 Mann drei Monate Zeit gehabt, eine regionalpolitische Stel- reduzierten, so wie es Ihr Fraktionsvorsitzender Vogel lungnahme abzugeben, und in drei Monaten ist dies vor einigen Wochen gerade wieder gefordert hat? angesichts der Vielzahl der Standorte, z. B. im Lande Niedersachsen, nicht möglich. Ernst Schwanhold (SPD): Es geht heute nicht Ich sage Ihnen dazu: Es gibt heute noch kein schlüs- darum, das Konzept dafür vorzulegen, was passiert, siges und durchgängiges Konzept, wie sich die Briten wenn die Streitkräfte auf 200 000 Mann oder auf eine aus den Regionen, in denen sie sind, zurückziehen. Zahl, die sogar noch darunter liegt, reduziert wird. Ich Ich empfinde es als Mißachtung der Interessen der kann mir dies sehr gut vorstellen und halte es auch für Menschen, die in diesen Bereichen leben und dort wünschenswert. Es geht heute um die Fehler, die bei beschäftigt sind, daß es dafür kein Konzept gibt und der Abwicklung dieser relativ begrenzten Reduktion daß kein Ausgleich vorgenommen werden kann. Die von seiten der Bundesregierung begangen worden britische Regierung wäre gut beraten, hier mit der sind. Bevölkerung und mit der bundesdeutschen Regie- (Beifall bei der SPD — Michael Glos [CDU/ rung auch anders umzugehen. CSU]: So einfach ist das!) Die Vorleistungen, die die Menschen in diesen Re- Auf diese Fehler komme ich gleich zu sprechen. gionen gebracht haben, dürfen nicht zu einer zweiten An den Anfang meiner Ausführungen will ich aus- Bestrafung werden. Sprechen Sie mit den Bet riebsrä- drücklich stellen, daß ich die von vielen ersehnte welt- ten, sprechen Sie mit den Personalräten oder sprechen weite Entspannung und die sich daraus abzeichnende Sie mit den Betroffenen, die in den Regionen bei der Reduktion der Streitkräfte und die Schaffung der Bundeswehr beschäftigt sind oder die von der Bun- neuen Friedensordnung in Europa ausdrücklich be- deswehr abhängig sind. Es gibt doch gerade in den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3387

Ernst Schwanhold großen Standorten viele kleine und mittlere Betriebe, gen, sich leider Gottes nur ein einziger Sozialdemo- die dort als Zulieferer tätig gewesen sind oder die als krat beteiligt hat — das war Kollege Müller — und Sie Reparaturbetriebe in Bundeswehranlagen tätig gewe- und verschiedene andere durch Abwesenheit ge- sen sind. Dort gibt es keine Ausgleichsmaßnahmen glänzt haben, um die Stellungnahme der Bundesre- und dort gibt es keine Chancen. Herr Hinsken, ich gierung zu diesen Themen zur Kenntnis zu neh- erinnere mich sehr gut an Aussagen von Ihnen, die men? dieses ganz genau bestätigen. Deshalb wünsche ich mir nicht nur GA-Maßnah- men, die nämlich genau das Gießkannenprinzip sind, Ernst Schwanhold (SPD): Also, Herr Kollege Hins- sondern ich wünsche mir regional abgestimmte Maß- ken, Sie wissen ganz genau wie ich, daß ich nicht nahmen, die helfen, etwa in Wilhelmshaven oder in ordentliches Mitglied dieses Unterausschusses bin. anderen Bereichen oder im Landkreis Kaiserslautern, Ich bitte um Entschuldigung. Ich hatte gestern einen die Infrastrukturmaßnahmen vorzunehmen, die not- Termin in Berlin. Aber dafür habe ich Ihnen gegen- wendig sind. Dazu gehört der Ausbau der sozialen über keine Rechtfertigung vorzunehmen. Ich habe Infrastruktur. Dazu gehört der Ausbau der Verkehrs- dies natürlich auch nachgelesen, fordere aber aus- infrastruktur. Dazu gehören aber auch direkte Investi- drücklich Maßnahmen über das hinausgehend, was tionshilfen in den einen oder anderen Bet rieb, der ich ja auch durchaus positiv dort zugunsten der Bun- davon abhängig ist. desregierung anmerken will, wo es entsprechende Ansätze gibt. Es ist doch nicht mein Problem, positive (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist genau Maßnahmen nicht anzuerkennen, sondern ich bin das, was die Bundesregierung macht! — Ge- durchaus bereit, diese zur Kenntnis zu nehmen und zu genrufe von der SPD) werten. — Ich möchte jetzt keine weiteren Zwischen- — Warum wird es nicht quantifiziert? Warum gibt es fragen mehr zulassen, sondern zum Schluß meiner nicht ausreichende Planungsmöglichkeiten dafür? Ausführungen kommen. Die regionalen Aspekte überfordern die Länder und (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich hoffe nur, die Kommunen alleine. daß Sie das Protokoll lesen werden!) (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD) Neben den Investitionen für die öffentliche Hand ist Also, die Dazwischenrederei finde ich ausgesprochen darüber nachzudenken, welches Instrumenta rium interessant, Herr Hinsken. Sie sollten sich austau- sich entwickeln läßt und entwickelt werden muß, um schen. Ich höre mir das so lange an. Ich finde das aus- den betroffenen Wirtschaftsbereichen direkte Investi- gesprochen interessant, aber dann unterbreche ich tionshilfen zukommen zu lassen. meine Rede so lange. Die Standortkonversion könnte bei nicht ausrei- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich kann nichts chender Begleitung und Hilfestellung durch den Bund dafür, wenn das von da drüben kommt!) in einzelnen Regionen eine Lawine auslösen, von der Die regional ausgewogenen Maßnahmen müssen wir noch nicht wissen, welche Wirkung sie am Ende Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der auf die soziale Situation und auf die betroffenen Men- wirtschaftlichen Infrastruktur sein, zur Erschließung schen haben wird. Deshalb sind begleitend dazu In- und Umnutzung von Industrie-, Gewerbe- und Hafen- strumente zu entwickeln, um gezielte Aus- und Wei- gelände, Investitionen zur Entsorgung und andere für terbildung für die von der Standortkonversion betrof- die wirtschaftliche Entwicklung bedeutsame Umwelt- fenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchzufüh- schutzmaßnahmen zur Verstärkung des ÖPNV zum ren. Gerade die schlecht ausgebildeten haben am Ar- Beispiel, weil das für den ländlichen Bereich wesent- beitsmarkt kaum Chancen. lich ist und die Infrastrukturpolitik auch davon ab- Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang auch hängt, wie die verkehrliche Anbindung in diesen Be- einen Hinweis auf die bei der Bundeswehr in überrei- reichen ist, ferner Maßnahmen zur Stärkung des chem Maße beschäftigten Schwerbehinderten. Für Fremdenverkehrs. Auch dieses wäre eine Chance. diese Bevölkerungsgruppe wird es in den struktur- Und sagen Sie nicht, daß das die Bundesregierung schwachen Gebieten unmöglich sein, einen adäqua- alles macht. Dieses ist teilweise auf Druck dessen, was ten Arbeitsplatz zu finden. Wir alle wären gut beraten, die Länder gefordert haben, und auch auf Druck unse- darüber nachzudenken, wie man dieses wirklich res Antrages erst in den letzten Wochen und Monaten schwerwiegende soziale Problem lösen kann. Für die- in die Konzeption hineingeschrieben worden. Die sen Kreis der Betroffenen muß es über das übliche Bundesregierung hat dort erhebliche Versäumnisse. Förderinstrumentarium hinaus Hilfestellungen ge- ben. Die p rivate Wirtschaft wird nach leidvoller Er- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schwan- kenntnis, die wir alle gesammelt haben, keine ausrei- hold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen chende Zahl von Arbeitsplätzen anbieten. Hinsken? (Zuruf von der FDP) — Entschuldigung, bei der Bundeswehr sind sie über- Ernst Schwanhold (SPD) : Ja. proportional beschäftigt worden, und die private Wirt- schaft kauft sich leider Gottes immer noch frei. Das Ernst Hinsken (CDU/CSU): Verehrter Herr Kollege wissen wir doch; darüber haben wir schon genügend Schwanhold, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu neh- diskutiert. men, daß gestern in der Sitzung des zuständigen Un- (Zuruf von der FDP) terausschusses, die sich mit den angesprochenen Pro- Lassen Sie mich abschließend dazu sagen, daß sich blemen beschäftigt hat, die Sie hier zur Geltung brin- nur unter Einbeziehung aller Betroffenen — der Län- 3388 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Ernst Schwanhold der, der Kommunen, der Kammern, aber auch der dert. Gleichzeitig wehren sich die Kommunalpolitiker Gewerkschaften — sozial verträgliche und für die der SPD vor Ort gegen jegliche Verringerung der wirtschaftliche Entwicklung der Regionen sinnvolle Standorte, aber auch das Schließen der Standorte. Lösungen entwickeln lassen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dem pflichte ich Viele SPD-Politiker, gerade auf der kommunalen bei!) Ebene, haben jetzt plötzlich die Liebe zur Bundes- Ich glaube, daß dazu bislang nicht ausreichend Ge- wehr entdeckt, aber leider, Herr Kollege Kolbow, nur sprächsbasis und nicht ausreichend Gelegenheit ge- aus rein regionalen wirtschaftlichen Gründen. boten worden ist. (Beifall bei der FDP) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dem pflichte ich nicht bei!) Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter, ge- Dies liegt auch im Verantwortungsbereich der Bun- statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwan- desregierung. hold und eine Zwischenfrage des Kollegen Kolbow? - Mit generalisierenden Lösungen und mit allgemei- nen Schlüsselzuweisungen jedenfalls werden die Pro- Günther Friedrich Nolting (FDP): Aber selbstver- bleme nicht gelöst. Nur unter Rücksichtnahme auf ständlich, wenn sich die Kollegen über die Reihen- regionalspezifische Gesichtspunkte kann dies gelin- folge einigen können. gen. Ich habe Sorge, daß dieser Bereich nicht ausrei- chend gewürdigt wird. Vizepräsident Hans Klein: Dann in dieser Reihen- (Beifall bei der SPD) folge.

Ernst Schwanhold (SPD): Herr Kollege, ich finde es Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter Gün- begrüßenswert, daß Sie sich auf die sozialdemokra- ther Friedrich Nolting, Sie haben das Wort. tisch regierten Länder beziehen. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das meine Günther Friedrich Nolting (FDP): Herr Präsident! ich immer mehr!) Meine Damen und Herren! Die Opposition stellt hier Meines Wissens gehört Bayern noch nicht zu den so- heute Anträge — das hat sich jedenfalls bis jetzt so zialdemokratisch regierten Ländern; aber was nicht gezeigt — , die uns in der Sache nicht weiterbrin- ist, kann ja noch werden. gen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das wird es auch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nicht werden!) Der Kollege Hitschler hat bereits auf die Ausschußar- Ich bitte Sie nur, mir auch eine Antwort darauf zu beit hingewiesen. Ich denke, daß das Konzept so, wie geben, ob ich den Herrn Kollegen Hinsken richtig ver- es der Kollege Hitschler, aber auch der Kollege Hins- standen habe. Er hat genau die gleichen strukturellen ken dargestellt haben und wie es vor allen Dingen Unterstützungsmaßnahmen und Hilfsmaßnahmen für auch der Parlamentarische Staatssekretär Beckmann Bayern gefordert, wie sie auch von den besonders vorgestellt hat, am Ende der Ausschußarbeit auch von betroffenen sozialdemokratisch regierten Ländern, der Opposition mit unterstützt werden wird. nämlich Hessen und Niedersachsen, gefordert wer- Im einzelnen haben sich die Kollegen aus der Koali- den. Was sagen Sie dazu? tion und der Herr Kollege Beckmann mit den Anträ- gen auseinandergesetzt. Ich will jetzt nur noch einen Günther Friedrich Nolting (FDP) : Ich habe davon Punkt anfügen. gesprochen, daß wir — wir zumindest als FDP-Bun- Die SPD fordert eine Fülle von Daten über alle destagsfraktion — die Landesregierungen nicht aus Aspekte des wirtschaftlichen Handelns der Bundes- ihrer strukturpolitischen Verantwortung entlassen wehr, ihrer Soldaten und Zivilbeschäftigten und deren wollen. Familien, obwohl Sie, meine Damen und Herren von (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Opposition, ganz genau wissen, daß diese Daten der CDU/CSU — Ernst Schwanhold [SPD]: überwiegend nicht so umfassend oder nur von ganz Sie haben aber nur die sozialdemokratisch unterschiedlichen Trägern erhoben werden können. regierten Länder erwähnt!) Ganz offensichtlich ist es aber das Ziel der SPD, nur — Sie sind genau dabei. Genauso sind in dieser Frage den Bund, allein den Bund für Ausgleichsmaßnahmen die Kommunen gefordert. haftbar zu machen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Walter Kolbow (SPD): Herr Kollege, Sie haben jetzt und gleichzeitig die mehrheitlich von ihr gestellten nicht die Zahl 200 000 genannt, Landesregierungen aus der strukturpolitischen Ver- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Jawohl!) antwortung zu entlassen. auf die die SPD die Bundeswehr angeblich reduzieren (Beifall bei der FDP) wolle. Würden Sie bitte endlich zur Kenntnis nehmen, Diese Arbeitsteilung der Opposition, meine Damen so wie ich es Ihnen auch schon im Verteidigungsaus- und Herren, haben wir hier ja des öfteren erlebt. schuß gesagt habe, daß die Sozialdemokratische Par- Schon im letzten Jahr hat die SPD lauthals die Redu- tei für die Reduzierung der Bundeswehr ist, mögli- zierung der Bundeswehr bis auf 200 000 Mann gefor cherweise auch auf diese Zahl, wenn die Reduzierung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3389

Walter Kolbow auf 370 000 sozialverträglich abgeschlossen ist, und hung auf mindestens 600 000 Mann. In der Öffentlich- daß dies nicht vor 2005/2010 sein kann? keit stellen Sie sich dann gleich wieder hin und for- dern die Verkleinerung der Bundeswehr, fordern die Günther Friedrich Nolting (FDP) : Lieber Kollege drastische Reduzierung des Verteidigungshaushalts, Kolbow, Sie wissen, daß ich Sie ganz besonders so wie es Ihre finanzpolitische Spreche rin hier im Bun- schätze. Ihnen nehme ich ja diese Aussagen, die Sie destag gemacht hat. Dabei sollte uns doch wohl allen hier gerade gemacht haben, persönlich auch ab. Aber klar sein, daß die Reduzierung der Bundeswehr, die das, was Sie mir hier sagen, sollten Sie dann bitte vorzeitige Zurruhesetzung von Soldaten, die Ver- Ihrem stellvertretenden Bundesvorsitzenden Lafon- schrottung von Material und Gerät und letztendlich taine auch die Verbesserung der Infrastruktur gerade in (Wolfgang Mischnick [FDP]: Sehr richtig!) den neuen Ländern viel Geld kosten und nicht zum Nulltarif zu haben sein werden. und vor allen Dingen auch ihrem Fraktionsvorsitzen- den Vogel vortragen, Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Nolting, es (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten liegt ein weiteres Fragebegehren vom Kollegen Hei- der CDU/CSU) stermann vor. die nämlich vollkommen undifferenziert diese Zahlen in der Öffentlichkeit nennen, Günther Friedrich Nolting (FDP): Auch der Kollege (Manfred Opel [SPD]: Das stimmt doch über- Heistermann ist mir ein liebenswerter Kollege; selbst- haupt nicht!) verständlich. gerade in Rostock. — Aber sehr wohl, Herr Opel. Dieter Heistermann (SPD): Ich bedanke mich für die Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie noch eine Blumen. — Herr Kollege Nolting, darf ich aus Ihren Zusatzfrage des Kollegen Kolbow? Bemerkungen schließen, daß Anträge auf Erhalt von Standorten, die von Kollegen der CDU/CSU und der FDP gestellt worden sind, eine andere Qualität haben (FDP) : Aber selbstver- Günther Friedrich Nolting als die gleichen Anträge, die von sozialdemokrati- ständlich. schen Abgeordneten gestellt worden sind? (Zuruf von der CDU/CSU: Eine andere (SPD): Darf ich Sie einladen, und Walter Kolbow Glaubwürdigkeit!) würden Sie diese Einladung annehmen, Herr Kollege Nolting, zu einem Gespräch bei meinem Fraktionsvor- Ist das einmal ein Erhöhungsantrag und bei den Kol- sitzenden, damit er Sie o riginal unterrichten kann legen der CDU/CSU ein Reduzierungsantrag? Darf über seine Äußerungen, die Sie gerade mit Rostock ich das aus Ihren Worten so schließen? nennen, so daß Sie dann auch zur Kenntnis nehmen können, Günther Friedrich Nolting (FDP): Nein, Herr Kollege (Wolfgang Mischnick [FDP]: Das läßt sich Heistermann, das können Sie aus meinen Worten auch schriftlich machen!) nicht schließen. Ich habe im Ausschuß ausdrücklich darauf hingewiesen, und auch die FDP-Bundestags- daß dies eine verkürzte Mediendarstellung war? fraktion im Ausschuß hat ausdrücklich darauf hinge- wiesen, daß wir für einen Teil der Forderungen, die Günther Friedrich Nolting (FDP): Herr Kollege Kol- aus rein regionalwirtschaftlichen Gesichtspunkten bow, Einladungen, die von Ihnen persönlich kommen, gestellt wurden, ganz gleich, von welcher Fraktion nehme ich selbstverständlich immer gern an. Ich ver- — und da muß ich auch die Kollegen aus der Koalition weise allerdings darauf, daß Ihr Fraktionsvorsitzender ansprechen —, kein Verständnis haben. Es liegt hier Vogel in der letzten Legislaturperiode schon einmal kein qualitativer Unterschied vor; nur stellen Sie sich die neuen Kollegen der FDP-Bundestagsfraktion ein- in der Öffentlichkeit hin — ich komme noch einmal geladen hatte, wir diese Einladung aber kurzfristig auf die 200 000 zurück, absagen mußten, weil er, gelinde gesagt, einige be- (Zuruf von der SPD: Das sollten Sie nicht; das fremdliche Äußerungen, z. B. über unseren Bundes- ist falsch!) vorsitzenden, getan hatte. Wenn dieses inzwischen ausgeräumt sein sollte, komme ich dieser Einladung die vollkommen undifferenziert vorgetragen werden gerne nach. — und bejammern — den Ausdruck sage ich jetzt ganz bewußt — das Schließen von Standorten, das (Beifall bei der FDP — Ernst Schwanhold sich automatisch aus der Verringerung der Bundes- [SPD]: Da ist er nicht der einzige, der diese wehr ergeben muß. „befremdlichen Äußerungen" macht!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Meine Damen und Herren, ich habe gerade die Walter Kolbow [SPD]: Sie argumentieren Kommunalpolitiker der SPD angesprochen, und ge- wissentlich falsch!) nau in demselben Sinne haben die Verteidigungspo- litiker bei der Beratung des Standortekonzeptes Än- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu den derungsanträge für die Opposition gestellt, vorliegenden Anträgen zurückkommen. Herr Kollege Beckmann hat schon darauf hingewiesen: Diese sind (Walter Kolbow [SPD]: Für die Bürger!) schlicht und einfach in einzelnen Teilen überholt, da die nicht etwa die Verkleinerung der Bundeswehr auf das Bundeskabinett z. B. mittlerweile das Personal- 370 000 Mann oder gar 200 000 Mann zur Folge ge- stärkegesetz und ein Bundeswehrbeamtenanpas- habt hätten, Herr Kollege Kolbow, sondern eine Erhö- sungsgesetz verabschiedet hat, und ich hoffe, liebe 3390 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Günther Friedrich Nolting Kollegen, daß wir demnächst hier im Deutschen Bun- gerade die Länder Schleswig-Holstein und Nieder- destag diese beiden Gesetze mit der Unterstützung sachsen ausdrücklich genannt. der Opposition verabschieden können. (Zuruf von der CDU/CSU: Identitätspro bleme! — Abg. Dr. Walter Hitschler [FDP] Nur, meine Damen und Herren von der Opposition, meldet sich zu einer Zwischenfrage) im gleichen Atemzug, in dem Sie die Verkleinerung der Bundeswehr und dabei sozialverträgliche Maß- nahmen und Hilfen für die betroffenen Soldaten und Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Nolting — Zivilbeschäftigten — zu Recht — verlangen, entfa- chen Sie eine Neidkampagne gegen vorzeitige Pen- Günther Friedrich Nolting (FDP) : Noch ein persönli- sionierungen, ches Wort an einige Kollegen, Herr Präsident, und ich komme zum Abschluß. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) und hier muß ich Ihren Fraktionsvorsitzenden Vogel - Vizepräsident Hans Klein: Entschuldigung, der Kol- noch einmal zitieren. Das ist unredlich; mit dieser lege Nolting ist bereits am Ende der Redezeit. Ich Doppelzüngigkeit lassen wir Sie in der Öffentlichkeit kann jetzt keine Zwischenfrage mehr zulassen, auch nicht durch. Erklären Sie hier und heute eindeutig, wenn sie noch so ermunternd wäre, Herr Hitschler. wie Sie sich die künftige Bundeswehrstärke vorstel- len, wie Sie sich Ihr Konzept vorstellen und wie Sie (FDP) : Aber so hätte man uns bei den anstehenden flankierenden Maßnahmen Günther Friedrich Nolting zur Truppenreduzierung unterstützen wollen! Wenn gut die Redezeit verlängern können. Sie sich hier und heute zu diesen klaren Antworten Zum Abschluß, Herr Präsident, noch ein persönli- auf diese Fragen durchringen könnten, dann wäre ches Wort in Richtung Opposition gerade an einige diese Debatte nicht umsonst gewesen. Mitglieder des Verteidigungsausschusses: Frau Kolle- gin Schulte hat vorhin gesagt, sie strecke uns die Ich möchte den Kollegen Weisskirchen, auch wenn Hand entgegen. Ich nehme Ihnen Ihr persönliches er nicht mehr hier sein sollte — nein, er ist nicht mehr Engagement ab. Leider deckt sich dieses Engagement da — , noch kurz ansprechen. Er hat von der Unsicher- aber nicht mit der Mehrheit Ihrer Fraktion und vor heit bei den zivilen Mitarbeitern gesprochen. Ich allen Dingen nicht mit der Mehrheit Ihrer Partei. frage mich: Wer schürt denn eigentlich diese Unsi- Vielen Dank. cherheit vor Ort? Ich will Ihnen ein Beispiel aus der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Praxis nennen, aus meiner Heimatstadt Minden. Dort Zuruf von der SPD: Das sehe ich nicht so! — fordern seit Monaten die SPD-Landtagsabgeordneten Walter Kolbow [SPD]: Sie werden sich wun den totalen Abzug der britischen Rheinarmee. Die bri- dern, Herr Nolting!) tische Rheinarmee zieht jetzt ab, 700 zivile Arbeits- kräfte werden freigesetzt, ca. 100 Mil lionen DM an Aufträgen an Handel und Handwerk entfallen in Zu- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Parla- kunft. Und was macht jetzt die SPD vor Ort? Sie macht mentarische Staatssekretär beim Bundesminister der die Bundesregierung dafür verantwortlich. Das ist ge- Finanzen Manfred Carstens. nau die Doppelzüngigkeit, die ich vorhin aufgezeigt habe. Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ehrten Kolleginnen und Kollegen! Bis 1994 wird die Truppenstärke der Bundeswehr auf 370 000 Mann Frau Kollegin Schulte — leider ist auch sie nicht da; verringert. Der Abzug der Sowjetarmee ist bis 1994 aber das entspricht wohl dem parlamentarischen Stil vereinbart; ich habe mir gerade noch einmal vom Ver- der SPD —, teidigungsministerium bestätigen lassen, daß dort al- les nach Plan läuft. Die Truppenreduzierungen der (Dieter Heistermann [SPD]: Sie ist jetzt wie- Alliierten kommen noch hinzu. — Das alles ist poli- der da! — Zuruf von der SPD: Gucken Sie tisch gewollt. Ich bin auch fest davon überzeugt, daß mal, wo Herr Beckmann sitzt!) unsere Bevölkerung diese Maßnahmen und Entschei- dungen grundsätzlich sehr begrüßt. Sie haben hier die angeblich nicht vorhandenen Mit- wirkungsmöglichkeiten der Länder bemängelt. Im Im Zusammenhang hiermit gibt es Auswirkungen, Zwei-plus-Vier-Vertrag ist festgehalten, daß die Bun- an die die Bundesregierung denken muß; darauf gehe deswehr auf 370 000 Mann reduziert wird. Seit Au- ich gleich näher ein. Ich möchte aber noch auf einen gust 1990 hatten die Länder Gelegenheit, sich Gedan- Punkt zu sprechen kommen, der die Argumentation ken zu machen, und es war ja wohl klar, daß Standorte der SPD, heute und vor Ort, betrifft. wegfallen, wenn reduziert wird. Herr Kollege Es gibt nicht wenige in der SPD, so habe ich den Schwanhold, Sie haben hier von einer geringfügigen Eindruck, die die Bundeswehr am liebsten abschaffen Verringerung gesprochen. Die Bundeswehr wird um möchten. Es gibt viele, die eine Reduzierung über das über 40 % verringert; dies ist nicht geringfügig! Also bislang vorgesehene Maß hinaus vornehmen möch- hätten sich doch die Länder seit August letzten Jahres ten. In fast jedem Einzelfall aber, wenn es um Trup- einmal Gedanken machen können. Aber nein, es lag penreduzierungen vor Ort geht, beklagt und kritisiert Desinteresse vor. Wir haben vorhin in Zwischenfragen man die Entscheidungen der Bundeswehr. Das ist Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3391

Parl. Staatssekretär Manfred Carstens nicht fair; das ist nicht der politische Stil, in dem wir len wir überbetriebliche Umschulungseinrichtungen miteinander umgehen sollten. durch eine Verbilligung der Grundstücke um bis zu 50 % fördern; ebenso die Errichtung und den Bet rieb (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) von Krankenhäusern auf ehemals militärischen Anla- Wir haben es selbstverständlich mit Auswirkungen gen. zu tun, die man sehr ernst nehmen muß. Mein Kollege Der Bund wird beim Vorliegen der gesetzlichen Beckmann vom Bundeswirtschaftsministerium hat in Voraussetzungen für die Ausweisung eines Geländes diesem Zusammenhang schon auf eine flankierende als Sanierungsbereich oder Entwicklungsgebiet auch Maßnahme hingewiesen. Ich möchte zur Grund- ohne eine förmliche Ausweisung als Kaufpreis nur stücksverbilligungsaktion der Bundesregierung et- den sanierungs- oder entwicklungsunbeeinflußten was sagen. Grundstückswert von den Gemeinden verlangen. Die Auswirkungen sind regional recht unterschied- Dies gilt auch dann, wenn das Gelände für gewerbli- lich einzuschätzen: Es gibt bestimmte Ballungsräume, che oder industrielle Zwecke vorgesehen ist. in denen man sich möglicherweise sogar darüber Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, der freut, daß gewisse Grundstücke nicht mehr militärisch- Haushaltsplan sieht für 1992 vor, daß die näheren Vor- genutzt werden müssen, sondern für andere Zwecke aussetzungen, unter denen die Verbilligungen ge- freiwerden. Es gibt aber auch ländliche, struktur- währt werden können, in Richtlinien oder Grundsät- schwache Regionen, in denen es sehr wohl erhebliche zen des Bundesministers der Finanzen festgelegt wer- negative Auswirkungen gibt. Dort müssen sich ganze den. Strukturen neu bilden. Die Bundesregierung möchte — ich kann auch sa- Wir wollen seitens der Bundesregierung bei diesen gen: „will" — diese Regelung bereits ab Herbst 1991, Strukturneubildungen u. a. dadurch mithelfen, dieses also möglichst ab sofort, praktizieren. Bis 1995 ver- Problem zu meistern, daß wir Liegenschaften verbil- zichtet der Bund auf Grund der Grundstücksverbilli- ligt abgeben. Dieses Konversionspaket wird zusätz- gungen auf Einnahmen in Millionenhöhe. lich kommen. Derzeitig wird es noch geschnürt; denn Mit dieser Verbilligungsaktion gibt der Bund ein auch die Länder wollen mitreden, und das sollen sie gutes Beispiel. Er geht weit über das hinaus, was die auch. Wir werden aber sicherlich noch im Verlaufe Bundesländer bisher bereit waren an Grundstücks- dieses Jahres zu einem Abschluß dieser Gespräche verbilligungen einzuräumen. Wenn ich richtig unter- kommen, vielleicht auch schon sehr bald. richtet bin, kennen z. B. die Länder Schleswig-Hol- Dieses Grundstücksverbilligungspaket ist, wenn stein und Niedersachsen keinerlei Verbilligung. Auch Sie so wollen, die größte Grundstücksverbilligungs- das Land Nordrhein-Westfalen räumt für den sozialen aktion, die es je gegeben hat, mit ganz erheblichen Wohnungsbau eine Verbilligung von lediglich 30 % Auswirkungen. Bei den Verkäufen, die wir planen, ein. berücksichtigen wir die Aspekte des sozialen Woh- Meine Damen und Herren, der Haushaltsausschuß nungsbaus, der Sozial-, der Umwelt- und der Gesund- des Deutschen Bundestages hat gestern dem Konzept heitspolitik. der Bundesregierung zugestimmt — fachlich ausge- Damit im Lande bekannt wird, um welche Maßnah- drückt heißt dies im Haushaltsausschuß: „zustim- men es sich handelt, möchte ich einige beispielsweise mend zur Kenntnis genommen" —, so daß die Grund- nennen: Der Bund wird Grundstücke für den sozialen stücksverträge ab sofort nach diesen Maßgaben abge- Wohnungsbau und für den Studentenwohnraumbau wickelt werden können. künftig um bis zu 50 % unter dem vollen Wert veräu- Ich möchte an dieser Stelle zusagen, daß wir uns im ßern, wenn auf den Grundstücken neuer Wohnraum Bundesfinanzministerium und bei den Oberfinanzdi- geschaffen wird. Bisher gab es einen Abschlag von rektionen bemühen werden, diese Verträge zügig ab- lediglich 15 %. Diese Verbilligung soll bei einer Bele- zuwickeln, wobei ich die Länder und die Kommunen gungsbindung von 15 Jahren gewährt werden. sowie alle Interessierten bitten möchte, möglichst schnell auch die Voraussetzungen auch dafür zu Eine Verbilligung um ebenfalls bis zu 50 % wird der schaffen, daß der Bund handeln kann. Wir haben ei- Bund bei Grundstücken einräumen, auf denen Alters- nen gewissen Vorlauf. Die Bundeswehr verläßt oder heime, Pflegeheime, Altenwohnungen sowie -heime, reduziert Standorte ja erst in einigen Jahren, so daß Bildungseinrichtungen und Werkstätten für geistig wir rechtzeitig beginnen können, um dann auch errichtet werden sollen. und körperlich Behinderte rechtzeitig abschließen zu können. Um den Weiterbetrieb bisher militärisch genutzter Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Sportanlagen zu ermöglichen, werden auch hier er- hebliche Preisnachlässe möglich sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Durch eine verbilligte Veräußerung wird der Bund Grundstücke, die für Abwasser- und Abfallbeseiti- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- gungsanlagen vorgesehen sind, fördern und damit ordnete Otto Reschke. den Anforderungen, die wir an eine gesunde Umwelt und an die Reinhaltung unserer Gewässer stellen, ge- Otto Reschke (SPD): Herr Präsident! Meine sehr recht werden. verehrten Damen und Herren! Wir haben ja gestern Beim Aufbau der Gebietskörperschaften in den eine Wohnungsbaudebatte gehabt, Herr Kollege neuen Ländern helfen wir durch Preisnachlässe auf Hitschler und Kolleginnen und Kollegen der CDU/ Grundstücke für unmittelbare Verwaltungszwecke CSU-Fraktion. Da wurde deutlich, daß es bei allen von bis zu 75 %. Ebenfalls in den neuen Ländern wol- Plänen, die wir haben, nicht nützt, wenn der Woh- 3392 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Otto Reschke nungsbau ohne Boden stattfindet. In der Luft hängen Das vom Verteidigungsminister erarbeitete Stand- zumindest viele Bauvorhaben und viele Baupläne. ortkonzept enthält die Informationen über den Perso- nalabbau. Aber bei der Deswegen bin ich der Auffassung, die Bundesregie- Gebäudeanalyse kommen wir keinen Schritt weiter. Das ist jedoch dringend not- rung hat genau wie beim Wohnungsbau instrumental wendig für den Städtebau. voranzugehen. Sie hat auch hier eine Chance vertän- delt, die die Abrüstung bietet, ganz besonders im Be- Der Mangel an verläßlichen Informationen über reich des Wohnungsbaues. Da bin ich nicht irgendwo eventuelle Flächen- und Gebäudereserven macht es als Opposition aufgerufen, sondern ich möchte die den Gemeinden extrem schwer, neue Nutzungen zu Bauministerin zitieren. Sie bezichtigte noch im Mai planen und dem freiwerdenden Personal andere Ar- 1991 — genau am 23. Mai — den Verteidigungsmini- beitsmöglichkeiten durch Gewerbeansiedlung oder ster der Geheimniskrämerei, weil er nicht öffentlich ähnliches bereitzustellen. kenntlich macht, wo Gemeinden in vielen Punkten tätig werden können und wo sie darangehen können, Recht hat die Bauministerin, Herr Staatssekretär Städtebau und Wohnungswesen zu planen. aus dem Finanzministerium, wenn sie die Geheimnis- krämerei der Militärs kritisiert. Aber sie hat nicht nur Doch selbst heute, nachdem das zweite Ressortkon- das kritisiert. Die Bauministerin kritisiert auch den zept bekannt ist, herrscht vielerorts Ratlosigkeit über Finanzminister, daß bisher noch kein freigewordenes die zukünftige Nutzung der Militärstandorte und, was Militärgelände verkauft worden sei und daß ein Preis- wichtig ist, Kollege Beckmann, auch beim Teilabzug. nachlaß von 15 % — so Ende Mai — auf den voraus- Da laufen ja die dollsten Sachen: weniger Personal, sichtlichen Verkehrswert nach der Erschließung mehr Grundstücke und mehr Gebäude. Wir sind ja durch die Gemeinden nicht genug sei; damit werde beide in Essen teilweise davon betroffen. der Wohnungsbau verhindert, und der Bund trete als Spekulant auf. Die Gemeinden hatten kaum Möglichkeiten, die Planungen der Militärs nachzuvollziehen, ge- Wenn jetzt der Bund erfreulicherweise beim Woh- schweige denn, Planungen mit ihnen abzustimmen. nungsbau unter bestimmten Kriterien von 15 auf 50 % Ein Dialog, der bei dieser großen Aufgabe notwendig hochgeht, bleibt immer noch eine ganze Menge an wäre, hat mit dem Verteidigungsministerium nicht Spekulationen. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Die Kas- stattgefunden. sen der Gemeinden in Nordrhein-Westfalen — wenn ich einmal die Differenz zwischen 75 und 50 % be- Das Ressortkonzept — ich habe es mir durchgese- trachte — sind genauso leer wie die Kassen in den hen — zeigt natürlich auf, welche Soldaten und wel- neuen Bundesländern; daran sollte man immer den- ches Zivilpersonal in Zukunft nicht mehr benötigt ken. werden. Aber wichtige Informationen über den zu- künftigen Flächenbedarf und Gebäudeverbrauch der Überarbeiten Sie bitte Ihre Richtlinie, Herr Staatsse- Militärstandorte fehlen gänzlich. kretär. Darin steht nämlich unter dem vierten Spie- gelstrich: Bei nicht ausgeglichenem Verwaltungs- Dazu gehören auch militärisch genutzte Infrastruk- haushalt bekommen die Kommunen einen Abschlag tureinrichtungen. Ich mache darauf ausdrücklich auf- bis zu 30 %. — Es gibt in keiner Kommune einen merksam, weil im Sozialbereich die ganzen Bundes- unausgeglichenen Haushalt; dann würde der Ober- wehrfachschulen betroffen sind. Wir müssen darauf stadtdirektor hinausgeschmissen. Der Haushalt ist ein besonderes Augenmerk haben. auszugleichen. Lassen Sie dies also in Zukunft sein, Unabhängig von der Truppenreduzierung ist eine und achten Sie darauf! Analyse der militärisch genutzten Flächen und Ein- Dies zeigt im Grunde genommen das Chaos der richtungen dringend erforderlich. Dies hat das Vertei- Bundesregierung, wo die Zuständigkeiten in vielen digungsministerium nicht geleistet; sie muß nachge- Bereichen zwischen den Ministerien der Verteidi- liefert werden. gung, für Wirtschaft, für Wohnungsbau hin- und her- Die Entwicklungen bei der Bundeswehr und den geschoben werden, wodurch sinnvolle Stadtentwick- von ihr beanspruchten Einrichtungen führen heute zu lung und Strukturpolitik vernebelt wird. einem anderen Flächenbedarf und anderen Infra- Die Praxis zeigt ja: Die Bundesvermögensverwal- strukturnotwendigkeiten als vor 50 oder 100 Jahren, tung feilscht jenseits aller regionalen Strukturpro- als die Kasernen geschaffen worden sind. So mancher bleme heute noch um den Verkaufspreis der freiwer- Architekt kann bei der Bebauung von Flächen und denden Liegenschaften, trotz aller Beschlüsse des Einrichtungen in vielen Bereichen von den Geschoß- Haushaltsausschusses. Diese Flächen und Gebäude flächenzahlen, die man innerhalb der Kasernen fin- sind aber für viele Gemeinden der rettende Strohhalm det, nur träumen. für die Ansiedlung von Arbeitsplätzen und zum Bau Es ist den Bürgern nicht mehr zu vermitteln, warum dringend benötigter Wohnungen oder Infrastruktur- etwa in einem Weichbild einer Stadt heute noch große einrichtungen. Areale mit militärischen Lagern brachliegen. Man Hätte übrigens die Koalition 1990 bei unserem An- kann keinem vermitteln, daß es in Essen-Mitte ein trag „Verbilligte Abgabe von Grundstücken aus Bun- großes militärisches Lager gibt. Es gibt Werkstattbe- desbesitz" so konstruktive Vorschläge gemacht, Herr reiche mitten in den Städten, es gibt Schießplätze in Hitschler, wie Sie sie heute gemacht haben — ich den hervorragendsten Lagen unserer Städte. Das kann die nur begrüßen — , wäre in vielen Punkten kann man doch keinem mehr vermitteln. Wir sind wertvolle Zeit nicht so verschleudert worden. dafür, daß man aufhört, in den Städten dringend not- wendiges Bauland zu blockieren. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3393

Otto Reschke Das Grundeigentum des Bundes und seiner Son- Zweitens. Aus strukturpolitischen und ökologi- dervermögen unterliegt einer speziellen Sozialver- schen Gründen sollten deshalb möglichst militärische pflichtung des Grundgesetzes. Die Bundesregierung Liegenschaften in Ballungsgebieten aufgegeben hat mehrfach ihre Bereitschaft bekundet, im Eigen- werden. tum des Bundes befindliche Grundstücke beschleu- Drittens. Darüber hinaus muß auch die Forderung nigt für Zwecke des Sozialwohnungsbaus abzugeben. der Länder sichergestellt werden, daß der Bund die Das Ergebnis: Wir bekommen die Flächen nicht für freiwerdenden militärischen Liegenschaften zur zivi- den Wohnungsbau frei. Hemmnisse für eine Infra- len Anschlußnutzung schnellstmöglich altlastenfrei strukturplanung zu vollziehen gibt es in vielen Punk- an die Kommunen übergibt. ten. Deswegen sage ich deutlich: Man muß stärker auf Viertens. Ich spreche hier die freiwerdenden Ge- die Planungshoheit der Gemeinden Rücksicht neh- bäude und Infrastruktureinrichtungen an. Herr Kol- men. lege Beckmann, ich war natürlich in der Bundeswehr- Ich kann Ihnen ein Beispiel geben, wie es in der fachschule in Essen-Kupferdreh, und ich war auch in Praxis läuft, trotz aller Beschlüsse des Haushaltsaus- der Kaserne Kupferdreh. Natürlich träumen einige schusses. - Offiziere der Kaserne in Kupferdreh, die Bundeswehr- fachschule, also ein altes Krupp-Gästehaus, zu einem berichtet wurde, wurde ohne Wie mir aus Potsdam Offizierskasino zu machen. Da haben wir beide darauf Rücksicht auf die Planungshoheit der Stadt Potsdam zu achten, daß so etwas nicht geschieht; womöglich und deren städtische Aufgabe als brandenburgische noch mit Hilfe des Finanzministers. Landeshauptstadt einfach über 300 ha — das ist eine Menge Holz — verfügt. Der Potsdamer Magistrat er- fuhr per Annonce in der „Frankfurter Allgemeinen Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Reschke, Zeitung", daß die Oberfinanzdirektion Cottbus eine Ihre Redezeit ist abgelaufen. bereits geräumte Teilfäche von 12 ha, in hervorragen- der Lage am Jungfernsee, zum Kauf anbietet. Solche Otto Reschke (SPD): Ich komme zum Schluß, Herr Dinge dürfen in der Praxis nicht vorkommen. Präsident. stattfin- (Beifall bei der SPD) Wichtig ist, daß Bedarfsuntersuchungen den, und wichtig ist, daß wir jetzt in den Ausschüssen Hier wird Gemeindeplanungsrecht und Gemeindeho- nicht mehr viel beraten, sondern daß wir konzeptio- heit in vielen Punkten übergangen. nelle Maßnahmen umsetzen, um in den Städten und Ich sage ganz deutlich: Der Bund muß neben den Gemeinden zu Boden zu kommen, und zwar zu gün- Ländern auch die Städte, Gemeinden und Kreise stigem und preiswertem Boden. Der Bund hat als Spe- rechtzeitig über geplante Maßnahmen des Truppen- kulant in diesem Punkt zurückzutreten. abbaus informieren und ihnen ausreichende Gele- (Zuruf von der CDU/CSU: Die Kommunen genheit zur Stellungnahme geben. Ohne Planverf ah- aber auch!) ren der Städte und Gemeinden darf kein Grundstück Schönen Dank. mehr verhökert werden; sonst laufen doch Fehlent- (Beifall bei der SPD) wicklungen in unseren Gemeinden. Angesichts der Erfahrungen in Potsdam empfehle Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- ich jeder Stadt, jeder Gemeinde, vom Rat eine Verän- ordnete Hans-Wilhelm Pesch. derungssperre nach dem Baugesetzbuch in Verbin- dung mit dem Maßnahmengesetz beschließen zu las- Hans-Wilhelm Pesch (CDU/CSU): Herr Präsident! sen und Städteplanung und Flächenbedarf für militä- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte risch genutzte Flächen neu festzulegen. Das Baurecht zum Schluß der heutigen Debatte noch einmal auf den läßt dies zu, und ich fordere alle Städte auf, dies zu Tagesordnungspunkt 7 b, den Antrag der SPD „Ver- tun. Auch da, wo nur Teilabzug von Flächen stattfin- billigte Abgabe von Grundstücken, die in Bundesbe- det, sollte man die Entwicklung beeinflussen. Die Ge- sitz sind" , eingehen. meinde kann aber in vielen Bereichen auch im Rah- men eines förmlich festgelegten Sanierungsgebietes (Franz Müntefering [SPD]: Da können wir Genehmigungsvorbehalte nach § 114 des Baugesetz- uns ja nur freuen! Den werden Sie ja lo buchs aussprechen, wenn sie es rechtzeitig erfährt, ben!) daß ein Grundstück verhökert werden soll. Damit — Herr Müntefering, ich habe den Eindruck — die kann sie z. B. falsche Stadtentwicklung und Spekula- Debatte hat das bestätigt —, daß die SPD speziell mit tionen in vielen Bereichen verhindern. diesem Antrag etwas zu spät kommt. Wir alle sollten sehen, vielleicht sogar lobend sehen, daß schon in Erstens. Wir fordern die Bundesregierung auf, bau- einem Antrag im — ich glaube — Februar von einer reife und weitere Grundstücke für den Wohnungsbau 50prozentigen Verbilligung von Grundstücken ge- und für andere gemeinnützige Zwecke zur Verfügung sprochen wurde. Dem Bundesrat liegt ein Antrag des zu stellen. Ich freue mich über die Vorschläge des Kol- Landes Nordrhein-Westfalen vor, in dem insgesamt, legen Hitschler. Wir beziehen uns darauf, daß der bis auf Ausnahmen, ebenfalls nur von einer Verbilli- l die Verbilligung bis zu Bundesrat schon am 19. Ap ri gung bis zu 50 % gesprochen wird. 80 % gefordert hat. Das sollte auch für Sie ein Maßstab sein. Die Frage des Erbbaurechts, Kollege Hitschler, (Franz Müntefering [SPD]: Sie sind eben be könnte ja eine der von Ihnen angesprochenen Sach- scheiden in Nordrhein-Westfalen!) leistungen sein. Wir sind da mit vielen Punkten sehr In der Begründung Ihres Antrages sagen Sie nun, einverstanden. daß die Bestimmung im Einzelplan 08 erweitert wer- 3394 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Hans-Wilhelm Pesch den müßte. Meine Damen und Herren, vor allen Din- SPD der Redlichkeit halber mitzuteilen, daß es die gen von der SPD, Sie brauchen jetzt nur in den Ent- Landesregierung in Rheinland-Pfalz und zwar die alte wurf des Einzelplanes 08 Kap. 92 zu schauen. Dort Landesregierung unter einer CDU/FDP-Koalition, ge- sehen Sie alles das, was uns auf den Nägeln brennt wesen ist, die als erste von allen Landesregierungen und wo wir ja viele Gemeinsamkeiten haben, fein säu- ein geschlossenes Konzept und ein geschlossenes Pro- berlich, bis ins Detail niedergeschrieben. gramm zum Truppenabbau entwickelt hat, das ich persönlich gar nicht in allen Punkten teile? Aber der Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Pesch, ge- Redlichkeit halber sage ich, daß sie im Prinzip die statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dil- erste war, die diese Forderungen in der Öffentlichkeit ler? und auch im politischen Raum erhoben hat, so daß man, wenn es um die Verteilung des Erstgeburts- Hans-Wilhelm Pesch (CDU/CSU): Ja, gerne. rechts geht, auch was die Grundstücksbewertung be- trifft, doch auf diese Anträge aus dem Land Rhein- Karl Diller (SPD): Da Sie in dem Irrglauben verhaftet land-Pfalz verweisen sollte. sind, daß dies der erste Antrag der SPD in diese Rich-- (Franz Müntefering [SPD]: Das war doch si tung sei, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß cher ein FDP-Minister! — Gegenruf des Abg. wir im Haushaltsausschuß bei den Beratungen zum Dr. Walter Hitschler [FDP]: Das nebenbei! — Haushalt 1990 und bei den Beratungen zum Haushalt Jan Oostergetelo [SPD]: Gibt es sonst noch 1991 mehrfach ähnliche Anträge vergeblich gestellt eine abgewählte Regierung, die was Gutes haben, weil Ihre Kolleginnen und Kollegen im Haus- gemacht hat?) haltsausschuß der Meinung waren, 15 % seien das allerhöchste der Gefühle, und würden Sie bitte dem staunenden Plenum einmal erklären, was den Mei- Vizepräsident Hans Klein: Das war eine sogenannte nungswandel innerhalb von drei Wochen verursacht Billardfrage. hat? Ihre Kolleginnen und Kollegen haben nämlich im Haushaltsausschuß im Mai unsere Anträge noch ab- gelehnt und haben sich im Juni bereit erklärt, ähnli- Hans-Wilhelm Pesch (CDU/CSU): Dem kann ich che Anträge nun mitzutragen. nur beipflichten. Mir ging es darum, hier unter allen (Otto Reschke [SPD]: Im November sind wir Umständen in dieser wichtigen Sachfrage doch eine bei 80 %!) sehr breite Übereinstimmung feststellen zu dürfen. Ich glaube, das ist in dieser Frage von großer Wichtig- Hans-Wilhelm Pesch (CDU/CSU): Entschuldigen keit für das zukünftige Vorgehen. Sie, ich habe ja sogar lobend erwähnt, daß Sie im Meine Damen und Herren, ich will hier in aller Februar einen solchen Antrag eingebracht haben. Kürze noch einmal auf einige wichtige Punkte, die der (Franz Müntefering [SPD]: Sie sind zu spät Parlamentarische Staatssekretär im Finanzministe- gekommen!) rium soeben noch einmal vorgetragen hat, eingehen. Das ist nicht wegzuwischen; das ist da. Die Initiative ist eben jetzt, was die Vorlage des Haus- Mich und viele aus unserer Fraktion verwundert halts 1992 angeht, die Initiative des Bundesfinanzmi- nisters. Dieser Initiative stimmen wir zu. Wir begrü- jedoch, daß es dann, wenn jetzt eine Zahl in die Welt ßen, daß im sozialen Wohnungsbau gesetzt wird und wenn die Regierung im Laufe der aus bisher militä- risch genutzten Liegenschaften Grundstücke mit ei- Monate auf eine solche Zahl, nämlich auf die 50 %, nem Abschlag von 50 % den Gemeinden bzw. den eingeht, gottgegeben sein muß, daß Sie als Opposition Käufern zur Verfügung gestellt werden. Hier legen weiterhin einen draufsetzen und weiterhin höhere Forderungen anmelden, natürlich gegen die Vor- wir schon Wert darauf, daß es eine Belegungsbindung gibt, die sich auf einen Zeitraum von mindestens schläge der Regierung wettern und dann mit dem 15 Jahren erstreckt. Das soll für bebaute wie für unbe- Brustton tiefster Überzeugung gegen die Vorlagen baute Grundstücke gelten. Wir begrüßen weiterhin, der Regierung oder gegen den Etatentwurf der Regie- rung stimmen. daß ein gleicher 50%iger Abschlag für Grundstücke für den Studentenwohnungsbau vorgenommen wer- (Otto Reschke [SPD]: Wir lassen uns doch den soll. Das ist eine sehr wichtige Angelegenheit, von der Regierung nicht übertreffen!) wenn man um die Situation auf diesem Gebiet Ich will hiermit anmerken, daß wir uns nicht nur in der weiß. Zielsetzung, sondern auch in der Machbarkeit, was (Zuruf von der SPD: Das ist richtig!) die Zahlen angeht, einig sein müßten. Es ist zu begrüßen, daß es einen 50%igen Abschlag (Franz Müntefering [SPD]: Dann stimmen gibt auf Grundstücke, die für Altenheime, für Pflege- Sie unserem Antrag zu!) heime, für Behinderteneinrichtungen oder z. B. für Das ist das Problem. Ich meine nach wie vor, daß Sie Altenwohnungen zur Verfügung gestellt werden. In mit Ihrem Antrag — dabei bleibe ich — zu spät ge- den neuen Ländern gelten z. B. 50%ige Abschläge für kommen sind. überbetriebliche Umschulungseinrichtungen, auch für Verwaltungszwecke der Kommunen, für Schulen, Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Pesch, es Kindergärten. Für infrastrukturelle Maßnahmen gibt den Fragewunsch des Kollegen Dr. Hitschler. sollte ja denn der Abschlag bis zu 75 % gelten. Wir bedauern — und das ist ganz am Anfang von Dr. Walter Hitschler (FDP): Herr Kollege Pesch, wä- Herrn Hinsken hier gesagt worden —, daß das aus ren Sie bereit, dem Sie fragenden Kollegen von der EG-Gründen nicht auch für gewerbliche Flächen, die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3395

Hans-Wilhelm Pesch zur Verfügung gestellt werden, möglich ist, weil das ja — das ist ja eben bestätigt worden — schon vor Ab- ganz klar als Subvention angesehen wird. schluß eines Kaufvertrags für kommunale Einrichtun- gen zur Verfügung stehen können. Meine Damen und Herren, dies sind alles keine wortreichen Ankündigungen, sondern, wie gesagt, ist Hier besteht die einmalige Chance, den angespann- das alles im Einzelplan 08 eindeutig dargelegt und ten Grundstücks- und Wohnungsmarkt gerade in den nachzulesen. Ballungsgebieten deutlich spürbar zu entlasten. Es kommt jetzt darauf an, den Kommunen mit geringst (Zuruf von der SPD: Im Einzelplan 08 stehen möglichem administrativem Aufwand zu helfen, 15 %, Herr Kollege!) preisgünstigen Wohnraum zu schaffen und darüber — Nein, nein, da stehen ganz andere Summen. hinaus die kommunale Infrastruktur zu verbessern. Meine Damen und Herren, streiten wir uns also Es ist meines Erachtens selbstverständlich, daß nicht weiter um das Erstgeburtsrecht, obwohl es sich mögliche, notwendige Altlastensanierungen zu La- nach der Zwischenfrage von Herrn Dr. Hitschler doch sten des jetzigen Inhabers dieser Grundstücke gehen wieder mehr der CDU und der FDP zuzuneigen müssen, also zu Lasten des Verkäufers. - scheint. (Zuruf von der SPD: Dann sind Sie im Wider- (Franz Müntefering [SPD]: Die FDP überho spruch zur Bundesregierung!) len Sie nicht, das garantiere ich Ihnen!) — Darüber kann man ja noch diskutieren. Man kann Streiten wir also nicht weiter um die im Einzelplan 08 meines Erachtens nicht den Kommunen zumuten, aufgezeigten und schon festgeschriebenen Möglich- Grundstücke zu kaufen, die unkalkulierbare Risiken keiten des Verkaufs und der Nutzung der in Frage in sich bergen, was mögliche Altlasten angeht; hier- kommenden Liegenschaften, sondern stimmen wir über werden wir sicherlich noch zu reden haben. alle bei der in den nächsten Wochen stattfindenden (Beifall bei der SPD) Diskussion dem vom Bundesfinanzminister im Einzel- plan 08 aufgezeigten Weg zu! Auch über die Befristung dieser Maßnahmen bis Ich danke Ihnen. 1995, glaube ich, könnte das letzte Wort noch nicht gefallen sein, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Franz Müntefering [SPD]: 1995 verlängern wir das auch!) Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Parla- mentarische Staatssekretär beim Bundesminister für weil sich ja diese ganzen Abwicklungen wahrschein- Bauwesen, Raumordnung und Städtebau, Jürgen lich über das Jahr 1995 hinaus hinziehen werden, Echternach. wobei ich hier vor allen Dingen unsere alliierten Freunde nennen möchte, die uns da wirklich — auch das möchte ich ein wenig kritisieren — , was Aufklä- Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär beim Bun- rung über ihre zukünftigen Verhaltensweisen angeht, desminister für Raumordnung, Bauwesen und Städte- etwas, na ja, mager behandeln — ich komme selbst bau: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die aus einer Stadt, die diese Probleme hat — und uns Sprecher aller Fraktionen sind sich heute einig gewe- zum Teil wenig Aufklärung zukommen lassen. sen, in der Freude darüber, daß die Politik der Bun- desregierung, Frieden zu schaffen mit immer weniger (Otto Reschke [SPD]: Wenn Sie sich noch auf Waffen, so erfolgreich gewesen ist. die 80 % zubewegen, sind wir einig!) Wir haben über die Probleme, die sich im Zusam- Meine Damen und Herren, es ist unbedingt erfor- menhang auftun, gesprochen; aber es ist deutlich ge- derlich, daß rechtzeitig mit Kommunen und Kreisen worden, daß es gerade für die betroffenen Kommunen die notwendigen Abstimmungsgespräche geführt auch eine Fülle neuer Chancen gibt, daß die freiwer- werden. Den Kommunen soll aber auch eine großzü- denden Flächen jetzt für die Entwicklung der Städte gige Abwicklung bei der Zahlung des Kaufpreises genutzt werden können und daß dies auch eine be- ermöglicht werden. Auch hier gibt es schon schriftlich sondere Chance für den Wohnungsbau ist. Denn an- festgehaltene Zahlen. Ich meine, daß man den jeweils gesichts von 3 Millionen Neubürgern, die in den letz- kaufenden Kommunen von der Ratenzahlung bis hin ten Jahren zu uns gekommen sind, angesichts der zur Stundung des Kaufpreises entgegenkommen massiv gestiegenen Einkommen und der sich daraus müßte, weil es sich in den meisten Fällen um sehr ergebenden zusätzlichen Nachfrage nach Wohnraum große Summen handelt, um Millionenbeträge, die im ist der Mangel an Bauland heute einer der Engpässe, ein oder anderen Fall von den einzelnen Gemeinden der überwunden werden muß, um diesem Bedarf in nicht aus dem Ärmel zu schütteln sind. entsprechendem Umfang Rechnung zu tragen. Wir brauchen also, meine Damen und Herren, Gerade der Soziale Wohnungsbau kann die hohen schnellstmöglich Klarheit darüber, welche Liegen- Kosten überhaupt nur dann finanzieren, wenn er nicht schaften künftig nicht mehr genutzt werden. Es durch explodierende Grundstückspreise unfinanzier- kommt jetzt darauf an, daß ab sofort Klarheit über die bar wird. Hier hilft die Bundesregierung — auch dank künftige Nutzung der bundeseigenen Liegenschaften der jetzt durch die Konversion freiwerdenden Grund- herrscht, so daß von den Kommunen schnellstmöglich stücke — einmal, indem sie diese Grundstücke vor- die notwendigen Bebauungspläne aufgestellt werden rangig auch für den Sozialen Wohnungsbau zur Ver- können, daß Fristen für die Inangriffnahme und die fügung stellt, vor allem aber mit dem massiven Preis- Fertigstellung von Baumaßnahmen gesetzt werden nachlaß, der hilft den Sozialen Wohnungsbau über- können und daß unter Umständen Grundstücke haupt erst bezahlbar zu machen. 3396 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach Nun hätte ich eigentlich gedacht, daß dies auch von Rede zur Wohnungspolitik ausdrücklich begründet der Opposition so begrüßt werden würde. Die Oppo- hat, sition fordert mehr; sie fordert nicht nur die 50 %, die (Franz Müntefering [SPD]: Gute Rede!) die Bundesregierung gewähren will, sie fordert 80 %. Das wäre überzeugender, Herr Kollege Reschke, — er steht offenbar auch heute noch dazu — , warum wenn Sie das damals in der Zeit, als Ihre Partei der Prozentsatz für den Nachlaß 50 % sein müßte. Die 13 Jahre lang hier die Verantwortung trug, schon ge- Bundesregierung tut dies. tan hätten, wenn Sie überhaupt bereit gewesen wä- ren, das in Ihrer eigenen Regierungszeit zu tun, was Die Bundesregierung geht sogar noch weiter. Sie die Bundesregierung jetzt beschlossen hat. gewährt diese 50 % nicht nur auf unbebaute Grund- (Beifall bei der CDU/CSU) stücke, sondern auch auf bebaute Grundstücke. Die Bundesregierung ist sogar bereit, bei Schulen, bei Vizepräsident Hans Klein: Herr Staatssekretär, ge- Kindergärten, bei Alten- und Pflegeheimen noch wei- statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen ter zu gehen und sogar einen Preisnachlaß von 75 % Reschke? zu gewähren. Das heißt, sie geht noch weit über Ihren damaligen Antrag hinaus. Statt daß Sie dieses nun Otto Reschke (SPD): Herr Staatssekretär, Sie ken- anerkennen und zu dem stehen, was Sie vor noch nen die Zahl der Wohnungsnot. Ich wäre Ihnen dank- nicht einmal einem Jahr hier im Hause erklärt haben, bar, wenn Sie den Wohnfehlstand im Vergleich An- sagen Sie nun, 50 % interessiert nicht mehr, jetzt muß fang der 90er Jahre jetzt und der 80er Jahre einfach noch einer drauf, jetzt müssen es 80 % sein. Dies ist nennen würden. Zum anderen wollte ich Sie darauf doch alles nicht sehr glaubwürdig. aufmerksam machen, — — Wir gehen in einem Punkte sogar noch weiter. Wir Vizepräsident Hans Klein: Entschuldigung, Herr sagen, in Gebieten, die sich für eine städtebauliche Kollege, Sie können eine Frage stellen, aber nicht mit- Entwicklungsmaßnahme oder Sanierungsmaßnahme teilen, was der Staatssekretär kennt und worauf Sie anbieten, kann sogar der Prozentsatz noch wesentlich ihn aufmerksam machen wollen. höher sein. Dort kann nicht der Verkehrswert der künftigen Nutzung, sondern dort kann der Verkehrs- wert der alten, bisherigen Nutzung zugrunde gelegt Otto Reschke (SPD): Ich komme jetzt zur Frage. Meine Frage schließt sich daran an, daß wir am 7. Fe- werden, und das kann zu einem Abschlag führen, der bruar 1990 einen Antrag eingereicht haben, Grund- weit über 80 % hinausgeht. Auch hier tun wir also stücke aus Bundesbesitz abzugeben. Meine Frage: mehr, als Sie selbst in Ihrem Antrag im letzten Jahr Warum hat die Bundesregierung bisher über ein Jahr ausdrücklich gefordert haben. gebraucht, um sich in diese Richtung zu bewegen, bezogen auf den Wohnungsbau vor dem Hintergrund Sie wenden sich jetzt mit Ihrer Forderung auch nur der Wohnungsnot? an den Bund. Ich meine, es wäre glaubhafter, Sie wür- den auch etwas zu den Ländern und zu den Gemein- den sagen. Die Gemeinden haben ja einen wesentlich Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Raumordnung, Bauwesen und Städte- größeren Grundstücksbesitz als der Bund und sind die bau: Herr Kollege Reschke, zu dem Antrag werde ich Trägerinnen der Planungshoheit. Wir haben in den letzten Monaten eine gleich etwas sagen. Aber es ist einfach unzutreffend, Bund-Länder-Kommission zum daß es in der Zeit Ihrer Regierung keine Wohnungs- Thema Bauland eingesetzt. An den Beratungen haben knappheit oder Wohnungsnot gegeben hätte. Gerade auch die Kommunalen Spitzenverbände teilgenom- im Jahre 1981/82 hatten wir einen ganz erheblichen men. Ich empfehle den Bericht, der seit einigen Wo- Wohnungsmangel. Auch damals war allgemein von chen vorliegt, auch Ihrer Aufmerksamkeit. Dort ist auf Wohnungsnot die Rede. In dieser Zeit ist ein Antrag die hohe Verantwortung der Kommunen hingewiesen worden, im Rahmen einer aktiven Bevorratungspoli- gestellt worden, 50 % Preisnachlaß für Grundstücke tik tätig zu werden und durch entsprechende Auswei- für den sozialen Wohnungsbau zu gewähren. Er ist von der damaligen Opposition gestellt und von Ihnen sung von Bauland ihren Beitrag zu leisten. Ich kann abgelehnt worden. Sie sind sogar noch einen Schritt nur an die Kommunen appellieren, auch ihrer Verant- weitergegangen. Sie haben nicht nur diesen Antrag wortung hier gerecht zu werden, was manchmal nicht abgelehnt, sondern Sie haben die damals geltende ganz leicht ist angesichts des Egoismus vieler Bürger, die die grüne Wiese in ihrer Nachbarschaft als ihren Verbilligungsregelung von 30 To mit dem Haushalts- persönlichen Besitzstand begreifen und die dann, strukturgesetz auf 15 % reduziert. Mit 50 % gewähren wenn dort zusätzliche Baulandflächen ausgewiesen wir jetzt den höchsten Nachlaß, der überhaupt je von werden, sich unter Berufung auf ökologische Ge- einer Bundesregierung für die Förderung des sozialen sichtspunkte oft dagegen wehren, weil sie lieber ins Wohnungsbaus gewährt worden ist. Das sollte von Grüne hinein als auf die Bebauung des Nachbarn Ihnen anerkannt werden. blicken. Hier ist schon der Mut der Kommunalpoliti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ker gefordert. Da Sie auch dort in erheblichem Um- Was nun, Herr Kollege Reschke, Ihren Antrag vom fang Verantwortung tragen, wäre es gut, wenn Sie letzten Jahr angeht, auch da wären Sie natürlich nicht nur Forderungen an die Adresse des Bundes, glaubwürdiger mit Ihrer Forderung, wenn Sie noch sondern auch an die Gemeinden, auch an die Kommu- heute zu dem stehen würden, was Sie selbst im letzten nalpolitiker vor Ort richteten, die hier viel tun kön- Jahr beantragt haben. Der Kollege Müntefering ist es nen. gewesen, der hier im letzten Oktober noch in einer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3397

Parl. Staatsekretär Jürgen Echternach Sie berufen sich jetzt bei Ihrem Sinneswandel, nun Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 d und nicht mehr 50 % Preisnachlaß zu fordern, sondern den Zusatzpunkt 3 auf: 80 %, auf ein Votum des Bundesrates. Auch da muß man sich die Praxis der Länder ansehen. Es gibt ein 8. Beratungen ohne Aussprache einziges Bundesland, das auch im eigenen Bereich so a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung verfährt, und das ist das Land Baden-Württemberg. des von der Bundesregierung eingebrach- (Beifall bei der CDU/CSU) ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Ansonsten gibt es zwei weitere Länder, Rheinland- kommen vom 18. Dezember 1989 zwischen Pfalz und Nordrhein-Westfalen, die einen Preisnach- der Regierung der Bundesrepublik laß von 30 bis 50 % vorsehen. Die anderen Länder Deutschland und der Regierung der Repu- haben solche generellen Regelungen überhaupt blik Ungarn über den Luftverkehr nicht. Der Bund sieht also in der Gesamtschau vorzüg- — Drucksache 12/341 — lich aus. Ich meine, auch hier sollten Sie ein deutliches Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Wort an die Adresse der Länder richten, auch wenn - Sie dort selbst Verantwortung tragen. schusses für Verkehr (16. Ausschuß) — Drucksache 12/789 — Zu der Forderung nach einem preislimitierten Vor- kaufsrecht, Herr Kollege Reschke: Auch dort kennen Berichterstatter: Sie vielleicht die Praxis nicht. Die Praxis ist, daß der Abgeordneter Ferdi Tillmann Bund in diesen Fällen sich schon jetzt im Rahmen des geltenden Städtebaurechts einem Vorkaufsrecht der (Erste Beratung 25. Sitzung) Gemeinden dann gegenübersieht, wenn es um die Sicherung einer geordneten städtebaulichen Ent- b) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- wicklung geht. Aber auch darüber hinaus ist es regel- tionsausschusses (2. Ausschuß) mäßige Praxis, daß der Bund den Gemeinden und Sammelübersicht 19 zu Petitionen Ländern zunächst erst einmal, wenn sie Interesse ha- (Rechtsstellung der Dienstpflichtigen — ben, dieses Grundstück anbietet, so daß es eines sol- Entlassungsgeld) chen Vorkaufsrechtes gar nicht bedarf. — Drucksache 12/685 — (Otto Reschke [SPD]: In Potsdam war das vor wenigen Wochen wohl anders!) c) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuß) — Generell ist es Praxis, den Gemeinden und den Ländern vor Ort zunächst die entsprechenden Grund- Sammelübersicht 24 zu Petitionen stücke anzubieten, wenn sie ein entsprechendes In- (Einkommensteuer) teresse haben, natürlich im Rahmen des geltenden — Drucksache 12/810 — Haushaltsrechts. Der Antrag der SPD mag ja gut ge- meint gewesen sein, er geht an der Wirklichkeit vor- d) Beratung der Beschlußempfehlung und des bei, er geht auch an den Maßnahmen, die die Bundes- Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- regierung in der Zwischenzeit ergriffen hat, vorbei. schuß) zur Unterrichtung durch die Bundes- regierung Wir haben darüber hinaus den Ländern ein zusätz- liches Städtebauförderungsprogramm angeboten, das Verringerung der Schuldenlast der AKP bis zum Jahre 2001 reichen soll, um die Probleme der Staaten gegenüber der Gemeinschaft Konversion auch städtebaulich vernünftig zu lösen — Mitteilung der Kommission an den und die Entwicklung der betroffenen Gemeinden ver- Rat — nünftig zu sichern. — Ratsdok. Nr. 4345/91 — Ich bin davon überzeugt, daß diese Maßnahmen der — Drucksachen 12/187 Nr. 2.2, 12/311 (Be- Bundesregierung die Mobilisierung von dringend be- richtigung), 12/1113 — nötigtem Bauland forcieren werden. Ich bitte Sie, die- sen Weg, der finanzpolitisch vertretbar und woh- Berichterstatter: nungspolitisch wünschenwert ist, auch zu unterstüt- Abgeordnete Karl Diller zen. Dr. Conrad Schroeder (Freiburg) (Beifall bei der CDU/CSU) ZP 3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Wirtschaft (9. Aus- schuß) zu der Verordnung der Bundesregie- rung Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- Aufhebbare Einhundertvierzehnte Verord- che. nung zur Änderung der Einfuhrliste — Anlage Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf zum Außenwirtschaftsgesetz — den Drucksachen 12/882 und 12/884 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- — Drucksachen 12/623, 12/1157 — gen. Es ist der Wunsch der SPD-Fraktion, die Druck- Berichterstatter: sachen zusätzlich an den Ausschuß für Fremdenver- Abgeordneter Dr. Uwe Jens kehr zu überweisen. Besteht Einverständnis darüber? — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so Ich rufe den Gesetzentwurf auf 12/341 mit seinen beschlossen. Art. 1 und 2, Einleitung und Überschrift auf. Der Aus- 3398 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Vizepräsident Hans Klein Schuß für Verkehr empfiehlt auf Drucksache 12/789, Welche Gründe haben bisher die Unterzeichnung eines Voll- den Gesetzentwurf unverändert zu übernehmen. Ich streckungshilfevertrages mit dem Königreich Thailand verhin- dert, und wann kann mit der Unterzeichnung eines Vollstrek- bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen kungshilfevertrages gerechnet werden? wünschen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? Bei einer Enthaltung ist der Ge- Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen setzentwurf angenommen. Amt: Herr Kollege, im Hinblick auf die relativ hohe Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Peti- Zahl deutscher Staatsangehöriger im thailändischen tionsausschusses auf Drucksache 12/685, Sammel- Vollzug, die vor allem wegen Verstoßes gegen das übersicht 19. Es handelt sich um eine Petition zum Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden sind, be- Entlassungsgeld von Dienstpflichtigen. müht sich die Bundesregierung seit Jahren um eine Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der Vereinbarung mit dem Königreich Thailand. Der SPD auf Drucksache 12/1151 vor. Wir stimmen zu- Wunsch der Bundesregierung nach einem Beitritt nächst über den Änderungsantrag der Fraktion der Thailands zu dem weltweit offenen Übereinkommen SPD ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? — des Europarats über die Überstellung verurteilter Per- Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsan- sonen vom 21. März 1983 oder dem Abschluß eines trag ist abgelehnt. Vertrags auf der Grundlage des von den Vereinten Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti- Nationen erarbeiteten Mustervertrags war nicht tionsaussschusses? — Gegenprobe! — Enthaltungen? durchsetzbar. Statt dessen wünschte die thailändische — Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Regierung bilaterale Verhandlungen. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Nachdem im thailändischen Recht begründete Hin- Petitionsausschusses auf Drucksache 12/810 ab. Das dernisse, die einem Vertragsabschluß zunächst entge- ist die Sammelübersicht 24. Wer stimmt für diese Be- genstanden, ausgeräumt werden konnten, hat die schlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? Bundesregierung der thailändischen Seite im Juni 1991 den — Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Entwurf eines bilateralen Volistreckungs- hilfevertrags übermittelt. Verhandlungen hierüber Nun stimmen wir über die Beschlußempfehlung des werden Anfang Oktober dieses Jahres beginnen. Die Haushaltsausschusses auf Drucksache 12/1113 zur Bundesregierung ist um einen baldigen Abschluß des Unterrichtung durch die Bundesregierung über die Vertrags bemüht. Verringerung der Schuldenlast der AKP-Staaten ab. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegen- Zusatzfrage, Herr probe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung Vizepräsident Helmuth Becker: Abgeordneter Koppelin. ist einstimmig angenommen. Wir stimmen jetzt noch über die Beschlußempfeh- (FDP) : Herr Staatsminister, wie lung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache Jürgen Koppelin kommt es, daß andere Länder ein entsprechendes Ab- 12/1157 zur Änderung der Einfuhrliste ab. Wer stimmt kommen haben und die Bundesrepublik Deutschland für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — nicht? Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung ist ange- nommen. Staatsminister: Ich kann Ihnen Meine Damen und Herren, wir treten jetzt in die Helmut Schäfer, diese Frage deshalb nicht beantworten, weil mir nur Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der unsere Bemühungen, einen solchen Vertrag zu be- Fragestunde fortgesetzt. kommen, bekannt sind. Wir haben zunächst auf inter- Ich darf Sie jetzt schon darauf hinweisen: Nach der national gültige Verträge abgestellt, auf Grundsätze Fragestunde wird es erneut eine Unterbrechung ge- wie der Europarat sie bereits verabschiedet hat. ben. Voraussichtlich wird dann gegen 16.30 Uhr wei- Ich kann hier sagen, daß die thailändische Regie- tergetagt. rung einem solchen Vorstoß unsererseits nicht positiv Ich unterbreche die Sitzung. begegnet ist. Aber sie ist jetzt wohl bereit, in Verhand- (Unterbrechung von 12.57 bis 14.00 Uhr) lungen mit uns einzutreten, damit ein bilaterales Ab- kommen geschlossen werden kann. Die Hintergründe der Entwicklung in anderen Län- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und dern kann ich Ihnen jetzt nicht mitteilen. Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröff- net. Jürgen Koppelin (FDP) : Herr Staatsminister, kön- nen Sie mir sagen, wann das Auswärtige Amt damit Wir fahren in unserer Tagesordnung mit Tagesord- rechnet, daß diese Verhandlungen abgeschlossen nungspunkt 2 fort: sind? Fragestunde Staatsminister: Das hängt davon — Drucksache 12/1141 — Helmut Schäfer, ab, wie schnell wir mit unseren Vorstellungen durch- Wir kommen zunächst zu den Fragen aus dem Ge- kommen. Sie wissen, daß das eine Mate rie ist, bei der schäftsbereich des Auswärtigen Amts. Zur Beantwor- man natürlich auch die Rechtsauffassungen der ande- tung steht uns Herr Staatsminister Helmut Schäfer zur ren Seite berücksichtigen muß. Aber wir haben Hoff- Verfügung. nung, daß das relativ schnell abgeschlossen werden Ich rufe die Frage 12 des Abgeordneten Jürgen kann, weil wohl in Vorgesprächen einiges auch schon Koppelin auf: geklärt worden ist. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3399

Vizepräsident Helmuth Becker: Ich rufe die Helmut Schäfer, Staatsminister: Es ist bei den Pro- Frage 13 des Abgeordneten Jürgen Koppelin auf: zessen, die in Thailand geführt werden, natürlich üb- Hält die Bundesregierung die Betreuung der deutschen Inhaf- lich, daß man sich auch bemüht, Anwälte zur Verfü- tierten in thailändischen Gefängnissen für ausreichend? gung zu stellen, die darauf hinweisen, daß bestimmte Bitte, Herr Staatsminister. Strafmaße, die dort gelten, in keiner Weise mit dem sonst vergleichbaren internationalen Recht in Ein- Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die klang stehen. Aber gerade bei solchen Vergehen, die Haftbedingungen in Thailand entsprechen nicht un- bei uns natürlich nicht so hart bestraft würden, geht es seren Anforderungen und den hiesigen Haftbedin- uns durch das vorgesehene Abkommen darum, die gungen. Die Botschaft in Bangkok betreut aber die Überstellung nach Deutschland nach einer relativ Inhaftierten und bemüht sich fortlaufend, eine Ver- kürzeren Verweildauer zu ermöglichen und dabei besserung der Haftbedingungen zu erreichen. dann die hier gängige Strafpraxis anzuwenden.

Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage, Herr Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- Abgeordneter Koppelin. satzfrage des Abgeordneten Hans de With.

Jürgen Koppelin (FDP): Herr Staatsminister, kön- Dr. Hans de With (SPD): Herr Staatsminister, ist die nen Sie sich vorstellen, daß diese Antwort mich nicht Bundesregierung bereit, verstärkt von dem Angebot zufriedenstellt? Aus eigener Erfahrung weiß ich, weil von Referendarinnen und Referendaren Gebrauch zu ich das Zentralgefängnis in Bangkok besucht habe machen, an auswärtigen Botschaften Dienst zu tun, so daß sie dann dort Betreuungshilfe leisten können, wie (Zurufe von der SPD: Aha!) das z. B. mit Hilfe einer Rechtsreferendarin in Bang- — ich kann nur sagen: Gehen Sie einmal dorthin, da kok der Fall ist? Aber es könnten mehr sein. gehen Sie mit ganz merkwürdigen Gefühlen wieder heraus; da würde ich gar nicht „Aha" rufen —, daß die Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wir Betreuung dort nicht von seiten der Botschaft erfolgt, tun unser Bestes, um jungen Referendarinnen und sondern daß die Kirche das dort macht, wenn auch auf Referendaren zu ermöglichen, ein Praktikum an Bot- Bitten der Botschaft. schaften zu absolvieren. Das ist nicht überall möglich. Können Sie sich weiter vorstellen, wie die Zustände Aber wenn das möglich ist und wenn, wie in dem von in thailändischen Gefängnissen sind? Das Neueste ist, Ihnen genannten Fall, eine so vorzügliche zusätzliche daß seit 14 Tagen in einem Gebäude, in dem sich bis- Leistung erbracht werden kann, dann möchte ich Sie her 200 Inhaftierte befanden, jetzt 330 Personen in- alle bitten, mit dazu beizutragen, daß die Vorausset- haftiert sind. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, zungen, mehr Referendare in einem Praktikum im daß unter den Inhaftierten — vor allem auch bei den Auswärtigen Dienst zu beschäftigen, geschaffen wer- Deutschen — die Stimmung außerordentlich gereizt den. ist, ja daß es sogar zu Gewalttätigkeiten kommt? Vizepräsident Helmuth Becker: Die Frage 14 des Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, wir Abgeordneten Ortwin Lowack soll auf seinen Wunsch wissen, daß in vielen Gefängnissen der Welt, in denen schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Deutsche einsitzen — die sich allerdings auch gewis- Anlage abgedruckt. ser Vergehen, gelegentlich Verbrechen, schuldig ge- Wir kommen zur Frage 15 des Abgeordneten Klaus macht haben — , die Bedingungen nicht so gut sind Harries: wie hier. Wir wollen mit dem Vertrag mit der thailän- Hält die Bundesregierung nach den Erfahrungen im Irak die dischen Regierung auch — das ist ein ganz wichtiger Kontrollmöglichkeiten der Internationalen Atombehörde (IAEO) Punkt — auf einer Herabsetzung der Mindestverbü- für wirksam und ausreichend? ßungszeit hinarbeiten. Wir wollen also erreichen, daß die gefangenen Inhaftierten nach einer bestimmten Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, seit Zeit an die Bundesrepublik ausgeliefert werden. Das etwa 20 Jahren hat die IAEO, also die Internationale ist der Sinn der von mir beschriebenen Verhandlun- Atombehörde, die in Art. 3 des Nichtverbreitungsver- trages vorgesehenen Sicherungsmaßnahmen durch- gen, die wir jetzt beginnen wollen. geführt. Die Bundesregierung hat ebenso wie ihre Ich kann nur dazusagen, daß die Botschaft nach Partner im Nichtverbreitungsvertrag diese Kontroll- unserer Kenntnis im Rahmen der Möglichkeiten, die tätigkeit stets als angemessene Garantie des friedli- sie hat — sie ist personell nicht so ausgestattet, daß sie chen Charakters der kontrollierten Nuklearaktivitä- solche Besuche täglich durchführen kann —, um Be- ten und der Nichtabzweigung der deklarierten Nukle- treuung bemüht ist. Daß sich die Kirchen zusätzlich armaterialien in Nichtkernwaffenstaaten erachtet. um die Betreuung bemühen, betrachten wir als sehr Die im Rahmen der Sicherheitsratsresolution 687 begrüßenswert. von der Sonderkommission der UN und der IAEO im Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- Irak durchgeführten Kontrollen haben jedoch erge- satzfrage des Herrn Abgeordneten Koppelin. ben, daß es einem Staat mit vertragswidrigen Absich- ten möglich ist, Nuklearaktivitäten der Deklarierung Jürgen Koppelin (FDP): Herr Staatsminister, sind und damit der internationalen Kontrolle zu entziehen. Sie auch bereit, mit mir festzustellen, daß Mühe allein Das unter normalen Umständen bewährte System der manchmal nicht reicht, wenn man die dortigen Zu- Sicherungsmaßnahmen hat sich insoweit als verbes- stände sieht, wenn man z. B. sieht, daß jemand zu serungsbedürftig erwiesen. zehn Jahren Haft für einen Scheckbetrug in Höhe von Folgende Aktivitäten hat die Bundesregierung des- 400 DM verurteilt wird? halb entwickelt bzw. mitentwickelt: die Erklärung zur 3400 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Staatsminister Helmut Schäfer Nichtverbreitung und zur Waffenausfuhr des Europäi- Kommission um eine rasche Beantwortung dieser schen Rates vom 29. Juni dieses Jahres sowie die Er- Bitte. klärung über den Transfer konventioneller Waffen Auf der Grundlage dieser Beantwortung ruft die und die Nichtverbreitung von ABC-Waffen des Wi rt Bundesregierung zu einer international koordinierten -schaftsgipfels in London vom 16. Juli dieses Jahres. Hilfskampagne auf, in der die Europäische Gemein- Ferner hat die Bundesregierung im Rahmen der schaft und die Staaten der sogenannten G7 eine Europäischen Politischen Zusammenarbeit eine Reihe Schlüsselrolle spielen und in die Nichtregierungsor- von Vorschlägen zur Stärkung des Sicherungssystems ganisationen mit einbezogen werden sollen. erarbeitet. Diese Vorschläge werden zur Zeit im Rah- Bilateral sind bislang an kostenlosen humanitären men der IAEO behandelt. Ein erstes Maßnahmepaket Hilfslieferungen aus der Bundesrepublik Deutschland sollte nach Auffassung der EPZ-Partner baldmöglichst in die Sowjetunion gelangt: Hilfen durch die Bundes- verabschiedet werden. Der Gouverneursrat der Inter- regierung aus der Berlin-Rese rve und aus Bundes- nationalen Atombehörde hat eine Entscheidung bis wehrvorräten im Wert von ca. 700 Millionen DM, me- Februar 1992 in Aussicht gestellt. dizinische Hilfsgüter im Wert von 230 Mil lionen DM - und darüber hinaus — durch p rivate Spenden — (CDU/CSU): Herr Staatsminister, Klaus Harries Hilfsgüter im Wert von 450 Millionen DM. In diesem könnten Sie heute sagen, welche substantiellen Ver- Gesamtvolumen von ca. 1,4 Milliarden DM kommen besserungen die Bundesregierung im Zusammen- mehr als 75 % aller in die Sowjetunion gelieferten hang mit den Gesprächen und Verhandlungen, die humanitären Hilfsgüter aus der Bundesrepublik Sie gerade geschildert haben, anstrebt? Deutschland. Helmut Schäfer, Staatsminister: Es geht im wesent- Der zur Abwicklung dieser Hilfslieferungen im Aus- lichen darum, daß, was bisher schon der Fall war, wärtigen Amt eingerichtete Arbeitsstab „Sowjet- Anträge auf Genehmigung von Ausfuhren nuklearre- union-Hilfe" setzt seine Tätigkeit auch weiterhin fort. levanter Güter nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Wir hoffen, daß, ähnlich wie wir es schon getan haben, Sicherungsmaßnahmen durch die IAEO geprüft wer- sich jetzt angesichts der schwierigen Lage in der So- den, sondern auch andere Faktoren berücksichtigt wjetunion sehr viele Länder diesen Bemühungen an- werden, z. B. das Verhalten des betreffenden Landes, schließen werden. um so weit wie möglich auszuschließen, daß solche Gegenstände für Zwecke der Kernwaffenherstellung Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage mißbraucht werden. Sie wissen, daß es im Zusammen- des Herrn Abgeordneten Erler. hang mit der Tätigkeit der Internationalen Atombe- hörde im Irak immer noch ganz erhebliche Mängel gibt und daß sich diese Situation seit gestern wieder Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister, Sie haben verändert hat — mit entsprechenden Maßnahmen, die sich in Ihrer Antwort, was die Bezifferung der Hilfe der amerikanische Präsident angedeutet hat. angeht, vor allen Dingen auf schon laufende oder im Abschluß befindliche Programme bezogen. Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- Für die Zukunft aber — und uns ist von verschie- satzfrage des Herrn Abgeordneten Har ries. dener Seite gesagt worden, daß der demokratische Prozeß in der Sowjetunion auch durch eine krisen- Klaus Harries (CDU/CSU): Haben Sie Vorstellun- hafte Entwicklung bei der Versorgung mit Lebensmit- gen, Herr Staatsminister, wann man mit einem — hof- teln und Energie im kommenden Winter bedroht sein fentlich erfolgreichen — Ergebnis dieser Verhandlun- kann — haben Sie uns nur von Aufrufen der Bundes- gen auf internationaler und IAEO-Ebene rechnen regierung zu gemeinschaftlicher Hilfe berichten kön- könnte? nen. Heißt das, daß die Bundesregierung bisher keine konkreten Planungen für eigene Anstrengungen ge- Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich gehe davon aus macht hat? — und ich bin optimistisch — , daß das, was wir mittra- gen und mitempfohlen haben, angesichts der Ent- Staatsminister: Herr Kollege, ich wicklung im Irak zu einer relativ schnellen Überein- Helmut Schäfer, glaube, es ist im Interesse der Bürger der Bundesre- kunft führen wird. publik Deutschland notwendig, daß wir ihnen auch als Regierung verdeutlichen, daß wir diese Anstren- Vizepräsident Helmuth Becker: Ich rufe nunmehr die Frage 16 des Abgeordneten Gernot Erler auf: gung nicht allein unternehmen können, sondern daß im Verbund mit den Staaten, die genauso wie wir Auf welche Maßnahmen bereitet sich die Bundesregierung vor, um der Bevölkerung der sowjetischen Republiken bei einer interessiert sein müssen, daß sich die Lage in der So- drohenden Hungersnot im bevorstehenden Winter zu helfen? wjetunion nicht zu einem Chaos entwickelt, gemein- Bitte, Herr Staatsminister. same Anstrengungen unternommen werden müssen, in deren Rahmen wir natürlich das tun werden, was Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die wir noch leisten können. Bundesregierung ist sich des Ernstes der wirtschaftli- Ich habe die Zahlen bewußt genannt, um deutlich chen Lage in der Sowjetunion und der Gefahr von zu machen, daß unser Appell eben auch an die ande- Versorgungsproblemen im kommenden Winter be- ren Staaten geht. Es wäre ja mißlich, wenn der Ein- wußt; Präsident Gorbatschow hat sich vor einigen Ta- druck aufkäme, Deutschland könnte auch weiterhin gen an den Präsidenten der EG-Kommission mit der 75 % all dieser Maßnahmen selber finanzieren. Wir Bitte um Notstands- und Nahrungsmittelhilfe ge- sollten gemeinsam mit allen Partnern in der Europäi- wandt. Die Bundesregierung bemüht sich bei der EG schen Gemeinschaft dazu beitragen, daß möglichst Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3401

Staatsminister Helmut Schäfer schnell geholfen wird. Unseren Anteil werden wir da- keit tut, nicht eine Bedingung ist, die die Bundesre- bei natürlich übernehmen. gierung stellt?

Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich kann dies zu- satzfrage des Abgeordneten Erler. nächst einmal nicht bestätigen. Ich weiß nicht, auf welche konkreten Äußerungen des Bundeskanzlers Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister, bei der so- Sie sich berufen. Man müßte dann den Wortlaut schon eben von Ihnen angesprochenen gemeinschaftlichen genau kennen; vielleicht kann das der Herr Kollege Hilfe mehrerer Länder liegen intern schon zwei Kon- Stavenhagen klären. zepte vor, jedenfalls wenn wir von unmittelbarer Le- Ich darf nur sagen, daß bestimmte Auffassungen, bensmittelhilfe an die Sowjetunion reden. Das eine die es in einigen westlichen Partnerländern gibt, näm- Konzept besagt, daß Überschüsse der EG unter Um- lich man möge erst einmal abwarten, ob denn die ständen direkt in die Sowjetunion geliefert werden Reformen greifen und erfolgreich sind, um dann über sollen. Das andere Konzept verbindet das Interesse Hilfe nachzudenken, sicherlich nicht der Auffassung der traditionellen Lieferländer von Lebensmitteln der Bundesregierung entsprechen. Wir glauben viel- nach Osteuropa mit dem Plan, der Sowjetunion Hilfe mehr, daß die Hilfe effizient sein und bald kommen zu leisten, indem man sagt, man sollte das Wiederauf- muß, damit die Reformprozesse gelingen. Es darf also leben dieser Lieferungen und Handelsbeziehungen nicht umgekehrt sein. Ich glaube, da gibt es langsam kreditfinanzieren. einen Bewußtseinswandel angesichts der Analysen, Können Sie uns sagen, welchem dieser beiden Mo- die über — so möchte ich es einmal sagen — das delle die Bundesregierung den Vorzug geben wird, „Worst-case-Scena rio" in der Sowjetunion erstellt wenn es zu gemeinschaftlichen Hilfsaktionen für den werden. kommenden Winter in Form einer humanitären Hilfe kommen wird? Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- satzfrage des Abgeordneten Erler. Helmut Schäfer, Staatsminister: Es wäre verfrüht, die Bundesregierung jetzt schon auf eines der beiden Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister, Sie haben Konzepte festlegen zu wollen, die noch diskutiert wer- soeben sozusagen weniger belastende, herabgestufte den. Ich halte eine Kombination von beiden Konzep- Bedingungen als für die Bundesregierung doch denk- ten für denkbar. Aber ich glaube, daß wir das jetzt bar benennen können. Könnten Sie sich vorstellen, wirklich zuerst mit den Partnern diskutieren müssen, daß die Bundesregierung einen Unterschied zwischen bevor wir uns hier öffentlich auf Vorstellungen festle- humanitärer Hilfe in einer schweren Winterzeit, in der gen, die es gemeinsam noch durchzusetzen gilt. es an Lebensmitteln und auch bei der Energieversor- gung mangelt, und mittelfristigen Hilfen macht und Vizepräsident Helmuth Becker: Ich rufe nun die daß die Kriterien für die Vergabe dieser beiden ver- Frage 17 des Herrn Abgeordneten Gernot Erler auf: schiedenen Formen der Hilfe dann auch entsprechend Welche politischen Bedingungen stellt die Bundesregierung unterschiedlich ausfallen werden? für die Gewährung von finanzieller und wirtschaftlicher Hilfe an die Sowjetrepubliken? Helmut Schäfer, Staatsminister: Natürlich müssen die unterschiedlich ausfallen. Ich kann das nur bestä- Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, die tigen. Die Winterhilfe — oder wie immer man das nen- Bundesregierung stellt keine politischen Bedingun- nen mag — ist natürlich nicht ausreichend, um die gen. Sie hat aber ein großes Interesse am Erfolg sta- mittel- und langfristigen Probleme der sich in einer bilisierender Reformen. Mit unserer Hilfe wollen wir völligen Wandlung befindenden ehemaligen Sowjet- ein überzeugendes gesamtwirtschaftliches Reform- union zu lösen. Wenn ich vorhin gesagt habe, daß ein programm, das mit Unterstützung der internationalen einheitlicher Wirtschafts- und Währungsraum Hilfe Finanzorganisationen ausgearbeitet werden sollte, natürlich erleichtert, dann ist das keine Bedingung, fördern. sondern wohl eine faktische Aussage. Wir können hier Klare Zuständigkeitsregelungen und die Aufrecht- nur an alle Staaten im Osten, die sich bemühen, in erhaltung des beabsichtigten großen und einheitli- Europa Fuß zu fassen, appellieren, sich nicht durch chen Wirtschafts- und Währungsraumes in der So- Nationalitätenkonflikte, durch die Schaffung von wjetunion erhöhen die Aussichten für eine erfolgrei- Grenzen, durch die Schaffung eigener Armeen das che Unterstützung der Wirtschaftsreformmaßnah- Leben für die Zukunft — wenn sie denn schon nach men. Europa wollen — schwerzumachen.

Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage des Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- Abgeordneten Erler. satzfrage, Herr Abgeordneter Ebert.

Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister Schäfer, Sie Eike Ebert (SPD): Herr Staatsminister, halten Sie haben soeben in Abrede gestellt, daß die Bundesre- den soeben von Ihnen eingeführten Beg riff der Win- gierung Bedingungen stellt. Mir sind aber öffentliche terhilfe in diesem Zusammenhang für angemessen? Aussagen des Bundeskanzlers hierzu aus den letzten Tagen in Erinnerung, in denen solche Bedingungen Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich sehr wohl genannt werden — insbesondere bezüglich habe einen Kollegen Ihrer Fraktion, ich glaube, den dessen, was das Fortschreiten des Reformprozesses in Kollegen Erler, zitiert. Das hat er nämlich vorher auch der Sowjetunion angeht. Heißt das, daß dies, wenn der gesagt, es sei denn, ich hätte ihn akustisch mißver- Bundeskanzler solche Äußerungen in der Öffentlich- standen. Man kann hier natürlich alles mögliche erfin- 3402 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Staatsminister Helmut Schäfer den, aber Sie mögen mich bitte nicht auf eine natio- zur Privatisierung ansteht, zumindest um einen un- nalsozialistische Vergangenheit festlegen wollen. Das freundlichen Akt gegenüber der Bundesrepublik han- ist dann wohl sicher unzutreffend. Der Beg riff „Win- delt? terhilfe" ist einschlägig besetzt. Ich bedaure, aber ich meine, der Kollege Erler hat den Beg riff gerade vor Helmut Schäfer, Staatsminister: Das kann ich so mir verwendet. nicht bestätigen.

Vizepräsident Helmuth Becker: Ich rufe nunmehr Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- die Frage 18 des Abgeordneten Eike Ebert auf: satzfrage des Abgeordneten Erler. Ist der Bundesregierung bekannt, daß seit einigen Monaten — so z. B. am 7. September 1991 in Karlsbad, weiterer Termin am Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister, Sie haben 13. Oktober 1991 — verstärkt bisher in staatlicher Treuhand- soeben als Hintergrund für die Beantwortung dieser schaft gehaltener und aus der Enteignung Sudetendeutscher stammender Immobilienbesitz in Versteigerungen privatisiert Frage festgestellt, daß man sich mit der tschechoslo- wird, und was hat die Bundesregierung unternommen bzw. was wakischen Regierung über Entschädigungsfragen beabsichtigt sie zu unternehmen, um dieses Verhalten der nicht einigen konnte. Ist der tatsächliche Grund dafür tschechoslowakischen Behörden zu verhindern, das offenbar die darin zu sehen, daß noch immer kein für die tschecho- Entschädigungsfrage vor Abschluß der laufenden Verhandlun- gen einseitig regeln soll? slowakische Regierung akzeptables Angebot der Bundesregierung zur Entschädigung von Zwangsar- Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, nach beitern während des Zweiten Weltkriegs vorgelegt Ihrem Präliminarium: Der Bundesregierung ist be- worden ist? kannt, daß in der Tschechoslowakei im Zuge der Pri- vatisierungen Immobilienbesitz aus staatlicher Hand Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich privatisiert wird. Die Bundesregierung hat die Ver- bin Ihnen dankbar, daß Sie Ihren Kollegen darauf auf- treibung der Deutschen und die entschädigungslose merksam machen, daß Forderungen der einen Seite Einziehung des deutschen Vermögens stets als völ- Forderungen der anderen Seite nach sich ziehen. Wir kerrechtswidrig angesehen. sollten das bei den komplizierten Vertragsverhand- Sie hat diese Auffassung auch in den noch andau- lungen, die sonst sehr gut voranschreiten, nicht ver- ernden Verhandlungen mit der Tschechoslowakei gessen. über einen Vertrag über gute Nachbarschaft und Die Frage 19 des freundschaftliche Zusammenarbeit vertreten. Der Re- Vizepräsident Helmuth Becker: Abgeordneten Ludwig Stiegler soll auf seinen gierung der CSFR ist diese Auffassung bekannt. An- Wunsch schriftlich beantwortet werden. Die Antwort gesichts der bisher von der Regierung der CSFR ver- wird als Anlage abgedruckt. tretenen Position besteht jedoch keine Aussicht, daß sich die Regierung der CSFR gegenwärtig der Rechts- Wir kommen damit zur Frage 20 des Abgeordneten auffassung der Bundesregierung annähert. Dr. Hans de With: Was hat der Bundesminister des Auswärtigen bei seinem Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage des jüngsten Besuch in Moskau getan, um die Überstellung des mit Abgeordneten Ebert. Haftbefehl gesuchten E rich Honecker in die Bundesrepublik Deutschland zu erreichen? Eike Ebert (SPD): Herr Staatsminister, können Sie Herr Staatsminister. bestätigen, daß diese Privatisierungen jetzt, nachdem die Verhandlungen begonnen haben, verstärkt statt- Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, der finden? Bundesminister des Auswärtigen hat gegenüber Staatspräsident Gorbatschow und gegenüber Außen- Helmut Schäfer, Staatsminister: Soweit ich mich er- minister Pankin die Forderungen der Bundesregie- innern kann, haben wir, und zwar nicht nur die Bun- rung nach Überstellung des früheren Staatsratsvor- desregierung, sondern viele Regierungen im Westen sitzenden der DDR, Honecker, nach Deutschland er- — und das greift das auf, was Herr Erler fordert —, neuert. verlangt, daß die sozialen und wirtschaftlichen Ref or- men in diesen Staaten schnell vorangehen. Der Beg riff Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage des der Privatisierung hängt damit eng zusammen. Ich Abgeordneten de With. halte es für etwas schwierig, wenn wir auf der einen Seite dafür eintreten, daß konfisziertes Vermögen, Dr. Hans de With (SPD): Mit welchem Nachdruck durch den Staat enteignetes Vermögen, jetzt im Inter- hat er das getan, oder geschah das eher — Sie verzei- esse eines schnellen Aufbaus einer funktionierenden hen, wenn ich das sage — floskelhaft? Denn die Marktwirtschaft privatisiert werden soll, aber auf der Presse, die Medien lassen erkennen, daß möglicher- anderen Seite gleichzeitig Vorwürfe erheben, wenn weise eine gewisse Halbherzigkeit der Bundesregie- die tschechoslowakische Seite solches Vermögen, das rung zu spüren sei. sich vorher in der Hand einer kommunistischen Re- gierung als Staatseigentum befand, privatisiert. Helmut Schäfer, Staatsminister: Aus Ihrer langen Kenntnis des Bundesaußenministers, Herr Kollege de Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- With, vermute ich, daß Sie hier eigentlich mehr ihm als satzfrage des Abgeordneten Ebert. bestimmten Presseäußerungen trauen. Wenn er er- klärt, daß er das mit dem entsprechenden Nachdruck Eike Ebert (SPD): Würden Sie mir zustimmen, Herr getan hat, dann würde ich sagen, sollten wir das hier Staatsminister, daß es sich unter den besonderen Um- bitte nicht in Zweifel ziehen. Aber das ist natürlich Ihr ständen, unter denen jetzt dieses spezielle Vermögen gutes Recht. Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3403

Vizepräsident Helmuth Becker: Weitere Zusatz- sagt worden, auch beim Besuch von Herrn Genscher frage des Abgeordneten Dr. de With. in Moskau.

Dr. Hans de With (SPD): Wäre es nicht zumindest Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- angebracht gewesen, daß der Bundesminister des satzfrage des Abgeordneten Erler. Auswärtigen nach außen deutlich gemacht hätte, was er mit Nachdruck getan hat, um diesen Pressemeldun- Gernot Erler (SPD): Herr Staatsminister Schäfer, gen — das ist nicht meine Meinung, ich zitiere nur sind der Bundesregierung Äußerungen oder Meinun- und weise darauf hin — entgegenzutreten, damit gen der sowjetischen Regierung bekannt, daß die nicht der fatale Eindruck der Halbherzigkeit ent- Rechtsauffassung, die hinter diesen Vorgängen steht, steht? etwas damit zu tun hat, daß die Sowjetunion nicht zulassen möchte, daß ehemalige Verbündete dieser Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es doch recht großen Macht nachträglich für Dinge, die gab ja falsche Pressemeldungen über dieses Ge- sie als Verbündete der Sowjetunion getan haben, vor spräch, ausgelöst in der Sowjetunion durch TASS, die Gericht gestellt werden? natürlich dementiert werden mußten, weil sie so nicht stimmten, Pressemeldungen, wonach schon ein Über- Staatsminister: Herr Kollege, ich einkommen geschlossen worden wäre. Das ist inzwi- Helmut Schäfer, möchte jetzt nicht unbedingt die Haltung der Sowjet- schen alles klargestellt worden. union hier qualifzieren und Mutmaßungen über Ich kann nur sagen, wir bemühen uns. Der Bundes- Gründe anstellen, die zu dieser Haltung geführt ha- außenminister hat diese Bemühungen bei seinem Be- ben; ich bitte um Ihr Verständnis dafür. Aber Interpre- such in Moskau sehr deutlich gemacht. Ich kann Ih- tationen, wie Sie sie hier geben, sind nicht auszu- nen versichern, daß das nicht halbherzig oder gar for- schließen. melhaft war. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Staatsmini- Vizepräsident Helmuth Becker: Ich rufe nun die Frage 21 des Abgeordneten Dr. de With auf: ster, ich bedanke mich für die Beantwortung der Fra- gen aus Ihrem Geschäftsbereich, dem Geschäftsbe- Hat der Bundesminister des Auswärtigen der UdSSR dabei mit reich des Bundesministers des Auswärtigen. Nachdruck verdeutlicht, daß die Flucht Honeckers aus der Bun- desrepublik Deutschland mit Hilfe des Militärs der UdSSR Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesmi- rechtswidrig war und Artikel 7 des Vertrages über die abschlie- nisters für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- ßende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September heit auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamenta- 1990 widerspricht, in welcher Vorschrift auch die UdSSR dem vereinten Deutschland die volle Souveränität zuerkannt hat? rische Staatssekretär Bernd Schmidbauer zur Verfü- gung. Helmut Schäfer, Staatsminister: Die Forderung Die Frage 61 des Abgeordneten Klaus Har ries so- nach Überstellung Honeckers wurde auf der Grund- wie die Fragen 62 und 63 des Abgeordneten Dr. Peter lage der der Sowjetunion bekannten Rechtsauffas- Paziorek werden auf deren Wunsch schriftlich beant- sung der Bundesregierung erneuert. Der Rechtsan- wortet. Die Antworten werden als Anlagen abge- spruch würde allerdings dann hinfällig, wenn sich druckt. Honecker zur freiwilligen Rückkehr nach Deutsch- Wir kommen damit zur Frage 64 der Frau Abgeord- land entschließt. neten Jutta Müller (Völklingen): Zusatzfrage, Herr Wie beurteilt die Bundesregierung die Möglichkeit, den Deut- Vizepräsident Helmuth Becker: schen Bundestag und Bundesbehörden mit den langfristig ko- Kollege de With. stengünstigen und energiesparenden Öko-Lampen auszustat- ten und wie würde die Bundesregierung die Signalwirkung ei- Dr. Hans de With (SPD): Herr Staatsminister, sind ner solchen Aktion in der Öffentlichkeit beurteilen? Sie nicht mit mir der Meinung, daß dies keine kon- Bitte sehr, Herr Staatssekretär. krete Antwort auf meine Frage ist? Denn in meiner Frage war ein Vertrag angesprochen worden. Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich cherheit: Frau Kollegin Müller, die Bundesregierung kann das hier nur so beantworten, wie ich es Ihnen hat bereits sehr frühzeitig die Möglichkeit wahrge- soeben beantwortet habe. nommen, durch den Einsatz von Leuchtstofflampen bzw. Kompaktleuchtstofflampen Energie zu sparen Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- und die Umwelt zu entlasten. Anders als in Wohnge- satzfrage des Abgeordneten Dr. de With. bäuden werden in Verwaltungsgebäuden bereits seit vielen Jahren etwa 90 % der künstlichen Beleuchtung (SPD): Können Sie mir dann zu- Dr. Hans de With durch den Einsatz von Leuchtstofflampen für Lang- mindest bestätigen, daß die verneindende oder eher feldleuchten erbracht. zögerliche Haltung der UdSSR nach dem, wie ich meine, vorangegangenen Rechtsbruch völkerrechtli- Mit der auf Neubauten sowie Umbau- und Erweite- cher Art durch das russische Militär auch von Ihnen so rungsbaumaßnahmen zielenden Verwaltungsvor- gesehen wird, zumindest als Verstoß gegen den Geist schrift „Beleuchtung' 84" hat die Bundesregierung die des Zwei-plus-Vier-Vertrages gesehen wird? Verwendung von traditionellen Glühlampen bereits frühzeitig auf Ausnahmefälle beschränkt. Helmut Schäfer, Staatsminister: Das ist, so glaube Eine 1990 durchgeführte Befragung in den Bundes- ich, der Sowjetunion immer wieder sehr deutlich ge- ministerien führte zu dem Ergebnis, daß gegenwärtig 3404 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Parl. Staatssekretär Bernd Schmidbauer die Möglichkeiten zum Einsatz von Leuchtstofflam- zwischen genug Möglichkeiten. Keiner hat die Aus- pen und Kompaktleuchtstofflampen weitgehend ge- rede, dies sei technisch nicht realisierbar. nutzt werden. Ausnahmen gibt es lediglich dort, wo (Jutta Müller [Völklingen] [SPD]: Herzlichen besondere Gründe vorliegen, also z. B. bei angemie- Dank!) teten Gebäuden usw. In diesen Fällen verhandelt die Bundesregierung mit den Vermietern mit dem Ziel, die bisher installierten Glühlampen auszutauschen. Vizepräsident Helmuth Becker: Die nächste Frage Insgesamt hat sich bestätigt, daß die Energiesparlam- ist die Frage 65 der Frau Kollegin Susanne Kastner: pen und energiesparenden Leuchtstoffkompaktröh- Warum wurden vom Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Klaus Töpfer, bei der Vorlage des ren sehr weit verbreitet sind. Berichts „Sofortprogramm Trinkwasser 1990" keine konkreten Ich darf Ihnen ein Beispiel nennen: Im neuen Angaben über die hohe Zahl bekannter Beanstandungen der Dienstgebäude des Bundesministeriums für Verkehr Trinkwasserqualität in den neuen Ländern z. B. wegen Ni trat, Aluminium und in bezug auf den pH-Wert gemacht, obwohl werden fast ausschließlich Energiesparlampen einge- Greenpeace und dem Deutschen Bundestag gegenüber be- setzt. hauptet wurde, alle Trinkwasserdaten seien veröffentlicht wor- den, und mit welchen organisatorischen und finanziellen Maß- Nach der Umfrage ist davon auszugehen, daß bis nahmen wurden inzwischen die Versorgung von Säuglingen Ende 1991 die technisch und wirtschaftlich möglichen mit einwandfreiem Wasser in den Fä llen sichergestellt, in denen Umrüstungen in allen Häusern weitgehend abge- den Hygieneinstituten Nitratbelastungen über 50 oder 90 oder schlossen sind und der Restanteil der nichtumrüstba- 120 mg/1 in zentralen Wasserversorgungsanlagen und Eigen- ren Glühbirnen in der Regel nur noch zwischen 1 % versorgungsanlagen bekannt sind? und 15 % liegt. Bitte, Herr Staatssekretär. Ich darf noch darauf hinweisen, daß es ein vom Umweltbundesamt herausgegebenes Handbuch Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Liebe „Umweltfreundliche Beschaffung" gibt, dem eben- Frau Kollegin Kastner, auf Ihre Frage 65 die Ant- falls Hinweise für die Umrüstung auf solche Lampen wort: zu entnehmen sind. Ziel des „Sofortprogramm Trinkwasseruntersu- Im übrigen wird derzeit geprüft, ob für die Produkt- chung in den neuen Bundesländern" war es, be- gruppe „Energiesparlampen" ein Umweltzeichen stimmte Parameter, die bisher nicht oder nur unzurei- vergeben werden kann. chend analysiert werden konnten, in besonders ge- fährdeten Versorgungsgebieten zu untersuchen. Ne- Da die Antwort normalerweise viel länger gewor- ben Aluminium waren Schwermetalle, organische Lö- den wäre, möchte ich Sie noch darauf hinweisen, daß semittel und Pflanzenschutzmittel Bestandteile des ich Ihnen zu dieser Frage im Anschluß hieran zusätz- Analyseprogramms. liche Hintergrundinformationen mit all den Antwor- Da das Programm der Feststellung akuter Gesund- ten der Bundesregierung zu dieser Frage aushändige, heitsgefährdung durch diese Stoffe diente, wurden im die im Laufe der letzten Monate von uns und anderen Abschlußbericht nur die entsprechenden Grenzwert- Häusern gegeben wurden. Daraus können Sie dann und Richtwertüberschreitungen dargestellt. entnehmen, wie sich diese Diskussion bei Fragestun- den entwickelt hat. Das BMU hat die ihm vorher zur Verfügung stehen- den Berichte früherer Einrichtungen in der ehemali- gen DDR und die entsprechenden Pressemitteilungen veröffentlicht, z. B. Eckwerte der ökologischen Sanie- Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage rung. der Frau Kollegin Müller. Die Bundesregierung hatte für 1990 ca. 2 Millionen DM für die Ersatzwasserbeschaffung bei der Säug- lingssonderversorgung bereitgestellt. Auf Grund der (Völklingen) (SPD): Herzlichen Dank. Jutta Müller Länderkompetenz bei der Sicherstellung der Wasser- Dies alles ist schon sehr positiv. versorgung sind für die finanziellen und organisatori- Ich habe nur noch eine Verständnisfrage. Sie sagten schen Maßnahmen bezüglich der Säuglingssonder- gerade, es gebe teilweise Schwierigkeiten mit Ver- versorgung die einzelnen Bundesländer zuständig. mietern, weil hier irgendwelche Lampen umgebaut werden müssen. Im Handel gibt es aber schon Ener- Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Kast- giesparlampen zu kaufen, die genau wie jede Glüh- ner, eine Zusatzfrage. birne in jede Lampe passen. Man braucht doch nur die alte herauszudrehen und die neue einzuschrauben. Susanne Kastner (SPD): Herr Staatssekretär, Sie wissen ja, daß Bund und Länder im Einigungsvertrag aufgerufen werden, die natürlichen Lebensgrundla- Parl. Staatssekretär: Da Bernd Schmidbauer, gen des Menschen unter Beachtung des Vorsorge-, stimme ich Ihnen völlig zu. Dieses ist aber nicht das Verursacher- und Kooperationsprinzips zu schützen. Problem. Ich denke, daß gerade die Versorgung von Säuglin- Das Problem ist, daß bei angemieteten Gebäuden, gen zu dieser Maßnahme gehört. wo Veränderungen zu realisieren sind, die Frage des Ich hätte gern von Ihnen gewußt, inwieweit der Mietvertrags eine gewisse Rolle spielt. Ich sagte aber: Bund über die „Sofortkommission Trinkwasser" beim Dies sind Ausnahmetatbestände. Bundesgesundheitsamt in dieser Frage auf die In der Regel wird umgerüstet. Sie haben recht: Es schlimme Situation in den neuen Bundesländern ein- gibt inzwischen austauschbare Fassungen; es gibt in- wirkt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperi ode — 41. Sitzung. 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Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kol- haben, sondern daß dies bei den Ländern realisiert legin, ich werde in der Antwort auf Ihre nächste Frage wird, daß aber in Absprache mit den Ländern die Pro- genauer auch auf diesen Punkt eingehen. Vielleicht jektliste koordiniert wurde und die Investitionsmaß- darf ich deshalb zunächst auf Ihre folgende Frage ant- nahmen aus dem Sofortprogramm des Bundes letzten worten, damit dies im Zusammenhang dargestellt Endes dazu beitragen, daß diese Versorgungssitua- werden kann. tion gebessert werden kann. (Susanne Kastner [SPD]: Gut; einverstan- den!) Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage der Frau Abgeordneten Kastner. Darum nehmen wir Vizepräsident Helmuth Becker: (SPD): Herr Staatssekretär, geben die Beantwortung der nächsten Frage vorweg; Ihr Susanne Kastner Sie mir recht, daß die von Ihnen genannten 11 Millio- Fragerecht ist damit nicht eingeschränkt. nen DM für die im Aufbau befindlichen Gesundheits- Ich rufe die Frage 66 der Frau Kastner auf: ämter und Wasserbehörden sowie für die Schulung Reichen die im Haushalt 1991 und 1992 des Bundesministeri- deren Personals nicht ausreichend sind? ums für Gesundheit und des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vorgesehenen Mittel aus, um bis Ende 1991 eine flächendeckende Untersuchung aller Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kol- Trinkwasserversorgungsanlagen und -netze in den neuen Bun- legin, ich kann mir vorstellen, daß bei dem desolaten desländern und erforderliche Notversorgungsmaßnahmen Zustand der Grundwasser- und Trinkwassersituation durchzuführen, und welche Mittel wären notwendig, um in in den fünf neuen Ländern die Mittel in der Tat nicht nächster Zeit die notwendigen Sanierungsmaßnahmen an den ausreichen. Ich kann Ihnen aber sagen, daß wir mit korrodierten Leitungsnetzen und den Trinkwasseraufberei- tungs- und -versorgungsanlagen in den Gebieten durchzufüh- den vorhandenen Mitteln derzeit das überhaupt Mög- ren, in denen die gültigen Werte der Trinkwasserverordnung liche leisten. Wenn Sie sich einmal die Aufstellungen bzw. die vom Bundesgesundheitsamt empfohlenen Ausnahme- der unterschiedlichen Untersuchungen aus den Jah- werte (z. B. 90 mg/1 Nitrat) nicht eingehalten werden können? ren 1988 bis 1990/91 und die Erfassung der Daten sowie die ganzen Bemühungen, die inzwischen im Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kol- Rahmen des Sofortprogramms gelaufen sind, angese- legin, zur Unterstützung der neuen Länder bei ihren hen haben, dann wissen Sie, daß im Augenblick we- Überwachungs- und Kontrollaufgaben im Bereich der sentlich mehr Mittel nicht zu verwenden wären, daß Trinkwasserversorgung hat der Bundesminister für es also weniger an den Mitteln als an der Möglichkeit Gesundheit die Fachkommission „Soforthilfe Trink- liegt, dies aufzuarbeiten und zu realisieren. wasser" eingerichtet. Für die Haushaltsjahre 1991/92 stehen der Kommission insgesamt 11 Millionen DM, Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- davon 2 Millionen DM qualifiziert gesperrt, zur Verfü- satzfrage der Frau Kollegin Kastner. gung. Damit sollen Wasserversorgungsanlagen unter- sucht und Wasseraufbereitungsprojekte modellhaft Susanne Kastner (SPD) : Damit, Herr Staatssekre- gefördert werden. tär, bestätigen Sie eigentlich meine Frage, daß näm- Eine flächendeckende Untersuchung aller zentra- lich der gesamte Mittelbau der ehemaligen Gesund- len Wasserversorgungsanlagen erfordert einen Ge- heitsämter und die Schulung des Personals des ehe- samtaufwand von ca. 42 Millionen DM, der nur mit maligen Hygieneinstituts nicht ausreichend finanziell erheblichen Anstrengungen der Länder finanzierbar gefördert werden können. Ich frage Sie, ob nicht eine ist. Möglichkeit besteht, diese 11 Millionen DM in den Für Umweltschutzsofortmaßnahmen in den neuen nächsten Jahren im Hinblick auf die Schulung und auf Ländern werden vom BMU Mittel für 1991 und 1992 in diesen Mittelbau, der so wichtig ist, aufzustocken? Höhe von rund 800 Millionen DM bereitgestellt. Mit Stand 13. September 1991 sind hieraus für Projekte im Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Frau Kol- Bereich der Trinkwasserversorgung bereits 116 Mil- legin, ich gehe davon aus — ich sagte dies in meiner lionen DM zugesagt worden. Antwort — , daß dies ein sehr schwieriges Feld des Aufarbeitens alter Daten und der Realisierung im Gefördert werden in erster Linie konkrete Sanie- Rahmen des Sofortprogramms ist. Ich gehe aber nicht rungsprojekte, wie Anschluß an zentrale Wasserver- davon aus, daß die Mittel nicht ausreichen, um dieses sorgungsanlagen, Ablösung nitratbelasteter Haus- Programm zu realisieren. brunnen usw. Notversorgungsmaßnahmen, z. B. die Säuglingssonderversorgung, sind nicht Bestandteil Im übrigen stimme ich Ihnen zu, daß dies eine Auf- dieses Förderprogramms. Deshalb hatte ich gebeten, gabe der nächsten Jahre ist, besonders im Hinblick das zusammenzufassen. darauf, daß die Trinkwasserrichtlinie in vier Jahren auch in den neuen Bundesländern eingehalten wer- Über die notwendigen Investitionsmittel zur Sanie- den muß und daß wir aus den alten Daten die kata- rung von Leitungsnetzen und Aufbereitungs- bzw. strophale Situation von Tag zu Tag besser überblik- Versorgungsanlagen, besonders in Belastungsgebie- ken. ten, liegen keine spezifischen Daten vor. Sehr groben Schätzungen zufolge ist für die Sanierung des gesam- Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- ten Trinkwassernetzes in den neuen Bundesländern satzfrage der Frau Kollegin Kastner. ein Mittelbedarf in zweistelliger Milliardenhöhe nicht auszuschließen. Susanne Kastner (SPD) : Herr Staatssekretär, im Aus dieser Antwort, darf ich ergänzen, ist deutlich Hinblick auf die sehr schlechte Versorgung von Klein- geworden, daß wir für dieses Sonderprogramm Säug- kindern und Säuglingen, die ja in den neuen Bundes- lingstrinkwasserversorgung keine Bundeskompetenz ländern zum Teil mit Wasser von über 120 mg/l Nitrat- 3406 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Susanne Kastner gehalt ernährt werden müssen, frage ich Sie noch ein- wir jetzt am Ende der Fragen zum Geschäftsbereich mal: Wieweit plant eigentlich die Bundesregierung im des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Re- Rahmen einer finanziellen Soforthilfe für die Kommu- aktorsicherheit. nen, da unmittelbar tätig zu werden? Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- kanzlers und des Bundeskanzleramts. Zur Beantwor- Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Mir ist tung steht uns Herr Staatsminister Dr. Lutz Stavenha- nicht bekannt, daß es an den Mitteln liegt, ein solches gen zur Verfügung. Sofortprogramm für die Trinkwasserversorgung von Als erste ist die Frage 67 des Abgeordneten Peter Säuglingen zu realisieren. Conradi zu beantworten: Ich gehe davon aus, daß das ganze Maßnahmenpa- Trifft es zu, daß der ehemalige Präsident des Bundesnachrich- ket einschließlich dessen, was ich vorhin vorgetragen tendienstes, Dr. Wieck, dem Bundeskanzleramt am 9. März 1990 habe, auch der Notversorgung dort, wo im Augen- einen Text für die Beantwortung meiner Frage 1 (Drucksache blick der Trinkwasserverbund oder das Verbundsy- 11/6737) vorgeschlagen hat, der nicht identisch ist mit der Ant- wort des Bundeskanzleramts vom 13. März 1990 an mich, und stem nicht realisiert werden, gewährleistet ist. wenn ja, warum hat das Bundeskanzleramt den Text geän- Ich bin aber gern bereit, über die Länder noch ein- dert? mal darauf hinzuwirken. Ich sagte bereits: Die Kom- Bitte, Herr Staatsminister. petenz liegt bei den Ländern. Dies ist kein Abschieben der Verantwortung. Sie haben ja aus den vorgetrage- Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister beim Bun- nen Daten und Sofortmaßnahmen gesehen, daß wir es deskanzler: Herr Kollege, das trifft zu, mit der Präzi- auch hier ernst meinen. Obwohl die Häuser hier un- sierung, daß der Vorschlag nicht vom früheren Präsi- terschiedliche Kompetenzen haben, stehen wir voll zu denten, Dr. Wieck, sondern von seinem Vertreter, der Verantwortung. Wir gehen davon aus, daß es im Herrn Vizepräsidenten Dr. Münstermann, unter- Rahmen der Trinkwassersonderversorgung kein Pro- schrieben war. Den Text habe ich geändert, weil er blem gibt. statt einer Beantwortung Ihrer Frage in der Sache die Aber ich sichere Ihnen noch einmal zu, daß wir im Verweisung an die Parlamentarische Kontrollkom- Rahmen Ihrer Fragen in diesem Zusammenhang noch mission enthielt und ich von einer solchen Verwei- einmal zu einer Abfrage kommen. sung in diesem Fall nicht Gebrauch machen wollte. Ich war der Meinung, Ihnen in der Sache antworten zu Vizepräsident Helmuth Becker: Ihre letzte Zusatz- können, ohne Geheimhaltungsnotwendigkeiten zu frage, Frau Kollegin Kastner. vernachlässigen. Ich hatte auf Grund meiner Unter- richtung durch den BND-Präsidenten keinen Grund zu der Annahme, die Antwort nicht so geben zu kön- Susanne Kastner (SPD): Ich hätte von Ihnen gern noch gewußt, Herr Staatssekretär, wie die Bundesre- nen, wie ich es getan habe. gierung zu den von der Treuhand sehr massiv ange- strebten Privatisierungsplänen im Rahmen der Was- Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage. serversorgung in den fünf neuen Bundesländern (SPD): Herr Staatsminister, was ha- steht. Peter Conradi ben Sie dem BND-Präsidenten bei der Besprechung am 16. Januar 1990 geraten, als er Ihnen die Wunsch- Parl. Staatssekretär: Wir ge- Bernd Schmidbauer, liste des Herrn Schalck-Golodkowski vorgetragen hen davon aus, daß im Rahmen der Verhandlungen, hat, in der unter Position 2 stand: Bundespapiere un- die in den letzten Monaten durchgeführt wurden, das ter Decknamen? Interesse der Kommunen an ihren Trinkwasserversor- gungsbetrieben ausreichend realisiert werden konnte Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kol- und daß es nicht zu den von Ihnen angeschnittenen lege, das Ergebnis der Besprechung vom 16. Januar Privatisierungen kommt. Das sage ich für den Fall, daß war klar, daß Herr Schalck-Golodkowski durch den Sie jetzt von der Umstrukturierung der WABs spre- Bundesnachrichtendienst zu befragen ist, daß eine chen. Wenn Sie das nicht meinen, bitte ich Sie, Ihre Betreuung in nachrichtendienstlichem Sinne nicht zu Frage zu konkretisieren, was Sie mit Versorgungsbe- erfolgen hat. Ich darf auch darauf hinweisen, daß trieben meinen, ob Sie überregionale Netze meinen diese sogenannte Wunschliste dort nicht im einzel- oder ob Sie die direkte Trinkwasserversorgung im nen, Punkt für Punkt, besprochen worden ist und auch Rahmen der Umstrukturierung der WABs meinen. nicht übergeben worden ist. Es ist eine Liste, die zur (Susanne Kastner [SPD]: Ich meine — — Ich Gesprächsvorbereitung des Präsidenten diente. darf nicht mehr fragen; es tut mir leid!) Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- Vizepräsident Helmuth Becker: Nein. satzfrage des Abgeordneten Conradi.

Bernd Schmidbauer, Parl. Staatssekretär: Aber Peter Conradi (SPD): Anlaß meiner Frage, Herr wenn ich eine Antwort für den Fall geben darf, daß ich Staatsminister, war die Notiz im „Spiegel" vom Sie richtig verstanden habe: Ich denke, wenn es dem 12. Februar 1990, in der es hieß — aus Bonner Quel- Bürger nutzt, ist gegen eine Privatisierung einzelner len, wohlgemerkt — , der BND habe dem neuen Infor- Bereiche nichts einzuwenden. manten selbstverständlich angeboten, ihm bei Bedarf zu helfen, etwa mit einem Reisepaß. Vizepräsident Helmuth Becker: Vielen Dank, Herr Haben da bei Ihnen nicht alle Glocken geklingelt, Staatssekretär. Nachdem nun auch diese beiden Fra- und haben Sie nicht am selben Tag den BND aufge- gen und die Zusatzfragen beantwortet sind, stehen fordert, sich dazu zu äußern, und hat der BND Ihnen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3407

Peter Conradi nicht am selben Tag in einem Fernschreiben mitge- Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Ist es üblich, teilt, daß im Tenor diese Meldung zutreffe? daß der BND die Ausstellung von Decknamenpapie- ren betreibt bzw. unterstützt, ohne daß Sie davon un- Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kol- terrichtet werden; und in welchem Umfang geschieht lege, das Fernschreiben, das Sie erwähnen, sagt in der das? Tat, im Tenor treffe der „Spiegel"-Bericht zu. Zu der Frage der Reisepässe enthält sich das Fernschreiben Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Es ist bei weiterer Aussagen. Ich verweise auf die Verwaltungs- der Befragung von — ich nenne es mal — klassischen ermittlungen des Bundesnachrichtendienstes, die Überläufern eher eine Ausnahme. Was bei der Befra- eben zu diesem Schluß kommen, daß es sich weiterer gung von klassischen Überläufern vorkommt, das ist Aussagen enthält. allerdings ein eher normales Verfahren, ist, daß solche Personen geschützt untergebracht werden, damit ih- Ich darf darüber hinaus darauf hinweisen, daß die nen keine Gefahr droht. Das Ausstellen von Deckna- im Fernschreiben enthaltenen Querverweise auf ei- menpapieren ist eine große Ausnahme. nen Bericht vom 30. Januar, ein Gespräch vom glei- chen Datum und ein Gespräch vom 6. Februar folgen- Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage des deutlich machen: In dem Gespräch vom 6. Fe- des Abgeordneten Horst Peter (Kassel). bruar ist über das legale und amtliche Namensände- rungsverfahren und den Namensänderungswunsch Horst Peter (Kassel) (SPD): Herr Staatsminister, Sie von Herrn Schalck-Golodkowski gesprochen worden. haben vorhin dem Kollegen Conradi auf seine zweite In dem Bericht vom 30. Januar, den der Präsident ge- Frage geantwortet, daß der Wunschkatalog bei den geben hat, ist kein Hinweis auf Decknamenpapiere Gesprächen nicht im einzelnen Punkt für Punkt eine enthalten. Rolle gespielt habe. Hat der Wunschkatalog denn in einer anderen Form, in allgemeiner Form, eine Rolle Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage gespielt? des Abgeordneten Friedhelm Julius Beucher. Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kol- lege, das Ergebnis dieses Gespräches zwischen Herrn Friedhelm Julius Beucher (SPD): Herr Staatsmini- ster, Sie haben ja gesagt: Sie haben es in O riginal Präsidenten Wieck, dem Abteilungsleiter im Bundes- vorliegen gehabt. Wir wissen es leider nur aus den kanzleramt und mir war eindeutig und unstreitig: Be- Zeitungen und von den Ausführungen des Herrn fragen: ja; Betreuen im nachrichtendienstlichen Porzner gestern im Ausschuß. Sinne: nein. Das ist auch in Aktennotizen für den Bun- desnachrichtendienst festgehalten und wird dort auch Sind Sie mit mir der Meinung, daß ein Staatsmini- so gesehen. ster die Brisanz begreifen muß, wenn in dem Schrei- ben steht — deshalb zitiere ich —, man habe dem Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage neuen Informanten selbstverständlich angeboten, ihm des Abgeordneten Wolfgang Roth. bei Bedarf zu helfen, etwa mit einem Reisepaß, und daß er begreifen muß, daß es sich hierbei zwangsläu- Wolfgang Roth (SPD): Herr Staatsminister, ich setze fig um eine Aktion „falsche Pässe" handeln muß, um jetzt voraus, daß es richtig ist, daß Sie am 13. März auf so mehr, wenn dieser neue Informant, nämlich Herr die Fragen des Abgeordneten Conradi nach Ihrem Schalck-Golodkowski, Ihnen gegenüber wieder über Wissen wahrheitsgemäß geantwortet haben. Gleich- den Weg BND im Januar 1990 hat erklären lassen, daß zeitig sagen Sie, und darauf beruht meine anschlie- er neben vielen anderen Wünschen insbesondere eine ßende Frage, daß Sie am 28. März den vollen Sachver- neue Identität braucht, was unzweifelhaft in der Spra- halt erfahren haben. che aller Geheimdienste ein anderer Paß ist? Wann haben Sie sich denn eigentlich im Jahr 1990 bemüht, im Parlament, dem Sie, wie Sie sagen, unwis- Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kol- sentlich eine falsche Aussage überreicht haben, die lege, dieses Fernschreiben hat einen Vorlauf und ei- Korrektur zu bringen, und wann haben Sie den Abge- nen Nachlauf, der in den Verwaltungsermittlungen ordneten Conradi persönlich darauf angesprochen, ausführlich gewürdigt ist. Und in den nachfolgenden daß Sie ihm gegenüber unwissent lich eine völlig fal- Gesprächen ist stets nur von dem Wunsch gesprochen sche Aussage gemacht haben? Wann ist das gesche- worden, daß Herr Schalck-Golodkowski eine amtliche hen? Wann haben Sie selber die Initiative übernom- Identitätsänderung haben wollte, und es ist immer men, um diese gravierende Fehlinformation des Par- darauf hingewiesen worden, daß dafür die bayeri- laments zu korrigieren? schen Behörden zuständig sind und sonst niemand. Man muß es im Gesamtkontext auch des Nachlaufs Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kol- sehen. Und der Verweis auf die Gespräche belegt ja, lege Roth, die Unterrichtung am 28. März erfolgte in daß über Decknamenpapiere nicht gesprochen wor- der Form eines Durchdrucks eines Schreibens an die den ist. Das ergibt sich klar aus den Verwaltungser- Bundesminister Genscher und Schäuble. In diesem mittlungen, die der BND letzte Woche abgeschlossen Schreiben, in dem die Befragungsergebnisse, die bis hat und die wir dem Untersuchungsausschuß und der dann angefallen waren, umfassend dargelegt wurden, Parlamentarischen Kontrollkommission gleich zur heißt es nicht mehr als wie folgt: Da dem Bundesnach- Verfügung gestellt haben. richtendienst ernst zu nehmende Hinweise einer Ge- fährdung vorlagen — ich verkürze das — , wurden die Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage durch ein privates Sicherheitsunternehmen betriebe- der Frau Abgeordneten Ing rid Köppe. nen Schutzmaßnahmen in dem Punkt unterstützt, daß 3408 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Staatsminister Dr. Lutz G. Stavenhagen die behördliche Ausstellung eines vorläufigen Reise- Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kol- passes für Schalck-Golodkowski BNDseitig durch ei- lege, auch Ihre zweite Frage ist mit Ja zu beantworten. nen Vertreter begleitet wurde. Inhalt des Vortrags waren u. a. die Ergebnisse aus den Dies allerdings — das räume ich ein — hat mir die bis dahin durchgeführten Befragungen Schalck-Go- Brücke zu der Frage des Kollegen Conradi vom lodkowskis und die Gestaltung des Kontakts zu ihm. 13. März nicht gegeben. Es war eine Unterrichtung, Dabei wurde auch der Wunsch Schalck-Golodkows- die die aktive Rolle und die passive Rolle klar um- kis nach der Ausstattung mit regulären bundesdeut- dreht. Es ist erst jetzt deutlich geworden, als die Unter- schen Ausweispapieren behandelt. Der BND hat die- lagen für den Untersuchungsausschuß zusammenge- ses Thema in einem späteren Vermerk über die Be- stellt wurden. sprechung als „Einbürgerungsverfahren" bezeichnet. Das hatte jedoch nichts mit der Beschaffung von Decknamenpapieren durch den BND zu tun, die eine Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage ausschließlich nachrichtendienstlich motivierte Si- der Frau Abgeordneten Dorle Marx. cherheitsmaßnahme war. Darüber ist am 28. Februar — auch dies ergeben die Verwaltungsermittlungen — Dorle Marx (SPD): Sie haben soeben ausgeführt, kein Wort gesagt worden. daß in einem Gespräch am 6. Februar zwar nicht über Nach dem Ergebnis des Verwaltungsermittlungs- Reisepässe, aber über den Namensänderungswunsch verfahrens muß nach allen vergeblichen Versuchen, gesprochen worden sei, und haben gesagt, grundsätz- es zu finden bzw. seinen Eingang im Bundeskanzler- lich sei von Ihnen die Weisung erteilt worden: Befra- amt oder seinen Ausgang beim BND festzustellen, das gung: ja; Betreuung: nein. Ist es so, daß letztendlich Schreiben vom 5. März 1990 als nicht existent be- mit der Ausstellung der falschen Papiere, des falschen trachtet werden. Auch dies ist Ergebnis der Verwal- Reisepasses, des Reisepasses unter einer falschen tungsermittlungen. Identität der BND Ihren Weisungen zuwider gehan- delt hat? Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Conradi; bitte. Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Ich bin der Auffassung, daß die Zurverfügungstellung von Deck- Peter Conradi (SPD): Nachdem ich jetzt zur Kennt- namenpapieren für die Zeit von sechs Wochen eine nis genommen habe, Herr Staatsminister, daß nach Betreuungsmaßnahme darstellt und es deswegen not- den verwaltungsinternen Ermittlungen des BND im wendig gewesen wäre, unmißverständlich und prä- August dieses Jahres zwei Gespräche mit Ihnen, näm- zise darüber zu informieren und sich darüber abzu- lich am 16. Januar und am 28. Februar 1990, nicht so stimmen. Dies ist in der Tat so. stattgefunden haben, wie die Sprechzettel und Noti- (Peter Conradi [SPD]: Aber Konsequenzen zen des BND nachweisen — bei zwei Gesprächen haben Sie nicht gezogen?) wird jetzt also nachträglich behauptet, sie hätten sich — Herr Kollege, ich verweise — — nicht mit den Pässen befaßt --, müssen wir uns nun auf den Brief vom 5. März konzentrieren. (Peter Conradi [SPD]: Das war keine Frage, Meine erste Frage dazu ist: Könnte es sein, daß dies das war nur ein Zwischenruf!) gar kein Schreiben des BND an das Bundeskanzler- — Darf ich auf den Zwischenruf antworten? amt, sondern vielleicht einer anderen Behörde, viel- leicht sogar auch einer Behörde des Freistaats oder Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, wenn Sie es eines anderen Ministeriums, an das Bundeskanzler- wollen. amt gewesen ist, auf das sich der BND-Präsident be- zog? Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Ich ver- weise auf das, was ich eben dem Kollegen Roth vor- Dr. Lutz G. Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kol- gelesen habe. Das Schreiben vom 28. März hat nicht lege, ich wüßte nicht, welche Behörde zu diesem erkennen lassen, was jetzt bei der Vorbereitung der Thema hätte Stellung nehmen sollen. Ich will nur noch Untersuchungsausschußakten klar ist: wer die aktive einmal präzisieren: Am 16. Januar ist über die Frage Rolle und wer die passive Rolle gespielt hat. Es ist dort „Befragung: ja; Betreuung: nein" gesprochen wor- von der Begleitung einer behördlichen Maßnahme die den. Rede, die zu diesem Zeitpunkt übrigens bereits abge- (Peter Conradi [SPD]: Wunschliste!) schlossen war. — Ich bitte um Nachsicht. — Die Wunschliste — ich sagte es bereits — wurde dort nicht übergeben. Das Ergebnis des Gespräches ist völlig klar. Vizepräsident Helmuth Becker: Das war die Ant- wort auf einen Zwischenruf. In bezug auf das Ergebnis des Gespräches vom 28. Februar will ich darauf hinweisen, daß es kein Wir kommen zur Beantwortung der Frage 68 des Vier-Augen-Gespräch war, sondern in einem größe- Abgeordneten Conradi: ren Kreis stattfand. Die Teilnehmer BNDseits an die- Trifft es zu, daß der ehemalige Präsident des Bundesnachrich- sem Gespräch sind zu den Verwaltungsermittlungen tendienstes in seinem Brief vom 9. März 1990 an das Bundes- klar befragt worden. Ihre Antworten lassen keinen kanzleramt auf seinen Vortrag bei Staatsminister Dr. Stavenha- gen am 28. Februar 1990 und auf ein Schreiben vom 5. März Zweifel zu. 1990 verwiesen hat, und was waren der Inhalt des Vortrages und des Schreibens? Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- Bitte, Herr Staatsminister. satzfrage des Abgeordneten Conradi. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3409

Peter Conradi (SPD): Ich kann mir ja vorstellen, daß einer Antwort Herr Conradi kaum zufrieden gewesen im Bundeskanzleramt Akten verlorengehen; aber in wäre. Da ich fest davon überzeugt war, daß meine einer ordentlich geführten Behörde, wie ich das vom Antwort eben richtig ist, hatte ich keine Bedenken, sie BND doch annehme, gibt es ja Brieftagebücher und ihm auch in der Sache zu geben. ähnliches. Ist im Brieftagebuch da am 5. März eine (Zuruf des Abg. Wolfgang Roth [SPD]) Leerstelle? Und im Zusammenhang damit: Wenn Sie das im Brief erwähnte Schreiben vom 5. März nicht Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere Zu- bekommen haben, warum haben Sie nicht am selben satzfrage hat jetzt die Frau Abgeordnete Ing rid Tag sofort beim BND nachgefragt: Wo ist denn der Köppe. Brief vom 5. März, auf den ihr euch da beruft? Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Wenn Sie Ge- Dr. , Staatsminister: Herr Kollege, spräche mit BND-Mitarbeitern führen — wie z. B. am nach Aussage des Bundesnachrichtendienstes, die in 28. Februar —, ist es dann üblich, daß diese Gesprä- den Verwaltungsermittlungen dargelegt ist, gibt es che nur von der BND-Seite oder auch von Ihrer Seite keinen Ausgangsvermerk, keinen entsprechenden protokolliert werden, bzw. werden Ihnen anschlie- Hinweis — ein solches Schreiben wäre auch mit Si- ßend Gesprächsprotokolle vom BND zugestellt? cherheit eingestuft — , daß es dort abgegangen ist, und bei uns im Bundeskanzleramt auch keinen An- Dr. Lutz Stavenhagen, Staatsminister: Frau Kolle- kunftseintrag. gin, es gibt keine Protokolle. Bei uns ist es so, daß wir Der Grund dafür, daß damals nicht weiter nach die- uns natürlich aufschreiben, wo Handlungsbedarf be- sem Schreiben geforscht worden ist, ist der, daß der steht. Aber wenn es sich um Unterrichtungen handelt Verweis auf das Gespräch am 28. Februar, das in ei- — etwa über den Fortgang der Befragung von Herrn nem größeren Kreis stattfand, mir unmißverständlich Schalck-Golodkowski — , fertigen wir darüber keine klarmachen mußte, daß die Auskunft, die ich Ihnen Aufzeichnungen, die zu den Akten gehen. gegeben habe, die richtige ist; denn dort ist das — ich sage es noch einmal in Worten des BND — Einbürge- Vizepräsident Helmuth Becker: Wir kommen nun rungsverfahren von Herrn Schalck-Golodkowski an- zu der Frage 69 des Abgeordneten Horst Peter: gesprochen worden, nicht aber die Schutzmaßnahme, Wann ist die vom ehemaligen Präsidenten des Bundesnach- die ich als Gutmann-Papiere bezeichne. richtendienstes, Dr. Wieck, erwähnte „Gesamtdarstellung der (Zuruf des Abg. Peter Conradi [SPD]) BND-Behandlung der Schalck-Golodkowski-Angelegenheit, einschließlich der Frage der Personaldokumente" gegenüber Eine weitere Zu- den „beteiligten Stellen" erfolgt, und welche Stellen waren be- Vizepräsident Helmuth Becker: teiligt? satzfrage hat der Abgeordnete Friedhelm Beucher. Ich lasse nur noch die Beantwortung dieser Frage Friedhelm Julius Beucher (SPD): Herr Staatsmini- zu; danach sind wir am Ende der Fragestunde. ster, kann es denn sein, daß es sich bei diesem B rief vom 5. März in Wirklichkeit um ein Schreiben vom Dr. Lutz Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, 6. März handelt, das diesen für uns auch gestern im die vom früheren BND-Präsidenten erwähnte Ge- Ausschuß nicht nachvollziehbaren, der Lichtge- samtdarstellung war, wie ich hier bereits sagte, ein schwindigkeit ähnlichen Vorgang beinhaltet, nämlich Brief an die Bundesminister Genscher und Schäuble einen Eingangsstempel vom 5. März hatte? vom 28. März 1990, über den ich durch die gleichzei- tig Übersendung eines Abdruckes informiert wurde. Dr. Lutz Stavenhagen, Staatsminister: Es gibt mit Wie dort diese Frage der Gutmann-Papier dargestellt Datum vom 6. März eine Gesprächsniederschrift oder wurde, hatte ich hier bereits vorgelesen. einen Gesprächsvermerk, muß ich besser sagen, über das Gespräch vom 28. Februar. Zu dem Gespräch vom Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und 28. Februar habe ich hier Stellung genommen, und Herren, wir sind damit am Ende der Fragestunde. das ist in den Verwaltungsermittlungen ausführlich Die Frage 70 des Abgeordneten Peter (Kassel) wird gewürdigt worden; sie kommen zu dem Schluß, daß schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage dort über die Gutmann-Papiere nicht gesprochen wor- abgedruckt. den ist. Ich unterbreche nunmehr — wie bereits heute mit- tag angekündigt — die Sitzung. Sie wird um 16.30 Uhr Eine weitere Zu- Vizepräsident Helmuth Becker: mit Tagesordnungspunkt 9 fortgesetzt. satzfrage hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Roth. (Unterbrechung von 15 Uhr bis 17.20 Uhr) Wolfgang Roth (SPD) : Herr Staatsminister, ist meine Information richtig, daß der BND in seinem B rief vom Vizepräsidentin Renate Schmidt: Liebe Kollegen, 9. März zur Vorbereitung Ihrer Antwort auf die Frage liebe Kolleginnen! Die unterbrochene Sitzung ist wie- von Herrn Conradi für den 13. März empfohlen hat, der eröffnet: dem Herrn Conradi nur zu antworten, die ganze An- gelegenheit solle doch möglichst in der PKK allein Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf: besprochen werden? Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuß) Dr. Lutz Stavenhagen, Staatsminister: Herr Kollege, sinngemäß ist das richtig in anderer Formulierung; Sammelübersicht 13 zu Petitionen aber ich bin lange genug Parlamentarier — wie Herr (Abfallbeseitigung) Conradi und auch Sie — , um zu wissen, daß mit so — Drucksache 12/381 — 3410 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Vizepräsidentin Renate Schmidt Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten SPD auf Drucksache 12/1152 vor. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren Es ist interfraktionell vereinbart worden, die Rede- Ausschuß für Frauen und Jugend beiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll Ausschuß für Verkehr zu geben. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Geschäftsordnung einverstanden? — Ich sehe keine EG-Ausschuß gegenteilligen Äußerungen. Dann ist das mit der er- Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO forderlichen Mehrheit so beschlossen. *) Sportausschuß Wir kommen nun zur Abstimmung, und zwar zu- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die nächst über den Änderungsantrag der Fraktion der Aussprache drei Stunden vorgesehen. Dagegen er- SPD auf Drucksache 12/1152. Wer stimmt für diesen hebt sich kein Widerspruch. Damit ist das so beschlos- Änderungsantrag? — Gegenstimmen? — Enthaltun- sen. gen? — Damit ist dieser Änderungsantrag bei weni- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bun- gen Enthaltungen abgelehnt. - desminister der Finanzen, Dr. . Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti- tionsausschusses auf Drucksache 12/381? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung so angenommen. Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir setzen unsere erfolgreiche Steuerpolitik Ich rufe nun Punkt 10 der Tagesordnung auf: für Wachstum und Beschäftigung auch im wiederver- einigten Deutschland fort. Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuß) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Sammelübersicht 23 zu Petitionen Lachen bei der SPD — Ing rid Matthäus Maier [SPD]: Steuerlüge!) (Verkehrstarife) — Wer an dieser Stelle lacht, verdient es nicht, ernst- — Drucksache 12/809 — genommen zu werden. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) SPD auf Drucksache 12/1153 vor. Auch hier ist interfraktionell vereinbart worden, die Daß ausgerechnet diejenige Seite jetzt lacht, die bis Redebeiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Pro- 1982 eine verfehlte Steuerpolitik bet rieben und wäh- tokoll zu geben. Sind Sie auch mit dieser Abweichung rend ihrer ganzen Regierungszeit mit ihrer verfehlten von der Geschäftsordnung einverstanden? — Es ist Steuer- und Finanzpolitik keine zusätzlichen Arbeits- mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. ** ) plätze geschaffen, sondern ein Heer von Millionen Arbeitslosen hinterlassen hat, was wir durch eine er- Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst folgreiche Steuer-, Finanz- und Wachstumspolitik über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf wieder ausgeglichen haben, ist eigentlich ein starkes Drucksache 12/1153. Wer stimmt für diesen Ände- Stück. rungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Nun reden Sie mal zu Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti- Ihrer eigenen Politik!) tionsausschusses auf Drucksache 12/809? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Die Beschluß- Das Steueränderungsgesetz 1992 ist ein steuerpoli- empfehlung ist damit angenommen. tischer Entwurf für die Zukunft. Die Wiedervereini- gung hat vieles verändert, aber die zentralen Auf ga- ben der Steuerpolitik stellen sich im ungeteilten Ich rufe nunmehr Punkt 11 der Tagesordnung auf: Deutschland eher noch vordringlicher. Erste Beratung des von den Fraktionen der Wir brauchen — das sollte eigentlich unumst ritten CDU/CSU und FDP eingebracht Entwurfs ei- sein — hervorragende Standortbedingungen für zu- nes Gesetzes zur Entlastung der Familien und kunftsweisende Investitionen und die Schaffung einer zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für großen Zahl wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze. Investitionen und Arbeitsplätze Das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfä- (Steueränderungsgesetz 1992 — StÄndG higkeit muß im Bereich der Familien noch stärker 1992) berücksichtigt werden. Wir verwirklichen deshalb die — Drucksache 12/1108 Steuerfreiheit des Existenzminimums der Kinder. —Überweisungsvorschlag : Wir haben in den letzten neun Jahren immer wieder Finanzausschuß (federführend) um die Verwirklichung unserer steuerpolitischen Auswärtiger Ausschuß Ziele ringen müssen. Ich kenne die Argumente und Innenausschuß die manchmal stattfindende Polemik wegen der an- Rechtsausschuß geblich unsozialen Verteilungswirkung der inzwi- Ausschuß für Wirtschaft schen verwirklichten Entlastungsschritte. *) Anlage 2 Aber wir diskutieren heute auf einer anderen * *) Anlage 3 Grundlage als Anfang und Mitte der 80er Jahre. Frau Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3411

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Matthäus-Maier, wenn Sie heute einmal zusammen- darität in der freien Welt, während Sie Steuererhö- fassen würden, was Sie zur Steuerpolitik seit 1982 hungen für den Konsum benötigt haben und uns eine alles gesagt haben, traurige Hinterlassenschaft vermacht haben. (Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/- (Beifall bei der CDU/CSU) CSU]: Lieber nicht!) dann ergäbe sich ein Bündel der gesammelten Irrtü- mer, die Sie endlich einmal in Buchform kleiden soll- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, ge- ten. statten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeord- neten Poß? (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP] — Ing rid Matthäus-Maier [SPD]: Wer hat sich denn geirrt? Sie haben doch die Steuerlüge ge- Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: macht, nicht wir!) Frau Präsidentin, da die Debatte an sich dazu ange- legt ist, Argumente vorzutragen, Es ist ganz wichtig, daß man hier den Mantel des Ver- - zeihens und des Vergessens über allen steuerpoliti- (Detlev von Larcher [SPD]: Darauf warten schen Unsinn legt, den Sie in den letzten Jahren von wir!) sich gegeben haben. sollte sie nicht in ein reines Zwiegespräch ausarten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Insofern würde ich gerne fortfahren. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, ge- (Zuruf von der SPD: Bisher war noch kein statten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordne- Argument zu hören, Herr Waigel!) ten Matthäus-Maier? —Das geht ja noch weiter. Sie müssen sich nur gedul- den und zuhören. Aber wenn Sie ständig nur Ihre Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: eigenen Genossen hören, dann lernen Sie nichts dazu. Bitte schön. Darum ist es besser, ich setze meine Rede fort. (Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ (Zuruf von der SPD: Von Ihnen kann man nur CSU]: Jetzt kommt ein Zitat aus dem Grusel- lernen, wie man es nicht macht!) buch!) — Ach wissen Sie, Sie können von mir auch lernen, wie man es macht. Aber wie Sie das bewerten, ist Ihre Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Finanzminister, Sache. können Sie mir sagen, welchen Mantel des Verzei- hens Sie dann benötigen, der Sie vor der Bundestags- In den 70er Jahren hat die SPD die Steuerquote wahl gesagt haben: Keine Steuererhöhungen für die ohne Not bis auf den Spitzenwert von 25 % in die deutsche Einheit! und dann das größte Paket an Höhe getrieben. Als Sie noch die Regierungsverant- Steuer- und Abgabenerhöhungen vorgelegt haben? wortung trugen, gab es keine Unterscheidung zwi- schen sozialen und unsozialen Steuern. Von der (Beifall bei der SPD) Mehrwertsteuer bis zum Spitzensatz der Einkommen- steuer — jede Steuer war Ihnen recht. Das Interes- Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: sante ist, daß Sie in den 70er Jahren den Eingangs- Frau Kollegin, Sie wissen ganz genau, daß diese Ent- steuersatz bei der Einkommensteuer von 19 auf 22 % scheidung angesichts externer Belastungen, die dazu erhöht haben und wir ihn im Jahre 1990 von 22 auf geführt hätten, daß wir das, was in Deutschland not- 19 % gesenkt haben. wendig ist, in diesem und im nächsten Jahr nicht hät- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ten finanzieren können, erforderlich war. ordneten der FDP — Dr. Norbert Wieczorek (Detlev von Larcher [SPD]: Das wußten Sie ja [SPD]: Sie haben den Arbeitnehmerfreibe vorher!) trag abgeschafft, Sie haben den Weihnachts Wir haben es immer sehr klar gesagt: Das, was zur freibetrag abgeschafft! Das ist Ihre Politik! — Steuerbelastung und zur Vermeidung von Steuerer- Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sind Sie eigentlich höhungen gesagt wurde, bezog sich auf die Belastun- Historiker oder Finanzminister?) gen durch die deutsche Einheit. Wenn nicht die exter- Das ist unsere arbeitnehmerfreundliche Steuerpolitik. nen Lasten auf uns zugekommen wären, hätten wir in Sie haben Steuerpolitik nie als Wachstums-, sondern 1991 auch keine Steuererhöhungen benötigt. immer nur als Umverteilungspolitik verstanden. (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — SPD) Detlef von Larcher [SPD]: Umverteilen tun Der erste Haushaltsentwurf für 1991 sah sie auch nicht Sie doch!) vor. Das ist die Realität. Deshalb wurde während Ihrer Regierungszeit im (Detlev von Larcher [SPD]: Und Sie wollen Saldo nicht ein einziger Arbeitsplatz geschaffen. Die ernstgenommen werden!) Arbeitslosigkeit schnellte auf 2 Millionen in die Höhe. Das ist der Unterschied: Wir verwenden die Steuer- Das war „sozial verantwortliche Steuerpolitik", wie erhöhungen — der Solidaritätszuschlag wird im näch- die SPD sie versteht. sten Jahr wieder wegfallen — für Investitionen in (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der Deutschland, für Investitionen in Europa und zur Soli- CDU/CSU: Die Hinterlassenschaft der SPD!) 3412 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Diese Bundesregierung hat demgegenüber, begin- — Auch Bierzelte soll man nicht verachten. Die Lan- nend 1983, die Steuerbelastung verringert und die desvorsitzende der SPD von Bayern besucht im Mo- Steuerstruktur entscheidend verbessert. ment sehr viele Bierzelte und rechnet sich dies zur Die Steuerbelastung der Bürger ist heute, trotz Soli- Ehre an. — Ich hoffe, ich bin Ihnen nicht zu nahe daritätszuschlags und Verbrauchsteuererhöhungen getreten, Frau Präsidentin. zum 1. Juli 1991, spürbar niedriger als vor der Steuer- Die Wissenschaft im nationalen und im internatio- reform. nalen Rahmen gibt uns recht. Fast alle europäischen Wenn man sich das einmal vorstellt: Unsere Steuer- und außereuropäischen Industriestaaten verfolgen in quote hat zum jetzigen Zeitpunkt, wo in der Steuer- der Steuerpolitik die gleichen Ziele wie wir. und Finanzpolitik eine Jahrhundertaufgabe zu bewäl- (Detlev von Larcher [SPD]: Sie hätten gestern tigen ist, eine Höhe, wie sie bei Ihnen bestand, obwohl zur Anhörung kommen sollen!) solche Aufgaben damals nicht vor uns und nicht vor Auch die SPD sollte endlich ihr steuerpolitisches „Go- Ihnen standen. Das ist der große Unterschied. Sie soll- desberg" durchstehen. ten sich schämen, sich darüber überhaupt auszulas- sen, und sollten ganz ruhig sein (Joachim Poß [SPD]: Tietmeyer sagt, die Preise sind unhaltbar hoch!) (Widerspruch bei der SPD) Dann können wir gemeinsam über konkrete Maßnah- angesichts Ihres Dilemmas und Ihrer mangelnden men und Modifikationen unserer Vorschläge kon- Qualifikation zur Vorlage wirklich seriöser alternati- struktiv sprechen. ver Steuerkonzepte. Das entscheidende Datum für unsere Steuerpolitik (Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von Lar- ist der europäische Binnenmarkt 1992. Deshalb kön- cher [SPD]: Schämen Sie sich, der die Steuer- nen wir mit der Steuerentlastung der Bet riebe und lüge gemacht hat!) Arbeitsplätze nicht warten. Denn wer investiert, will Wer die Erfolge unserer Steuerpolitik sieht, kann jetzt klare Rahmenbedingungen. Fällt die Investi- die Notwendigkeit weiterführender Maßnahmen tionsentscheidung angesichts der unzureichenden überhaupt nicht in Frage stellen. steuerlichen Voraussetzungen für einen anderen Standort, ist der Wachstums- und Beschäftigungsver- (Joachim Poß [SPD]: Er redet so wie vor dem lust auch später nicht mehr auszugleichen. CSU-Ortsverband!) Trotz erheblicher Verbesserung ist nach unserer — Ich habe Sie leider schlecht verstanden, sonst Meinung die Steuerbelastung der Betriebe und Ar- könnte ich Ihnen antworten. beitsplätze in Deutschland immer noch zu hoch. Nach (Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie das vor dem dem Gutachten der Kommission zur Verbesserung der CSU-Ortsverband! Da glaubt man es Ih- steuerlichen Bedingungen für Investitionen und Ar- nen!) beitsplätze im Juni 1991 ist die Gesamtbelastung aus ertragsabhängigen und ertragsunabhängigen Steu- —Was haben Sie gegen den Ortsverband? Ich nehme ern höher als in den meisten anderen Industriestaaten. an, daß Sie mit der Basis doch verbunden sind. Oder Die Steuersätze liegen z. B. um 35 % höher als in Ita- haben Sie sich schon abgehoben? lien, um 54 % höher als in den Vereinigten Staaten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — und um 117 % höher als in der Schweiz. Nun weiß ich Joachim Poß [SPD]: Sie können den Bundes- auch, daß Steuersätze nicht alles aussagen und daß tag nicht so täuschen wie ihre CSU-Ortsver- man Steuersätze nicht nur addieren kann. Aber bei bände!) Entscheidungen im Ausland für Investitionen in Deutschland und für Investitionsentscheidungen in Übrigens, dort befinden sich ganz normale Leute. Ha- der Konkurrenz zu Wettbewerbern spielen Steuer- ben Sie sich schon abgehoben, so daß Sie vor dem sätze und Grenzsteuersätze eine ganz wichtige Rolle. Ortsverband nicht mehr sprechen? Sprechen Sie bloß Wir dürfen das nicht unterschätzen. noch vor den Staatsmännern der Luxusklasse? Ich unterhalte mich gern mit dem Ortsverband. Und ich (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der sage Ihnen: Bei uns hat jeder Ortsverband mehr steu- SPD: Das war sehr dünn!) erpolitische Kompetenz als bei Ihnen die Fraktion. — Es kommt schon noch besser. Sie sind offensichtlich (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und ziemlich unruhig. Wenn das Plenum so spät beginnt der FDP — Lachen bei der SPD) — dafür bitten wir um Entschuldigung — , dann scheint sich bei Ihnen ein starker Druck aufgestaut zu Ich nehme an, daß Ihre Zurufe jetzt weniger wer- haben. Aber das stört uns nicht. Das wird bei Ihnen den. Aber Sie dürfen ruhig weitermachen. Sie müssen noch nachlassen. wissen, der Redner hier hat das Mikrophon und kann immer noch etwas drauflegen. Das ist der große Vor- Nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts teil. Sie finden mich in einer gutgelaunten Stimmung. für Wirtschaftsforschung aus dem Jahre 1989 liegt die Ich komme aus einer guten Fraktionssitzung der Bundesrepublik mit ihrer Kumulation aus Vermö- CDU/CSU. gen-, Grund- und Gewerbekapitalsteuer an relativ ungünstiger Position. Außer Luxemburg kennt kein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — EG-Land eine Gewerbekapitalsteuer. Weder in Bel- Zurufe von der SPD: Deswegen hat sie auch gien noch in Griechenland, in Großbritannien, in so lange gedauert! — Sie verwechseln den Irland, in Italien, den Niederlanden und in Po rtugal Bundestag mit dem Bierzelt!) gibt es eine Vermögensteuer auf bet riebliches Vermö- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3413

Bundesminister Dr. Theodor Waigel gen. In Österreich wurde die Gewerbekapitalsteuer steuer, Reduzierung der Gewerbeertragsteuer — unter sozialistischer Regierungsverantwortung — und der Vermögensteuer auf Betriebsvermögen schon vor Jahren abgeschafft. sowie die Vereinfachung durch Übernahme der Steuerbilanzwerte in die Vermögensaufstellung (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) sind erste notwendige Schritte auf diesem Weg. Es ist mit Sicherheit kein Zufall, sondern Ausdruck der Die strukturellen Änderungen kommen auch steuerlichen Standortnachteile, wenn z. B. amerikani- dem Mittelstand zugute. sche oder japanische Unternehmen rund dreimal so- viel in Spanien oder sechsmal soviel in Großbritannien Der Mittelstand wird vor allem von den folgenden Änderungen profitieren. Die Meßzahl im Eingangsbe- wie in Deutschland investieren. Die SPD tut so, als reich der Gewerbeertragsteuer wird für Personenge- ginge sie das alles nichts an. sellschaften und Einzelunternehmen gestaffelt. Bei Unser früherer Kollege, mein Vorgänger , der steuerlichen Bewertung des Betriebsvermögens hat in seinem aufschlußreichen Buch „Der Abstieg" wird der Freibetrag von zur Zeit 125 000 DM auf diese Gleichgültigkeit wie folgt beschrieben. 500 000 DM vervierfacht. Damit fällt rund die Hälfte (Lachen bei der SPD) aller Steuerpflichtigen mit Betriebsvermögen aus der Vermögensteuerpflicht. — Das ist erstaunlich: Als er früher hier sprach, hat sich keiner gegen ihn gestellt. Jetzt aber, wenn man Die im Bewertungsgesetz ebenfalls vorgesehene ihn zitiert, hört man nur höhnisches Lachen oder den Übernahme der Steuerbilanzwerte in die Vermögens- Hinweis: Was ist aus ihm geworden? — Ich finde es aufstellung entlastet sowohl im Bereich der betriebli- ganz merkwürdig, wie Sie mit einem früheren Kolle- chen Vermögensteuer als auch bei der Erbschaft- und gen umgehen, wenn er sich Ihnen gegenüber kritisch Schenkungsteuer die mittelständischen Bet riebe. geäußert hat. Die Kritik, die Steuerentlastung würde vor allem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den großen Betrieben zugute kommen, ist nicht be- rechtigt. Ein mittlerer Betrieb mit einem Gewerbeer- Hans Apel schrieb: trag von 300 000 DM und einem Betriebsvermögen Ein wesentlicher Teil der führenden Genossen von 1 Million DM zahlt 19,4 % weniger Gewerbe- sind Staatsfetischisten. Die Höhe der Abgaben ist steuer und 61,9 % weniger Vermögensteuer. für sie eher belanglos. Ein Großbetrieb mit einem Gewerbeertrag von Aber Stimmen wie die von Hans Apel oder auch von 25 Millionen DM und einem Betriebsvermögen von Horst Gobrecht haben es in der SPD schwer. 100 Millionen DM wird dagegen nur um 13,4 %, bei der Gewerbesteuer und 33,6 % bei der Vermögen- Es ist allerdings Sache der SPD, ihre steuerpoliti- steuer entlastet. schen Defizite aufzufüllen. Wir werden inzwischen dem Beispiel der norwegischen, der österreichischen, Es ist auch falsch, immer wieder zu behaupten, daß der spanischen Regierung und dem anderer sozialde- diese Steuerentlastung mit der Erhöhung der Mehr- mokratisch geführter Regierungen folgen und die wertsteuer im Zusammenhang stehe. Steuerbelastung der Bet riebe und Arbeitsplätze wei- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja sicher!) ter senken. Sie müssen sich die Frage stellen, ob Sie nicht sozialdemokratisch in eine Isolierung in Europa — Nein, das ist falsch. Sie tun es wider besseres Wis- geraten angesichts der Sozialdemokraten in anderen sen, um Polemik zu erzeugen. Ländern, (Beifall bei der CDU/CSU — Ing rid (Widerspruch bei der SPD) Matthäus-Maier [SPD]: Auch Herr Geißler die begriffen haben, wie man Steuerpolitik wenig- sagt das!) stens andeutungsweise machen soll. Auf mittlere Sicht sind es vor allem die Arbeitneh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mer, die von Investitionen und Wachstum profitieren. Die Investoren könnten sich auch heute schon die Angesichts der großen Wiedervereinigungsaufga- günstigsten steuerlichen Bedingungen in Europa aus- ben können wir nicht alle Reformschritte auf einmal suchen. Auch in unmittelbarer, finanzieller Rechnung bewältigen. Deshalb werden wir durch das Steuerän- gibt es keine Steuergeschenke für einzelne Gruppen. derungsgesetz 1992 zunächst die arbeitsplatzfeindli- Die Unternehmenssteuerreform wird fast vollständig che ertragsunabhängige Belastung der Bet riebe mit durch steuerlichen Subventionsabbau und die Ein- Gewerbekapital- und Vermögensteuer reduzieren. schränkung von Abschreibungsmöglichkeiten gegen- Damit helfen wir vor allem neu gegründeten, noch finanziert. Damit schlagen wir die gleiche aufkom- rieben und stärken die Eigenkapital- ertragslosen Bet mensneutrale Umschichtung vor, die die SPD immer bildung sowie die bet riebliche Risikovorsorge. gefordert hat. Der Gesetzentwurf ist ausgewogen und berücksich- Den größten Teil des finanziellen Ausgleichs für die tigt die Interessen aller Bet riebe. Steuerentlastung der Bet riebe und Arbeitsplätze er- Die großen deutschen Wirtschaftsverbände — vom reichen wir durch 17 Maßnahmen zum steuerlichen Handwerk bis zur Industrie — haben in ihrer gemein- Subventionsabbau mit einem Abbauvolumen von gut samen Stellungnahme vom 8. August 1991 u. a. fol- 5 Milliarden DM. gendes festgestellt: Ich möchte der Koalitionsarbeitsgruppe für ihre her- Die vorgesehene Verbesserung der Steuerstruk- vorragenden Vorarbeiten zu diesem Subventionsab- tur durch Abschaffung der Gewerbekapital- bau ausdrücklich danken. Herr Kollege Gattermann, 3414 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Bundesminister Dr. Theodor Waigel Herr Kollege Faltlhauser, Herr Kollege Uldall und die Das sind keine leeren Versprechungen. Zwischen vielen anderen, die dabei waren: Das war eine groß- 1986 und 1990 haben wir die Einkommen- und Kör- artige Leistung, mit der Sie uns weitergeholfen haben. perschaftsteuer um fast 50 Milliarden DM gesenkt. Sie waren in der Struktur ausgewogen, und all dies Trotzdem sind im Gesamtzeitraum zwischen 1982 und geschah erstaunlicherweise, fast ein Wunder, mit rela- 1990 die Steuereinnahmen der Gemeinden um 58% tiv wenig Gegenwind, der sonst beim Subventionsab- gestiegen. In keinem Jahr, noch nicht einmal bei der bau immer sehr stark und schnell hörbar ist. Steuerreform 1990 hat es den befürchteten Rückgang der kommunalen Steuereinnahmen gegeben. Das zeigt die Ausgewogenheit und die Realitäts- nähe der Vorschläge. Durch die vorgeschlagenen Die Gemeinden brauchen aber nicht auf künftige Maßnahmen werden vor allem unbegründete Steuer- Wachstumsimpulse zu warten. Nach dem Entwurf des vorteile abgebaut. Wir schließen Schlupflöcher, die Steueränderungsgesetzes 1992 sollen die Einnahme- bisher durch geschickte Steuersparmodelle ausge- ausfälle der Gemeinden mehr als ausgeglichen wer- nutzt wurden. den. Ab 1993 wird die Gewerbesteuerumlage um 55 (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Zinsbesteue- gesenkt. Das sind Mehreinnahmen von 2,9 Milliarden rung!) DM. Damit verwirklichen wir zugleich ein Stück Steuerge- Durch den steuerlichen Subventionsabbau und die rechtigkeit. Rückführung der degressiven Abschreibung bei Be- Die normalen Arbeitnehmer bleiben von den steu- triebsgebäuden erreichen die Gemeinden Mehrein- errechtlichen Änderungen, von diesem Subventions- nahmen von 1,5 Milliarden DM. Die nach dem Ge- abbau fast unberührt. Keine einzige Maßnahme be- meindeverkehrsfinanzierungsgesetz vorgesehenen trifft die Lohnsteuer auf Arbeitseinkommen. Finanzhilfen werden um 1,5 Milliarden DM im Jahre 1992 und um jeweils 3 Milliarden DM in den Jahren (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Da haben Sie 1993 bis 1995 erhöht. Schließlich werden die Gemein- ja neulich zugelangt!) den über den kommunalen Finanzausgleich indirekt — Sie sollten einmal nachschauen, Herr Kollege, wie am Mehraufkommen der Umsatzsteuer beteiligt. Sie in den 70er Jahren zugelangt haben, als Ihnen das Mehreinnahmen: 800 Millionen DM. Im Saldo wird Geld ausgegangen war. Die Arbeitnehmer sind doch sich die Einnahmesituation der Gemeinden auf Grund erst durch uns 1986, 1988 und auch 1990 wieder ent- des Steueränderungsgesetzes 1992 nicht verschlech- lastet worden. tern, sondern um 2,7 Milliarden DM verbessern. Ebenso vordringlich wie die Entlastung der Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) triebe und Arbeitsplätze ist der Ausbau des steuer- Grundsätzlich müssen alle Betriebe durch den steu- lichen Familienlastenausgleichs. Wenn wir ab 1. Ja- erlichen Subventionsabb au gewisse Einschränkun- nuar 1992, ein Jahr vor den Entlastungen im betrieb- gen hinnehmen. Aber die Entlastung bei der Gewer- lichen Bereich, das Existenzminimum der Kinder voll- bekapitalsteuer und der Vermögensteuer wird in ihrer ständig von der Steuerpflicht befreien, ist dies eine positiven Wirkung auf Dauer überwiegen. entscheidende Errungenschaft auf dem Weg zu mehr Steuergerechtigkeit und zur verstärkten Anerken- Den Interessen des Mittelstandes haben wir auch beim Abbau von Steuervergünstigungen Rechnung nung der gesellschaftlichen Funktion der Familie. getragen. Besondere Regelungen zugunsten kleiner (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und mittlerer Betriebe, insbesondere die Sonderab- Wir hätten dieses Ziel schon früher erreicht, wenn die schreibung nach § 7 g Einkommensteuergesetz und SPD nicht den Kinderfreibetrag völlig abgeschafft die degressive Abschreibung für bewegliche Wirt- hätte. schaftsgüter wurden nicht angetastet, obwohl darüber (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie haben mit immer wieder diskutiert wurde. uns gestimmt, Herr Waigel!) Wenn wir über weitere steuerpolitische Verbesse- — Der Punkt ist doch der: Sie haben den Finanzmini- rungen für Wachstum und Beschäftigung beraten, ster gestellt, und wir haben uns daran beteiligt, daß wird die Leistung des Mittelstands für die wirtschaft- kein finanzpolitisches Desaster entstanden ist. Die liche Dynamik wie bisher besonders berücksichtigt Verantwortung dafür tragen eindeutig Sie. werden müssen. Das Gutachten der Kommission zur (Zurufe von der SPD) Verbesserung der steuerlichen Bedingungen für Inve- stitionen und Arbeitsplätze vom Juni dieses Jahres hat hierzu weiterführende Vorschläge beschrieben, und Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Finanzmini- auch die Mittelständler unserer Fraktionen weisen ster, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abge- darauf mit Recht hin. ordneten Matthäus-Maier? Das Steueränderungsgesetz 1992 sorgt für eine ge- rechte Verteilung der finanziellen Vorteile und Be- Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Waigel, ich lastungen auf die Haushaltsebenen. Der entschei- finde, wir sollten gemeinsam bei den tatsächlichen dende Vorteil der strukturellen Verbesserungen liegt Abläufen bleiben. Ist es zutreffend, daß das ganze in der Förderung von Wachstum und Beschäftigung. Haus 1974 bei der damaligen Steuerreform gemein- Steuermehreinnahmen und Ausgabenentlastungen sam der Meinung war, daß die Kinderfreibeträge bei durch sinkende Folgekosten der Arbeitslosigkeit wer- der Steuer, weil sozial ungerecht — so auch der An- den Bund, Länder und Gemeinden auf Dauer entla- trag der CDU — , durch ein gleich hohes Kindergeld sten. ersetzt werden sollten, und daß Sie hier im Bundestag Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3415

Ingrid Matthäus-Maier bereits mit uns gestimmt haben? Warum stellen Sie Als Ausgleich für die entscheidende Verbesserung sich nicht hin und sagen, Sie hätten heute eine andere der Kinderfreibeträge schlagen wir deshalb eine An- Ansicht, sondern leugnen das? hebung des Normalsatzes der Mehrwertsteuer um ei- nen Prozentpunkt ab 1. Januar 1993 vor. (Vereinzelt Lachen bei der SPD) Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: — Wollen Sie mehr? — Ich weiß nicht, worüber Sie Wir haben mitgestimmt, weil es damals um ein Ge- gelacht haben? Es wäre interessant, dies von Ihnen zu samtkonzept, um ein Gesamtpaket ging, und wir ha- hören. ben bei der ersten Gelegenheit diesen Fehler wettge- (Detlev von Larcher [SPD]: Über Ihre Be macht und haben wieder Freibeträge eingeführt und gründung! — Weiterer Zuruf von der SPD: sie in den letzten Jahren systematisch erhöht. Wenn Sie bei uns säßen, würden Sie es wis (Beifall bei der CDU/CSU) sen!) Wir haben trotz des geringen finanzpolitischen Spiel- — Nein, bei Ihnen möchte ich nicht sitzen — beim Bier raums den Kinderfreibetrag 1983 wieder eingeführt ja, aber nicht in der Fraktion. und ihn schrittweise auf jetzt 3 024 DM erhöht. Damit erleichtern wir zugleich die Steuerharmoni- Wir haben übrigens im Rahmen der Steuerreform sierung in der Europäischen Gemeinschaft und ebnen 1986 bis 1990 auch den Grundfreibetrag von 4 212 den Weg zum Binnenmarkt. DM auf 5 616 DM angehoben. Insgesamt ist so das Steuererhöhungen können niemals ein Instrument steuerfrei zu beziehende Einkommen für eine Familie der Wachstumsförderung oder der Verbesserung der mit zwei Kindern von 14 000 DM auf 24 000 DM ge- privaten Einkommenssituation sein. stiegen. Angesichts dieser Verbesserungen und der eng begrenzten finanziellen Spielräume kann uns (Beifall bei der CDU/CSU) deshalb niemand den Vorwurf machen, wir hätten im Bei richtiger Bewertung aller Konsequenzen ist je- Bereich der Steuerentlastung der untersten Einkom- doch die Anhebung der Mehrwertsteuer mit den ge- mensgruppen zuwenig getan. ringsten Nachteilen verbunden. Die Mehrwertsteu- (Beifall bei der CDU/CSU) eranhebung ist der letzte Baustein unseres im Februar 1991 vorgelegten steuerpolitischen Programms. Durch das Steueränderungsgesetz 1992 wird der Kinderfreibetrag ab 1992 auf 4 104 DM angehoben. Einnahmeverbesserungen waren angesichts des hi- Zusammen mit der Verbesserung des Erstkindergel- storisch einmaligen Zusammentreffens nationaler und des auf monatlich 70 DM erfüllen wir so den Auftrag internationaler Herausforderungen unvermeidbar. des Bundesverfassungsgerichts zur Neuordnung der Ich warne aber davor, jetzt bei jedem Problem und Besteuerung des Kindesunterhalts. jeder neuen Aufgabe nach weiteren Steuererhöhun- gen zu rufen. Die von der SPD gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung, Kinderfreibeträge seien ungerecht, ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — eine klare Mißachtung der Entscheidungen des Bun- Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie sind doch desverfassungsgerichts zum Familienlastenausgleich. die Steuererhöhungspartei!) Aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsge- Wer neue Ausgaben will, muß entsprechende Ent- richts vom 29. Mai und 12. Juni 1990 ergibt sich: Die lastungen vorschlagen. Das ist die Basis des von der Berücksichtigung der notwendigen Aufwendungen Koalition vereinbarten Morato riums. für den Kindesunterhalt durch Abzug von der Steuer- (Günter Oesinghaus [SPD]: Dann sparen Sie bemessungsgrundlage entspricht dem Gebot der Steuergerechtigkeit. Der Kinderfreibetrag stellt die doch mal! Wo ist denn der Subventionsab bau?) gleichmäßige Besteuerung von Eltern mit Kindern im Verhältnis zu kinderlosen Steuerzahlern sicher. — Haben Sie überhaupt nicht mitbekommen, daß wir in den letzten zwei Jahren ein Konsolidierungsvolu- Im übrigen steht die Haltung der SPD zur Abzugs- men von 60 Milliarden DM auf die Beine gestellt ha- fähigkeit des Kindesunterhalts in völligem Wider- ben, und zwar zu zwei Dritteln durch Einsparungen spruch zu ihrer Bewertung anderer Abzugsmöglich- und Umschichtungen? Das ist doch die Realität. keiten. (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) (Günter Oesinghaus [SPD]: Sie haben den Alles kann nach Meinung der SPD vom Einkommen Arbeitnehmern in die Tasche gegriffen!) abgezogen werden: Werbungskosten, Sonderausga- Nur, Sie haben offensichtlich die drei Nachtragshaus- ben, außergewöhnliche Belastungen — nur nicht die halte im letzten Jahr und die entsprechenden norma- zwangsläufige Belastung durch den Kindesunterhalt. len Haushalte gar nicht mitbekommen, in denen wir Hier zeigt sich doch ganz deutlich die Inkonsequenz das durchgeführt und bereits eingerechnet haben. Ihrer Haltung in dieser Frage. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im Gegensatz zu früheren Steuererhöhungen, u. a. Wir hätten mit der vordringlichen steuerlichen Ent-- unter SPD-Regierungsverantwortung zum 1. Januar lastung der Familien gerne einen weiteren Schritt zur 1978 und zum 1. Juli 1979, bleibt der ermäßigte Um- Verringerung der Steuerbelastung insgesamt ver- satzsteuersatz diesmal unverändert. Da die Bezieher wirklicht. Wir wissen aber alle: Dafür gibt es zur Zeit geringerer Einkommen einen relativ hohen Anteil für keinen Spielraum. steuerfreie und steuerermäßigte Waren und Dienstlei- 3416 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Bundesminister Dr. Theodor Waigel stungen ausgeben, werden sie von der Steuererhö- wirtschafts- und finanzpolitisch überhaupt nicht ge- hung nur in geringerem Umfang betroffen. staltbar gewesen. Eine einmalige Preiserhöhung ist im Zusammen- Auch in Zukunft gilt: Ohne einen Aufschwung West hang mit der vorgesehenen Mehrwertsteuererhöhung ist ein rascher und dauerhafter Aufschwung Ost über- unvermeidbar. Es wird jedoch nicht zu einer dauer- haupt nicht möglich. Deshalb werden wir auch künf- haften Beschleunigung des Preisanstiegs kommen, tig, jetzt durch das Steueränderungsgesetz 1992, un- wenn die Steuerzahler, vor allem aber auch die Tarif- sere Verantwortung für eine erfolgreiche gesamtdeut- partner die Begrenzung des Verteilungsspielraums sche Volkswirtschaft umfassend wahrnehmen. anerkennen und auf eine Lohn-Preis-Auseinanderset- Die SPD hat in den letzten Monaten viel von der zung verzichten. gemeinsamen Verantwortung für das wiederverei- Die Mehrwertsteuererhöhung ist auch ein Angebot nigte Deutschland gesprochen. Sie hat sich über die an Länder und Gemeinden. Unbestreitbar haben ne- angeblich unzureichende Beteiligung an den anste- ben dem Bund auch die übrigen Gebietskörperschaf- henden Entscheidungen beklagt. Jetzt, wo es um ent- ten erhebliche Zusatzbelastungen im Zusammenhang scheidende Verbesserungen für die Bürger in ganz mit der deutschen Einheit zu tragen. Da der Bund Deutschland geht, kann sie sich ihrer Verantwortung unverändert die Hauptlast des Wiedervereinigungs- nicht entziehen. prozesses trägt, kann er den geforderten Ausgleich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — nicht leisten. Die mäßige Anhebung der Mehrwert- Zuruf von der SPD: Die Beurteilung müssen steuer ist deshalb die richtige Lösung für die beste- Sie schon uns überlassen!) henden Deckungsprobleme. — Um so besser. Ich höre das gern. Die Elemente des Steueränderungsgesetzes 1992 gehören allerdings zusammen. Steuererhöhungen Um das Vernünftige abzulehnen, dürfen aber die sind nur parallel zur vorgesehenen Steuerentlastung Stimmen der Vernunft nicht unter Parteidisziplin ge- für die Familien, die Betriebe und die Arbeitsplätze stellt werden. volkswirtschaftlich und sozialpolitisch zu vertreten. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Was jetzt an In der SPD haben bereits einige Ministerpräsiden- taktischen Ausgangspositionen bezogen wird, kann ten ihre Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog nicht Bestand haben. Denn niemand kann verantwor- über unsere steuerpolitischen Vorschläge deutlich ge- ten, wenn bei unzureichenden steuerlichen Voraus- macht. setzungen Arbeitsplätze verlorengingen und die vor- dringliche Entlastung der Familien mit Kindern verzö- Lieber Kollege Bohl, angesichts meiner konstrukti- gert oder die Finanzierung vordringlicher Gemein- ven Mitwirkung in der Fraktion wäre ich Ihnen dank- schaftsaufgaben gefährdet würde. bar, wenn Sie bei der Frau Präsidentin erreichen könnten, daß die rote Lampe zu blinken aufhört. Der französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal hat einmal gesagt: „Gerechtigkeit ist (Heiterkeit — F riedrich Bohl [CDU/CSU]: das, was besteht! " Gerechtigkeit ist für uns der Maß- Aber sofort, Herr Minister!) stab auch der Steuerpolitik. Es würde die künftigen Gespräche mit dem Bundes- (Zuruf von der SPD) rat nur erschweren, wenn jetzt künstlich durch die Aber wirkliche Gerechtigkeit läßt sich nicht buchhal- SPD-Führung eine ganz harte, ohnehin nicht durchzu- terisch aus den Steuertabellen ablesen. haltende Ablehnungsposition aufgebaut würde. Wir sollten uns — und wir können das nur miteinander — (Zuruf von der SPD: Das ist ja unglaub auf einen Konsens einstellen, wie wir ihn auch beim lich!) Steueränderungsgesetz 1991 schließlich erreichen — Wenn es unerträglich ist, steht es jedem frei zu konnten. Andernfalls werden „globale Mehreinnah- gehen. men" , wie sie z. B. bereits im niedersächsischen Lan- deshaushalt verbucht werden, zur reinen Makula- (Zuruf von der SPD: Er hat nur „unglaublich" tur. gesagt!) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, seit neun Jahren — Entschuldigung! Die Möglichkeit besteht, aber wer gestalten wir erfolgreich unsere Finanz- und Steuer- sonst so fröhlich aussieht wie Sie, muß sich darüber politik für Wachstum und Beschäftigung. Wir hatten freuen, daß er dieser Rede zuhören kann. nachweisbar Erfolg. Wann hat es je zuvor eine neun- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) jährige Wachstumsphase mit diesem breiten Wachs- Unser steuerpolitisches Konzept hilft den Menschen tumspfad gegeben? Nie! in Ost und West. Deshalb wird es Bestand haben. In (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — diesem Zusammenhang erwarte ich auch den Beifall Zuruf von der SPD: Sie haben eben Glück der SPD. gehabt!) Herzlichen Dank. — Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der (Lachen bei der SPD) FDP) - Ohne gesunde Finanzen, ohne hervorragende Be- dingungen für private Investitionen, dynamisches Wachstum und die Schaffung zukunftssicherer Ar- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat beitsplätze wäre die Deutsche Einheit im Jahre 1990 der Kollege Dr. Norbert Wieczorek das Wort. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3417

Dr. Norbert Wieczorek (SPD): Verehrte Frau Präsi- Im Klartext heißt das ja wohl: Bei den Hochverdie- dentin! Meine Damen und Herren! Ich habe tatsäch- nern bleibt unter dem Strich eine kräftige Entlastung lich aus der Rede des Finanzministers zwei Dinge übrig, bei den weniger Verdienenden bleibt aus Ihren gelernt. Das erste ist, daß offensichtlich seine Inspira- Maßnahmen nicht nur nichts übrig, sondern sie wer- tionen für die Steuerpolitik doch im Bierzelt entstehen den sogar noch zusätzlich zur Kasse gebeten. — das macht mir manches an dieser Politik verständ- (Beifall bei der SPD — Zurufe von der SPD: licher —, und das zweite ist, daß er ein sehr selektives So ist es! — Leider!) Gedächtnis hat: Er erinnert sich zwar nicht daran, was er im vorigen Jahr der deutschen Bevölkerung ver- Mit diesem Steueränderungsgesetz wird jetzt die sprochen hat, aber er erinnert sich an das, was er in Umverteilung von unten nach oben weiter auf die früheren Reden in der Opposition gesagt hat. Auch Spitze getrieben. Sie haben offensichtlich wirklich das ist ein interessanter Standpunkt. jede Hemmung verloren. Jetzt sollen die Arbeitneh- (Joachim Poß [SPD]: Und der Stoltenberg ist mer, die Rentner, die Arbeitslosen und die Familien wegen der „erfolgreichen Politik" zurückge- mit Kindern Steuerentlastungen für wenige Großun- treten!) ternehmen und Besitzer von großen Vermögen bezah- len. — Das kommt hinzu; aber es ist ihm ja wahrscheinlich recht, daß Herr Stoltenberg zurücktreten mußte. (Zustimmung bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der SPD: Richtig!) Mit der vorgesehenen Erhöhung der Mehrwertsteuer Denn tatsächlich machen Sie mit diesem Gesetz soll nämlich die Senkung der Vermögensteuer und jetzt etwas völlig anderes, als Sie hier vorgetragen die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer finanziert haben: Sie schlagen praktisch ein neues Kapitel der werden unsozialen und ungerechten Politik auf. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Immer (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist absolut diese alte Leier!) falsch!) Wenn hier gesagt wird, daß die Bürgerinnen und Bür- — auch wenn Sie das immer wieder leugnen und auch ger entlastet werden, will ich einmal aufführen, was eben wieder geleugnet haben. im Zusammenhang mit dem Steuer- und Abgabener- Aber, Herr Kollege Waigel, ich darf Sie dann daran höhungspaket 1991 alles passiert: seit Ap ril erhöhte erinnern, was zu diesem Thema die Herren Lambs- Sozialversicherungsbeiträge, ab 1. Juli Solidaritäts- dorff, FDP, Geißler — Kollegen hier im Bundestag — zuschlag, Erhöhung der Mineralölsteuer auf Benzin und Teufel, Ministerpräsident von Baden-Württem- und Heizöl, Erhöhung der Versicherungssteuer, An- berg, gesagt haben. hebung der Telefongebühren, Anhebung der Tabak- steuer ab dem nächsten Jahr. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!) (V o r s i t z: Vizepräsident Helmuth Becker) Sie sehen das nämlich genauso. Also, wie üblich, sor- gen Sie erst einmal dafür, daß Sie sich selber über die Das alles zusammen ist mehr an Belastung, als Sie mit Situation klar werden. der von Ihnen, von den Koalitionsparteien, verkünde- ten „größten Steuerreform" von 1986 bis 1990 den Auch wenn wir das von der SPD schon häufig er- Bürgern angeblich gegeben haben. klärt haben, muß ich noch einmal daran erinnern, daß Sie die bereits vor der Bundestagswahl vorhandenen (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU] : Es läßt sich Pläne zur Mehrwertsteuererhöhung immer wieder ve- nachweisen, daß das nicht stimmt!) hement geleugnet haben. — Ich werde mir, da ich ahnte, daß Sie dies voraus- sichtlich sagen würden, deshalb gestatten, das DIW zu (Bundesminister Dr. Theodor Waigel nimmt zitieren. Das DIW hat ausgeführt: vorübergehend in der ersten Reihe der SPD Fraktion Platz) Dem Volumen nach werden damit .. . — Ich freue mich, daß du doch bei uns aufgenommen — und zwar mit den Steuer- und Abgabenerhöhun- bist, Theo. gen 1991 — (Heiterkeit) die Steuersenkungen, die in den Jahren 1988 bis Aber ich warne davor: Der Parteibeitrag ist bei uns 1990 in drei Stufen vorgenommen wurden, wie- höher als bei euch. der rückgängig gemacht. Allerdings werden jetzt die Privathaushalte anders belastet, als sie da- (Erneute Heiterkeit) mals entlastet wurden: Während die untere Ich bin Schatzmeister, ich weiß das. Ein Sonderbeitrag Hälfte der Gesamtheit der Lohnsteuerpflichtigen wird auch noch erhoben; da sind wir fast so wie ihr in — mit bis zu 45 000 DM Jahreseinkommen — der Steuerpolitik. — das entspricht dem Facharbeitereinkommen — (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) im Saldo belastet wird, werden die oberen 15 % mit über 80 000 DM Jahreseinkommen kräftig Jetzt wird natürlich als Begründung für die Mehr- entlastet. - wertsteuererhöhung nachgeschoben, das sei ein Akt der Steuerharmonisierung in der EG. Nur, diese Steu- (Günter Oesinghaus [SPD]: Das nennt man erharmonisierung, die Erhöhung der Mehrwertsteuer sozial!) von 14 auf 15 0/0, hat der Finanzminister Waigel fahr- Das sagt das DIW. lässig mit seinen Äußerungen herbeigeredet. Sonst 3418 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dr. Norbert Wieczorek wäre das gar nicht notwendig gewesen; machen wir Ich gebe ja zu, wenn Herr Geißler recht hat, hat er uns da doch nichts vor. recht. Allerdings muß ich sagen, es ist nicht von Inter- esse, ob die CDU/CSU das verkraftet. Das ist nämlich (Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/- nicht das Thema. Die Frage ist vielmehr: Wie verkraf- CSU]: Was sagen Sie denn zu Herrn Schleus- ten das die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dieser ser? Der fordert doch noch mehr!) Republik? Wenn Sie jetzt sogar noch sagen, diese Mehrwert- (Beifall bei der SPD) steuererhöhung sei sozial — wie sich das in der Be- gründung des Gesetzentwurfes darstellt — , dann Das ist die Frage! kann ich nur noch erklären: Hier fehlt mir wirklich das Aber es geht nicht nur um den sozialen Aspekt. Die Verständnis; denn das ist für mich nicht mehr nachzu- Mehrwertsteuererhöhung schadet nämlich auch un- vollziehen, und da bin ich offensichtlich nicht der ein- serer Wirtschaft. Lassen Sie mich ein paar Punkte an- zige. führen: Erstens führt die Mehrwertsteuererhöhung zu (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Sind denn Ihre einem Anstieg des Preisniveaus und der Inflations- Minister alle unsozial, Herr Kollege!) rate und damit zu einer Entwertung des Geldvermö- gens der Sparer. Auf diesen Zusammenhang hat Herr — Das sind sie sicherlich nicht; Sie können bei denen Schlesinger, sicherlich auch kein Mitglied unserer gerne in die Schule gehen, Herr Kollege Uldall. Da Partei, werden Sie manches lernen, z. B. darüber, wie es den Ländern bei der Mehrwertsteuererhöhung ergeht. Le- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Schade! — sen Sie heute einmal in der FAZ, was Frau Fugmann- Heiterkeit bei der SPD) Heesing im Hessischen Landtag dazu gesagt hat; das aber Bundesbankpräsident, hingewiesen. ist sehr lesenswert. Wir haben heute offensichtlich Probleme mit Partei- (Beifall bei der SPD) zugehörigkeiten. Aber daß diese Einschätzung, die ich eben gegeben Die höhere Inflationsrate führt zugleich selbstver- habe, auch bei Ihnen in der Koalition vorhanden ist, ständlich zu höheren Lohnforderungen und damit zur habe ich ebenfalls mit Interesse vermerkt. Da hat Herr Gefahr einer Preis-Lohn-Spirale. Ich erinnere mich, Grünbeck folgendes gesagt: daß der Bundesfinanzminister bei der Mineralöl- Die Mehrwertsteuer anzuheben ist unsozial. Vor steuererhöhung den Gewerkschaften die Empfehlung allem die kinderreichen Familien, also die größ- gegeben hat, das bei ihren Tarifforderungen zu be- ten Verbraucher in unserem Land, müssen blu- rücksichtigen. ten. Auch die Armeren in unserer Gesellschaft, (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!) die Arbeitslosen, die Sozialhilfeempfänger oder auch die Rentner mit niedrigem Einkommen, Das ist ja nicht vergessen. werden schmerzhaft zur Kasse gebeten. Hinzu kommt die zu erwartende geldpolitische Ge- Soweit Herr Grünbeck; das ist ein guter Mann, der ist genreaktion der Bundesbank. Das führt dazu, daß wir nämlich unabhängig. entweder eine weitere Zinserhöhung bekommen, oder aber zumindestens die insgesamt international (Dr. Peter Struck [SPD]: Manchmal spinnt er eingeläutete und zum Teil schon vollzogene Zinssen- aber auch ganz schön!) kungsrunde nicht mitmachen. Das, was er sagt, paßt mir zwar auch nicht immer (Joachim Poß [SPD]: Und untragbar hohe — das gebe ich gerne zu — , aber immerhin, Preise!) (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Wenn Sie schon — Herr Tietmeyer hat das gestern ja schon einmal Herrn Grünbeck zitieren, spricht das nicht gesagt: untragbar hohe Preise. Das ist richtig. Ich gerade für die Qualität Ihrer Rede!) komme noch darauf zurück. Aber es gibt ja bei Ihnen in der Fraktion auch noch Die höheren Zinsen belasten im übrigen die inve- den Herrn Geißler. Den hatten Sie ja eine Weile ver- stierende Wirtschaft mit zusätzlichen Kosten, die ihre gessen. Herr Geißler hat in seinem B rief an den Prä- Wettbewerbsposition verschlechtern. Die Zinsen, die sidenten des BDI Bemerkenswertes geschrieben. Ich Kapitalkosten sind ein ganz entscheidender Standort- zitiere: faktor und viel wichtiger als diese Steuern, von denen Es mag Sie ja als Präsidenten des BDI unberührt hier die Rede ist. lassen, wenn die Mehrwertsteuer für alle Bürger (Beifall bei der SPD) erhöht und gleichzeitig die Steuer für eine relativ kleine Anzahl von Unternehmern und Unterneh- Ich komme auch darauf gleich noch zu sprechen. men gesenkt wird. Besonders kleine und mittlere Unternehmen, die ja (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Eben — Herr von der Senkung der Vermögensteuer und der Ab- Geißler!) schaffung der Gewerbekapitalsteuer praktisch nichts haben, werden in ihrer Wettbewerbssituation in eine Für eine Volkspartei ist dieses neuerliche „Flug- schlechtere Position get rieben. Im übrigen wird eine benzin-Syndrom" jedoch nur schwer verkraft- Zinserhöhung nicht die Investitionen steigern, son- bar. dern als Folge dieser Steuerpolitik eher dazu beitra- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Volkspar- gen, daß die notwendige Schaffung von Arbeitsplät- tei?) zen und der Aufbau, gerade auch in den neuen Bun- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3419

Dr. Norbert Wieczorek desländern, nicht so vonstatten geht, wie wir alle es lange her gewesen sein. Sie haben ja genügend Kol- uns wünschen. legen aus Niedersachsen in Ihren Reihen. Schließlich belastet die Anhebung der Mehrwert- Können Sie mir bitte erklären, worauf der Mann steuer besonders kleine und mittlere Unternehmen, hofft, wenn er in seinen zukünftigen Haushalt beson- denn gerade bei vielen mittleren und kleinen Unter- dere Einnahmen in einer Größenordnung von, glaube nehmen des Einzelhandels und des Handwerks wird ich, 600 Millionen DM eingestellt hat, wenn Ihr Präsi- häufig nicht die Situation gegeben sein, daß sie diese dium aber gegen die Mehrwertsteuererhöhung ist Steuererhöhung voll im Preis weitergeben können. und wenn Sie hier, wenn ich Sie richtig verstehe, alle Die Anhebung der Mehrwertsteuer geht bei ihnen Steuererhöhungen, die angedacht sind, ablehnen? nämlich zu Lasten des Gewinns. Meine konkrete Frage: Worauf hofft dieser Mann? Gerade aber bei den von Ihnen begünstigten Groß- Woher soll das Geld kommen? Wie würden Sie dieses unternehmen, die sehr exportstark sind, bleibt dann Verhalten nennen? der Teil des Geschäftes, der Export ist, völlig unbe- rührt, weil die Mehrwertsteuer erstattet wird. Das heißt, Sie schaffen eine neue Wettbewerbsungleich- heit und benachteiligen gerade die kleinen und mitt- leren Unternehmen, die in der Binnenversorgung (SPD) : Herr Kollege, im wertvolle Arbeit leisten. Dr. Norbert Wieczorek Laufe der Rede werde ich noch darauf kommen, was (Beifall bei der SPD) wir statt der von Ihnen geplanten Maßnahmen mit Last not least wird natürlich durch die Mehrwert- einer Ergänzungsabgabe machen wollen steuererhöhung der Zug zur Schwarzarbeit weiter ge- fördert. Das haben Ihnen ja auch die Präsidenten der ( [CDU/CSU]: In welcher Verbände des Handels und des Handwerks ins Rede?) Stammbuch geschrieben. — in der, die ich gerade halte — und was die Länder Wenn ich mir das alles angucke, so kommt natürlich bekommen, wenn man das entsprechend anders kon- ein weiterer Punkt hinzu: die Frage der Gebietskör- struiert. Sie werden die Antwort also noch bekom- perschaften. Denn nicht für alle Gebietskörperschaf- men. ten bringt ja die Steuererhöhung das, was sie dem Bundesfinanzminister bringt. Ganz im Gegenteil! Die Zurück zu meinen eigentlichen Ausführungen: Das, Berechnungen der Länder zeigen, daß sich, weil die was Sie mit der Senkung bzw. Abschaffung der Ge- Mehrwertsteuer auch von den Ländern und den Ge- werbekapitalsteuer und der Vermögensteuer ma- meinden als Verbrauchern bezahlt werden muß, die chen, ist keineswegs mittelstandsfreundlich. Es be- Nettosituation der Länder durch ihren Anteil an der günstigt die Großunternehmen. Tatsächlich verfolgen Mehrwertsteuer oder durch die Umlagen für die Ge- Sie damit ihre alte Ideologie: Unten belasten und oben meinden nicht wesentlich verbessert. entlasten. Das machen Sie jetzt auch für die Unterneh- men. Die kleinen Unternehmen werden belastet, und (Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr!) die großen werden entlastet. Gerade für die Gemeinden, die den größten Anteil am öffentlichen Verbrauch haben, wird hiermit eine wei- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider!) tere Schwächung erfolgen und damit allerdings auch Insofern ist es eine sehr konsequente Steuerpolitik, eine Schwächung des örtlichen Gewerbes; denn die Herr Kollege Uldall, nur eine, die Ihnen mit Sicherheit Gemeinden sorgen für die Infrastruktur, die wir brau- auf die Dauer keine Freude macht. chen. Wenn das Geld nicht mehr da ist, werden diese Aufträge fehlen — und die Infrastruktur in ein paar (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ Jahren auch. Das ist sicherlich keine Verbesserung CSU: Das ist doch eine Legende, die Sie hier der Wettbewerbssituation. vortragen!) Ich komme jetzt zur Senkung der Vermögensteuer Ich würde Ihnen übrigens in diesem Zusammen- und zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, die hang, da Sie uns ja so gerne etwas vorrechnen, emp- Sie planen. Diese Pläne sind nicht nur sozial unge- fehlen: Lesen Sie doch einmal nach, was heute über recht, sie sind auch wirklich wirtschaftspolitisch ver- die Steuerpläne von Frau Cresson in der Zeitung steht. fehlt; denn diese Maßnahmen entlasten lediglich den Dann können Sie sehen, wie man es umgekehrt ma- Vermögensbesitz, fördern aber keine Investitionen chen kann. Man sollte sich dies einmal überlegen. und keinen Arbeitsplatz. Frau Cresson ist — davon bin ich sehr überzeugt — (Beifall bei der SPD) immer noch eine Frau, die uns da sehr nahe steht. (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Das sozialisti Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege sche Weltbild vom bösen Kapitalisten muß ja Dr. Wieczorek, gestatteten Sie eine Zwischenfrage? stimmen!) — Würden Sie es als ein sozialistisches Weltbild be- (SPD): Ja, bitte. Dr. Norbert Wieczorek zeichnen, wenn Frau Cresson ausdrücklich Steuer- - senkungen für kleine und mittlere Unternehmen vor- Wilfried Seibel (CDU/CSU): Herr Kollege Dr. sieht und dafür Großunternehmen bei Finanzanlagen Wieczorek, ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal mit belastet? Wenn das Sozialismus ist, bin ich sehr stolz dem niedersächsischen Finanzminister Swieter ge- darauf. sprochen haben. Ich hoffe, das wird noch nicht so (Beifall bei der SPD) 3420 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dr. Norbert Wieczorek Nur möchte ich einmal wissen, was Ihre Mittelstands- Nur scheint er sie irgendwie nicht ganz gelesen zu vereinigung dazu sagt, wenn sie einmal darüber nach- haben. Er ist vielleicht auch zu sehr mit der CSU und denkt. zu wenig mit seinem Ministerium beschäftigt. (Dr. Peter Struck [SPD]: Bei Uldall ist alles (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Da mach Sozialismus!) dir mal keine Sorge!) Zurück zu Ihrer Politik: Ich muß sagen, die Art und — Ja, ja, Sie wissen, wovon ich rede; deswegen Weise, wie Sie die Unternehmensteuerreform, wie schreien Sie jetzt. Sie es nennen, immer wieder begründet haben, hat schon eine gewisse Komik. Begründung war zunächst Von einem internationalen Steuersenkungswettlauf die schlechte Eigenkapitalausstattung der deutschen kann ebenfalls nicht die Rede sein. Denn die Unter- Wirtschaft, dann die mangelnde internationale Wett- nehmensteuerreformen in unseren Pa rtnerländern bewerbsfähigkeit wegen der angeblich im Vergleich USA, Schweden und Österreich und jetzt die geplante zu anderen Ländern zu hohen Besteuerung, dann ein in Frankreich sind ausdrücklich alle auch so angelegt, angeblicher internationaler Steuersenkungswettlauf, daß sie aufkommensneutral sind. Das haben die Fran- dann die angebliche Notwendigkeit, den Unterneh- zosen heute auf Rückfrage noch einmal ausdrücklich men für Investitionen in den neuen Ländern Finanzie- bestätigt. Das wäre doch sehr lesenswert. Sie sollten rungsmittel verschaffen zu müssen, sich das angucken. (Zuruf von der CDU/CSU: Wieso angeb- Wenn Sie dann sagen, im Ausland gebe es keine lich?) Gewerbekapitalsteuer, dann ist sicherlich richtig abgesehen davon, daß dort noch gar keine Gewerbe- —bis auf Luxemburg —, daß es sie unter diesem Titel kapitalsteuer gezahlt wird. Jetzt schließt sich der Kreis nicht gibt. Aber ertragsunabhängige Unternehmen- wieder, indem die Bundesregierung zu ihrer alten Ar- steuern gibt es wohl, und das ist das Entscheidende. gumentation zurückkommt. Ich finde, das ist schon Es kommt nämlich auf die Belastung an, nicht auf den ein ziemlich absurdes Argumentationstheater. Namen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Grundlage unserer Wettbewerbsfähigkeit sind im Die Wiederholung macht die Argumente nicht rich- übrigen unsere hervorragend ausgebaute Infrastruk- tiger; denn der oft wiederholte Hinweis auf eine Steu- tur, das leistungsfähige Bildungssystem, die hochqua- erbelastung in Höhe von 70 % ist längst ad absurdum lifzierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, geführt. Frau Kollegin Matthäus-Maier hat ja nun in- auch die Unternehmensleitungen, die hohe Arbeits- zwischen selbst mit dem BDI schon einmal klargezo- produktivität und der soziale Frieden. Für jeden Un- gen, daß das nicht stimmt. ternehmer ist klar, daß das geldwerte Vorteile sind. (Hans H. Gattermann [FDP]: Wie bitte?) Ich halte es nicht für einen Zufall, wenn der britische Industrieverband CBI im Hinblick auf die unterent- — Ja, na sicher. Herr Gattermann, Sie wissen es ge- wickelte Infrastruktur in Großbritannien sagt, daß das nausogut wie ich. Die tatsächliche Steuerbelastung den Unternehmen jährlich eine Kostenbelastung von liegt irgendwo zwischen 40 und 44 der Unternehmen mindestens 45 Milliarden Mark verursacht. Rechnen und nicht bei 70 %. Rechnerische Grenzsteuersätze Sie das mal gegen mit der Infrastruktur, und dann fra- sagen gar nichts aus. gen Sie, was sie mit den Gemeinden machen. (Hans H. Gattermann [FDP]: Frau Matthäus war doch schon mal bei unter 20 % ! — Dr. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Es kommt doch CSU: Und deswegen investieren die Japaner auf die Methode an!) in England und nicht bei uns?) — Dies hat doch zu einer Klärung geführt, nachdem — Wissen Sie, warum die Japaner da investieren? immer 70 % genannt worden waren. Nehmen Sie es Schlicht und einfach deshalb, weil sie da zunächst zur Kenntnis, und seien Sie froh, daß wir endlich ein- keine Konkurrenz in der Automobilindustrie zu fürch- mal Daten haben. Ganz abgesehen davon wissen wir, ten haben, weil die nämlich durch die Wirtschaftspoli- zumindest diejenigen, die sich damit beschäftigen, tik längst kaputtgemacht worden ist. inzwischen, daß Bemessungsgrundlagen und Berech- nung des Gewinns vor Steuern eine ganz wesentliche (Beifall bei der SPD) Größe der tatsächlichen Belastung sind. Wenn Sie Infrastrukturprobleme und Kostenbela- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das be- stung studieren wollen, reden Sie mal mit dem japa- streitet niemand!) nischen Unternehmerverband. Ich habe das dieses Jahr schon zweimal getan. — Okay, dann brauchen wir uns nicht mehr über die 70 % zu unterhalten, einverstanden. (Zurufe von der CDU/CSU) Dazu ein Zitat: Es ist sehr interessant, was für Probleme da auftau- Die steuerliche Belastung der Unternehmensge- chen. Gucken Sie sich den neusten gesunkenen Ge- winne in der Bundesrepublik kann international winnabschluß von Toyota und den Hintergrund dafür generell nicht als besonders hoch bezeichnet- an. Also, sich ein bißchen darum zu kümmern ist werden. schon nützlich, bevor man Zwischenrufe macht. Das steht übrigens in der DIW-Studie, die, wenn ich (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ richtig zugehört habe, auch Herr Waigel zitiert hat. CSU: Genau das machen wir!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3421

Dr. Norbert Wieczorek Es ist übrigens auch unzutreffend — — nehmen letzten Endes auf die kleinen und mittleren Unternehmen verschoben wird. Während die kapital- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Jetzt müs- starken Großunternehmen durch die Abschaffung der sen Sie nur noch sagen, daß die Japaner dort- Gewerbekapitalsteuer und die Senkung der Vermö- hin gehen, weil das Essen in England besser gensteuer kräftig entlastet werden, werden die mittle- ist! — Heiterkeit) ren und kleinen Unternehmen durch die zur Finanzie- — Also, wir können gern mal nach England fahren; rung vorgesehene Anhebung der Mehrwertsteuer, dann zeige ich Ihnen, wie gut englische Küche sein durch die Minderung der degressiven Abschreibung kann. Die gibt es nämlich in dem Land. Aber Küche und durch die Zinskosten viel höher belastet. Damit hat nichts mit Infrastruktur zu tun. Es hat z. B. damit zu wird die Wettbewerbssituation der kleinen und mitt- tun, daß man Schweine auf der Weide hat und deswe- leren Unternehmen in der Bundesrepublik gegen- gen anständigen Schinken kriegt -- wenn wir schon über den Großunternehmen weiter verschärft und bei rustikalen Dingen sind. Man muß sich halt ausken- verschlechtert. Der Verdrängungs- und Konzentra- nen, dann ist es einfacher. tionsprozeß hin zu immer größeren Konzernen wird durch diese Steuerpolitik von der Bundesregierung Nun aber zurück zu Ihrer Behauptung, Sie bräuch- weiter forciert, egal, was sie in Sonntagsreden sonst ten die Steuersenkung zur Eigenkapitalverbesserung zur Stärkung der kleinen und mittleren Unternehmen in der Wirtschaft. Da muß ich die Bundesbank und das und des Wettbewerbs sagt. Institut der Deutschen Wirtschaft zitieren, das ja nun mit Sicherheit nicht der SPD nahesteht. Danach ist die (Beifall bei der SPD) finanzielle Ausstattung der deutschen Unternehmen noch nie so gut gewesen wie heute. Das gesamte Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte schön, Herr Geldvermögen, also die liquiden Mittel der Produkti- Gattermann. onsunternehmen, belief sich 1990 auf 1,4 Billionen DM. Davon waren allein 557 Milliarden DM — rund Hans H. Gattermann (FDP): Herr Kollege, Sie haben 40 To — kurzfristig angelegt. Ich sehe nicht die Not- mich neugierig gemacht hinsichtlich der französi- wendigkeit, hier gerade bei Großunternehmen eine schen Steuerpläne. Ich habe nur eine Agenturmel- Eigenkapitalverbesserung zu machen. dung gelesen, wonach der Körperschaftsteuersatz von (Beifall bei der SPD) 42 auf 34 % gesenkt worden ist. Sie haben eben von einem Gesamtpaket gesprochen. Könnten Sie mich Da die Bemessungsgrundlage der Vermögen- und schlau machen? der Gewerbekapitalsteuer im wesentlichen das Ei- genkapital ist, profitieren von diesen Steuersenkun- gen vor allem die Großunternehmen, die schon über Dr. Norbert Wieczorek (SPD): Ich habe dies aus dem ein hohes Eigenkapital verfügen. Damit wird die oh- Zeitungsartikel. Wir haben aber natürlich nachge- fragt, weil damit zu rechnen war, daß so etwas kam. nehin hohe Finanzkraft der Großkonzerne, die von vielen spöttisch, aber treffend als Banken mit ange- Die Zeitungsmeldungen wurden bestätigt. Das We- gliederten Produktionsabteilungen bezeichnet wer- sentliche daran ist, daß alle diese Vergünstigungen an den, noch weiter gestärkt, während die kleinen und die Unternehmensgröße gebunden sind. Das ist das mittleren Unternehmen entweder ganz leer ausgehen Entscheidende. Deswegen kommt es auch zu der von oder nur kleine Beträge an Entlastung bekommen. Ihnen behaupteten Aufkommensneutralität, wobei ich das im Moment genausowenig nachrechnen kann Es ist auch kein unmittelbarer Zusammenhang mit wie Sie. der Verbesserung der Eigenkapitalausstattung gege- (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Sagen Sie doch ben; denn wenn das richtig ist, was das Institut der einmal etwas zu dem Steuersatz in Frank Deutschen Wirtschaft und die Bundesbank sagen, ist reich oder in anderen Ländern!) doch völlig offen, was mit den Steuersenkungen ge- — schieht. Bleiben die im Unternehmen? Oder werden Den Artikel können Sie doch nachlesen. Ich habe sie ausgeschüttet? Das ist dann doch die Frage. Inso- ihn dabei. Ich reiche ihn Ihnen gleich hinüber. fern gibt es überhaupt keinen Zusammenhang. (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Wie hoch ist denn die Differenz?) Es ist auch nicht zutreffend, daß die Unternehmen durch die Vermögen- und die Gewerbekapitalsteuer — Herr Kollege Uldall, ich gebe gerne Nachhilfe. Sie in ihrer Existenz gefährdet würden. kriegen gleich anschließend den Auszug aus der Presse. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja!) (Dr. Peter Struck [SPD]: Das hat doch bei ihm Wenn Sie das hochrechnen, kommen Sie auf eine keinen Zweck, Herr Kollege Wieczorek! Das Belastung von maximal netto etwa 1 To des Kapitals. bringt nichts!) Wenn dann jemand behauptet, ein Unternehmen — Nein, so hart sind wir doch im Ausschuß nicht. Da käme deshalb in wirtschaftliche Schwierigkeiten, ist selbst Herr Uldall manchmal schon lernfähig gewe- dann würde ich doch mal annehmen, daß es ganz sen. andere Gründe sind, wenn dieses Unternehmen nicht (Heiterkeit bei der SPD) funktioniert, aber nicht diese Belastung. - Heute zahlt nur ein kleiner Teil der Unternehmen (Beifall bei der SPD) überhaupt Gewerbekapital- und Vermögensteuer. Schon nach dem geltenden Recht gibt es hohe Freibe- Praktisch führt eben die Steueränderung in diesem träge. 84 To der Gewerbebetriebe zahlen bereits heute Bereich dazu, daß die Steuerbelastung der Großunter- keine Gewerbekapitalsteuer. Sie haben dadurch na- 3422 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dr. Norbert Wieczorek türlich nichts von der Abschaffung der Steuer. Deswe- —Ja, ich sage, ich will es Ihnen gar nicht anlasten. Ich gen hat auch die Mittelstandsvereinigung der Union komme Ihnen ja entgegen. Aber er ist ja nun einmal festgestellt — ich zitiere nur Ihr eigenes Lager — , daß Ihr Wirtschaftsminister in der Koalition. Damit müssen die Streichung der Gewerbekapitalsteuer vorwiegend Sie schon einmal leben. die Großunternehmen begünstigt. Wenn ich mir das also ansehe, ist dies ja im wesent- Auch von der geplanten Senkung der betrieblichen lichen das Noch-einmal-Aufrechnen gesetzlich be- Vermögensteuer profitieren in erster Linie die weni- reits auslaufender Steuersubventionen, der Verzicht gen kapitalstarken Großunternehmen. Da wird erst auf die Aufstockung von Subventionen, die nochma- durch die Änderung des Ansatzes im Betriebsvermö- lige Einrechnung bereits beschlossener Maßnahmen gen die Vermögensteuer um ein D rittel gesenkt, und —Umsatzsteuer für Geldspielgeräte — , reine Steuer- dann rechnet sich das für die 100 größten Kapitalge- erhöhungen wie die Erhöhung des Lohnsteuer- sellschaften sowohl bei der Senkung der Vermögen- pauschsatzes, und dann handelt es sich in vielen Fäl- steuer als auch bei der Abschaffung der Gewerbeka- len um schlichte Luftbuchungen, die kassenmäßig pitalsteuer jährlich in einer Größenordnung von ins- überhaupt nicht wirksam werden, wie etwa die Strei- gesamt 14 Millionen DM pro Unternehmen. Das ist chung der Steuerfreiheit von Zinsen aus in den 50er kein Abbau von Subventionen, das ist eine neue Jahren begebenen steuerfreien Wertpapieren. Steuersubvention, die Sie einführen. (Detlev von Larcher [SPD]: Schauspieler Andererseits wird durch die Abschaffung der Ge- tricks!) werbekapitalsteuer bei den Kommunen eine ihrer — Ja, Trickserei ist das. wichtigsten konjunkturunabhängigen eigenen Steuerquellen in der Höhe von netto 4,2 Milliarden Aber damit nicht genug: Wer hinhört, stellt fest, daß DM gestrichen. Der vorgesehene Teilausgleich durch die Bundesregierung und die Koalitionsparteien auf die Senkung der Gewerbesteuerumlage ist unzurei- einige Punkte sowieso noch verzichten wollen. Dann chend und führt bei den Kommunen zu einer noch allerdings würden selbst die 5 Milliarden DM aus den größeren Abhängigkeit von der Ertragslage der Un- 10 Milliarden DM des Herrn Möllemann nicht mehr ternehmen, die in ihren Grenzen tätig sind. Bei den erreicht werden. strukturschwachen Gemeinden ist das ein weiterer Wie weit, meine Damen und Herren von der Koali- Angriff auf die Finanzautonomie. Sie werden immer tion, Sie bereits auf dem Gebiet des Tricksens im Be- abhängiger von Bund und Ländern. Zudem wird mit reich der Finanzpolitik gelangt sind, zeigt schon die der leichtfertigen Amputation der Gewerbesteuer die Begründung des vorliegenden Steueränderungsge- Ausgangslage für eine eigentlich dringend not- setzes, nach der Sie mit dem angeblichen Subven- wendige Reform der Gemeindefinanzen weiter ver- tionsabbau die Steuerausfälle durch die Abschaffung schlechtert. der Gewerbekapitalsteuer und die Senkung der Ver- mögensteuer finanzieren wollen. Hier kann ich mich (Beifall bei der SPD) nur wundern. Haben Sie nicht erst verkündet, der Ich fürchte, wenn Sie das Geld vorher verschenken, Subventionsabbau solle — so Herr Waigel hier im werden wir in diesem Jahrzehnt die notwendige Ge- Bundestag — zur Haushaltskonsolidierung einge- meindesteuerreform nicht mehr bekommen, obwohl setzt werden? Es geht ja wohl nicht an, daß Sie die wir sie dringend bräuchten. Mittel für den Subventionsabbau einmal zur Entla- stung des Bundeshaushaltes einsetzen und dann noch (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dr. ein zweites Mal zur Finanzierung der ungerechten Peter Struck [SPD]: Da müssen wir erst an die Steuersenkung. Regierung kommen! — Gegenruf von der CDU/CSU: Das wird noch etwas dauern!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: So rechnen die immer! — Detlev von Larcher [SPD]: Die Wir werden aus all diesen Gründen dies natürlich können jede Mark zweimal ausgeben!) ablehnen und hoffen, daß das, was wir an Äußerun- — So ist das. Bundesfinanzminister Waigel hat ja hier gen von den Sozialausschüssen und von den Mittel- im Bundestag auch verkündet, er würde in Zukunft standspolitikern der Union gehört haben, wahr wird; jede Mark zweimal umdrehen. Wenn er das täte, hät- die sollen mit uns stimmen, die sollen endlich Farbe ten wir vielleicht nicht die Haushaltsmisere. Aber wir bekennen, nicht immer nur in Presseerklärungen. haben den Eindruck, daß Herr Waigel jede Mark nicht (Detlev von Larcher [SPD]: Das machen sie ja zweimal umdreht, sondern zweimal ausgibt. nicht!) (Beifall bei der SPD — Dr. Peter Struck — Man kann sie doch immer noch zur Besserung brin- [SPD]: Dreimal!) gen. Es ist doch nicht so tragisch. Er ist ja nicht mehr hier — das finde ich übrigens auch Nun zum Thema Abbau der Steuersubventionen: bemerkenswert, nachdem wir so lange darauf warten Angeblich streichen Sie ja 5 Milliarden DM an Steuer- mußten, daß wir überhaupt fortfahren konnten —, subventionen. Ich halte das für einen Etiketten- aber wir möchten ihn auffordern, klipp und klar zu schwindel, der sehr an die berühmten Darstellungen sagen, was denn nun gelten soll: Subventionsabbau des Herrn Möllemann erinnert, die ich der CDU/CSU- zur Haushaltskonsolidierung oder zur Finanzierung nicht anlasten möchte. der neuen Steuergeschenke vor allem für Großunter- nehmen. Aber es ist ja — das habe ich vorhin schon (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Dieser gesagt — gar kein Subventionsabbau, sondern nur Vergleich ist aber nicht fein!) Subventionsaufbau. Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3423

Dr. Norbert Wieczorek Meine Damen und Herren, ich komme nun zum nes Sparen, damit die Staatsverschuldung zurückge- Familienlastenausgleich. Was der Bundesfinanzmini- führt wird, die Inflationsrate wieder zurückgeht und ster da den Familien zumutet, ist eigentlich schon die Zinsen wieder gesenkt werden können. Ich finde ganz ungeheuerlich, denn das geht wirklich nach dem nicht nur das, was Herr Tietmeyer gestern zur Infla- Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt's sich gänzlich tionsrate gesagt hat, sehr bemerkenswert, sondern ungeniert. ebenso, wenn klar gesagt wird, daß von den drei Kri- (Beifall bei der SPD) terien, die als Eingangsvoraussetzungen für die Wäh- rungsunion gelten, die Bundesrepublik bei zweien Seit diese Bundesregierung im Amt ist, hat sie Jahr weit durch den Rost fällt. für Jahr den Familien verfassungswidrig eine viel zu niedrige Entlastung für ihre Kinder gegeben. (Zuruf von der SPD: Schallende Ohrfeige!) (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Und das Es ist sehr bedenkenswert, daß nach den Anforderun- von Ihnen, unglaublich!) gen, die wir für die Wirtschafts- und Währungsunion stellen, wir selber in dieser Situation nicht dafür qua- — Entschuldigung, sehen Sie sich doch an, wie das lifiziert wären. Bundesverfassungsgericht geurteilt hat! Es hat ge- sagt, 1983 bis 1985 haben Sie zu wenig entlastet. (Zuruf von der SPD: Sehr wahr! Sehr wahr! — Gegenrufe von der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat denn den Tarif gemacht, der 1983 galt?) —Darüber sollten Sie einmal nachdenken, ehe Sie zu diesem Punkt hier Ihre Zwischenrufe machen. — Sie haben doch angeblich sofort alle Fehler korri- giert. Haben Sie es getan? Nein, Sie haben damit (Beifall bei der SPD) gelebt. Dann kam dieses Bundesverfassungsgerichts- Der Wirtschaft ist insgesamt auch wirklich mit einer urteil; dann haben Sie monatelang geprüft soliden Finanzpolitik mehr gedient als mit Steuerver- (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) günstigungen für Großvermögen. und sind nicht zu Potte gekommen. Dann kam die (Beifall bei der SPD) Bundestagswahl. Da wurde gesagt: Natürlich wird Im Unterschied zu Ihrer Umverteilungsideologie das allen zurückgegeben. Nach der Bundestagswahl — kleine Unternehmen belasten, große entlasten — war davon nicht mehr die Rede, sondern nur die, die schlagen wir eine aufkommensneutrale Reform der —wahrscheinlich, weil sie einen Steuerberater hat- Unternehmensbesteuerung vor, mit der Investitionen ten — Einspruch eingelegt hatten, haben das Geld und Arbeitsplätze gefördert werden können: die steu- dann zurückbekommen, die anderen nicht. erfreie Investitionsrücklage für kleinere und mittlere (Zuruf von der CDU/CSU: Wir mußten doch Unternehmen und die Beseitigung von steuerlichen zuerst den Scherbenhaufen beseitigen!) Privilegien bei den Finanzanlagen gegenüber den ge- werblichen Investitionen. Davon ist übrigens bei Frau — Richtig, nach der Bundestagswahl mußten Sie den Cresson auch etwas drin. Scherbenhaufen aufkehren. Das sehe ich ja ein, daß Sie in diesem Jahr einen Scherbenhaufen ange richtet Dann müssen natürlich Subventionen auf allen haben. Da müssen Sie noch verdammt viel tun, wenn Ebenen abgebaut werden. Wir haben dazu Vor- Sie den aufkehren wollen. Wahrscheinlich wird das schläge gemacht. Ich darf daran erinnern: Dienstmäd- dann irgendwann unsere Aufgabe sein. Dann können chenprivilegien, Flugbenzin, wir ja vielleicht wieder Reden austauschen. (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Machen Sie (Hans H. Gattermann [FDP]: Mein Gott, dar- weiter, Sie müssen ja auf 10 Milliarden kom- aus wird etwas werden!) men!) —Herr Gattermann, Sie werden schon sehen, daß das und durch unsere Vorschläge zur Einsparung und bei dem Konzept, das wir haben, ein bißchen besser zum Verzicht auf die Senkung der Vermögensteuer geht. Aber ich will mich beim Familienlastenausgleich und auf die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer jetzt hier nicht mehr — — kommen wir ohne Steuererhöhungen auf ein ähnli- ches Niveau des Einnahmevolumens wie Sie mit der (Zuruf von der CDU/CSU: Auf Ihr Konzept Mehrwertsteuererhöhung. Wir können Ihnen die Zah- warten wir doch schon die ganze Zeit!) len dann ja geben. —Bitte? Das werden Sie zum Familienlastenausgleich Statt der von der Bundesregierung geplanten Erhö- gleich noch vom Kollegen Habermann hören, weil ich hung der Mehrwertsteuer will die SPD nach dem Ge- aus Zeitgründen diesen Punkt zurückstelle. Sie wer- danken des Lastenausgleichs die Bezieher höherer den das alles noch bekommen, keine Sorge. Einkommen, die mit den starken Schultern, wie man Ich möchte nämlich noch darauf kommen, daß ge- so sagt, zur Finanzierung der deutschen Einheit her- rade bei dieser massiven Herausforderung, die wir anziehen. jetzt haben, für neue Steuervergünstigungen in der Unsere Alternative zur Mehrwertsteuererhöhung Haushaltssituation, in der wir sind, überhaupt kein ist die Freistellung der kleinen und mittleren Einkom- Geld mehr da ist. men von der Ergänzungsabgabe und die Umgestal- tung der Ergänzungsabgabe in einen Zuschlag zur (Beifall bei der SPD) Einkommensteuer, an dem auch Länder und Gemein- Das ist doch der Punkt. Das Gebot der Stunde für den den — das ist die Antwort auf die Zwischenfrage von Finanzminister wäre jetzt wohlüberlegtes, aber eiser- vorhin — beteiligt sind, was sie bei der jetzigen Kon- 3424 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dr. Norbert Wieczorek struktion nicht sind, und ihre bef ristete Erhebung für steuererhöhung gemacht, um Löcher zu stopfen, statt vier bis fünf Jahre. Das entspricht im Aufkommen ein gescheites ökologisches Konzept zu machen. auch etwa einem Punkt bei der Mehrwertsteuererhö- hung. (Beifall bei der SPD) Aber wenn ich mir anhöre, was Ihre Ankündigungs- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Da freut minister Töpfer und Möllemann gerade bei dem sich der Leistungsträger!) Thema der Mineralölsteuer zur Geschwindigkeits- — Der wird ja entlastet. Ich sehe den Facharbeiter als beschränkung gesagt haben, ist mir auch klar, daß Sie Leistungsträger an. Der würde bei uns total entlastet. kein Umweltkonzept haben. Bei Ihnen ist er belastet, Herr Faltlhauser. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Die Vorschläge der SPD enthalten eine bedarfsge- Bevor weiter nach Steuererhöhungen gerufen wird, rechte Finanzausstattung der Länder und Gemein- muß der Staat die Steuern, die ihm zustehen, auch den, die durch die deutsche Einheit erheblich belastet eintreiben. Eine Politik, die die Hinterziehung hoher sind und die an den vom Bund vorgenommenen Steu- Steuerbeträge hinnimmt, hat kein Recht, die ehrlichen ererhöhungen und Einnahmen praktisch kaum betei- Steuerzahler mit immer neuen Steuererhöhungen zur ligt sind. Kasse zu bitten. Meine Damen und Herren, das vorgelegte Gesetz (Beifall bei der SPD) wird — das ist kein Geheimnis — so keinen Bestand haben. Spätestens im Bundesrat wird die sozial unge- Deshalb muß jetzt endlich die vom Bundesverfas- rechte Steuerpolitik dieser Bundesregierung ge- sungsgericht geforderte gleichmäßige Besteuerung stoppt werden müssen. Wir hatten eigentlich nach von Kapitaleinkünften nach Recht und Gesetz sicher- dem letzten Vermittlungsverfahren erwartet, daß die gestellt werden. Unser Vorschlag ist bekannt; den Senkung der Vermögensteuer und die Abschaffung haben wir schon bei der mißglückten Quellensteuer der Gewerbekapitalsteuer endgültig vom Tisch sei. gemacht, und der ist jetzt vom Verfassungsgericht bestätigt worden. Wir wollen die Millionen Normal- Es stimmt schon sehr, sehr nachdenklich und gibt zu sparer von der Zinsbesteuerung durch die Anhebung Vermutungen Anlaß, wenn man sieht, mit welcher der Sparerfreibeträge auf 3 000 DM für Ledige, Energie und Ausdauer sich die Bundesregierung für 6 000 DM für Verheiratete von der Besteuerung be- diese Steuergeschenke für wenige große Vermögen freien und mit einem Stichprobenverfahren, das das und Kapitalbesitzer einsetzt. Warum setzen Sie sich Bankgeheimnis weitgehend wahrt, absichern. Über denn nicht mit der gleichen Energie angesichts von die exakte Höhe des Sparerfreibetrages können wir 2,5 Millionen fehlenden Wohnungen für die Bekämp- uns gern auch noch unterhalten, soweit die Befreiung fung der Wohnungsnot ein? verfassungsmäßig tragbar ist. (Beifall bei der SPD) (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sie sollten Warum sorgen Sie nicht mit der gleichen Energie da genauer erklären, was Sie meinen!) für, daß Familien mit Kindern endlich einen verfas — Sie haben einen Artikel zur Zinsbesteuerung im sungsmäßigen Familienlastenausgleich bekommen? „Handelsblatt" geschrieben. Es ist doch angenehm, (Beifall bei der SPD) daß Herr Faltlhauser eigentlich eine alte SPD-Idee aufgenommen hat. Er ist eben auch lernfähig. Darauf Und warum setzen Sie sich nicht mit der gleichen können wir uns dann schnell einigen. Die Schwierig- Vehemenz dafür ein, daß endlich eine entsprechende keit, die Sie da haben, ist Ihre Fraktion, nicht wir. Erhöhung des Grundfreibetrages in Höhe des Exi- stenzminimums für Erwachsene steuerfrei gestellt (Beifall bei der SPD) wird? Leere Kassen dürfen auch nicht als Ausrede dafür (Beifall bei der SPD) herhalten, um notwendige Reformen zu verhindern. Warten Sie da auch wieder, bis das Bundesverfas- Die SPD hat gezeigt, daß Reformpolitik möglich ist sungsgericht Ihnen was ins Stammbuch schreibt? Das durch intelligente Umschichtung in den öffentlichen wird ja wohl so kommen. Viel Spaß! Haushalten, ohne daß zusätzlich Geld ausgegeben werden muß. Wir haben das beim Familienlastenaus- Es ist wirklich schlimm, wenn die Steuerpolitik so gleich, wenn ich etwa an die Begrenzung des Ehegat- zur bloßen Klientelpolitik verkommt. tensplittings denke, auch schon nachgewiesen. (Beifall bei der SPD) Eine solidarische Finanzpolitik muß allerdings auch Wenn dieser Prozeß aber angesichts der großen fi- Beamte, Selbständige, Minister und auch Abgeord- nanzpolitischen Herausforderungen, die wir bereits nete, die von der Anhebung der Arbeitslosenversiche- haben und die, wie heute schon absehbar ist, durch rungsbeiträge nicht betroffen sind, in eine Arbeits- außenpolitische Ereignisse noch auf uns zukommen, marktabgabe einbeziehen. nicht nur Sowjetunion, wenn man das alles vor Augen hat, dann muß diese Politik jetzt gestoppt werden. (Beifall bei der SPD) Geschieht das nicht, hat das für uns alle sehr fatale Wo bleibt das bei Ihnen? - Folgen, auch für die deutsche Wirtschaft. Die ökologische Weiterentwicklung des Steuer- Deswegen appelliere ich, auch wenn ich nicht si- und Abgabensystems ist auch eine Aufgabe der deut- cher bin, daß dieser Appell gehört wird — wir sollten schen Reformpolitik. Sie haben doch die Mineralöl- trotzdem darüber nachdenken — , daß diejenigen bei Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3425

Dr. Norbert Wieczorek Ihnen, die die sozialen und wirtschaftspolitischen Un- einem Jahr eine Anhörung gehabt. Dort wurde diese gerechtigkeiten Ihrer Maßnahmen erkennen, sich Methode von allen Experten in einer Weise auseinan- endlich dazu aufraffen, diesem Gesetz hier im Bun- dergenommen, daß man nur noch sagen kann: Lä- destag bereits ein Ende zu setzen, nicht daß der Bun- cherlich. Die Zahlen, die Sie zur Belastung der Unter- desrat dem Bundestag wieder sagen muß, wo es lang- nehmen immer verwandt haben, Frau Matthäus- geht. Maier, sind völlig falsch. Ich danke Ihnen. Die zweite Methode ist die der naiven Addition der (Beifall bei der SPD) Sätze. Ich gebe zu: Die nützt auch nichts! Man nimmt die Sätze zusammen und kommt dann etwa auf 70,03 % Belastung. Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Kurt Faltlhauser. Ernst zu nehmen sind nur zwei Methoden. Das eine ist die „Modellrechnung" des DIW, (Hans H. Gattermann [FDP]: Ohne Fehler (CDU/CSU): Herr Präsident! Dr. Kurt Faltlhauser aber bitte!) Meine Damen und Herren! Der Bundesfinanzminister hat einleitend auf Grund der etwas unmotivierten La- bei allen Problemen. — Ohne Fehler, insbesondere chereien in den Reihen der Opposition die SPD geta- bei den Pensionsrückstellungen. — Aber genau diese delt. Ich finde, er hat damit Unrecht getan. Ich habe seriöse Untersuchung zeigt, daß in manchen Bran- Verständnis dafür, daß die SPD hier im Plenum lacht. chen die Spitzensteuerbelastung nicht 70 %, sondern Die haben ja in Ihrer Fraktion nichts zu lachen. 78 % beträgt. Auch das sollte man sehen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) (Peter Harald Rauen [CDU/CSU]: So ist es!) Wir wollen Sie hier etwas befreien. Das hat man von Das beweist auch die vierte sehr ernsthafe Me- dem Kollegen Wieczorek wieder bewiesen bekom- thode, die des Deutschen Indust rie- und Handelstages men; im Ausschuß, insbesondere in Währungsfragen, am „lebenden Objekt". Das ist eine gute Untersu- ein sehr vernünftiger und sachkundiger Mann. Für chung, wie ich meine. Auch sie zeigt, daß die Spitzen- das Plenum, vor den Augen der Öffentlichkeit, wird er belastungen teilweise weit über 70 % liegen. von dieser Fraktion gezwungen, Wir sollten also gemeinsam feststellen, gerade auf (Lachen bei der SPD) Grund dieser wissenschaftlichen Untersuchungen, die alte Leier der Neidpolitik und der Verteilungs- daß die Steuerbelastung der Unternehmen in politik zu wiederholen, Deutschland zu hoch ist. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Gute Rede! Eine persönliche Bemerkung, Herr Kollege Das ärgert Sie!) Wieczorek. Ich habe in dem „Handelsblatt"-Artikel in vorgestanzten Sätzen, vorbei an jeder Sachkennt- kein Stichprobenverfahren vorgeschlagen. Ich habe nis! Das ist eigentlich schade. gesagt: Wir bleiben offen für alle Möglichkeiten. Wir (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der prüfen das. Das tun wir gegenwärtig. Am 15. Oktober SPD: Sie können doch besser reden!) wird die entsprechende Entscheidung von der Zins- kommission vorgelegt und von der Unionsfraktion be- Herr Kollege Wieczorek, Sie haben etwas zur Bela- schlossen werden. stung unserer jetzigen Steuermaßnahmen im Verhält- nis zu den alten Steuerentlastungen zwischen 1986 (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Viel Erfolg in und 1990 gesagt. Damit ich hier nicht allzu lang dar- Ihrer Fraktion, Herr Faltlhauser!) über spreche, verweise ich Sie auf die tatsächlichen Meine Damen und Herren, dieses Gesetz heißt in Zahlen, detailliert vorgerechnet in den Beiträgen zur der Kurzform etwas grau und verwaltungsmäßig Wirtschafts- und Finanzpolitik vom 31. Juli 1991, „Steueränderungsgesetz" . Wichtig ist der Langtext, Seite 6 ff. Bitte nachlesen! Sie werden dann feststel- der zwei Teile deutlich macht: „Gesetz zur Entlastung len: Die große Steuerreform zwischen 1986 und 1990 der Familien und zur Verbesserung der Rahmenbe- hat langfristig wesentlich mehr entlastet, als die jetzi- dingungen für Investitionen und Arbeitsplätze. " Es gen Steuererhöhungen die Bürger belasten. Das kön- sind die zwei Teile, die ganz deutlich getrennt werden nen Sie ganz konkret nachlesen. müssen: einerseits Familienentlastung, finanziert (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — durch die Mehrwertsteuer, und auf der anderen Seite Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Nur für we- Entlastung der Unternehmen, finanziert durch Sub- nige! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die ventionsabbau und Änderungen bei den Abschrei- Leute sehen das alle anders! Fragen Sie mal bungsbedingungen. die Menschen!) (Detlev von Larcher [SPD]: Im Euphemismus Ein Weiteres, Herr Kollege Wieczorek. Sie haben seid ihr gut!) einige Anmerkungen zu den Belastungsrechnungen der Unternehmen gemacht. Das ist tatsächlich ein Wir haben für dieses Gesetz Vorgaben von außen. Problem. Ich glaube, man sollte auseinanderhalten, Die erste Vorgabe von außen ist das Urteil des Bun- daß es hier vier verschiedene Methoden des Verglei- desverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990, das die ches gibt. Freistellung eines Existenzminimums für das Kind Die erste Methode ist die der volkswirtschaftlichen erzwingt. Grundlage der Beurteilung des Bundesver- Gesamtrechnung, die die finanzpolitische Spreche rin fassungsgerichts ist die Situation im Jahre 1983. Da- der SPD permament vorgetragen hat. Wir haben vor mals galt ein Gesetz, das eine sozialdemokratische 3426 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dr. Kurt Faltlhauser Finanz- und Familienpolitik von 1969 an, also würde. Ich würde mich schämen, meine Damen und 13 Jahre lang, zu vertreten hatte — besser gesagt: was Herren! sozialdemokratische Finanz- und Familienpolitik (Beifall bei der CDU/CSU) 13 Jahre lang sträflichst mißachtet und verschludert Sie haben in Ihrer Zeit kläglich versagt, und wir muß- hatte. ten das nachholen. Nichts haben Sie getan. Sie haben nicht nur ver- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wir hatten sucht, die Familien ideologisch auszuhöhlen, sondern kein Karlsruhe-Urteil!) Sie haben sie auch finanziell sträflich vernachläs- Ihre Alternativen werden selbst in Ihren eigenen sigt. Reihen als nicht seriös angesehen. Ich zitiere, Frau (Beifall bei der CDU/CSU) Kollegin, Ihren Landespolitiker Herrn Schleußer. Er Diese Situation war Grundlage des Bundesverfas- sagt, daß Ihre familienpolitischen Vorschläge unse- sungsgerichtsurteils. riös, unrealistisch, verfassungsrechtlich bedenklich und, nicht zuletzt, unbezahlbar sind. Der Mann hat Wir haben versucht, in Schritten Ihre Versäumnisse recht; Sie sollten mehr auf Herrn Schleußer hören. zu reparieren. Wir haben erstens den Kinderfreibe- (Beifall bei der CDU/CSU) trag von 1983 an schrittweise angehoben, jetzt — in diesem Gesetz — auf 4 104 DM. Hinzu kommt die in diesem Gesetz ebenfalls festgelegte Anhebung des Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie eine Erstkindergelds von 50 auf 70 DM. Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus- Maier? (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist ja un -geheuer!) Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Aber natürlich. Rechnet man — wie es das Bundesverfassungsge- richt systematisch vorgeschlagen hat — das Kinder- geld in den Kinderfreibetrag um, kommt man bei ei- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte. nem Umrechnungssatz von 40 % auf einen Betrag für das Existenzminimum eines Kindes in Höhe von Ingrid Matthäus-Maier (SPD) : Herr Kollege, da Sie 6 204 DM. unsere Familienpolitik so geißeln: Würden Sie mir Wenn ich mir das Urteil und die dort enthaltenen zustimmen, daß es über den Familienlastenausgleich Zahlen ansehe, kann ich nur sagen: Unsere Überzeu- während der Zeit der sozialliberalen Koalition kein gung ist, diese 6 204 DM sind nun wirklich verfas- negatives Bundesverfassungsgerichtsurteil gibt, wäh- sungskonform! Das hat diese Bundesregierung, das rend Ihr Familienlastenausgleich von Karlsruhe aus- hat diese Koalition geschaffen! drücklich für verfassungswidrig erklärt wurde? (Hans H. Gattermann [FDP]: Wo kein Kläger Wir haben darüber hinaus eine ganze Reihe von ist, ist auch kein Richter!) zusätzlichen familienpolitischen Maßnahmen ergrif- fen. Das muß man auch sehen, um gewichten zu kön- nen, was diese Koalition bisher für die Familie getan Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU) : Ich darf Sie darauf hat. hinweisen, Frau Kollegin, daß sich der Kläger auf das Jahr 1983 bezog, also genau die Zustände vorfand und Ich nenne nur folgende Stichworte: Pflegepausch- beklagenswert fand, die am Ende Ihrer 13jährigen betrag, Erhöhung des Baukindergelds, Einführung Regierungszeit herrschten. des Kindergeldzuschlags, Einführung und mehrfache Verlängerung von Erziehungsgeld und Erziehungsur- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nein!) laub, Einführung der Kindererziehungszeiten. Wir ha- Ich glaube, das sagt genug. Das war nach einem lan- ben im Zusammenhang mit dem BAföG die Freibe- gen Leidensweg in der Familienpolitik eine notwen- träge beim Einkommen der Eltern angehoben. Wir dige Klage vor dem Verfassungsgericht. Vielleicht la- haben die Bundesstiftung „Mutter und Kind" errich- gen dem Verfassungsgericht vorher keine entspre- tet. Wir wollen — das haben wir heute in der Fraktion chenden Klagen der Bürger vor. beschlossen — im Rahmen der flankierenden Maß- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aus unserer nahmen zum Schutz des ungeborenen Lebens inner- Zeit gibt es kein Urteil, aber aus Ihrer! — halb einer Einkommensgrenze ein Familiengeld in Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Aber über Ihre Höhe von 1 000 DM einführen. Zeit!) Das ist rundum eine verantwortliche Politik für die — Ich glaube, diesen Zwischenruf muß man nicht Familie. 1982 war das entsprechende Volumen bei mehr seriös beantworten. Ihnen noch 27 Milliarden DM; heute sind es etwa Die zweite Vorgabe macht die Europäische Ge- 60 Milliarden DM. Das ist eine Steigerung, die weit meinschaft bei der Mehrwertsteuer. Die Bundesrepu- über die Steigerungssätze des Bruttosozialproduktes blik mit einem Mehrwertsteuersatz von 14 % bewegt in demselben Zeitraum hinausgeht. sich am unteren Ende der bisherigen Korridorvorga- Angesichts dieser familienpolitischen Initiativen auf ben der EG. Die Bundesregierung und der Finanzmi- breitester Front, angesichts dieser Familienpolitik der nister waren sicherlich nicht diejenigen, Herr Kollege Phantasie und der Großzügigkeit würde ich mich als Wieczorek, die in Brüssel die Mehrwertsteuertreiber Sozialdemokrat schämen, wenn die eigene Leistung waren. Deutschland war eher im Bremserhäuschen. aus der Vergangenheit zum Vergleich herangezogen (Zuruf von der SPD: Abgetaucht!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3427

Dr. Kurt Faltlhauser Ohne die Deutschen im Mehrwertsteuerbremserhäus- — Herr Abgeordneter Waigel, Sie haben eine Zwi- chen wäre die Vorgabe der EG mit Sicherheit nicht bei schenfrage. Bitte schön. 15 %, sondern bei 16 % gelandet. Der vorgelegte Ge- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) setzentwurf setzt also schlicht um, was auf EG-Ebene beschlossen ist. Dr. Theodor Waigel (CDU/CSU): Herr Kollege Faltl- Wir sollten dabei das Augenmerk vor allem auch hauser, sind Sie mit mir der Meinung, daß man das darauf richten, daß der ermäßigte Mehrwertsteuersatz dann als Fraktionslüge bezeichnen muß? nach der Vorlage bei 7 % bleibt. Dadurch wird die (Heiterkeit bei der CDU/CSU) vielfach behauptete Regressionswirkung, also die un- soziale Wirkung der Mehrwertsteuer, mit Sicherheit deutlich gedämpft. Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Ich würde das nicht nur als eine Fraktionslüge bezeichnen, sondern (Detlev von Larcher [SPD]: Ist die Begrün- obendrein als eine Parteilüge. dung nun die EG oder der Familienlasten- (Zustimmung bei der CDU/CSU — Dr. Theo ausgleich?) dor Waigel [CDU/CSU]: Ich bedanke mich. Angesichts der EG-Vorgabe wirkt der Zustand der — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Habt ihr das SPD zur Frage der Mehrwertsteuer besonders grotesk. einstudiert? Witzig war es aber nicht! — In Frau Kollegin Matthäus-Maier erklärt zwar täglich grid Matthäus-Maier [SPD]: Dafür, daß Sie trotzig — das macht sie ganz tapfer —, daß die SPD vorbereitet waren, war es aber nicht wit einer Mehrwertsteuererhöhung niemals zustimmen zig!) wird. Im eigenen Lager klingt das aber ganz an- — Ich weiß, daß in Ihren eigenen Reihen manchmal ders: Antworten vorbereitet werden und die Witze, die in der Antwort gebracht werden, schon auf dem Tisch Die Kollegen Roth und Wieczorek halten Gespräche bereitliegen. Bei uns ist das nicht notwendig. ohne Tabus mit der Regierung auch hinsichtlich der Mehrwertsteuer für nötig. (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Der Finanzmi nister ist wirklich ein besserer Komödiant!) Der nordrhein-westfälische Finanzminister — das Dieser Vorgang zeigt deutlich, wer in der SPD tat- ist ein kluger Mann; ich muß ihn schon wieder zitie- sächlich Macht und Einfluß hat. Die Musik machen ren — hält eine Mehrwertsteuererhöhung für notwen- die SPD-Ministerpräsidenten. Und die werden trotz dig, unabhängig von der Frage, ob es 15 % oder 16 Dementis heute mit klammheimlicher Freude im De- werden. zember einer Mehrwertsteuererhöhung zustimmen. Der hochgeschätzte Vorsitzende der IG Chemie, Ihr Parteichef, Herr Engholm, wird zunächst einmal Herr Rappe, der eben noch im Plenum saß — ich — sehr dekorativ — einige Züge aus der Pfeife neh- wollte ihn loben, aber jetzt ist er davongelaufen; man men, vielleicht ein bißchen am norddeutschen Strand darf sich nicht von einem Unionspolitiker loben las- auf und ab gehen. Dann wird er aber mit Sicherheit sen — , hat ganz trocken gesagt: Mehrwertsteuer um der erste sein, der im Vermittlungsausschuß die Hand 2 % nach oben! für eine Mehrwertsteuererhöhung hebt. (Hans H. Gattermann [FDP]: Der kommt Der niedersächsische Ministerpräsident, der nach nicht selber!) eigenen Aussagen möglicherweise Kanzlerkandidat der SPD wird, Wie hat er in der „Welt" am 3. September gesagt? — „Ich schließe nicht völlig aus, daß die Mehrheit der (Detlev von Larcher [SPD]: Ach schau her! — SPD-regierten Länder im Bundesrat doch einer Erhö- Weitere Zurufe von der SPD) hung zustimmen könnte". sagte am 1. August 1991, daß die Mehrwertsteuerer- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Warten wir es höhung von 14 auf 15 % für die SPD kein Tabu ist. ab!) Die SPD eiert in der Finanzpolitik; das wissen wir. Frau Kollegin Matthäus-Maier, vor diesem Hinter- Die Frage der Mehrwertsteuer ist das sichtbarste Zei- grund handelten Sie völlig konsequent, als Sie in der chen ihrer Konzeptionslosigkeit in der Finanzpolitik. vorletzten Woche aus dem Vermittlungsausschuß aus- Wir werden im Dezember den Beweis auf den Tisch getreten sind. Das ist eine billige Fahnenflucht! bekommen. (Dr. Theodor Waigel [CDU/CSU]: Fraktions- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Norbert lüge!) Wieczorek [SPD]: Selbstverteidigungsrede von Faltlhauser!) Sie wollen sich auf den bequemen Weg begeben, hier weiterhin gegen die Mehrwertsteuererhöhung pole- Die dritte Vorgabe von außen für dieses Steuerän- misieren zu können und wollen dann nicht zur Ver- derungsgesetz ist der Termin 1. Januar 1993. Ab die- antwortung gezogen werden, wenn Sie im Vermitt- sem Tag werden wir den europäischen Binnenmarkt lungsausschuß die Hand für eine tatsächliche Mehr- haben. Ab diesem Tag wird der Wind des Wettbe- wertsteuererhöhung heben. Das ist Fahnenflucht! Im werbs schärfer werden. Diesen Wettbewerb werden die Unternehmen in unserem Lande eben nicht durch übrigen zeigt dieser Vorgang ganz deutlich, wie die- Machtverhältnisse mittlerweile sind. protektionistische Maßnahmen bestehen können, nicht mit sozialpolitischen Krücken, sondern nur (Abg. Dr. Theodor Waigel meldet sich zu ei- durch vernünftige Rahmenbedingungen, die Leistung ner Zwischenfrage) anreizen und Investitionstätigkeit ermöglichen. 3428 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dr. Kurt Faltlhauser Einer der wichtigsten Faktoren für diese Rahmen- liegt die Bundesrepublik in ihrer Kumulation aus bedingungen ist die Steuerlast. Deshalb heißt es im Vermögen-, Grund- und Gewerbekapitalsteuer CDU-Wahlprogramm — ich betone CDU — vom an relativ ungünstiger Position. Substanzsteuern, 1. Dezember 1990 in nicht zu übertreffender Deutlich- die das im Ausland übliche Maß überschreiten, keit. — Ich schaue mich um, ob die Leute da sind, „to belasten die Wettbewerbsfähigkeit der Unter- whom it may concern", damit Sie es auch hören kön- nehmen gerade in Zeiten insbesondere stark, in nen. denen sie eine Entlastung am meisten brauchen. Dieser Nachteil wird keineswegs durch entspre- (Widerspruch der Abg. Ing rid Matthäus- chende Nettogewinne bei guter Geschäftslage Maier [SPD]) wettgemacht, kann er doch im Einzelfall sogar Es heißt in diesem CDU-Wahlprogramm — der zur Insolvenz führen. Parteivorsitzende der CSU ist hier nicht angespro- chen — : Es geht also nicht nur um ein Prozent, wie Sie sa- gen. Im Hinblick auf die Verwirklichung des Europäi- (Zurufe von der SPD) schen Binnenmarktes brauchen wir nicht nur of- fene Märkte, sondern ebenso eine investitions- Hohe Substanzsteuern dämpfen zudem generell freundliche Steuerreform, die die Sicherung der — hören Sie zu, keine Zwischenrufe, jetzt müssen Sie Schaffung von Arbeitsplätzen begünstigt. lernen! — (Zuruf der Abg. Ing rid Matthäus-Maier die Investitionsbereitschaft, da sich mit den Inve- [SPD]) stitionen auch die Bemessungsgrundlagen für Am Ziel der Unternehmenssteuerreform halten wir diese Steuern erhöhen. Eine Korrektur des Steu- deshalb fest. Der CSU-Vorsitzende löst also konse- ersystems im Hinblick auf die ertragsunabhän- quent als Finanzminister das Wahlprogramm der CDU gige Besteuerung erscheint daher geboten. ein. Ich glaube, das paßt genau auf das, was Sie, Herr Wieczorek, hier zu der Substanzbesteuerung vorge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — tragen haben. Widerspruch bei der SPD) (Zurufe von der SPD) Ich halte das für gut. Die in dem Steueränderungsgesetz 1992 vorgese- Ich sehe es als konsequent an, daß in diesem Steu- henen Entlastungen bei der bet rieblichen Vermögen- eränderungsgesetz vor allem als erster Schritt die steuer und die Abschaffung der Gewerbekapital- Substanzsteuern angegangen werden. Wir veranstal- steuer folgen demnach wissenschaftlichen Erkennt- ten im Bundestag ja regelmäßig Anhörungen. Warum nissen und ebenso den Erkenntnissen der Praxis drau- machen wir das? Weil wir uns von den Experten klü- ßen. ger machen lassen wollen für unsere Entscheidung. Zu was laden wir diese Leute denn ein, Herr (Zurufe von der SPD) Wieczorek? Zu was hören wir sie denn an? Das haben wir auch in einem sehr großen Hea ring (Zurufe von der SPD) am 6. Dezember 1989 zur Unternehmenssteuerreform getan. Die Fragestellung war: Wie ist das mit der deut- Ich glaube, wir sollten von dem lernen, was die Leute schen Unternehmenssteuerbelastung im Verhältnis uns vortragen. zu anderen Ländern? Wie schaut es aus mit den Steu- Wenn wir durch die Verbesserung der steuerlichen ersätzen und der Bemessungsgrundlage? Rahmenbedingungen die Unternehmen in unserem Ich habe mir das Protokoll noch einmal angesehen. Land nicht mehr fit machen, exportieren wir Investi- Ergebnis: Durchgängig wurde festgestellt, daß die tionsvolumen und damit Arbeitsplätze. Der Finanzmi- Steuerlast der Unternehmen in der Bundesrepublik im nister hat schon darauf hingewiesen, wie die Situation Vergleich zu den Mitbewerbern zu hoch ist. In beson- gegenüber anderen Ländern ist. derer Weise wurde durchgängig betont, daß die Sub- Wir haben laut Bericht der Deutschen Bundesbank stanzsteuern zu senken sind. vom August 1991 36,1 Milliarden DM an deutschem Wir erinnern uns alle noch, daß es einmal ein großes Kapital exportiert. Ausländische Investitionen in Gutachten im Jahre 1989 des Deutschen Instituts für Deutschland bleiben aber auf einem sehr spärlichen Wirtschaftsforschung gab. Das ist auch nicht immer so Niveau; es waren nur 2,5 Milliarden. Hinzuzufügen positiv aufgenommen worden auf Grund der techni- ist allerdings, muß ich sagen: Damals bei Schmidt schen Fehler der Berechnung. Nur, bei den Substanz- wurde nicht einmal 1 Milliarde in Deutschland vom steuern sagt dieses Gutachten in einer Präzision, die Ausland investiert. Ich als Ausländer hätte damals in stellvertretend ist für viele andere Erkenntnisse der Deutschland auch keinen Pfennig investiert — bei Wissenschaft, und das zitiere ich ganz ausführlich im dieser Regierung. Hinblick auf das, Herr Wieczorek, was Sie hier zum Zusammen genommen wurden in der Zeit zwischen Verhältnis Substanzsteuern und Arbeitsplätze gesagt 1988 und 1991 — so die Zahlen — in Deutschland nur haben: 8,7 Milliarden US-Dollar investiert; im gleichen Zeit- - Im Hinblick auf die ertragsunabhängigen Steu- raum waren es in Großbritannien 55 Mil liarden US ern Dollar, also sechsmal soviel. Sogar in Belgien und in Luxemburg war die Zahl doppelt so hoch wie die Inve- — sagt das DWI — stitionen in Deutschland. Das muß uns besorgt ma- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3429

Dr. Kurt Faltlhauser chen. Das ist nicht nur eine Kapitalverschieberei; das weitere Bewegung, eine schiefe Bewegung im finanz- sind fehlende Investitionen in Deutschland. politischen Taumelkurs der derzeitigen Bundesregie- Wenn das Kapital weit überwiegend ins Ausland rung. Sie paßt mit ihrer sozialen Einseitigkeit zu an- geht, dann exportieren wir Arbeitsplätze. Sie können deren, von dem gleichen unsozialen Grundzug ge- nicht Arbeitsplätze durch Ihre Verteilungspolitik prägten Bestandteilen der Finanz-, Haushalts- und schaffen. Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Sie paßt zur (Zuruf von der SPD) Verschuldungsorgie des Bundesfinanzministers. Sie paßt zur falschen — weil unsozialen und unzeitgemä- Sie können sie nur dadurch schaffen, daß Sie lei- ßen — Schwerpunktsetzung im Bundeshaushalt 1992. stungsfähige Kapitalmärkte schaffen und vernünftige Sie paßt insofern auch zur geplanten Großoffensive wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Dieses Gesetz der Bundesregierung — Stichwort Deregulierung des trägt dazu bei. Arbeitsmarktes — gegen die Gewerkschaften. Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — paßt zu einer Regierungspolitik, die zunehmend Men- Zurufe von der SPD) schen sozial ausgrenzt, die die Augen vor der Not der Wenn wir also in die Zukunft investieren wollen, müs- Menschen hier im Lande und auch der Menschen sen wir hier ansetzen. draußen verschließt. Das vorliegende Gesetz heißt ,,... Verbesserung Aber die sozial Benachteiligten, die Ausgegrenzten, der Rahmenbedingungen für Investitionen und Ar- die Arbeitslosen, die Sozialhilfeempfänger, die allein- beitsplätze" und geht in der Steuerentlastung konse- erziehenden Mütter, die Kleinrentner und Kleinrent- quent den Weg weiter, den wir 1986 begonnen haben. nerinnen, die Wohnungsuchenden und Obdachlosen, Das müssen wir sehen. Wir haben einen konsequen- die Menschen, die zwar noch Arbeit haben, die aber ten Weg. Dies ist nur ein Teil eines globalen, auf lan- zunehmend — es sind vor allem Frauen — in unge- gen Atem angelegten Steuerentlastungspakets. schützten Arbeitsverhältnissen arbeiten und leben Es gibt keine Zweifel daran, daß es in Zeiten, in müssen — sie alle dürfen sich nicht täuschen über die denen die Haushaltssituation besonders schwierig ist, kalte Logik und den entschlossenen Willen dieser nicht leicht ist, strukturelle Veränderungen und Bundesregierung, auch über eine durch und durch Steuerentlastungen durchzusetzen. Kernaufgabe ver- unsoziale Steuerpolitik die Verhältnisse in der Bun- antwortungsbewußter Politik ist es jedoch nicht, die desrepublik weiter zugunsten der Reichen und Super- Stimmungen zu beruhigen, sondern die Zukunft reichen zu verändern. — Sei es auch — wie es jetzt durch die Verbesserung der Rahmenbedingungen zu geschehen soll — um den Preis der weiteren Bela- gestalten. Es geht nicht um die Stimmungen am stung der großen Mehrheit der Bevölkerung. Stammtisch heute, (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist der Text (Zuruf von der SPD) von 1970!) sondern um den Stammarbeitsplatz von morgen. Diese kalte Logik, den Reichen und Superreichen zu Wenn wir unsere Verpflichtungen von heute vernach- geben, den Armen und sozial Bedürftigen zu nehmen, lässigen würden, also von unten nach oben umzuverteilen, durchdringt (Zuruf von der SPD) von vorn bis hinten die geplanten Steueränderungen. würden wir unseren politischen Auftrag verleugnen. Da werden alle Verbraucher und Verbraucherinnen Dieses Steueränderungsgesetz 1992 mit einer höheren Mehrwertsteuer belegt. Diese Mehrwertsteuererhöhung betrifft alle, den Sekt kon- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wird so nicht sumierenden Yuppie ebenso wie den Kleinrentner beschlossen!) und die Kleinrentnerin, die nach einem Spiegel-Be- ist ein geschlossenes Paket, ein zukunftweisendes Pa- richt zum Teil mit Hundenahrung in diesem reichen ket für die Familien und für die Wirtschaft und die Land, in dieser Bundesrepublik ihren Proteinbedarf Arbeitsplätze in der Zukunft. Es bleibt Ihnen besten- decken. Nur: Es ist doch gerade bei solchen Fragen falls überlassen, im Bundesrat ein derartig vernünfti- wohl ein Unterschied, ob das Leben mit einem Ein- ges Konzept kaputtzumachen, kommen von 15 000 DM im Monat oder mit einer mo- (Hans H. Gattermann [FDP]: Das kriegen wir natlichen Rente von 850 DM bestritten wird. schon hin!) 1973, das ist fast 20 Jahre her, betrug nach einer aber damit werden Sie der Zukunft mit Sicherheit Erhebung des Statistischen Bundesamtes die im Mo- nicht gerecht. nat mindestens für Nahrungsmittel aufzuwendende Ich bedanke mich. Summe in einer Vier-Personen-Familie je nach Alter der Kinder zwischen 590 DM und 710 DM im Monat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Diese Summe dürfte heute mit Sicherheit bei über 1 000 DM im Monat allein für Nahrungsmittel lie- gen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Nehmen Sie die Mieten, die seit geraumer Zeit ins- Dr. Ulrich Briefs. besondere in den Ballungsgebieten ja geradezu ex- plodieren, hinzu. Nehmen Sie hinzu die steigenden Wohnnebenkosten, die Transportkosten und vieles Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! andere, was zum normalen Lebensunterhalt gehört, Meine Damen und Herren! Das Steueränderungsge- und es wird sichtbar, wie schwierig — das wird dabei setz 1992 ist als erstes gesehen nichts anderes als eine immer vergessen — die soziale Lage sehr vieler Men- 3430 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dr. Ulrich Briefs schen auch außerhalb der eben angesprochenen Zweitens. Ein Großunternehmen wird um einen ca. Gruppe der sozial Ausgegrenzten sein muß. 200 mal größeren Betrag entlastet als ein Kleinunter- nehmen. 200 mal höher ist dieser Betrag. Das durchschnittliche Nettoarbeitnehmereinkom- men — das nur einmal zur Erinnerung — betrug im Drittens: Mehrwertsteuer zahlen insbesondere Jahre 1989 2 111 DM. 2 111 DM, das ist das, was im auch die Bürger und Bürgerinnen im Osten. Die von Durchschnitt alle Arbeitnehmer, alle abhängig Be- ihnen aufgebrachten Mittel werden dem Zentralstaat, schäftigten, alle die, die Einkommen aus unselbstän- dem Bund zugute kommen. Sie fehlen aber in den diger Arbeit beziehen, netto verdient haben. Es dürfte Gemeinde- und Länderkassen im Osten; das wird da- heute, im Jahre 1991, kaum über 2 250 DM liegen. Da bei auch vergessen. es Millionen höhere Arbeitnehmereinkommen ein- schließt und entsprechend natürlich auch Millionen Aber: In diesem Zusammenhang ist auch noch eine von abhängig Beschäftigten einschließt, die erheblich andere Analyse notwendig. Auf den ersten Blick ist weniger verdienen als dieser Durchschnitt, ergibt dieses Gesetz vom finanzpolitischen Taumelkurs der sich: Die Mehrwertsteuererhöhung ist unsozial, weil Bundesregierung geprägt. Es steht also im Zusam- sie die sozial Ausgegrenzten an erster Stelle, Millio- menhang der Plan- und Konzeptionslosigkeit der nen von abhängig Beschäftigten mit mittleren und Bundesregierung. Im Kern entspricht es jedoch durch- niedrigeren Einkommen an zweiter Stelle negativ be- aus ganz entscheidenden harten Notwendigkeiten trifft und die Reichen und Superreichen fast über- des hochentwickelten industriellen Kapitalismus in haupt nicht trifft. Gerade denen, die von der Mehr- der Bundesrepublik. Die rasante Anhäufung von wertsteuererhöhung fast nicht oder kaum spürbar be- Reichtum in der Wirtschaft macht die Bedienung die- troffen werden, machen sie noch großzügige Ge- ses Reichtums — das ist der entscheidende Grundzu- schenke. Sie lassen ihnen bzw. den von ihnen beses- sammenhang — mit weiteren Profiten immer schwie- senen Unternehmen über 6 Milliarden DM durch Sen- riger. Die Profitraten sind unter Druck — das ist ja kung der Vermögensteuer richtig — durch Überkapazitäten, also durch eben den Reichtum der Wirtschaft, durch die riesigen Fixkosten (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Besessene Unter- neuer Technologien, durch die scharfe Konkurrenz nehmen — was ist denn das?) auf den nationalen und internationalen Märkten, und durch die geplante Abschaffung der Gewerbeka- durch die Vermarktung und Distributionskosten usw. pitalsteuer zukommen. Ausgerechnet den Unterneh- usf. men, die schon im Durchschnitt pro Jahr ca. 38 000 Die Profitmacherei schlägt zwar immer neue Re- DM Subventionen und Steuervergünstigungen erhal- korde, reicht aber dennoch nicht aus, um den eben ten, lassen sie im Durchschnitt weitere 3 000 DM im dadurch noch größer gewordenen Reichtum mit einer Jahr zugute kommen. entsprechenden Profitrate zu bedienen. Das ist der Das Bild ist also eindeutig. Unsozialer geht es kaum einfache Sachverhalt. Man hat da so seine Schlüssel- mehr. Andere Maßnahmen des Steueränderungsge- erlebnisse wie das, was ich auf einer Podiumsdiskus- setzes wirken ebenso. Die Erhöhung der Kinderfrei- sion, damals als grüner Abgeordneter, in Bremerha- beträge — übrigens noch nicht einmal auf die von der ven mit einem Vorstandsmitglied der Nordsee-AG zuständigen Ministerin Rönsch geforderte Höhe — hatte. Der sagte nämlich folgenden Satz — und das begünstigt die Reichen und benachteiligt relativ die bringt es genau auf den Punkt — : Da haben wir 2 Mil- Menschen mit niedrigen und mittleren Arbeitsein- liarden DM Umsatz und machen damit lediglich kommen und nützt den sozial Ausgegrenzten gar 20 Millionen DM Gewinn — Jahresüberschuß; daß nichts. der Gewinn in Wirklichkeit ein ganzes Stück größer ist, sei nur am Rande angemerkt. Aber das ist genau Steuerpolitisch betonieren sie damit weiter die das Problem: Das Riesenrad, das da gedreht wird, und Dreiklassengesellschaft. es kommt ihnen einfach zu wenig heraus! (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Wo lebt der ei- Um das zu verbessern, deshalb führen Sie diese gentlich, der Junge?) Finanzpolitik durch und deshalb auch dieses Gesetz, — Ja, wo leben Sie? Auf Ihren Stehparties? das wir hier heute beraten. Aber was Sie da tun, taugt nicht, um dieses Problem zu lösen. Es löst nicht die Sie tun nichts für die sozial Ausgegrenzten, wenig Probleme, es verschärft die Widersprüche des hoch bzw. nicht genug für die große Zahl der mittel und entwickelten modernen Kapitalismus. Je reicher Sie gering verdienenden Bezieher von Einkommen aus die Betriebe, die Wirtschaft insgesamt machen, um so unselbständiger Tätigkeit, dafür um so mehr für die größer wird der Druck, der Druck auf Arbeitsplätze, Reichen und Superreichen. Das ist Ihre Dreiklassen der Druck auf die Konsumenten, der Druck auf die gesellschaft. Das ist das, was Sie systematisch schaf- öffentlichen Hände, der Druck auf die Dritte Welt und fen. nicht zuletzt der Druck auf die natürliche Umwelt. (Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Darüber kann Die Dynamik des hochentwickelten industriellen noch nicht einmal mehr die SPD lachen!) Kapitalismus, dessen Fähigkeit zur überbordenden Steuerwirkungsmäßig nur drei weitere Anmerkun- Warenproduktion unübertroffen ist — das ist rich- gen: tig — , ist insbesondere eine zentrale Ursache der so- - zialen und der ökologischen Zerstörung unserer Zeit. Erstens. Das Steueränderungsgesetz geht zu Lasten Dieser Kapitalismus führt zur Pe rversion vieler Errun- der Länder und Gemeinden und begünstigt den genschaften der Menschheitsgeschichte — sozial, Bund. ökonomisch, ökologisch und nicht zuletzt politisch. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3431

Dr. Ulrich Briefs Das, was wir hier heute beraten, ist ein kleiner Bei- dert. Mit den Steueränderungsgesetzen 1991 und trag zum Vollzug der kalten, verhängnisvollen Logik 1992 wird der Versuch markiert — das sage ich be- des Kapitalismus. Es trägt nicht dazu bei, die kapita- wußt — , das konzeptionelle Ziel eines fairen, lei- listische Produktionsweise auch nur in einigen Punk- stungsmotivierenden, international wettbewerbsfähi- ten einzudämmen oder zu kontrollieren. Das ist viel- gen Belastungsniveaus des Steuerrechts nicht aus leicht der Hauptwebfehler dieses Gesetzes. den Augen zu verlieren und — in Klammern gesagt — Ein Ansatz könnte dagegen z. B. die Erhebung ei- vor allen Dingen für Bürger und Unternehmen er- ner Ergänzungsabgabe von 10 % auf Einkommen kennbar zu lassen und zugleich die staatliche Einnah- über 60 000 DM und von 1 To auf Vermögen über mesituation zu verbessern. 500 000 DM netto sein, wie wir das als PDS/Linke Wer diesen Versuch allerdings so anlegen möchte, Liste ja seit längerer Zeit fordern. daß er den Finanzbedarf für die zusätzlichen Aufga- Herr Präsident, ich danke Ihnen für die Geduld! ben über Steuermehreinnahmen realisieren will, (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke würde sich an einer Quadratur des Kreises versuchen; Liste) er müßte scheitern. Einnahmeverbesserungen, die nicht aus dem Wachstum unserer Volkswirtschaft stammen, führen unweigerlich zu einer Erhöhung des Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Belastungsniveaus. Wie intelligent man sich dabei Herren, nächster Redner ist der Abgeordnete Hans auch immer anstellt, die Ziele „fair, leistungsmotivie- Gattermann. rend und international wettbewerbsfähig" werden mehr oder weniger beeinträchtigt.

Hans H. Gattermann (FDP) : Herr Präsident! Meine Der Appell in diesem Zusammenhang an die Soli- Dame und mein Herr Schriftführer! Meine sehr ver- darität der Deutschen, Opfer für die Erfüllung der Auf- ehrten Damen und Herren! Die Rituale unserer Debat- gaben des vereinigten Vaterlandes zu bringen, muß ten sind sehr eindrucksvoll, und sie bestätigen eigent- und wird begrenzt bleiben. Es wäre unrealistisch, sich lich die Richtigkeit, daß die öffentliche Resonanz da- da irgend etwas vorzumachen. zu relativ gering ist. Vieles besteht aus Vergangen- Weniger fair bedeutet ab einem bestimmten Punkt: heitsbewältigung, Sich-selbst-auf-die-Schulter-Klop- soziale Unruhe. Weniger leistungsmotivierend bedeu- fen und Vors-Schienbein-Treten. Wenn das ohne tet ab einem bestimmten Punkt: auf den Lorbeeren Fernsehen und im kleinen Kreis wie hier, humoristisch ausruhen. Weniger international wettbewerbsfähig aufgelockert, geschieht, dann hat die ganze Ge- bedeutet ab einem bestimmten Punkt: Verlagerung schichte wenigstens noch etwas Unterhaltungswert. und Unterlassen von Investitionen. — Meine Damen und Herren, seit genau zweieinhalb Monaten ist das Steueränderungsgesetz 1991 ein- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schließlich Solidaritätgesetz in Kraft, und schon be- Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist der ginnen wir mit der Beratung des Steueränderungsge- Einstieg in den bekannten Teufelskreis: weniger setzes 1992 mit dem ehrgeizigen Ziel, die Sache Wachstum, weniger Beschäftigung, weniger Staats- — einschließlich Vermittlungsausschuß — so rechtzei- einnahmen, mehr Sozialaufwand. tig zu Ende zu bringen, daß Teile des Gesetzes am 1. Januar in Kraft treten können. (Zustimmung bei der CDU/CSU) Ich verhehle überhaupt nicht, daß eine derartige Ich kann es eigentlich nicht oft genug wiederholen: Hektik in der Steuerpolitik an sich von außerordent- Es ist ein Kinderglaube, anzunehmen, der Staat könne lichem Übel ist. durch beliebiges Drehen an der Steuerschraube die (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der absolute Höhe seiner Einnahmen bestimmen. Er ver- SPD — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Da ändert zunächst nichts anderes als seinen prozen- sind wir uns einig!) tualen Anteil am Erfolg der Wirtschaft. Ob sich das am Ein solches Tempo ist, wenigstens aus unserer Sicht, Ende rechnet und auszahlt, hängt einzig und allein nur dann vertretbar — wie immer auch die äußeren von dem Erfolg, von der Leistungskraft und der Lei- Umstände sein mögen — , wenn sich die Änderungen stungsmotivation der Bürger dieses Landes ab und an einem Konzept orientieren von nichts anderem. (Zuruf von der SPD: Das tun sie nicht!) Meine Damen und Herren, deshalb kann das Pro- und Schritte sind, dies umzusetzen. blem der Einnahmeverbesserung im Zuge unserer Meine Damen und Herren, genau auf diesem Wege finanzpolitischen und haushaltspolitischen Gesamt- ist die Koalition bis zur Wiedervereinigung geschrit- probleme nur ein flankierendes Element sein, nicht ten. Die Steuerreform 1986/1990 ist — inzwischen un- mehr. strittig — ein gutes Reformwerk gewesen (Joachim Poß [SPD]: Ein Element!) (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ein großes — Ja. Reformwerk!) Meine Damen und Herren, der Lösungsansatz kann — ein großes Reformwerk —; der Erfolg verkündet nur die Ausgabenpolitik sein, da auch die Verschul- beredt, daß dieser Weg der richtige ist. dung nicht mehr geht, wie inzwischen unstreitig ist. Nun hat sich die Welt verändert. Der Finanzbedarf Ich will es ganz deutlich sagen: Da gibt es noch viel im vereinten Deutschland hat sich nach innen und Handlungsbedarf, um derzeit noch nicht den Vorwurf nach außen sowohl qualitativ wie quantitativ verän- von Handlungsdefiziten zu artikulieren. 3432 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Hans H. Gattermann Der vorliegende Entwurf des Steueränderungsge- Meine Damen und Herren, abgesehen davon, daß setzes 1992 versucht nun, die Ziele, die ich eben be- die Gewerbe- und Vermögensteuer zahlenden Be- schrieben habe, wieder deutlicher und erkennbarer triebe nicht die Reichen sind, sondern die Quelle für zu machen. Dabei gibt es vier Schwerpunkte: Entla- unser aller Wohlstand und für Arbeitsplätze, ist es so, stung der Familien, Entlastung der Unternehmen, daß, wenn man es spitz rechnet, nach dem Tableau Mehrwertsteuererhöhung und Abbau steuerlicher des Gesetzentwurfes, allenfalls 720 Millionen DM aus Vergünstigungen. der Erhöhung der Mehrwertsteuer gebraucht wür- Die Kinderfreibeträge bzw. das Kindergeld werden den, um die Mindereinnahmen aus den drei Maßnah- erhöht. Das Ganze ist unter dem Druck des Bundes- men zur Unternehmsteuerreform auszugleichen. Das verfassungsgerichts mit geschehen. Das ändert nichts sind am Volumen der Mehrwertsteuererhöhung von daran, daß dies dem Ziele christlich-liberaler Steuer- 12,05 Milliarden DM gerechnet, weniger als 6 % die- politik, das Existenzminimum sei steuerfrei, ent- ser Maßnahme. spricht. Man kann auch darüber rechten, ob die Di- (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Das Geld dar mensionierung der beiden Maßnahmen ausreichend aus haben Sie vorher schon ausgegeben zur sei. Aber die haushalts- und finanzpolitischen Haushaltskonsolidierung, das ist das Pro Zwänge lassen derzeit nur das Mimimum dessen zu, blem; sie geben es zweimals aus!) was das Verfassungsgericht gebietet umzusetzen. Über Ihre Alternativen möchte ich jetzt nicht reden, Meine Damen und Herren, wir sollten uns wirklich weil es einfach zuviel Zeit kostet. Vielleicht geht Kol- sachlich über diese Dinge unterhalten. lege Rind darauf ein. (Joachim Poß [SPD]: Das machen wir ja!) Meine Damen und Herren, wir wollen auch einen Was nun den Ausgang des Vermittlungsverfahrens Schritt zur Umsetzung der überfälligen Unterneh- angeht, habe ich, Herr Kollege Wieczorek, sehr sorg- tun. Es wird hochinteressant sein, mensteuerreform fältig gelesen, was die „Frankfurter Allgemeine" über zu beobachten, welches Schicksal diese Vorschläge die Aussagen der hessischen Finanzministerin gesagt unter dem oppositionellen Dauerfeuer und unter der hat. Ihre Prognose, daß die SPD-regierten Länder Hebelkraft der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat diese Mehrwertsteuererhöhung ablehnen würden, nehmen werden. Leider, meine Damen und Herren, war mit einem Konditionalsatz kombiniert, „wenn Sie kann man sich nicht gelassen zurücklehnen und dies der Unternehmesteuerreformfinanzierung dient" . als einen interessanten Ideenwettstreit ansehen; wer Also genau darüber, über diesen Punkt und diese Zahl hier Fehler macht, auch im Zusammenhang mit der sollten wir uns in aller Sachlichkeit und ruhig unter- Unternehmensteuerreform als einem Teil, der schadet halten. langfristig der Entwicklung unserer Volkswirtschaft, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sonst wird Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr richtig!) es eine Mehrwertsteuerlüge! — Dr. Peter Struck [SPD]: Das machen wir aber im Ver und die Exportnation Bundesrepublik Deutschland mittlungsausschuß!) wird es bezahlen müssen. — Ja, natürlich. Es kommt ja nicht von ungefähr, wie immer die Steuerpläne von Frau Cresson nun aussehen, Herr (Dr. Peter Struck [SPD]: Dort müssen wir erst Kollege Wieczorek, daß man uns auch dort wieder von einmal hinkommen, und daher wird das im der französischen Seite her ins Hintertreffen bringt. Bundesrat abgelehnt; das ist doch völlig lo Mit der Preissteigerungsrate haben sie uns bereits gisch!) übertroffen usw., meine Damen und Herren. — Ja, davon gehe ich aus. Darauf ist auch der Bera- (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Machen Sie tungszeitplan aufgebaut. Ich freue mich jetzt schon eine anständige Unternehmsteuerreform, auf unsere Gespräche, Herr Kollege Struck. aber nicht diese Steuersenkung!) (Zuruf von der CDU/CSU: Dann können wir Meine Damen und Herren, wir sollten uns über ei- ja auf die Einzelberatung im Ausschuß ver nen Punkt unterhalten, nämlich über die 6,36 Milliar- zichten! — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: den DM, die diese Maßnahmen zur Unternehmen- Wir können auch jetzt schon vernünftig dar steuerreform ausmachen, wobei übrigens die Meß- über reden!) zahlstaffelung bei der Ertragsteuer, Herr Kollege Wieczorek, natürlich eine rein mittelstandsorientierte —Ich freue mich jetzt schon darauf. Deswegen versu- Maßnahme ist, wobei man durchaus darüber reden che ich ein bißchen, diese lächerliche Vors-Schien- kann, ob sie nur das sein sollte und nicht für alle gelten bein-Treterei aus der Debatte herauszunehmen. sollte. Diese 6,36 Milliarden DM sind jedenfalls nach (Joachim Poß [SPD]: Der Wieczorek hat doch dem Tableau des Gesetzentwurfes zu 88,7 % aufkom- nicht vor das Schienbein getreten; er hat mensneutral durch Belastungen der Wirtschaft an an- doch eine eindeutige Aussage gemacht! — derer Stelle — ich könnte Ihnen jetzt die Ziffern der Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ein biß Finanzrechnung aufzeigen — gegenfinanziert. Der chen Treterei schadet doch nicht!) Vorwurf, die Mehrwertsteuererhöhung, die die Schwachen belaste, diene der Finanzierung der Rei-- —Also, Herr Wieczorek hat eine hervorragende Rede chen, ist schlicht und ergreifend falsch. gehalten. Sie hatte nur vier oder fünf Einschübe nach altem Muster, und die verzeihe ich ihm. (Dr. Peter Struck [SPD]: Nein, der ist nicht falsch!) (Heiterkeit) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3433

Hans H. Gattermann Meine Damen und Herren, Ihre Alternative ist inter- Einbringung in das Gesetzgebungsverfahren schlicht essant: Sie wollen das für vier bis fünf Jahre für die und ergreifend nicht fertig geworden ist. Besserverdienenden mit einem Einkommen ab (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Ein bemer 60 000 DM mit 10 % festschreiben. Durch die von uns kenswertes Eingeständnis über die Ge vorgesehene Maßnahme wird — ich bleibe beim Kon- setzesarbeit!) zept — der linear-progressive Ta rif als das Kernstück der Steuerreform überhaupt erst wieder freigelegt. —Ich lade Sie ein, kreativ an der Lösung mitzuwirken. Die Maßnahme bisher bedeutet, daß beim Eingangs- Die Aufgabenstellung lautet nämlich: Die in den letz- steuersatz wirtschaftlich um 1,4 Punkte und bei der ten Jahren immer stärker entwickelten Zinsaufblä- Solidaritätsabgabe hinten um 4 Punkte aufgestockt hungsmodelle müssen samt und sonders endgültig wird, so daß wir bereits über dem Niveau vor der Steu- steuerschädlich sein. erreform liegen. Bei Ihrem Vorschlag werden am Das über Jahrzehnte gewachsene System traditio- Ende 5,3 Punkte aufgestockt. Das heißt, wir liegen neller mittelbarer Mietwohnungsbaufinanzierung fast an der 60 %-Grenze. durch Lebensversicherungen muß weitgehend erhal- Nun könnte man sich darüber vielleicht unterhalten ten bleiben. — unter dem Opfergedanken — , wenn es lediglich Existenzgründungsfinanzierungen in Kombination um Privateinkommen ginge. Es bet rifft aber auch die mit Altersvorsorge durch Lebensversicherungen müs- Unternehmen, von denen wir gerade die Investitio- sen unter bestimmten Voraussetzungen und in gewis- nen, Arbeitsplätze und vieles mehr erwarten. Unter sem Rahmen erhalten bleiben. diesem Aspekt ist Ihr Vorschlag ökonomisch Haraki ri ; anders kann ich das nicht nennen. (Joachim Poß [SPD]: Alles prüfen!) Die vorübergehende Verwendung von Policen als (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Sicherheit zur Überprüfung kurzfristiger Liquiditäts- Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Der engpässe muß mindestens für die Vergangenheit Wieczorek weiß das auch!) steuerunschädlich sein. Ich füge hinzu: Nach meiner Ein weiteres Thema: Abbau von Steuervergünsti- ganz persönlichen Meinung müßte auch die entspre- gungen, Subventionen etc. Wir sollten beim Thema chende sicherheitsmäßige Verwendung von Direkt- Konsolidierungspolitik wirklich ein bißchen wegkom- versicherungen durch den Arbeitgeber noch möglich men von der Fixierung auf den Beg riff Subventionen. sein, ohne daß das steuerschädlich ist. Das gilt sowohl für die Ausgabenminderung durch Last, but not least: Der Finanzrahmen darf bei der Finanzhilfen wie auch bei Steuersubventionen bzw. Gestaltung der Ausnahmetatbestände nicht ge- Steuermehreinnahmen. Man ist in seiner Konsolidie- sprengt werden. rungsarbeit derartig beengt, da es unsinnig ist, so et- was zu tun. Das ist in der Tat eine umfangreiche Arbeit, die wir leisten müssen. Ich bin aber eigentlich ziemlich hoff- Vielmehr gehört jeder einzelne Etatposten nungsfroh, daß uns das auch gelingen wird. — gleichgültig, wie er heißt und wie er klassifiziert Lassen Sie mich abschließend noch einmal auf den ist — auf den Prüfstand. Ich sage in Klammern dazu: finanzpolitischen Gesamtzusammenhang zurück- Auch Leistungsgesetze sind dabei nicht tabu und dür- kommen; denn Steuermaßnahmen gehören in ande- fen es auch in Zukunft nicht sein. Nur dann wird es ren Ländern jeweils parallel zur Vorlage des Haus- möglich sein, die Aufgaben zu erfüllen und auch, Herr halts. Ich möchte wirklich mit allem Ernst und mit Kollege Wieczorek, wieder die Spitzenstellung bei der allem Nachdruck sagen, daß es gewisse Tendenzen in Erreichung der Konvergenzkriterien für die Wäh- diesem Lande, insbesondere seit der Wiedervereini- rungsunion einzunehmen, bei der wir in der Tat ge- gung, gibt, den Boden finanzpolitischer Solidität zu wisse Probleme haben. - verlassen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch (Dr. Peter Struck [SPD]: Von seiten der Re eine Bemerkung zu einem ganz speziellen Thema gierung! — Beifall bei der FDP und der CDU/ machen, weil die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, CSU) eine gewisse Klarheit zu bekommen. Das bet rifft den größten Brocken aus dem Abbau von Steuervergün- — Entschuldigung, das ist durchgängig, das geht hin stigungen, nämlich die Verwendung von Lebensver- bis zur Elf-%-Forderung der IG Metall im Stahlbe- sicherungspolicen zu Finanzierungszwecken. reich. Wer den Gesetzentwurf liest, findet dort eine (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und zur For Grundsatzregelung, aus der unschwer zu erkennen derung, die Vermögensteuer zu senken! — ist, daß sie, würde sie Gesetz, nicht eine Einschrän- Gegenruf von der CDU/CSU: Das qualifiziert kung, sondern die endgültige Beseitigung der Poli- Sie ja wieder!) cenverwendung zu Finanzierungszwecken bedeuten — Sehr verehrte Frau Kollegin, zwischen uns minde- würde. Das aber ist nicht der Wille der Initiatoren, ist stens dürfte es keinen Streit darüber geben, daß die nicht der Wille der Koalitionsfraktionen, ist nicht der Voraussetzung zur Bewältigung aller Aufgaben die- Wille der Bundesregierung und ist auch nicht Grund-- ser Art ist, daß wir durch eine boomende, wachstums- lage der Finanzrechnung. trächtige Wirtschaft steuerergiebige Ergebnisse vor- weisen können. Das Thema der Formulierung der Ausnahmetatbe- stände ist derartig komplex, daß es zur rechtzeitigen (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) 3434 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Hans H. Gattermann Dann können wir uns in aller Ruhe darüber unterhal- sechste Begründung dafür hören, weshalb die Mehr- ten, ob und welche strukturellen Maßnahmen im Rah- wertsteuer erhöht werden muß. men der steuerlichen Rahmenbedingungen notwen- dig sind, damit wir diesen Erfolg gewährleisten. Denn Am Anfang, vor den Wahlen — ich brauche das gar eine Gefährdung — — nicht zu wiederholen —, (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie können (Zurufe von der SPD: Doch! — Das kann man der IG Metall doch nicht sagen, sie soll in nicht häufig genug wiederholen!) ihren Forderungen heruntergehen!) hieß es, es gibt keine Steuererhöhungen. Dann ist zum — Entschuldigung, ich denke, die IG Metall hat auch Problem der EG-Rechtsharmonisierung hier gemein- intelligente Führungspersönlichkeiten. sam beschlossen worden, daß wir uns in Brüssel ein- (Zuruf von der SPD: Mit Sicherheit! — Ing rid setzen wollen — und Herr Waigel hat den Auftrag Matthäus-Maier [SPD]: Wenn Sie von oben bekommen — daß auf möglichst niedrigem Niveau nach unten umverteilen!) harmonisiert wird. Das ist Ihr Antrag gewesen: erst 14 %, dann haben Sie schon etwas geschummelt und — Entschuldigen Sie; wenn Sie nichts anderes kön- hinzugefügt „oder 15 %". Wir haben klar gesagt: nen, als mit diesen schauderhaften polemischen Wor- 14 %. Er hat den Auftrag gehabt, auf diesem Niveau ten durch die Gegend zu laufen! Wenn der Herr B riefs zu verhandeln. Er brauchte gar nicht zu verhandeln; das tut, dann wundert mich das nicht, dann sehe ich wir alle wissen, daß dort das Einstimmigkeitsprinzip ihm das sogar nach. Aber, meine verehrte Frau Kolle- gilt, und wenn er nicht zugestimmt hätte, dann wäre gin, es liegt in unserer politischen Handlungsfähig- es nicht zu diesen 15 To gekommen. keit, es ist das Ergebnis unserer eigenen Worte und unseres eigenen Handelns, wie wir uns vor den Bür- (Beifall bei der SPD) gern artikulieren und welche Emotionen wir in ihnen anfachen. Heute, meine Damen und Herren, wird das schon gar nicht mehr angesprochen, sondern heute wird Herzlichen Dank. gesagt: Das ist ein Baustein in der Konzeption der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Koalition gewesen, um den Familienlastenausgleich Norbert Wieczorek [SPD]: Sie sind der Ge- zu finanzieren. fangene der Diskussion des letzten Jahres!) Ich meine, für dümmer kann man uns doch hier nicht halten, und ich denke, es wäre wirklich ange- zeigt, daß sich bei einem so ernsten Thema zumindest Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und der Finanzminister dieses Landes um Seriosität be- Herren, es ist interfraktionell darüber gesprochen müht. worden, daß bestimmte Redebeiträge zu Protokoll ge- (Beifall bei der SPD) geben werden. Ich muß in diesem Zusammenhang um Zustimmung bitten, daß in dieser Runde die Rede Meine Damen und Herren, ich habe nicht vorge- unseres Kollegen Werner Schulz vom Bündnis 90/DIE habt, in der Vergangenheit zu kramen. Ich halte auch GRÜNEN zu Protokoll gegeben wird. — Ich höre und nichts von Vergangenheitsbewältigung. sehe keinen Widerspruch. Das ist so beschlossen.*) (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sonst kä Als nächster Redner hat der Abgeordnete Eike men Sie auf Ihre eigenen finanzpolitischen Ebert das Wort. Sünden!) — Ich komme exakt zu diesem Thema.

Eike Ebert (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Aber die Mär, die Sie ständig verbreiten, daß ab und Herren! Wir reden hier über ein sehr ernstes 1982 die Finanzpolitik in diesem Lande von Ihnen in Thema. Wir reden darüber, inwieweit wir den Steuer- Ordnung gebracht worden sei, kann hier doch nicht zahler, der in diesem Jahr bereits reichlich genug von im Raum stehenbleiben. Ihnen gerupft worden ist, weiter zur Kasse bitten. Ver- zeihen Sie es mir bitte — ich bin neu in diesem Parla- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das bestä ment — , und nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich tigen alle Gutachter!) finde, daß so manche Redebeiträge dem Ernst dieser Das ist doch einfach nicht wahr. Schauen Sie sich doch Frage nicht gerecht werden. Ich denke da vor allen nur einmal an, wie der Bundesschuldenstand 1982 Dingen an die Bierzeltrede von Herrn Waigel. und wie er 1989 vor der deutschen Einheit gewesen (Beifall bei der SPD — Widerspruch von der ist. Daß danach manches anders geworden ist, ist ja CDU/CSU) gar nicht zu bestreiten; das wird doch eingeräumt. Aber in diesen Jahren haben Sie die Bundesschuld Meine Damen und Herren, ich würde mir wün- pro Jahr um erheblich mehr erhöht, als es die sozial- schen, daß wir auch in einer solchen Debatte versu- liberale Koalition in den Jahren vorher je gemacht chen, zumindest eine gewisse Ehrlichkeit zu errei- hat. chen, was hier an Argumenten ausgetauscht wird und (Beifall bei der SPD) was nicht an Argumenten ausgetauscht wird. Ich - empfinde es als unerträglich, daß wir innerhalb eines Meine Damen und Herren, Sie haben dies in einer halben Jahres von Herrn Waigel die vierte, fünfte oder Situation gemacht, die sich grundlegend von der welt- weiten wirtschaftspolitischen Lage in den Zeiten der •) Anlage 4 Regierungen von und Helmut Schmidt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3435

Eike Ebert unterschieden hat; sie ist nämlich erheblich günstiger Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Nach dieser atem- gewesen. los langen Aneinanderreihung von Ihnen immer wie- derholter Rechtfertigungsgründe (Detlev von Larcher [SPD]: So ist es, ja- wohl!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Tatsachen! — Detlev von Larcher [SPD]: Aber sie sind rich In den Jahren 1930 ff. haben wir zwei Ölpreiskrisen tig! Das verschweigen Sie immer!) durchzustehen gehabt; darf ich Sie auf die von Ihnen apostrophierte Realität (Detlev von Larcher [SPD]: Das verschwei- zurückführen. Würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß gen sie immer!) die von Ihnen so als zufällig dargestellte wirtschaftli- wir haben eine Weltwirtschaftskrise durchzustehen che Prosperität nach 1982 nach dem einstimmigen gehabt. Das hat sich in der gesamten westlichen Welt Votum nicht nur der Sachverständigen, sondern auch ausgewirkt. der wirtschaftswissenschaftlichen Institute im Jahre 1990 von der Steuerpolitik dieser Bundesregierung 1982 ist der Trend schon längst in die andere Rich- entscheidend geprägt war, d. h. durch die handwerk- tung gegangen. Sie haben es in diesen Jahren erlebt, liche Sauberkeit und Konsequenz geschaffen wurde? daß die OPEC zusammengebrochen ist. Wir haben — Das als erstes. über die billigen Ölpreise ein Konjunkturprogramm par excellence auch für die deutsche Wirtschaft be- (Dr. Peter Struck [SPD]: Nun ist es ja gut! kommen. Jetzt reicht es, Herr Faltlhauser! Herr Präsi dent, er soll mal eine Kurzintervention ma (Beifall bei der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser -chen!) [CDU/CSU]: Immer die alte Leier!) Würden Sie auch zur Kenntnis nehmen, daß im —Ja, Sie sagen: Es ist eine Leier. Aber wenn Sie den Jahre 1990 die Nettoneuverschuldung, gemessen am alten Käse ständig wiederholen, Herr Dr. Faltlhauser, Bruttosozialprodukt, niedriger war als zu Ihrer Zeit muß man auch etwas dafür tun, daß die Wirklichkeit und daß die Zahlen, jederzeit nachprüfbar, eigentlich zum Vorschein kommt. von Ihnen hier dargelegt werden müßten? (Beifall bei der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser (Beifall bei der CDU/CSU) [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischen- frage) Eike Ebert (SPD) : Das ist zwar keine Zwischenfrage, — Er kann gleich eine Zwischenfrage stellen. Lassen sondern eher eine Kurzintervention gewesen. Sie mich den Gedanken noch zu Ende führen. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das war Wir haben erlebt, daß wir durch die Reagansche eine Frage!) Wirtschaftspolitik einen Dollarhöhenflug bekommen Aber, Herr Dr. Faltlhauser, sicherlich gibt es eine haben. Das war ein Konjunkturexportprogramm, wie ganze Menge von Gründen, weshalb die Entwicklung es für die bundesdeutsche Wirtschaft nicht besser nach 1982 anders geworden ist. Die Entwicklung ist hätte konstruiert werden können. Trotz dieser ganzen sicherlich auch deshalb anders geworden, weil die Fakten, meine Damen und Herren, haben Sie die Bun- Wirtschaft natürlich in Zeiten, in denen eine ihr ge- desschuld weiter ausgebaut. nehme Regierung an der Macht ist, immer mehr dafür Zum Dr. Tietmeyer ist vorhin schon Stellung ge- tut, daß investiert wird und daß sich die Entwicklung nommen worden. Sie haben es nicht getan, weil Ihnen nach oben bewegen kann, als wenn sich die Sozialde- das, was dort formuliert worden ist, nicht recht ist, mokraten bemühen, das Staatsschiff in Ordnung zu nämlich daß die Bundesrepublik die Konvergenzan- bringen. forderungen, die wir die ganze Zeit in die WWU ein- (Zurufe von der CDU/CSU: Aufhören!) gebracht haben, selber gar nicht mehr erfüllt. Das ist - doch bei der Anhörung gestern sehr deutlich gewor- Sie haben doch nichts dazu beigetragen, daß die den. Wir erfüllen sie doch selber gar nicht mehr. Man Ölpreise gefallen sind. Sie haben auch nichts dazu muß sich diese kuriose Situation einmal vorstellen. beigetragen, daß der Dollar in Höhen von über 3 DM gestiegen ist. Sie haben die Bundesschuld in diesen Jahren auf einen hohen Plafond get rieben. Erst dieser hohe Pla- (Zuruf des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/ fond zusammen mit dem, was Sie inzwischen an wei- CSU]) teren Schulden aufgehäuft haben und noch weiter Ich meine, Sie wissen doch alle, welche Auswirkun- anhäufen, führt zu der katastrophalen Situation, in der gen das auf die Zahlungs- und die Handelsbilanz un- wir uns im Augenblick befinden. seres Landes gehabt hat. Darüber brauchen wir uns hier, glaube ich, doch wohl nicht zu streiten. (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, ich finde, es ist unwür- dig und wird auch nicht dazu beitragen, daß Ihre gan- zen Konzeptionen, wenn Sie welche haben, über- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Ebert, haupt glaubwürdiger werden, wenn Sie immer das gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gegenteil von dem behaupten, was Ihre Vorschläge Dr. Faltlhauser? tatsächlich beinhalten. Wenn man in die Begründung - zum Steueränderungsgesetz hineinschaut, kann man wirklich nur lachen, wenn Sie formulieren: das ist sozial verträglich, die Steuerstruktur in der Bundesre- Eike Ebert (SPD): Bitte schön. publik wird verbessert. Bei der Beurteilung der Preis- 3436 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Eike Ebert auswirkungen schreiben Sie dann euphemistisch: ich beziffert: 2 Milliarden DM für die Städte und Ge- tendenziell ist eine Verringerung von Einzelpreisen meinden. Interessant ist aber noch, wie Sie in die Steu- zu erwarten, wenn die steuerlichen Belastungen des ereinnahmen der Kommunen eingreifen, weil Sie da- Unternehmens absinken. Wo wäre es in einer Markt- mit strukturell und dauerhaft die Einnahmesituation wirtschaft jemals passiert, daß die Preise freiwillig der Gemeinden beschädigen. Das Abschaffen der Ge- gesenkt werden? werbekapitalsteuer begründen Sie damit, daß im Be- reich der Unternehmenssteuern die ertragsunabhän- Meine Damen und Herren, die viele weiße Salbe, gigen Steuerkomponenten beseitigt werden sollen. die Sie hier einsetzen, reicht nicht aus. Es wird Ihnen Das klingt gut. Aber in der Debatte ist bereits darauf nicht gelingen, zu verschleiern, daß das eine unso- hingewiesen worden, wem die Abschaffung der Ge- ziale, stabilitätspolitisch kontraproduktive, durch ein- werbekapitalsteuer wirklich zugute kommt, nämlich seitige Industrieinteressen geprägte und letztlich ge- ausschließlich den Großbetrieben. Den Mittelstand samtwirtschaftlich und vor allen Dingen arbeitsmarkt- und die Neugründungen, von denen Sie in Ihrer Be- politisch unverantwortliche Steueränderung ist, die gründung sprechen, erreicht die Abschaffung wegen Sie hier vorhaben. Es ist eine glückliche Situation, daß der bestehenden Freibeträge fast überhaupt nicht. Sie das, wenn Sie es im Bundestag vielleicht durch- Aber das ist nicht mein Thema. kriegen, insgesamt in diesem Land nicht zum Gesetz werden machen können. Ich möchte Sie vielmehr auf einen anderen, offen- bar überhaupt noch nicht wahrgenommenen Aspekt Meine Damen und Herren, vor allen Dingen setzen Ihrer geplanten Gesetzesänderungen aufmerksam Sie weiße Salbe an den Stellen ein, wo es um Einnah- machen. Die Gewerbesteuer kennt nicht ohne Grund geht. Sie meausfälle für die Gebietskörperschaften die beiden Komponenten: einerseits die Gewerbeka- schreiben hier selbst in Ihrer Begründung, daß bei den pital- und andererseits die Gewerbeertragsteuer. Da- Gemeinden die Steuermindereinnahmen weitgehend bei hat die Gewerbekapitalsteuer aus der Sicht der ausgeglichen würden. Meine Damen und Herren, das Kommune steuersystematisch die Funktion, daß sie ist eine schamlose Lüge; denn das, was Sie mit Ihren eine im wesentlichen gleichbleibende Steuergrund- eigenen Zahlen hier darstellen, ergibt folgendes. Die lage aufweist und eine Grundleistung an die Kom- Mehreinnahmen des Bundes werden im Jahre 1993 mune sicherstellt, daß sie einen Finanzierungsbeitrag 6,2 Milliarden DM betragen. Die Mindereinnahmen für die Bereitstellung der öffentlichen Infrastruktur, der Länder — ich gehe von Ihren eigenen Zahlen also von Schulen, Krankenhäusern, Kindergärten, aus — machen etwa 200 Millionen DM aus. Bei den Straßen, Kanälen, Wasserversorgung usw. darstellt. Kommunen in diesem Land, bei den Städten und Ge- meinden, werden 1993 bereits fast 2 Milliarden DM Die Bezugnahme auf das Gewerbekapital ist die fehlen. Darin ist noch nicht einmal enthalten, was die Bezugnahme auf die Größe der Firma, d. h. auf die Städte und Gemeinden im investiven Bereich in Zu- Grundinanspruchnahme von öffentlichen Dienstlei- kunft durch die erhöhte Mehrwertsteuer werden auf- stungen. Daß diese Gleichung — Kapital gleich Größe wenden müssen. Sie machen eine Finanzpolitik, die gleich Grundinanspruchnahme — schon lange nicht im privaten wie im öffentlichen Bereich die schwäch- mehr befriedigend aufgeht, brauche ich nicht zu er- sten Glieder am stärksten belastet, und dann besitzen läutern. Aber das ändert nichts an diesem Grundzu- Sie noch die Unverfrorenheit, dies alles als sozial aus- sammenhang. gewogen und gerecht zu bezeichnen. Sie stellen bei Ihrer Steuerbetrachtung lediglich in (Beifall bei der SPD) den Vordergrund, daß der Steuerbetrag bei Ertragslo- sigkeit aus der Substanz gezahlt werden muß. Aus der Meine Damen und Herren, Sie wissen offenbar gar Sicht des Betriebes ist das richtig; aus der Sicht der nicht mehr, was an der Basis stattfindet. Die Stadt Kommune aber bleibt der Tatbestand bestehen, daß Offenbach muß inzwischen Jugendzentren schließen auch bei einem ertragslosen Bet rieb die Infrastruktur und denkt über die Stillegung von Hallenbädern von der Kommune zur Verfügung gestellt und unter- nach. halten werden muß. Deshalb ist die Kapitalertrag- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Die werfen steuer eine sinnvolle und gerechte Steuer, und es gibt das Geld hinaus, wie sie können!) keinen Grund, sie abzuschaffen. Ähnlich verhält es sich in anderen Kommunen, wenn (Beifall bei der SPD) auch nicht ganz so dramatisch. Sie aber, meine Damen und Herren, wollen diese Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, Komponente der bet rieblichen Besteuerung jetzt her- vergessen völlig, daß die Hauptlast der öffentlichen ausbrechen und verweisen die Kommunen in Zukunft Dienstleistungen, der größte Teil der Daseinsvor- ausschließlich auf die Ertragsteuerseite. Sie selbst sorge und damit ein beachtlicher Anteil an dem, was wissen aber, daß diese Seite den Gestaltungsmöglich- für unsere Menschen Lebensqualität bedeutet, von keiten unserer Steuergesetzgebung noch sehr viel Städten und Gemeinden getragen wird. Bund und stärker offensteht. Länder bieten in vielen Bereichen nur Rahmenbedin- Die Kommunen sind noch viel stärker als bisher gungen, sicherlich wichtige, aber eben nur Rahmen- schwankenden Einnahmen ausgeliefert, und das mit bedingungen. immer höheren festen Kostenblöcken. Ihre These, daß Dieses wichtige Glied, meine Damen und Herren, in Unternehmen dann Gewerbesteuer zahlen sollen, der Kette staatlicher Dienstleistungen schwächen Sie wenn sie auch entsprechenden Ertrag haben, spiegelt weiter. Das bei der von Ihnen geplanten Steuerände- sich noch nicht einmal in der Gewerbesteuerwirklich- rung derzeit erkennbare zahlenmäßige Minus habe keit wider. Denn die Gewerbeertragsteuer wird von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3437

Eike Ebert vielen Komponenten unternehmerischer Entschei- — oder im Vermittlungsausschuß. dungen, z. B. auch betrieblicher Investitionen ganz (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist ein klarer erheblich beeinflußt, d. h. es ist möglich, daß die Ge- Unterschied. Da hat der Kanzler schon die werbeertragsteuer auch bei einer florierenden Wirt- Wette verloren!) schaft, wenn entsprechend investiert wird, zurück- — Nein, vom Inhalt ist das das gleiche. Das heißt: Wir geht. werden einer Mehrwertsteuererhöhung zustimmen. Es handelt sich dabei um einen Vorgang, meine Und dieses ist ja im Grunde genommen nichts anderes Damen und Herren, den Sie gerade im Augenblick in als das, was der Kollege Faltlhauser in seiner Rede den Einnahmepositionen unserer Städte und Gemein- bereits sehr detailliert nachgewiesen hat, daß ja die den feststellen können. Sie schädigen damit die Inve- SPD-Ministerpräsidenten alle wie wild schon hinter stitionsmöglichkeiten im Bereich der Städte und Ge- diesem Geld her sind und natürlich in gar keinem meinden, und Sie wissen genau, daß dies die größten Punkt davor zurückstehen werden, einer Mehrwert- Investoren in unserem Land sind. steuererhöhung, wie wir sie hier vorgesehen haben, (Beifall bei der SPD) um die Finanzen wieder solide zu gestalten, zuzustim- men. Ich komme aus einer hessischen Großstadt, und ich Insofern muß man natürlich alles das, was an Weh- weiß, wovon ich rede. Wir haben dort ein Chemieun- klagen und wichtigen Begründungen von unserem ternehmen mit 6 000 Arbeitnehmern, das es durch geschätzten Kollegen Wieczorek hier vorgetragen eine entsprechend weitsichtige und ausgeklügelte wurde, relativieren. Lieber Herr Wieczorek, wenn Sie Ausschöpfung der steuerlichen Gestaltungsmöglich- hier eine Brandrede dagegen halten, der Kollege keiten inzwischen geschafft hat, die Gewerbesteuer- Struck aber schon gleich sagt, wir stimmen ja letztlich zahlungen in den Bereich der Irrelevanz zu drücken. doch zu, dann läßt sich das gleich — — Es ist nicht in Ordnung, daß z. B. in unserer Stadt die Sparkasse, der kommunale Elektrizitätsversorger und (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist doch alles der kommunale Gas- und Wasserversorger die größ- Quatsch, was Sie da erzählen, Herr Uldall!) ten Gewerbesteuerzahler sind, obwohl wir eine be- achtliche Latte von Bet rieben haben, die weltweit tä- Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie eine tig sind und die weltweit bekannte Namen haben. Zwischenfrage des Herrn Kollegen Struck?

Meine Damen und Herren, Sie schädigen die Ge- Dr. Peter Struck (SPD): Herr Kollege Uldall, wollen meinden, Sie schädigen damit diejenigen, die unmit- Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß der Zwischenruf, telbar Leistung gegenüber dem Bürger erbringen; Sie den ich beim Kollegen Waigel gemacht habe, ganz setzen damit konsequent das fort, was Sie in anderen und gar nicht so zu interpretieren war, wie Sie das nun Bereichen betreiben, Sie verteilen von unten nach hier vergeblich seit zwei oder drei Minuten versu- oben um. Bei dieser Politik werden Sie bei der SPD chen. keine Unterstützung finden. Danke schön. Gunnar Uldall (CDU/CSU): Herr Kollege Struck, ich spreche nicht von dem Zwischenruf bei Herrn Waigel, (Beifall bei der SPD) sondern von dem bei Herrn Gattermann.

Dr. Peter Struck (SPD): Darf ich eine Zusatzfrage stellen? Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Gunnar Uldall. Vizepräsident Helmuth Becker: Ja, wenn der Kol- lege Uldall einverstanden ist.

(CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Dr. Peter Struck (SPD): Herr Kollege Uldall, wollen Gunnar Uldall Sie dann bitte zur Kenntnis nehmen, daß der Zwi- Damen und meine Herren! Es sind heute abend von schenruf bei der Rede des Kollegen Gattermann ganz den Koalitionsrednern bereits so viele hervorragende und gar nicht so war, wie Sie das hier seit zwei Minu- Reden gehalten worden, daß ich ihnen nur noch we- ten versuchen zu interpretieren. nige Punkte hinzufügen möchte. (Beifall bei der SPD) (Zurufe von der SPD) — Im übrigen wissen Sie ja, lieber Herr Wieczorek, Gunnar Uldall (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege daß man gute Argumente auch immer in Kürze vor- Struck, dann müssen wir noch einmal einige Wochen tragen kann. warten. Dann werden wir ja sehen, wie die Geschichte ausgegangen ist. Zunächst möchte ich einmal sagen, was ich heute abend besonders bemerkenswert und gut fand; das (Zuruf von der CDU/CSU: Ein mattes De war der Zwischenruf des Parlamentarischen Ge- menti!) schäftsführers der SPD-Fraktion, Peter Struck, auf die Dann wollen wir mal sehen, ob ich es richtig analysiert Rede des Kollegen Gattermann: „Das machen wir im habe. Bundesrat! " Mit anderen Worten: Das heißt, wir wer-- (Zuruf von der CDU/CSU: Herr Struck ist den — schon ganz heiß auf die Mehrwertsteuer!) (Dr. Peter Struck [SPD]: „Vermittlungsaus- Meine Damen und Herren, dann finde ich ganz gut, schuß" habe ich gesagt!) daß Herr Ebert gesagt hatte: Die Koalition hatte im- 3438 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Gunnar Uldall mer Glück mit ihrer Politik. Wunderbar, nur, wenn wir und sagen, der Großbetrieb kann ruhig gemolken immer Glück haben und Sie immer nur Pech, dann werden, bis nichts mehr herauskommt — — wünsche ich für die deutsche Bevölkerung, daß immer wir regieren. (Lachen bei der SPD — Detlev von Larcher [SPD]: Wer sagt das denn?) (Beifall bei der CDU/CSU — Detlev von Lar- — — dann sorgen Sie dafür, daß dem mittleren Be- cher [SPD]: Was ist das für eine Logik? Stel- trieb letztlich der Geschäftspartner genommen wird, len Sie sich doch auf die Tatsachen ein!) (Detlev von Larcher [SPD]: Das will doch kei Punkt drei. Was ich hier noch einmal betonen ner! — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Da möchte, ist der Subventionsabbau. Beim Subventions- habe ich schon bessere Argumente gehört! abbau sind sich ja immer alle einig, solange es um die Das ist die alte Pferdeäpfeltheorie!) formale Formulierung geht: Jetzt bauen wir die Sub- ventionen ab. Wenn es dann an das Konkrete geht daß dem mittleren Betrieb der Abnehmer für seine und im einzelnen vorgeschlagen wird, was umzuset- Leistungen, für seine Güter genommen wird. zen ist, dann hört die Zustimmung meistens auf. Er- staunlich ist, daß dieses Paket, das hier von uns vor- (Zuruf von der SPD: Das ist doch ein Papp geschlagen worden ist, offensichtlich auf eine relativ kamerad!) breite Resonanz stößt, und darüber kann ich mich Insofern hat der mittlere Bet rieb auch ein großes Inter- freuen. esse daran, daß wir eine gute Struktur von Großunter- nehmen in Deutschland haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl, selbst bei den Gewerkschaften!) Im übrigen haben wir in der Ausgestaltung unserer Unternehmensteuerpolitik in den letzten Jahren im- — Selbst bei den Gewerkschaften, und das unter- mer eine besondere schwerpunktmäßige mittelständi- streicht, was hier von Regierungsvertretern ausge- sche Komponente eingebaut, und in dieser schwer- führt worden ist, daß dieses Subventionsabbaupaket punktmäßigen Komponente wurden Freibeträge, ein in sich geschlossenes und intelligentes Paket ist. Freigrenzen immer höher angesetzt, so daß selbstver- Ich glaube, dies darf in einer schwierigen finanzpoli- ständlich heute viele Bet riebe eine Gewerbekapital- tischen Diskussion auch einmal hervorgehoben wer- steuer gar nicht mehr zu entrichten brauchen, weil sie den. herausgewachsen sind. Im übrigen paßt dieses Paket exakt in unsere lang- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das haben jährige finanzpolitische Linie. Ich möchte daran erin- wir doch gemacht! — Dr. Norbert Wieczorek nern, daß die Koalition in den Jahren von 1982 bis [SPD]: Wer hat denn die Lohnsummensteuer heute kontinuierlich Subventionsabbau bet rieben abgeschafft, Sie oder wir?) hat, entgegen einer landläufigen Meinung, daß das Gegenteil der Fall sei. Aber daraus den Schluß zu ziehen, daß man jetzt diese Steuer nicht weiter bekämpfen müßte, ist genau (Ernst Waltemathe [SPD]: Die Koali tion hat falsch. Es bleibt dabei, die Gewerbekapitalsteuer und abgebaut?) die betriebliche Vermögensteuer sind arbeitsplatz- Wir haben kontinuierlich Subventionen reduziert, vernichtende Steuern, und deswegen müssen diese Herr Kollege, und zwar in einem Umfang, daß die Steuern beseitigt werden. Es ist exakt richtig, was in Subventionsquote von 1,7 % des Bruttosozialproduk- diesem Programm steht. tes auf 1,2 % zurückgefahren wurde. Dies ist eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) großartige Leistung. Ich halte es für außerordentlich gefährlich, wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) man in einer so lockeren Form, wie es durch die sozial- Wir geben uns damit nicht zufrieden. Wir werden am demokratischen Redner geschehen ist, über die Not- Subventionsabbau weiter energisch arbeiten, wobei wendigkeit einer Entlastung der Bet riebe hinweg- wir sagen: Es handelt sich hierbei um eine der wesent- geht. Die Sozialdemokraten haben immer Aufkom- lichen Quellen zur Sanierung der Staatsfinanzen. Wir mensneutralität bei einer Unternehmensteuerreform tun das aber auch, um die ordnungspolitischen Bedin- gefordert. gungen für die Marktwirtschaft wieder langfristig zu (Zuruf von der SPD: Wie beurteilen Sie die sichern. Aussagen von Herrn Pinger und Herrn Geiß Dann möchte ich auf ein Argument zu sprechen ler?) kommen, das von Herrn Wieczorek angesprochen Darauf wurde vorhin auch von Herrn Wieczorek hin- wurde: Die Entlastung sei ja nur für die Großbetriebe gewiesen. Genau dieses Ziel der Aufkommensneutra- da. Herr Wieczorek, dies ist ein großer gedanklicher lität erreichen wir in dem hier vorgelegten Paket. Fehler, den Sie machen. Es gibt nicht eine Gegensätz- lichkeit zwischen dem Mittelbetrieb und dem Groß- (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Sie haben das betrieb. Geld doch vorher schon einmal ausgegeben! Entscheiden Sie sich doch, wofür Sie das (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Selbstver-- Geld ausgeben wollen!) ständlich!) Ich weiß nicht, ob Sie das mal durchgerechnet haben, Beide Betriebe bedingen sich, und wenn Sie nur eine lieber Herr Wieczorek. Die Entlastung der Unterneh Steuererleichterung für den Mittelbetrieb betreiben men dadurch, daß die Gewerbeertragsteuer gestaffelt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3439

Gunnar Uldall wird und daß wir die betriebliche Vermögensteuer Probleme. Denn im zweiten Teil heißt es: Verbesse- reduzieren, beträgt 6,2 Milliarden DM. rung der Rahmenbedingungen für Investitionen und (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Sie machen Arbeitsplätze. Ich hätte mir gewünscht, daß zwingend eine Doppelbuchung!) festgelegt wird: Verbesserung der Rahmenbedingun- gen zur Schaffung von Arbeitsplätzen auch durch In- Wenn Sie jetzt dagegenstellen, was in dem gleichen vestitionen. Denn das, was Sie hier einfordern und Gesetzeswerk als Abbau von steuerlichen Subventio- einklagen, passiert genau nicht. Durch Investitionen nen und weiteren Ausgabesubventionen enthalten ist, werden zur Zeit vor allen Dingen in den fünf neuen dann sehen Sie, daß dies ein Betrag ist, der von Ländern Arbeitsplätze vernichtet. Dabei möchte ich 8,6 Milliarden DM auf über 10 Milliarden DM steigt. nicht gegen Investitionen sprechen. Sie sind dringend Sie haben hier also diese Aufkommensneutralität, die erforderlich, um Arbeitsplätze zu schaffen. Aber zur Sie immer als Bedingung für eine Zustimmung gefor- Zeit werden Rationalisierungsinvestitionen vorange- dert haben. Deswegen sind Sie herzlich aufgefordert, trieben. Ich hätte an dieser Stelle eine zwingende unseren Unternehmensteuervorschlägen zuzustim- Festlegung gefordert. Ich glaube, das hätte das Ver- men. ständnis in den fünf Ländern für Maßnahmen erhöht, Im internationalen Vergleich, Herr Kollege, kann die vielleicht nicht zu umgehen sind. ich wirklich nur davor warnen, so zu tun, als wenn es nicht den Druck gäbe, den Standort Bundesrepublik Ansonsten muß ich hier deutlich sagen: Das Steuer- Deutschland zu verbessern. Es gibt eine hochinteres- änderungsgesetz 1992 widersp richt dem Willen der sante Simulationsrechnung von mehreren Industrie- Mehrheit der Bevölkerung. Die Steuer- und Abgaben- betrieben. Diese Rechnung ist für mich viel interes- belastung der Bezieher kleiner und mittlerer Einkom- santer als das, was von verschiedenen Universitätsin- men wird weiter erhöht, während die Bezieher hoher stituten vorgelegt wird, weil diese Rechnung von den- und höchster Einkommen deutlich entlastet werden. jenigen angestellt worden ist, die die Investitionsent- Die in letzter Zeit veröffentlichten Untersuchungen scheidung in ihren Unternehmen treffen. Das sind also bestätigen, daß die Bundesregierung bereits in der keine Theoretiker, sondern die Leute, die die Ent- Vergangenheit diesen Weg gegangen ist. Wie könnte scheidung vor Ort tragen. Die kommen ganz eindeu- es sonst sein, daß auf der einen Seite soziale Bedürf- tig zu dem Ergebnis: Es ist nicht nur der Steuersatz, tigkeit wächst — das läßt sich mit der Sta tistik eindeu- bei dem Deutschland eine ganz schlechte Posi tion ein- tig belegen — und daß auf der anderen Seite Reich- nimmt, sondern es ist auch die Bemessungsgrundlage, tum überquillt. auf die dieser Steuersatz angewandt wird, wobei wir (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Um Gottes eindeutig die schlechteste Posi tion im Vergleich mit willen! Sie sind von der PDS, und da trauen unseren westeuropäischen und nordamerikanischen Sie sich so etwas zu sagen! Um Gottes willen! Partnern einnehmen. Wer dann noch darüber hinaus Das ist ja unglaublich!) sieht, wie die Entscheidungen inzwischen bei Sie- mens laufen, bei VW laufen, bei großen Chemieunter- Insbesondere die Arbeitnehmer gehören zu den Ver- nehmen laufen und sagt: Das ist alles gar nicht not- lierern der Steuerpolitik der Bundesregierung. — Na- wendig, daß wir hier eine Entlastung bei den Unter- türlich darf ich das sagen. Hier darf man so ziemlich nehmensteuern vornehmen, dem kann ich nur sagen: alles sagen, Herr Dr. Faltlhauser. Sie machen auch Wer nicht sieht, daß die Investitionsentscheidungen ständig Gebrauch davon, etwas zu sagen. bereits heute vielfach gegen den Standort Deutsch- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Entsetz land laufen, der verschließt einfach aus Ideologie lich!) seine Augen. Die Steuerbelastung der Arbeitnehmer erhöhte sich (Beifall bei der CDU/CSU) 1991 um fast 2 % auf 43,2 %. 1993 werden es nach den Ich weiß, daß die Argumente bei uns noch so gut Berechnungen des Karl-Bräuer-Instituts 44,6 % sein. sein können, Sie würden sich durch uns nie überzeu- Auf der anderen Seite — so hat das DIW berechnet — gen lassen. Deswegen möchte ich Ihnen abschließend werden Personen mit einem Bruttoeinkommen von ein Zitat vorlesen, in dem es heißt: 200 000 DM trotz der aktuellen Steuererhöhungs- Wenn wir als Industriestandort Bundesrepublik pläne per Saldo durch die Steuerpolitik der Bundesre- im europäischen Binnenmarkt aktiv bleiben wol- gierung entlastet, während alle Bürger mit einem Ein- len, muß die Unternehmensbesteuerung drin- kommen bis zu 45 000 DM höher belastet werden. gend abgesenkt werden. Die Steuerzahler lehnen mit überwältigender Diesem Zitat von Björn Engholm habe ich ausnahms- Mehrheit weitere Steuererhöhungen, wie sie hier vor- weise einmal nichts hinzuzufügen. gesehen werden, ab. Nach der letzten repräsentativen Umfrage des Bundes der Steuerzahler lehnen 60% der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesbürger weitere Steuererhöhungen ab. Weitere 25 % — das sind zusammen schon 85 % — sind erst Vizepräsident Helmuth Becker: Nächster Redner ist dann für Steuererhöhungen, wenn der Staat alle Ein- der Abgeordnete Dr. F ritz Schumann. sparungsmöglichkeiten ausgeschöpft hat. 72 % der Befragten sehen als vorrangiges Ziel eine Ausgaben- kürzung des Verteidigungshaushalts an. Ich glaube, (Kroppenstedt) (PDS/Linke Dr. Fritz Schumann - darüber sollte man einmal nachdenken, auch in einer Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Debatte über Erhöhung der Steuern. Herr Dr. Faltlhauser hat mit Recht auf den Langtitel des vorliegenden Gesetzes hingewiesen. Herr (Dr. Karl H. Fell [CDU/CSU]: Das habt ihr in Dr. Faltlhauser, ich habe schon an dieser Stelle meine der SED immer getan!) 3440 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) Die Steuerzahler müssen mit wachsendem Unver- Hermann Rind (FDP): Herr Präsident! Meine Kolle- ständnis zur Kenntnis nehmen, daß sich die politi- ginnen und Kollegen! Das Steueränderungsgesetz schen Veränderungen in Europa hier kaum nieder- 1992 trägt in seinem ersten Teil den offiziellen Titel schlagen. Es müßte zur Kenntnis genommen sein, daß „Gesetz zur Entlastung der Familien" und weist damit inzwischen eine ganze Armee verschwunden ist, die auf einen erfreulichen Teil des Gesamtwerks hin. der Bundesrepublik einmal entgegenstand. Es müßte Durch die Erhöhung der Kinderfreibeträge bringen zur Kenntnis genommen worden sein, daß wesentli- wir Entlastungen in Höhe von 3,625 Milliarden DM che Kontingente sowjetischer Truppen abgezogen für die Familien mit Kindern und durch die Erhöhung worden sind und daß der weitere Abzug planmäßig des Kindergelds und des Kindergeldzuschlags noch verläuft. einmal 3,095 Milliarden DM, also zusammen 6,7 Mil- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist bestimmt liarden DM Entlastungen für die Familien. ein Verdienst der SED!) Wir sind uns bewußt, daß wir damit den Anspruch des Bundesverfassungsgerichts auf Es ist nicht mehr einzusehen, warum auch nicht eine Steuerfreiheit des Existenzminimums erfüllen, aber keine weitergehen- einzige Mark am Verteidigungshaushalt eingespart den familienpolitischen Leistungen erbringen. Trotz- werden kann. — Da ist nicht unser Verdienst. Aber die dem sind 6,7 Milliarden DM Steuerentlastungen für Frage ist berechtigt, warum man angesichts dieser die Familien eine frohe Botschaft, Tatsache weiterhin Milliarden für die Anschaffung neuer Waffensysteme, für die Anschaffung von Muni- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tion, von neuen Kampfflugzeugen und Schiffen und das ohne Rücksicht darauf, ob das Bundesverfas- braucht. Diese Frage wird doch wohl einmal zu stellen sungsgericht hier mitgewirkt hat oder nicht. sein dürfen. (Detlev von Larcher [SPD]: Herr Rind, es ist (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Der glei- aber noch nicht Weihnachten!) che Aufwand für ehemals zwei Heere, die -- Das war keine sehr intelligente Bemerkung. gleiche Miete für zwei Häuser! Haben Sie Man muß bei dieser Gelegenheit deutlich sagen: das immer noch nicht kapiert?) Die Forderung der SPD nach Abschaffung der Kinder- — Es geht nicht um das Heer. Es geht um die Neuan- freibeträge und Gewährung eines einheitlichen Kin- schaffung von Dingen, die unserer Meinung nach dergelds an alle, vom Sozialhilfeempfänger bis zum nicht mehr erforderlich sind. Einkommensmillionär, entspricht nicht unseren fami- lienpolitischen Vorstellungen. ( [Quickborn] [CDU/CSU]: Wir lassen nicht alles so verrotten, wie die ( V o r sitz : Vizepräsidentin Renate SED das getan hat!) Schmidt) Es kann nicht ernsthaft behauptet werden, daß die Es geht hier um die grundsätzliche Frage, ob wir den gewaltigen Veränderungen in Europa absolut nicht Familien mit Kindern Einkommen unbesteuert belas- erlauben sollten, auf diese Dinge einzugehen. sen und das Kindergeld als soziale Flankierungsmaß- nahme betrachten oder ob wir die Familien voll be- Viele Steuerzahler müssen feststellen, daß im Rah- steuern und dann vom Staat mit dem Kindergeld sub- men des bisherigen Konzepts, des sogenannten Pro- ventionieren. Dem liberalen Menschenbild, nach dem gramms „Aufschwung Ost", Gelder der Steuerzahler jeder sein Leben und das seiner Familie in eigener einschließlich der Erhöhung ab 1. Juli dieses Jahres Verantwortung gestalten und ihm der Staat dafür den verausgabt werden, ohne daß wirklich gewährleistet finanziellen Spielraum belassen soll, entspricht dieses wird, daß die neuen Bundesländer wirtschaftlich auf Gesetz, nicht aber das SPD-Subventionsverfahren. die Beine kommen. Die Steuerzahler verlangen nach Hinzu kommt, daß die SPD dieses Kindersubven- unserer Auffassung zu Recht, daß mit ihrem Geld tionsmodell durch Einschränkungen beim Ehegatten sorgsam umgegangen wird, es nicht direkt, in welcher splitting finanzieren will. Die Forderung nach Ab- Form auch immer, oder indirekt über ungerechtfer- schaffung oder Einschränkung des Ehegattensplit- tigte Steuerentlastungen in die Kassen der Konzerne tings ist ebenfalls eine alte SPD-Forderung. und Banken sowie der Geschäftemacher fließt. Das Geld sollte wirksam dazu verwandt werden, innerhalb (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wieso denn eines Übergangszeitraums in den neuen Bundeslän- Abschaffung, Herr Kollege?) dern normale Bedingungen für eine Erwerbstätigkeit — Ich habe gesagt: Abschaffung oder Einschränkung. und damit ein sozial gesichertes Leben zu schaffen. Hier geht es um Einschränkungen. Ich habe dies auch Wir erneuern unsere Forderung, mit den Geldern der gesagt. Steuerzahler in den neuen Bundesländern nicht Ar- beitslosigkeit, sondern Arbeit zu finanzieren. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Danke. Rind, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Briefs? (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist die alte Ideo- (FDP): Bitte schön. logie: Arbeit finanzieren!) Hermann Rind

- Dr. Ulrich Briefs (PDS/Linke Liste): Herr Kollege, könnten Sie mit mir einer Meinung sein, daß wir — da Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Sie eben so genüßlich den Volltitel des Gesetzes zitiert Herren, nächster Redner ist der Abgeordnete Her- haben — dies vielleicht in folgender Form leicht pa- mann Rind. raphrasieren könnten: Gesetz zur Belastung der Fami- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3441

Dr. Ulrich Briefs lien und zur Verbesserung der Rahmenbedingungen noch in dieser Legislaturperiode dringend notwen- für Profitmacherei? dig. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) übelste und dümmste Polemiker des Bundes- Da die Steuerbelastung in der Bundesrepublik dann tages!) immer noch um 10 bis 15% über der anderer Länder liegen wird, müssen — da gebe ich Ihnen recht, Herr Wieczorek — die höhere Leistung der Unternehmen, Hermann Rind (FDP): Ich werde natürlich, Herr die bessere Infrastruktur, Ausbildung und all die Briefs, auf den zweiten Teil des Gesetzesnamens auch Dinge, die Sie hier genannt haben, diesen Unter- noch eingehen; warten Sie das ab. Zum ersten Teil ist schied — aber nur diese Differenz, denn mehr ist da zu sagen, daß es hier um echte Entlastungen geht. Ich nicht drin — ausgleichen. Wir können die großen Un- habe die Größenordnungen genannt. Diese Dinge so terschiede im Bereich der Unternehmensbesteuerung zu verdrehen bleibt allein einem Abgeordneten der nicht durch diese anderen Faktoren ausgleichen. Die- PDS überlassen und möglich. sen Ausgleich können wir bei einer Absenkung um 10 (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ein soge- bis 15% sehen, aber nicht im Hinblick auf die jetzige nannter Fluchtgrüner!) Gesamtbelastung. Ein solcher Zwischenruf käme von keinem Vertreter Die Höhe der Steuerbelastung ist sicherlich nur ein, einer anderen Partei. aber eben ein wesentlicher Faktor bei der Entschei- Meine Damen und Herren, wenn diese Einschrän- dung über den Investitionsstandort. Es muß doch ei- kung des Ehegattensplittings Platz greifen würde, gentlich jeden alarmieren, wenn deutsche Unterneh- würde die Entscheidung — die sie gemeinsam fäl- men 1990 für 30 Milliarden DM Direktinvestitionen im len — beider Ehegatten in der Ehe, ob einer allein das Ausland, ausländische Investoren aber nur für 3 Mil- gesamte Familieneinkommen erzielt oder ob sich die liarden DM Direktinvestitionen in Deutschland getä- Ehegatten den Gelderwerb teilen, beschnitten. Der tigt haben. Staat soll diese Entscheidung nicht durch eine unter- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das Ent schiedliche Besteuerung — je nachdem, wie diese scheidende!) Entscheidung ausfällt — beeinflussen. Das Ehegat- tensplitting ist diejenige Besteuerungsform, die dem Das sind die realen Zahlen des Jahres 1990. Darauf Ziel der Steuerneutralität des gemeinsamen Einkom- müssen wir reagieren. Es geht um die Arbeitsplätze mens, durch welche Ehegatten und in welchem Um- von morgen und übermorgen. fang auch immer es in der Ehe erzielt wird, gerecht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wird. Deshalb werden wir dabei bleiben: Die SPD-Mo- Hier geht es nicht um Geschenke und um das Ge- delle sind auch aus dieser Grundposition heraus nicht schwätz von der Umverteilung von unten nach oben; akzeptabel. hier geht es um die Interessen aller Bürger — gerade die der Arbeitnehmer — , und es geht um ihre Arbeits- Wenn die Koalitionsvereinbarungen eine Neuord- plätze. Aus diesem Grund will ich mich auch gar nicht nung des Familienlastenausgleichs noch für diese Le- an der kleinkarierten Diskussion über Entlastungswir- gislaturperiode vorsieht, wird es bei diesen Grundsät- kung bei kleineren, mittleren oder großen Unterneh- zen bleiben, nämlich dem Grundsatz des Vorrangs men beteiligen. Wir brauchen Arbeitsplätze in allen des Kinderfreibetrags vor der Erhöhung des Kinder- Wirtschaftsbereichen. gelds und dem Grundsatz, daß für Familien mit höhe- rem Einkommen das Kindergeld entfallen soll. So Die Handwerksbetriebe und die kleinen Unterneh- steht es in der Koalitionsvereinbarung. Ich glaube, men haben wir bei der Steuerreform mit der Beseiti- daß wir diesem Grundsatz durch das Steuerände- gung des Mittelstandsbauches wesentlich entlastet. rungsgesetz 1992 ein Stückchen näherkommen. Des- Wir setzen die Entlastung durch die Erhöhung der wegen begrüßen wir Freien Demokraten diese fami- Freibeträge bei der Gewerbeertragsteuer fort. Dies ist lienpolitischen Maßnahmen. auch für diesen Bereich der erste Teil der Unterneh- Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und mensteuerreform. Weitere Entlastungen müssen Kollegen, mein Bedauern, daß wir auf Grund der en- auch für diesen Teil der Wirtschaft im zweiten Teil der gen finanziellen Spielräume nicht bereits ab 1992 im Unternehmensteuerreform folgen. Bereich des Familienlastenausgleichs mehr tun kön- Zu fragen ist aber — dies richtet sich leider nicht nur nen, verbindet sich mit demselben Bedauern hinsicht- an die Adresse der SPD —, welches Bild vom Mittel- lich der Entlastung der Unternehmen. In diesem Be- stand in den Köpfen mancher Kolleginnen und Kolle- reich haben wir vom Ergebnis her Steuervereinfa- gen eigentlich besteht. chung und eine Verbesserung der Steuerstruktur, je- doch keine nennenswerte Entlastung der Unterneh- (Zuruf des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/ men. Dies muß immer wieder betont werden. CSU]) Ich bin mir darüber im klaren, daß wir in absehbarer — Die hier anwesenden Kollegen der CDU/CSU Zeit keine Senkung des Niveaus der Unternehmens- meine ich nicht. Das will ich ausdrücklich betonen. — besteuerung auf das anderer Industrieländer errei-- Wir brauchen die Arbeitsplätze nicht nur bei Hand- chen werden. Aber eine Senkung der Steuerbela- werkern und Einzelhändlern, sondern auch bei mitt- stung auf ca. 50 % ist im Interesse der Sicherung und leren Dienstleistungs- und Produktionsunternehmen. der Erhaltung von Arbeitsplätzen geplanten zweiten Auch Betriebe mit 500, 1 000 und 2 000 Beschäftigten Stufe — im Rahmen der geplanten zweiten Stufe — sind mittelständische Betriebe, die eine wichtige 3442 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Hermann Rind Funktion im Wettbewerb und in der Beschäftigungs- mit denen die Staatsverschuldung wieder zurückge- politik haben. Diese Unternehmen zahlen sehr wohl in führt werden kann, wenn wir über die schwierige erheblichem Umfang Gewerbekapital- und Vermö- Phase beim Aufbau unserer neuen Bundesländer hin- gensteuer. Sie sind die, die sich im Wettbewerb am weggekommen sind. Dieser Philosophie verdanken schwersten tun. Sie sind bei diesen Substanzsteuern wir die finanzpolitischen Erfolge der 80er Jahre. Wir in die Entlastung mit einbezogen. wollen mit dem Steueränderungsgesetz 1992 wieder an dieses Konzept anknüpfen und mit weiteren Entla- Die Welt der Wirtschaft besteht doch nicht nur aus stungen in den nächsten Jahren fortfahren. Handwerkern und Mammutkonzernen. Wenn ein mittleres Unternehmen in ertragsschwachen Jahren Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. bei einem angenommenen Betriebsvermögen von (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 10 Millionen DM weit mehr als 100 000 DM Gewerbe- kapitalsteuer zahlen muß und dann aus dem mit Ge- werbeertragsteuer und Körperschaftsteuer in Höhe Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat von fast 60 % belasteten Restgewinn heraus noch ein- der Kollege Michael Habermann das Wort. mal Vermögensteuer abgeben muß und die Anteils- eigner aus ihrem Privatvermögen für die Anteile Michael Habermann (SPD): Frau Präsidentin! nochmals Vermögensteuer zahlen müssen, dann sind Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung und solche Unternehmen im Binnenmarkt ab 1993 bei of- die sie tragenden Koalitionsfraktionen bemühen sich fenen Grenzen nicht mehr in der Lage, im Wettbe- seit mehr als einem Jahr um einen Kinderlastenaus- werb zu bestehen. Diese Unternehmen haben wir im gleich, der der Verfassung entsprechen soll. Eine Blick — und nicht dieses Auseinanderdividieren von Neuauflage dieses Bemühens ist das heute in erster kleinen, mittleren und großen Unternehmen. Die Lesung zu beratende Steueränderungsgesetz 1992. Wirtschaft ist eine Einheit. Wir müssen an alle Teile Wir können jetzt schon feststellen: Wenn der heute — auch an die Industrie, auch an die Großbetriebe, zu beratende Gesetzentwurf im nächsten Jahr Gültig- aber insbesondere an diese Unternehmen — den- keit behalten soll, dann bleibt der Kinderlastenaus- ken. gleich verfassungswidrig. Dann müssen auch 1992 (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Familien klagen, um zu ihrem Recht zu kommen. Auch in der schwierigen haushaltspolitischen Situa- Ihre Familienpolitik, meine Damen und Herren, und tion des Jahres 1992 sind diese Maßnahmen gerecht- hier insbesondere der Teil des steuerlichen Kinderla- fertigt, da sie fast vollständig durch Beseitigung von stenausgleichs, steht dann wieder auf dem Prüfstand Steuervergünstigungen und Steuerschlupflöchern des Verfassungsgerichts. und durch eine vertretbare Senkung von Gebäudeab- Wie keine andere Bundesregierung vor ihr sieht schreibungen für Gebäude im Betriebsvermögen ge- sich diese Bundesregierung, was die steuerlichen genfinanziert werden. Rahmendaten ihrer Familienpolitik betrifft, in der Wir verbessern also die Steuerstruktur und verein- Prüfung durch die Gerichte. Finanzgerichte, Finanz- fachen einiges im Steuerrecht. Es fällt eine Teilsteuer, gerichtshöfe und das Bundesverfassungsgericht set- die Gewerbekapitalsteuer, völlig weg. Die Über- zen sich in den letzten Jahren immer häufiger mit der nahme der Steuerbilanzwerte ist eine wesentliche Frage auseinander: Reichen die Entlastungs- und För- Entlastung der Finanzverwaltung und der Bet riebe. dermaßnahmen für Familien aus, um den Grundsät- Dies sollte bei dieser Gelegenheit doch einmal beson- zen der Verfassung zu entsprechen? ders betont werden. Damit kein Mißverständnis besteht: Wir behandeln heute mit Ihrem Gesetzentwurf ausschließlich den Es stehen neue Aufgaben an: die Verbesserung des Kinderlastenausgleich. Das Steueränderungsgesetz Kinderlastenausgleichs, die Anhebung des Grund- besagt noch nichts über die Grundfreibeträge für Er- freibetrages, die weitere Verminderung der Gewer- wachsene. beertragsteuer und die Senkung der Steuersätze in der Einkommen- und in der Körperschaftsteuer. Diese (Zuruf von der SPD: Leider, leider!) Dinge stehen noch vor uns. Auch diese befinden sich in der Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht. Und nur wenn wir Ich möchte zum Schluß kommen und habe nur noch heute über Grundfreibeträge und Kinderfreibeträge das eine Anliegen, auf das, was Hans Gattermann gemeinsam reden würden, würden wir über den Fa- gesagt hat, noch einmal kurz einzugehen. milienlastenausgleich reden. Mit diesem Gesetz nehmen wir das finanzpolitische Warum, so wird der aufmerksame Beobachter fra- Konzept wieder auf. Ich sage hier, was ich auch schon gen, müssen Familien für das ihnen zustehende Recht bei der Verabschiedung des Steueränderungsgeset- Gerichte bemühen, und warum ist es nicht möglich, zes 1991 gesagt habe: Wir haben aus dringend not- Familien die Gerechtigkeit zukommen zu lassen, die wendigen Zwängen eine Abweichung vom Pfad unse- ihnen verfassungsmäßig zusteht? rer Steuerpolitik der Jahre 1982 bis 1990 gehabt. Das (Beifall bei der SPD) geben wir zu, das habe ich auch eindeutig gesagt. Ein Blick zurück in die jüngste Vergangenheit gibt Aber das finanzpolitische Grundkonzept knüpft an Aufklärung darüber, welche Zwangslagen Familien - folgenden Punkten an: Zu hohe Steuerbelastungen dazu gebracht haben, den Klageweg zu beschreiten. der Bürger und der Unternehmen schwächen die Lei- Als sich 1982, vor fast genau neun Jahren, die soge- stungsbereitschaft, behindern das Wirtschaftswachs nannte geistig-moralische Wende in unserem Land tum und damit die Basis für Steuermehreinnahmen, ankündigte, war es eine Ihrer ersten selbstgestellten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3443

Michael Habermann Aufgaben, das Kindergeld einkommensabhängig zu verdächtige Organisation — kommt zu dem Schluß: kürzen und dafür Kinderfreibeträge einzuführen. In „Familien weiter benachteiligt. — Wir müssen erneut dem gleichen Haushaltsbegleitgesetz, in dem Sie klagen! " diese familienpolitischen Maßnahmen beschlossen Familien verstehen auch nicht, warum die Bundes- hatten, waren auch die Investitionshilfeabgaben gere- regierung zur Festlegung des steuerlichen Existenz- gelt. Das Haushaltsbegleitgesetz für 1983 war der minimums mehr als ein Jahr gebraucht hat. Startschuß in die Ausdünnung des Sozialstaates und in eine bis heute nicht enden wollende Umverteilung (Zuruf von der CDU/CSU: Sie hektographie von Einkommen und Vermögen von unten nach ren Ihre Reden! Das haben wir schon einmal oben. gehört!) Es ist nur allzu verständlich, meine Damen und Her- Während die Bundesregierung bei dem ersten Verfas- ren, daß Sie sich von Anbeginn an der Kritik der Ver- sungsgerichtsurteil — nun hören Sie einmal genau bände, der Organisationen und der Familien selbst zu! — zu dem Haushaltsbegleitgesetz 1983 — es be- stellen mußten, was Ihre Politik betrifft. Damals wie traf die Investitionshilfeabgabe — in weniger als heute bestehen in unserer Gesellschaft eine Grundbe- 40 Tagen in der Lage war, allen das zurückzuzahlen, reitschaft und ein Grundkonsens, nämlich der: Wir was vorher gezahlt wurde, beziehungsweise die sind bereit zu sparen, aber die Lasten müssen gerecht Rechtsgrundlagen dafür zu schaffen, haben Sie für verteilt werden. den Familienlastenausgleich mehr als das Zehnfache an Zeit benötigt, über ein Jahr, um die entsprechenden (Beifall bei der SPD) Regelungen in diesem Jahr vorstellen zu können. Genau an dieser Nahtstelle der sozialen Gerechtig- (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) keit versuchen Familien, sich Ihrer Politik entgegen- zustemmen. Sie haben dazu zweierlei Mittel und wen- Um so verständlicher ist es, daß ein halbes Jahr nach den sie auch an. dem letzten Aschermittwochstreffen in Passau auch der bayerische Bundesfinanzminister Resonanz von Erstens. Sie legen Rechtsmittel gegen die Bescheide seiner Basis in Bayern bekommt. Das Kolpingwerk für ein, die die Auswirkungen Ihrer sozial ungerechten die Diözese Passau schreibt unter dem Datum vom Familienpolitik sind. 5. September 1991 an den Deutschen Bundestag: Zweitens. Sie geben Ihnen — das erleben wir er- Unbefriedigend bleibt die zu spät einsetzende freulicherweise immer häufiger — die Quittung mit und völlig unzureichende Konzeption des Fami- den Stimmzetteln an Wahltagen. lienlastenausgleichs. In diesem Zusammenhang (Zuruf von der CDU/CSU: Ach!) — so schreiben sie weiter — Der Zorn der Familien in unserem Land hat seinen ist umgehend dafür zu sorgen, daß das Existenz- Grund: minimum aller Familienmitglieder steuerfrei (Beifall bei der SPD) bleibt. Sie fühlen sich betrogen und hintergangen, weil Sie Auf der Grundlage der Entscheidung des Bun- Ihre Versprechungen nicht einhalten — desverfassungsgerichts ist das Existenzminimum (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Herr Ha- für Kinder ab dem 1. Juli 1991 mit mindestens bermann, Sie sind ein Labermann!) 560 DM anzusetzen. sei es, daß Sie programmatische Äußerungen vor Es ist bezeichnend, Wahlen oder in Regierungserklärungen als Zielvorga- — so schreibt das Kolpingwerk für die Diözese Passau ben mehr oder weniger verfehlen, sei es, daß Sie Zu- weiter — sagen über Finanzierungstatbestände machen, die Sie ein halbes Jahr später nicht mehr einhalten. So ge- daß der Bundesminister für Finanzen nach wie schehen am 25. Oktober 1989 von diesem Pult aus mit vor nur von der Steuerfreiheit des Kinderexi- dem Versprechen des Bundesfinanzministers bei der stenzminimums spricht. rückwirkenden Regelung der vom Bundesverfas- Und zu Recht weist das Kolpingwerk darauf hin: sungsgericht als verfassungswidrig erklärten Aus- gleichsleistungen für Familien. A llen Familien woll- Wenn das Existenzminimum der Familie steuer- ten Sie etwas zurückgeben und nicht nur denen, die frei gestellt wird, ist das noch lange kein Famili- offene Steuerbescheide hatten. enlastenausgleich, sondern erst Steuergerechtig- keit. Sie haben sowohl im Steueränderungsgesetz für dieses Jahr als auch in dem jetzt vorliegenden Entwurf Dieser Protest dokumentiert, wie wichtig Sie den für 1992 nicht den Willen und nicht das Vermögen Familienlastenausgleich nehmen und daß selbst in gehabt, das, was das Bundesverfassungsgericht Ihnen der Öffentlichkeit klar wird, daß dieses Steuerände- vorgegeben hat, politisch umzusetzen. Seit 1983 bela- rungsgesetz weiterhin unter dem Makel der Verfas- sten Sie Familien verfassungswidrig, indem Sie das sungswidrigkeit leidet. Existenzminimum sowohl von Kindern als auch von Es ist deshalb eine anerkennende Bemerkung wert, Erwachsenen nicht steuerfrei stellen. Nach den jetzt- daß sich die Bundesfamilienministerin — zumindest von Ihnen beabsichtigten Kinderfreibeträgen und der in den Vorverhandlungen zu dem Entwurf — bemüht Kindergelderhöhung ist das Existenzminimum eines hat, ein annähernd verfassungsgemäßes Existenzmi- Kindes höher als das eines Erwachsenen. Der Famili- nimum für Kinder zu errechnen und dies in die Frei- enbund der Katholiken — sicherlich eine für uns un- betragshöhe beziehungsweise in die Kindergeldhöhe 3444 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Michael Habermann einzuarbeiten. Aber es ist für ein so reiches Land wie sie sehen, wie mit ihren vom Verfassungsgericht fest- das unsrige beschämend, meine Damen und Herren, gelegten und eingeforderten berechtigten Anliegen daß dann, wenn es um das Existenzminimum für Kin- von der Bundesregierung umgegangen wird. der geht, so gefeilscht wird. Ich habe den Eindruck, es muß bei den Verhandlungen zwischen dem Familien- Noch mehr muß es Familien zürnen, wenn sie einer- ministerium und dem Finanzministerium wie auf dem seits in die Abgabensolidarität eingebunden werden Bazar unter Teppichhändlern zugegangen sein. und andererseits miterleben müssen, wie größere Einkommensbezieher durch die Politik der Bundesre- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Es wird gierung entlastet werden. Familien ist die Großzügig- nicht gefeilscht, es wird gerechnet!) keit der Bundesregierung bei der Vermögensteuer Der Finanzminister hat selbst die Höhe der Sozialhilfe unverständlich, wenn sie die Kleinherzigkeit und in Frage gestellt. Knausrigkeit bei der Festlegung des Existenzmini- mums erleben. Meine Damen und Herren, das Ergebnis — auch (Beifall bei der SPD) unter Anrechnung des fiktiven Freibetrages, der auf Grund der Kindergeldzahlung zustande kommt — ist: Zunehmend verschlechtern Sie auch die familien- Das Existenzminimum eines Kindes war seit 1983 politischen Handlungsmöglichkeiten auf kommuna- nicht steuerfrei, ist jetzt nicht steuerfrei und wird, ler Ebene. wenn Ihr Gesetz so in Kraft bleibt, auch 1992 nicht steuerfrei bleiben. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Hurra, wir haben es ja!) (Beifall bei der SPD) Wer den Kommunen immer mehr Handlungsspiel- Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist räume nimmt, in dem er ihre finanziellen Ressourcen eine Familienpolitik, die sich nicht daran orientiert, beschneidet, gleichzeitig aber Kommunen auffordert, daß wir nicht nur in den Monaten Januar bis Novem- verstärkt für Familien tätig zu werden, betreibt ein ber — so ist nämlich ihr Existenzminimum derzeit zynisches Spiel. berechnet — das Existenzminimum steuerfrei stellen. Vielmehr brauchen wir eine Familienpolitik, bei der Waren die Städte und Gemeinden bisher schon u. a. sich die Familien darauf verlassen können, daß ein Ausfallbürgen für die Kosten der Arbeitslosigkeit, ha- Teil der tatsächlichen Belastungen von uns wirklich ben sie also Lasten getragen, die wir dem Bund zuord- ausgeglichen wird. nen, Die Familienverbände haben schon jetzt angekün- (Detlev von Larcher [SPD]: So ist es!) digt, daß sie die Familien auffordern werden, auch in so werden sie jetzt durch das Vorhaben der Unterneh- diesem Falle gegen Ihre Politik zu klagen. Sie können mensteuerreform in ihren Einnahmemöglichkeiten damit rechnen, daß immer mehr Familien gegen ihre beschnitten. Die Kommunen kommen in den Würge- Steuerbescheide Beschwerde einlegen bzw. sie offen- griff Ihrer unse riösen und unsozialen Finanzpolitik. halten werden, damit sie nicht wieder in die Situation kommen, daß der Bundesfinanzminister ihnen etwas (Zustimmung bei der SPD) verspricht, was er dann später nicht einhalten kann. Denn: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Mit der einen Hand drücken Sie zu, indem Sie die Leistungen zu Lasten der Kommunen verschoben ha- (Beifall bei der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser ben, mit der anderen Hand drücken Sie den Kommu- [CDU/CSU]: Das nehmen Sie sofort zurück! nen den notwendigen Mittelzufluß ab. — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Denen glaubt niemand mehr etwas! — Dr. Norbert (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Voller Wieczorek [SPD]: Die glauben sich selber Ausgleich!) nicht, das ist das Problem!) Meine Damen und Herren, durch finanzwissen- — „Voller Ausgleich" , das halte ich für ein Gerücht. schaftliche Untersuchungen wissen wir, daß die Lei- Gehen Sie einmal vor Ort und fragen Sie einmal in den stungen, die Familien über das Steuerrecht oder durch Kommunen nach. Wenn Sie Kommunalpolitiker sind, Leistungsgesetze erhalten, im wesentlichen durch die werden Sie andere Daten bekommen. Familien selbst aufgebracht werden. Familien, insbe- Glauben Sie mir, wir werden mit den Familienver- sondere mit mehreren Kindern, sind auf Grund ihrer bänden dafür sorgen, daß die Menschen draußen im Einkommensverhältnisse nicht in der Lage, größere Lande Ihre Politik durchschauen. Es wird Ihnen nicht Rücklagen zu bilden; d. h. sie gehören zu dem Teil der weiter durchgehen, Länder und Kommunen in die Bevölkerung, der sein Einkommen weitestgehend Pflicht zu nehmen und sie als Ausfallbürgen für Ihre ausgibt. Sie unterliegen so voll der direkten und indi- Sozialleistungen zu benutzen und ihnen gleichzeitig rekten Besteuerung. Dadurch wird verständlich, daß die notwendigen finanziellen Mittel dafür vorzuent- Familien, pro Kopf und vom Anteil ihres Einkommens halten. her betrachtet, in hohem Maße an der Steueraufbrin- gung beteiligt sind. Solange dies so ist, meine Damen Immer mehr Menschen, meine Damen und Herren, und Herren, können wir nicht von einem Familienla- verstehen, was es bedeutet, einen verläßlichen politi- stenausgleich zwischen denen sprechen, die Kinder schen Partner zu haben, der eine solide und gerechte erziehen, und denen, die keine Kinder haben. Des- Finanz- und Sozialpolitik betreibt. Immer mehr Fami- halb ist es um so verständlicher, daß der Unmut der lien wenden sich deshalb von Ihnen ab. Noch nie hat Betroffenen und ihrer Verbände deutlich wird, wenn eine CDU/FDP-Bundesregierung so viel mangelnde Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3445

Michael Habermann Kompetenz in der Finanzpolitik bescheinigt bekom- von morgen und mit Blick auf den Europäischen Bin- men wie Sie. nenmarkt ab 1. Januar 1993 — bis dahin sind es nur (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ulrich noch 15 Monate und 10 Tage — ist die Diskussion völ- Briefs [PDS/Linke Liste]) lig unsinnig, ich möchte sagen: irrsinnig. Unser Konzept des Kinderlastenausgleichs ist ein- Sowohl die betriebliche Vermögensteuer als auch fach und überschaubar, es ist sozial gerecht und finan- die Gewerbekapitalsteuer haben als wesentliche Be- zierbar. Mit 230 DM Kindergeld im Monat pro Kind messungsgrundlage den Einheitswert des Bet riebes. kommen wir nicht nur der Forderung der Familienver- Das heißt im Umkehrschluß: Ein Unternehmer, ein bände entgegen und schaffen wir nicht nur das un- Betrieb, der investiert, um Arbeitsplätze zu schaffen übersichtliche System von Kindergeld, Kindergeld- oder zu sichern, wird anschließend mit diesen beiden freibeträgen, Kindergeldzuschlag und Kindergeldre- Steuerarten für sein ansonsten löbliches Tun bestraft. duzierungen auf Sockelbeträge ab, sondern stellen Aber nicht nur das: Er muß diese Steuern auch noch vor allen Dingen das sicher, was das Verfassungsge- zahlen, wenn er keine Gewinne macht. Das heißt, richt uns aufgegeben hat: die Steuerfreistellung des diese Steuern zehren die Substanz auf, Existenzminimums. (Dr. Ulrich B riefs [PDS/Linke Liste]: Warum Langfristig, meine Damen und Herren, wollen wir, beseitigen Sie nicht alle Steuern?) daß aus einer Politik des Lastenausgleichs für Kinder und Familien eine Politik der Förderung der Familien möglicherweise ganz kompromißlos bis zum Bankrott wird. Dazu brauchen wir zunächst den Lastenaus- des Unternehmens und damit bis zum Verlust der gleich zwischen denjenigen, die ohne Kinder in unse- Arbeitsplätze. rer Gesellschaft leben und deshalb viele Vorteile für (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Genau so sich in Anspruch nehmen, und denjenigen, die als ist es! — Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Oje, o Familie mit Kindern leben und deshalb viele Nach- je!) teile erleiden müssen. Diese Zielsetzung schließt als einen ersten und wichtigen Schritt die Zahlung eines Wer in diesem Zusammenhang behauptet, diese erhöhten Kindergeldes ein. Steuern begünstigten mehr die Großunternehmen Wenn Sie sich, meine Damen und Herren von der denn die kleinen und mittleren Unternehmen, Regierungskoalition, auf eine solche Politik verste- (Deltev von Larcher [SPD]: Das ist keine Be hen, die diesen Grundsätzen Folge leistet, dann haben hauptung, das ist eine Tatsache!) Sie uns auf Ihrer Seite. Vielen Dank. beweist endgültig, daß er keine Ahnung hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Erneute Zurufe von der SPD) der PDS/Linke Liste) — Um diese Uhrzeit sollten wir ruhig ein bißchen friedlich miteinander umgehen. Ich wi ll Ihnen ganz Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat klar und nüchtern sagen, wie ich das sehe: Es ist zwar der Kollege Peter Rauen das Wort. richtig, daß über 50 % des Gewerbesteueraufkom- mens von nur etwa 0,8 % oder 14 000 Unternehmen in Deutschland erbracht werden. Da die Gewerbesteu- Peter Harald Rauen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! ern nach Ertrag oder Kapital jedoch Bet riebsausgaben Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kol- sind, werden bei diesen Großunternehmen 50 % der lege Habermann, wir können uns trefflich darum gezahlten Gewerbesteuern durch die Körperschaft- streiten, ob 100 DM mehr oder weniger bei den Kin- steuer erspart. Die restlichen rd. 700 000 Bet riebe, die derfreibeträgen festzusetzen sind. Tatsache ist: Es Gewerbesteuer zahlen — das sind 42 % aller Bet riebe, wird jetzt ein Freibetrag von 4 104 DM angesetzt. Als die die andere Hälfte zahlen — , sind mit dieser Steuer wir 1983 die Regierung übernahmen, lag der Betrag ungleich höher belastet. Denken Sie an die Vielfältig- bei 434 DM — fast eine Verzehnfachung. Das heißt, keit der Strukturen: Diese 700 000 Firmen umfassen ein Arbeitnehmer, ein normaler Facharbeiter mit 25 % auch den Handwerksmeister, der bei 100 000 DM Ge- Durchschnittssteuersatz hat heute auf Grund dieser winn 25 000 DM Gewerbesteuer nach Ertrag und Ka- Freibeträge bei 2 Kindern 1 500 DM Steuerersparnis pital zahlt und der dafür von seiner Einkommensteuer im Jahr. Das ist ein Wort. — je nach Familienstand — , wenn es hochkommt, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) höchstens 10 bis 15 % erspart, während der große Konzern 50 % über die Körperschaftsteuer erspart. Ich möchte aber einiges zur Unternehmensteuerre- form sagen, weil von der Opposition sehr viel Falsches Ich habe kein Verständnis für die Kollegen hier im zur betrieblichen Vermögensteuer und zur Gewerbe- Bundestag, die leichtfertig Neid und Mißgunst mit der kapitalsteuer gesagt wurde. Behauptung schüren, die Reform der bet rieblichen (Zuruf von der FDP: Soviel kann man gar Vermögen- und Gewerbekapitalsteuer begünstige nicht richtigstellen!) nur die Großen und die Reichen. Meine Damen und Herren, weil das Wort „Vermö- Es ist manchmal gut, wenn man aus eigener Erf ah- gen" bei der einen Steuer und das Wort „Kapital" bei - rung etwas sagen kann: Ich habe vor 25 Jahren als der anderen vorkommt, wird dies mit Reichtum selbständiger Bauunternehmer mit viel Tatendrang gleichgesetzt. Es wird deswegen gehetzt und sugge- und noch mehr Schulden angefangen und erlebt, daß riert, man wollte die Reichen entlasten — zu Ungun- gerade diese beiden Steuerarten — vor allem dann, sten der Armeren. Aber mit Blick auf die Arbeitsplätze wenn kein Ertrag vorhanden war — die größten Pro- 3446 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Peter Harald Rauen blerne gebracht haben, auch und gerade im Hinblick Ich bin auch der Meinung, daß endlich die Unge- auf die Arbeitsplätze. rechtigkeit bei der Altersvorsorge der Selbständigen, die weit weniger steuerfreie Altersvorsorge betreiben Ich will in aller Ruhe und um so deutlicher sagen können als jeder Arbeitnehmer, verschwinden muß. — Peter Struck ist leider nicht mehr da — : Wer diese Steuerarten vor dem Hintergrund des europäischen Ich hoffe, daß uns dies im Lauf der Beratungen dieses Binnenmarktes nicht reduzieren oder abschaffen will, Gesetzes gelingt. muß auch die Verantwortung für die Arbeitsplätze Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. übernehmen, die morgen bei uns wegfallen oder nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mehr geschaffen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Liebe Kollegen, Sowohl die betriebliche Vermögensteuer als auch die liebe Kolleginnen, ich schließe die Aussprache. Gewerbekapitalsteuer passen nicht in die europäi- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- sche Landschaft. wurfs auf Drucksache 12/1108 an die in der Tagesord- (Dr. Karl H. Fell [CDU/CSU]: Richtig!) nung aufgeführten Ausschüsse und an den nicht auf- geführten Sportausschuß vorgeschlagen. Gibt es dazu Ich komme aus einem Wahlkreis mit 150 Kilometern weitere Vorschläge? — Grenze zu Luxemburg und Belgien; nach Frankreich sind es von meinem Wohnort aus 40 Kilometer. Wir (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Wie bitte? haben schon heute einen regen Tanktourismus, weil Der Sportausschuß? — Dr. Karl H. Fell [CDU/ die Mineralölsteuern unterschiedlich hoch sind. Die CSU]: Üben sie die Riesenwelle?) Spediteure melden ihre Lkw in Luxemburg an, weil — Es ist so vorgeschlagen. sie durch die niedrigere Kfz-Steuer einschließlich dem (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Können Lkw-Fahrer pro Lastzug jährlich 20 000 DM sparen. Sie mir mal sagen, warum der Sportaus (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wer schuß?) hat denn die Mineralölsteuer erhöht?) — Liebe Kollegen, ich bin hier an die Absprachen der Der deutsche Arbeitnehmer, der zur Arbeit über die Fraktionsgeschäftsführungen gebunden. Grenze nach Luxemburg geht, hat bei 3 500 DM (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Salto brutto 500 DM netto mehr, als er netto auf deutscher mortale!) Seite verdient. Ich gehe davon aus, lieber Herr Kollege Faltlhauser, Was heute Tanktourismus, Ausflaggen der Lkw und daß es auch mit Ihnen abgesprochen ist, weil Sie in Grenzgänger-Arbeitsverhältnisse sind, wird morgen Ihrer Fraktion ein wichtiger Mann sind. Falls das nicht die Wanderung von Firmen und Arbeitsplätzen be- der Fall sein sollte, bitte ich Sie, sich an die Kollegin deuten. Roitzsch zu wenden. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Genau!) (Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Mir ist davon nichts bekannt!) Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Bei offenen Grenzen in Europa mit der Möglich- Ich kann Ihnen nur das vorschlagen, was vereinbart keit des freien Transfers von Menschen, Waren, worden ist. Dienstleistungen und Kapital wäre es für eine Firma (Zurufe von der CDU/CSU) im Hinblick auf den Erhalt der Arbeitsplätze nahezu — Sie können dies ablehnen; ich stelle es ja jetzt zur leichtfertig, wenn sie den Standort unter dem Ge- Debatte. sichtspunkt der Steuern und der Lohnzusatzkosten Ich glaube, es passiert nichts Schlimmes, wenn wir — das sage ich ganz bewußt — nicht sorgfältig über- es jetzt so verabschieden. Wir könnten dies vielleicht prüfen würde. Bei den Lohnzusatzkosten versündigen in der nächsten Sitzung klären. Wäre das ein Vor- wir uns als Politiker ohnehin fast täglich aufs neue. schlag zur Güte? — Wunderbar. Leider fällt die Unternehmensteuerreform mit ei- Darf ich fragen, ob es weitere Vorschläge gibt? — nem Volumen von knapp 7 Milliarden DM, das auch Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlos- noch durch steuerlichen Subventionsabbau gegenfi- sen. nanziert wird, im Hinblick auf die Wettbewerbsfähig- keit in Europa viel zu knapp aus. Gleichwohl ist es um so wichtiger, daß mit der begonnenen Reform die un- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: gerechtesten Steuern abgebaut werden, nämlich die, Erste Beratung des von der Bundesregierung die das besteuern, was wir am dringendsten brau- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- chen: Investitionen und Arbeitsplätze. derung der Finanzgerichtsordnung und ande- Die Staffelung der Steuermeßzahl bei der Gewer- rer Gesetze (FGO-Änderungsgesetz) beertragsteuer ist ein Schritt in die richtig Richtung; — Drucksache 12/1061 ich stimme Herrn Kollegen Gattermann zu. Mir wäre —Überweisungsvorschlag : es lieber — vielleicht erreichen wir das —, wenn ge- Rechtsausschuß (federführend) rade für die kleinen Gewerbetreibenden, die von- Finanzausschuß den zusätzlichen 3 Millionen Arbeitsplätzen in den Sportausschuß letzten zehn Jahren die meisten geschaffen haben, Interfraktionell ist vereinbart worden, die Redebei- etwas mehr Erleichterung geschaffen werden träge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu könnte. geben. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3447

Vizepräsidentin Renate Schmidt Sind Sie mit dieser Abweichung von der Geschäfts- gegeben werden. Besteht mit dieser Abweichung von ordnung einverstanden? — Das ist der Fall. Es ist mit der Geschäftsordnung Einverständnis? — Dies ist der erforderlicher Mehrheit so beschlossen.*) Fall. Es ist mit der erforderlichen Mehrheit so be- (Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke Liste]: Mit schlossen ). Überweisung an den Sportausschuß!) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz- gin Köppe. entwurfs auf Drucksache 12/1061 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse — in diesem Fall nicht auch an den Sportausschuß — vorgeschlagen. Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE) : Frau Präsiden- Gibt es weitere Vorschläge dazu? — Das ist nicht der tin! Meine Damen und Herren! Ich bedauere, daß die Fall. Die Überweisung ist so beschlossen. erste Lesung unseres Antrags erst so spät angesetzt wurde; einerseits spät heute abend, wo die Medien und viele der betroffenen Steuerzahler und Steuer- Wir kommen mit rasender Geschwindigkeit zum zahlerinnen die Beratungen nicht mehr verfolgen Tagesordnungspunkt 13: können, andererseits leider schon spät in der Legisla- Erste Beratung des von der Bundesregierung turperiode. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der (Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Vereinbarung vom 8. Oktober 1990 über die Ihre Plätze sind ja auch leer!) Internationale Kommission zum Schutz der Im letzten Dreivierteljahr, besonders während der Elbe gerade abgelaufenen Sommerpause und Urlaubszeit, — Drucksache 12/869 — sind bereits viele Dienstreisen unternommen worden. Überweisungsvorschlag: Von deren Zielen, Teilnehmern und Teilnehmerin- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (fe- nen, Zwecken und Nutzen oder auch Kosten habe ich derführend) als Abgeordnete nichts oder allenfalls Bruchstücke Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Verkehr meist aus den Medien erfahren. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat war für die Den steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürgern, die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Es ist jedoch dafür finanziell aufkommen müssen, ist all dies mut- vereinbart worden, daß Redebeiträge zu Protokoll ge- maßlich noch weniger transparent. geben werden können.** ) Diesen mißlichen Zustand soll unser Antrag behe- (Zuruf von der CDU/CSU: Eine sehr gute ben. Wir haben festgestellt, daß für Auslandsreisen Idee!) der Abgeordneten sowie der sie begleitenden Bun- destagsmitarbeiter aus verschiedenen Bundestagsti- In der Zwischenzeit ist dies von allen Fraktionen und teln jährlich mehrere Millionen DM ausgegeben wer- Gruppen geschehen. Ich darf Sie um Ihre Zustimmung den. Die in unserem Antrag genannten Posten sind zur Abweichung von der Geschäftsordnung bitten. — übrigens im aktuellen Haushaltsentwurf 1992 noch Es gibt keine gegenteilige Meinung. Dies ist mit der einmal um bis zu 100 % gestiegen. erforderlichen Mehrheit beschlossen. Als wir Näheres erfahren wollten, vernahmen wir Wir kommen zur Überweisung dieses Gesetzent- mit Befremden, daß Einzelheiten selbst gegenüber wurfs. Es ist vorgeschlagen, diesen Gesetzentwurf auf Abgeordneten auf Grund zweier Beschlüsse des Älte- Drucksache 12/869 an die in der Tagesordnung auf- stenrats geheimzuhalten sind. geführten Ausschüsse zu überweisen und keine wei- teren vorzuschlagen. Gibt es anderweitige Vor- (Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Das schläge? — Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist stimmt doch gar nicht!) so beschlossen. Deshalb haben wir beantragt, das Präsidium solle über die durchgeführten Abgeordnetendienstreisen und Ausschußdelegationsreisen alle zwei Jahre auch Ich rufe nun auf den Tagesordnungspunkt 14: die Öffentlichkeit informieren, insbesondere über Beratung des Antrags der Gruppe BÜNDNIS das Verhältnis von Kosten und parlamentarischem 90/DIE GRÜNEN Nutzen. Transparenz über Reisen des Deutschen Bun- (Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: destages gegenüber den Steuerzahlern und Sind Ihre Kollegen jetzt etwa auf Dienst Steuerzahlerinnen reise?) — Drucksache 12/612 (neu) — Mit dieser wirklich nicht unbilligen Forderung ha- Überweisungsvorschlag: ben wir uns offenbar besonders bei denjenigen Kolle- Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- ginnen und Kollegen unbeliebt gemacht, die hier nung (federführend) schon länger im Hause arbeiten. Haushaltsausschuß (Dr. Rudolf Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Das Interfraktionell ist eine Aussprache in Form einer ist doch einfach hochgestapelt!) Fünf-Minuten-Runde vereinbart worden. Mittlerweile liegt mir die Information vor, daß es nur eine Wortmel- Die Art der Kritik ließ uns jedoch noch zusätzlich auf dung dazu gibt; die anderen Reden sollen zu Protokoll - horchen. Aus der SPD hieß es, wenn ich das etwas salopp formulieren darf, wir würden schon noch auf *) Anlage 5 **) Anlage 6 *) Anlage 7 3448 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Ingrid Köppe den Geschmack kommen. Die Union warf uns kaum sich über Politikverdrossenheit der Bevölkerung verhüllt Nestbeschmutzung vor. nicht wundern. Wovor sollen diese Geheimhaltungsbeschlüsse Dies zu ändern, haben Sie zahlreiche Gelegenhei- über die Verwendung von Millionenbeträgen denn ten, nicht nur durch Unterstützung unseres Antrages eigentlich schützen? zu dem vergleichsweise winzigen Aspekt Dienstrei- (Zuruf von der CDU/CSU: Stellen Sie doch sen. Auch bei der demnächst wieder drohenden keine falschen Behauptungen auf!) Diätenerhöhung haben Sie es in der Hand, aus den Erfahrungen unserer Hamburger Kollegen zu lernen Welches Bild muß die Bevölkerung denn angesichts und dem öffentlichen Eindruck vorn Bundestag als gewisser Medienberichte über die Reiseziele des Bun- Selbstbedienungsladen sogleich deutlich entgegen- destags gewinnen? zuwirken. Da soll der Petitionsausschuß nach Australien, der Verkehrsausschuß nach Vietnam und Macao gereist Ich danke Ihnen. sein. — Herr Lüder möchte eine Zwischenfrage stel- (Beifall des Abg. Dr. Ulrich Briefs [PDS/Linke len. Liste])

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Entschuldigung, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es liegen keine ich war gerade abgelenkt. Der Kollege Lüder bittet weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aus- um die Möglichkeit einer Zwischenfrage. Gestatten sprache. Sie das? Interfraktionell wird in Abweichung von dem in der Tagesordnung genannten Überweisungsvorschlag Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Ja. Überweisung der Vorlage auf Drucksache 12/612 (neu) an den Ältestenrat vorgeschlagen. Sind Sie da- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Lüder. mit einverstanden? — Dies ist der Fall. Die Überwei- sung ist so beschlossen. Wolfgang Lüder (FDP): Frau Kollegin, sind Sie be- reit, Ihre Tatsachenbehauptungen, die Sie hier in den Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 15 auf. Raum gestellt haben, zu relativieren, wenn sich in den Beratungen des zuständigen Ausschusses, an den der Erste Beratung des von der Gruppe der PDS/ Antrag gehen soll, herausstellt, daß Sie — was meiner Linke Liste eingebrachten Entwurfs eines Ge- Information entspricht — von falschen Voraussetzun- setzes zur Rechtsgleichstellung von Homose- gen ausgehen? xualität und Heterosexualität im Strafrecht (Se- xualgleichstellungsgesetz) Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Ich kann nur — Drucksache 12/850 — von dem ausgehen, was zur Zeit öffentlich bekannt ist. Überweisungsvorschlag : Darauf fußen meine Aussagen. Alles andere werde ich Rechtsausschuß dann natürlich zur Kenntnis nehmen. Interfraktionell ist für die Aussprache eine 5-Minu- Da soll sich der Innenausschuß in Indonesien über ten-Runde vereinbart worden. Es ist auch vereinbart die ethnische Zersplitterung, in Bangkok über Pro- worden, daß Reden zu Protokoll gegeben werden kön- bleme der Nationalsprache und in China mehrfach nen. Sind Sie mit dieser Abweichung von der Ge- über die dortige Kultur sachkundig gemacht haben. schäftsordnung einverstanden? — Das ist der Fall. Es Es wird berichtet, die Abgeordneten hätten ihre ist mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.' ) Kenntnisse über den Datenschutz in den USA und Ich eröffne dennoch die Aussprache, weil die Kolle- Kanada sowie über das bekanntlich weltweite Dro- gin Barbara Höll ums Wort gebeten hat. Ich erteile es genproblem in Mittelamerika und im Raum Indien/ ihr hiermit. Nepal jährlich aktualisiert. In Nepal waren — ebenso wie in anderen Ländern — kürzlich Wahlen zu beob- achten, in der Mongolei dieser Tage deren Vorberei- Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Verehrte Frau tung. Warum eigentlich auch nicht? Reisen bildet be- Präsidentin! Verehrte Abgeordnete! Ich möchte hier kanntlich, und Sie können mir glauben: Davon bin ich mit unserem Gesetzentwurf um Ihre Zustimmung für überzeugt. Da sind wir einer Meinung. die Beseitigung bestehender rechtlicher Diskriminie- Ich räume auch ein: Vielleicht läßt sich der unmit- rung von Menschen bitten. telbare Nutzen für unser Tagesgeschäft nicht immer Unser Anliegen mit dem vorliegenden Gesetzent- so kurzfristig und exakt benennen, sondern er mag wurf ist es, die seit Jahrhunderten in Deutschland sich erst später zeigen. Darüber wird man sich im ein- bestehende Diskriminierung lesbischer Frauen und zelnen auseinandersetzen müssen. Hierfür ist erst ein- schwuler Männer zu beseitigen. Homosexuell orien- mal eine vollständige Information über diese Fakten tierte Mitbürgerinnen und Mitbürger bedürfen der erforderlich. gleichen rechtlichen Voraussetzungen für Identitäts- Aber warum tun Abgeordnete der anderen Fraktio- findung, sexuelle Selbstbestimmung und Persönlich- nen so, als wollten wir ihnen an die persönliche Brief- keitsentfaltung, wie sie für heterosexuell orientierte tasche? Ich kann das nicht nachvollziehen. Mehr Menschen in diesem Lande selbstverständlich sind. noch: Wer als Politiker nur Sparappelle an die -viel Der § 175 StGB ist seit über 120 Jahren für die be- zitierten kleinen Leute richtet sowie Sozialleistungen stehende Diskriminierung Homosexueller das heraus- einschränken will, jedoch selbst zaghafte Ansätze zu eigenen Einsparmöglichkeiten arrogant abwehrt, darf *) Anlage 8 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3449

Dr. Barbara Höll ragende Symbol. Die PDS/Linke Liste sieht angesichts kehrähnliche Handlungen Erwachsener mit Jugend- dieser Zeitdimension ihren Gesetzentwurf als längst liche zwischen 14 und 16 Jahren als Offizialdelikt be- überfälligen Schritt an, um die Gleichstellung unter- straft. Daraus folgt: Erstens. Homosexuelle Handlun- schiedlicher sexueller Orientierungen vor dem Gesetz gen mit Jugendlichen unter 18 Jahren in den Altbun- herzustellen, überholten Moralvorstellungen inner- desländern sind strafbar und werden in den Neubun- halb der Bevölkerung die Rechtsgrundlage zu entzie- desländern unter bestimmten Bedingungen als Offi- hen, die Möglichkeit zu einem freigeistigen Umgang zialdelikt verfolgt. Zweitens: Die drei genannten Pa- mit dem Problem Homosexualität zu eröffnen sowie ragraphen des geltenden Sexualstrafrechts in der die deutsche Gesetzgebung hinsichtlich der Gleich- heutigen BRD — — stellung von Homosexualität und Heterosexualität an das Niveau fortgeschrittener europäischer Staaten (Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: heranzuführen. Darüber hinaus ist mit der Vereini- Sie haben noch die SED-Sprache: Es heißt gung der zwei deutschen Staaten gerade auf diesem hier nicht „BRD"!) Gebiet eine obskure Rechtsrealität entstanden, die akuten Änderungsbedarf signalisiert. — — schränken maßgeblich die ungestörte Entfal- tung sexueller Selbstbestimmung der jungen Genera- Während in der ehemaligen DDR das Sexualstraf- tion ein. recht, in dem Schwule nicht diskriminiert werden, weiterbesteht, ist in der BRD der § 175 rechtskräftig. Der Gesetzentwurf beinhaltet die ersatzlose Strei- Diese Regelung des Einigungsvertrages führt dazu, chung der §§ 175 und 182 des Strafgesetzbuchs der daß sexuelle Handlungen eines schwulen Paares in BRD und die Aufhebung des § 149 des Strafgesetz- Hamburg nicht erlaubt sind, wohl aber in Dresden. buchs der DDR, der laut Einigungsvertrag bislang gel- tendes Recht in den neuen Bundesländern ist. Der von uns vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Rechtsgleichstellung von Homosexualität und He- (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Reden Sie doch terosexualität im Strafrecht der Bundesrepublik orien- nicht gar so schnell!) tiert sich an folgenden Zielen: Erstens. Die seit über 100 Jahren bestehende Dis- Im Gegensatz zu der in den Koalitionsvereinbarun- kriminierung von homosexuell orientierten Men- gen geäußerten Absicht der Regierungsparteien, eine schen, die in den alten Bundesländern ununterbro- einheitliche Jugendschutzvorschrift festzuschreiben, chen weiter praktiziert wird — über 500 Anzeigen im haben wir darauf ausdrücklich verzichtet. Wir sind der vergangenen Jahr — , soll beseitigt und damit ein wei- Ansicht, daß die übrigen Regelungen des Sexualstraf- teres Stück der in Art. 3 des Grundgesetzes postulier- rechts einen ausreichenden Schutz gewährleisten ten Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz ver- — Abschnitt 143 Strafgesetzbuch: Straftaten gegen wirklicht werden. die sexuelle Selbstbestimmung —. Zweitens. Den Veränderungen in der Lebensreali- Mit dieser Position vertreten wir zugleich die grund- tät junger Menschen hinsichtlich ihrer sexuellen Be- sätzlichen Forderungen sowohl des Bundesverbandes ziehungen soll Rechnung getragen werden. Homosexualität als auch des Schwulenverbandes in Drittens. Auf der Grundlage des Einigungsvertra- Deutschland. Wir werden in unserem Bemühen um ges soll eine Rechtsangleichung im geltenden Straf- dieses Gesetz von unzähligen Schwulen- bzw. Les- recht vollzogen werden. beninitiativen und Einzelpersonen bestärkt. Sowohl unter dem Aspekt gegebener Veränderun- ( [FDP]: Holen Sie doch mal gen in der Lebensrealität junger Menschen hinsicht- Luft!) lich ihrer sexuellen Beziehungen als auch in bezug auf die Notwendigkeit der Rechtsangleichung gemäß Ei- Die im Einigungsvertrag festgelegte Rechtsanglei- nigungsvertrag besteht akuter Änderungsbedarf des chung sollte genutzt werden, um den menschendis- geltenden Strafrechts. kriminierenden § 175 ersatzlos aus dem Strafgesetz- buch der BRD zu streichen. Entsprechend der heuti- In der Alt-BRD stellt noch immer der § 175 StGB gen Lebensrealität sollten zugleich die §.§. 182 StGB einvernehmliche und gewaltfreie Sexualkontakte von BRD und 149 StGB-DDR aus dem geltenden Recht Männern mit jungen Männern unter 18 Jahren und beseitigt und sollte dafür Sorge getragen werden, daß zwischen jungen Männern von 14 bis 18 Jahren unter in der Bundesrepublik Deutschland das Sexualstraf- Strafe. recht in keiner Weise durch neuerliche „Schutzvor- Der § 182 Strafgesetzbuch, Verführung, verfolgt als schriften" verschärft wird. Denn eine Schutzalters- Antragsdelikt den von einem Mann über 18 Jahren grenze von 16 Jahren und eine geschlechtsneutrale mit einem Mädchen zwischen 14 und 16 Jahren voll- Jugendschutzvorschrift würden die Kriminalisierung zogenen Geschlechtsverkehr. sowohl der Sexualkontakte lesbischer als auch hete- rosexueller Jugendlicher zur Folge haben. Während in der Ex-DDR Homo- und Heterosexua- lität gleichgestellt sowie straffrei sind und laut Eini- (Zuruf von der FDP: Die Rednerin spielt den gungsvertrag — Anlage 1 — die §§, 175 und 182 keine Minutenwalzer in 45 Sekunden!) Gültigkeit im Beitrittsgebiet erlangen gilt weiterhin die im § 149 Strafgesetzbuch der DDR festgeschrie- - Da wissenschaftlich erwiesen ist, daß eine Verfüh- bene Jugendschutzvorschrift. Das heißt, in der ehe- rung weder zur Heterosexualität noch zu Homosexu- maligen DDR werden unter bestimmten Bedingungen alität möglich ist, müssen jeder weiblichen und jedem noch immer Geschlechtsverkehr bzw. geschlechtsver- männlichen Jugendlichen vom Gesetzgeber die Be- 3450 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Dr. Barbara Höll dingungen für die Selbstbestimmung der sexuellen Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf: Orientierung garantiert werden. Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ (Zuruf von der FDP: Da kommt die Stenogra- Linke Liste Einsetzung eines Untersuchungs- phin nicht mit!) ausschusses Die Erprobung der eigenen Sexualität muß für Ju- (Stasi-Unterlagen) gendliche unbelastet von der Befürchtung stattfinden, — Drucksache 12/881 in Strafverfahren verwickelt oder zu Aussagen gegen die Sexualpartnerin bzw. den Sexualpartner gezwun- —Überweisungsvorschlag : gen werden zu können. Innenausschuß Zugleich erweist sich in der Praxis, daß 14jährige Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünf- Jugendliche ihr sexuelles Objekt bewußt konturiert Minuten-Runde vereinbart worden. Aber es ist auch haben und in der Lage sind, eigene sexuelle Interes- vereinbart worden, daß die Reden zu Protokoll gege- sen zu artikulieren. ben werden können. Dies ist, soweit ich informiert worden bin, inzwischen geschehen. Sind Sie mit der (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Das ist schon viel Abweichung von der Geschäftsordnung einverstan- länger als fünf Minuten!) den? — Dies ist der Fall. Es ist mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen.*) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin, Sie Es wird vorgeschlagen, den Antrag auf Drucksache haben Ihre Redezeit um eine Minute überzogen. We- 12/881 an den Innenausschuß zu überweisen. Gibt es gen fünf Minuten habe ich das erlaubt. Aber jetzt anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die wäre eigentlich der Anlaß, den Satz zu Ende zu brin- Überweisung ist so beschlossen. gen und aufzuhören. (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ Ich darf Sie nun aufklären, warum die Drucksache CSU]: Das ist doch unappetitlich!) 12/1108 zusätzlich an den Sportausschuß überwiesen worden ist. Es geht hier auch um Sportboote und die Besteuerung von Sportbooten. Insoweit ist der Sport- Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Jugendliche ausschuß zu Recht einbezogen worden. Das nur, da- weisen heute, ausgehend von ihrer Lebensrealität, mit keine Unklarheiten auftauchen. jegliche neue Sexualstrafvorschrift als weltfremd zu- (Zustimmung bei der CDU/CSU und der rück. SPD) (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/- CSU]: Das ist doch Verbalpornographie!) Außerdem erteile ich dem Kollegen Dr. Kurt Faltl- hauser in Abwesenheit einen Ordnungsruf, weil er Ich danke Ihnen. den Kollegen B riefs als den übelsten und dümmsten (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Polemiker des Bundestags bezeichnet hat. Dies ist Abgeordneten der SPD) unparlamentarisch. Wir sind damit am Ende unserer heutigen Tages- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- ordnung. dungen liegen mir nicht vor. Alle anderen Reden sind Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- zu Protokoll gegeben worden. destages auf Freitag, den 20. September 1991, 9 Uhr Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzent- ein und schließe damit die Sitzung. Gute Nacht! wurf auf Drucksache 12/850 an den Rechtsausschuß zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? — (Schluß der Sitzung: 20.52 Uhr) Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlos- sen. *) Anlage 9 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3451'

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt t Abgeordneter) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Michels, Meinolf CDU/CSU 19. 09. 91* entschuldigt bis Abgeordnete(r) Dr. Möller, Franz CDU/CSU 19. 09. 91 einschließlich Molnar, Thomas CDU/CSU 19. 09. 91 Antretter, Robe rt SPD 19. 09. 91 * Mosdorf, Siegmar SPD 19. 09. 91 Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 19. 09. 91 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 19. 09. 91 * Bindig, Rudolf SPD 19. 09. 91* Nitsch, Johannes CDU/CSU 19. 09. 91 Blunck, Lieselott SPD 19. 09. 91 ' Nolte, Claudia CDU/CSU 19. 09. 91 Böhm (Melsungen), CDU/CSU 19. 09. 91* Opel, Manfred SPD 19. 09. 91** Wilfried Dr. Pfennig, Gero CDU/CSU 19. 09. 91* Börnsen (Ritterhude), SPD 19. 09. 91 Pfuhl, Albert SPD 19. 09. 91 * Arne Dr. Pohler, Hermann CDU/CSU 19. 09. 91 Brandt, Willy SPD 19. 09. 91 Priebus, Rosemarie CDU/CSU 19. 09. 91 Dr. Brecht, Eberhard SPD 19. 09. 91* Dr. Probst, Albe rt CDU/CSU 19. 09. 91 * Büchler (Hof), Hans SPD 19. 09. 91* Reddemann, Gerhard CDU/CSU 19. 09. 91* Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 19. 09. 91* Reimann, Manfred SPD 19. 09. 91* Bulmahn, Edelgard SPD 19. 09. 91 Rempe, Walter SPD 19. 09. 91 Buwitt, Dankward CDU/CSU 19. 09. 91* von Renesse, Margot SPD 19. 09. 91 Daubertshäuser, Klaus SPD 19. 09. 91 Sauer (Salzgitter), Helmut CDU/CSU 19. 09. 91 Ehlers, Wolfgang CDU/CSU 19. 09. 91 Schartz (Trier), Günther CDU/CSU 19. 09. 91 Dr. Ehmke (Bonn), Horst SPD 19. 09. 91 von Schmude, Michael CDU/CSU Dr. Feige, Klaus-Dieter Bündnis 19. 09. 91 19. 09. 91* 90/GRÜNE Dr. Schulte (Schwäbisch CDU/CSU 19. 09. 91 Feilcke, Jochen CDU/CSU 19. 09. 91* Gmünd), Dieter Dr. Feldmann, Olaf FDP 19. 09. 91* Sielaff, Horst SPD 19. 09. 91 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 19. 09. 91* Skowron, Werner H. CDU/CSU 19. 09. 91 Gansel, Norbert SPD 19. 09. 91 Dr. Soell, Hartmut SPD 19. 09. 91* Gibtner, Horst CDU/CSU 19. 09. 91* Dr. Sperling, Dietrich SPD 19. 09. 91 Großmann, Achim SPD 19. 09. 91 Dr. Frhr. von Stetten, CDU/CSU 19. 09. 91 Günther (Plauen), FDP 19. 09. 91 Wolfgang Joachim Dr. von Teichman und FDP 19. 09. 91 * Dr. Gysi, Gregor PDS 19. 09. 91 Logischen, Cornelie Haack (Extertal), SPD 19. 09. 91 Terborg, Margitta SPD 19. 09. 91* Karl-Hermann Vogel (Ennepetal), CDU/CSU 19. 09. 91* Heise, Manfred Harald CDU/CSU 19. 09. 91 Friedrich Heinrich Vosen, Josef SPD 19. 09. 91 Hilsberg, Stephan SPD 19. 09. 91 Wiechatzek, Gabriele CDU/CSU 19. 09. 91 Dr. Holtz, Uwe SPD 19. 09. 91* Zierer, Benno CDU/CSU 19. 09. 91 * Iwersen, Gabriele SPD 19. 09. 91 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Junghanns, Ulrich CDU/CSU 19. 09. 91* lung des Europarates Kittelmann, Peter CDU/CSU 19. 09. 91* ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versamm- Koltzsch, Rolf SPD 19. 09. 91 lung Koschyk, Hartmut CDU/CSU 19. 09. 91 Krause (Dessau), CDU/CSU 19. 09. 91 Wolfgang Anlage 2 Kubicki, Wolfgang FDP 19. 09. 91 Zu Protokoll gegebene Reden Lenzer, Christian CDU/CSU 19. 09. 91 ' zu Tagesordnungspunkt 9 Dr. Leonhard-Schmid, SPD 19. 09. 91 (Sammelübersicht 13 zu Petitionen Elke Abfallbeseitigung -) Lintner, Eduard CDU/CSU 19. 09. 91 Lühr, Uwe FDP 19. 09. 91 Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Technik und In- Lummer, Heinrich CDU/CSU 19. 09. 91 dustrie dienen dem Menschen, aber ihre Entfaltung Dr. Luther, Michael CDU/CSU 19. 09. 91 verbindet sich auch mit bedrohlichen Nebenwirkun- Männle, Ursula CDU/CSU 19. 09. 91 gen. Die globalen Umweltgefahren zeigen uns die Marten, Günter CDU/CSU 19. 09. 91* - Ambivalenz des Fortschritts, das Janusgesicht der Mascher, Ulrike SPD 19. 09. 91* Technik. Dr. Meyer zu Bentrup, CDU/CSU 19. 09. 91* Die Bürger spüren die schleichende Umweltzerstö- Reinhard rung. Es ist gut, wenn sie sich in Initiativen zusam- 3452' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 menschließen, um die Politiker zu zwingen, sich mit schaft, wir sind auf dem besten Weg zu einer öko- den Umweltproblemen zu beschäftigen. Bürger aus sozialen Marktwirtschaft. Kassel lenken unsere Aufmerksamkeit auf einen Teil Die Bürgerinitiative verweist auf § 14 des Abfallge- der Bedrohung, den lawinenartig ansteigenden Haus- setzes, der die Bundesregierung zum Erlaß von müll. Rechtsverordnungen zur Durchsetzung der Grundfor- Seit den 50er Jahren hat sich der Umfang des Haus- derungen Abfallvermeidung, Abfallverwertung und mülls verfünffacht. Er beträgt in der Bundesrepublik ordnungsgemäße Abfallentsorgung ermächtigt. Er zur Zeit etwa 14 Millionen Tonnen im Jahr. Ein Blick verpflichtet die Bundesregierung jedoch auch, der in unsere Mülltonne genügt, um die Ursache des Wirtschaft die Möglichkeit zu geben, vor dem Erlaß Müllberges auszumachen: Verpackungen aller Art. von Verordnungen die wesentlichen Ziele der Müll- Etwa die Hälfte des Umfangs unseres Hausmülls be- diät freiwillig zu erreichen. steht aus Kartons, Flaschen, Dosen, Kunststoffbeuteln, Die erste Verordnung auf der Grundlage des Abfall- Styropor-Füllseln usw. gesetzes ist die Altölverordnung, die am 1. November 1960 wurden bei uns 1,8 Millionen Tonnen Verpak- 1987 in Kraft trat. Sie trägt entscheidend dazu bei, daß kungen hergestellt, 1970 waren es bereits 10 Millio- Altöle nicht mehr in den Hausmüll gelangen oder mit nen. Marketingstrategien führten zu einer Funktions- Abfällen aus Industrie und Gewerbe vermischt wer- änderung von Verpackungen: von der Schutzaufgabe den. In keinem anderen EG-Staat gibt es eine ver- zum Werbeträger. 1990 erzielte die Verpackungsin- gleichbare Regelung. dustrie einen Jahresumsatz von 48 Milliarden DM. Am 1. Januar 1990 trat ferner eine Verordnung der Bundesregierung zur Rücknahme und Verwertung Mit jeder Verpackung steigen der Energiever- gebrauchter halogenierter Lösemittel in Kraft. Damit brauch und die Umweltbelastung. Mit der Energie, wurde die Praxis beendet, diese Stoffe auf See zu ver- die z. B. für die Herstellung von Kunststoff-Joghurtbe- brennen. chern in Deutschland jährlich verbraucht wird, könn- ten etwa 10 000 Einfamilienhäuser ein Jahr lang be- Am 21. Juni 1991 trat die Verpackungsordnung in heizt werden. Kraft, die das wesentliche Anliegen der Bürgerinitia- tive aus Kassel nach meiner Überzeugung berück- Der gesamte EG-Müllberg beträgt eine Milliarde sichtigt. Industrie und Handel wird die Rücknahme Tonnen im Jahr. Ein Viertel davon kommt aus und Wiederverwendung bzw. stoffliche Verwertung Deutschland. Viele Deponien sind randvoll oder wer- von Verpackungen als Pflicht auferlegt. Der Verbrau- den es in zwei oder drei Jahren sein. Die Bürger weh- cher hat das Recht, Verpackungen dem Laden zu- ren sich gegen neue Müllhalden, oft auch gegen die rückzugeben. Ab 1. Dezember 1991 müssen Indust rie Müllverbrennung. Der Müllexport ist heute ebenfalls und Handel Transportverpackungen zurücknehmen, keine Lösung mehr. Werden wir also am Müll erstik- ab 1. April 1992 Umverpackungen und ab 1. Januar ken? 1993 Verkaufsverpackungen. Diese müssen im Laden Es sieht fast so aus. Im Jahr 2030 werden 10 Mil- oder in dessen unmittelbarer Nähe zurückgenommen liarden Menschen auf der Welt leben. Fast alle wün- werden, um anschließend einer Verwertung zuge- schen sich einen ähnlichen Lebensstandard, wie ihn führt zu werden. Als zusätzlichen Anreiz für den Ver- die Bewohner des reichen Nordens und Westens un- braucher, Verpackungen wirklich zurückzugeben, serer Erde kennen. Würden sie pro Kopf so viel Müll wird ebenfalls ab dem 1. Januar 1993 zusätzlich ein produzieren wie heute ein Bürger der Vereinigten Pflichtpfand von 50 Pfennig für Wasch- und Reini- Staaten von Amerika, so würde das jährlich 400 Mil- gungsmittel- und für alle Einweg-Getränkeverpak- liarden Tonnen festen Abfall bedeuten, ausreichend, kungen erhoben. Ein generelles Verbot von Einweg- um das Saarland mehr als 60 Meter tief zu begra- flaschen wäre nicht EG-vertragsgemäß, da durch ein ben. solches Verbot ausländische Anbieter benachteiligt würden, indem diesen ein unmittelbares Handels- Es gibt deshalb eine große strategische Aufgabe: hemmnis aufgezwungen würde. Der Einweg ist auch Wir müssen das Wirtschaftswachstum vom Ressour- ohne Verbot ein Weg, dessen Ende in Sicht ist. Statt cenverbrauch abkoppeln. Wir brauchen eine Mülldiät „ex und hopp" nun „ex und stop". — durch Abfallvermeidung, Abfallverwertung und ordnungsgemäße Abfallentsorgung. Es ist zu begrüßen, daß die Bundesregierung in er- ster Linie nicht mit Verboten und Geboten ihre Um- Was die Verwirklichung dieser Zielsetzung angeht, weltziele verfolgt, sondern mit Anreizen bzw. finan- so ist die Bundesrepublik Deutschland weltweit Spit- ziellen Zusatzbelastungen. Dadurch wird ein Steue- zenreiter. Die Umweltminister und rungseffekt ausgeübt, der der Wirtschaft die Möglich- — noch mehr — Klaus Töpfer haben innerhalb weni- keit zur Anpassung vor allem durch die Entwicklung ger Jahre einen Rechtsrahmen geschaffen, der trotz neuer Produkte, Produktionsverfahren und Entsor- des anhaltenden Wirtschaftswachstums schon in we- gungstechniken gibt. Die Verpackungsverordnung nigen Jahren zu einer deutlichen Entschärfung des gibt der Wirtschaft die Möglichkeit, durch verbrau- Müllproblems führen wird. Frances Cairncross von cherfreundliche Erfassungssysteme die Rücknahme- der britischen Zeitschrift „The Economist" führt dazu und Pfandpflicht am Laden zu ersetzen. Allerdings aus: „Andere europäische Länder rennen hinter muß gewährleistet sein, daß die Zielsetzung der Ver- Deutschland her. " In der Tat: Qualität und Tempo der- packungsverordnung auch wirklich erfüllt wird. Des- rechtlichen Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen halb hat die Bundesregierung festgelegt, daß ab 1. Ja- zum Thema Abfall sind beeindruckend. Es entsteht nuar 1993 bis zum 30. Juni 1995 jährlich mindestens ein völlig neuer Ordnungsrahmen für unsere Wirt 50 % aller Verpackungen durch ein solches System Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3453 erfaßt werden müssen. Danach beträgt die Quote min- seinem Vorhaben unterstützen, die Rücknahmepflicht destens 80 %, und zwar nicht mehr auf die Verpak- für Altautos anzustreben. Sie ist als Teil einer neuen kungsmenge insgesamt, sondern auf jeden einzelnen Produktverantwortung von großer Bedeutung. Die Rohstoff bezogen. Ab 1. Juli 1995 müssen bestimmte Produktion von Gütern, ihre Verteilung, ihr Ge- und Sortierungsquoten erreicht werden: Für Glas, Weiß- Verbrauch sowie die stoffliche Verwertung oder um- blech und Aluminium betragen sie 90 %, für die übri- weltverträgliche Entsorgung sind als geschlossenes gen Verpackungen jeweils 80 %. Alle aussortierten System zu verstehen. Wir müssen lernen, vom Abfall Wertstoffe müssen stofflich verwertet werden. Die her zu denken, also bereits beim Produzieren ans Ent- Verbrennung von Verpackungswertstoffen wird aus- sorgen zu denken. Volkswagen ist das erste deutsche geschlossen. Ferner ist festgelegt, daß der Mehrweg- Unternehmen, das jetzt freiwillig angekündigt hat, anteil bei Getränkeverpackungen nicht unter den Altautos zurückzunehmen. Auch die Berufung des heutigen Anteil von 72 % sinken darf. Umweltexperten Professor Steger in den Vorstand von Um diese Anforderungen zu erreichen, muß die VW zeigt den Bewußtseinswandel in unserer Wirt- Wirtschaft große Anstrengungen auf sich nehmen. schaft. Immer mehr Unternehmen erkennen, daß sie Von Flensburg bis Passau müssen Holsysteme organi- sich Marktvorteile verschaffen können, wenn sie um- siert werden oder flächendeckend Sammelcontainer weltbewußt handeln. In immer mehr Unternehmen aufgestellt werden. Über 400 Firmen haben sich zum werden heute bereits bei der Planung eines Produktes „Dualen System Deutschland (DSD) " zusammenge- Vermeidungs- und Verwertungsaspekte berücksich- schlossen, um dieses gewaltige Verfahren zu organi- tigt, wird nach Möglichkeiten zur Energieeinsparung sieren. Ihr Ziel ist es, einen „Meilenstein in der Ge- gesucht und wird der Schadstoffausstoß reduziert. schichte unserer Industriegesellschaft" zu setzen. Sie Ökobilanzen und Stoffkreisläufe setzen sich durch. will „Abfallvermeidung ohne Verarmung der Sorti- Solch ökologisches Verantwortungsbewußtsein zu mentsvielfalt, ohne Gängelung der Verbraucher, ohne fördern und verantwortungsloses Handeln gegenüber Diskriminierung von kleinen und mittleren Handels- der Umwelt zu erschweren — darin liegt ein besserer unternehmen und ohne Einrichtung von Handelsbar- Weg als in der Verbotsmethode. Ökologie kann letzt- rieren im europäischen Markt" organisieren. Die Teil- lich nur mit Hilfe der Ökonomie wirklich durchgesetzt nehmer am dualen System erhalten das P rivileg, ihre werden. Wir brauchen die große Kraft und Phantasie Verpackungen mit einem grünen Punkt zu kenn- von Wirtschaft und Technik, um die Umweltgefahren zeichnen. Damit wird dem Verbraucher signalisiert, unserer Zeit zu bannen. Ich unterstütze deshalb die welche Produkte von welchen Unternehmen sich an Bundesregierung nachhaltig bei ihrem Vorhaben, dem umweltfreundlichen dualen System beteiligen. durch eine Abfallabgabe im Rahmen eines Abfallab- Wer nicht mitmacht, den kann der Verbraucher be- gabengesetzes weitere Anreize zur Abfallvermeidung strafen. Er läßt die Ware im Regal liegen. zu schaffen und Eigeninitiative und Innovationskraft Die Einwohner von Potsdam werden die Pioniere der Wirtschaft zu stärken. Die von der Koalition ge- beim Einstieg in die Verwertungsgesellschaft sein. plante Abfallabgabe ist zugleich umweltfreundlich Hier sollen erste Erfahrungen mit dem Recyclingsy- und wirtschaftsverträglich. Sie dient nicht dazu, dem stem gesammelt werden. Insgesamt werden für die Staat eine neue Einnahmequelle zu erschließen, son- Stadt 300 Stationen mit je 5 und 300 Kilogramm fas- dern fließt den Bundesländern zur Förderung von senden Containern für Glas und Papier sowie für Me- Vermeidungs- und Verwertungsstrategien sowie der tall, Kunststoff und Verbundstoffe bereitstehen. Wir Altlastensanierung zu. werden ein Volk von Vorsortierern und Sammlern. Der Einwand, daß die Konkurrenzfähigkeit deut- Den Rahmen für freiwillige Vereinbarungen zu set- scher Produkte auf dem Weltmarkt unter zusätzlichen zen und damit der Wirtschaft Spielräume für eigene Belastungen nicht leiden dürfe, ist ernst zu nehmen. Entscheidungen und branchengerechte Anpassung Es ist deshalb darauf hinzuwirken, daß die weitgehen- zu ermöglichen hat die Politik der Koalition auch in den deutschen Bestimmungen in ganz Europa und anderen Bereichen geprägt. Am 9. September 1989 schließlich in der ganzen industrialisierten Welt kam es zu einer freiwilligen Selbstbindung der Batte- schrittweise zur Anwendung gebracht werden. In ei- rie-Industrie und des Handels zur Reduzierung des ner Übergangszeit mag es gewisse Nachteile für die Quecksilbergehalts in Batterien sowie zur Zurück- Wirtschaft geben. Auf mittlere und erst recht auf lange nahme und Verwertung schadstoffhaltiger Batterien. Sicht wird sich aber aus unserer konsequenten Um- Diese Vereinbarung bewirkte eine drastische Verrin- weltrahmenpolitik ein Wettbewerbsvorteil entwik- gerung der Schwermetallgehalte bereits an der keln. Unsere Unternehmen werden durch den Rah- „Quelle" und hat wegen der Rückgabemöglichkeit men gezwungen, Energie zu sparen und neue Tech- bereits jetzt zu einer deutlichen Senkung des Queck- nologien zu entwickeln. Damit werden sie schon bald silbereintrags in den Hausmüll geführt. Es gibt wei- an der Spitze stehen, umweltfreundliche Technolo- tere ähnliche Vereinbarungen, z. B. zwischen dem gien werden überall auf der Welt verlangt, ein riesiger Bundesumweltminister und dem Verband der chemi- Exportmarkt. Bereits heute sind durch den Umwelt- schen Industrie vom 30. Mai 1990. Darin haben sich schutz Millionen neuer Arbeitsplätze entstanden, z. B. die FCKW-Hersteller verpflichtet, die bei der Entsor- in den Vereinigten Staaten arbeiten heute bereits gung von Kühlschränken und Klimageräten anf al- mehr Menschen in der Wiederverwertung als im lende FCKW-haltige Kältehöhle zurückzunehmen, Kohlebergbau. Hanskarl Willms vom BDE — Bundes- aufzuarbeiten oder einer ordnungsgemäßen Entsor- verband der Deutschen Entsorgungswirtschaft — hat gung zuzuführen. darauf hingewiesen, daß allein in der Entsorgungsin- Für die nahe Zukunft sind weitere Verordnungen dustrie heute 1000 Unternehmen mit 100 000 Be- geplant. Wir alle sollten Bundesminister Töpfer bei schäftigten arbeiten, die etwa 14 Milliarden DM im 3454 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 laufenden Jahr erwirtschaften. Mit seiner Verpak- -dose gegenüber dem Mehrwegbehälter zu ver- kungsverordnung habe Klaus Töpfer eine „Investi- teuern; tionslawine" losgetreten. Allein für die Aufbereitung — klare Kennzeichnungsvorschriften zur Information der gebrauchten Verpackungen aus Aluminium müß- des Verbrauchers; ten 5 neue Anlagen errichtet werden. Diejenigen Un- ternehmer sind gut beraten, die die neuen großen — flächendeckenden Ausbau vorhandener Recy- Märkte für Umwelttechnologien frühzeitig erkennen clingsysteme; und Konsequenzen daraus ziehen. — Verbot schadstoffhaltiger Verpackungsmateri- Man kann immer argumentieren, all diese Anstren- alien, beispielsweise aus PVC. gungen und Erfolge reichten noch nicht. Aber es ist Demgegenüber ist das Duale System ein teurer Um- leichter, über Umweltschutz zu reden und großartige weg und spart keine einzige Verpackung ein. Forderungen aufzustellen, als sie in der Praxis durch- zusetzen. Daß es auch andere Parteien damit nicht Die Ursachen liegen auf der Hand: immer leicht haben, beweist ein Flugblatt der Arbeits- — Es erzeugt keinen Vermeidungsdruck. gemeinschaft Giftmüll im „Landesverband Bürgerini- tiativen Umweltschutz Niedersachsen e. V. ". Dort — Es begünstigt die Einwegbehälter, insbesondere wird der Entwurf des niedersächsischen Abf allgeset- im Getränkebereich, weil im Gegensatz zur Mehr- zes scharf kritisiert und festgestellt: „Die beabsich- wegflasche kein Pfand dafür bezahlt werden tigte Novellierung des Abfallgesetzes des Bundes muß. geht weit über den von der Koalition SPD/Die Grünen — Es wird dazu führen, daß das Mehrwegsystem wei- in Niedersachsen vorgelegten Entwurf hinaus." Ein ter schrumpft, statt gestärkt zu werden. besseres Kompliment für ihre Mülldiät-Politik von un- verdächtiger Seite kann sich die CDU/CSU- und FDP- — Es wiegt den Verbraucher in der Illusion, er ver- geführte Regierung nicht vorstellen! halte sich beim Kauf von Waren mit dem grünen Punkt umweltfreundlich, während er in Wahrheit Im Jahr 2000 soll in Hannover die Weltausstellung die Abfallberge stabilisiert oder sogar noch er- unter dem Motto „Mensch, Natur, Technik" stattfin- höht. den. Sie soll zeigen, wie Natur und Technik, wie Öko- logie und Ökonomie versöhnt werden können. Sie — Es erfordert ein doppeltes Entsorgungssystem: Ne- könnte als Kristallisationspunkt für das Konzept der ben dem kommunalen Mülleimer müßte in Zu- ökosozialen Marktwirtschaft im internationalen Maß- kunft noch der Industriemülleimer stehen. stab dienen. Umweltschutz gegen Technik und Wirt- — Es bringt bestehende kommunale Bringsysteme schaft zu betreiben, dieser Versuch wird scheitern. Es wie Containersammelanlagen in Gefahr. geht um wirtschaftsverträglichen Umweltschutz, — Die Entsorgungswege des Dualen Systems sind denn nur der ist bei seiner Konkretisierung wirklich nicht kontrollierbar: Was wird wirklich verwertet, mehrheitsfähig. was wandert in die Verbrennung, was wird expor- tiert und zu welchem Zweck? (Kassel) (SPD): Den Petenten, rund 250 Horst Peter — Erste Erfahrungen mit dem Dualen System bestä- Bürgerinnen und Bürgern aus Kassel, die sich bei der tigen diese Befürchtungen. Vermeidung von Abfällen selbst engagieren, geht es darum, zur Verringerung des Abfallaufkommens Die Verpackungsverordnung vom 12. Juni 1991 ge- Maßnahmen nach § 14 Abfallgesetz anzuregen, ins- rät im Zusammenwirken mit der Dualen Abfallwirt- besondere die Abfallmenge durch Verbote, beispiels- schaft zur Mogelpackung. So bleibt die Petition der weise von Einwegpackungen, schon beim Hersteller Bürgerinnen und Bürger aus Kassel weiter aktuell und zu verringern. wird durch die vielfältige K ritik aus Verbraucher- und Umweltverbänden, aus Ländern und Gemeinden ge- Die SPD-Fraktion macht sich das Anliegen der Pe- stützt. Insbesondere sei auf die vielfältige K ritik aus tenten zu eigen und fordert den Deutschen Bundestag den neuen Bundesländern hingewiesen, wo durch das auf, die Petition zur Berücksichtigung an die Bundes- Sero-System ein entwickeltes Bewußtsein für die Pro- regierung zu überweisen. Wir tun das deshalb, weil blematik der Abfallvermeidung und -verwertung ent- nach unserer Auffassung — auch nach den Verbesse- standen ist. So wurde der Arbeitsgruppe Petitionen rungen durch den Bundesrat — die Verordnung über während einer Delegationsreise nach Halle in dieser die Vermeidung von Verpackungsabfällen mit dem Woche eindrucksvoll vermittelt, wie kontraproduktiv Konzept einer Dualen Abfallwirtschaft den Erforder- sich die gegenwärtige Linie des Bundesumweltmini- nissen der Abfallvermeidung nicht gerecht wird. sters für Gemeinden auswirkt, die Abfallvermeidung Wir bleiben dabei: Da über die Hälfte des Haus- und -verwertung zum Herzstück ihres Abfallkonzep- mülls und ein beträchtlicher Teil des Gewerbemülls tes machen wollen. bereits aus Verpackungsmaterialien bestehen, muß Deshalb bitte ich Sie nochmals, unseren Berück- das Ziel sein, überflüssige Verpackungen gar nicht sichtigungsantrag anzunehmen. mehr auf den Markt zu bringen. Deshalb fordern wir im Einklang mit den Petenten: (FDP): Die Petition der Bürgerin- Verbot überflüssiger Verpackungen, insbesondere Birgit Homburger — nen und Bürger aus Kassel an den Bundestag, die wir aus Kunststoff; heute zu besprechen haben, fordert Verbote — z. B. — Erhebung einer Einwegabgabe — soweit Verbote von Einwegverpackungen —, die zur Vermeidung nicht möglich sind — , um die Einwegflasche oder von Verpackungsmüll schon beim Hersteller beitra- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3455* gen sollen. Die Petenten fordern den Bundestag und gestaltet sein, daß sie wiederbefüllt werden können; die Bundesregierung auf, in ihrem Sinne auf der drittens, Garantie der stofflichen Wiederverwertung. Grundlage des § 14 des Abfallgesetzes zu handeln. Darüberhinaus fordert die FDP: erstens, umweltge- fährdende Produkte schrittweise aus dem Verkehr zu In der Tat bietet der § 14 des Abfallgesetzes eine ziehen; zweites, nur Verpackungen auf den Markt zu Palette von Handlungsmöglichkeiten, wobei Verbote bringen, die mehrfach wiede rverwendbar sind; drit- nur eine Möglichkeit unter vielen darstellen. Die ent- tens, Produkte von vornherein aus gleichen Stoffen sprechende Stelle des § 14 Abs. 1 Ñr. 4 lautet: herzustellen; viertens, Verpackungen und Ver- Die Bundesregierung wird ermächtigt, ... zu be- brauchsgüter nach Art der Verwendbarkeit zu kenn- stimmen, daß bestimmte Erzeugnisse nur in be- zeichnen; fünftens, Konzeptionen zur Wiederverwer- stimmter Beschaffenheit, für bestimmte Verwen- tung (Mehrwegsystem) zu unterstützen. dungen, bei denen eine ordnungsgemäße Entsor- gung der anfallenden Abfälle gewährleistet ist, Der zeitliche Rahmen der neuen Verpackungsver- oder überhaupt nicht in den Verkehr gebracht ordnung sieht folgendermaßen aus: werden dürfen, wenn bei ihrer Entsorgung die Erstens. Ab dem 1. Dezember 1991 müssen Erzeu- Freisetzung schädlicher Stoffe nicht oder nur mit ger und Vertreiber Transportverpackungen zurück- unverhältnismäßig hohem Aufwand verhindert nehmen und verwerten. werden könnte. Zweitens. Ab dem 1. April 1992 hat der Käufer das An der notwendigen Reduzierung des heutigen Ab- Recht, Umverpackungen im Laden zu lassen. fallaufkommens besteht kein Zweifel, da der Depo- nieraum in der BRD nach derzeitigem Kenntnisstand Drittens. Ab dem 1. Januar 1993 muß der Handel noch etwa zwei bis fünf Jahre ausreicht. Am Haus- Verkaufsverpackungen zurücknehmen und verwer- müllaufkommen von jährlich 14 Millionen Tonnen ten. — 1987: 20 Millionen Tonnen — sind die Verpackun- gen mit einem Mengenanteil von 28 % und volumen- Viertens. Ab dem 1. Januar 1993 wird ein Pflicht- mäßig zur Hälfte beteiligt. pfand von 0,50 DM bei Getränkeeinwegverpackun- gen, Verpackungen für Wasch- und Reinigungsmittel Im Bereich der Abfallwirtschaft ist die zu entsor- und Verpackungen für Dispersionsfarben einge- gende Hausmüllmenge u. a. nur durch eine umwelt- führt. verträglichere Gestaltung und Handhabung der Ver- packung zu senken. Primär von Bedeutung ist die Die Rücknahme- und Pfandpflichten der neuen Vermeidung von Verpackungsabfällen. In diesem Verordnung führten schon im Vorfeld der Verhand- Ziel sieht die FDP sich mit den Petenten einig. Dar- lungen zu heftigen Protesten, besonders des Einzel- über hinaus kommen der verwertungsgerechten Ge- handels. Deshalb haben sich bereits im vergangenen staltung und der Wiederverwertbarkeit große Bedeu- Jahr Teile der deutschen Wirtschaft zu der Dualen tung zu. System Deutschland GmbH (DSD) zusammenge- schlossen, um über die Errichtung eines zweiten Ab- Schon lange hat die FDP in ihrem ökologischen Pro- fallsystems die für den Einzelhandel unangenehmen gramm festgelegt, daß die Zielhierarchie „Vermei- Folgen zu vermeiden. Auf der Basis von privatwirt- dung bis zu einem Mindestmaß, umweltfreundliche schaftlicher Organisation sollen die in den Umlauf stoffliche Verwertung als Rohstoff- und Energieein- gebrachten Verpackungen vollständig abgenommen sparungsmöglichkeit sowie Emissionsreduzierung und dem Recycling zugeführt werden. Die Verord- gegenüber der thermischen Verwertung" klar defi- nung sieht die Einhaltung bestimmter Sortierungs- niert sein muß. quoten als Bedingung der Alternativlösung vor: Erfas- Für diese Legislaturperiode ist aufgrund der Erfah- sung von 50 % aller Verpackungen bis zum 30. Juni rungen, besonders mit § 14 des Abfallgesetzes, seit 1995 und die Erfassung von 80 % jedes Rohstoffs der letzten Novellierung des Abfallgesetzes 1986 eine — Glas, Papier, Metalle, Kunststoffe — ab dem 1. Ja- umfassende Novellierung vorgesehen. Schwerpunkt nuar 1995. dieses Gesetzgebungsvorhabens ist u. a., ein vorran- Es ist traurig, daß die Unternehmen erst dann bereit giges Vermeidungsgebot zur Rückführung des Ver- waren, sich umweltgerechter zu verhalten, als der packungsübermaßes und zur Stabilisierung und Ent- Umweltminister mit der Einführung einer Verpak- wicklung von Mehrwegsystemen sowie eine Rück- kungsverordnung drohte. Trotz des Angebots der gabe- und Pfandpflicht und ein Verbot besonders pro- DSD GmbH ist die Verpackungsverordnung gleich- blematischer Stoffe und Produkte festzulegen. wohl notwendig. Sie gibt die Mindestbedingungen Die FDP begrüßt die Verpackungsverordnung des vor, wenn das System der Unternehmen, die Duale BMU und die von der Wirtschaft eingeleiteten Maß- Abfallwirtschaft, nicht so, wie erhofft, funktionieren nahmen zur Einführung p rivater Entsorgungssy- sollte. Wir müssen weiterhin die Entwicklung des steme. Dualen Systems abwarten und kritisch begleiten. Die Verpackungsverordnung sieht vor, daß auf Sei- Allerdings erhofft sich die FDP erhebliche Len- ten der Anbieter zur Vermeidung und Verringerung kungswirkung hinsichtlich der Vermeidung von Ver- des heutigen Verpackungsaufkommens u. a. folgende packungsabfällen davon, daß die Produzenten nun Maßnahmen zu treffen sind, die von der FDP schon selber die Entsorgung des Verpackungsabfalls über- lange gefordert wurden: erstens, Volumen- und Ge- nehmen müssen, wodurch ihnen erhebliche Kosten wichtsbeschränkungen auf das zur Vermarktung not- entstehen. Sie werden gezwungen, darüber nachzu- wendige Maß; zweitens, Verpackungen müssen so denken, ob nicht durch Weglassen überflüssiger Ver- 3456* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 packung bzw. entsprechender umweltfreundlicher Umweltbeeinträchtigungen werden nicht ver- Gestaltung diese Kosten verhindert werden können. mindert. Weitere Möglichkeiten zur Abfallverringerung in Drittens schließlich das Ökoinstitut Freiburg: bezug auf Verpackungen bietet das neue Abfallabga- Die Zustimmung der Wirtschaft wurde erkauft mit bengesetz. Dabei sollen primär die Verursacher von zahlreichen Zugeständnissen, die die Verpak- Abfällen zur Verantwortung gezogen werden. Die Ko- kungsverordnung als stumpfes, inadäquates, ja sten der Abfallentsorgung sind unmittelbar vom Ab- sogar kontraproduktives Mittel erscheinen las- fallerzeuger selber zu tragen. Von der Abfallabgabe sen. werden auch im Bereich des Hausmülls vermeidungs- und verwertungsfördernde Lenkungseffekte erhofft. Dem ist nichts hinzuzufügen. Ziel der FDP ist es, eine Reduzierung des Müllauf- Was wir brauchen, ist nicht fragwürdiges Recycling, kommens und gleichzeitig eine Reduzierung der sondern der konsequente Aufbau und die konse- Schadstoffhaltigkeit zu erreichen. Die FDP ist der quente Förderung von Mehrwegsystemen. Hier kön- Meinung, daß das Ziel über marktwirtschaftliche nen wir uns den Forderungen des Bundesverbandes Steuerungsinstrumente besser erreicht werden kann „Das bessere Müllkonzept" nur anschließen: als über Verbote. Denn das geforderte generelle Ver- Festlegung von Mehrwegquoten, Verbot gefähr- bot der Einwegverpackung bedeutet einen zusätzli- licher Verpackungen wie PVC, Einführung einer chen Eingriff in bestehende wirtschaftliche Struktu- Verpackungsabgabe, die sich auf Produktion, ren und führt auf lange Sicht beim Verbraucher nicht Produktionsverfahren und Produktionsabfälle be- zum gewünschten umweltbewußten Handeln, wäh- zieht. rend unser Modell in der Lage ist, auch Umdenkpro- zesse zu fördern. Und schließlich: Setzen wir bei Produktion und beim Verbrauch auf langlebige, reparaturfreundliche und wiederverwertbare Produkte. Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Vernünftige Abfall- Abfall darf nicht zum reinen Wirtschaftsgut werden politik läßt sich auf einen kurzen Nenner bringen: — der beste Müll ist der, der gar nicht erst entsteht. Müll vermeiden und verwerten — statt vergraben und verbrennen. Angesichts der ungeheuren Müllflut und des immer knapper werdenden Deponieraums ist also der Müllvermeidung höchste Priorität einzuräumen. In der vorliegenden Petition werden Bundestag und Anlage 3 Bundesregierung aufgefordert, hierzu geeignete ge- setzgeberische Maßnahmen zu ergreifen. Dem kann Zu Protokoll gegebene Reden sich die PDS/Linke Liste im Bundestag nur anschlie- zu Tagesordnungspunkt 10 ßen. Es muß jedoch besonders betont werden, daß (Sammelübersicht 23 zu Petitionen Müllvermeidung schon beim Herstellen von Produk- — Verkehrstarife —) ten anfangen muß. Die Bundesregierung feiert die am 8. Mai 1991 im Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Die mit über Kabinett beschlossene Verpackungsverordnung und 100 000 Unterschriften unterstützte Sammeleingabe das daraus resultierende sogenannte duale System des Verkehrsclubs der Bundesrepublik Deutschland bereits als Erfolg. Doch in Richtung Müllvermeidung zur Einführung eines Halbpreis-Passes bei der Deut- ist nichts geschehen — im Gegenteil: Durch den schen Bundesbahn halte ich grundsätzlich für ein „Grünen Punkt" erhält die Getränkedose — und sie ist überlegenswertes Anliegen. Angesichts der ein- wohl das eindringlichste Symbol der Wegwerfgesell- schneidend veränderten verkehrspolitischen Situa- schaft — vermeintlich ökologische Weihen. Da nutzen tion in Deutschland und in Anbetracht des enorm ge- die vollmundigen Appelle Töpfers auf der „Entsorga" wachsenen und weiterhin anwachsenden Verkehrs ist wenig. Es bleibt wohl dabei, daß in der Verpackungs- eine Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die wirtschaft jährlich 100 000 Tonnen Aluminium einge- Schiene dringend erforderlich. Daher sollten wir für setzt werden — und das bei einem Aufwand von alle Überlegungen offen sein, die die Attraktivität der 14 000 Kilowattstunden Energie, die zur Herstellung umweltfreundlichen Bahn steigern könnten. einer Tonne Primäraluminium nötig sind. Die Zusammenlegung der Deutschen Bundesbahn Lassen Sie mich zur Kritik des dualen Systems noch mit der Deutschen Reichsbahn gibt eine gute Gele- drei kompetente Stimmen zitieren: genheit zur grundlegenden Umgestaltung des Tarif- systems. Die Umstellung des Tarifsystems muß dabei Erstens. Hubert Weinzierl, der Vorsitzende des auf die Wünsche der Kunden eingehen, aber natürlich BUND: auch die finanzielle Machbarkeit berücksichtigen. Im Das DSD ist der letzte Versuch der Verpackungs- Verkehrsausschuß des Deutschen Bundestages haben industrie, die Ex- und -hopp-Kultur ins nächste ja bereits entsprechende, umfassende Beratungen Jahrtausend zu retten. stattgefunden. Zweitens. Das Ökoinstitut Darmstadt: Der Einführung eines Halbpreis-Passes könnte bei - der Veränderung des Tarifsystems eine besondere Be- DSD ist lediglich die Umlenkung der Abfall deutung zukommen. Andererseits darf nicht überse- ströme von der öffentlichen Deponierung und hen werden, daß diese Vergünstigungen je nach Aus- Verbrennung in p rivate Anlagen der Industrie. gestaltung zu teilweise erheblichen Mindereinnah- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3457* men bei der Deutschen Bundesbahn führen würden. im Ausschuß nicht bereit waren, in eine ernsthafte Es ist zwar bei der Einführung eines solchen Angebo- Auseinandersetzung über den Vorschlag einzutre- tes mit einem entsprechenden Mehrverkehr und da- ten. mit mit zusätzlichen Einnahmen zu rechnen, diese Angesichts der direkten und indirekten Förderung können jedoch die entstehenden Mindereinnahmen des Individualverkehrs durch den Bund ist die Ver- nicht kompensieren. Der Bundesminister für Verkehr weigerung der Bürgschaft für Einnahmeausfälle verweist in diesem Zusammenhang auf eine Untersu- durch den Bund als negative Programmaussage ge- chung, die die Deutsche Bundesbahn zur Bewertung gen den umweltfreundlichen Schienenverkehr zu des Vorschlages der Petentin in Auftrag gegeben werten, was angesichts der Struktur der gegenwärti- hatte. Danach sei bei einem Kaufpreis von DM 100 mit gen Verkehrspolitik und der begrenzten Sicht des Ertragsverlusten zwischen 96 Millionen und 159 Mil- Verkehrsministers nicht überrascht. lionen DM, bei einem Paßpreis von 200 DM mit 26 Mil- lionen bis 40 Millionen DM zu rechnen. Diese Minder- Daß der Ansatz des Verkehrsclubs der Bundesrepu- einnahmen müßten durch Ausgleichszahlungen des blik Deutschland auf breite Zustimmung in der Bevöl- Bundes an die Deutsche Bundesbahn kompensiert kerung stößt, zeigt allein die Tatsache, daß mehr als werden. 100 000 Bürgerinnen und Bürger die Petition mit ihrer Unterschrift unterstützt haben. Im Bundeshaushalt ist aber kein Spielraum für aus gabenerhöhende Entscheidungen. Es muß in allen Wir wollen mit unserem Antrag, die Petition der Politikbereichen akzeptiert werden, daß die wirt- Bundesregierung zur Berücksichtigung zu überwei- schaftliche Stabilität unseres Landes in den nächsten sen, erreichen, daß die Bundesregierung in ihrer in Jahren nur durch eine strikte Ausgabendisziplin be- der letzten Legislaturperiode gegenüber dem Abge- wahrt werden kann. Trotzdem gibt es im Verkehrs- ordneten Kretkowski zum Ausdruck gebrachten Bitte, haushalt erfreuliche Tendenzen, den Verkehrsträger von der Deutschen Bundesbahn ein Paßmodell für je- Bahn in Zukunft deutlicher als bisher finanziell zu för- dermann entwickeln zu lassen, das sowohl marktfähig dern. sei als auch den kapazitätsmäßigen Möglichkeiten gerecht werde (Antwort des Staatssekretärs Dr. Knit- In einem Gesamtkonzept zur Sanierung der Deut- tel vom 21. November 1989, Drucksache 11/5824), be- schen Bundesbahn könnten Anregungen zur tarifli- stärkt wird. chen Neuorientierung — wie die des Verkehrsclubs der Bundesrepublik Deutschland — aufgegriffen und Besonders begrüße ich in diesem Zusammenhang, durch gesetzgeberische Initiativen unterstützt wer- daß die Länder Hessen und Niedersachsen die Ein- den. führung eines Halbpreispasses bei der Bahn angesto- ßen haben und damit bei der Deutschen Bundesbahn Die Eingabe den Fraktionen zur Kenntnis zu geben, durchaus auf Interesse gestoßen sein sollen. ermöglicht es, das Anliegen auch in eine breitere poli- tische Diskussion einzubringen. In den verschiedenen Ich bitte Sie deshalb, unserem Antrag auf Berück- Arbeitskreisen und -gruppen der Fraktionen besteht sichtigung zuzustimmen. dann die Möglichkeit, zu prüfen, inwieweit die Vor- schläge in ein umfassendes Bahngesamtkonzept, das (FDP): Es ist eine glückliche Ter- auch die Forderungen des Umwelt- und Naturschut- Horst Friedrich mingestaltung, daß unsere heutige Debatte einen Tag zes einschließt, aufgenommen werden könnten. Ich nach einer Sitzung des Verkehrsausschusses erfolgt, meine, wir sollten entsprechend verfahren. in welcher der neue Vorsitzende des Vorstandes der Deutschen Bahnen, also der Deutschen Bundesbahn Horst Peter (Kassel) (SPD): Der Verkehrsclub der und der Deutschen Reichsbahn, Heinz Dürr, einen Bundesrepublik Deutschland verfolgt mit der einge- Bericht über die gegenwärtige Lage und die künftige reichten Sammelpetition das Ziel einer Einführung Entwicklung der Bahn gegeben hat. des sogenannten Halbpreispaß-Angebots bei der Ich will hier nicht alle Einzelheiten der Diskussion Deutschen Bundesbahn. Der Halbpreispaß sollte so wiedergeben, möchte allerdings zur Information kurz gestaltet sein, daß er alle Altersstufen erfaßt und der einige Highlights darstellen. Maximalpreis 200, — DM beträgt. Damit können alle Fahrkarten ein Jahr lang zum halben Preis gekauft Die wirtschaftliche Entwicklung der DB (für die werden. Mitfahrer zahlen die Hälfte, sind sie im Besitz Deutsche Reichsbahn liegen gesicherte Zahlen noch eines Halbpreispasses ein Viertel des Normalpreises. nicht vor, zumindest keine vergleichbaren) im Jahre Innerhalb des Bundesgebietes gilt ein Maximalpreis 1991 ist weiterhin durch die schlechte Ertragskraft des für Rückfahrkarten mit Halbpreispaß von 90, — DM. Unternehmens gekennzeichnet. Durch steigende Lei- Für Monatskarten im Nahverkehr beträgt der Maxi- stungen im Personen- und Güterverkehr werden zwar malpreis mit Halbpreispaß 50, — DM. Die Halbpreis- Mehrerlöse in Höhe von ca. 300 Millionen DM erwar- pässe, die Mitfahrerermäßigungen und die Höchst- tet, diese werden aber um ca. 600 Millionen DM durch preise gelten an allen Tagen, in allen Zügen und für den Anstieg der betrieblichen Aufwendungen über- alle Entfernungen. troffen. Die Petenten verweisen auf das bestehende Da zusätzlich auch der Zinsaufwand um rund 300 Schweizer Modell und dessen Erfolge. Sie haben in Millionen DM zunehmen wird, ist mit einem gegen- Bonn in einer Anhörung zu ihrer Petition der Öffent-- über dem Jahr 1990 um rund 900 Millionen DM lichkeit und damit auch allen Abgeordneten die schlechteren Jahresergebnis von voraussichtlich rund Chance zu umfassender Information gegeben. Um so 6 Milliarden DM zu rechnen, das allerdings durch mehr ist zu bedauern, daß die Regierungsfraktionen einen einmaligen außerordentlichen Ertrag von 420 3458* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Millionen auf rund 5,5 Milliarden DM gemildert im Bahngesetz aufzulösen; denn dieser Spagat führt wird. die Bahn immer mehr in rote Zahlen. Um es zu vereinfachen: Der tägliche Verlust der Wir brauchen weiterhin eine völlige Neugestaltung Bahn (Deutsche Bundesbahn) beträgt derzeit 20 Mil- des öffentlichen Personennahverkehrs in der Rich- lionen DM. — Sie haben richtig gehört: täglich! tung, daß sowohl die Verantwortung als auch die Fi- Zur Beseitigung dieser Mißstände unterhalten wir nanzmittel auf Kommunen und/oder Länder verlagert uns in diesen Tagen — auch das ist kein Geheimnis — werden; der ÖPNV führt vernetzt und vertaktet den über die Möglichkeiten einer durchgreifenden, wir- Nahverkehr an die Haltepunkte des Fernverkehrs kungsvollen großen Bahnstrukturreform. heran. Vor diesem Hintergrund ist der Antrag des Ver- Im Fernverkehr — sowohl im Güter- als auch im kehrsclubs Deutschland (VCD) dahin gehend zu un- Personenverkehr — kommen die eigentlichen Stärken tersuchen, ob er und gegebenenfalls wie er dazu bei- des Verkehrsträgers Bahn voll zur Geltung. tragen kann, das wirtschaft liche Ergebnis der Bahn zu Diese Leistung muß einen Preis haben, und der darf verbessern, nicht, dieses durch die vorgeschlagenen kein Dumpingpreis sein. Maßnahmen weiter zu verschlechtern. Aus diesem Grund lehnt die FDP den Vorschlag des Selbst der VCD unterstellt in seinem Antrag, daß ein VCD ab, weil er nur tendenziell auf eine Verbilligung Halbpreispaß mit limitierter Preisobergrenze (90 DM des Fahrpreises abzielt, was konsequenterweise zur bei Paßinhabern in ganz Deutschland — unabhängig weiteren Verschlechterung der Ertragssituation der von der Entfernung, 180 DM bei Nichtpaßinhabern) Bahn führen muß. Die FDP setzt sich allerdings nach nicht dazu führt, daß mehr Ertrag in die Kassen der wie vor dafür ein, die Strukturreform der Bahn zum Bundesbahn fließt. Erfolg zu führen, damit der umweltfreundliche Ver- Angesichts dieser Tatsache fordert auch der VCD — kehrsträger Bahn auch tatsächlich den ihm zustehen- weil er die Maßnahme politisch ja dann nicht umset- den Anteil im Modal Split der Verkehrsträger erhält. zen muß — eine Ausgleichspflicht des Bundes, insbe- Dazu gehört dann sicher auch ein Nachdenken über sondere durch Einführung neuer Verkehrsabgaben die Tarifgestaltung innerhalb der Bahnverkehre. bzw. eine weitere Erhöhung der Mineralölsteuer. Beides ist im Interesse sowohl des Steuerzahlers als Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Fast vier auch im Hinblick auf die Wettbewerbsbedingungen Jahre sind seit dem Eingang der Petition im Petitions- des gemeinsamen europäischen Marktes eine ausschuß bis zur heutigen Abstimmung im Deutschen schwere Hypothek, die von der FDP in dieser Form Bundestag vergangen. Sicherlich ein Indiz für die nicht mitgetragen werden kann. Hinzu kommt, daß Kompliziertheit der Mate rie und ein Indiz dafür, daß selbst im vom VCD zitierten Modelland, der Schweiz, es sich die Mitglieder des Ausschusses nicht leichtge- sich das Betriebsergebnis der Schweizer Bundesbah- macht haben. nen trotz Ertragssteigerung von 13 % verschlechtert Enttäuschend für die immerhin 108 000 Bürgerin- hat. Daß das Modell Schweiz wegen der unterschied- nen und Bürger, die die Petition unterschrieben ha- lichen Größe der Schweiz und der anderen Struktur ben, bleibt dennoch das Resultat, das jedoch ohne der Bahnen und der Märkte in der Schweiz nicht auf eine grundlegende Neuorientierung in der Verkehrs- das Gebiet von Deutschland übertragen werden kann, politik zwangsläufig so lauten mußte. macht die ganze Sache nicht einfacher. Grundlage für die Betrachtung im Bundesministe- Wenn vor dem Hintergrund der eingangs geschil- rium für Verkehr, und das zeigt gerade der Umgang derten Wirtschaftssituation der Bahn eine vom Bun- mit dieser Petition, ist leider nach wie vor ein unkom- desminister für Verkehr in Auftrag gegebene Unter- plexes altes Denken. Dabei wird deutlich: Die allei- suchung ergibt, daß die Deutsche Bundesbahn bei der nige Orientierung auf den Markt löst höchstens punk- Bewertung des Vorschlags des VCD bei einem Paß- tuelle Probleme. Vertraut man den Marktkräften aber preis von 100 DM mit Ertragsverlusten zwischen 96 die gesamtgesellschaftliche Verantwortung an, er- und 159 Millionen DM zu rechnen hat und bei einem schöpfen sich ihre kreativen Möglichkeiten, werden doppelten Paßpreis noch mit Verlusten von 26 bis 40 sie zu Destruktivmitteln, die die Umweltzerstörung Millionen DM, dann ist ein wirtschaftlich abgesicher- beschleunigen und dringende gesellschaftliche Ver- tes und somit kommerziell vertretbares Paßmodell mit änderungen be- oder gar verhindern. Der Nenner, auf einer Ermäßigung von 50 To nicht zu realisieren. den Minister Krause alles bringt, heißt noch immer: Die Zahlen verdeutlichen andererseits auch, daß „Das rechnet sich nicht." eine Politik, die ausschließlich über den Preis Steige- Meinen Sie nicht, Herr Minister, daß es sich, gemes- rungen der Beförderungszahlen zu erzielen versucht, sen an gesellschaftlichen Maßstäben und am Maßstab nicht geeignet ist, die eigentliche Problemlösung der „Zukunft der Menschheit", vielleicht auch rechnen Bahn zu sein. würde, wenn alle Faktoren — Umwelt, Ressourcen, Was wir brauchen — und das hat die FDP seit 1983 Folgekosten inbegriffen — berücksichtigt würden? oft genug und hinlänglich gefordert — , ist eine Struk- Wir fordern die Bundesregierung daher auf, endlich turreform der Bahn an Haupt und Gliedern, und zwar ein gesellschaftliches Gesamtkonzept zu erarbeiten, in dieser Legislaturperiode. Es muß gelingen, den un- das einen radikalen Bruch mit alten Herangehenswei- seligen Zielkonflikt zwischen der Behördenstruktur- sen in der Verkehrspolitik ermöglicht und den heuti- vorgabe des Grundgesetzes mit der allgemeinen Be- gen Erfordernissen Rechnung trägt. Wir fordern deut- förderungspflicht und dem Wirtschaftlichkeitsgebot lich spürbare Anstrengungen für den Ausbau des öf- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3459* fentlichen Personennah- und -fernverkehrs. Seit 1960 7 Projekten und einem Investitionsvolumen von rund vergrößerte sich das Autobahnnetz in der Bundesre- 23 Milliarden DM. publik um 30 %. Im gleichen Zeitraum aber mußte die Drittens. Strukturreform der Bahn: Eine attraktive Bundesbahn 25 % ihrer Strecken für den Personenver- Bahn braucht aber vor allem eine neue und bessere kehr stillegen. Eine progressive Verkehrspolitik, Herr Struktur. Eine Bahn, die sich dem Wettbewerb stellen Krause, setzt meines Erachtens eine deutliche Umver- soll, muß eine unternehmerische Bahn sein. Die Zeit teilung der Finanzmittel in Ihrem Haushaltsbereich zum Handeln drängt, denn ohne grundlegende Re- voraus. Das würde auch die Bedingungen dafür schaf- form von Deutscher Bundesbahn und Deutscher fen, über die Subventionierung der Fahrpreise dazu Reichsbahn kumuliert der Finanzbedarf beider Bah- beizutragen, daß das Fahren mit der Bahn erschwing- nen auf über 400 Milliarden DM bis zum Jahr 2000. lich ist und einen Anreiz darstellt, das Auto stehenzu- Schnellstmöglich werden wir nach Vorlage des Be- lassen. richts der Bahnkommission den Reformvorschlag er- Hätte man mir die Petition vorgelegt, ich hätte sie arbeiten und einen breiten politischen Konsens an- ebenso unterschrieben. Die Gruppe PDS/Linke Liste streben. Die Überführung in privatwirtschaftliche Or- unterstützt daher auch den Änderungsantrag der ganisationsformen und die dafür erforderliche Grund- SPD-Fraktion. gesetzänderung ist ein möglicher Weg und sollte nicht von vornherein tabuisiert werden.

Wolfgang Gröbl, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Die eigentliche Stärke der Bahn gegenüber den an- minister für Verkehr: Die Deutsche Bundesbahn muß deren Verkehrsträgern ist die schnelle, sichere und bei ihrer Preisgestaltung selbständig wie ein Wirt- zuverlässige Überwindung großer Distanzen. Die schaftsunternehmen handeln. Die Einführung eines deutsche Verkehrspolitik wird mit dem Netzausbau generellen Halbpreispaß-Angebotes muß sich des- und der Strukturreform der Bahn ihren Beitrag dazu halb den Marktbedingungen stellen. Alle bisher von leisten, daß die Bahn die Stärke in ganz Europa aus- der DB durchgeführten Modellrechnungen haben spielen kann. nicht zu einem Paßmodell geführt, das marktfähig und finanzierbar wäre. Vielmehr setzt die Deutsche Bundesbahn zur Stei- gerung ihrer Attraktivität auf eine Vielzahl von diffe- renzierten Angeboten, um den unterschiedlichen Be- Anlage 4 dürfnissen der Bahnbenutzer entgegenzukommen. So werden für den Fernverkehr erheblich ermäßigte Ta- Zu Protokoll gegebene Rede rife angeboten; im Nahverkehr hat die Deutsche Bun- zu Tagesordnungspunkt 11 desbahn ihre Preisangebote auf einzelne Zielgruppen (Steueränderungsgesetz 1992) ausgerichtet. Beispielhaft möchte ich hier nur den Spar- oder Super-Sparpreis für den Fernverkehr, den Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Die Familienpaß und die Jahreskarte oder die übertrag- Bundesregierung läßt auch diesmal die Gelegenheit bare Monatskarte für Pendler anführen. nicht aus, ihre wirtschafts- und finanzpolitische Kon- Angebote zu entwickeln, Service zu verbessern etc. zeptionslosigkeit mit wohlklingenden Worten zu ka- ist Aufgabe der DB und der DR. Die Aufgabe des Bun- schieren. Das vorliegende Paket wird als Gesetz zur des, des Bundestages und der Bundesregierung ist es, Entlastung der Familien und zur Verbesserung der der Bahn bei der wohl bedeutendsten Herausforde- Rahmenbedingungen für Investitionen und Arbeits- rung der 90er Jahre für die Verkehrspolitik — der plätze bezeichnet. umweltgerechten Bewältigung der in ganz Europa Tatsächlich verdeckt das Etikett nur, daß die Regie- stark anwachsenden Verkehrsströme — eine beson- rung mit ihrem finanzpolitischen Latein am Ende ist. dere Rolle einzuräumen. Lassen Sie mich dies an drei Bekanntlich ist sie schon im Koalitionsvertrag, Anfang Beispielen verdeutlichen: des Jahres, von den Wahlversprechungen abgerückt, mit denen sie im letzten Jahr Wählerinnen und Wähler Erstens. Entwicklung des Verkehrshaushaltes: Der getäuscht hatte. Schwerpunkt des Haushaltsplanes 1992 und der Fi- nanzplanung bis 1995 liegt eindeutig bei der Schiene. Deswegen vertrauen immer weniger Menschen Der Haushaltsanteil der beiden Bahnen liegt bei über dieser Regierung. Kaum jemand nimmt ihr noch ab, 50 %. Investitionen haben Vorrang: 72 % der für die daß sie die Probleme, die sie ja zu einem beträchtli- Schiene veranschlagten Mittel sind Investitionen. chen Teil mit verursacht hat, lösen kann. Selbst aus den Reihen der Koalition wächst die K ritik am finanz- Zweitens. „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit" : politischen Kurs. Die „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit" spielen für das Zusammenwachsen der Bevölkerungs- und Wirt- Leider blieb mit der Vorlage zum Haushaltsgesetz schaftsschwerpunkte im Osten und Westen des 1992 die Stunde der Wahrheit aus. Statt dessen hörten 40 Jahre lang künstlich geteilten Deutschland eine die Bürgerinnen und Bürger aus dem Munde des Fi- entscheidende Rolle. Sie haben zugleich große Be- nanzministers beruhigende Worte. Aber was soll deutung für die Integration der osteuropäischen weiße Salbe und Zahlenakrobatik? Wem hilft es, Nachbarn in das vereinte Europa. Mit neun von ins- wenn die tatsächlichen Belastungen der kommenden gesamt siebzehn Projekten und einem Investitionsvo- Jahre verschleiert werden? In der Rechnung fehlen lumen von rund 29 Milliarden DM hat hier die gewichtige Posten, die schon heute in ihren Auswir- Schiene eindeutig den Vorrang vor der Straße mit kungen absehbar sind. 3460' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Ich nenne nur die Ausgleichs- und Entschädigungs- Hinzu kommt: Der wirtschaftliche Effekt der Steu- regelungen für die Enteignungen in den neuen Bun- eränderungen erregt sogar koalitionsintern Zweifel. desländern, die Altlasten im Umweltbereich, die Aus- So hat sich die Landesregierung von Baden-Württem- fälle bei den staatlichen Exportbürgschaften und die berg bereits gegen die Pläne der Bundesregierung absehbare Finanzlücke bei der Bundesanstalt für Ar- ausgesprochen. Sie bestreitet zu Recht, daß die vorge- beit. Auch die Hilfen für die Sowjetunion oder die ein- schlagenen Steuersenkungen den mittelständischen zelnen Republiken werden noch einmal hohe Finanz- Unternehmen zugute kommen. Es ist ein „besonders beträge erforderlich machen. mittelstandsfreundliches Konzept", behauptet der Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Grüne- Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses hat be- wald. reits Alarm geschlagen: Die Neuverschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden sowie der Sonderver- Die beabsichtigten Steuermaßnahmen, vor allem mögen ergibt in diesem Jahr einen Betrag von minde- die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, schlagen stens 160 Milliarden DM. Es braucht nicht viel Phan- jedoch vornehmlich bei größeren Unternehmen zu tasie, sich auszumalen, mit welchen Maßnahmen Buche, während kleine Unternehmen davon kaum diese Regierung — falls sie dann überhaupt noch im etwas haben. Auch CDU-Mittelstandspolitiker der Amt ist — die fiskalischen Belastungen auffangen Regierungsparteien haben dies längst erkannt. Es wird. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 16 % ist wird Zeit, daß die Regierung Konsequenzen daraus ja bereits von einigen vorlauten Koalitionsvertretern zieht. in Aussicht gestellt worden. Eine Bemerkung zu den finanzpolitischen Wirkun- Im Hinblick auf die Haushaltsrisiken ist die Vorlage gen für die Gebietskörperschaften — ich hatte bereits zum Steueränderungsgesetz 1992 ein weiterer Beleg bei der Debatte zum Steueränderungsgesetz 1991 für Realitätsferne. Nach den verhängnisvollen Fehl- darauf verwiesen — : Die finanzielle Substanz von einschätzungen der vergangenen Monate, die zum Ländern und Gemeinden wird weiter ausgehöhlt. Die berechtigten Vorwurf der Steuerlüge führten, gibt es Stellungnahme des Deutschen Städtetages bleibt ak- für den Finanzminister nur noch wenige Möglichkei- tuell. Gerade die strukturschwachen Gemeinden wer- ten. den durch die Beseitigung der Gewerbekapitalsteuer erneut schlechter gestellt. Der angekündigte Subventionsabbau erweist sich Das Wagnis, diese — in ihrer ökonomischen Wir- als klägliche Zahlenmanipulation, die nur das Ziel kung dubiosen — Unternehmersteuersenkungen mit hatte, den ehrgeizigen Wirtschaftsminister nicht völlig einer Anhebung der Mehrwertsteuer zu verknüpfen, bloßzustellen. Im vorliegenden Gesetzentwurf wer- kann ich nur als frivol bezeichnen. Womit begründen den sogar die wenigen Ansätze zum Subventionsab- Sie die Dreistigkeit, daß nach den massiven Steuerer- bau noch einmal verwässert. An Niederlagen und höhungen der letzten Monate nun auch noch die Steu- Kummer gewöhnt, wechselt die Bundesregierung ihre ersenkungen für Unternehmen durch die Steuer- ursprüngliche Erfolgsstrategie und optiert nun für zahler finanziert werden sollen? Die soziale Asymme- massive Steuererhöhungen. trie dieser Steuerpolitik ist so offensichtlich, daß in Der Entwurf zum Steueränderungsgesetz setzt die Ihren eigenen Reihen auf Verzicht des Steuerpaketes einschneidenden Steuererhöhungen fort, die schon in gedrängt wird. Ich kann Heiner Geißler in dieser Hin- diesem Jahr zu einer steuerlichen Mehrbelastung von sicht nur zustimmen. Eine Mehrwertsteuererhöhung etwa 31 Milliarden DM führen werden. Mit einer er- würde die ohnehin schon stark belasteten Durch- höhten Mehrwertsteuer ab 1993 um 1 %, wie es im schnittseinkommen besonders treffen. Entwurf vorgesehen ist, werden die Zusatzbelastun- Das Prinzip der Bundesregierung aber lautet: Um- gen nach den Berechnungen des Bundes der Steuer- verteilung zu Lasten der kleinen und mittleren Ein- zahler sogar eine Größenordnung von mehr als kommen. Die Steuersenkungen für Unternehmen 50 Milliarden DM erreichen. sind keinesfalls aufkommensneutral gestaltet worden Wir haben schon im Jahre 1990 darauf verwiesen, — übrigens im Gegensatz zur Behauptung des Fi- daß der Finanzbedarf für den wirtschaftlichen Aufbau nanzministers. Den Entlastungen von ca. 7 Milliarden im Osten auch im Westen außerordentliche Anstren- DM bei den ertragsunabhängigen Steuern stehen als gungen erforderlich machen würde. Allerdings sollte echte Gegenfinanzierung lediglich 1,6 Milliarden DM der Finanzminister die Ausgaben für die neuen Bun- gegenüber. Es bleibt damit eine Finanzierungslücke desländer richtig darstellen. Von den einigungsbe- von über 5 Milliarden DM. dingten Ausgaben, die auf 109 Milliarden DM veran- Somit sind die gesamtwirtschaftlichen Wirkungen schlagt sind, wird nur knapp die Hälfte den neuen der Steuerpolitik der Bundesregierung nicht anders Ländern zugute kommen. Auch hier ist Ehrlichkeit zu beurteilen als vor einem halben Jahr. Mit der Mehr- gefragt. wertsteuererhöhung kommen allerdings neue Risiken Meine Damen und Herren, man kann über die Un- hinzu. Eine Anhebung wird einen neuen Preisschub ternehmensbesteuerung diskutieren. Was Sie aller- auslösen. Die jüngsten Warnungen der Deutschen dings hier vorlegen, ist schon in ökonomischer Hin- Bundesbank an den Finanzminister besagen eindeu- sicht mehr als zweifelhaft. Sie verstoßen gegen Ihre tig: Die Reduzierung der Neuverschuldung muß vor eigene Logik: Die vorgeschlagene Streichung von Ge- allem über eine Begrenzung des Ausgabenanstiegs werbekapitalsteuer und Vermögensteuer reduziert erfolgen. die relativen Vorteile, die der Wirtschaft in den neuen Die Finanzpolitik steht in vollem Widerspruch zu Bundesländern im Steueränderungsgesetz 1991 ein- den besonderen Schwierigkeiten und Herausforde- geräumt wurden. rungen, denen sich die Wirtschaft in den neuen Bun- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3461* desländern gegenübersieht. Auf Grund der geringe- rig, nachdem der Finanzminister sich bei der Einkom- ren Konkurrenzfähigkeit wird es vielen ostdeutschen mensteuer (Solidaritätsgesetz) zunächst nicht mehr Betrieben noch schwerer fallen, sich im Wettbewerb bedienen kann. Doch wie gesagt, die Einnahmever- zu behaupten. Außerdem entwerten diese Maßnah- besserung über die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist men jene speziellen Steuerentlastungen, die gerade sozial unausgewogen. Sie trifft die ohnehin schon be- für die neuen Bundesländer beschlossen worden sind. lasteten Durchschnittshaushalte besonders stark. Der Wirrwarr an Fördermaßnahmen für die neuen Daran ändern auch die familienpolitischen Verbesse- Bundesländer wird auch im Steueränderungsgesetz rungen nichts. Noch ist die steuerliche Freistellung nicht aufgehoben. des Existenzminimums von Kindern keineswegs ge- währleistet. Besonders nachteilig ist: Das Steuerpaket der Bun- desregierung hat in ökologischer Hinsicht nichts zu Ich fasse zusammen: Das vorliegende Steuerpaket bieten. Die Steuersenkungen für Unternehmen lösen dient kaum dem wirtschaftlichen Aufschwung in den keine Anreize für Umweltinvestitionen aus. Eine Un- neuen Bundesländern. Es vertieft dagegen die sozia- ternehmensteuerreform, die diesen Namen tatsäch- len Gegensätze und verschärft durch unnütze Ausga- lich verdient, ist aber daran zu messen, ob sie umwelt- ben die Haushaltslage. Es ist kein Gesetz zur Verbes- freundliches Investieren und Wirtschaften begünstigt. serung der Rahmenbedingungen für Investitionen Die angestrebte — recht zahme — Besteuerung von und Arbeitsplätze. Motorbooten kann über die umweltpolitische Schief- Wir fragen an dieser Stelle: Wo bleibt die Interven- lage der Steuerpolitik nicht hinwegtäuschen. Nach tion des Wirtschaftsministers, der doch sein ganzes wie vor besteht Bedarf an einer ökologisch wirksamen Amt in die Waagschale geworfen hat, um die ökono- Steuerpolitik. Doch was tut die Regierung? Mit rein misch ineffizienten Steuerbegünstigungen und Sub- fiskalisch orientierten Maßnahmen verbaut sie zuneh- ventionen zu reduzieren? Dies ist ihm nicht gelungen. mend die Chancen für umweltpolitisch orientierte Das vorliegende Flickwerk bestätigt das nachdrück- Steuern. Bereits die Erhöhung der Mineralölsteuer lich. Wenn Herr Möllemann glaubwürdig bleiben war ein falsches Signal. möchte, dann ist es an der Zeit, seine Ankündigung Im Entwurf zum Steueränderungsgesetz 1992 domi- wahrzumachen und zurückzutreten. Ich bin gespannt, nieren nach wie vor die fiskalischen Motive. Ziel ist für was das Wort des Ministers wert ist. 1994 eine Haushaltsentlastung von 4,2 Milliarden DM (1995: 8,0 Milliarden). Es zeigt sich deutlich, daß der Zum Abschluß ein Wort zur SPD. Sie haben die schon bisher nur vorgetäuschte Subventionsabbau Ablehnung der Mehrwertsteuer zur verbindlichen und der Abbau von ökonomisch nicht zu rechtferti- Parteiposition erklärt. Gut so. Anders sieht es auf Län- genden Steuervergünstigungen kaum stattfinden. derebene aus: Eine Mehrwertsteueranhebung wird Denn die Besitzstände der strategischen Wählergrup- dort offensichtlich nicht einhellig abgelehnt. Zu be- fürchten ist, daß die geplante Umlenkung der Struk- pen der Regierungsparteien werden natürlich nicht angetastet. Aus dem Steueränderungsgesetz werden turhilfe-Mittel in die Verhandlungen einbezogen wird. Es fehlt eine klare finanzpolitische Linie. Die von den Lobbyisten wieder Stück für Stück Steuerver- günstigungen und Finanzhilfen herausgebrochen. konzeptionelle Vorstellung der Fraktion wird auf Län- derebene angesichts anderer Interessenlagen ad ab- Es strotzt vor Halbheiten. Ein Beispiel ist die Be- surdum geführt. Und wir fragen uns schon heute, was steuerung der sogenannten Policen-Darlehen. Die ei- der Bundesfinanzminister den SPD-geführten Län- gentlich vorgesehene Regelung wurde abge- dern anbieten wird, um ihnen die Zustimmung zur schwächt. Andere Subventionskürzungen tauchen Mehrwertsteuererhöhung im Vermittlungsausschuß erst gar nicht auf: Abbau der Mineralölsteuerbefrei- abzukaufen. ung für die Luftfahrt, für die Binnenschiffahrt. Selbst- verständlich fehlt der Subventionsabbau bei der Landwirtschaft. Wann wird die seit Jahren übliche Praxis, mit Steuertricks Subventionen in Anspruch zu nehmen, endlich unterbunden? Anlage 5 Offenbar liegt der Regierung nicht an einer sozial ausgewogenen Finanzierung der Staatsausgaben. Zu Protokoll gegebene Reden Nach wie vor gibt es Einsparmöglichkeiten im Vertei- zu Tagesordnungspunkt 12 (Entwurf eines Gesetzes digungsetat. Zusammen mit einem Verzicht auf die zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und ande- Entlastungen bei der Gewerbe- und Vermögensteuer rer Gesetze) ergäbe das ein Finanzvolumen, das die vorgesehene Erhöhung der Mehrwertsteuer entbehrlich macht. Bundesminister der Justiz: Der Wenn Einnahmeverbesserungen wirklich unerläßlich Dr. Klaus Kinkel, Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung werden, dann doch nicht über eine Mehrwertsteu- der Finanzgerichtsordnung ist die derzeit mögliche ererhöhung, sondern durch die Verlängerung des bis verfahrensrechtliche Antwort auf die schwierige Si- 1992 befristeten Solidaritätsbeitrages, auch durch tuation in der Finanzgerichtsbarkeit: Die Finanzge- eine Arbeitsmarktabgabe von Beamten und Selbstän- richte gehen in der Verfahrensflut unter. Der Bürger digen, damit die Solidarität wieder ins Lot kommt. muß viel zu lange — oft mehrere Jahre, manchmal Die finanzpolitische Strategie der Regierungspar- sogar über ein Jahrzehnt — auf eine gerichtliche Ent- teien ist einfach: dort nehmen, wo die Wählerbasis scheidung warten. Das ist für einen Rechtsstaat uner- den geringsten Schaden nimmt. Deshalb blieb der träglich und im Grunde genommen Verweigerung Bundesregierung auch nur eine relevante Größe üb- des Rechtsschutzes. 3462* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Als Kernpunkt schlägt der vorliegende Entwurf vor, auf wird man nicht warten können. Wir sollten das die beiden für die Finanzgerichtsbarkeit geltenden andererseits auch nicht überbewerten: 64 000 Ein- und mehrfach verlängerten Entlastungsgesetze, das gänge bei den Finanzgerichten sind im Vergleich zu Gesetz zur Entlastung des Bundesfinanzhofs, das den Eingangszahlen von 1970 viel. Bei 2,5 Millionen Ende dieses Jahres ausläuft, und das Gesetz zur Ent- Einsprüchen, dem mehr als 20-fachen an rechtsmittel- lastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanz- fähigen Finanzverwaltungsakten, ca. 50 000 Angehö- gerichtsbarkeit, das Ende kommenden Jahres aus- rigen der steuerberatenden Berufe und etwa der glei- läuft, im wesentlichen in Dauerrecht zu übernehmen. chen Zahl von Rechtsanwälten, nimmt sich die Zahl Darüber hinaus faßt der Entwurf weitere, insgesamt von 64 000 Eingängen doch eher bescheiden aus. Ich konsensfähige prozeßrechtliche Vorschläge zur Straf- denke jedenfalls nicht, daß wir mit einem Rückgang fung, Vereinfachung und Beschleunigung finanzge- der Eingänge bei den Finanzgerichten in nächster richtlicher Verfahren zusammen. Zeit rechnen können. Die Zahl der Einsprüche gegen Steuerbescheide, aber auch die Einspruchsentschei- Ich will keinen Zweifel daran lassen, daß der Ent- dungen der Finanzämter ist in den vergangenen Jah- wurf, rechtspolitisch gesehen, auch Verzicht bedeu- ren ständig gestiegen. Darüber hinaus hat die Recht- tet: Der Abschied von der Streitwertrevision ist, insbe- sprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dem sondere aus der Sicht der steuerberatenden Berufe, Grundfreibetrag und zu den Kinderfreibetägen zu ei- eine bittere Pille. Die Zweistufigkeit der Finanzge- ner Flut von Einsprüchen geführt. Die Flutwelle wird richtsbarkeit, die wir in der augenblicklich sehr ange- noch zusätzlich auf die Finanzgerichtsbarkeit zukom- spannten Situation auch nicht in eine Dreistufigkeit men, zum Teil ist sie schon angekommen. umwandeln können, war bei Inkrafttreten der Finanz- gerichtsordnung vor allem mit dem Argument be- Ich möchte vor der Illusion warnen, daß wir mit den gründet worden, infolge der geringen Streitwert Mitteln des Verfahrensrechts allein die Belastung der grenze für Revisionen — damals 1 000 DM — könnten Finanzgerichtsbarkeit bei eventuell noch steigenden alle Verfahren von gewissem Gewicht zum Bundesfi- Eingängen nachhaltig reduzieren können. Wir wer- nanzhof kommen. Über eine 1 000 DM-Grenze redet den uns fragen müssen, ob wir bei den Ge richten nicht natürlich niemand. Aber schon bei einer Streitwert Binnenreserven mobilisieren können. Eine Studie der grenze von ca. 60 000 DM für Revisionen müßten wir WIBERA-Wirtschaftsberatung AG, die im Frühjahr wohl davon ausgehen, daß sich die Zahl der vom Bun- dieses Jahres fertiggestellt worden ist, hat erhebliche desfinanzhof zu entscheidenden Revisionen in etwa Defizite im Bereich der Gerichtsorganisation festge- verdoppeln würde. Das könnte der ohnehin überla- stellt. Eine von dem Bet riebswirtschaftlichen Insitut stete Bundesfinanzhof nicht verkraften. Auch die end- für Organisation und Automation der Universität Köln gültige Abschaffung des Begründungszwangs bei der im Auftrag von Nordrhein-Westfalen durchgeführte Beschlußverwerfung von Revisionen — was natürlich Arbeitsablaufuntersuchung ist auch zu dem Ergebnis nicht heißt, daß nicht begründet werden darf — verur- gekommen, daß im richterlichen Bereich noch „Luft" sacht Unbehagen. Aber: Wir haben keine andere ist. Hier sind die Länder gefordert. Wahl. Die Geschäftslage in der Finanzgerichtsbarkeit und speziell auch beim Bundesfinanzhof und die zu- Ein wirksamer Beitrag zur Verbesserung der sätzlichen Aufgaben durch den Aufbau der Justiz in Rechtsschutzsituation kann nach meiner Überzeu- den neuen fünf Ländern lassen keinen Handlungs- gung auch durch eine Verbesserung der außerge- spielraum. richtlichen Streitbeilegung bei den Finanzämtern ge- Die gestiegene Belastung soll mit ein paar Zahlen leistet werden. Die vom BMF veranlaßten rechtstat verdeutlicht werden: Die Eingänge bei den Finanzge- sächlichen Untersuchungen deuten darauf hin, daß richten sind von 1970 bis jetzt um fast 400 % gestie- der im Bundesfinanzministerium vorbereitete Refe- gen, beim Bundesfinanzhof im gleichen Zeitraum um rentenentwurf zur Verbesserung des Rechtsbehelfs- etwa 50 %. Die Erledigungen pro Richter konnten von verfahrens nach der Abgabenordnung noch in diesem durchschnittlich 64 im Jahre 1970 auf 123,5 im ver- Jahr im Kabinett verabschiedet werden kann. gangenen Jahr gesteigert, also fast verdoppelt wer- Nochmals zurück zu der FGO-Novelle, und zwar den; zum Teil sicher ein Erfolg des durch die Entla- zum Einzelrichter, der von manchem als eine Art „All- stungsmaßnahmen des Gesetzgebers gestrafften Ver- heilmittel" zur Verkürzung gerichtlicher Verfahren fahrensrechts, zum Teil aber sicher auch das Ergebnis angesehen wird. Der Bundesrat hat vorgeschlagen, eines starken und erfreulichen Engagements der die Finanzgerichtsordnung um eine Vorschrift zu er- Richter. gänzen, nach der der Senat die Sache auf den Einzel- Die Ursachen für die ständig steigende Inanspruch- richter überträgt, wenn sie keine besonderen Schwie- nahme der Finanzgerichte mögen zum Teil in dem rigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist gestiegenen Rechtsschutzbewußtsein der Bürger und und nicht von rechtsgrundsätzlicher Bedeutung ist. zum Teil in der Verbesserung der Steuerberatung lie- Dieser Vorschlag, der auch in dem Bundesratsentwurf gen. Beides sind Entwicklungen, die im Grunde be- eines Rechtspflegeentlastungsgesetzes enthalten ist, grüßenswert sind. Als wichtige Ursache wird — sicher trägt im Grundsatz der zutreffenden Einschätzung nicht zu Unrecht — das komplizierte und zum Teil Rechnung, daß es auch in der Finanzgerichtsbarkeit schwer überschaubare materielle Steuerrecht ge- eine Reihe von Verfahren gibt, die ebenso gut und nannt. Viele Steuervorschriften sind nur noch für Ex-- darüber hinaus auch schneller vom Einzelrichter erle- perten verständlich und werden zudem häufig geän- digt werden können. Wenn die Bundesregierung ge- dert. Natürlich sind Bund und Länder gemeinsam ge- genüber diesem Vorschlag Vorbehalte anmeldet, und fordert, hier abzuhelfen — aber diese Forderung wird das tut sie in ihrer Gegenäußerung, dann vor allem seit Jahren regelmäßig erhoben, und ich fürchte, dar- aus Gründen der Praktikabilität: Nach dem Bundes- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3463* ratsvorschlag muß sich zunächst der gesamte Senat ich nach meinen persönlichen Erfahrungen als des Finanzgerichts mit dem Verfahren befassen und Rechtsanwalt nur leider allzu überzeugt. bewerten, ob die Sache einfach, schwer oder grund- Ist es denn nicht tatsächlich so, daß wir viel zu häu- sätzlicher Art ist. Dies bedeutet: verfahrensrechtlicher fig Unklares — freilich oft in unguter Eile — bewußt in Mehraufwand, der einen möglichen Entlastungs- und Kauf nehmen und allenfalls für die späteren Entschei- Beschleunigungseffekt aufwiegen kann. Wenn der dungen der Judikative noch etwas in die Gesetzes- Einzelrichter zu einem späteren Zeitpunkt die Sache begründung hineinschreiben? Ich könnte dazu eine wieder auf den Senat übertragen muß, weil sich erge- ganze Reihe von Beispielen anführen. ben hat, daß sie besonders schwierig oder grundsätz- lich ist, führt das zu einem weiteren Verfahrensauf- Nun, dessenungeachtet ist es aus der Sicht meiner wand. Darüber hinaus muß die Gefahr gesehen wer- Fraktion sehr zu begrüßen, daß das derzeitige Neben- den, daß die Rechtsprechung innerhalb der einzelnen einander der Finanzgerichtsordnung und zweier Ent- Senate der Finanzgerichte auseinanderläuft, womit lastungsgesetze beendet werden soll und uns in der zugleich der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Be-. Gesetzesvorlage der Bundesregierung eine Reihe steuerung und der einheitlichen Rechtsanwendung weiterer Vorschläge zur Vereinfachung und Be- innerhalb des Bundesgebietes gefährdet wäre. Im üb- schleunigung der Verfahren unterbreitet werden. Im rigen würde der ohnehin überlastete Bundesfinanzhof einzelnen werden wir das in den Ausschüssen erör- noch mehr belastet. Das vom Bundesrat vorgeschla- tern, aber im Grundsatz können wir, wie ich meine, gene Einzelrichtersystem ist deshalb unter dem durchaus schon jetzt unsere Zustimmung ankündi- Aspekt angemessener Rechtsschutzgewährung äu- gen. ßerst problematisch. Ebenso, meine Damen und Herren, bin ich der Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme ab- Überzeugung, daß wir nicht zögern dürfen, außer die- schließend den Deutschen Bundestag gebeten, den sen Verfahrenshemmnissen auch den anderen Ursa- Gesetzentwurf vordringlich zu beraten und zu verab- chen des Arbeitsstaus bei den Finanzgerichten ener- schieden. Ich teile diese Einschätzung und schließe gisch nachzugehen. Dabei denke ich auch etwa an die mich der Bitte des Bundesrats an. häufigen Änderungen der höchstrichterlichen Recht- sprechung, die naturgemäß die Betroffenen verunsi- chern, also zu Rechtsunsicherheit und zu entspre- (CDU/CSU): Die No- Dr. Franz-Hermann Kappes chenden Folgewirkungen führen müssen. vellierung eines Gerichtsverfahrensgesetzes wie der Finanzgerichtsordnung ist natürlich zunächst einmal Die Wartefristen bei den Finanzgerichten dürfen in keine sehr spannende Sache, sondern ein eher trocke- dem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland nicht nes Thema, das vordergründig die wenigsten Bürger faktisch einer Rechtsverweigerung gleichkommen. Es interessiert. bleibt deshalb unsere Aufgabe, auf jedwede Weise auch in Zukunft die Verkürzung der Verfahren zu Dennoch: Die Menschen draußen im Lande werden betreiben. Dies ist keine einmalige Aufgabe, sondern sehr einverstanden sein, wenn sie hören oder lesen, muß uns auch in Zukunft beschäftigen. daß hier ein weiterer Versuch der Vereinfachung und Beschleunigung von gerichtlichen Verfahren unter- In diesem Sinne stimmen wir einer Überweisung nommen wird. Jedermann in Deutschland weiß, und der Vorlage in die Ausschüsse zu. jedenfalls haben es viele leidvoll ertragen müssen, daß gerichtliche Verfahren bei uns oft viel zu lange (SPD): Vor keinem Richter muß dauern. Und Kenner wissen, daß dies derzeit in beson- Dr. Hans de With der rechtssuchende Bürger länger warten als vor dem derem Maße für die Finanzgerichte gilt. der Finanzgerichtsbarkeit, obwohl dieser Gerichts- Das hat natürlich seine Gründe, meine Damen und zweig als einziger nur zwei Instanzen kennt. Wer im Herren, und zwar zunächst einmal gewissermaßen Schnitt in der ersten Instanz zwei Jahre und acht Mo- vorgerichtliche, die uns nachdenklich stimmen müs- nate und im Revisionsverfahren gar drei Jahre und sen. In der uns vorliegenden Gesetzesbegründung zwei Monate auf die Gerichtsentscheidung warten sind hierzu eindrucksvolle Zahlen genannt: Nach ca. muß — und das sind leider nur Durchschnittszahlen, 1,58 Millionen Einsprüchen bei den Finanzämtern im es kann also auch länger dauern — , sagt sich nicht Jahre 1987 waren es nur zwei Jahre später bereits ca. nur: Spätes Recht ist halbes Recht. Ihn wird das Ge- 2,14 Millionen solcher Rechtsbehelfe — ein enormer fühl der Rechtsverweigerung beschleichen. Es kommt Anstieg also! hinzu, daß bis vor dem Gang zum Finanzgericht be- reits eine nicht geringe Zeit für das Verfahren bei den Was sind die Gründe hierfür, woran liegt das? Sind die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ganz ein- Finanzbehörden verflossen ist. Die Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg ist zwar fach noch mündiger geworden oder auch weniger gemeinhin nur dem Ju ängstlich, wenn es darum geht, vom Staat Gerechtig- risten bekannt, aber wir sollten nicht verschweigen, daß dort auch schon die Bundes- keit einzufordern? Das wäre dann nur positiv. Oder republik wegen zu langer Verfahrensdauer vor Ge- sind es nicht mindestens ebenso die unglaubliche richten gerügt worden ist. Kompliziertheit unseres Steuersystems — vornehm zurückhaltend, der Ministerialbürokratie angemes- Diese mißliche Situation kennen wir nicht erst seit sen, heißt es an einer Stelle der Gesetzesbegründung: heute. Wir haben die Richterplanstellen beim Bundes- „Das Verständnis der Steuervorschriften erschließt finanzhof jeweils ohne Zögern aufgestockt. Die Län- sich oft nicht leicht" — und zudem viel zu häufig Un- der haben ihren Part zur Vermehrung der Richter bei klarheiten, eine unklare Sprache, die wir als Gesetz- den Finanzgerichten geleistet. In jeder Haushaltsbe- geber selbst zu vertreten haben? Vom letzteren bin ratung im Rechtsausschuß ist der Bundesminister der 3464* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Justiz — wer auch immer er war — seit Jahren mit Da sind auch die Richter als Rechtsgestalter zu nen- Fragen nach der Verfahrensdauer in der Finanzge- nen. Auch der Bundesfinanzhof sollte nicht ohne Not richtsbarkeit gequält worden. Zwei Beschleunigungs- — was die Bundesregierung mit Recht bemerkt — novellen haben wir hinter uns. Sie sind allerdings be- seine Rechtsprechung ändern oder auf die Entschei- fristet. Sie laufen am 31. Dezember 1991 bzw. am dung des Bundesverfassungsgerichts hoffen. Bundes- 31. Dezember 1992 aus. Schon deswegen ist bei der regierung und Bundestag — hier müssen wir uns Behandlung dieser Vorlage Eile geboten. selbst auf die Schulter klopfen — können jedoch von der Kritik nicht ausgenommen werden. Wir sind uns Bundesrat und Bundesregierung — so in der Druck- alle einig, daß die allzu häufigen Änderungen von sache nachzulesen — mahnen Eile an. Auch wir So- Steuergesetzen und deren für den Normalbürger zialdemokraten dringen mit Nachdruck auf Beschleu- nicht immer nachzuvollziehende Bedeutung Mitursa- nigung. Mit uns kann die Änderungsnovelle sehr che für viele Rechtsmittel sind. Ich erinnere in diesem rasch verwirklicht werden. Nur, sie wäre wahrschein- Zusammenhang auch an die vom Bundesminister der lich schon verabschiedet worden, hätte die Bundesre- Finanzen noch nicht umgesetzten Entscheidungen gierung ihre Vorlage nicht erst am 24. Mai dieses Jah- des Bundesverfassungsgerichts zu den Kinderfreibe- res eingebracht. Sie hat ohnehin ihren entsprechen- trägen und damit zu den nicht besteuerungsfähigen den Gesetzentwurf vom 27. Mai 1988 beinahe unver- Grundfreibeträgen. Als Hausaufgabe bleibt weiter, ändert abschreiben können. wie das Vorverfahren verkürzt werden kann. Im wesentlichen soll durch diese Vorlage das bisher Alles in allem: Das Steuerschiff muß wieder flott in den beiden erwähnten Beschleunigungsgesetzen werden. Zu viele Kursänderungen und eine zu alte enthaltene befristete Recht Dauerrecht werden. Hinzu Takelage haben es gefährlich ins Schlingern ge- kommen einige weitere Vorschriften. Es geht jetzt um bracht. sieben Kernmaßnahmen, sechs auf Vorschlag der Bundesregierung und eine auf Vorschlag des Bundes- Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Be- rates. Nämlich um die Neuregelung des Revisions- schleunigung — das war zeitweise die oberste Losung rechts in Form der Zulassungsrevision, Fristsetzung der deutschen Wiedervereinigungspolitik, nämlich für bestimmte Prozeßhandlungen, Vereinfachung der solange es dabei uni Wahltermine ging. Als die Ver- Beiladung in Massenverfahren, Erweiterung der Be- fassungsfrage am Ho rizont auftauchte, griff eine auf- fugnisse des vorbereitenden Richters, Einführung ei- fallende Gemächlichkeit um sich. nes Gerichtsbescheides, erleichterte Zurückverwei- sung der Streitsache an die Finanzbehörden und Ein- Hartnäckig freilich hält sich die Devise ,,Beschleu- führung des Einzelrichters. nigung" in der Gesetzgebung. Der Verkehrsminister beschleunigt, die Landesjustizminister beschleuni- Alle diese Vorschläge stoßen bei uns grundsätzlich gen, und nun soll sogar die lange Bank des Bundesfi- auf positive Zustimmung. Sorgfältig prüfen müssen nanzhofs beschleunigt abgeräumt werden. Wer wollte wir aber noch einmal die Auswirkungen der Zulas- etwas gegen so gute Vorsätze einwenden, wenn — ja, sungsrevision, die Regelung der Vertretung vor dem wenn nur klar wäre, was da eigentlich beschleunigt Bundesfinanzhof und die Folgen der Einführung des wird. Einzelrichters. Bei der Ausgestaltung der Revision als Ich will es ohne Umschweife sagen: Es sind die bloße Zulassungsrevision auf Dauer ist genau zu fra- Rechte betroffener Bürger und Bürgerinnen, denen es gen, welche Bedeutung dies für die Korrektur fehler- beschleunigt an den Kragen gehen soll. Wir werden hafter Entscheidungen im Einzelfall hat. Denn die die hier zu thematisierende Grundfrage demokrati- bloße Zulassungsrevision bedeutet nichts anderes, als scher Rechtspraxis ausführlich zu diskutieren haben daß mit dem Vehikel der Einzelfallkorrektur generelle im Zusammenhang mit dem von den Landesjustizmi- Rechtsfortbildung betrieben wird, ohne daß die Ein- nistern favorisierten und von den Anwaltsverbänden zelfallgerechtigkeit im Vordergrund steht. Freilich attaktierten, in Vorbereitung befindlichen Verfah- weiß auch jedermann um die Bedenken der Streit- rensbeschleunigungsgesetz. wertrevision. Die vorgeschlagene Vertretungsrege- lung vor dem Bundesfinanzhof sollte noch einmal un- Aber da der vorliegende Gesetzesentwurf zur Än- ter dem Licht der Tatsache geprüft werden, daß noch derung der Finanzgerichtsordnung dem gleichen, immer rund 30 % aller Revisionen unzulässig sind, auch in jenen anderen oben erwähnten Gesetzes- also nicht die erforderliche juristische Form durch den initiativen dominierenden Argumentationsmuster Revisionsführer erhalten haben. Beim Bundesge- folgt, will ich schon jetzt die Frage aufwerfen, wel- richtshof ist das anders. chem Kurs die Rechtspolitik der Regierung eigentlich folgt. Für einen Bewohner der Ostländer ist es beson- Daß der Einzelrichter im Finanzgerichtswesen um- ders ärgerlich, daß der Abbau von Betroffenenrechten stritten ist — vor allem bei den Finanzrichtern sel- immer wieder mit den Zwängen beim Neuaufbau der ber —, ist bekannt. Trotzdem sollte der hier vorge- Justiz in den östlichen Ländern gerechtfertigt werden legte Länderentwurf völlig unvoreingenommen ge- soll. prüft werden. Das Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsord- Haben wir diese Hürden genommen und erreichen nung zeigt demgegenüber, daß es sich mit diesen wir, daß das Änderungsgesetz sehr rasch im Bundes- angeblichen Zwängen völlig anders verhält. Ist dieser gesetzblatt nachzulesen sein wird — rasche Hilfe ist Entwurf noch nichts anderes als der derzeitige Stand doppelte Hilfe — , so darf gleichwohl keiner derer die einer gesetzgeberischen Auseinandersetzung mit ei- Hände in den Schoß legen, die weitere Chancen der ner Rechtsprechungsmisere, deren Ausmaß seit lan- Beschleunigung in der Finanzgerichtsbarkeit in der gem als besorgniserregend gilt. Es ist die Verfahrens- Hand haben. flut in Steuersachen, der zu begegnen schon das Ge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3465* setz vom 8. 7. 1975, ein Gesetz zur Entlastung des jedenfalls allein die Gesetzgebung zu befinden ha- Bundesfinanzhofs, gedacht war. Daß dieses Ziel je- ben. Will die Bundesregierung nicht endlich einmal denfalls bestenfalls teilweise erreicht wurde, zeigt die anfangen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob Novellierung dieses Gesetzes am 22. 12. 1989. Daß die Überlast von finanzgerichtlichen Verfahren etwas das Parlament nun abermals in der gleichen Sache mit dem Chaos ihrer Steuergesetzgebung zu tun tätig werden muß, ist gewiß durch die Tatsache ver- hat? ursacht, daß die Geltung des 1989er Gesetzes am 31. 12. 1991 endet, aber nicht weniger Ausdruck der nicht beseitigten Überlastung der Finanz- und Ver- waltungsgerichte. Welche Abhilfen schlägt die Bundesregierung vor? Anlage 6 Neu jedenfalls wird man die vorgeschlagenen Rege- lungen kaum nennen können. Handelt es sich doch im Zu Protokoll gegebene Reden wesentlichen darum, die vorgenommenen Novellie- zu Tagesordnungspunkt 13 (Entwurf eines Gesetzes rungen in die Finanzgerichtsordnung zu integrieren zu der Vereinbarung vom 8. Oktober 1990 über die und per Artikelgesetz die Folgeänderungen im Ge- Internationale Kommission zum Schutz der Elbe) richtskostengesetz, in der Gebührenordnung für Rechtsanwälte sowie in der Abgabenordnung und Dr. Norbert Rieder (CDU/CSU): Ich will Ihnen ganz dem Steuerberatungsgesetz vorzunehmen. kurz einige nüchterne Fakten aus einem wissen- schaftlichen Bericht vorlesen. Ich zitiere: Das alles könnte man als einen legislativen Routine- vorgang betrachten, wenn nicht fast alle vorgeschla- Hohe Ammoniumkonzentrationen führen in der genen Lösungen die Position des Rechtsuchenden warmen Jahreszeit regelmäßig zum Absinken des drastisch verschlechterten. Das gilt insbesondere Sauerstoffgehaltes im Wasser bis nahe an den durch die Festlegungen über Entscheidung per Ge- Nullwert. Dadurch treten häufig Fischsterben richtsbescheid, durch Neuformulierung der §§ 79 a ein. und 90 FGO, die Beweismittel- und Ermittlungszu- In den Sedimenten des Flusses reichern sich rückweisung in § 79b und ganz besonders durch die Schwermetalle und organische Chlorverbindun- einschneidende Beschränkung der Revision in § 115 gen besonders stark an. Das Baggergut, das zur Abs. 2 Nr. 1. Erhaltung der Schiffbarkeit in den Häfen ausge- Am ehesten könnte man den Gerichtsbescheid als baggert werden muß, ist hochkontaminiert. klägerfreundliche Verfahrensverkürzung verteidi- Der Gehalt an Quecksilber und organischen gen. Aber angesichts der mit der Stellung des Vorsit- Chlorverbindungen in Aalen und anderen Fi- zenden gegebenen Verfahrensdominanz wird auch schen ist so hoch, daß sie nicht mehr vermarktet die in § 90 a vorgesehene Revision nicht mehr viel an werden können und vom auch gelegentlichen der mit dem Gerichtsbescheid geschaffenen Lage än- Genuß abgeraten werden muß. dern, zumal da auch die mündliche Verhandlung laut § 90a Abs. 4 unter restriktive Bedingungen gestellt Die starke Verschmutzung wirkt sich auf die Bela- ist. stung der Nordsee nicht unerheblich aus. Vollends klägerfeindlich ist die Bestimmung in Meine Damen und Herren, Sie können nun raten, wel- § 79b Abs. 3 Nr. 1, die die Zulassung von weiteren cher deutsche Schicksalsfluß so charakterisiert wird Beweismitteln der freien Überzeugung des Gerichtes oder wurde. Ich will es Ihnen sagen: Für den einen, überläßt. den Rhein, galt das eben Gesagte vor 20 Jahren, für die Elbe gilt es leider heute noch. Denn während für In noch krasserer Form geschieht das in § 115 den Rhein die internationale Kommission zum Abs. 2, Nr. 1, wonach Revision nur für Rechtssachen Schutze des Rheins seit 1950 zuerst mit zaghaften grundsätzlicher Bedeutung möglich sein soll. Wenn Schritten, dann seit 1963 etwas schneller und schließ- der Gesetzgeber doch wenigstens verriete, wer über lich seit knapp 20 Jahren verstärkt dafür sorgt, daß diese grundsätzliche Bedeutung befindet und für wen sich die Wasserqualität des Rheins kontinuierlich bes- die Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung sein sert, ist bei der Elbe nichts geschehen; und das, ob- soll. Die alte Streitwertrevision ließ wenigstens noch wohl die naturräumlichen Gegebenheiten der Elbe einen klaren Bezug zum Kläger erkennen. Jetzt zeigt — ähnlich wie beim Rhein — nicht nur Trinkwasser- sich in dieser Bestimmung nur der Grundfehler, der nutzung, sondern auch die Nutzung für aktive Frei- dieser ganzen Rechtspolitik zugrunde liegt: die auf- zeitbetätigung und natürlich auch die Erhaltung als tauchenden Schwierigkeiten so lösen zu wollen, daß wichtige ökologische Ausgleichsfläche geradezu her- die geübte Praxis wie bisher fortfahren kann — wenn ausf ordern. es sein muß, auf Kosten des Klägers. Nun, wir wissen alle, daß es bis vor kurzem nicht Denn nur als offenen Zynismus kann man den Satz möglich war, mit dem früheren Regime in der ehema- der Begründung bezeichnen: wenn man nach einer ligen sowjetischen Besatzungszone oder in der Tsche- einzigen Tatsacheninstanz nur eine Grundsatzrevi- choslowakei zu einem wie auch immer gearteten Ab- sion vorsehe, dann beeinträchtige dies den Rechts- kommen zu gelangen. Wir wissen aber auch, daß die schutz nicht unzumutbar. Doch unzumutbar für eine Masse der Verschmutzung gerade aus diesem Bereich demokratische Öffentlichkeit dürfte es jedenfalls sein, kam, während auf dem Gebiet der alten Bundesländer daß eine Beeinträchtigung des Rechtsschutzes ganz die Einleitungen drastisch heruntergegangen sind. offen zugegeben wird. Über deren Ausmaß soll aber Die Menschenverachtung des sogenannten sozialisti- 3466* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 schen Systemes hat sich ja auch in der Umweltpolitik Ich denke, dies alles ist nicht nur ein Erfolg der Poli- gezeigt. tik, die zur deutschen Wiedervereinigung geführt hat, sondern ist auch und gerade ein Erfolg der konse- Um so erfreulicher ist es, daß bereits am 8. Oktober quenten und im wahrsten Sinne des Wortes überzeu- 1990 unser Umweltminister Töpfer für die Bundesre- genden Umweltpolitik dieser Regierung und beson- publik Deutschland mit der CSFR und der EG eine ders unseres Umweltministers Klaus Töpfer, der sich Vereinbarung über eine Internationale Kommission auch bei der Aushandlung dieses Vertrages bleiben- zum Schutz der Elbe getroffen hat, der wir nun durch des Verdienst erworben hat. das entsprechende Gesetz zum Leben verhelfen wol- len. Dieses Gesetz und die dadurch mögliche Schaf- fung einer solchen Kommission sind die unabding- Dietmar Schütz (SPD): Als wir Mitglieder des Um- bare Voraussetzung, um eine tiefgreifende und vor weltausschusses in der vorigen Legislaturperiode zum allem grenzüberschreitende Verbesserung des Zu- ersten Mal im Frühjahr 1990 die damalige DDR be- standes der Elbe zu erreichen. suchten, bekamen wir bei Bitterfeld und Wolffen ei- nen schockierend sensitiven Eindruck von den Ich muß bekennen, daß ich noch nie einem Gesetz Schmutzfrachten, die die Elbe auszuhalten hatte. So- so ohne Bedenken zugestimmt habe, wie ich diesem wohl die chemische Fab rik Bitterfeld als auch die foto- zustimmen werde, wird es uns nun doch die Möglich- chemische Fab rik Wolffen leiteten ihre Chemiefrach- keit geben — und jetzt komme ich auf das Beispiel ten unbehandelt über einen Kanal in die Mulde, einen Rhein zurück — , all das, was wir — zum Teil nach Nebenfluß der Elbe. Der Fluß war unterhalb dieser lästigen Verzögerungen, zum Teil nach Irrwegen, Einleitung mausetot. etwa beim Bau von Staustufen am Oberrhein, deren Weiterbau gerade noch rechtzeitig durch eine bessere Wenn auch auf Grund der zahlreichen Produktions Lösung, die Geschiebezugabe, ersetzt wurde, zum stillegungen und Produktionsdrosselungen bereits ein Teil aber auch nach leidvollen Erfahrungen, etwa deutlicher Rückgang der Schadstofffrachten in der beim Sandozunfall, auf den wir nicht ausreichend vor- Elbe beobachtet wurde, gehört diese doch immer bereitet waren — beim Rhein erreicht haben, auf die noch zu den am stärksten verschmutzten Flüssen Eu- Elbe anzuwenden. ropas. Zum großen Teil lassen sich nämlich die Grundge- Wir begrüßen deshalb alle, daß der erste internatio- danken, die in den verschiedenen Übereinkommen nale Vertrag, den das vereinte Deutschland geschlos- für den Rhein getroffen wurden, ohne weiteres für die sen hat, ein Vertrag über die internationale Kommis- Elbe übernehmen, zum Teil wurde das sogar schon sion zum Schutz der Elbe war. Die nächsten Aufgaben begonnen oder teilweise verwirklicht, so etwa beim dieser Kommission, vor allem ein Aktionsprogramm Meßprogramm Elbe, das sogar noch eine wesentlich zur Reduzierung der Schadstofffrachten aus allen Ein- höhere Datendichte und mehr Informationen als am leitungen und ein Meß- und Untersuchungspro- Rhein bringt. Nun, irgendwo muß sich ja der techni- gramm für die Elbe durchzuführen, werden sicherlich sche Fortschritt auswirken. von uns allen unterstützt. Wenngleich die in der Ver- einbarung genannten Ziele einer Elbsanierung, näm- Das gilt aber auch für den Warn- und Alarmplan, lich Trinkwasser aus Uferfiltraten zu gewinnen, ein das Chemieabkommen und nicht zuletzt für das jüng- möglichst naturnahes Ökosystem mit einer gesunden ste Kind, das Aktionsprogramm Rhein, das in seinen Artenvielfalt zu erreichen und die Nordseebelastung wesentlichen Punkten unter dem Eindruck des San- aus der Elbe zu verringern, aus heutiger Sicht noch in dozunfalles verabschiedet wurde und bis zum Jahr weiter Ferne liegen, müssen wir dennoch bereits jetzt 2000 den Rhein endgültig zu einem Gewässer machen die Voraussetzungen für ihre Realisierung schaffen. wird, das nicht nur verkehrstechnischen Anforderun- gen, sondern bei einer Wasserqualität, die ohne Pro- Der Neubau — und die Nachrüstungen von Kläran- bleme die Aufbereitung zu Trinkwasser gestattet, ho- lagen in den Industriebetrieben und in den Kommu- hen Freizeitwert mit hoher ökologischer Wertigkeit nen an der Elbe und ihren Nebenflüssen ist der ent- verbindet. scheidende Ansatz zur Sanierung der Wassergüte. Der hierfür erforderliche finanzielle Kraftakt ist bisher Meine Damen und Herren, all diese Rheinpro- nur in Umrissen erkennbar. Die Bundesregierung hat gramme, auch die Punkte daraus, die am Rhein zwar schon in ihre ersten Pilotprojekte zur Umweltsanie- beschlossen, aber noch nicht umgesetzt wurden, sind rung Kläranlagen einbezogen, z. B. in Bitterfeld/Wolf- nun gebündelt mit allen Erfahrungen, die man bisher fen, deren Notwendigkeit jedem, der vor Ort Augen am Rhein und an anderen Flüssen weltweit gesam- und Nase aufmacht, plausibel wird. melt hat, in dieses internationale Abkommen zum Schutz der Elbe eingearbeitet worden. Ich bin deshalb Die Haushaltsanierungsansätze von 1991 und 1992 sicher, daß wir zum Ende dieses Jahrhunderts ähnli- sind angesichts der durch die IfU geschätzten über che Erfolgsmeldungen — oder vielleicht sogar noch 200 Milliarden Sanierungskosten allein im Gewässer- bessere — lesen können wie heute vom Rhein. Ja, ich bereich natürlich immer nur ein Tropfen auf dem hei- bis sogar überzeugt davon, daß es dann niemand ßen Stein. Ich sage dies nicht, um die Bundesregie- mehr als besondere Nachricht betrachtet, sondern als rung zu kritisieren, sondern um uns die Dimensionen selbstverständlich, wenn er etwa folgendes liest: der Aufgaben vor Augen zu halten. Trotz Zuständig- „Während im Jahr 1991 in der Elbe nur noch etwa- 50 keiten der Kommunen — aber auch der Länder — im Tierarten, die meisten davon Kleinlebewesen, nach- Kläranlagenbau, muß angesichts der Größe der Auf- zuweisen waren, lassen sich heute wieder fast alle gabe der Bund die entscheidende Anfangsfinanzie- Arten finden, die vor 100 Jahren für die Elbe typisch rung übernehmen. Wir brauchen auch Finanzierungs- waren. " programme zur Elbsanierung. Allerdings müssen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3467 von Anfang an mindestens die Länder bei der detail- unabhängig sein soll. Ich halte nur eine Lösung für lierten Aufgaben- und Prioritätenformulierung in den akzeptabel, die einen möglichst geringen Eingriff in Arbeitsgruppen der Kommission vertreten sein. die Elbe nach sich zieht. Dies ist jedenfalls nicht der Bau einer Staustufe, sondern eher die Führung in ei- Ich bedaure deshalb, daß der einstimmig angenom- nem Trog über die Elbe. mene Antrag des Bundesrates, durch einen Zusatzar- tikel 1 a eine Ländervertretung in der Arbeitsgemein- Die weiteren Überlegungen der Binnenschiffahrt, schaft zur Reinhaltung der Elbe sicherzustellen, von auch etwa die Elbstrecken oberhalb Magdeburgs der Bundesregierung zurückgewiesen wurde. Diese durch eine Stauregelung — man spricht von 17 Stau- riesige Aufgabe der Elbsanierung ist eine gemein- stufen — oder durch eine Nachregulierung — dies ist same Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden. wohl eine Ausbaggerung — für Schiffe passierbar zu Sie muß deshalb von allen Beteiligten gemeinsam an- gestalten, müssen aus Gründen der Ökologie mit äu- gepackt werden. Eine Beteiligung der Länder in der ßerster Skepsis betrachtet werden. Wir müssen — wie Delegation der Bundesrepublik Deutschland ist in etwa die Franzosen, die bei ihrer Loire-Diskussion auf diesem Zusammenhang unbedingt erforderlich. Wir einen Ausbau verzichtet haben, auch die Chancen wollen deshalb erreichen, daß der Vertrag in diesem begreifen, die intakte Naturräume wie das Elbegebiet Punkt noch nachgebessert wird. in unserer industrialisierten Umwelt bieten. Die An- bindung des sächsischen Industrieraumes an die an- Ich bin optimistisch, daß das Ökosystem Elbe, was deren Gebiete Deutschlands kann auch über einen die Gewässergüte angeht, trotz oder wegen des Streits leistungsfähig ausgebauten Schienenweg gesche- in der Finanzierung in absehbarer Zeit so deutlich ver- hen. bessert sein wird, daß früher vorhandene höhere Ar- ten in der Elbe wieder heimisch werden. Allerdings Obwohl ich auch aus ökologischen Gründen mit der habe ich Zweifel, ob das gleichrangig zur Gewässer- Forderung nach einer stärkeren Verlagerung der güte formulierte Ziel, ein möglichst naturnahes Öko- Massenverkehre auf das Binnenschiff sympathisiere, system mit einer gesunden Artenvielfalt zu erreichen muß doch in der Regel geprüft werden, für welche und zu erhalten — bei Abwägung der mir bekann- Strecken dies im Einzelfall sinnvoll ist. Der Ver- ten Gefährdungspotentiale — , realisierbar ist. Diese gleich des Energieaufwandes zwischen Eisenbahn Skepsis habe ich wegen der nach und nach bekannt- (11 SKE/tkm) und des Binnenschiffes (23 SKE/tkm) gewordenen Pläne zu Fragen der Elbschiffahrt, die (zum Vergleich: Straße 85 SKE/tkm) zeigt, daß Eisen- nach Art. 1 Abs. 4 ausdrücklich von der Vereinbarung bahn und Binnenschiff in der Frage, was den ökolo- ausgenommen ist. gisch und ökonomisch vernünftigsten Transport an- geht, sehr nahe beieinander sind. Deshalb kann nicht Die Elbe hat in ihrem Mittellauf ihren alten Charak- jedesmal die Entscheidung für das Binnenschiff fallen. ter behalten, der nicht durch eine massive Kanalisie- Diese Diskussion muß aus ökologischer Sicht mit rung, Flußbettvertiefung und Stauhaltung gestört größer Aufmerksamkeit geführt werden. wird. Auwaldreste, wechselfeuchte Gründlandflä- chen und zahlreiche Stillgewässer sind auf die perio- Die Chance der Einheit, die hoffentlich bald zu ähn- dischen Überschwemmungen durch die Elbe ange- lichen Umweltstandards in den neuen Ländern führt, wiesen. Diese Flächen haben auch eine unersetzliche darf nicht auch gleichzeitig das „Nebengeschenk der Auffangfunktion für die großen Zugvögelschwärme Trennung" , nämlich die ökologischen Nischen im von Kranichen, Wildgänsen und Schwänen. Die öko- Grenzgebiet — hier also der Elbauen — gefährden. logische Bedeutung zwischen Lauenburg und Wir wollen beides bewahren. Die Elbe soll sauberer Schnackenburg wird durch den Naturpark Mecklen- und artenreicher werden. Darüber hinaus soll sie uns burgisches Elbtal und weiter oben durch den Natio- aber auch in ihrer noch ziemlich unverbauten Gestalt nalpark Sächsische Schweiz ergänzt und verstärkt. mit Auwäldern, Feuchtflächen und Biberkolonien er- Heute schon ist die Elbe ein großer Natur- und Erho- halten bleiben. Dafür lassen sie uns gemeinsam lungsraum für die Menschen. kämpfen. Die Schiffahrt auf der Elbe findet noch nicht mit den genormten Europaschiffen mit über 2,5 m garantier- Reinhard Weis (Stendal) (SPD): Es ist zweifellos ein tem Tiefgang statt, sondern mit wesentlich flacher positives Ergebnis, daß sich die Europäische Gemein- gehenden Schiffen. Schiffahrtstechnisch sind in schaft die Tschechoslowakische Förderative Republik Deutschland drei Elbabschnitte unterschiedlich zu und die Bundesrepublik Deutschland zu einer inter- diskutieren. Den unteren Elbabschnitt von der Nord- nationalen Zusammenarbeit und Kooperation bei der see bis Hamburg will ich hier nicht diskutieren; auch so dringend erforderlichen Sanierung der Elbe ver- nicht den Abschnitt von Hamburg bis zum Mittelland- pflichten. Nur auf einem solchen international abge- kanal, der über den Elbeseitenkanal erreicht werden stimmten Weg ist mittelfristig eine spürbare Verbes- kann. Ein Elbausbau durch den Naturpark ist deshalb serung der Elbe, ihrer Zu- und Nebenflüsse und überflüssig und auf jeden Fall nicht akzeptabel. schließlich auch der Nordsee zu erreichen. Kritisch für die Frage der Bewahrung eines intakten Im Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der vorliegenden Verein- Ökosystems in der Elbflußlandschaft ist die begin- barung wird in diesem Zusammenhang vom Errei- nende Diskussion zur Verbesserung der Schiffbarkeit chen eines möglichst naturnahen Systems und einer ab Magdeburg elbeaufwärts. In den „Verkehrspro- gesunden Artenvielfalt gesprochen. Wir müssen for- jekten Deutsche Einheit" ist die Erweiterung des öst- dern, daß dies nicht auf den Bereich des Wassers und lichen Mittellandkanals sowie des Elbe-Havel-Kanals der auf und in ihm lebenden Arten begrenzt wird. Die vorgesehen, die bei Heinrichsberg/Magdeburg die Gefahr einer solchen Einschränkung sehen wir Elbe queren und von Wasserstandsschwankungen deshalb, weil im Abs. 4 des Art. 1 die Probleme der 3468* Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Schiffahrt aus der Zuständigkeit der Kommission zum Für all das gibt es bekanntlich technisch machbare Schutz der Elbe ausdrücklich ausgenommen wer- Lösungsmöglichkeiten: Man kann die Fahrrinne aus- den. baggern und den Fluß mit möglicherweise 17 Staustu- fen so kanalisieren, daß der Domfelsen kein Hindernis Worin wir die Gefahren sehen, möchte ich kurz in mehr ist und der Wasserstand von den Jahreszeiten einer Beschreibung des Naturraumes Elbe darlegen. unabhängig wird. Einerseits ist die Elbe katastrophal mit industriellen und kommunalen Belastungen verschmutzt, man Aber man greift tief in den Wasserhaushalt des Elb- kann auch sagen: vergiftet. Andererseits hat sie, wenn umlandes ein, weil sich nicht nur die Strömungsver- man den Blick vom Wasser löst, ein anderes Gesicht. hältnisse im Oberflächenwasser der Elbe ändern, son- Ich kann das persönlich bewerten, nicht nur weil ich dern auch die Grundwasserverhältnisse im Elbum- an der Elbe geboren und aufgewachsen bin, sondern land. Mit welchem Ergebnis für Feuchtgebiete und auch weil mein Wahlkreis, die Altmark, im Osten von Auenwälder und deren Tierwelt? rund 80 km Flußlänge der Elbe begrenzt wird. Begin- Staustufen, ob mit oder ohne Eindeichung, zerstö- nend an der Böhmischen Pforte und dem Durchbruch ren den noch erhaltenen Landschaftscharakter, weil des Nationalparks Elbsandsteingebirge, über das ma- sie mit der Verhinderung des Wechselspiels von Über- lerische Elbtal bei Dresden, die weiten unbefestigten flutung und Trockenlegung die spezifischen Lebens- Überflutungsräume im Mittellauf mit Vogelschutzge- bedingungen für eine ganz spezialisierte Tier- und bieten, wiedererstarkten Biberpopulationen, Flußaue- Pflanzenwelt beseitigen. Staustufen beeinträchtigen landschaften und die ausgedehnten Feuchtgebiete an bekanntermaßen auch den Sauerstoffgehalt von der Grenze zum Land Niedersachsen finden wir ent- Fließgewässern negativ, wodurch die Selbstreini- lang des Elbverlaufs in den Bundesländern Sachsen gungskraft des Flusses verschlechtert wird. und Sachsen-Anhalt Flußlandschaften, wie sie in der alten Bundesrepublik im Zug des Ausbaus der Bun- Hier bahnt sich die Wiederholung tragischer Fehler deswasserstraßen vernichtet wurden. der Vergangenheit an. Das schlimme daran ist aber, das man die Fehler heute kennt und beschreiben Wir reden heute über ein notwendiges Gesetz zum kann. Und man könnte sie natürlich auch vermei- Schutz der Elbe, das aber den Aspekt des Naturschut- den. zes für noch vorhandene Potentiale naturnaher Land- schaften nicht ausdrücklich beachtet. Viele der großen Umweltprobleme, national und international, sind dadurch begründet, daß wir mit Heute erlebe ich in den Ländern Sachsen und Sach- unserem ingenieurtechnischen Wissen und Können sen-Anhalt elbauf und elbab eine Vielzahl von Veran- gegen die Natur oder die Schöpfung gehandelt haben staltungen, die sich mit dem Ausbau der Elbe zu einer und handeln. Mit Sicherheit ist der niedrige Wasser- Wasserstraße, also für erheblich größere Schiffsein- stand in unseren Flüssen auch damit in Zusammen- heiten als bisher möglich, einsetzen. Als Beispiel hang zu bringen. Ein Anstau der Elbe zur Ermögli- möchte ich aus der Tagesordnung einer Veranstal- chung eines maximalen Schiffsverkehrs versucht, mit tung zu diesem Thema auf dem sogenannten Europa- dem Umweltschaden Wassermangel in der Art umzu- schiff am 25. September 1991 in Magdeburg zitieren: gehen, daß wieder gegen die Natur gehandelt wird. „Das Ladungspotential der Elbe in Gegenwart und Zukunft" , „Die Häfen der Elbe und ihre Marktchan- Wir behandeln hier nicht den Bundesverkehrswe- cen", „Der Ausbau der Elbe — ein gesamteuropäi- geplan. Deshalb möchte ich meine Ausführungen sches Anliegen", „Der Ausbau der Elbe aus techni- nicht in der Art weiterführen. Aber trotzdem noch eine scher Sicht", „Die ökologischen Risiken des techni- Betrachtung dazu: Wir müssen, wenn wir mit dem vor- schen Ausbaues der Elbe", „Der Ausbau der Elbe in liegenden Gesetzentwurf einen Beitrag zur Sanierung ihrem oberen Lauf", „Die Elbe im Verkehrswegeplan der Elbe leisten wollen, auch die Probleme der Elb- der Bundesrepublik" . Diese Themen geben eindeutig schiffahrt in diesen Vorsatz einbeziehen. Dieses Ge- die beabsichtigte Entwicklung wieder. setz gibt es nicht her. Die nächste Behandlung des Themas wird wohl tatsächlich erst mit der Fortschrei- Ein Blick auf die Referenten zeigt mir auch deutlich, bung des Bundesverkehrswegeplans möglich sein. wo die Defizite bei den Betrachtungen liegen: Mit Ausnahme des Referenten für den einzigen umwelt- Ich will für meine Fraktion nicht zum Ausdruck politisch orientierten Redebeitrag, Herrn Dr. Dörfler bringen, daß wir gegen eine Nutzung der Elbe als lei- — übrigens der Ausschußvorsitzende im Umweltaus- stungsfähige Bundeswasserstraße sind. Jeder weiß, schuß der letzten Volkskammer der DDR — , der jetzt daß der Transport auf dem Wasserweg nicht nur unter freiberuflich tätig ist und hier nur eine Alibirolle spie- energetischen Gesichtspunkten zu den umweltver- len kann, sind alle anderen Referenten in verantwort- träglichsten Transportvarianten zählt. Eine leistungs- lichen Positionen von Industrieverbänden oder der fähige Wasserstraße ist auch ein Standortfaktor, den Landes- und Bezirksregierung. Da ist kritisch anzufra- wir für norddeutsche, mitteldeutsche und sächsische gen, warum wohl von den Verantwortlichen im Lande Industrieregionen nutzen wollen. nicht mit gleicher Deutlichkeit wie die gewünschten Die Art und Weise und den Umfang des Ausbaus Leistungsanforderungen an die Elbe die Belange des wollen wir aber in seiner Wechselwirkung zu den Naturschutzes im Elbraum beschrieben werden. Dies anderen Verkehrsträgern, unter Beachtung des tat- überläßt man von Anfang an einem Außenseiter. sächlichen Bedarfs bzw. einer realistischen Bedarfs- entwicklung und vor allem unter Bewahrung des Ge- Für die geplanten größeren Schiffseinheiten ist die samtbilds des Ökosystems Elbe entscheiden. Fahrrinne natürlich zu flach. Es stören die wechseln- den Wasserstände und vor allem der Domfelsen in Deshalb fordere ich die Bundesregierung und hier Magdeburg. speziell die Bundesminister für Umwelt und Verkehr Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3469* auf, das Defizit des heute vorliegenden Gesetzent- Abwasserproblematik aus eigener Kraft und allein aus wurfs, nämlich die Ausklammerung des Schiffsver- öffentlichen Mitteln zu bewerkstelligen, dann darf kehrs, zum Thema einer besonderen Umweltstudie meine Befürchtung berechtigt sein, daß wir über das zur Bewertung der Forderungen zu machen, die zur Thema „Schutz der Elbe " in diesem Hause noch viele Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplanes aus Jahre debattieren werden. den Ländern Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Die Treuhandanstalt hat den Investitionsbedarf für Sachsen kommen werden. die Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung Auf keinen Fall darf der Ausbau der Bundeswasser- in den kommenden Jahren bis zur Jahrtausendwende straße Elbe nach den Regeln des sogenannten Be- in den östlichen Ländern auf bis zu 150 Milliarden DM schleunigungsgesetzes erfolgen, daß wir gestern zum geschätzt. In Anbetracht dieser Summe sind die drin- erstenmal im Umweltausschuß behandelt haben und gend notwendigen Maßnahmen nur zu schaffen, das die Durchführung von Raumordnungsverfahren wenn sich die Kommunen bei der Finanzierung der und damit die Umweltverträglichkeitsprüfung mit Öf- Errichtung und dem Betrieb von Trinkwasserver- und fentlichkeitsbeteiligung dem Ermessen der Länder Abwasserentsorgungsanlagen privatwirtschaftlicher überläßt. Möglichkeiten bedienen. Allein und aus eigener Kraft lösen die Kommunen das Problem nicht mit der gefor- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. derten Dringlichkeit, weil — bei ihnen in der Verwaltung nicht die notwendige Dr. Jürgen Starnick (FDP): Auch die Fraktion der FDP begrüßt den vorliegenden Entwurf eines Geset- Planungskapazität und das Know-how in ausrei- zes über die Einrichtung einer Internationalen Kom- chendem Maße vorhanden sind, mission zum Schutz der Elbe. — die Trägerschaften für die Wasserwirtschaft und Bereits vor dem Fall der Mauer hat meine Fraktion ihre personelle Infrastruktur erst geschaffen wer- wiederholt die Bundesregierung ermutigt und ge- den müssen und drängt, mit den Anrainerstaaten der Elbe, insbeson- — die notwendigen Investitionsmaßnahmen von öf- dere mit der Tschechoslowakai und damals noch mit fentlichen Zuschüssen abhängig gemacht wer- der DDR, das Gespräch über eine Elbeschutzkonven- den. tion zu führen. Thorsten Wolfgramm hat dieses von dieser Stelle mehrfach angemahnt. Die öffentlichen Haushalte in den neuen Bundes- ländern werden aber über lange Zeit begrenzt und Heute beraten wir über einen konkreten Anfang. diese zu harten Prioritätenentscheidungen gezwun- Wir können dies tun, weil die politischen Veränderun- gen sein, bei denen bedauerlicherweise Umwelt- gen in Osteuropa eine bilaterale Vereinbarung unter schutzinvestitionen nicht immer vorrangig gesehen Einbeziehung der Europäischen Gemeinschaft mög- werden. lich gemacht haben. Ich möchte den Bundesumweltminister ausdrück- Ich bezeichne das, was uns vorliegt bewußt als An- lich darin unterstützen — wie im Mai gemeinsam mit fang, weil der Schwerpunkt der Vereinbarung zu- der Treuhandanstalt begonnen — , fortzufahren, die nächst darauf liegt, den Zustand der Elbe genauer zu neuen Länder zu ermutigen, private Finanzierungs- erfassen und zu beschreiben. Dies ist notwendig, um möglichkeiten in der Wasserwirtschaft auszuschöpfen das Problembewußtsein dafür zu stärken, welche und neue Wege bei der Zusammenarbeit zwischen Schäden in der Elbe und damit auch in der Nordsee öffentlicher Hand und Privatwirtschaft bei der Neu- bereits eingetreten sind und wie dringlich die Maß- ordnung der Wasserwirtschaft zu beschreiten. Er nahmen zum Schutz der Elbe sind. selbst sollte hierfür finanzielle Anreize schaffen. Allerdings können wir in der Phase des Erfassens Wenn die Elbe nicht zu einem umweltpolitischen nicht lange verharren. Der mit diesem Gesetz einge- Dauerbrenner werden soll, dann müssen die Vorteile richteten Kommission muß es sehr schnell gelingen, privatwirtschaftlicher Organisationsform genutzt wer- ihrer Aufgabe gerecht zu werden und Maßnahmen den, die darin bestehen, daß private Investoren ihre zur Verringerung von Emissionen nach dem Stand der Investitionen gerade nicht davon abhängig machen, Technik vorzuschlagen. Die Bundesregierung ist auf- daß etwaige Finanzmittel der Kommunen oder der gerufen, der Kommission rasch wirksame Maßnah- Länder zur Verfügung stehen. Das noch über viele men zu unterbreiten. Jahre magere Steueraufkommen in den östlichen Keinesfalls darf die Einrichtung dieser Kommission Bundesländern wird nur ausreichen, die laufenden als Ausflucht dafür dienen, daß beim Gewässerschutz öffentlichen Aufgaben — also die konsumtiven Aus- in unserem Einzugsbereich der Elbe die Gangart ver- gaben — zu decken. Die Zuflüsse für Investitions- langsamt wird. Wir selbst, nicht die Tschechen, müs- haushalte aus gemeindlichen Steuern, aus Gebühren- sen die Vorreiter in dem Bemühen sein, die Aufberei- haushalten und den anteiligen Finanzzuweisungen tungen von kommunalen und industriellen Abwäs- aus Steueraufkommen werden allenfalls den Grund- sern in diesem Bereich zu verbessern. bedarf abdecken. Ich sage dies, weil ich inzwischen ein gewisses Miß- Vor allem dürfen die neuen Bundesländer bei der behagen empfinde über das Zuständigkeitsgeraufe in Erarbeitung ihrer Kommunalverfassungen nicht den und zwischen den Kommunen über die Organisation gleichen Fehler begehen wie viele alte Bundesländer, der Abwasseraufbereitung in den neuen Bundeslän- die Wasserver- und Entsorgung nur als eine öffentli- dern. Wenn dieses dann noch damit verbunden ist, che Aufgabe zu betrachten und privatwirtschaftliche daß die Kommunen für sich in Anspruch nehmen, die Lösungen auszuschließen. Die Landesregierungen 3470* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 und die Kommunen in den östlichen Ländern müssen reitschaft gestaltete neue Staatsform. Die sanfte Revo- vielmehr ihre Kraft vorrangig darauf konzentrieren, lution in der CSFR benötigt weiteren Rückenwind. die notwendigen Genehmigungsverfahren zügig durchzuführen. Der Elbteil im Bereich der ehemaligen DDR bietet Ich will damit nicht bestreiten, daß Entsorgungsauf- ein Bild der Verwahrlosung, ein trauriges Erbe des gaben grundsätzlich Pflichtaufgaben von kommuna- real existierenden Sozialismus. Der Umweltschutz len Selbstverwaltungen sind, aber diese müssen sich wurde auch bei diesem Fluß mit Füßen getreten. Für ausdrücklich Dritter bedienen können. einen fließenden Verkehr sind die Voraussetzungen ebenso miserabel wie für eine vertretbare Umweltsi- Da die Tschechoslowakei vor den gleichen Proble- cherheit. men steht, werden unsere Lösungen auch modellhaft für sie sein. Was ist zu tun? Die für die Schiffahrt wichtigen Re- Die FDP-Fraktion wird deshalb den Bundesumwelt- gulierungsbauwerke sind instandzusetzen. Bei Mag- minister beim Wort nehmen und bei der für den deburg ist ein funktionsgerechtes Wasserstraßen- Herbst angekündigten Vorlage des Elbesanierungs- kreuz zu schaffen, damit die Berlin-Anbindung ge- programmes nachfragen, inwieweit die verwaltungs- währleistet wird. Die Sanierung des Elbe-Havel-Ka- mäßigen und finanziellen Voraussetzungen für die nals und der Ausbau des Mittellandkanals mit der zügige Umsetzung der gewünschten Maßnahmen ge- wasserstandsunabhängigen Elbquerung erfordern ei- geben sind. Bleibt die Antwort unbefriedigend, behält nen Investitionsaufwand von 4 Milliarden DM. Eine sich die FDP vor, die Initiative zur Novelle des § 18 des leistungsfähige Wasserstraßenverbindung zu den Wasserhaushaltsgesetzes zu ergreifen, um die Länder Nordseehäfen ist damit gesichert. Und wer dem Um- ausdrücklich zu ermächtigen, sich bei der Pflicht zur weltschutz gerecht werden will, läßt die Schiffahrt auf Abwasserbeseitigung dritter, privatwirtschaftlicher der Elbe weiterhin naturbelassen. Doch zur Zeit ist die Institutionen zu bedienen. Gefahr groß, daß dieser Fluß mißbraucht wird.

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Die Die Regierungschefs der norddeutschen Küstenlän- Kombination von Rednern aus den beiden Bereichen der haben gemeinsam mit dem Unternehmerkurato- Umwelt und Verkehr zeigt: Regierung und Parlament rium Nord Beschlüsse gefaßt, die in ihrer Konsequenz meinen es ernst mit einer umweltgerechten Verkehrs- zu einer großräumigen Umweltzerstörung führen politik. Die Vereinbarung zum Schutz der Elbe ist ein können, zum Schaden der Menschen in Schleswig- beachtenswertes Beispiel dafür. Alle Anliegerinteres- Holstein, Hamburg und Niedersachsen. Unter Vorsitz sen werden im ständigen Sekreta riat koordiniert, von Hennig Voscherau und Björn Engholm will man Konsens und Kooperation sind die Grundlagen. Die — trotz der Warnung vieler Fachleute — die Unterel- Kostenbeteiligung der Bundesrepublik Deutschland bevertiefung vornehmen, um diese Wasserstraße dem mit 65 % (618 000 DM 1991) ist angemessen. Mit der Containerschiff der 4. Generation mit 13,80 m Tief- Internationalen Kommission ist eine Organisations- gang anzupassen. Dieses Vorhaben ist weder ökolo- struktur geschaffen, die eine zügigeVerbesserung des gisch vertretbar noch sturmflutsicher und finanzier- Gewässerschutzes der Elbe gewährleistet. Dieses Ziel bar. Hamburg will die Konkurrenzhäfen Bremerhaven hat Vorrang. und Cuxhaven dadurch aushebeln ohne Rücksicht auf Bei gutem Willen und strukturierter Arbeit lassen den Umweltschaden. Diese Entscheidung vom 8. Mai sich die Interessen von Schiffahrt und Wirtschaft 1991 ist vom Vorsitzenden des Umweltausschusses, Dr. Wolfgang von Geldern, heftig kritisiert worden. durch jetzt praktizierbare internationale Zusammen- Ein Jahr zuvor noch lief die SPD Schleswig-Holstein arbeit in einem Elbe-Nutzungs-Konzept bündeln. Vorfahrt für die Binnenschiffahrt gilt es zu sichern. gegen solche Ideen der Hansestadt Sturm, weil bei Keiner der großen Verkehrsträger ist so umwelt- einer solchen Wassertiefe das Ufer stetig wegsackt, es keine Verklappungsflächen mehr gibt, die Regenera- freundlich, energiesparend und kostengünstig wie dieser. Der Anteil der Binnenschiffahrt am Güterver- tionskraft des Flusses abgebaut wird und die Gefahr von Deichbrüchen immens steigt. Im Herbst 1990 hielt kehrsaufkommen betrug 1990 rund 22 %, bis zum die SPD des nördlichsten Bundeslandes die Elbvertie- Jahre 2010 soll er auf 40 % gesteigert werden. Die fung für nicht aktzeptabel, acht Monate später setzt neue Politik von Bundesverkehrsminister Krause, sich Björn Engholm nach Gutsherrenart über die Frak- mehr Güter vom Asphalt auf die Wasserstraße zu ver- tionsmeinung hinweg. Dieses Doppelspiel schadet lagern, dient dem Umweltschutz in hohem Maße. nicht nur der Elbe, sondern auch der Glaubwürdigkeit Das Verlagerungspotential, besonders für Massen- von Politikern. Die Fraktion betreibt eine Verbeu- güter, ist groß. Die Elbe, die 1989 in der ehemaligen gungsstrategie vor den Umweltschutzverbänden, der DDR rund 3 % und im Bundesgebiet 22 % der Ver- Ministerpräsident derselben Partei vor den Unterneh- kehrsleistungen trug, ist als attraktive Wasserstraße mern verbunden mit der stillen Hoffnung „es merkt ja zu sichern. Sie ist für Hamburg und Schleswig-Hol- keiner" ! Die Forderung zur Tiefbaggerung geht an stein eine Wirtschaftsader von überragender Bedeu- den Bund, Engholm und seine Fraktion behalten bei tung für den Handel mit den Ländern Osteuropas und einer solchen Taktik eine vermeintlich weiße Weste, besonders mit der CSFR. Wer jetzt die Wirtschaftsbe- doch die Menschen bleiben getäuscht. Der Spielraum ziehungen verbessert und ausbaut, bringt eine bele- für einen günstigen, deutschen Containerhafen ist bende Dynamik in die neuen Demokratien Osteuro- groß, ein neuer Tiefwasserhafen vor Brunsbüttel pas, schafft dadurch Arbeit und verstärkt das Ver- könnte eine gute Lösung dafür sein, die Elbe zu schüt- trauen der Menschen in die durch Mut und Opferbe- zen, den Handel zukünftig zu sichern. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3471*

Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Na- — konkrete Aktionsprogramme zur Reduzierung der turschutz und Reaktorsicherheit: Die Elbe gehört ne- Schadstofffrachten sowohl aus kommunalen und ben der Oder zu den am stärksten durch Schadstoffe industriellen Einleitungen, belasteten Flüssen Europas. Die Verunreinigung wird — Vorsorgemaßnahmen zur Vermeidung unfallbe- im wesentlichen durch fehlende oder unzureichend dingter Gewässerbelastungen, arbeitende industrielle und kommunale Kläranlagen in der Tschechoslowakei und im Gebiet der ehemali- — gemeinsame Meß- und Untersuchungspro- gen DDR sowie durch diffuse Einträge insbesondere gramme, Koordinierung ihrer Durchführung und aus der Landwirtschaft verursacht. Die Elbe ist da- Dokumentation sowie Bewertung der Ergebnisse durch hochgradig mit sauerstoffzehrenden Substan-- (Niedersachsen; Vorsitz AG Elbe, Meßpro- zen, Schwermetallen und chlorierten Kohlenwasser- gramme). stoffen belastet. Die völlig unzureichende Klärung des Inzwischen ist ein erstes Sofortprogramm zur Redu- kommunalen Abwassers im gesamten Einzugsgebiet zierung von Schadstofffrachten kommunaler Kläran- der Elbe in der CSFR und den neuen Bundesländern lagen, industrieller Direkteinleiter und prioritärer führt überdies zu einer starken bakteriellen und vira- Schadstoffe erarbeitet worden, das noch in diesem len Belastung der Elbe. Jahr verabschiedet werden soll. Durch Produktionseinstellungen in den neuen Bun- desländern sind 1990/91 bereits Reduzierungen der Schadstofffrachten eingetreten. So ist an der Meßsta- tion Schnackenburg die Quecksilberfracht von 26 Tonnen 1990 auf 6,5 Tonnen zurückgegangen. Um Anlage 7 die Gewässergüte der Elbe nachhaltig zu verbessern Zu Protokoll gegebenen Reden und den Standard in den alten Bundesländern zu er- zu Tagesordnungspunkt 14 (Antrag betr. Transpa reichen, sind jedoch umfangreiche Sanierungsmaß- renz über Reisen des Deutschen Bundestages gegen nahmen erforderlich. Der BMU fördert diese Maßnah- men sowohl durch Pilotprojekte als auch durch die über den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen) Förderung im Rahmen des Gemeinschaftswerks Auf- schwung Ost. Im gesamten Flußeinzugsgebiet der Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Die Überschrift Elbe werden 1991 und 1992 155,5 Millionen DM für des vorliegenden Antrages enthält das Wort „Trans- die Abwasserbeseitigung und -reinigung eingesetzt. parenz". Transparent heißt durchsichtig. Durchsichtig Damit wird die Sanierung von 36 Kläranlagen und ist an diesem Antrag vor allem eines, nämlich seine 19 Kanalisationen finanziell gefördert. politische Absicht: Hier soll ein beliebtes Vorurteil ausgeschlachtet werden. Da ein hoher Anteil der Verunreinigung der Elbe aus der CSFR stammt, hat die Bundesregierung am Der Antrag erweckt den Eindruck, die Auslands- 8. Oktober 1990 als erste internationale Umwelt- dienstreisen des Bundestages seien eine Geheimsa- schutzvereinbarung nach der Vereinigung Deutsch- che, die sorgfältig vor den Augen der Öffentlichkeit lands eine Vereinbarung mit der CSFR und der Euro- verborgen würde. Das ist falsch. Die Kosten für diese päischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Interna- Reisen sind nicht in irgendwelchen Haushaltstiteln tionale Kommission zum Schutz der Elbe abgeschlos- versteckt. Es gibt keine obskuren Geldquellen und sen. keine verschleierten Fonds. Jede Mark, die hier aus- gegeben wird, ist im Haushaltsplan ausgewiesen. Die Bundesrepublik Deutschland hatte schon seit Hier wird nichts vertuscht, und hier ist nichts undurch- Jahren auf die Bildung einer Elbeschutzkommission sichtig. Die Zahlen liegen auf dem Tisch. Für Jeder- gedrängt. Dieser Wunsch scheiterte allerdings am Wi- mann sind sie nachlesbar. derstand der damaligen DDR-Regierung, die wegen Es kann auch keine Rede davon sein, daß Auslands- streitiger Grenzprobleme an der Elbe jahrelang nicht reisen des Bundestages unter Ausschluß der Öffent- zu Verhandlungen bereit war. Erst mit der politischen lichkeit stattfinden würden. Leider nimmt die Öffent- Wende erklärte sich die DDR zu Verhandlungen über lichkeit meist nur unter bestimmten Bedingungen von eine Vereinbarung bereit. den außenpolitischen Kontakten des Bundestages Diese Vereinbarung bildet die Grundlage für eine Kenntnis, und zwar dann, wenn erstens Sommerpause verstärkte Zusammenarbeit der Elbeanliegerstaaten ist, zweitens das übliche Sommertheater nicht viel mit dem Ziel, die Gewässergüte der Elbe und ihres hergibt und drittens der Be richt vom letzten Jahr in Einzugsbereichs so zu verbessern, daß die Trinkwas- den Redaktionen auf Wiedervorlage liegt. sergewinnung wieder möglich wird und daß Fische Manchmal fällt die Analyse besonders scharfsinnig aus der Elbe wieder zum Verzehr geeignet sind. Eine aus: Dann wird z. B. festgestellt, daß die Haushaltsan- nachhaltige Verbesserung der Elbegüte muß vor al- sätze in diesem Bereich für 1991 gegenüber 1988 lem auch deshalb erreicht werden, weil ohne eine spürbar gestiegen seien. Daß wir im ersten Jahr der rasche und deutliche Verminderung der Schadstoff- deutschen Einheit leben und der Bundestag 140 Ab- belastung der Elbe ein wirksamer Schutz der Nordsee geordnete mehr hat, scheint diesem zeitkritischen nicht möglich ist. Geist entgangen zu sein. Sparsamkeit und Durch- Die Kommission hat sofort im Anschluß an die Un- schaubarkeit sind wichtig, wenn es um die Aufwen- terzeichnung ad inte rim ihre Arbeit aufgenommen. dungen des Parlaments geht. Als besonders vordringliche Aufgaben wurden fol- Im Antrag wird verlangt, daß in einem Be richt im gende Maßnahmen in Angriff genommen: einzelnen darzulegen ist, welchen Niederschlag diese 3472' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Reisen in der Arbeit des Parlaments gefunden haben. Erst die Begründung läßt aufmerken. Dort wird be- Das wäre entweder grotesk oder mit dem freien Man- reits ein Überblick über die Haushaltstitel gegeben, dat nicht in Einklang zu bringen. und die dort aufgeführten Beträge sind eigentlich das, was der Steuerzahler wissen will. Diese Titel sind be- Über Einzelheiten läßt sich ja reden, und Ihre Akri- reits heute im Bundeshaushalt zu finden und damit für bie in Ehren: Aber es gibt eine Form der Parlaments- jeden Interessenten zu erfahren. Vielleicht hätten die kritik, die widersprüchlich ist, die wenig mit den Rea- Antragsteller noch den Text des § 17 des Abgeordne- litäten des Bundestages zu tun hat und die dennoch tengesetzes hinzufügen sollen, damit die interessierte aus den Reihen des Parlaments selbst kommt. Steuerzahlerin erfährt, was mit diesem Geld geschieht Die Kritiker müssen sich schon entscheiden: Man und unter welchen Bedingungen es verwendet wird. kann nicht einerseits darüber klagen, das Parlament Dabei erfahren die Bürger auch, welche Reisen bereits werde in immer stärkerem Maße von Informationen durch die Kostenpauschale zu finanzieren sind, und der Regierung abhängig und habe zu wenig Gestal- damit wird ihnen wenigstens zu einem Teil deutlich, tungsfreiheit, gleichzeitig aber darüber klagen, daß wofür Abgeordnete diese Kostenpauschale erhalten. sich die Abgeordneten ein eigenes Bild machen und Einsichtig ist sicher auch, daß die Mitwirkung von eigene politische Kontakte — auch im Ausland — ha- Abgeordneten in internationalen Gremien wie Euro- ben. parat, Interparlamentarische Union, NATO und WEU Man kann nicht einerseits darüber klagen, unsere dazu führt, daß die Abgeordneten zur Wahrnehmung Politik drohe sich zu sehr auf Deutschland und Europa ihrer Aufgaben in solchen Gremien an die Sitzungs- zu konzentrieren, gleichzeitig aber auch darüber kla- orte reisen müssen, und daß sie diese Reisen als Teil gen, daß die Abgeordneten politische Beziehungen in ihrer Arbeit tun, nicht aber zu ihrem eigenen Vergnü- die Staaten der sogenannten dritten und vierten Welt gen. Sie sind damit in der gleichen Situation wie alle pflegen. Werktätigen, die in Ausübung ihres Berufs reisen müssen und ihre Kosten erstattet bekommen. Es ist eben etwas anderes, ob wir in dicken Papieren über die Abholzung der tropischen Regenwälder le- Was bleibt, sind diejenigen Reisen, die von der Prä- sen oder ob wir das Ausmaß der Zerstörungen und sidentin genehmigt werden müssen. Wenn ich den seine Wirkungen selbst beurteilen können. Es ist auch Antrag recht verstehe, müßte die Präsidentin dann für etwas anderes, ob wir von Menschenrechtsverletzun- jede Reise darlegen, warum sie eine Genehmigung gen hören oder ob wir mit Betroffenen und Verant- erteilt hat und welche Gründe sie bewogen, diese wortlichen vor Ort sprechen. Reise für nützlich im Sinne der Arbeit des Bundesta- ges anzusehen. Abgeordnete haben in der internationalen Politik viele Handlungsmöglichkeiten, in manchen Berei- Wichtiger ist nach meinem Eindruck die Frage, wie chen mehr als die Regierung, die stärker an diploma- der Steuerzahler und die Steuerzahlerin über den ver- tische Rücksichten gebunden ist. Wer das zum Polit- langten Be richt der Präsidentin des Deutschen Bun- tourismus deklariert, der will davon offenbar nichts destages informiert wird. Die Erfahrung ist die, daß wissen. Abgeordnete und Presse ein Exemplar davon erhal- ten, auch andere Institutionen, die im Verteiler sind, Nur am Rande sei bemerkt, daß die beiden Gruppen nicht aber der normale Bürger. Der Steuerzahler er- Bündnis 90/GRÜNE und PDS auf ihren Wunsch hin fährt den Inhalt durch die Berichte, die Presse, Rund- weit überproportional an diesen Reisen beteiligt wer- funk und Fernsehen darüber geben. Für diese Be- den. richte dürfte aber das gelten, was in der Begründung Das Parlament muß sich grundsätzlich mit seinen zitiert wird als „Medienberichte, welche zu Anlässen, Handlungen öffentlich verantworten. Das bet rifft Kosten, exotischen Reisezielen sowie auch zum Ver- auch die Aufwendungen für unsere Arbeit. Denn das halten von teilnehmenden Abgeordneten kritisch ist Geld des Steuerzahlers. Deshalb stehen auch diese Stellung nahmen" . Es ist Sache der Übermittler, wie Kosten immer wieder auf dem Prüfstand. Wir beraten der Bericht bei den interessierten Steuerzahlerinnen darüber, die Öffentlichkeit diskutiert, der Rechnungs- und Steuerzahlern ankommt. Je nach Seriosität dieser hof prüft. Aber wir brauchen nicht in Sack und Asche Übermittler wird der Eindruck des Lesers oder Hörers zu gehen. Die Aufwendungen sind insgesamt ange- sehr unterschiedlich sein. Von dieser Seite her sollte messen und notwendig. Das gilt auch für die Reiseko- man genau prüfen, ob ein solcher Be richt wirklich sten. mehr Transparenz ergibt. Eine Kontrolle der politischen Kontakte der Bundes- Eine andere Frage ist, in welchem Umfang bei- tagsabgeordneten unter dem Schlagwort vergebli- spielsweise persönliche Daten der Abgeordneten da- cher Transparenz kann und wird es nicht geben. bei veröffentlicht werden müßten, die dem Daten- Ebensowenig können wir uns auf eine Selbstlähmung schutzgedanken widersprechen. Man könnte solche des Parlaments im Hinblick auf seine außenpoliti- detaillierten Berichte über die Haushaltsmittel sicher schen Kontakte einlassen. für jedes beliebige Gebiet verlangen. Im vorliegenden Falle betrifft es einen Bereich, der Gudrun Weyel (SPD): Der vorliegende Antrag zur in besonderem Maße geeignet ist, den Eindruck man- Transparenz über Reisen des Deutschen Bundestages cher Menschen zu verstärken, daß Abgeordnete gegenüber den Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen hauptsächlich damit beschäftigt sind, die angeneh- erweckt auf den ersten Blick große Sympathien. Nie- men Seiten des Lebens zu genießen, die für andere mand kann etwas dagegen haben, daß der Steuer- Menschen mit Urlaub und Freizeit verbunden sind. zahler erfährt, was mit seinem Geld geschieht. Von langen, anstrengenden Sitzungen, Aktenlesen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3473*

intensiver Vorbereitung ist da nicht die Rede. Die Tat- des Parlaments verbessern können, auch und gerade sache, daß eine Dienstreise von Abgeordneten übli- für den internationalen Bereich. cherweise ein anstrengendes Unternehmen ist, das nicht Vergnügen, sondern Arbeit bedeutet, ist häufig Aber eines sage ich von vornherein: Es gibt Unter- weniger erwähnenswert. schiede zwischen den Reisen der Parlamentsdelega- tionen und den Reisen der einzelnen Abgeordneten Diese Gesichtspunkte sollten im Ältestenrat erörtert im Auftrag ihrer Fraktion. Hier kann nicht eine Frak- werden, dem dieser Antrag überwiesen werden soll. tion Zensor über die politische Arbeit der anderen Die SPD-Fraktion ist mit dieser Überweisung und der sein. Die Haushaltsmittel müssen verantwortungsbe- Mitberatung des Haushaltsausschusses einverstan- wußt verwaltet werden. Das zu überwachen ist Auf- - den. gabe der innerfraktionellen Haushaltskontrolle. Das kann nicht Gegenstand der im Antrag gewünschten Berichte sein. Am Berichtswesen ist noch kein Staat Wolfgang Lüder (FDP): Bevor wir darüber streiten, genesen. welche Präsidialberichte für welche Ablage zu wel- cher Zeit produziert werden sollen, müssen wir uns Mit dieser skeptischen Haltung gehen wir in die zunächst darüber verständigen, was wir politisch wol- Beratungen des Ausschusses. Wir werden dabei auch len. Hierzu sage ich in aller Deutlichkeit: Die interna- darauf achten, daß es der Unabhängigkeit des Parla- tionale Zusammenarbeit der Parlamentarier stärkt mentariers dient, wenn die Kosten seiner Auslandsar- den Parlamentarismus auch in unserem Land. Reisen beit auch von seinem Parlamentsetat getragen wer- über die nationalen Grenzen hinweg sind notwendige den, damit er nicht in Versuchung gerät, sich von drit- Grundlage auch nationaler parlamentarischer Tätig- ter Seite finanzieren zu lassen. Auch das gehört zur keit. Gerade in Zeiten der zunehmenden Zusammen- unabhängigen Parlamentarierposition. arbeit der Regierungen erfordert die effektive Kon- trolle der Regierungstätigkeit durch das Parlament auch eine verstärkte internationale Zusammenarbeit Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Ich hatte der Parlamentarier. das Glück, in der vergangenen Woche mit einer Dele- gation des Bundestages unter Leitung des Vizepräsi- Wir haben heute morgen hier mit Beifall begrüßt, denten, Herrn Cronenberg, in die Mongolei zu reisen. daß als Zielsetzung, z. B. der deutsch-ungarischen Zu- Auf dem Flughafen in Peking hatten wir eine Begeg- sammenarbeit, die die Präsidentin zu Beginn dieser nung mit dem Mitglied einer Reisegruppe aus der Sitzung würdigte, ein demokratisches Europa, ein Eu- Bundesrepublik, und wir wurden gefragt, was denn ropa der Demokratien, gesetzt wurde. Das Europa der deutsche Parlamentarier so weit weg von Bonn woll- Demokratien, das wir wollen, erfordert auch eine Zu- ten und ob wir dort die Steuergelder verbraten. An sammenarbeit der Demokraten Europas. diese Episode wurde ich wieder erinnert, als ich den Wir wollen aber auch die Zusammenarbeit mit Par- Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN las. Die lamentariern in anderen Ländern, auch in anderen Fragen des jungen Mannes verdeutlichen einerseits, Kontinenten. Wir wollen den internationalen Erfah- daß das Bild der Abgeordneten nach außen ziemlich rungsaustausch. Wir wollen Menschen und Probleme lädiert ist, und sie bestätigen andererseits in ihrem kennen, um für unsere Menschen Probleme besser Wesen, daß es notwendig ist, die Bürgerinnen und lösen zu können. Bürger, einschließlich die Mitglieder des Bundesta- ges, umfassender als bisher über Umfang, Ziel und Das uneingeschränkte Ja zur internationalen Arbeit Ergebnisse (sowie über deren Kosten) der Reisetätig- der Parlamentarier muß am Beginn einer Debatte ste- keit von Abgeordneten zu informieren. hen, bevor wir uns darüber unterhalten, wie wir dieses Tätigkeitsfeld dem Bürger draußen näherbringen Der Maßstab für den Erfolg einer Reise ist dabei wollen und können. nicht die Höhe der finanziellen Aufwendungen oder etwa der Erholungseffekt der Abgeordneten, sondern Dazu gehört auch — gerade für Vertreter jener poli- die Herstellung beziehungsweise die Verbesserung tischen Richtungen, die in vielen Ländern vertreten der Kontakte von Parlamentariern der Bundesrepu- sind; ich denke an die Sozialdemokraten, ich denke blik und denen im Ausland, ist das gegenseitige Ken- aber auch an die Christkonservativen und insbeson- nenlernen und die Entwicklung des Verständnisses dere an die Liberalen — , daß wir den Gedanken- und füreinander, für unterschiedliche Lebensbedingun- Meinungsaustausch pflegen. Das kann man durch Te- gen, gesellschaftliche Probleme, für das Denken und lefax und Telefon nicht ersetzen. Der unmittelbare Fühlen der Menschen. Besonders gefördert werden Kontakt zum Kollegen, das Gespräch mit der Kollegin sollten meines Erachtens heute Informationsreisen muß international möglich sein. Das wichtigste und nicht nur in die neuen Bundesländer — ich kann mich erste Ziel muß dabei sein, um Verständnis für diese des Eindrucks nicht erwehren, daß viele Abgeordnete Arbeit — und es geht um Arbeit, nicht um Vergnü- aus den alten Bundesländern hier einen respektablen gen — zu werben. Nachholbedarf haben — , sondern vor allem auch in Ich bin dafür, daß dem Bürger stärker transparent die osteuropäischen Länder. Es ist relativ leicht, sozu- gemacht wird, was internationale Arbeit des Parla- sagen aus der Ferne über Demokratisierung, zum Bei- ments und der Parlamentarier ist. Das aber geht nicht spiel in der Mongolei, zu sprechen und kluge Rat- auf dem Weg über den haushälterischen Präsidialbe- schläge zu geben. Es fällt schon schwerer und diffe- richt, wie der Antrag es vorsieht. renziert sich daher, wenn ich selbst erlebt habe, unter welch harten Bedingungen eine normale Aratenfami Wir werden in der Ausschußberatung darüber lie lebt und wie kompliziert sich der Aufbau neuer nachdenken müssen, wie wir die Öffentlichkeitsarbeit politischer Strukturen vollzieht. 3474 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Es fällt manchen hier sicher leicht, darüber zu re- xualobjekte auf Grund ihrer Unreife mißbraucht zu den, daß schnellstmöglich, z. B. in der Mongolei, die werden. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen Marktwirtschaft einzuführen und die Privatisierung hat Verfassungsrang. Kinder und Jugendliche haben zu vollziehen ist. Das sieht dann schon anders aus, ein Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit im Sinne wenn man aus genauer Kenntnis der konkreten Be- der Art. 1 und 2 unserer Verfassung. Sie bedürfen des dingungen einschätzen muß, daß eine Privatisierung, Schutzes und der Hilfe, um sich zu eigenverantwortli- zum Beispiel der gesamten Weideflächen, zu einer chen Persönlichkeiten innerhalb der sozialen Ge- Katastrophe in der Viehwirtschaft führen würde. meinschaft zu entwickeln. Das gilt gerade auch für ihre Bewahrung vor sexuellen Gefahren. Dieser Ge- Man kann lang und breit über Hilfe beim Aufbau sichtspunkt berechtigt somit den Staat, von Kindern einer modernen Wirtschaft debattieren. Ohne genaue und Jugendlichen Einflüsse fernzuhalten, die sich auf Ortskenntnis, was dazu wirklich notwendig ist, wird ihre Einstellung zum Geschlechtlichen und damit auf vieles nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Dabei die Entwicklung ihrer Persönlichkeit nachteilig aus- geht es keineswegs darum, als Propheten, als die Al- wirken können. leswisser und Alleskönner aufzutreten, sondern eine echte Partnerschaft zu erreichen. Und ich denke, daß Zielrichtung der von uns beabsichtigten neuen Re- durchaus auch Abgeordnete des Deutschen Bundes- gelung ist es also nicht, sexuelle Betätigung von Ju- tages noch lernfähig sind und sich neue Ideen, zum gendlichen zu verhindern oder zu kanalisieren, son- Beispiel in bezug auf die Gestaltung des Parlamenta- dern Jugendliche im Alter zwischen 14 und 16 Jahren, rismus bei Reisen zu Parlamenten anderer Länder, wo von einer reifen Persönlichkeit noch keineswegs aber auch im Land selbst, ich meine hier zum Beispiel ausgegangen werden kann, davor zu schützen, als Erfahrungen, die in Brandenburg gesammelt wurden, Sexualobjekt von Erwachsenen mißbraucht zu wer- holen können. Ich gehe davon aus, daß Reisen von den. Abgeordnetengruppen durchaus unverzichtbarer Be- standteil von parlamentarischer Arbeit sein müssen. Die PDS hat unter dem Namen SED eines der per- Das schließt aber zugleich ein, in jedem Fall zu über- fektesten staatlichen Unterdrückungssysteme dieses prüfen, ob Aufwand, auch der finanzielle, und Nutzen Jahrhunderts geschaffen, in der die SED-hörige Ju- einer Reise in einem vertretbaren Verhältnis stehen. gendorganisation FDJ die Aufgabe hatte, mit starker Das aber ist besser möglich, wenn darüber regelmäßig Anlehnung an Mechanismen der Hitler-Jugend die (vollständig, umfassend und öffentlich) Be richt erstat- gesamte DDR-Jugend gleichzuschalten. Diese Ju- tet wird. Es würde auch dazu führen, daß die Steuer- gend wurde mit vielfältigen und höchst subtilen Me- zahlerinnen und Steuerzahler einen regeren Anteil an chanismen daran gehindert, sich frei zu entfalten und den politischen Ergebnissen von Abgeordnetenreisen sich anderen als kommunistischen Ideen zu öffnen. nehmen und nicht in erster Linie nach den Kosten fra- Ausgerechnet diese PDS macht sich jetzt zum Grals- gen würden. hüter der freien Entfaltung unserer Jugend, statt mit Die Gruppe PDS/Linke Liste unterstützt den vorlie- sich selbst ins Ge richt zu gehen und sich zu prüfen, genden Antrag der G ruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN wie es um die historische Verantwortung dafür be- und wird in ihrer Öffentlichkeitsarbeit künftig größe- stellt ist, die ehemalige DDR-Jugend jahrzehntelang ren Wert auf die Transparenz ihrer Reisetätigkeit le- geknebelt und geknechtet zu haben. gen. Sobald der Gesetzesentwurf der Bundesregierung vorliegt, wird sich meine Fraktion einer sorgfältigen Beratung dieses Entwurfes widmen. Eine öffentliche Expertenanhörung zu diesem Thema erscheint mir Anlage 8 sinnvoll. Ich beurteile die Chancen günstig, zu einer breiten Mehrheit im Parlament zu kommen. Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 15 (Sexualgleichstellungsgesetz) Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Wir Sozialdemokra- ten bedauern, daß die auf G rund des Einigungsvertra- ges erforderliche Diskussion über die Reform des Se- Horst Eylmann (CDU/CSU): Nach der Koalitions- xualstrafrechts und insbesondere der §§ 175, 182 vereinbarung vom 16. Januar 1991 sollen die .§.§. 175, StGB zu später Stunde an Hand eines Gesetzentwur- 182 StGB im Zuge der innerdeutschen Rechtsanglei- fes der PDS eröffnet werden soll, der nichts als ein chung durch eine einheitliche Schutzvorschrift für schlechtes Plagiat ist. Es handelt sich um ein Plagiat, männliche und weibliche Jugendliche unter 16 Jah- weil die Freie und Hansestadt Hamburg in einem be- ren ersetzt werden. Zur Umsetzung dieser Koalitions- reits am 7. Mai 1991 beim Bundesrat eingegangenen vereinbarung befindet sich im Bundesjustizministe- Gesetzentwurf die Streichung der genannten Straf- rium ein Gesetzentwurf in Vorbereitung. Dieser Ent- normen beantragt hat; am 29. Juni 1991, also mehr als wurf geht von einer einheitlichen Jugendschutzvor- 7 Wochen danach, hat die PDS ihren Entwurf beim schrift aus und bezieht den im Gebiet der ehemaligen Bundestag eingebracht. Es handelt sich um ein DDR fortgeltenden § 149 StGB-DDR ein. schlechtes Plagiat, weil als Begründung nur ein paar In der Bundesrepublik Deutschland besteht ein sprachlich mißlungene Schlagworte angeboten wer- breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens dar- den, beispielsweise der Hinweis auf den „Aspekt ge- über, daß nicht nur Kinder bis zu 14 Jahren, sondern gebener Veränderungen in der Lebensrealität junger auch Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren davor Menschen hinsichtlich ihrer sexuellen Beziehun- geschützt werden müssen, von Erwachsenen als Se- gen". Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3475*

Nach unserer Auffassung geht es bei der von uns beispielsweise den §§ 174 und 180 StGB, zu berück- seit langem geforderten Streichung des § 175 StGB sichtigen haben. Die sinnvolle Weiterentwicklung der um die Beseitigung der Diskriminierung homosexuel- Normen zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, ler Männer. Und es geht um die Frage, ob der Tatbe- nicht zuletzt auch der §§ 177 und 178 StGB (Verge- stand, der sexuelle Handlungen eines Mannes über waltigung und sexuelle Nötigung), ist aus unserer 18 Jahren an einem Mann unter 18 Jahren mit Strafe Sicht eine Aufgabe, der sich der Gesetzgeber nicht bedroht, auf wissenschaftlich nicht mehr haltbaren entziehen darf. Annahmen beruht, insbesondere der Annahme, Ursa- Wir Sozialdemokraten fühlen uns dabei einer Neigungen sei eher die Verfüh- che homosexueller Rechtstradition verpflichtet, die ganz besonders mit rung in jugendlichem Alter und weniger eine entspre- dem Namen des früheren Justizministers Gustav Hei- chende Veranlagung oder frühkindliche Entwick- nemann verbunden ist. Nach unserer Auffassung muß lung, die in aller Regel vor Vollendung des 14. Le- der Gesetzgeber bei seiner schwierigen Aufgabe Ver- bensjahres abgeschlossen ist. antwortung und Kompetenz beweisen. Ein starres Die Bundesregierung hat am 10. Juli 1991 auf eine Festhalten an Koalitionskompromissen oder gar ge- von mir eingereichte Schriftliche Anfrage zutreffend setzgeberische Schnellschüsse mit dem Ziel partei- festgestellt: „Bei Sachverständigenanhörungen der politischer Profilierung sind damit nicht vereinbar. Fraktionen der SPD und FDP im Deutschen Bundestag in den Jahren 1981 und 1982/1983 vertraten Sexual- wissenschaftler die Auffassung, die Disposition zur Jörg van Essen (FDP): Die PDS als Vorkämpferin Homosexualität liege vor dem 14. Lebensjahr fest". der Freiheit — hier der sexuellen — , mir kommen die Und sie hat hinzugefügt: „Der Bundesregierung lie- Tränen! In wenigen Ländern hat es in den vergange- gen keine Erkenntnisse vor, die eine andere Beurtei- nen Jahren schlimmere Verfolgungen sexueller Min- lung rechtfertigen können". derheiten gegeben als im sozialistischen Musterland Kuba, ohne daß mir zu Ohren gekommen wäre, daß Offen und auch in der SPD-Fraktion noch nicht ge- unsere Kollegen aus der SED-Nachfolgepartei dort für klärt ist die Frage, ob dieser Erkenntnisstand eine die Menschenrechte eingetreten wären. neue Schutzaltersbestimmung rechtfertigt, wie sie die Bundesregierung plant. Diese läßt sich nach der auf Homosexuelle Frauen und Männer sind in man- meine Anfrage gegebenen Antwort „von dem Grund- chem vielleicht anders, aber garantiert nicht dümmer satz leiten, daß Jugendliche unter 16 Jahren vor sexu- als der Durchschnitt der Bevölkerung und durch- ellem Mißbrauch durch Erwachsene zu schützen sind, schauen diese billige Effekthascherei der PDS. Sie und zwar unabhängig davon, ob Täter oder Opfer wissen genau, daß es sich in einem weltoffenen, in männlichen oder weiblichen Geschlechts sind" . Eine einem liberalen Klima am besten leben läßt, und ha- zwingende Konsequenz dieser Regelung wäre, daß ben noch gut in Erinnerung, daß ähnliche Versuche künftig homosexuelle und heterosexuelle Handlun- der West-Grünen in der Vergangenheit den notwen- gen von Frauen mit Partnern zwischen 14 und 16 Jah- digen Reformprozeß nicht beschleunigt, sondern um ren strafbar würden. Es ist zu klären, ob es wirklich ein Jahre verzögert haben. Ähnlich sieht es offenbar auch Strafbedürfnis für diese Neupönalisierung von Frauen der Schwulenverband in Deutschland, der in einer gibt. Im Falle der ersatzlosen Streichung der §§ 175 Presseerklärung von heute das Vorpreschen der PDS und 182 StGB läge das Schutzalter nach § 176 StGB, als voreilig und unnötig bezeichnet. der den sexuellen Mißbrauch an Kindern regelt, bei Die FDP ist in allen Koalitionsverhandlungen der 14 Jahren. letzten Jahre sachkundig für die Rechte der Homose- Bei der Überprüfung des § 182 StGB, der die „Ver- xuellen eingetreten. Schon an dieser Sachkunde man- führung" eines noch nicht 16jährigen Mädchens zum gelt es dem PDS-Antrag deutlich, der fälschlich be- Beischlaf mit Strafe bedroht, stellt sich eine weitere hauptet, einvernehmliche Sexualkontakte zwischen Frage: Soll diese Norm überhaupt die sexuelle Selbst- jungen Männern von 14 bis 18 Jahren seien in der Alt- bestimmung schützen, oder soll vielmehr ein „unbe- Bundesrepublik nach § 175 StGB strafbar. Nein, einer scholtenes" Mädchen vor dem Verlust ihrer Heirats- muß schon älter als 18 Jahre sein. chancen geschützt werden, wie der Ausschluß der Die Koalitionsvereinbarung dieses Jahres läßt nun Strafbarkeit im Falle der Heirat von Täter und Ver- einen wirklichen konkreten Reformschritt zu: die Sen- führter zeigt? Und ist das noch zeitgemäß? kung des Schutzalters auf 16 Jahre. Ein Ergebnis, das Eine seriöse Überprüfung der Schutzaltersfrage nicht nur dem konsequenten Verhandeln meiner Par- macht es notwendig, daß sich der Gesetzgeber über teifreunde zu verdanken, sondern eine notwendige die Erfahrungen informiert, die mit sehr unterschied- rechtliche Konsequenz aus dem Einigungsvertrag ist, lichen Regelungen in anderen Ländern gemacht wor- der zu unterschiedlichen Strafvorschriften in diesem den sind. In Europa gibt es enorme Schwankungen, Bereich — hier im Westen § 175 StGB, dort im Osten die sich zwischen einem Schutzalter von 12 Jahren in § 149 StGB der DDR — geführt hat. Eine zügige No- Spanien und Malta und 21 Jahren in Großbritannien vellierung, die auch wir für notwendig halten, muß (dort bei homosexuellen Handlungen) bewegen. ähnlich wie bei § 218 StGB schnell für einheitliche Rechtsgrundlagen in Gesamtdeutschland sorgen, um Die SPD-Fraktion wird ihre Meinung erst im An- einem Vorwurf des Verstoßes gegen den Gleichheits- schluß an eine Sachverständigenanhörung, die insbe- grundsatz des Art. 3 Grundgesetz zu begegnen. sondere zu dem angekündigten Gesetzentwurf der Bundesregierung stattfinden sollte, endgültig festle- Ich sage hier mit aller Deutlichkeit: Eine politisch gen. Wir werden dabei auch die Schutzaltersregelun- schnell durchsetzbare Reform in die richtige Richtung gen, die in anderen Straftatbeständen enthalten sind, ist hilfreicher als eine Maximalforderung, die nie Ge- 3476' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

setzeskraft erlangt. Das enthebt mich natürlich nicht mer zu verfolgenden sexuellen Mißbrauch von Kin- der Verpflichtung, unsere Vorstellungen für diese Re- dern und der Straffreiheit über 16 Jahren darstellt, form vorzustellen und zu begründen. sollten deshalb die Eltern entscheiden können, ob sie ihr Kind den zahlreichen Unannehmlichkeiten und Ich halte die Schutzaltersgrenze von 16 Jahren für psychischen Belastungen eines Strafverfahrens aus- vertretbar. Der Gesetzgeber hat sich beim Jugend- setzen wollen. schutz nicht an d e n Jugendlichen zu orientieren, die körperlich und seelisch am weitesten sind, sondern an Fünftens. Schließlich kann für uns kein Zweifel den schwachen, die eines Schutzes vor Erwachsenen daran bestehen, daß diese neue Jugendschutzvor- und ihren Wünschen besonders bedürfen. schrift unter dem § 182 StGB und nicht unter § 175 StGB in das Strafgesetzbuch eingestellt wird. Auch Die Fortschritte zeigen sich aber nicht nur an der am heutigen Tage gilt es an die schlimmen Verfolgun- Schutzaltersgrenze, sondern auch in den übrigen Vor- gen zu erinnern, die § 175 StGB in der Vergangenheit stellungen meiner Partei für die neue Regelung: und insbesondere im Nationalsozialismus und seinen Erstens. Die Neuregelung soll ausschließlich auf Konzentrationslagern ermöglicht hat. den Mißbrauch abgestellt sein, so daß nur die Fälle, in denen die Täterin oder der Täter das jugendliche Op- Christina Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): In den fer als bloßes Objekt benutzt und damit in seiner Men- Koalitionsvereinbarungen vom Januar 1991 kündigte schenwürde verletzt, strafrechtlich verfolgt werden die Regierung an, die §§ 175 und 182 StGB durch eine können. Alle Fälle einer echten Liebesbeziehung sind sogenannte einheitliche Schutzvorschrift für männli- damit ausgeschlossen. che und weibliche Jugendliche unter 16 Jahren erset- Zweitens. Die Strafbarkeit sollte auf die Fälle be- zen zu wollen. Wir halten es nicht für sinnvoll, über grenzt bleiben, in denen die Unreife oder Unerfahren- dieses Thema im Bundestag zu diskutieren, bevor der heit des Jugendlichen ausgenutzt wird. Der Bereich diesbezügliche Gesetzentwurf der Bundesregierung der Prostitution von Jugendlichen zwischen 14 und vorliegt. 16 Jahren wird somit weitgehend ausgeklammert. Die Fraktion DIE GRÜNEN hat bereits in der 10. Das Problem der Jugendprostitution ist nur sozial und und in der 11. Legislaturperiode als einzige Fraktion nicht durch das Strafrecht zu lösen. im Deutschen Bundestag in unzähligen Anfragen, An- Drittens. Die Regelung muß alle sexuellen Hand- trägen, Gesetzentwürfen und Redebeiträgen Stellung lungen von einiger Erheblichkeit umfassen, unabhän- gegen die Diskriminierung von Lesben und Schwulen gig davon, welches Geschlecht Täter und Opfer ha- bezogen. 1989 brachte sie einen Gesetzentwurf zur ben. Wenn bisher bestimmte Formen weiblicher Se- Streichung des § 175 in den Bundestag ein. DIE GRÜ- xualität straffrei waren, so beruhte dies nicht auf de- NEN waren die einzigen, die offen schwule und les- ren gesellschaftlicher Akzeptanz, sondern auf dem bische Abgeordnete in den Bundestag schickten. Nichternstnehmen von Frauen. Frauen wurden aus- Die Bundestagsgruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN, schließlich als bloße passive Wesen angesehen. Es ist in der ich den Unabhängigen Frauenverband (UFV) für mich jedoch keinerlei Grund zu erkennen, warum vertrete, setzt diese Arbeit fort. Wir haben in den letz- sexuell aktive Frauen bei Mißbrauch eines Jugendli- ten Wochen einige Kleine Anfragen an die Bundesre- chen anders beurteilt werden sollen als ein Mann in gierung gerichtet, aus deren Beantwortung für uns gleicher Situation. Daß es auch in diesem Bereich eindeutig hervorgeht, daß es keine sexualwissen- strafwürdiges Verhalten gibt, zeigen pornographische schaftlichen, entwicklungspsychologischen oder kri- Filme, die zur Zeit unter dem Begriff „Kinderporno- minologischen wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt, graphie" besonders diskutiert werden, deutlich. Im- aus denen sich die Notwendigkeit für die Erhöhung merhin waren — und hier zitiere ich den „Spiegel" des bestehenden Schutzalters von 14 auf 16 Jahre her- vom 12. August 1991 — von den 1990 in Frankfurt leiten ließe. Wir sind der Auffassung, daß die geplante registrierten Opfern sexueller Nötigung von Kindern Ausweitung und Verschärfung des § 182 StGB nur und Jugendlichen 37 Prozent Jungen, von denen ein von denjenigen gewünscht werden kann, die sich die Drittel von Müttern oder Stiefmüttern mißbraucht Möglichkeit offenhalten wollen, Homosexualität wei- wurde. Der „Spiegel" schreibt: „Die bislang auf Män- terhin zu kriminalisieren, diesmal unter Miteinbezie- ner reduzierte Schuldzuweisung beruht auch auf ei- hung lesbischer Frauen. ner Idealisierung weiblicher Sexualität, die immer noch als passiv und vorwiegend hingebungsvoll dar- Wir werden in der nächsten Zeit einen Gesetzent- gestellt wird. " wurf zur Legalisierung männlicher homosexueller Handlungen von über 14jährigen mit über 18jährigen Viertens. Die Regelung sollte nach meiner Auffas- in den Bundestag einbringen, in dem wir uns gegen sung mit einem ausschließlichen Antragsrecht der Er- die geplante Anhebung der Schutzaltersgrenze von ziehungsberechtigten versehen sein. Ich hoffe, daß 14 auf 16 Jahre, gegen das Fortbestehen der Verfol- sich auch unser Koalitionspartner dieser Auffassung gungsmöglichkeit von Homosexualität und gegen die anschließt. Während nämlich im Bereich der Jugend- Neupönalisierung von Frauen wenden. Unser Ent- lichen bis zu 14 Jahren das öffentliche Interesse am wurf wird als Alternative zu dem Gesetzentwurf der Schutz dieser Altersgruppe klar überwiegt und die Bundesregierung im Bundestag und in den Ausschüs- Beweislage in der Regel eindeutig ist, muß hier häufig sen erörtert werden. Die ursprüngliche Absicht der mit dem Einwand des Täters oder der Täterin gerech- Bundesregierung, den § 175 im Zuge der Rechtsan- net werden, daß die Handlungen im gegenseitigen gleichung klammheimlich, von der Öffentlichkeit fast Einverständnis vorgenommen worden sind. In diesem unbemerkt, abzuschaffen, soll nicht gelingen. Dazu Altersbereich, der den Übergang zwischen dem im- haben Schwule und Lesben zusammen mit anderen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3477* progressiven Kräften in der ehemaligen DDR und in tigwerden des Gesetzgebers durch Pönalisierung se- der ehemaligen BRD zu lange gegen diesen Paragra- xueller Handlungen gegenüber und mit Jugendli- phen gekämpft. chen. Dabei geht es nicht — wie der Entwurf glauben zu machen versucht — um die Einführung einer Straf- barkeit einvernehmlicher sexueller Kontakte. Die ge- Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister der Justiz: Der zur plante Jugendschutzvorschrift soll in ihrem Anwen- Beratung anstehende Gesetzentwurf greift ein Pro- dungsbereich auf die allein strafwürdigen Fälle des blem auf, das durch die Herstellung der Einheit sexuellen Mißbrauchs beschränkt sein. Sie erfaßt nur Deutschlands an Aktualität gewonnen hat. Es geht um sexuelle Handlungen Erwachsener, die diese an Ju- die Frage der ersatzlosen Streichung der § § 175, 182 gendlichen unter 16 Jahren unter Ausnutzung ihrer des Strafgesetzbuchs, die schon in vergangenen Le- Unreife oder Unerfahrenheit vornehmen oder von die- gislaturperioden Gegenstand verschiedener Gesetz- sen an sich vornehmen lassen. entwürfe gewesen ist. Es geht um einen Bereich, in dem nach dem Einigungsvertrag in den alten und Die Behauptung des Entwurfs, eine so konzipierte neuen Bundesländern partiell unterschiedliches Jugendschutzvorschrift schränke das im Grundgesetz Recht gilt. Einerseits sind die §§§§ 175 und 182 StGB im garantierte Recht auf freie Entfaltung der Persönlich- Gebiet der ehemaligen DDR nicht anzuwenden, an- keit und damit auf sexuelle Selbstbestimmung ein, dererseits gilt dort der erst am 1. Juli 1989 in Kraft verkennt, daß sie es den Jugendlichen gerade ermög- getretene § 149 StGB der ehemaligen DDR fort, der lichen will, sich weitgehend frei von schädlichen Ein- den sexuellen Mißbrauch eines Jugendlichen zwi- flüssen Dritter zu eigenverantwortlich auch im sexuel- schen 14 und 16 Jahren unter Ausnutzung der Unreife len Bereich handelnden Persönlichkeiten innerhalb unter Strafe stellt. unserer sozialen Gemeinschaft zu entwickeln.

Der Entwurf nimmt sich dieser rechtspolitisch unbe- Es ist auch keineswegs realitätsfremd — wie der friedigenden Situation an und versucht, in diesem Be- Entwurf offenbar meint — , Jugendliche unter 16 Jah- reich die innerdeutsche Rechtseinheit herzustellen. ren als einen Personenkreis anzusehen, bei dem ein Dabei verwundert es schon ein wenig, daß die PDS als Mangel an sexueller Erfahrung oder psychischer Reife Nachfolgeorganisation der SED von der erst mit Ge- dazu führen kann, daß die Fähigkeit zu eigenverant- setz vom 14. Dezember 1988 neugefaßten Jugend- wortlicher sexueller Selbstbestimmung noch fehlt. Es schutzvorschrift des j 149 StGB der DDR nichts mehr ist notwendig, in jedem Einzelfall konkret festzustel- wissen und diese ebenso wie die §1 175, 182 des bun- len, daß ein solcher Mangel des noch nicht 16 Jahre desdeutschen StGB ersatzlos streichen will. alten Opfers, Bedeutung und Tragweite sexueller Handlungen richtig zu erfassen und sein Handeln da- Natürlich verfolgt die Bundesregierung das wich- nach einzurichten, auf Grund seiner Unreife oder Un- tige Anliegen, im Interesse der innerdeutschen erfahrenheit tatsächlich besteht. Natürlich wird dies Rechtsangleichung alsbald eine einheitliche Rege- nicht — wie der Entwurf behauptet und wie es in § 149 lung für das vereinigte Deutschland zu schaffen. Im StGB-DDR geltendem Recht entspricht — pauschal Hinblick auf den vom Bundesverfassungsgericht mit unterstellt, sondern wird sorgfältig im Einzelfall zu Verfassungsrang ausgestatteten Kinder- und Jugend- prüfen sein. Nur dann kann die Feststellung der Un- schutz kann sie allerdings den zur Beratung stehen- reife und Unerfahrenheit ihre Funktion erfüllen, die den Entwurf nicht unterstützen. ihr als zentrales Kriterium des Tatbestandes zugewie- Dies wird nicht verwundern, sieht doch schon die sen ist. Sie vor allem soll gewährleisten, daß nur Fälle Koalitionsvereinbarung vor, die § § 175 und 182 des des sexuellen Mißbrauchs Jugendlicher vom Tatbe- Strafgesetzbuches durch eine einheitliche Schutzvor- stand der neuen Jugendschutzvorschrift erfaßt wer- schrift für männliche und weibliche Jugendliche unter den. 16 Jahren zu ersetzen. Wenn sich der heute zur Bera- tung anstehende Entwurf auch gegen die angestrebte Die Vorlage eines Regierungsentwurfes, der diese Neuregelung wendet, ist dies für mich Anlaß und Vorstellungen von der inhaltlichen Ausgestaltung der Rechtfertigung genug, Ihnen die in meinem Haus ent- Jugendschutzvorschrift umsetzt, steht bevor. Das in wickelte Konzeption einer einheitlichen Jugend- meinem Haus entwickelte Konzept ist zunächst noch schutzvorschrift darzulegen; dies auch deshalb, um mit den beteiligten Ressorts abzustimmen und soll den Argumenten entgegenzutreten, die der Entwurf dann — wie üblich — den Ländern zur Stellungnahme gegen die Einführung einer solchen Vorschrift vorge- zugeleitet werden. Es erscheint mir zweckmäßig, die bracht hat. Erörterung des heute zur Beratung stehenden Gesetz- entwurfes in den Ausschüssen zurückzustellen, bis Die sich an § 149 StGB der früheren DDR orientie- der angekündigte Regierungsentwurf vorliegt. Dies rende Konzeption einer Jugendschutzvorschrift dient hätte auch den Vorteil, die Erörterung im Bundesrat nicht nur der strafrechtlichen Gleichstellung homose- zu diesem Thema in die Überlegungen mit einbezie- xueller Bürger, sondern vor allem auch dem Jugend- hen zu können. Der Bundesrat wird nämlich Ende schutz. Dieser berechtigt den Staat — wie das Bundes- September/Anfang Oktober die Beratung des Antrags verfassungsgericht ausgeführt hat — , von Kindern der Freien und Hansestadt Hamburg aus dem Jahre und Jugendlichen Einflüsse fernzuhalten, die sich auf 1990, die 175 und 182 StGB ersatzlos zu streichen, ihre Einstellung zum Geschlechtlichen und damit auf wieder aufnehmen. Es kann für alle nur von Nutzen die Entwicklung ihrer Persönlichkeit nachteilig aus- sein, auf der Grundlage breitgestreuter Meinungs- wirken können. Danach rechtfertigt schon die ernst- vielfalt zu einer die Rechtseinheit herstellenden Ent- hafte Möglichkeit schädlicher Einwirkungen ein Tä- scheidung zu kommen. 3478* Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Anlage 9 neue Erfordernisse warteten. Das ist schlichtweg un- wahr und pure Stimmungmache und Demagogie. zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 16 Es hätte der PDS im Sinne einer vernünftigen ge- (Einsetzung eines Untersuchungsausschusses) meinsamen Bewältigung der jüngsten deutschen Ver- gangenheit besser angestanden, in den Fachberei- chen ihren Sachverstand und ihren Dienst anzubie- Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Zum ten, die heute noch großen Aufarbeitungsbedarf ha- Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf Einsetzung ben. Das wäre aus meiner Sicht z. B. die Rolle der eines Untersuchungsausschusses möchte ich mittei- SED/PDS und von SED/PDS-Mitgliedern bei der Be- len, daß wir nach demokratischem Brauch dem Vor- reinigung und Vernichtung von Akten und Personal- schlag des Ältestenrates folgen und einer Verweisung papieren während der Wendezeit; ein Thema, wo wir an den Innenausschuß zustimmen werden. Vom In- Ihre Unterstützung gut gebrauchen könnten, ist doch halt und der Sache her müßten wir ihn eigentlich Herrn Modrows Aufruf zur Aktenkorrektur so befolgt gleich hier bei der Einbringung ablehnen. worden, daß wir heute in zahlreichen wichtigen Berei- chen wie bei der Rehabilitierung von Opfern, bei der Der vorgeschlagene Untersuchungsauftrag bezieht Strafverfolgung von Verbrechen gegen die Mensch- sich auf zahlreiche Fragen, die längst von der Bundes- lichkeit und bei der Überführung von Stasi-Spitzeln regierung oder anderen Stellen beantwortet worden auf große Lücken und leere Regale treffen. sind. Die Bundesregierung hatte in mehrfachen Stel- lungnahmen auch darauf verwiesen, daß einige die Ein gutes Thema für einen Untersuchungsausschuß Arbeit der bundesdeutschen Sicherheitsdienste be- wäre auch die Arbeitsweise, Funktion und Verant- treffende Fragen ausschließlich in den für die Kon- wortung des Politbüros und der Bezirks- und Kreisse- trolle nachrichtendienstlicher Tätigkeiten zuständi- kretäre der SED als Befehlshaber der verschiedenen gen Gremien des Deutschen Bundestages besprochen Organisationsstufen des Ministeriums für Staatssi- werden könnten. cherheit. Hier könnten Sie aus ihrer Kenntnis heraus gute Beiträge liefern, ob und wie diese Personen Die PDS hat durch die intensive Nutzung der parla- heute dafür zur Verantwortung gezogen werden kön- mentarischen Instrumentarien wie Anfragen, Aus- nen. Sie verweigern sich hier. Das ist bedauerlich, schußdiskussionen und mündliche Befragung der könnten Sie doch damit den Deutschen endlich auch Bundesregierung das inhaltliche Potential des vorge- einmal einen Dienst erweisen. legten Untersuchungszieles abgenagt und ausge- lutscht. So sind alle drei Punkte des mutmaßlichen Wir verwenden unsere Energie in diesen Tagen Untersuchungsauftrages bereits in Antworten der darauf, mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz und der Bundesregierung vom 7. September 1990, vom 8. No- Veränderung des Archivgesetzes die dringend not- vember 1990 und vom 10. Juni 1991 ausführlich dar- wendige Aufarbeitung der SED-Vergangenheit gelegt worden. Zwei zusätzliche kleine Anfragen vom durchzusetzen. Dabei wird auch die Rolle der Nach- 18. Juli 1991 sprechen noch einmal das gleiche Thema richtendienste in Deutschland klar abgegrenzt. Wir an. Der Antrag der PDS hat ein einziges Ziel. Er soll haben den Zugriff der Dienste auf personenbezogene von der Rolle des PDS-Mutterschiffes SED als Grün- Daten von Stasi-Opfern ausgeschlossen. Nur der Bun- der, Auftraggeber und Chef der Stasi ablenken. desinnenminister kann nach vorheriger parlamentari- Besonders verwerflich ist der erneute Versuch, die scher Kontrolle für die eng umgrenzten Bereiche Spio- Selbstschutzeinrichtungen der parlamentarischen nage, gewalttätiger Extremismus und Terrorismus Demokratie wie Verfassungsschutz, MAD oder Bun- eine Aktenherausgabe erwirken. Wer den Nachrich- desnachrichtendienst auf eine Stufe mit dem unseli- tendiensten ein völliges Zugangsverbot auferlegen gen Staatssicherheitsdienst zu stellen. Um ein Bild zu will, bewirkt im Ergebnis den Schutz von Stasi-Tätern, gebrauchen: Kein vernünftiger Mensch käme auf die von Terroristen und deren Helfern. Idee, das Rote Kreuz und Graf Dracula gleichzuset- zen, nur weil beide etwas mit Blut zu tun haben. Die Menschen in den neuen Bundesländern haben nach vier Jahrzehnten Bespitzelung durch den staat- Ich weise für die Fraktion der CDU/CSU dieses Vor- lichen Geheimdienst naturgemäß großes Mißtrauen haben der PDS zurück. Wer Anträge auf Untersu- gegenüber allem, was nach Nachrichtendiensten chungsausschüsse stellt und den selbst gestellten Fra- riecht. Diese von ihr selbst verursachte psychologi- gen und Aufträgen gleich das Ergebnis hinzufügt, sche Situation versucht die PDS/SED nun schamlos kann nicht erwarten, daß der Deutsche Bundestag auszunutzen. Anstatt den Menschen deutlich zu ma- einen solchen Antrag ernst nimmt. Die PDS stellt in chen, daß der Verfassungsschutz die einzige Aufgabe der Begründung bereits fest: hat, die Sicherung der Freiheit unseres Rechtsstaates und seiner Bürger vorzunehmen, schüren Sie ständig —daß die Öffentlichkeit bisher gar nicht bzw. bewußt die Vorbehalte. Dieser Antrag soll ein weiteres Mo- halb oder falsch informiert worden sei, saiksteinchen in dieser Kampagne sein. Wir werden — daß die Dienste der Bundesrepublik Deutschland ihn deshalb bei der parlamentarischen Behandlung sich Unterlagen aus Stasi-Archiven widerrechtlich be- im Innenausschuß ablehnen. schafft hätten, Unser Ziel bleibt es, die Voraussetzungen zu schaf- —daß die gesamtdeutschen Sicherheitsbehörden sich fen für ein hohes Maß an Gerechtigkeit und an wer- Betroffenendaten angeeignet hätten, die neu sortiert bender Akzeptanz der neuen Bundesbürger für den und aufgearbeitet in den Archiven der Dienste auf sozialen und freiheitlichen Rechtsstaat. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3479*

Rolf Schwanitz (SPD): Der von der Gruppe der PDS/ dem damaligen Innenminister der DDR. Eine parla- Linke Liste vorgelegte Antrag geht, wie bereits betont mentarische Sperrung der Akten hat es, auch wenn worden ist, auf einen Be richt des Staatssekretärs im viele das heute hier bedauern mögen, zu Zeiten der Bundesinnenministerium Neusel vor dem Innenaus- Volkskammer nicht gegeben. schuß des Deutschen Bundestages am 19. Juni 1991 zurück. Staatssekretär Neusel berichtete dem Aus- Es muß daher abschließend folgendes Fazit gezo- schuß darüber, welche Stasi-Akten bisher an bundes- gen werden: Sicherlich sind auch nach dem Bericht deutsche Stellen gegangen sind und welchen Er- des Staatssekretärs Neusel vor dem Innenausschuß kenntnisstand man durch die Auswertung erlangt hat. nicht alle Unklarheiten restlos beseitigt worden. Ein Der nun vorliegende Antrag, der die Einsetzung eines direkter Anhaltspunkt für eine Rechtsverletzung, wel- Untersuchungsausschusses zum Ziel hat, äußert sich che bei der damaligen Übermittlung der Akten an in seiner Antragsbegründung, aber auch in den auf- bundesdeutsche Dienste und/oder das Bundeskrimi- gezählten Untersuchungsaufgaben kritisch dazu, auf nalamt oder seit dem 3. Oktober 1990 vom Sonderbe- welchem Wege diese Akten in die Bundesrepublik auftragten begangen worden wäre, ist nicht erkenn- gelangt sind und wie dort mit diesen Akten verfahren bar. Der in der Drucksache 12/881 vorgeschlagene wurde. Es muß hier also zunächst danach gefragt wer- Aufgabenkatalog des einzurichtenden Untersu- den, inwieweit der Be richt des BMI tatsächlich Anlaß chungsausschusses überschreitet zudem an vielen zu Kritik bietet. Stellen den eigentlichen, durch den Be richt des BMI vor dem Innenausschuß aufgeworfenen Sachverhalt. Zunächst zum Bundesamt für Verfassungsschutz und zu den Landesämtern für Verfassungsschutz. Unsere Fraktion ist deshalb der Auffassung, daß zur Nach Aussage des Staatssekretärs Neusel befinden Aufhellung der noch offenen Fragen die Einrichtung sich insgesamt Akten aus vier Hauptabteilungen eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses sowie aus der HVA des MfS bei den Verfassungs- sicherlich nicht das richtige Mittel wäre. Hierfür ste- schutzämtern der Bundesrepublik zur Auswertung. hen andere Parlamentsgremien zur Verfügung, nicht Seit dem 3. Oktober 1990 ist die Herausgabemöglich- zuletzt der Unterausschuß „Staatssicherheit" beim In- keit von MfS-Material zur Nutzung für die Dienste nenausschuß des Deutschen Bundestages. Wenn die durch den Einigungsvertrag stark eingeschränkt. Im PDS es darüber hinaus für nötig erachtet, in der Be- Bericht des BMI findet sich kein Anhaltspunkt dafür, gründung ihres Antrages ausdrücklich darauf zu ver- daß nach dem 3. Oktober 1990 Aktenmaterial aus der weisen, daß es für sie unter diesen Umständen unzu- Gauck-Behörde den bundesdeutschen Diensten zur mutbar sei, über ein Stasi-Unterlagen-Gesetz zu ent- Verfügung gestellt worden ist. Der Einigungsvertrag scheiden, dann wird hier natürlich noch eine ganz unterstellt lediglich jenes MfS-Aktenmaterial der Ho- andere Funktion dieses Antrages deutlich. Daß für heit des Sonderbeauftragten der Bundesregierung, ihre Partei die baldige Verabschiedung des Stasi-Un- welches mit Beitritt unmittelbar als Unterlagen des terlagen- Gesetzes mit Unannehmlichkeiten verbun- MfS quasi „im Bestand des Hauses" war. den sein wird, will ich gerne glauben. Daß hierfür jedoch ein Untersuchungsausschuß instrumentalisiert Für Unterlagen, die sich nicht mehr in der Obhut der werden soll, muß meinerseits entschieden abgelehnt MfS-Archive befunden haben, bietet der Einigungs- werden. vertrag selbst keine verbindliche Regelung. Wir kön- nen dies bedauern und diesen Umstand vor allen Din- gen als Handlungsauftrag für unser Stasi-Unterlagen- Gesetz ansehen, aber verändern läßt sich dies auch Dr. Jürgen Schmieder (FDP): Die PDS möchte mit durch einen Untersuchungsausschuß nicht. Es ist folg- ihrem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungs- lich kein juristisch greifbarer Verstoß darin zu sehen, ausschusses Aufklärung darüber erlangen, welche daß die Dienste bis zur Verabschiedung unseres Stasi- Behörden von Mitte 1989 bis heute Zugriff auf Stasi- Unterlagen-Gesetzes jene Akten weiter nutzen, die Unterlagen gehabt haben. Sie verlangt, auf den Punkt bereits vor dem 3. Oktober 1990 in ihre Behörden ge- gebracht, eine Aufstellung über die Zahl der überge- langt sind. Wir erwarten allerdings, und dies sage ich benen Akten, die Darstellung der operativen Ziele der mit allem Nachdruck, daß die Grundsätze, zu denen Nachrichtendienste, die Zusammenarbeit der Dienste sich in den Entwürfen zum Stasi-Unterlagen-Gesetz untereinander und mit der Polizei und schließlich In- alle Fraktionen des Hauses und auch die Bundesre- formation über die Rechtsgrundlagen sowie die Aus- gierung verständigt haben, insbesondere hinsichtlich wertungsergebnisse. des Schutzes der Rechte von Betroffenen und Dritten auch jetzt schon zur Handlungsrichtlinie für die bun- Die PDS beantragt ernsthaft die Einsetzung eines desdeutschen Dienste werden. Untersuchungsausschusses zur Klärung dieser Fra- gen, obwohl diese in zahlreichen Anfragen an die Eine veränderte Rechtslage bestand in der damali- Bundesregierung und durch einen Be richt des Staats- gen DDR zwischen dem 7. September 1990 und dem sekretärs Neusel im Innenausschuß am 19. Juni 1991 2. Oktober 1990, in jener Zeit, als das damalige DDR- ausführlich beantwortet worden sind. Stasi-Unterlagen-Gesetz Gültigkeit besessen hat. Der Bericht des BMI vor dem Innenausschuß hat jedoch So hat die Gruppe der PDS/Linke Liste Antwort auch keinen Anhaltspunkt dafür ergeben, daß Akten erhalten auf folgende Fragen: des ehemaligen MfS an bundesdeutsche Dienste in diesem Zeitraum übergeben worden sind. Vor dem — Kleine Anfrage „Einsichtsrecht für Betroffene 7. September 1990 unterstanden die Akten des MfS durch Observation in ihre Akten beim BKA, BfV, nach einem Ministerratsbeschluß vom 16. Mai 1990 BND und MAD" (Drucksachen 12/332, 12/680), 3480 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

— Kleine Anfrage „Tätigkeit des BfV in den neuen maligen DDR erlangt hat. Mit einem Kostümwechsel Bundesländern" (Drucksache 12/383), über die Stufe SED-PDS zum neuen Modell PDS kann — Kleine Anfrage „Datenaustausch bundesdeut- man sich doch nicht aus der Verantwortung stehlen! scher Polizeibehörden und Nachrichtendienste mit Wann wird die PDS endlich lernen, sich der Last ausländischen Polizeibehörden und Nachrichten- ihres Erbes zu stellen und tatsächlich mit dem inneren diensten" (Drucksache 12/583) Prozeß einer Aufarbeitung der eigenen Vergangen- — Kleine Anfrage „Herausgabe der Akten des MfS, heit zu beginnen, anstatt sich damit zu begnügen, die sich im Besitz bundesdeutscher Behörden be- durch eine Umbenennung jegliche Haftung von sich finden" (Drucksache 12/592), zu weisen? Sicherlich ist es schwer, sich nach 40 Jah- ren Wohlleben in einem abgeschlossenen Staatsge- — Kleine Anfrage „Übertreibung mit der Geheimhal- füge in einer Bundesrepublik zurechtzufinden, in der tung bei angeforderten Auskünften über das Bun- die eigene Meinung nur mit Hilfe von Argumenten desamt für Verfassungsschutz" (Drucksache durchgesetzt werden kann, und nicht unter Hinweis 12/678), auf den allgegenwärtigen Lauscher und Voyeur. — Kleine Anfrage „Bewaffneter Zugriff auf Unterla- Eines ist sicher: Zumindest um diesen Lernprozeß gen des Ministeriums für Staatssicherheit" (Druck- kommt die PDS nicht herum, da kann sie so viele sache 12/928), Anfragen und Anträge stellen, wie es ihre Phantasie — Kleine Anfrage „Prozesse gegen Angehörige der zuläßt. MfS HVA" (Drucksache 12/920),

— Kleine Anfrage „BKA-Zugriff auf MfS-Akten" Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Ich habe mich (Drucksache 12/968), gefragt, ob es wohl eine Remineszenz des Altestenrats — Kleine Anfrage „Herausgabe der Akten aus dem an die Nacht-und-Nebel-Aktionen des Herrn Diestel Ministerium für Staatssicherheit, die sich im Besitz sein soll, daß nun diese parlamentarische Debatte bundesdeutscher Behörden befinden" (Druck- auch in die Nacht-und-Nebel-Zeit gelegt wurde. Auf sache 12/592) jeden Fall können wir zu dieser Tageszeit sicher sein, daß uns keiner mehr hört und uns kein Journalist Es scheint, die Gruppe PDS/Linke Liste möchte sich zuhört. als Querulant oder als Arbeitsbeschaffungsstelle pro- filieren. Ich weiß, die Fraktionen werden diesen Antrag ab- lehnen, ohne sich mit ihm auseinanderzusetzen. Denn Die PDS fragt auch, nach welchen Kriterien das der Antrag stammt von der PDS/Linke Liste. Wie so oft BKA den „terroristischen Hintergrund" für den Be- in diesem Haus, wird auch dieser Antrag von den reich der ehemaligen DDR bestimmt hat. Es ist an der Fraktionen nach seiner Herkunft und nicht nach sei- Zeit, zu fragen, welchen politischen „Hintergrund" nem Inhalt beurteilt werden. Der Antrag hätte aber die PDS eigentlich hat. Will sie durch permanente und auch von den Koalitionsfraktionen oder der SPD ein- stereotype Fragen von eigener Schuld und eigenen gebracht werden können. Auch diesen hätte doch auf- Bekenntnissen ablenken? fallen können, daß Herr Diestel die Volkskammer in Sie versucht anscheinend, auch nach der Vereini- so wichtigen Fragen belogen hatte. Auch diesen hätte gung Deutschlands eine altbekannte Tradition fortzu- auffallen können, wie spät das Innenministerium den setzen. Das Umdenken fällt wohl doch sehr schwer. lange geleugneten Sachverhalt preisgab, daß Herr Vielleicht sollte die PDS erstmal in den eigenen Rei- Diestel brisante Stasi-Unterlagen an das BMI und die hen genaue Nachforschungen anstellen, wer mit dem Verfassungsschutzbehörden weitergegeben hatte. MfS und in welcher Form zusammengearbeitet hat. Es Und schließlich hätte ihnen auch auffallen können, hat sich bereits ein Mitglied der PDS zu seiner Ver- daß die vielfach gestellten parlamentarischen Anfra- gangenheit bekannt. gen in dieser Sache durch die Bundesregierung kon- sequent nicht oder nur ausweichend beantwortet wur- In der Begründung zu dem Antrag auf Einsetzung den. eines Untersuchungsausschusses heißt es, es bestehe mehr als nur der Verdacht, daß Unterlagen aus Stasi- Wenn in einer wichtigen Angelegenheit das Parla- Archiven widerrechtlich beschafft worden sind. Es sei ment trotz mehrfacher Versuche von der Regierung unzumutbar für Abgeordnete und die Öffentlichkeit, keine Antworten erhält, wenn sich immer mehr Infor- in dieser Situation über ein Stasi-Unterlagen-Gesetz mationen und Mutmaßungen auftürmen, die die be- zu entscheiden. kannte Spitze eines Eisbergs erahnen lassen, dann sieht das parlamentarische Procedere das Mittel des Man ist versucht, zu sagen: Guck mal, wer da Untersuchungsausschusses vor. Ich gebe gerne zu, spricht! mir wäre es lieber, die Bundesregierung ginge so frei- Die Nachfolgerin und Erbin der SED-Diktatur, die gebig mit Informationen um, wie es nach meinem Ver- auf die widerliche Spitzeltätigkeit des MfS als Hilfs- ständnis gegenüber einem Parlament und dem Ge- mittel zur Erhaltung der Verdummung, Unterdrük- wicht der offenen Fragen nach angemessen wäre. kung und Ausbeutung des Volkes und der eigenen Dann brauchten wir in der Tat keinen Untersuchungs- Macht angewiesen war, befürchtet widerrechtliches ausschuß. Da dies aber bisher nicht der Fall ist, müs- Beschaffen von Unterlagen. Sie sollte sich lieber sen wir auf diesem parlamentarischen Mittel beste- darum sorgen, was denn mit dem Geld passiert ist, das hen, wenn sich das Parlament nicht selbst lächerlich die PDS, als sie noch SED hieß und die staatstragende machen, zum Spielball der Bundesregierung machen Partei war, widerrecht lich von den Bürgern der ehe- will. Die letzten Wochen in der Schalck-Affäre hätten 3482* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Schon zu dieser Sachlage erklärte der Gutachter So wie Schalck angeblich nicht vom BND, sondern Rolf Gössner bei der Anhörung zum Stasiunterlagen- von einem ehemaligen BND-Mitarbeiter betreut wor- Gesetz: „Damit wurde zumindest der Verfassungs- den ist, der auch im Irak-Geschäft tätig war, hatten VS schutz zum illegitimen Erben der Stasihinterlassen- oder BND keine offizielle Beziehung zu irgend je- schaft. Die von der Stasi verfolgten Personen sehen mand. Es gab nur das Vertreter-System: Im Ap ril 1990 sich auf diese Weise wiederum in Geheimdienstda- treffen sich Schäuble und Diestel. Der pensionierte teien registriert, und sie müssen womöglich eine Aus- BKA-Präsident Boge wird Berater Diestels. Ende Ap ril wertung der Daten zu ihren Ungunsten (zumindest) wird auch der ehemalige Landespolizeipräsident von befürchten." Baden-Württemberg, Stümper, „Fachberater" Die- stels. Im Mai 90 bildet die Innenministerkonferenz Die Fakten werden nicht bestritten, behauptet wird eine Arbeitsgruppe zur Intensivierung der operativen nur, all das sei nicht nur legitim, sondern legal gesche- Zusammenarbeit. Vereinbart wird auch die Entsen- hen. Das zu prüfen würde einen Untersuchungsaus- dung von Experten zur Beratungshilfe in die DDR. schuß nicht nur rechtfertigen, sondern auch gut be- Ende Mai 90 beschließt ebenfalls die Innenminister- schäftigen. konferenz weitere Maßnahmen zur Verwirklichung der Fahndungsunion. Das BKA informiert ab sofort Aber damit ist der Datenklau noch längst nicht um- und direkt das Zentrale Kriminalamt der DDR im Be- fassend beschrieben. Auf drängende Nachfragen und reich Terrorismus. Auch Herr Werthebach, heute Prä- nach langem Gezappel mußte das Bundesministerium sident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, war in des Innern einräumen, daß das BKA seit dem 1. Sep- diesen Monaten Sicherheitsberater Diestels und tember 1990 Zugriff auf personenbezogene Unterla- hatte, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" be- gen für staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren richtete, sich intensiv mit dem Studium von MfS-Ak- hat. ten beschäftigt. Wir hatten gerade unseren Antrag für einen Unter- All dies, ich muß es betonen, ist lediglich ein Aus- suchungsausschuß eingebracht, da wurde die Fakten- schnitt der tatsächlichen Einflußnahme westdeutscher lage der von westdeutschen Sicherheitsbehörden ge- Behörden auf die Sicherheitspolitik der „ehemaligen plünderten Stasiarchive um die „Affäre Diestel" be- DDR als selbständiger Staat" , wie die Bundesregie- reichert. Für die Öffentlichkeit bestand diese Affäre rung bei Nachfragen nach Rechtsgrundlagen zu ant- darin, daß zunächst gemeldet wurde, Herr Diestel worten pflegt. habe heimlich Stasiakten an bundesdeutsche Sicher- heitsbehörden übergeben. Später wurde gemeldet, Dieses System der verschleierten Verantwortlich- Staatssekretär Neusel habe sie dankbar entgegenge- keiten ist ein Grund dafür, daß bis heute beispiels- nommen. Diestel zeigte immerhin Unrechtsbewußt- weise ungeklärt ist, wo der Auftrag tatsächlich ausge- sein, indem er erklärte: „Ich bin damals sicher weiter- arbeitet worden ist, im Erfurter MfS-Archiv, verwaltet gegangen, als ich durfte." Diese Ehrlichkeit provo- vom dortigen Bürgerkomitee, mit bewaffneten Kräf- zierte Neusel zu dem Bekenntnis, er habe Herrn Die- ten Akten zu beschaffen. Ungeklärt ist natürlich auch, stel bedrängt. Kistenweise konnten daraufhin damals wer in diese Akten alles Einsicht nehmen konnte. Unterlagen abtransportiert werden. Dieser gute Wille Selbstverständlich gab es damals — vermutlich auch zur Zusammenarbeit wurde mit der Erklärung belohnt heute — sogenannte vagabundierende Akten und — Zitat Neusel — : „Bundesregierung steht voll hinter Unterlagen, zum Verkauf angeboten, zugespielt für Diestel". sonstige Zwecke u. ä. Dies kann aber meines Erach- tens für die Bundesregierung und die zuständigen Anfang August 1991 antwortete die Bundesregie- Minister auf keinen Fall das Recht schaffen, über Her- rung auf eine Kleine Anfrage von Bündnis 90/GRÜNE kunft, Verbleib, Nutzung und Rechtsgrundlagen der nach den Rechtsgrundlagen dieser sicherheitspoliti- von ihr und ihren Organen systematisch und gezielt schen Kumpanei in einer Mischung aus Schäbigkeit beschafften Akten Auskunft zu geben. Warum be- und Unverfrorenheit: „Zu dem in Frage stehenden schließt die Innenministerkonferenz im Juli 90, die im Zeitpunkt war der Beitritt ... noch nicht vollzogen. Zuge der Stasi-Auflösung in die BRD gelangten Un- Anfragen richteten sich somit an die ehemalige Deut- terlagen über führende Politiker und Industriemana- sche Demokratische Republik als einen selbständigen ger vernichten zu wollen? Woher kommen die Unter- Staat ... " lagen? Warum wurden sie beschafft, und vor allem, warum sollten ausgerechnet die vernichtet werden? Zum Verbleib der Unterlagen wird ebenfalls mehr als ein Jahr später immer noch gebetsmühlenartig er- Ein Untersuchungsausschuß muß in all diesen Din- klärt, die Regierung stehe im Kontakt mit dem Son- gen Klarheit schaffen, soweit das möglich ist. Gesche- derbeauftragten, um zu klären, ob und gegebenen- hen muß das, bevor Regierung und Sicherheitsbehör- falls welche Unterlagen herauszugeben sind, und um den den Vertrauensvorschuß von einer Bundestags- die Modalitäten einer Übergabe zu vereinbaren, so- mehrheit erhalten, den sie mit dem Stasi-Unterlagen- weit eine solche in Betracht kommt. Die Bundesregie- Gesetz noch zusätzlich fordern. Mit dem Gesetz wür- rung und die jeweils verantwortlichen Staatssekretäre den sämtliche Unterlagen endgültig dem Bundesin- oder Minister nutzten und nutzen jede Möglichkeit — nenminister anvertraut — die Sonderbehörde wäre ich könnte auch sagen: jeden billigen T rick — , um diesem Ministe rium endgültig unterstellt, gegen alle nachvollziehbare und bewertbare Auskünfte über Widerstände aus den neuen Bundesländern, die ge- Ausmaß, Qualität, Verbleib und Nutzen der Unterla- rade auch die zentralistische Organisation der Be- gen zu verschleiern. Ja, es ist kaum möglich, be- hörde und damit die Enteignung der eigentlich Betrof- stimmte Verantwortlichkeiten präzise festzustellen. fenen kritisieren. Die Unterlagen wären dann aus- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3483* schließlich denen anvertraut, die bisher den Beweis stimmung zur Einrichtung eines Untersuchungsaus- schuldig geblieben sind, damit im ursprünglichen schusses in Sachen Aktenklau wäre eine Demons tra- Sinne der historischen Aufarbeitung und der Rehabi- tion und eine Lektion, eine Lektion in Sachen Demo- litierung geschädigter Bürgerinnen und Bürger um- kratie für die selbstherrlichen Sicherheitspolitiker, be- gehen zu können oder zu wollen. vor sie legal die Erbschaft der düstersten Seite der Stasiarbeit antreten können, und es wäre ein Beweis dafür, daß man aus der Überwindung der Stasivergan- Während Bürgerrechtler aus der Gauck-Behörde genheit mehr lernen kann als blinden Glauben in hin- entfernt wurden, weil sie der vom BMI vorgenomme- gemurmelte Floskeln von rechtsstaatlichen Glaubens- nen Interpretation von Fakten nicht folgen wollten, sätzen und Generalbevollmächtigungen. können bundesdeutsche Sicherheitsbehörden mit den Unterlagen ungeniert und unkontrolliert arbeiten. Schon jetzt ist die Gefahr absehbar, daß der Bevölke- rung der DDR die politische und historische Aufarbei- tung weitestgehend entzogen wird. Bereits heute ver- fügt die Öffentlichkeit nur über gefilterte Erkennt- Anlage 10 nisse. Ihr ist längst die Aufarbeitung entzogen wor- den. Die Bevölkerung der DDR, die das volle Risiko Antwort bei der Entmachtung des MfS und der Besetzung der des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Archive getragen hat, muß heute als Bittstellerin auf- Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktionslos) (Druck- treten, wenn es um ihre Geschichte geht. Vertreterin- sache 12/1141 Frage 14): nen wie Ingrid Köppe müssen sich in diesem Hause Drohungen gefallen lassen, wenn sie gegen den Wil- Sieht die Bundesregierung die Notwendigkeit, ihre bisherige len der Regierung auf vollständiger Aufarbeitung der Politik gegenüber Zaire zu überdenken? wirtschaftlichen und politischen Kungelei der Herr- schenden beider Staaten beharren. Die Bundesregierung betrachtet mit Sorge die sich verschlechternde politische und wirtschaftliche Lage Allzuviel deutet darauf hin, daß mit den illegal be- in Zaire. sorgten Unterlagen schon seit langem, spätestens seit In ihrem politischen Dialog mit allen maßgeblichen Frühjahr 1990 auch geheimdienstlich gearbeitet wird. politischen Kräften in Zaire ist die Bundesregierung Fakt ist, daß ehemalige Mitarbeiter des MfS seit lan- bemüht, einen Beitrag zur Wiederherstellung der poli- gem von Agenten deutscher und ausländischer Dien- tischen und wirtschaftlichen Stabilität in diesem ste gezielt mit Insiderwissen bearbeitet werden, das Lande zu leisten. Sie tut dies in Abstimmung mit ihren vermutlich aus den Unterlagen stammt. Auch hier europäischen Partnern im Rahmen der Europäischen deutet sich an, daß die Westdienste die illegitime Erb- Politischen Zusammenarbeit. schaft des MfS schon angetreten haben. Und es gibt heute keinen Grund, Staatsminister Stavenhagen zu Die Politik der Bundesregierung orientiert sich an glauben, wenn er im Oktober 1990 behauptet hat, folgenden Zielen: Verbesserung der Menschen- Agenten des BND seien in der DDR nicht mehr tätig. rechtslage , Durchsetzung der begonnenen demokra- Sein Bundeskanzleramt ist auf dem besten Wege, sich tischen Reformen, Sanierung der Staatsfinanzen, Lö- zum Bermudadreieck „heißer" Unterlagen in Sachen sung der Strukturprobleme und Schutz der Tropen- Stasi-Aufarbeitung zu entwickeln. waldgebiete. — Diese Politik gilt für die jeweilige Ent- wicklung in Zaire. Der Untersuchungsausschuß hätte auch zu klären, inwieweit die Erbschleicherei von dieser Koordina- - tionsstelle der Westdienste geplant worden und zu verantworten ist. Anlage 11 Angesichts dieser kurzen Geschichte westdeut- Antwort scher Sicherheitspolitik sollten gerade die Abgeord- neten aus den neuen Bundesländern Innenminister des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Frage des Schäuble ernst nehmen. In einem Interview vom Som- Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksache mer diesen Jahres erklärt er: „Natürlich müssen die 12/1141 Frage 19): Menschen in den neuen Ländern erst Erfahrungen mit Welche Revisionsvorschläge für das NATO-Truppenstatut der Demokratie nachholen, die wir in über 40 Jahren und das Zusatzabkommen hat die Bundesregierung den ver- sammeln konnten. Der Umgang mit einer föderalisti- bündeten Streitkräften vorgeschlagen und bis wann soll ein schen Ordnung ... oder daß man selbst für viele Ergebnis der Verhandlungen erzielt werden? Dinge verantwortlich ist, ist für sie noch neu. Wir soll- ten ihnen die Chance dazu geben. Sie werden es bald Die Bundesregierung ist am 5. September 1991 in gelernt haben." Nähme Herr Schäuble seine eigenen Verhandlungen mit den Verbündeten, die in der Bun- Worte ernst, müßte er als erster der Einrichtung eines desrepublik Deutschland Truppen stationiert haben, Untersuchungsausschusses zustimmen. zur Überprüfung des Zusatzabkommens zum NATO Truppenstatut eingetreten; das für alle NATO-Partner Auch wenn die Arbeit des Schalck-Ausschusses gleichermaßen geltende NATO-Truppenstatut selbst nicht allzuviel Anlaß zu Optimismus gibt — die Zu- ist nicht Gegenstand der Verhandlungen. 3484' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991

Die Verhandlungen haben in einer guten und ver- Zu Frage 62: trauensvollen Atmosphäre begonnen. Die aus Vertre- tern der Bundesregierung und der Bundesländer be- Die Immissionsschutzbehörden der Länder haben stehende deutsche Verhandlungsdelegation hat den aufgrund eines Auftrages der Umweltministerkonfe- Verhandlungspartnern die aus deutscher Sicht zu renz an den Länderausschuß für Immissionsschutz überprüfenden und zu ändernden Bestimmungen be- eine Schnellumfrage durchgeführt. Diese hat erge- nannt und ihre Vorschläge begründet. ben, daß derzeit keine Auswirkungen auf die Ver- brennung von nicht handelsüblichen Brennstoffen, Die Bundesregierung hält den Zeitpunkt nicht für insbesondere von Altreifen, in Zementwerken auf- gegeben, um über den vertraulichen Inhalt der Ver- grund der Anforderungen der Verordnung über Ab- handlungen öffentlich Auskunft zu geben. fallverbrennungsanlagen erkennbar sind. Die Verhandlungen sollen so schnell wie möglich zu Ergebnissen führen. Angesichts des umfassenden Verhandlungsgegenstandes können konkrete Anga- Zu Frage 63: ben über ein voraussichtliches Ende der Verhandlun- gen nicht gemacht werden. Welche Bestimmungen der Verordnung über Ab- fallverbrennungsanlagen Anwendung finden, ist ab- hängig von dem Anteil der Abfälle und sonstigen brennbaren Stoffen, die der Verbrennungsanlage zu- Anlage 12 geführt werden. Bis zu einem Anteil dieser Abfälle Antwort und Stoffe von 25 To an der Feuerungswärmeleistung eines Zementdrehrohrofens gelten nur die Emissions- des Parl. Staatssekretärs Bernd Schmidbauer auf die grenzwerte mit den zugehörigen Vorschriften über Frage des Abgeordneten Klaus Harries (CDU/CSU) die Messung und Überwachung; bei einem Anteil von (Drucksache 12/1141 Frage 61): mehr als 25 % finden auch die sonstigen Anforderun- Hat die Bundesregierung die Absicht, ggf. wann, den Kataly- gen der Verordnung Anwendung. Grundsätzlich gel- sator auch für dieselbetriebene Lkw und Pkw einzuführen? ten die strengen Emissionsgrenzwerte der Verord- nung jeweils für den Abgasanteil, der z. B. auf das Prinzip der Abgaspolitik der Bundesregierung ist eingesetzte Altöl entfällt. Für das übrige Abgas gelten es, Grenzwerte festzulegen und es der Indust rie zu die für Zementdrehrohröfen auf der Grundlage der TA überlassen, mit welchen technischen Mitteln diese Luft festgelegten Emissionsbegrenzungen. Der Ab- Grenzwerte eingehalten werden. gasstrom des Ofens wird demnach so bewertet, als ob Bei Dieselmotoren zeichnen sich z. Z. verschiedene es sich um zwei voneinander getrennte Abgasströme technische Lösungen ab, die künftigen Schadstoff- handelt. Eine Kompensation der Emissionsbegren- grenzwerte einzuhalten. Neben dem Katalysator gibt zungen zwischen den beiden Abgasströmen ist nicht es rein motorische Konzepte und den Partikelfilter. zulässig. Voll wirksam ist der Katalysatoreinsatz erst bei Ver- wendung schwefelarmen Dieselkraftstoffs. Das aus Emissionen an Schwermetallen oder Dioxinen aus dem Schwefel im Kat gebildete Sulfat führt zur Ver- der Verbrennung des im Beispiel genannten Altöls schmutzung des Katalysators. Dies ist insbesondere dürfen nicht mit dem Abgasanteil, der auf den regu- bei Nutzfahrzeugen mit hohen Laufleistungen rele- lären Brennstoff entfällt, verdünnt werden. vant. Die Bundesregierung hat daher bereits 1987 Damit wird ein häufig erhobener Einwand gegen eine Initiative zur Einführung schwefelarmen Diesel- eine Verbrennung von Abfällen in Kraftwerken oder kraftstoffs in der EG gestartet. Im Juni dieses Jahres Zementwerken widerlegt. In dem Einwand wurde un- hat die EG-Kommission einen Richtlinienvorschlag terstellt, daß das „saubere" Abgas aus regulären vorgelegt, der die Einführung schwefelarmen Diesel- Brennstoffen zur Verdünnung des „schmutzigen" Ab- kraftstoffs (0,05 Gew.-% Schwefel) für 1995/96 vor-- gases aus der Abfallverbrennung benutzt wird. sieht. Zu diesem Zeitpunkt sollen EG-weit die Grenz- werte der 2. Stufe für die Lkw (7 g NOx/kWh, 0,15 g Partikel/kWh) in Kraft treten. Damit wird der Indust rie die Möglichkeit gegeben, zur Erfüllung dieser Grenz- werte auch die Katalysatortechnik einzusetzen.

Anlage 14 Anlage 13 Antwort Antwort des Staatsministers Dr. Lutz G. Stavenhagen auf die des Parl. Staatssekretärs Bernd Schmidbauer auf die Frage des Abgeordneten Horst Peter (Kassel) (SPD) Fragen des Abgeordneten Dr. Peter Paziorek (CDU/ (Drucksache 12/1141 Frage 70): CSU) (Drucksache 12/1141 Fragen 62 und 63): Warum hat das Bundeskanzleramt, das nach Darstellung des Liegen dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Re- Staatsministers Dr. Stavenhagen nach seiner Antwort an den aktorsicherheit Kenntnisse darüber vor, daß aufgrund der Anfor- Abgeordneten Conradi vom Bundesnachrichtendienst „in ei- derungen der Verordnung über Abfallverbrennungsanlagen der nem anderen Sinn unterrichtet worden" sein will, nicht schon Einsatz von nicht handelsüblichen Brennstoffen in Zementwer- nach dieser Unterrichtung den Deutschen Bundestag über die ken zurückgegangen ist? unzutreffende Antwort auf seine Frage informiert, und welche Welche Bestimmungen der Verordnung über Abfallverbren- personellen Konsequenzen beim Bundesnachrichtendienst hat nungsanlagen finden beim Einsatz von z. B. Altöl in Zementwer- das Bundeskanzleramt wegen dieser „Unterrichtung in einem ken Anwendung? anderen Sinne" gezogen? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. September 1991 3485*

Die nachträgliche Information über die unzutref- Sachverhalt erst erfahren, als ich vor ca. zwei Monaten fende Antwort habe ich unterlassen, weil in dem im Hinblick auf den eingesetzten Untersuchungsaus- schon genannten Schreiben vom 28. März 1990 nur schuß vom BND umfassend und dabei erstmals auch stand, daß die behördliche Ausstellung von Papieren darüber unterrichtet wurde, daß er für das Ehepaar auf Decknamen von seiten des BND „begleitet" Schalck-Golodkowski Decknamen-Papiere beschafft wurde. hatte.

Ich muß einräumen, daß mir durch diese eher Die Verantwortung dafür trägt der damalige Präsi- verschleiernde als verdeutlichende Darstellung der dent, der heute in einem anderen Geschäftsbereich Brückenschlag zur Frage des Kollegen Conradi der Bundesregierung tätig ist. Im BND sind daher nicht deutlich geworden ist. Ich habe den wahren keine personellen Konsequenzen zu ziehen.