Werbeseite

Werbeseite MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Verbrechen, Schalke

a Als beklemmend empfand es der israelische Holo- caust-Forscher Israel Gutman, daß “wir auf den Ho- locaust keine Antwort haben; das deutsche Volk nicht und wir auch nicht“ (SPIEGEL 28/1992). Das deutsche Volk scheint denn auch den Holocaust-Film “Schindlers Liste“ (Titel 8/1994) beklommen vor Entsetzen anzusehen, vor allem jene 13- bis 19jährigen Kinogänger, die der SPIEGEL nach ihrer Reaktion befragte (Seite 97). Im Grunde unerklär- lich bleibt auch eine Perversion, die am anderen Ende der Welt, in China, während der Kulturrevolu- tion zwischen 1966 und 1976 geschah. Rund zehn Millionen Menschen fielen damals dem Machtwahn Mao Tse-tungs zum Opfer. Der chinesische Filmregisseur Chen Kaige (“Lebewohl meine Konkubine“) beschreibt seine Irrungen als junger Kulturrevolutionär. “Wie konnte es geschehen“, fragt er in einem Dokument quälender Selbstbezichtigung, “daß ich mit 14 Jah- ren meinen Vater verriet?“ (Seite 202). a Der “Sonnenkönig vom Kohlenpott“ lud zur effekt- vollen Ehrenmann-Pressekonferenz, nachdem der SPIE- GEL den “Rausch der Kohle“ beim FC Schalke 04 be- schrieben hatte: das Finanzdebakel des deutschen Traditionsklubs. Präsident Günter Eichberg kündigte eine Hundert-Millionen-Dollar-Klage an, der Verein verlangte Widerruf. Für Sat-1-Reporter Werner Hansch, die “Stimme des Re- viers“, waren die acht SPIEGEL-Redak- teure, die das Sittengemälde aus dem Pott zusammen- getragen hatten, schlicht “Schmier- finken“. Und nun? Eichberg hat seine Schulden (140 Mil- Eichberg (r.), SPIEGEL-Redakteur Brinkbäumer lionen Mark) immer noch nicht zurück- gezahlt, die Banken bereiten schon die Einzelver- wertung seiner Kliniken ab Monatsende vor. Schal- kes neuer Präsident Bernd Tönnies gesteht im SPIE- GEL-Interview (Seite 198): “Die Kohle ist weg“ und “Eichberg ein Scharlatan“ – genauso hatte ihn der SPIEGEL (43/1993) tituliert. Der DFB erwägt, Schalke aus der Bundesliga zu entfernen. Da muß man, ihr lieben Schalker, schon sehr an sich hal- ten, um nicht aufzustöhnen: “Sic transit gloria mundi“ – auf gelsenkirchisch: “Jetzt ist Hängen im Schacht.“

DER SPIEGEL 12/1994 3 TITEL INHALT Carlos Widmann über Hillary Clintons beschädigte Führungsrolle im Weißen Haus ..... 148 Das Beziehungsgeflecht der Clintons zu den Reichen von Arkansas ...... 152 Seiten 18, 20 Interview mit der US-Frauenrechtlerin Propaganda auf Staatskosten Kim Gandy über die Angriffe Von der Regierung besoldete Rundfunkjournalisten wettern in auf Hillary Clinton ...... 155 Privatsendern gegen die Sozialdemokraten, Minister lassen DEUTSCHLAND sich im Äther umschmeicheln: Mit Steuergeld läßt Kanzler Hel- mut Kohl über das Bundespresseamt Propaganda produzieren. Panorama ...... 16 Die SPD will die gesetzwidrige Wahlhilfe vom Verfassungsge- Regierung: Kohls gekaufte Wahlpropaganda .....18 richt verbieten lassen. Interview mit SPD-MdB Hans Wallow über Kohls Öffentlichkeitsarbeit ...... 20 FDP: Angst vor der Zukunft ...... 21 SPD: SPIEGEL-Gespräch mit dem niedersächsischen Wahlsieger Gerhard Schröder Seite 23 über die Chancen seiner Partei in Bonn ...... 23 „Wer ist Hund, wer Schwanz?“ Joachim Preuß über den Offenbacher Der niedersächsische SPD-Wahlsieger Gerhard Schröder gibt seiner Stadtsanierer Gerhard Grandke ...... 41 Partei Ratschläge für die Regierungsbildung nach der Bundestags- Bundeswehr: Rühes seltsames Weißbuch ...... 26 wahl. In einer rot-grünen Koalition müsse die SPD zeigen, daß sie für CSU: Wer tritt als nächster zurück? ...... 27 Interview mit Peter Gauweiler über Arbeitsplätze stehe, und klarmachen, „wer führt: Wer ist der Hund, Amigo-Affären und die Rolle der Union ...... 28 wer ist der Schwanz?“ Keinesfalls, so Schröder im SPIEGEL-Ge- CDU: Jürgen Leinemann über spräch, dürfe die Partei grüner sein wollen als die Grünen. Wolfgang Schäubles Kanzler-Ambitionen und die Kraft der Feindbilder ...... 32 Stolpe-Affäre: Der brandenburgische Regierungschef weiter unter Druck ...... 36 Bundestag: Der jüngste Kandidat ist 23 ...... 38 Barschel-Affäre: Gutachter bestätigt Selbstmord ...... 51 Forum ...... 57 Prozesse: Gisela Friedrichsen zu einem Urteil des Landgerichts Hannover wegen Volksverhetzung ...... 59 Abgeordnete: Die Reiselust wächst ...... 70 Militär: Die russische Kriegszentrale Wünsdorf wird zur Geisterstadt ...... 76 Drogen: Hasch, Koks und Alkohol bei der Bundeswehr ...... 83 Sterbehilfe: Wie eine Mutter ihre 13jährige Tochter mit Zyankali tötete ...... 86 Scharping Schröder Hausbesetzer: Neue „Hafenstraße“ in Potsdam? ...... 93 Schüler: Geschockt von „Schindlers Liste“ ...... 97 Neues Urteil zu „Volksverhetzung“ Seite 59 WIRTSCHAFT Trends ...... 101 Nach der Aufhebung eines Urteils zur „Auschwitz-Lüge“ wächst das Konzerne: Jürgen Schrempp wird neuer Unbehagen an der Spruchpraxis zum Straftatbestand „Volksverhet- Daimler-Chef ...... 102 zung“. In Bonn wird eine Gesetzesänderung beraten. Das Landge- Manager: Interview mit Boehringer- richt Hannover hat jetzt schon einen neuen Weg beschritten. Patriarch Curt Engelhorn ...... 105 Zigaretten: Harter Preiskampf der Konzerne ...... 106 Subventionen: Schwindler ergattern Reuter-Nachfolger gefunden Seite 102 Milliarden aus Brüssel ...... 107 Investitionen: Kollektiver Größenwahn Das Gerangel um die in Leipzig ...... 109 Nachfolge von Daimler- Finanzmärkte: Milliarden-Roulette Benz-Chef Edzard Reu- gefährdet Stabilität ...... 112 ter ist beendet: Jürgen Telefax: Die Post prescht mit Schrempp, bislang Vor- neuer Technik vor ...... 118 sitzender der Tochter Automobile: Comeback des Diesel ...... 122 Deutsche Aerospace, übernimmt im nächsten GESELLSCHAFT Jahr die Führung des Spectrum ...... 127 größten deutschen Kon- Jugend: Wie Graffiti-Sprayer verfolgt zerns. Schrempps Auf- und vermarktet werden ...... 130 gabe ist gewaltig: Daim- Küche: Frankreichs Kampf gegen ler steckt in einer den Geschmacksverfall ...... 138 schweren Krise, die Ge- Ausstellungen: Darwin in Dresden ...... 142 winne brechen ein. Schrempp

4 DER SPIEGEL 12/1994 AUSLAND Panorama Ausland ...... 145 Israel: Hebrons Siedler geloben Widerstand .... 157 Balkan: Kroatisch-moslemische Vernunftehe ... 158 Jonglieren mit Milliarden Seite 112 Italien: Wahl ohne Aussicht Seriöse Banken und tollkühne Spekulanten schieben täglich Milliar- auf die große Wende ...... 159 den-Werte um den Globus. Sie jonglieren mit immer raffinierteren Ungarn: Kampf um die Pressefreiheit ...... 160 Finanztiteln, machen sagenhafte Gewinne und riskieren gigantische Türkei: Premierministerin auf der Kippe ...... 161 Südafrika: Pleiten. Kritiker befürchten einen Kollaps der Kapitalmärkte. Interview mit dem Extremisten-Führer Eugene Terre Blanche ...... 162 Europäische Union: Ein Deutscher, die Norweger und der Fisch ...... 163 Afghanistan: Birgit Schwarz über den Wandel Schwarz-weiße Allianz am Kap Seite 162 eines Kriegsherrn zum Friedensfürsten ...... 166 Umwelt: Durchbruch bei Streit Hochspannung im Wahl- um Öko-Milliardenhilfe ...... 176 kampf am Kap: Präsi- Polen: SPIEGEL-Gespräch mit Bischof dent de Klerk feuert ho- Pieronek über die Kluft zwischen Kirche he Polizeigeneräle, weil und Gesellschaft ...... 178 sie die Zulu-Partei Inka- Niederlande: Presseecho auf den SPIEGEL- tha heimlich mit Waffen Bericht „Frau Antje in den Wechseljahren“ ..... 186 versorgt hatten. Der Rassistenführer Terre SPORT Blanche verkündet in ei- Doping: Das Weltkartell der Vertuscher ...... 188 nem SPIEGEL-Interview Freiburger Sportarzt Joseph Keul eine Allianz seiner arbeitete Stasi-Spitzel zu ...... 192 60 000 Kämpfer mit den Formel 1: Die Angst vor der Risiko- Zulu-Separatisten. Zulu-Krieger bereitschaft des Neulings Heinz-Harald Frentzen ...... 195 Fußball: Interview mit Schalkes Präsident Bernd Tönnies über die Finanzmisere ...... 198 Seite 232 Krieg ums Herz KULTUR Mit Bohrern und Bal- Szene ...... 200 lonkathetern legen die Zeitgeschichte: Gehirnwäsche, Bildersturm – Kardiologen verstopfte Chinesen erinnern an Maos Kulturrevolution ... 202 Herzkranzgefäße frei – Filmregisseur Chen Kaige beschreibt, und verderben so den wie er seinen Vater verriet ...... 204 Herzchirurgen zuneh- Kunst: Interview mit der neuen mend das Geschäft Documenta-Chefin Catherine David ...... 207 mit Bypass-Operatio- Polemik: Henryk M. Broder über den nen. Nun herrscht Krieg „Einheitsfrust“ des Ost-Berliner Satirikers zwischen den Herzspe- Mathias Wedel ...... 210 zialisten: Die Ballon-Me- Bestseller ...... 212 thode, sagen die Chirur- Bücher: Mord aus Leselust – gen, sei unzuverlässig „Der Buchtrinker“ von Klaas Huizing ...... 219 Bypass-Operation und Geldschneiderei. Rundfunk: Schrille Moderatoren in Ostdeutschland ...... 220 Kabarett: SPIEGEL-Gespräch mit Matthias Beltz über Politik, Satire und Fußball ...... 224 Prinzen: Ehekomödie im Hause Seite 130 Künstler oder Kriminelle? Hohenzollern ...... 230 Fernseh-Vorausschau ...... 250 WISSENSCHAFT Prisma ...... 231 Medizin: Kardiologen contra Herzchirurgen – Wem gehört der Infarktpatient? ...... 232 Völkerkunde: Die Zeichensprache der Europäer ...... 242 TECHNIK Automobile: Neues Porsche-Cabrio – aus verschlankter Produktion ...... 236 Tankerunglück: Dauerrisiko am Bosporus ...... 238 Datennetze: Suchprogramm fürs Internet ...... 240

Sprayer Briefe ...... 7 Impressum ...... 14 Jugendliche, die Wände oder Wagen besprühen, werden hofiert und Personalien ...... 246 verklagt: Verkehrsverbände fordern von Sprayern ruinöse Summen Register ...... 248 als Schadensersatz, Kulturpolitiker und PR-Manager umwerben sie. Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 254

DER SPIEGEL 12/1994 5 Werbeseite

Werbeseite BRIEFE Streng geheim Seit 1958 bin ich in der Gießereiindu- strie der ehemaligen DDR und ab 1965 (Nr. 10/1994, Titel: Krebs durch Arbeit – bis 1993 in einem Gießereibetrieb der die verheimlichte Gefahr) Chemie AG Bitterfeld-Wolfen, ehe- In einer Zeit, in der viele Menschen in mals VEB Chemiekombinat Bitterfeld, Angst um ihren Arbeitsplatz leben, ist beschäftigt. Etwa 37 Prozent meiner es offensichtlich ein leichtes für Arbeit- Kollegen, die wie ich über längere geber, Einschüchterungstaktik zu be- Zeiträume dort tätig waren, sind an treiben, Gesundheit wird gegen Angst Krebs verstorben. Die hohe Mortali- aufgewogen. tätsrate war bereits zu DDR-Zeiten Walldorf (Hessen) PETER VOGELGESANG Anlaß, Untersuchungen zu Zusammen- hängen anzustellen. Die Angelegenheit Zu meinem Bedauern wurde nur der wurde „Streng geheim“ behandelt und Extremfall dargestellt. Durch die fast desgleichen in der Sanitätsinspektion tägliche Verarbeitung von verzinkten Halle verhandelt. Selbst als Leiter die- Materialien atmete ich über elf Jahre ses Betriebes habe ich zu keiner Zeit beim Brennschneiden sowie Elektro- Informationen erhalten. Ich durfte le- schweißen heiße Zinkdämpfe ein, die diglich die vielen Toten aufschreiben dann regelmäßig zu allen üblichen Ver- (namentlich), und zwar auch nur hand- giftungserscheinungen führten. Diese schriftlich. Ärzte und entsprechende lassen das Dasein ebenso unlebenswert Leitungsebenen sowie Instanzen

Stahlarbeiter beim Abstich: Grundlegende Probleme nicht gelöst erscheinen wie ein Krebsleiden den Be- schwiegen zu möglichen Erkenntnis- troffenen. sen. Die strategisch wichtige Gußma- Gelsenkirchen JOSEF CIESIELSKI gnetproduktion durfte offensichtlich unter gar keinen Umständen gefährdet Der freiwillig gewählte Krebstod durch werden. Rauchen, Überernähung, Alkohol, un- Sandersdorf (Sachsen-Anhalt) FRIEDER BOCK nötige Autoabgase und unnatürliche Le- bensweise scheint mir den Krebstod Den Gewerkschaften ist das Thema durch Arbeit weit zu überholen. Die ein- bereits seit Jahren bekannt. Es ist je- seitige Panikmache läßt nur eine Alter- doch einfacher, eine 3,5prozentige native zu: Zurück auf die Bäume, ihr Af- Lohnerhöhung zwischen den Tarifpar- fen. teien zu vereinbaren, als den Faktor Kirchdorf (Bayern) HANS WILDT Arbeitsschutz in den Vordergrund zu stellen. Vor zehn Jahren starb mein Mann an Waldstetten (Bayern) WALTHER GMBH Lungenkrebs. Zu dem ganzen Dilemma kommt nach meiner Erfahrung noch, daß Es ist höchste Zeit, daß die Öffentlich- sich die Berufsgenossenschaften die keit auf die zum Teil unhaltbaren ge- Hände reiben können um jeden Geschä- sundheitlichen Zustände in der Ar- digten, der auch Raucher war. Das macht beitswelt und das daraus resultierende es leichter, Ansprüche abzuwehren. Leid für die betroffenen Arbeitnehmer Neuenstadt (Bad.-Württ.) ELSBETH WEIST und ihre Angehörigen aufmerksam ge-

DER SPIEGEL 12/1994 7

BRIEFE

macht wird. Die Tatsache, daß nur ein Drittel der berufstätigen Bevölkerung das Rentenalter ohne schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigung er- reicht, muß zu großen Anstrengungen für eine deutliche Verbesserung der Arbeitssicherheit und des Gesundheits- schutzes führen. Darmstadt ANDREAS SCHLOSSAREK AG der Betriebs- und Personalräte der außeruniversitären Forschungseinrichtungen

Nach unseren Berechnungen werden über 70 000 Krebserkrankungen jähr- lich durch Einwirkungen in der Ar- beitswelt verursacht, von denen die meisten tödlich enden. Der Mathemati- ker Professor Dr. Wahrendorf vom Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg schätzt den Anteil der Ar- Penis-Zeichnung von einem Kind beitsumwelt am Krebsgeschehen auf Traumatischer Vertrauensverlust unter 20 000 Fälle jährlich – wie von Ih- nen zitiert. Wir halten dies für eine mehr hat mich Ihr gefühlvoller Report Verharmlosung, die auf die Unkenntnis sehr stark berührt. der Arbeitsplatzverhältnisse zurück- Name und Anschrift sind der Redaktion bekannt geht. Die Defizite bei der Eingreifung präventiver Maßnahmen sind aber bei Als Kind bis hin ins Erwachsenenalter den Bundesländern noch größer als bei bin ich selbst sexuell mißbraucht worden. den von Ihnen kritisierten Berufsgenos- Ich kenne Hilflosigkeit, Verunsicherung senschaften. über Vater und diverse Onkels, trauma- tischen Vertrauensverlust, Haß und ent- Düsseldorf REINHOLD KONSTANTY Deutscher Gewerkschaftsbund setzlich unkontrollierbare Aggressions- ausbrüche. Dringend gebraucht hätte ich kompetente Hilfe. Erschüttert und wachgerüttelt Mannheim YVONNE MORGENROTH (Nr. 10/1994, Sexueller Mißbrauch: Erschreckend auch hier wieder der Zeit- Cordt Schnibben über die schwierige Su- geist: Der Mensch, das Kind bleibt bei al- che nach der Wahrheit) ler Wahrheitssuche auf der Strecke. Die Methoden, selbst der Mutter, setzen Endlich ein Artikel, der die Machtlosig- meines Erachtens den Mißbrauch fort. keit einer betroffenen Mutter angesichts Und später dann in der Therapie bestä- der ungeheuerlichen Hartleibigkeit der tigt sich nach Erfahrungen in meiner Pra- Justiz beschreibt. Aber wen wundert’s – xis leider die These von Alice Miller aus solange die Störung der Sonntagsruhe dem Buch „Du sollst nicht merken“: Die eines Ministerialrats der größere Skan- Psychoanalyse gibt den Rest. dal ist als ungeschultes Personal bei Po- Berlin ROSMARIE JÄGER lizei und Staatsanwaltschaft, wissen wir ja, wer wo eine Lobby hat. Auf was war- Sehr anschaulich, ohne Polemik und auf ten die Herren eigentlich, um Hand- eine erschreckende Weise identisch mit lungsbedarf in sich zu entdecken – auf der praktizierten Realität habe ich dort Blut, Sperma und Kinderleichen frei vieles von dem wiedergefunden, was ich Haus? selbst in meiner Tätigkeit als Sozialarbei- Berlin ANKE SCHULZ terin bei der Staatsanwaltschaft Köln so häufig erlebe. Hier bei uns zählt – je jün- Trotz tagtäglicher psychotherapeuti- ger das Opfer, um so sicherer kann der scher Arbeit mit mißbrauchten Jugend- Täter sein, daß nichts von dem offenge- lichen und Erwachsenen hat mich der legt wird, was geschehen ist. Artikel erneut erschüttert und wachge- Köln ASTRID KIEL rüttelt. Was übersehen wir?! Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß Niedereschach (Bad.-Württ.) HARALD FRITZSCHE auch Psychologen und das Jugendamt nicht richtig mit solchen Situationen um- Alle Achtung, dieser Artikel von einem gehen, wenn ein Kind eine belastende Mann geschrieben und wohl auch selbst Äußerung von sich gegeben hat. Ein recherchiert, Sie haben Mut! Als Selbst- Mißbrauchsvorwurf ist durch den Ange- betroffene habe ich erst nach 30 Jahren schuldigten schwer widerlegbar. Ich von meinem Mißbrauch erfahren. Ich möchte als betroffener Vater den Vor- bin 42 Jahre alt, und glauben Sie mir, wurf an die weitergeben, die so selbstge- den Schaden, den man mir zugefügt hat, recht urteilen. kann niemand mehr gutmachen. Um so Name und Adresse sind der Redaktion bekannt

10 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite BRIEFE Gepriesenes Allheilmittel mer sind diese Pseudo- Medizinmänner in der (Nr. 10/1994, Jobs: Teilzeitarbeit bringt Regel völlig hilflos. Arbeitsplätze) Köln RONALD KAISER Was hier als grandiose Innovation der Am meisten hat mich Arbeitswelt gepriesen wird, ist nichts erstaunt, daß der anderes als das konsequente Aufrecht- SPIEGEL keine Fra- erhalten des Grundsatzes: Nur Anwe- gen nach den spirituel- senheit wird bezahlt, Arbeitsergebnisse len und therapeuti- spielen keine oder eine eher untergeord- schen Qualitäten des nete Rolle. Schlimm daran ist vor allem, Rituals gestellt hat. Sie daß hier nicht nur an dem Prinzip festge- waren nur daran inter- halten wird, wonach der Arbeitgeber in essiert, wieviel Geld erster Linie die Sitzfläche und nicht das damit verdient wird Hirn seiner (Kopf-)Arbeiter und -Ar- und welche Drogen beiterinnen gemietet hat, sondern daß benutzt werden. die als Allheilmittel plötzlich gepriesene Amsterdam Teilzeitarbeit zu einem Instrument der FRANK NATALE Selbstausbeutung wird, das eigentlich am Ende des 20. Jahrhunderts keinen Schamanen beherr- Platz mehr haben dürfte. schen die bewußtseins- verändernde Technik Kurdische Familie Nas: Einen Orden für Steinebach Bonn JULIANE FREIFRAU VON FRIESEN der „Schamanischen Deutscher Juristinnenbund Reise“. Als Hilfsmittel für diese Tech- und sich der Öffentlichkeit eitel und ar- nik dienen Rasseln und Trommeln. rogant als rechtschaffene Staatsdiener Drogen sind dabei nicht nur uner- präsentieren, lösen in mir quälende As- Gleiche Masche wünscht, sondern sogar überflüssig. Aus soziationen aus. (Nr. 10/1994, Esoterik: Experimente mit diesem Grunde bedauern wir solche der Hagen (Nrdrh.-Westf.) Psycho-Tee) Gewinn-Maximierung dienenden Aya- HEIDE MARIA NEGHABIAN huasca-Soireen sehr: Sie haben mit Die Geschäftsmasche ist immer die glei- Schamanismus nichts zu tun und richten Wie gut, daß es solche Wunder gibt! che, lediglich der Drogenname ändert beträchtlichen Schaden an. Doch Wunder allein genügen nicht, sich und läuft in New-Age- und heute wenn durch Abschiebung Menschenle- auch in Trance-Dance-Kreisen weltweit Hamburg AXEL BRÜCK ben in Gefahr sind. Seit Wochen teile Yggdrasil – Ges. zur Erhaltung, Förderung + ich die Ängste zairischer Asylbewerber. nach dem gleichen Prinzip: Ein selbster- Verbreitung Schamanischer Traditionen nannter Schamane füttert einen meist eh Werden sie abgeschoben, drohen ihnen problembeladenen Teilnehmerkreis mit die Gefängnisse Mobutus oder der einer zusammengewürfelten Indianer- Quälende Assoziationen schnelle Tod. Ich bin der Ansicht der oder Schamanenmystik, die in der Re- Lehrerin, daß hier „mit scheinbar (Nr. 10/1994, Asyl: Ein bayerisches Dorf gel frei erfunden ist oder neugebildeten rechtsstaatlichen Mitteln menschenver- kämpft für seine Kurden) Sekten entstammt, und läßt eine billige achtende Dinge durchgesetzt werden“. synthetische Droge in Kombination mit Rheinmünster (Bad.-Württ.) Nein, das ist kein echtes Wunder, son- GITTA LAMBINET einer Mixtur aus dem Heimatland die dern ein echter Skandal, wenn einer Arbeit verrichten. Bei eventuell auftre- ganzen Familie kein Asyl gewährt Politik ist Dienst am Menschen. Doch tenden psychischen Krisen der Teilneh- wird, nur weil von Beamten behauptet im CSU-Staat Bayern gehen die Uhren wird, in der Türkei würden nur Extre- bekanntlich anders. Potentielle Schreib- misten verfolgt, aber keine Kurden. tischmörder in leitenden Staatsfunktio- Kaufbeuren DIETRICH BANGERT nen sind für Bürger, die sich dem Hu- manismus verpflichtet fühlen, eine Zu- Ich bin entsetzt, schäme mich und mutung. Am real existierenden Rechts- schäume vor Wut über soviel Mißach- staat unter christlichem Deckmantel tung unseres Staates gegenüber auslän- kann man schier verzweifeln. Das Recht dischen Mitbürgern. Ein ganzes Dorf wird zur Farce, wenn über das Recht setzt sich ein und kämpft gegen die Menschen gebeugt werden. Abschiebung einer vollintegrierten kur- Wächtersbach (Hessen) dischen Familie. Unsere Politiker ha- KARL HEINZ GRASSELT ben jedoch nur ein müdes Gähnen übrig für einen Fall wie diesen. Steine- bach müßte einen Orden bekommen, Besuch in der Zelle? denn soviel Engagement für andere (Nr. 11/1994, CSU: Stoiber unter Druck) aufzubringen, ist bedauerlicherweise nicht selbstverständlich auf dieser Er- Mich als Sympathisanten des inhaftier- de. ten Herrn Zwick darzustellen, geht zu Bachern (Bayern) ELKE LÖB weit. Da muß wohl ein arges Mißver- ständnis vorliegen: Ich halte nicht für Politiker und Verwaltungsbeamte, die skandalös, daß Zwick-Junior in Haft sich bei ihren Entscheidungen, unter sitzt, sondern daß sein Vater dies zuläßt, eklatanter Mißachtung der Verpflich- indem er seine Steuerschulden nicht be- „Trance Dance“-Veranstalter Natale tung, menschliches Leben zu schützen, zahlt. Im übrigen war ich es, der die Therapeutische Qualitäten? hinter Gesetzen verstecken können Niederschlagung aufgehoben und damit

12 DER SPIEGEL 12/1994 die staatsanwaltschaftliche Ermittlung ermöglicht hat. Seien Sie sicher: Ich werde alles daransetzen, die ausstehen- den Steuerschulden einzutreiben, und wenn ich dafür Herrn Zwick in seiner Zelle besuchen muß. München GEORG VON WALDENFELS Bayerischer Finanzminister

Kleine Fußnote (Nr. 9/1994, Hohlspiegel) Der SPIEGEL mokiert sich über einen kunstvoll verschachtelten Satz aus unse- rer Kurzbiographie über Sir Karl Pop- per. Der ironische Hinweis ist ohne Fra- ge berechtigt, verdient aber doch eine kleine Fußnote über die stilistischen Probleme, mit denen sich unsere Re- dakteure immer wieder auseinanderset- zen müssen, wenn es gilt, eine Fülle von Informationen auf kleinstem Raum les- bar und verständlich darzustellen. Für den Hohlspiegel hätten wir auch andere interessante Stilblüten aus jüngster Pro- duktion anzubieten. So heißt es in unse- rer Kurzbiographie über Paul Wühr: „W.-Texte sind verschriftete mündliche Texte oder Texte, die in schriftlicher Fi- xierung zur Mündlichkeit tendieren.“ Ravensburg DR. LUDWIG MUNZINGER Munzinger Archiv

Lehrreiche Gedankennahrung (Nr. 10/1994, Computer: SPIEGEL-Ge- spräch mit Lotus-Gründer Mitchell Kapor über Chancen und Risiken der Datenau- tobahn) Daß der „Information Super Highway“ die Gesellschaft von Grund auf umkrem- peln wird, ist allen Beteiligten klar. Bis- her hat jedoch niemand auch nur eine halbwegs gesicherte Ahnung davon, wo- hin die Reise in den Cyberspace genau geht. Während in den USA bereits über die Zukunft debattiert wird, fiel unserem Bundeskanzler kürzlich bei einem TV- Gespräch zu diesem Thema nur die bun- desdeutsche Autobahn ein. Bonn INGO RUHMANN Informatiker-Verband FIFF Über Internet Das Gespräch hat die Bedeutung freier Kommunikation deutlich gemacht, wo sonst zumeist über die 500 Fernsehkanä- le-Videotie berichtet wird. Informative und lehrreiche Gedankennahrung. Aurich REINHARD DONATH Über Internet Das Auftreten von Neonazis und Extre- misten anderer Herkunft im Internet und in anderen, kleineren Computer-Netz- werken ist schädlich. Allerdings halte ich es nicht für möglich, Inhalte von elektro- nischer Post („E-Mail“) zu kontrollieren. Dies wäre unter demokratischen Ge-

DER SPIEGEL 12/1994 13 BRIEFE MNO sichtspunkten auch nicht wünschens- 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 wert. Diskussionsteilnehmer in Online- CompuServe: 100064,3164 (Internet: [email protected]) Konferenzen regeln solche Dinge ge- HERAUSGEBER: Chigi 9, 00187 Rom, Tel. 679 7522, Telefax 679 7768 . Stock- wöhnlich sehr gut untereinander. CHEFREDAKTION: Dr. Wolfgang Kaden, Hans Werner Kilz holm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11 223 Stockholm, Tel. . Schließlich kommt auch niemand auf die REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, 650 82 41, Telefax 652 99 97 Tokio: Wulf Küster, 5-12, Mina- Wolfram Bickerich, Wilhelm Bittorf, Peter Bölke, Jochen Bölsche, mi-Azabu, 3-chome, Minato-Ku, Tokio 106, Tel. 3442 9381, Tele- Idee, das Telefonnetz abzuschaffen, nur fax 3442 8259 . Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Stephan Burgdorff, Wer- . ner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Dr. 00-635 Warschau, Tel. 25 49 96, Telefax 25 49 96 Washing- weil dort Verbrecher und Extremisten Martin Doerry, Adel S. Elias, Rüdiger Falksohn, Nikolaus von Fe- ton: Karl-Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 ihre Absprachen treffen. National Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. stenberg, Jan Fleischhauer, Uly Foerster, Klaus Franke, Gisela . Friedrichsen, Angela Gatterburg, Henry Glass, Rudolf Glismann, 347 5222, Telefax 347 3194 Wien: Dr. Martin Pollack, München THOMAS DÜRSELEN Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Hans Halter, Schönbrunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. 587 4141, Tele- Über Internet Werner Harenberg, Dietmar Hawranek, Manfred W. Hentschel, fax 587 4242 Ernst Hess, Hans Hielscher, Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim ILLUSTRATION: Renata Biendarra, Martina Blume, Barbara Bo- Hoelzgen, Jürgen Hogrefe, Dr. Jürgen Hohmeyer, Carsten Holm, cian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Bonnie, Regine Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Dr. Olaf Ihlau, Ulrich Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Csallos, Volker Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hurme, Antje Klein, Voll fit! Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, Petra Eva-Maria von Maydell, Ursula Morschhäuser, Cornelia Pfauter, Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne Koelbl, Monika Rick, Chris Riewerts, Julia Saur, Detlev Scheerbarth, (Nr. 10/1994, Hausmitteilung) Siegfried Kogelfranz, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Claus-Dieter Schmidt, Manfred Schniedenharn, Frank Schumann, Karl Heinz Krüger, Bernd Kühnl, Dr. Romain Leick, Heinz P. Rainer Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Hans-Pe- Welker, Rainer Wörtmann, Monika Zucht Willkommen im Cyberspace! ter Martin, Georg Mascolo, Gerhard Mauz, Walter Mayr, Gerd SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- Meißner, Fritjof Meyer, Dr. Werner Meyer-Larsen, Joachim Mohr, bine Bodenhagen, Lutz Diedrichs, Dieter Gellrich, Hermann Berlin HOLGER ZSCHEYGE Mathias Müller von Blumencron, Rolf S. Müller, Bettina Musall, Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Über Compuserve Hans-Georg Nachtweh, Dr. Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Kö- Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas ster, Hans-Joachim Noack, Gunar Ortlepp, Rainer Paul, Christoph M. Peets, Wolfgang Polzin, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Pauly, Jürgen Petermann, Joachim Preuß, Dr. Rolf Rietzler, Schäfer, Wilhelm Schöttker, Ingrid Seelig, Hans-Eckhard Segner, Herzlichen Glückwunsch zum Timing Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Ma- Tapio Sirkka, Hans-Jürgen Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters, Ihrer Entscheidung, zur Cebit ’94 Ihre rie-Luise Scherer, Heiner Schimmöller, Roland Schleicher, Cordt Peter Zobel Schnibben, Hans Joachim Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Bruno VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Compuserve Adresse im Blatt selbst be- Schrep, Helmut Schümann, Matthias Schulz, Hajo Schumacher, orama, Regierung, Wallow-Interview, FDP, Schröder-Gespräch, kanntzumachen. E-Mail bereichert die Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Claudius Seidl, Mareike Spiess- Bundeswehr, Gauweiler-Interview, Abgeordnete: Dr. Gerhard Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf Stampf, Hans Gerhard Stepha- Spörl; für CSU, Stolpe-Affäre, Bundestag, Barschel-Affäre, Forum, „medialen Einbahnstraßen“ um interak- ni, Günther Stockinger, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Militär, Drogen, Sterbehilfe, Hausbesetzer: Ulrich Schwarz; für Supp, Dr. Rainer Traub, Dieter G. Uentzelmann, Klaus Umbach, Schüler, Spectrum, Jugend, Küche, Rundfunk, Beltz-Gespräch, tives Mitmachen auf dem kommenden Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Manfred Weber, Susanne Weingarten, Prinzen, Fernseh-Vorausschau: Hans-Dieter Degler; für Trends, „Information Super Highway“. Mir Alfred Weinzierl, Marianne Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos Konzerne, Manager, Zigaretten, Subventionen, Investitionen, Fi- Widmann, Erich Wiedemann, Dr. Dieter Wild, Christian Wüst, Dr. nanzmärkte, Telefax, Automobile (S. 122): Rainer Hupe; für Pan- fehlte in diesem Medium neben dpa ein Peter Zolling, Helene Zuber orama Ausland, Titelgeschichte (S. 152), Gandy-Interview, Israel, allgemein zugängliches, deutschsprachi- REDAKTIONSVERTRETUNG BONN: Winfried Didzoleit, Man- Balkan, Italien, Ungarn, Türkei, Südafrika, Umwelt, Pieronek-Ge- fred Ertel, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth spräch, Niederlande: Dr. Olaf Ihlau; für Doping, Formel 1, Tön- Niejahr, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, nies-Interview: Heiner Schimmöller; für Szene, Zeitgeschichte, Gabor Steingart, Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, Dahlmann- Kunst, Polemik, Bestseller, Bücher: Dr. Mathias Schreiber; für straße 20, 53113 Bonn, Tel. 26 70 3-0, Telefax 21 51 10 Ausstellungen, Europäische Union, Prisma, Medizin, Automobile (S. 236), Tankerunglück, Datennetze, Völkerkunde: Klaus Franke; REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- für namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Briefe, gang Bayer, Petra Bornhöft, Christian Habbe, Dieter Kampe, Uwe Personalien, Register, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Klußmann, Jürgen Leinemann, Claudia Pai, Hartmut Palmer, Nor- Weber; für Titelbild: Rainer Wörtmann; für Gestaltung: Dietmar bert F. Pötzl, Michael Schmidt-Klingenberg, Harald Schumann, Suchalla; für Hausmitteilung: Dr. Dieter Wild (sämtlich Kurfürstenstraße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. 25 40 91-0, Tele- Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) fax 25 40 91 10; Dresden: Sebastian Borger, Dietmar Pieper, DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Harro Albrecht, Wer- Detlef Pypke, Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. . ner Bartels, Sigrid Behrend, Ulrich Booms, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa 567 0271, Telefax 567 0275 Düsseldorf: Ulrich Bieger, Georg Busch, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Bönisch, Hans Leyendecker, Richard Rickelmann, Rudolf Wallraf, Karen Eriksen, Andre´ Geicke, Ille von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. 93 601-01, Telefax Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Wolfgang Henkel, Gesa Höpp- 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Claus Christian Malzahn, Dalbergs- . ner, Jürgen Holm, Christa von Holtzapfel, Joachim Immisch, Hau- weg 6, 99084 Erfurt, Tel. 642 2696, Telefax 566 7459 Frank- ke Janssen, Günter Johannes, Angela Köllisch, Sonny Krauspe, furt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bittner, Annette Großbongardt, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Walter Lehmann, Mi- Annette Littmann, Ulrich Manz, Jürgen Scherzer, Oberlindau 80, . chael Lindner, Dr. Petra Ludwig, Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, 60323 Frankfurt a. M., Tel. 71 71 81, Telefax 72 17 02 Hanno- Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd ver: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Hannover, Tel. . Musa, Christel Nath, Anneliese Neumann, Werner Nielsen, Paul 32 69 39, Telefax 32 85 92 Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Ostrop, Nora Peters, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Amalienstraße 25, 76133 Karlsruhe, Tel. 225 14, Telefax . Rambow, Anke Rashatasuvan, Dr. Mechthild Ripke, Hedwig San- 276 12 Mainz: Birgit Loff, Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, der, Constanze Sanders, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, 55116 Mainz, Tel. 23 24 40, Telefax 23 47 68 . München: Dinah Marianne Schüssler, Andrea Schumann, Claudia Siewert, Margret The New Yorker Deckstein, Annette Ramelsberger, Dr. Joachim Reimann, Stuntz- Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Mo- straße 16, 81677 München, Tel. 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 nika Tänzer, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Hilfe, wo bin ich? Wo geht es hier . Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwe- . Dr. Iris Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula zum „Information Super Highway“? rin, Tel. 557 44 42, Telefax 56 99 19 Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Wamser, Dieter Wessendorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Win- Grimm, Sylvia Schreiber, Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, delbandt Tel. 22 15 31, Telefax 29 77 65 BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles ges Magazin, das die sprunghafte Ent- REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Bangkok: Dr. Tizia- NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- no Terzani, 18 Soi Prommitr, Sukhumvit Soi 39, 10 110 Bangkok, shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, Time wicklung kritisch begleitet. Endlich be- Tel. 258 8410, Telefax 259 5980 . Basel: Jürg Bürgi, Spalenring . kommen auch SchülerInnen einen di- 69, 4055 Basel, Tel. 271 6363, Telefax 271 6344 Belgrad: Re- SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG nate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. rekten Draht zum Nachrichtenmagazin. 66 01 60, Telefax 66 01 60 . Brüssel: Heiko Martens, Marion Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006, Telefax 040-30072898 Schreiber, Bd. Charlemagne 45, 1040 Brüssel, Tel. 230 61 08, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Konfirmandenkommentar: SPIEGEL Telefax 231 1436 . Jerusalem: Dr. Stefan Simons, 1, Bet Eshel, Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM online – Voll fit. Old Katamon, Jerusalem 93227, Tel. 61 09 36, Telefax 130,00, zwölf Monate DM 260,00. Normalpost Europa: sechs 61 76 40 . Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Monate DM 184,60, zwölf Monate DM 369,20; Seepost Übersee: Hamwerde (Schlesw.-Holst.) Floor, 85 Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. 333 1864, Tele- sechs Monate DM 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpost- HANNS-JOHANN EHLEN fax 29 40 57 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, preise auf Anfrage. Pastor Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, Muhandisin, Kairo, Tel. 360 4944, Telefax 360 7655 . Kiew: Über Compuserve Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 Kiew, Tel. 10787 Berlin, Tel. 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; Düssel- 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Henrietta Street, London dorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. 936 01 02, Telefax WC2E 8PS, Tel. 379 8550, Telefax 379 8599 . Moskau: Jörg R. 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., SPIEGEL goes E-Mail, prima. Dann Mettke, Dr. Christian Neef, Krutizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, Tel. 72 03 91, Telefax 72 43 32; Hamburg: Brandstwiete 19, 109 044 Moskau, Tel. 007502 220 4624, Telefax 20457 Hamburg, Tel. 3007 2545, Telefax 3007 2797; Mün- doch lieber Leserbriefe abschicken, als 007502 220 4818 . New York: Matthias Matussek, 516 Fifth chen: Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. 41 80 04-0, Telefax im Datex-J Beate Uhses Rente aufbes- Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. 221 7583, Tele- 4180 0425; Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, fax 302 6258 . Paris: Lutz Krusche, Helmut Sorge, 17 Avenue Tel. 226 30 35, Telefax 29 77 65 sern. Matignon, 75008 Paris, Tel. 4256 1211, Telefax 4256 1972 . Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner Düsseldorf SCHIFFER Peking: Jürgen Kremb, Qijiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 48 vom 1. Januar 1994 Über Internet 532 3541, Telefax 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 24 22 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glüsing, Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg Avenida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck, Burkhard Voges 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von Roques, Largo GESCHÄFTSFÜHRUNG: Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist ein Prospektbeikleber der Firma Clarks Shoes, Bin- DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $280,00 per annum. gen, sowie eine Postkarte des SPIEGEL-Verlages / Distributed by German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Second class Abo, Hamburg, beigeklebt. postage is paid at Englewood, NJ 07631 and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ent- DER SPIEGEL, GERMAN LANGUAGE PUBLICATIONS, INC., P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631-1123. hält eine Beilage der Firma Janowski/Süddt. Klas- senlotterie, München.

14 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND PANORAMA

Sachsen-Anhalt Hauptstadt Gardinen Asbest für Münch im Reichstag Das Finanzgebaren von Der Berliner Reichstag, in Sachsen-Anhalts Ex-Mini- dem die Bundesversammlung sterpräsident Werner Münch am 23. Mai den neuen Bun- (CDU), der im November despräsidenten wählen wird, vergangenen Jahres wegen ist in erheblichem Maße as- der Raffke-Affäre zurücktre- bestverseucht. Das hat der ten mußte, strapaziert die TÜV Südwestdeutschland in Kasse des kleinen Bundes- einem bislang unveröffent- landes noch heute. Für „si- lichten Gutachten im Dezem- cherheitstechnische Einbau- ber 1993 festgestellt. Im Ge- ten“ in drei von Münch be- bäude verteilen sich die as- nutzten Immobilien mußte Münch besthaltigen Bauteile vor- das Land rund 1,3 Millionen nehmlich auf Brandschutz- Mark berappen. Allein für Mark) war eine 144 Quadrat- Deutschen Jugend“ (FDJ), platten (2813 Quadratmeter). das Wohnhaus des Ex-Regie- meter große Dienstwohnung bekommt einen neuen Chef Das krebserregende Gift ver- rungschefs im niedersächsi- speziell für ihn vorgesehen. aus dem Westen: Der Ham- birgt sich auch in Rohrisolie- schen Lohne beliefen sich die Zwar will die neue Landesre- burger Konkret-Herausgeber rungen (1700 Meter), an 39 Kosten auf rund 660 000 gierung den Münch-Luxus und Altlinke Hermann Türblättern sowie an Stützen Mark. In Münchs Eigentums- nicht fortführen, sie hat aber Gremliza soll im Mai Verle- und Trägern. In der Stenogra- wohnung in der Magdebur- keine andere Wahl. Rund 11 ger des Blattes werden, das fengalerie des Plenarsaals ger Gartenstraße 30 mußte Millionen Mark sind für den seit Jahren in finanziellen sind laut TÜV Brüstung wie das Land rund 320 000 Mark Umbau bereits bezahlt. Für Schwierigkeiten steckt. Die Boden asbesthaltig. Für investieren. Die Einbauten, weitere knapp 14 Millionen Auflage der Zeitung, die fast „unverzüglich erforderlich“ zu denen großzügig auch Mark existieren rechtskräftig ohne Anzeigen erscheint, halten die Gutachter eine Sa- Gardinen gezählt wurden, abgeschlossene Verträge. sank von einst 1,5 Millionen nierung insbesondere der will das Finanzministerium auf 30 000. Gremliza soll der Glasdecke über dem Plenar- Münch jetzt überwiegend ko- Junge Welt Jungen Welt, heißt es in der saal. Hier wurden, während stenlos überlassen, ein Aus- Redaktion, als „Blattmacher der Restauration in den sech- bau sei zu teuer. Darüber Chef aus in der Funktion eines Verle- ziger Jahren, anstelle von hinaus hatte der Pomp lie- gers“ eine letzte Chance ge- Fensterkitt 3700 Meter as- bende Münch bereits eine dem Westen ben. Der bisherige Verleger besthaltige Dichtschnüre für weitere Wohnung für sich ge- Die Ost-Berliner Tageszei- Peter Großhaus, in dessen die Drahtglasscheiben ver- plant. In dem luxuriösen tung Junge Welt, zu DDR- Berliner Verlag die Tageszei- wendet. Unmittelbar gesund- Umbau der Staatskanzlei Zeiten Zentralorgan der tung erscheint, bleibt Ge- heitsgefährdend sei der Auf- (Kosten rund 29 Millionen SED-gelenkten „Freien schäftsführer. enthalt im Reichstag nicht,

wenn die DDR eine „befriedigende Lösung“ bei der Zuwan- derung Asylsuchender über Ost-Berlin finde. Wegen eines ähnlichen Tauschangebots 1986 – Respektierung der DDR- Staatsbürgerschaft gegen Hilfe in der Asylbewerber-Frage – hatte dieUnion Johannes Rau vorkurzem „Anerkennung des SED-Unrechtsregimes“ vorgeworfen. Akten über DDR-Kontakte vonSchäuble-Vorgänger fehlen in einer Übersicht des Bundeskanzleramts. Schalck-Vermerke liefern dagegen „unmißverständliche Hinweise auf vertrauliche Gespräche“ Jenningers, „wohl mit Wissen und Wollen des Bundeskanzlers“, heißt es im SPD- Papier (Titel: „Wer im Glashaus sitzt . . .“). Der Schweizer SED-Politbüromitglied Mittag, Jenninger (1982) Bankier Holger Bahl, Mittelsmann zwischen Jenninger und Ost-Berliner Kontaktpersonen, habe durch Vorlage „teilwei- Wahlkampf se handschriftlicher Empfangsbestätigungen“ von Jenninger seine Aussagen untermauert –etwa über Verhandlungspläne zur „schrittweisen Abschaffung der Erfassungsstelle Salzgit- Wurf ins Glashaus ter“. Die Erfassungsstelle für DDR-Unrecht galt der Unions- Führende Unionspolitiker haben, wie sich aus einer Doku- führung offenbar nur noch als Prestigeobjekt. In einer Ge- mentation der SPD-Bundestagsfraktion ergibt, enge Kontak- sprächsunterlage für Franz Josef Strauß, der sich mindestens te mit DDR-Machthabern unterhalten und die Öffentlichkeit 23mal mit Schalck traf, hieß es: „Festhalten an dieser Stelle teilweise bewußt darüber getäuscht. So stellte der damalige hat in der Hauptsache psychologische und politische Grün- Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble, wie DDR-Devi- de.“ Die SPD-geführten Länder hatten 1988 ihren Anteil an senschieber Alexander Schalck-Golodkowski Mitte 1985 an der Finanzierung der Behörde eingestellt – was der SPD von die SED-Führung berichtete, eine „einvernehmliche Rege- der Union noch nachträglich alsmangelnderWille zur Einheit lung“ der umstrittenen Grenze auf der Elbe in Aussicht, angelastet wird.

16 DER SPIEGEL 12/1994 versichert Ulrich Maetzel, Leiter des Baureferates im Reichstag. Mit der Sanierung, für die ein halbes Jahr veran- schlagt ist, soll ab November 1994 begonnen werden. Doch dieser Termin wackelt, weil das Bonner Bauministerium ein Ergänzungsgutachten in Auftrag geben will.

Lotto-Affäre Frisiertes Gutachten In der Filz-Affäre um die staatliche Toto-Lotto GmbH in Baden-Württemberg hat der Aufsichtsratsvorsitzende und Stuttgarter Finanzmini- ster Gerhard Mayer-Vorfel- der (CDU) die Öffentlichkeit mit einem frisierten Bericht massiv getäuscht. Der Auf- sichtsrat der Lottogesell- schaft erhielt am 8. März das Gutachten einer Stuttgar- ter Wirtschaftsprüfungsge- sellschaft, das dann angeblich aus Datenschutzgründen ver- ändert wurde – tatsächlich aber wurden auch Zahlen und Textpassagen korrigiert. Die geschönte Fassung stellte Mayer-Vorfelder vorige Wo- che der Öffentlichkeit als Aufsichtsratsbericht vor. Darin werden etwa Lotto- Werbegelder an den Bundes- ligaklub VfB Stuttgart ver- schwiegen. Nach dem inter- nen Papier erhielt der VfB

Mayer-Vorfelder von 1990 bis 1993 insgesamt 276 136 Mark für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit, der öffentliche Bericht führt lediglich Zahlungen an den VfB in Höhe von 133 136 Mark auf. Mayer-Vorfelder ist Präsident des Bundesliga- Vereins. Beide Berichte stammen von der C & L Treuarbeit, die von Mayer- Vorfelder ausgewählt wor- den war.

DER SPIEGEL 12/1994 17 DEUTSCHLAND

Regierung SCHÜSSE AUS DER KISTE Mit Steuergeld macht die Bundesregierung Wahlpropaganda. Das Bundespresseamt läßt SPD-Chef Rudolf Scharping im Rundfunk als regierungsunfähig diffamieren – von gekauften Journalisten. Die Sozialdemokraten wollen beim Bundesverfassungsgericht gegen die verdeckte Medienarbeit klagen.

elmut Kohl gibt sich gern als Freund der freien Presse. In der Hvergangenen Woche schwebte er in Erfurt ein, um mit hehren Worten das Druckzentrum der Westdeutschen Allge- meinen Zeitung einzuweihen. Gerade in Ostdeutschland spüre er immer wieder „dieses Verlangen nach zuverlässigen, ungefilterten Informatio- nen“. Gott sei Dank sei die Zeit staatli- cher Agitation und gezielter Desinfor- mation vorbei. „Wir haben“, rief Kohl pathetisch in die Runde, „der Informati- onsfreiheit eine wichtige Bresche ge- schlagen.“ Das ist nur die halbe Wahrheit. So ganz geheuer ist Kohl die Pressefreiheit nicht. Im Wahlkampf läßt der Kanzler, der es noch einmal wissen will, die Pres- sefreiheit gezielt manipulieren. Das regierungsabhängige Bundes- presseamt (BPA) verteilt aus der Staats- kasse großzügig Geld, damit Journali- sten im Radio regierungsgenehme Kom- mentare sprechen. Die Sender werden von „zwei Spezialagenturen“ (Regie- rungssprecher Dieter Vogel) mit den ge- sponserten Beiträgen versorgt – der Ab- sender bleibt unbekannt. Ein Millionen- publikum wird so getäuscht. Im Jackett des Saubermanns forderte CDU-Generalsekretär Peter Hintze für das Wahljahr eine „unpolemische Mei- nungsbildung“. In Wahrheit nutzt die Regierung Steuergelder, um massiv Meinung zu machen – vorbei an Gesetz Grundsätzen eines freien und offenen („Ein Mann räumt und guten Sitten. Prozesses der Meinungs- und Willensbil- auf“) und Wirtschaftsminister Günter Kohl riskiert mitten im Wahljahr eine dung nicht vereinbar“. Rexrodt („Ein dynamischer Wirt- Blamage. Das Bundesverfassungsge- Für die Vorwahlzeit hat das Verfas- schaftsfachmann“) aufs schönste um- richt hat bereits 1977, damals von der sungsgericht zusätzlich das „Gebot äu- schmeichelt. Die CDU-Parteipolitik CDU gegen den SPD-Sprecher Klaus ßerster Zurückhaltung“ verordnet: „Die kommt nicht zu kurz. Bölling angerufen, die staatliche Me- Öffentlichkeitsarbeit der Regierung fin- Nach den Wahlniederlagen von dienarbeit in ihre Schranken verwiesen. det dort ihre Grenze, wo die Wahlwer- Hamburg (CDU minus 10 Prozent- Die Öffentlichkeitsarbeit der Regie- bung beginnt.“ punkte) und Niedersachsen (CDU mi- rung, hieß es damals, müsse „willkürli- In der Union halten sich Biedermän- nus 5,6 Prozentpunkte) verbreiteten che, ungerechtfertigt herabsetzende und ner und Brandstifter fest die Hand. Die die Kommentare die immer gleiche polemische Äußerungen über andere Konservativen, nach der Niedersachsen- Durchhalteparole: „Für Bonn ist noch Parteien vermeiden“. Der Einsatz öf- Wahlschlappe vom vorletzten Wochen- alles offen.“ fentlicher Mittel dürfe nicht dazu die- ende schwer angeschlagen, kämpfen mit Im Schutz der Anonymität gab das nen, Mehrheitsparteien zu helfen oder allen Mitteln um die Macht. Bundespresseamt die vom Gesetz ver- Oppositionsparteien zu bekämpfen. In den 961 aus Bonner Geldern finan- langte Zurückhaltung im Umgang mit Alles andere, so die Verfassungs- zierten Hörfunk-Beiträgen des Jahres der Opposition auf. In den gesponser- wächter in ihrem Urteil, sei mit „den 1993 finden sich Gesundheitsminister ten Hörfunk-Beiträgen wird die SPD

18 DER SPIEGEL 12/1994 die verdeckte Medienarbeit fließen. In internen Planungspapieren stehen dafür 2,5 Millionen Mark bereit. Vor allem die Zusammenarbeit mit Hörfunk-Redakteuren soll ausgebaut werden. Die Beamten des Presseamtes haben die Deals diskret eingefädelt, ge- genüber den Sendeanstalten tritt die Be- hörde nie in Erscheinung. Dafür gibt es die Firma Hörfunk Fernsehen Neue Medien (HFN) aus Burgwedel bei Hannover. Sie bietet al- len deutschen Radios unter eigenem Na- men täglich drei Beiträge zur kostenlo- sen Ausstrahlung an. Unter 0511-9001999701 kann jeder Radiomacher über das moderne ISDN- Netz der Telekom die sendefertigen Kommentare in sein Programm einspie- len. Der Absender bleibt ungenannt. Für den SPD-Parlamentarier Hans Wal- low fungieren die Agenturen als „Infor- Kohl-Helfer Vogel, Chef: „Der Informationsfreiheit eine Bresche geschlagen“ mationswaschanlagen“. Täglich nutzen bis zu 16 Sender das seit Monaten in Anderthalb-Minuten- Angeführt von Amtsvize Wolfgang Gi- kostenlose Angebot, Stammkunden Kommentaren hart gerempelt. bowski, gedeckt von Behördenchef Die- sind das Privat-Radio Bonn/Rhein-Sieg, Anfang Mai 1993, kurz nach dem ter Vogel, übt sich die Behörde in der der Ostdeutsche Rundfunk Branden- Rücktritt von Björn Engholm, hieß esun- Kunst der Public Relations. Anders als burg (ORB) und der Mitteldeutsche ter dem Stichwort „Führungskrise in der die klassische Werbung, dieoffen für Par- Rundfunk (MDR). 1993 konnte die Re- SPD“: „Die Genossen haben kein zu- tei und Personen wirbt, möchte PR heim- gierung, die ihre Erfolge von der Tele- kunftsweisendes Programm . . . Die So- lich verführen. kom protokollieren läßt, ihre Radio- zialdemokraten drehen sich im Kreis und Das Presseamt will diese Praktiken im Beiträge 18 600mal inkognito plazieren. sprechen mit 1000 Stimmen.“ Wahljahr bis zur Perfektion steigern. Im Auf den Honorarlisten der vom Pres- Als die Sozialdemokraten im Juni 1993 Referat III A 3, geleitet von Heinrich- seamt beauftragten Agentur HFN ste- gegen den Somalia-Einsatz der Bundes- martin Kreye, einem ehemaligen Mitar- hen der freie Journalist Christoph Schul- wehr klagten, gab es kein Pardon: „Die beiter des Konrad-Adenauer-Hauses, te sowie die Redakteure Egge Weers SPD-Linke stört sich nicht daran, daß werden dieneuen Methoden koordiniert. und Karl-Ludwig Kelber vom Bonner Deutschland in der Uno isoliert wird und Aus einem Geheimfonds, der amtsin- Nachrichtendienst Presseplan. Kelber zur außenpolitischen Provinz herabzu- tern Pulverkiste heißt und dessen genaue will vom Auftraggeber Presseamt nichts sinken droht.“ Mittelverwendung dem Haushaltsaus- gewußt haben: „Wie soll ich denn wis- Am 23. August 1993, Rudolf Schar- schuß des Bundestages bis heute ver- sen, woher HFN sein Geld kriegt?“ Die ping hatte gerade seinen Antrittsbesuch schwiegen wird, soll zusätzliches Geld für Firma Duomedia Consulting aus Bonn bei Kohl absolviert, spottete der Regie- rungskommentar: Wortreiche Mission Scharping kann den Wahlkampf nur mit Ausgaben des Bundespresseamts einem politischen Arm bestreiten. Den für politische Öffentlichkeitsarbeit anderen hat die Partei gefesselt. Schar- im Inland ping ist zu einem Eiertanz gezwungen, während Kohl nach der Rückkehr aus 65,2 dem Urlaub mit neuem Elan in den Ring 62,1 steigen konnte. 60

Im November vergangenen Jahres 50,3 wurde der SPD-Jubelparteitag in Wies- in Millionen Mark 49,4 baden kleingeredet: Der Funke zwischen dem Vorsitzenden und den Delegierten ist nicht überge- 40 38,1 sprungen . . . Scharping ist nicht der große Parteiführer, den die Sozialdemo- 28,6 kraten brauchen. Unbemerkt von der Öffentlichkeit 20,7 20 19,1 wird das Presseamt, mit 750 Mitarbeitern größer als der Privatsender RTL und mit einem Etat von 50,3 Millionen Mark für politische Öffentlichkeitsarbeit ausge- * laut Haushaltsansatz stattet, zur wahlkampftüchtigen Propa- gandazentrale umgebaut. Hinter der Fas- 0 sade von beamtenhafter Betulichkeit Kohl-Helfer Gibowski 1985 87 89 9193 94* agiert eine Truppe von Tricksern. Diskret eingefädelt

DER SPIEGEL 12/1994 19 DEUTSCHLAND bietet im Auftrag des Presseamtes den- aber, die Auffassungen der Opposition Der CDU-lastige MDR ist für die Be- selben Service an. Kommentarsprecher darzustellen“, antwortete er auf eine amten des Presseamtes offenbar eine fe- Wolfgang Dick, Redakteur der Deut- Anfrage Wallows. ste Plangröße. Ein internes Papier vom schen Welle in Bonn und Mitgesellschaf- Nun leidet Vogel an Argumentations- 10. Februar sieht die Produktion von 17 ter der Duomedia, fühlt sich für den In- not. Zwei der Kommentare, die sich Fernsehspots vor, die den Wähler un- halt der Vogel-PR nicht verantwortlich: ausschließlich mit der SPD befassen, verfänglich auf die Europawahl einstim- „Ich mache da nur grammatikalische seien irrtümlich ausgestrahlt worden, men sollen. Verbesserungen.“ sagt er. Vogel zum SPIEGEL: „Als wir Geplant ist ein Produktionskostenzu- Die Texte stammen von fünf Bonner das gemerkt haben, haben wir den schuß an den MDR in Höhe von 200 000 Korrespondenten, die für unterschiedli- Mark. Trotz der von der Verfassung che Tageszeitungen arbeiten. „Strikte verlangten Staatsferne der öffentlich- Vertraulichkeit mit dem Autorenteam“ 336 000 Mark, um rechtlichen Anstalten hat MDR-Chefre- sei vereinbart worden, sagt Dick. Ostwähler für die dakteur Wolfgang Kenntemich bereits Die Radioberichte werden in den mei- zugestimmt. Das gemeinsame Projekt sten Fällen den Regierungsbeamten vor- Regierung zu begeistern Regierung/MDR, vermerkt das Papier gelegt. „Bei schwierigen Themen und voller Stolz, „geht auf eine Initiative des Sachverhalten“, sagt Regierungsspre- Agenturen gesagt, wir akzeptieren diese BPA zurück“. cher Vogel, „prüft das Bundespresseamt Beiträge nicht.“ Für Informationsdienste wie die die Aktualität und Stimmigkeit der Da- Die SPD will gegenhalten. Etliche „Privat-Depesche“, eine wöchentlich er- tenbasis.“ Abgeordnete wollen zusammen mit scheinende Blattsammlung, will die Re- Die SPD-Parteiführung, die seit Wo- Wallow (siehe Interview) vor das Ver- gierung sechsstellige Summen ausgeben. chen von den gekauften PR-Beiträgen fassungsgericht ziehen. Die Partei finan- Über das Blättchen, das „politisch-di- weiß, wurde von Regierungssprecher ziert die Klage. Für die nächste Parla- plomatische Orientierung aus erster Vogel bisher mit Halbwahrheiten abge- mentssitzung wird eine Aktuelle Stunde Hand“ verspricht, lassen sich unauffällig speist. Noch vor zehn Tagen wies Kohls vorbereitet. Gerüchte und Personalien streuen. Sprecher den Verdacht, die SPD werde Dabei wollten Kohls Presseprofis jetzt Auch die Frankfurter Allgemeine durch das Presseamt heimlich attackiert, erst richtig loslegen. Die internen Pla- (FAZ) ist dabei. Die von der FAZ- brüsk zurück. nungspapiere der Vogel-Behörde lassen Tochter Institut für Medienentwicklung Seine Aufgabe sei es, die Politik der für 1994 eine Offensive der verdeckten und Kommunikation herausgegebene Bundesregierung zu erläutern, „nicht Medienarbeit erwarten. rechts-konservative Postille Medien Kri-

gel nichts über den Absender der Beiträge. Viele kleinere Stationen, „Material zum Nulltarif“ die weder Geld noch Korrespon- denten in Bonn haben, freuen sich SPD-MdB Hans Wallow über Kohls Öffentlichkeitsarbeit über das sendefähige Material zum Nulltarif. Der Redakteur schiebt Wallow, 54, war von Wallow: Das Bundes- die Kohl-Kassette rein und geht mit 1983 bis 1990 Mi- presseamt benutzt seiner Freundin frühstücken. nisterialrat und Re- freie Public-relations- SPIEGEL: Wäre es nicht ehrlicher, feratsleiter im Bun- Agenturen als Infor- Sie forderten eine Verschärfung der despresseamt. mations-Waschanla- Gesetze? gen. Die bestellten Wallow: Wir haben hervorragende SPIEGEL: Die Regie- Radiobeiträge pole- Gesetze, die eine strikte Trennung rung führt einen ver- misieren gegen die von Werbung und Redaktion vor- deckten Medienkrieg SPD und glorifizieren schreiben. Nach dem Rundfunk- gegen die Oppositi- die Kohl-Regierung. staatsvertrag ist Staatssponsoring on. Wie wehrt sich Der Absender der politischer Art in Hörfunk und die SPD? Botschaft bleibt für Fernsehen generell unzulässig, mit Wallow: In Abspra- den Hörer unbe- Ausnahme der Wahlkampfspots. che mit Bundesge- kannt. Diese Praxis, Aber gelten diese Gesetze auch für schäftsführer Günter für die das Presseamt die neuen Methoden der Manipula- Verheugen werden Sozialdemokrat Wallow viel Steuergeld aus- tion, die auf der Nahtstelle zwi- einige Kollegen und „Brutal umgegangen“ gibt, sollte durch eine schen Werbung und Journalismus ich vor dem Bundes- einstweilige Anord- stattfinden? verfassungsgericht eine Klage gegen nung schnellstmöglich gestoppt wer- SPIEGEL: Sollen sie dafür gelten? die Regierung anstrengen. Die von den. Wallow: Ich sage: ja. Die Regierung Karlsruhe im 1977er-Urteil zur Öf- SPIEGEL: Die Radioredaktionen sagt: nein. Deshalb bedarf diese fentlichkeitsarbeit verlangte Zu- können die gesponserten Beiträge Frage einer Klärung. Wer dann rückhaltung in Wahlkampfzeiten ablehnen, argumentiert die Regie- noch die vom Gesetz gezogene und wird vom Bundespresseamt auf rung. vom Gericht normierte Grenze zur brutale Art und Weise umgangen. Wallow: Das ist eine billige Ausrede, politischen Werbung überschreitet, SPIEGEL: Was soll ein neues Urteil die das Verfassungsgericht unmög- sollte dafür eine saftige Geldbuße des Bundesverfassungsgerichts aus lich akzeptieren kann. Auch die Ra- bezahlen. Ohne Strafandrohung ist Karlsruhe bringen? dioveranstalter erfahren in der Re- das bisherige Recht wirkungslos.

20 DER SPIEGEL 12/1994 tik wird im Wahljahr mit 340 Paten- der Forschungsgruppe: „Sie schaftsabonnements unterstützt. ist überall gefährdet.“ Das Blatt (Auflage: knapp 2000 Ex- In Hamburg und Nieder- emplare) geißelt alle journalistischen sachsen ist sie nicht mehr im Angriffe auf Unionspolitiker und hat Parlament vertreten. Bei sich schnell den Ruf eines konservativen den Europawahlen im Juni Sittenwächters erworben. Zielgruppe droht ihr, so die For- sind die Rundfunk- und Verwaltungsrä- schungsgruppe, ein blama- te der öffentlich-rechtlichen Anstalten. bles Ergebnis, in Bayern Für die Versorgung der Info-Elite bei wenige Monate später das Bunte, Bild, Gong und Super-Illu hat Aus. Bundesweit wird sie Kanzler Kohl seit einigen Jahren den von den Mannheimer De- Doyen der PR-Branche, den Münchner moskopen unter fünf no- Agenturchef Josef von Ferenczy, im tiert. Sold. Er soll in diesem Jahr 336 000 Bedrohlich der Nieder- Mark erhalten, um Kohl-müde Ostwäh- gang im Osten. Sicher über ler für die Regierungspolitik zu begei- der Fünf-Prozent-Marke stern „und den Prozeß der Vereinigung hält sich die FDP noch in zu begleiten“. Sachsen-Anhalt, wo im Juni Als Vorzeigestück gilt unter den Be- wieder gewählt wird. Dort amten ein Artikel in der von Ferenczy hatte der Hallenser Hans- betreuten Illustrierten Bunte: „Auf- Dietrich Genscher 1990 sei- schwung Ost: Da ist er“, jubelte das ne Partei auf 19,7 Prozent Blatt. „Die Schwarzmaler haben sich gebracht, hatte der Liberale doch geirrt.“ So liest es am Uwe-Bernd Lühr einen liebsten. Y Wahlkreis direkt erobert. „Alles nur Scheinblü- ten“, analysiert Roth. Die FDP Freidemokraten gehörten wie die Union zu den Ge- winnern der Einheit – un- wiederholbares Glück. Kran Der Blick in den Abgrund läßt die Liberalen schau- dern. Beschwichtiger und und Klavier Dramatiker befehden ein- ander. Schuldige werden Bei den Liberalen herrscht gesucht und Rezepte ange- Existenzangst. Die FDP priesen. Aber das Allheil- mittel ist noch nicht ent- Parteichef Kinkel: „Nicht weinen“ gilt als „überall gefährdet“. deckt. Nun streiten sie, ob etwa Nachgiebig- als die Angst vor Kriminellen. Freiheit laus Kinkel hat den Ernst der Lage keit bei der Pflegeversicherung Ursache statt Populismus – diese Rolle haben wohl erkannt: Der FDP drohe ein war für das trübe Ergebnis. War die die Grünen übernommen, „ein ideales Kherbes Schicksal, sie werde wo- Strategie falsch, keine klare Koalitions- Auffangbecken für Unzufriedene“, das möglich „nicht mehr gebraucht“, warnte aussage zu machen und erst ganz spät weiß Kinkel. der Vorsitzende letzte Woche die Sei- der SPD zuzublinzeln? Und wie lauten „Standort Deutschland“ heißt ein nen. Aber, beschwor er die Parteifreun- die Konsequenzen für das Bündnis in weiteres Schlagwort. Gemeint ist nach de – „die Konsequenz ist nicht, weinen Bonn? FDP-Lesart die Fürsorge für die mit- und wegrennen“. Einig sind sich alle, daß der Partei das telständische Klientel. FDP am Ende? Wird am 16. Oktober, Unverwechselbare fehlt, eben Profil. „Themen und Zielgruppen passen bei der Bundestagswahl, auch das Ende Wofür steht die FDP? Derzeit für nicht zusammen“, moniert Bauministe- Helmut Kohls besiegelt? Schlagworte, für ein paar Zielgruppen rin Irmgard Schwaetzer – und dieses Seit dem vorletzten Sonntag, als die und, wie immer, für die Teilhabe an der Versäumnis wird vor allem dem Wirt- FDP mit 4,4 Prozent der Stimmen in Macht. schaftsminister angelastet. Niedersachsen an der Fünf-Prozent- Von der „Faszination Freiheit“ Massiv nahm der Altvorsitzende Hürde scheiterte, hat die Zitterpartie schwärmt Generalsekretär Werner Hoy- Hans-Dietrich Genscher im Präsidium begonnen, für die Freidemokraten wie er, er will ein „liberales Lebensgefühl“ letzte Woche Günter Rexrodt an: Er für die Koalition. Die Liberalen sind für in seiner Partei wiederfinden. Die Ju- bringe unentwegt Vorschläge auf, die den Kanzler zum größten Sicherheitsri- stizministerin Sabine Leutheusser- wenig später wieder in der Schublade siko geworden. Schnarrenberger, die sich um liberale verschwänden. Er tummele sich auf Das Debakel, gleich zu Beginn einer Handschrift bemüht, wird zur selben Nebenkriegsschauplätzen, statt die ei- Serie von Wahlen und ausgerechnet in Zeit vor der Öffentlichkeit versteckt – gene Klientel gezielt zu bedienen. einem der solidesten Landesverbände, sie könnte ja konservative Wähler ver- Genscher nannte Rexrodts Idee, Kar- kündigt dauerhaftes Unheil an. Nach schrecken. nevalisten und ihren Vereinen die Meinung der Mannheimer Forschungs- Auch Ex-Justizminister Kinkel preist Steuerprivilegien zu entziehen, als be- gruppe Wahlen hat sich ihre Prognose seine Partei als „Hüter der Freiheits- sonders abschreckendes Beispiel. bestätigt: Die FDP habe nirgendwo eine rechte“ an. Er gibt aber besorgt zu be- Wie wirtschaftliche Kompetenz zu sichere Wählerbasis, weder in den Län- denken, daß bei den Bürgern die Angst gewinnen ist, hat der SPD-Wahlgewin- dern noch im Bund. Dieter Roth von vor Übergriffen des Staates geringer sei ner Gerhard Schröder nach Genschers

DER SPIEGEL 12/1994 21 DEUTSCHLAND

der Wahl, droht er, „ist sowieso eine Alle Optionen hielt er sich offen. Der Generaloperation fällig“. Eleve dagegen „fragt gleich: Wo steht Kinkel lobt sich selber als jemand, der das Klavier“, klagt ein AA-Diplomat, in kritischen Momenten „ruhiger und „und sucht nicht nach dem Kran“. gelassener bleibt als andere“ – reine Möllemann will bei der Wahl des Bun- Selbstbeschwörung. Denn der einstige despräsidenten mit seiner Stimme für liberale Hoffnungsträger ist gereizt und den SPD-Kandidaten Johannes Rau de- nervös. Die Wahlschlappen gehen ihm monstrativ ein Signal für den Absprung unter die Haut. Möllemanns umtriebige geben. Auch Genscher wäre eine solche Quertreibereien setzen ihm zu. Option durchaus recht: „Da ist noch viel Erbost schimpft er über die „Klug- drin.“ Kinkel geht so viel Eigenständig- scheißer, die hysterisch auf den Tisch keit zu weit. Er hofft beim dritten Wahl- hauen und Abgrenzung, Abgrenzung gang auf eine Mehrheit für den CDU- schreien“. Sich zu neuen Ufern abzusei- Kandidaten Roman Herzog. Weiter so len, wenn es bergab geht, so Kinkel, mit Helmut Kohl, heißt seine Botschaft. „bekommt keinem“. Gleichwohl hält sich der Nachfolger An der Seite Genschers erlernte der noch mit einer Aussage für die Fortset- Nachfolger das politische Geschäft, zung der Koalition zurück, ein Rest von nicht aber dessen Souveränität. Einen Eigenwilligkeit. „Je mehr die rumboh- Kritiker Möllemann dreitägigen Parteitag in Berlin verbrach- ren“, so Generalsekretär Hoyer, „um so „Untreue ist zweckdienlich“ te der damalige Parteichef größtenteils weniger haben wir Lust, uns zu entschei- im Hotel. Er kam nur aus dem Bett, um den.“ Geschmack vorbildlich vorgeführt – ei- sich den Fernsehkameras zu zeigen. In Wirklichkeit ist die Entscheidung ne Lehre für Rexrodt: Themen für Kinkel aber, klagen Parteifreunde, „läßt für die Union längst gefallen. „Wenn die Zielgruppen zuspitzen, wiederholen, sich von jedem Ortsvorsitzenden zum Stimmen reichen“, so Irmgard Schwaet- „den Hirnen und Herzen nahebrin- Spießbraten-Essen beschwatzen“. zer – „das ist der Schlüsselsatz“. Und ei- gen“. Das Doppelamt als Parteichef und ne Banalität. Die Hauptschuld am Dilemma der Außenminister überfordert ihn. Im ha- Der Parteichef glaubt daran. Am En- Partei aber wird dem Vorsitzenden stigen Hin und Her zwischen norwegi- de werde der Wähler sich auf die sichere Klaus Kinkel angelastet: seine allzu schen Fischfangquoten, deutschen Pfle- Seite schlagen und keine Experimente große Nähe zur Union, Anpassung geverhandlungen und schleswig-holstei- eingehen. Im Vergleich mit dem welt- statt Abgrenzung. nischen Kommunalwahlen kommt ihm weit geschätzten CDU-Kanzler sieht der Während Parteichef Genscher es bisweilen der Überblick abhanden. Er SPD-Kandidat nach Kinkels Meinung meisterlich verstand, Streit, Selbstdar- reagiert impulsiv und undiplomatisch – nicht gut aus. „Der Entzauberungseffekt stellung und Eigenständigkeit der FDP etwa während der norwegischen Bei- ist zwangsläufig.“ miteinander zu verbinden, achtet der trittsverhandlungen in Brüssel, wo er Von den Grünen, einer „sehr ernst zu Nachfolger auf Stil, Anstand, Zuverläs- gedroht haben soll, den Spaniern das nehmenden demokratischen Kraft“, hält sigkeit. Die Folge: Das Profil der Par- Rückgrat zu brechen. Vergangene Wo- Kinkel wenig. Sie seien „nicht in der La- tei wird verwischt. „Der Koalitionsfrie- che bestellte er den französischen Bot- ge, praktische Probleme zu lösen“. Fa- de“, rügt der Bonner FDP-Vorsitzende schafter Franc¸ois Scheer förmlich ins zit: „Zum Mitregieren zu unzuverläs- Guido Westerwelle, „ist kein Wahl- Auswärtige Amt. So machte Kinkel aus sig.“ kampfziel.“ Und als Kinkel letzte Wo- ein paar kritischen Bemerkungen des Der Kanzler sieht die Lage realisti- che im Vorstand vor „Untreue“ warn- Diplomaten eine deutsch-französische scher. Als Schreckgespenst, so ein Bera- te, empfahl der nordrhein-westfälische Affäre. ter, taugen die Grünen nicht mehr: „Es Landeschef Jürgen Möllemann, den Sein Vorgänger liebte es, die Dinge gibt keine Wunderwaffe, wir müssen mit Begriff „auf das Eheleben zu beschrän- treiben zu lassen, ehe er sich entschied. Kleingeld arbeiten.“ Y ken und nicht auf das Parteileben zu übertragen“. Untreue könne in der Po- litik sogar „zweckdienlich“ sein. Möllemann, der als „Gegen-Papst“ auf seine Stunde wartet, fordert vehe- ment, was Kinkel verhindern will: Die FDP soll sich absetzen vom Partner und schließlich „wegrennen“. Aber auch Möllemann hat in seinem „Aufbruch“-Papier nur ein Sammelsu- rium alter Vorschläge parat. Seine Pa- role heißt: „Konflikte am Kochen hal- ten.“ Bisweilen sollte die FDP ruhig so tun, als gehöre sie gar nicht zur Regie- rung: „Die Chuzpe muß man haben.“ Sein Rat: „Jeden Tag Kohl, Waigel, Scharping zwischen die Hörner hau- en.“ Der Unruhestifter fürchtet, die FDP werde gemeinsam mit der Union unter- gehen, wenn sie nicht endlich Distanz sucht: „Immer mehr Menschen sehen Reformbedarf, der aber von dieser Ko- alition nicht zu bewältigen ist.“ Nach „Na ja, für¯n Anfang . . .“ tz, München

22 DER SPIEGEL 12/1994 SPIEGEL-Gespräch „Ein Risiko eingehen“ Der niedersächsische SPD-Wahlsieger Gerhard Schröder über die Strategie seiner Partei in Bonn

SPIEGEL: Herr Schröder, haben Sie sich schon bei Ihrem Vorsitzenden Ru- dolf Scharping dafür bedankt, daß er die Stimmung zugunsten der SPD bun- desweit gewendet hat und Sie in Nie- dersachsen mit der absoluten Mehr- heit der Sitze weiterregieren kön- nen? Schröder: Das habe ich getan, mehr- fach, und für meine Verhältnisse sogar überschwenglich. SPIEGEL: Teilen Sie unseren Eindruck, daß Ihr Wahlsieg von der Bundes-SPD nicht gerade enthusiastisch gefeiert wurde? Schröder: Das sind alles sehr sachliche Leute. Die sind zum Enthusiasmus nicht fähig, weil es in der Vergangen- heit kaum Anlaß gab. So etwas muß man erst wieder lernen. SPIEGEL: Der Parteivorsitzende warnte seine Freunde davor, die Nase so hoch zu tragen, daß es reinregnet. Geht das gegen Sie? Schröder: Nein, die Gefahr besteht bei mir nicht. In aller Bescheidenheit sage ich, daß man die politische Tragweite unseres Wahlergebnisses nur dann richtig beurteilen kann, wenn man ein halbes Jahr zurückblickt. In Hamburg hat die SPD fast acht Pro- Schröder beim SPIEGEL-Gespräch*: „Das Wahlziel muß realistisch bleiben“ zentpunkte verloren. Wir haben sogar ein bißchen zugelegt und die absolute Zweitens: Ich habe seinerzeit bei der Mißerfolg verzichten. Das ist ja das Mehrheit der Mandate gewonnen. Das Mitgliederbefragung gesagt, wer was Elend in der Politik, daß die wenigsten muß erst einmal wiederholt werden in will in Bonn, muß eine Machtablösungs- noch ein Risiko eingehen. den kommenden Wahlen. Alle SPD- alternative zur jetzigen Koalition ange- SPIEGEL: Als Johannes Rau im Jahre Abgeordneten haben Direktwahlkrei- ben. Meine ist rot-grün, dazu stehe ich. 1986 die „eigene Mehrheit“ propagierte, se. Das hat es hier noch nicht gege- Die Partei hat gegen mich, gegen meine gehörten Sie zu den Kritikern seiner ben. Strategie entschieden. Und jetzt muß es Strategie. SPIEGEL: In der Bonner Parteizentrale der machen, der von der Partei ausge- Schröder: Das Wahlziel muß erreichbar, waren Ihre Genossen überhaupt nicht sucht worden ist. muß realistisch bleiben. glücklich darüber, daß Sie in der SPIEGEL: Scharping muß endlich sagen, SPIEGEL: Halten Sie es für realistisch, Schlußphase des Wahlkampfes auf ein- wie er an die Macht gelangen will? daß die SPD die Koalitionsfrage für mal die Parole „absolute Mehrheit“ Schröder: Ich werde Rudolf Scharping Bonn auf die Zeit nach der Wahl ver- ausgegeben haben. über seine Strategie des Machterwerbs schieben will? Schröder: Das habe ich auch gehört. keine öffentlichen Ratschläge geben. Schröder: Ob es gelingt, hängt minde- SPIEGEL: Sie standen doch nicht nur in Ich habe mich über Empfehlungen geär- stens von zwei Voraussetzungen ab. Die Niedersachsen für Rot-Grün. Im Wett- gert, auch über die Erklärung des Bun- eine ist die Disziplin der Parteiführung, streit um den Parteivorsitz hatten Sie desgeschäftsführers Günter Verheugen, die dem Vorsitzenden keine Debatte dies Bündnis auch als Modell für Bonn es sei töricht von mir, die absolute aufzwingen darf. Und die zweite ist, ob empfohlen. Mehrheit anzustreben. Leute wie Sie, ob also die Medien eine Schröder: Erstens: Koalitionen sind SPIEGEL: Hätten Sie Ihr Wahlziel ver- solche Strategie gestatten. Beides kann immer zweitbeste Lösungen. Wenn ei- fehlt, hätte auch der Kanzlerkandidat ich nicht beurteilen. ne Partei wie die SPD, die eine eigene gelitten. SPIEGEL: Sie kennen sich doch in beiden Mehrheit bekommen kann – und mei- Schröder: Man kann doch auf ein er- Kreisen gut aus. ne war nach den Umfragen in Reich- reichbares Ziel nicht aus Angst vor dem Schröder: Ich habe gelesen, daß drei weite –, darauf verzichtet, dieses ehr- Bundestagsabgeordnete Rudolf Schar- geizige Ziel zu formulieren, gibt sie * Das Gespräch führten die Redakteure Olaf Pe- ping öffentlich geraten haben, er solle sich ein Stück selber auf. tersen und Klaus Wirtgen. auf Rot-Grün setzen. Das hätten diese

DER SPIEGEL 12/1994 23 DEUTSCHLAND

ehrenwerten Leute besser intern ma- chen sollen. Wenn aber erst ein Mitglied der Parteiführung eine solche Debatte losträte, kriegte Rudolf Scharping ein Lehre von Hannover Problem. Ich will ihm keines machen. SPIEGEL: Was hat sich eigentlich jetzt an Wie Scharping die Bundestagswahl gewinnen will Ihrer Einschätzung einer rot-grünen Ko- alition geändert? or dem Wahltag plagte Gerhard Ängste der kleinen Leute“ geküm- Schröder: Für mich persönlich hat sich Schröder ein Alptraum. Er mert. nur ein einziges geändert, daß nämlich Vfürchtete, sein Parteivorsitzen- Die Grünen hatten auf diese Wei- Rudolf Scharping Parteivorsitzender der Rudolf Scharping und FDP-Chef se genügend Freiraum, sich bei öko- und Kanzlerkandidat ist und nicht ich. Klaus Kinkel könnten ihm ein Ge- logisch bewußten Wählern jeglicher Deswegen hat er allein das Recht, die schäft antragen – die FDP stimme Couleur zu empfehlen, als alternati- Strategie öffentlich festzulegen. bei der bevorstehenden Bundesprä- ves Element in einer künftigen nie- SPIEGEL: Die SPD hat bei der Wahl sidentenwahl für Johannes Rau, dersächsischen Koalition. 1990 nur 33,5 Prozent bekommen und wenn sich die niedersächsische SPD Diese Arbeitsteilung übernimmt erweckt den Eindruck, als könne sie zu einer Koalition mit den Liberalen Scharping für den Bundestagswahl- diesmal aus eigener Kraft an die Macht bereit finde. kampf. Deswegen stören ihn auch kommen. Ist das glaubwürdig? Noch nach seinem Wahlsieg nicht die Beschlüsse des Mannhei- Schröder: Und wenn Sie sich durch den schauderte es Schröder beim Blick mer Grünen-Parteitags zur Erhö- Keller buddeln: Sie kriegen aus mir zurück: „Dann wäre ich gewaltig un- hung der Mineralölsteuer auf fünf nichts raus. Es geht um die strategische ter Druck geraten.“ Deshalb habe er Mark je Liter und zum deutschen Orientierung des Kandidaten und um mit „aller Macht“ verhindert, daß Abschied von Bundes- heimische Genossen im Wahlkampf wehr und Nato. Er auf die FDP zugegangen seien. weiß, daß grüne Rea- Schröders Strategie ging auf. Die los wie Joschka Fi- Niedersachsen wählten die FDP aus scher diese Forderun- dem Landtag. Das Wahlrecht be- gen nicht zum Nenn- scherte den Sozialdemokraten sogar wert nehmen. Im übri- die absolute Mehrheit, obwohl der gen, auch das ist eine bisherige grüne Partner am stärksten Lehre aus Hannover, zulegte. „Schröder hat die Räume hat die niedersächsi- für die FDP eng gemacht“, charakte- sche Landtagswahl – risierte SPD-Vorstand und Hobby- wie schon die Ham- Fußballer Reinhard Klimmt die burger im letzten Spielstrategie. Herbst – die angebli- Schröders Erfolgsrezept macht che Bürgerangst vor Schule. SPD-Kanzlerkandidat Ru- grünem Chaos deut- dolf Scharping legte am vergangenen lich widerlegt. SPD Freitag ein Regierungsprogramm und Grüne kommen vor, das genauso auf die Wählermas- leicht über 50Prozent. se in der Mitte zielt: keine höhere Scharping kümmert Gesamtsteuerlast, allerdings eine sich nicht um Proteste zehnprozentige Ergänzungsabgabe linker oder ökologi- für Einkommen über 50 000 (Ledi- scher Parteigenossen, ge) oder 100 000 Mark (Verheirate- die für Tempolimit Sozialdemokraten Scharping, Lafontaine te) – statt des von der Regierung be- und weitere Steuerer- In Bonn werden die Grünen gebraucht reits beschlossenen Solidarzuschlags höhungen Front ma- (7,5 Prozent) –, Verzicht auf ökolo- chen wollen. Der Kanzlerkandidat ist seine spezifische Glaubwürdigkeit. Und gische Highlights wie Tempolimit überzeugt, mit seiner Haltung auch wenn man ihn nicht so läßt, wie er sich und rigorose Mineralölsteuern. bisherige Kohl-Wähler zu gewinnen. das vorstellt, kann er nicht so kämpfen, Schröder mimte in Niedersachsen Bei der Bundestagswahl brauchen wie jemand kämpfen muß, der Kanzler den rot-grünen Reformmanager. die Grünen nicht zu fürchten, wegen Kohl aus dem Sessel heben will. Der Tatsächlich gewann er gleicherma- einer absoluten Mehrheit der SPD in sitzt ja im Wortsinne schwer im Sessel. ßen rote Stammwähler und Sympa- die Opposition verdrängt zu werden: SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, daß Sie ir- thisanten aus dem konservativen La- Scharping braucht sie für den Wech- gendwann unterlassener Hilfeleistung ger mit pragmatischen Konzepten sel in Bonn. für Scharping geziehen werden? gegen die Arbeitslosigkeit. Laut Sein Bekenntnis, die SPD werde Schröder: Das ist ein strafrechtlich rele- Forsa-Analyse wollte jeder sechste „nicht Partner einer Politik, die den vantes Thema, aber es spielt in der Poli- CDU-Anhänger, der sich in Bonn Benzinpreis auf fünf Mark anheben tik keine Rolle. Außerdem unterschät- Helmut Kohl als Kanzler wünscht, will und den Ausstieg aus Bundes- zen Sie das strategische Denkvermögen Schröder in Hannover als Regie- wehr und Nato verlangt“, sollte wie und die Klugheit des Parteivorsitzen- rungschef. die Absage an eine rot-grüne Koaliti- den, wenn Sie meinen, er würde das Der smarte Typ trat als Anwalt on klingen. Aber wenn die Grünen Notwendige nicht zur richtigen Zeit sel- von Rüstungsfirmen, als Lobbyist nicht auf diesen Parteitagsbeschlüs- ber tun. Wäre das anders, hätte er wohl der Autoindustrie auf; er habe sich sen beharren, dürfen sie bei Kanzler nicht gegen mich gewonnen. eben um „die Sorgen, Nöte und Scharping mitregieren. SPIEGEL: In Niedersachsen sind Sie mit den Grünen vor vier Jahren als Reform- regierung angetreten. Ist Rot-Grün im

24 DER SPIEGEL 12/1994 Bund überhaupt attraktiv, wenn dort ei- gentlich nur Krisenmanagement gefragt ist? Schröder: Es ist ein Irrtum zu glauben, Krisenmanagement müsse aus sich sel- ber heraus nichts mit Reformpolitik zu tun haben. Krisenmanagement bezieht sich ja auf die Überwindung der ökono- mischen Krise. Und da gibt es neben den konventionellen Instrumenten im- mer auch solche, die weiterführen. Wir haben in Niedersachsen bei industriepo- litischen Großprojekten – ich räume ein, daß ich die gelegentlich persönlich ge- gen die Grünen durchsetzen mußte – die ökologische Dimension nie vergessen. Dabei bleibt es auch in der neuen SPD- Regierung. SPIEGEL: Sie lehnen das Tempolimit ab, das ursprünglich im ersten SPD-Entwurf für ein Regierungsprogramm stand. Das wird Ihnen sicher nicht als ökologische Leistung ausgelegt. Von Schröder lernen heißt fliegen lernen Die Zeit Schröder: Das stimmt. Reformpolitik heißt für mich aber auch nicht, daß man erheben wir – statt des Sozialzuschlags Schröder: In dem industriepolitischen ständig alte Gäule neu durch die Arena – eine Ergänzungsabgabe. Wie sollen Teil haben Sie recht, in dem ökologi- treibt. Ich bin gegen ein allgemeines die Leute das denn noch tragen? Und schen Teil haben Sie nicht recht. Tempolimit. Wo sich Geschwindigkeits- dann kommen wir daher und sagen: SPIEGEL: Den haben die Grünen be- begrenzung als notwendig erweist, ma- Unsere Reformpolitik setzt noch eins sorgt. chen wir sie auch in Niedersachsen. drauf. Das kann nicht gutgehen. Schröder: Den haben wir mit besorgt. Scharping sieht das übrigens nicht an- SPIEGEL: Sie hatten es relativ einfach, Gegen uns wäre nichts zu machen gewe- ders als ich. im Wahlkampf für Arbeitsplätze zu sen. Aber es ist doch völlig klar, daß die SPIEGEL: Sie wehren sich auch gegen ei- werben: Den ökologischen Part über- Grünen für die ökologischen Fragestel- ne weitere Erhöhung der Mineralölsteu- ließen Sie den Grünen. Eignet sich ei- lungen in besonderer Weise gestanden er? ne solche Doppelstrategie auch für den haben. Schröder: Wenn das Autofahren in die- Wahlkampf um die Macht in Bonn? SPIEGEL: Die konservative Frankfurter sem Land zu einer Sache wird, die sich Schröder: Deswegen gebe ich ja auch Allgemeine schreibt, nach Niedersach- nur die obere Hälfte oder gar nur das keine Empfehlung für Scharpings Stra- sen habe Rot-Grün „wirklich jeden obere Drittel der Einkommenspyramide tegie ab. Die SPD darf die ökologische Schrecken verloren“. Trotzdem schürt leisten kann, dann ist da was falsch. Mi- Dimension nicht vergessen. Ich weiß, Kanzler Kohl weiterhin die Angst vor neralölsteuer hat gewiß eine ökologi- das ist schwierig. Die SPD muß, soweit dieser Kombination. sche Dimension, aber ebensogut eine sie regiert, ein rationales Konzept der Schröder: Er wird deswegen scheitern, soziale. In einem Flächenland kann man Vereinbarung von Ökonomie und weil Rudolf Scharping, weil die SPD – den öffentlichen Personennahverkehr Ökologie selber erstellen. nun sind wir aber wieder mitten in einer nie so gut organisieren, daß der Arbei- SPIEGEL: Welchen Nutzen können der Koalitionsdebatte – sich erstens gar ter, der in Ostfriesland 80 und mehr Ki- Oppositionsführer im Bundestag oder nicht auf diese Koalition festlegen lassen lometer weit zu VW nach Emden fährt, der Kanzlerkandidat aus dem Erfolgs- werden . . . auf das Auto verzichten kann. rezept des niedersächsischen Minister- SPIEGEL: . . . weil sie Ihnen nicht fol- Diese Rückbesinnung auf die breiten präsidenten ziehen? gen . . . Schichten der arbeitenden Bevölkerung Schröder: Hier liegt der Grund, warum Schröder: . . . und zweitens, weil diese in Betrieben und Verwaltungen hat un- es Sinn macht, daß ein amtierender Frage keine ängstigende Qualität mehr seren Wahlerfolg bewirkt – natürlich ne- Ministerpräsident Kanzlerkandidat ist. hat. Er kann für einen Ausschnitt der Poli- SPIEGEL: Die radikalen Beschlüsse der tik Handlungskompetenz und Hand- Grünen zum Ausstieg aus Nato, Bun- „In einer Koalition muß lungsfähigkeit auf Landesebene nach- deswehr und Kernenergie müßten dem klar sein: Wer weisen. Er wird sagen: Das, was ich Kanzlerkandidaten doch gut ins Kon- dort im Kleinen gemacht habe, will ich zept passen: Die Grünen grasen auf die- ist Hund, wer Schwanz?“ jetzt im Großen machen. Er hat die se Art und Weise den linken Rand ab, Aufgabe, die Ideen aus den Ländern die SPD kann sich entrüsten und dafür ben der erstklassigen Bundespolitik der als unser Konzept glaubwürdig auf bei der Union abkassieren. Nach dem SPD . . . Bundesebene zu installieren und über 16. Oktober werden die Stimmen zu- SPIEGEL: . . . die ja die Mineralölsteuer ihn und Lafontaine hinaus zu verbrei- sammengezählt. weiter erhöhen will. tern. Schröder: Ich will mich nicht in Schar- Schröder: Die ist doch gerade um 16 SPIEGEL: Sie stehen in der Öffentlich- pings Rolle versetzen, aus Respekt vor Pfennig erhöht worden. Da geht nichts keit als Symbol einer erfolgreichen rot- der Entscheidungsprärogative des Par- mehr. Außer der Mineralölsteuer sind grünen Politik. In Wahrheit haben Sie teivorsitzenden. die Beiträge zur Krankenversicherung Ihren Wahlsieg errungen mit einer Po- SPIEGEL: Sie sind doch sonst Denkspie- und für Renten gestiegen, ist die Mehr- litik, die auch ein Gewerkschaftsvorsit- len nicht abgeneigt. wertsteuer erhöht worden, steigen die zender in Niedersachsen nicht anders Schröder: Das stimmt. Aber dieses kommunalen Abgaben und die Mieten, gemacht hätte. Denkspiel ist besonders gefährlich, we-

DER SPIEGEL 12/1994 25 DEUTSCHLAND niger für mich als vielmehr für Rudolf Scharping und die SPD. Wäre es für mich gefährlich, hätte es ja noch einen Reiz, sogar einen anderen als den, nur darüber nachzudenken. Doch so tak- tisch kann man mit diesen Fragen auch nicht umgehen. All diese Spiele, die können aus einer bestimmten Situation heraus eintreten, aber die kann man nicht planen. SPIEGEL: Das zweite rot-grüne Bündnis im Lande, in Hessen, nähert sich einem vorzeitigen Ende. Schröder: Ich glaube, speziell in einer rot-grünen Koalition muß die SPD wie in keiner andern klarmachen, daß und wie sie für Arbeit und Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen steht. Zweitens muß klar sein, wer führt: Wer ist der Hund, wer ist der Schwanz? Und die SPD darf nicht in wichtigen Teilen der Landespartei grüner werden wollen als die Grünen. Die Faszination kommt dann von selber. SPIEGEL: Sie haben die Wahl mit wirt- schaftspolitischen Themen gewonnen. Raketenabwehrsystem Patriot*: Ruf nach moderner Ausrüstung Finden Sie sich jetzt damit ab, daß Öko- nomie und Finanzen allein von den Ach- Bundeswehr des Weißbuchs im vorigen Jahr kräftig senmächten Scharping/Lafontaine be- gefetzt. stimmt werden? Klaus Kinkel hielt es für „nicht oppor- Schröder: Das ist die Folge der Partei- tun“, mitten im Wahlkampf und noch vor entscheidung vom Sommer. Schwammige dem Urteil des Verfassungsgerichts über SPIEGEL: Schweigen Sie, wenn Ihre An- Bundeswehreinsätze außerhalb des führer Scharping und Lafontaine sagen, Nato-Gebiets ein Verteidigungs-Weiß- zwischen den sogenannten Leitplanken Lage buch herauszugeben. Er riet „dringend“ – keine Steuererhöhung, keine zusätzli- davon ab. Christdemokrat Rühe boxte chen Schulden – ist kein Platz für Hilfen Jahrelang arbeiteten Militärs und sich durch: Seit dem letzten Weißbuch zugunsten der Flugzeugindustrie, wohl Strategen an einem neuen seien neun Jahre vergangen; die Regie- aber für Kohlesubventionen? rung könne ihre Haltung zu Blauhelm- Schröder: Nein, keinesfalls. Dann wür- Weißbuch. Das Ergebnis ist dürftig. Aktionen festlegen, ohne Richtersprü- de die Wahrscheinlichkeit, daß man mit che oder gar eine Grundgesetzänderung solch einer Politik die Wahl verliert, zu ieKabinettsvorlageausdemVertei- abzuwarten. groß. Stellen Sie sich vor, wir verweiger- digungsministeriumwarvertraulich Rühes Planungschef Vize-Admiral Ul- ten den Werften Subventionen für hoch- Dund gewichtig. Zweieinhalb Pfund rich Weisser, bei Kameraden für weit- technisierte Produkte und unterstützten wog die papierene „Verschlußsache“, schweifige Abhandlungen zur Sicher- die Steinkohle mit jährlich elf Milliarden der sich die Ministerrunde am Dienstag heitspolitik berüchtigt, hatte gleich nach – das wäre ein abenteuerliches Wirt- voriger Woche annehmen sollte. Amtsantritt im Sommer 1992 unter stren- schaftsprogramm. Zum Tagesordnungspunkt Nummer ger Geheimhaltung das Buchprojekt wie- SPIEGEL: Die Achse darf Ihr Terrain drei – „Weißbuch 1994 zur Sicherheit der derbelebt. Erste Konzepte für die Veröf- nicht beschädigen. Bundesrepublik Deutschland und zur La- fentlichung, berichten Gehilfen, ließ der Schröder: Sie wird keine Entscheidun- ge und Zukunft der Bundeswehr“ – be- ehrgeizige Mariner auf blauem Spezial- gen treffen, die erkennbar irrational kam Wehrminister Volker Rühe den- papier schreiben, das nicht fotokopiert sind. Aber Sie haben ein schönes Bei- noch keinen großen Auftritt. „Das kön- werden kann. spiel dafür ausgewählt. nen wir kurz machen“, befahl Helmut Um so penibler wachten Beamte des SPIEGEL: Ihnen glaubt niemand, daß Sie Kohl. Auswärtigen Amtes, mit denen Weisser in Hannover die Erfüllung Ihrer politi- Keine drei Minuten blieben Rühe, um sich abstimmen mußte, über die Texte. schen Lebensziele schon jetzt gefunden aus der dicken Schwarte vorzutragen. Rund 80 Prozent der beiden Kapitel zur haben. Gerade Zeit genug, dem Außenminister „Lage“ und zur „Konzeption deutscher Schröder: Ich kenne welche, die hätten und dem Finanzminister für „intensive Sicherheitspolitik“ schrieben die Berufs- mich am liebsten bei der Uno. und konstruktive Mitarbeit“ zu danken. diplomaten um. Die Sprache war ihnen SPIEGEL: Wie lange wird die Beschei- Das klang wie Heuchelei. Denn dem stellenweise zu martialisch, andernorts dung auf die niedersächsische Provinz CSU-Sparminister ist Rühe zu schwammig und umschweifig. noch dauern? immer noch gram, weil der mit tiefen Manches blieb trotz Überarbeitung im Schröder: Ich kenne einen auch aktuell Schnitten in den Wehretat (Rühe: „Ope- Bonner Außenamt neblig-wolkig. Offi- ungewöhnlich erfolgreichen Fußballtrai- rationen am lebenden Menschen ohne ziere spotten weiter über „Weissers ner, Franz Beckenbauer von Bayern Betäubung“) der Bundeswehr das Leben Montgolfieren-Buch“. Wie ein Ballon sei München. Der sagt immer: „Schaun in der Zukunft schwerer macht. Und mit es „angehoben mit heißer Luft“, etwa die mer mal, da sehn mers scho.“ dem Außenminister hatte er sich wegen Beschreibung der „Lage“: Sie werde, SPIEGEL: Herr Schröder, wir danken Ih- lautet die umständliche Formel im Weiß- nen für dieses Gespräch. Y * Im niedersächsischen Barnstorf. buch, „nunmehr von dynamischen Ent-

26 DER SPIEGEL 12/1994 Damit war das politische Schicksal des stellvertretenden CSU-Vorsitzen- den besiegelt. Tags drauf, am vergange- nen Donnerstag, gab Tandler, 57, sei- nen Rücktritt bekannt. Er wolle der CSU die „öffentliche Auseinanderset- zung“ um seine Person nicht länger „zumuten“. Den CSU-Vize, der erst im vergange- nen Oktober für zwei Jahre wiederge- wählt worden war, brachten undurch- sichtige Geschäftsbeziehungen zu dem Steuerflüchtling Eduard Zwick um sein Parteiamt. Den Ausschlag gab die Ent- hüllung im Stern, daß Tandler persön- lich von dem Bäderkönig einen Kredit über 700 000 Mark bekommen hatte. 200 000 Mark schuldet Tandler seinem Zwick noch immer. Das hatte Tandler, in dessen Amtszeit als bayerischer Finanzminister (1988 bis 1990) die Finanzbehörden Zwicks Steu- erschulden in Höhe von 70 Millionen Mark gegen einen Ablaß von 8,3 Millio- nen Mark erließen, auf dem Parteitag Bundeswehr-Planer Naumann, Weisser, Rühe: „Angehoben mit heißer Luft“ im vergangenen Herbst geflissentlich verschwiegen. wicklungen geprägt, die aus dem Span- „von der modernen Guerilla-Kriegfüh- Nach Tandlers Rückzug schwankt die nungsfeld von weitreichenden Chancen rung bis zum Einsatz gegen hochwertig Stimmung in der CSU zwischen Erleich- und komplexen Risiken entstehen“. ausgerüstete Streitkräfte“. terung und Bestürzung. Nach Minister- Immerhin gelang es Kinkels Mitarbei- Da brauchen die deutschen Einsatz- präsident Max Streibl und Umweltmini- tern, den Katalog der „Sicherheitsinter- kräfte, so schmuggelte es Rühe in sein ster Peter Gauweiler ist nun auch der essen“ zu straffen. Weisser hatte ihn aus Buch, eine moderne und teure Ausrü- einstige Strauß-Intimus, Mehrfach-Mi- den „Verteidigungspolitischen Richtli- stung von „qualitativ hohem Standard“. nister, CSU-Generalsekretär und Frak- nien“ übernommen, die er Ende 1992 wie Unter fernen Sternen soll ja die Bundes- tionsvorsitzende Tandler im Bayeri- ein „sicherheitspolitisches Feuilleton“ wehr „in multinationalen Verbänden“ schen Amigo-Sumpf untergegangen. (Hardthöhen-Staatssekretär Jörg Schön- nebenbei als Werbeträger für die heimi- „Ich hoffe“, entfuhr es dem Landtagsab- bohm) redigiert hatte. sche Rüstungswirtschaft antreten. geordneten Max Strehle, „das ist der Die Liste schrumpfte von zehn auf fünf „Deutsche Soldaten“, so der Weiß- letzte Rücktritt, den wir brauchen.“ Punkte. Sosoll die Bundeswehr nicht län- buch-Abschnitt Nummer 573, „sind Vielleicht schon einer zuviel. ger für kolonialistische Ambitionen be- nicht zuletzt Repräsentanten des moder- Die SPD-Landesvorsitzende Renate reitstehen, wie sie auch Generalinspek- nen Industriestaates Deutschland.“ Y Schmidt högte sich letzte Woche über teur Klaus Naumann vorzuschweben die „italienischen Zustände“ in der scheinen: Die Diplomaten tilgten das deutsche Interesse an „Aufrechterhal- CSU tung des freien Welthandels und des un- gehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt“. Nur vage beschreibt das Weißbuch Zu- Sauberer stand, Finanzierung und künftige Stärke der Bundeswehr. FDP-MdB Jürgen Koppelin: „Wenn’s konkret wäre, müßte Grant Rühe wahrscheinlich seinen Hut neh- men.“ Um so schärfer zeigt der Text, wo Der Auftakt zum Wahljahr ¯94 gerät fortan die Hauptaufgabe der Truppe lie- für die CSU zum Debakel: gen soll: fern der Heimat, um „Friedens- störer in die Schranken zu weisen“, auch Die Partei kommt nicht aus dem „unter extremen Umweltbedingungen“. Amigo-Sumpf heraus. Das Weißbuch, von Rühe als „poli- tisch-konzeptionelle Antwort auf den ie Zeit zum Duschen und Umzie- Epochenbruch von 1989 und den funda- hen nahm er sich noch. Dann rief mentalen Wandel des internationalen Sy- DTheo Waigel, gerade aus Detroit stems“ gepriesen, fordert die „Landes- vom Treffen der sieben führenden Wirt- verteidigung“ kaum noch als Aufgabe schaftsnationen zurückgekehrt, aus sei- der Streitkräfte –mehr als60mal dagegen ner Bonner Wohnung den Parteifreund den Einsatz zu internationalen „Frie- Gerold Tandler an. „Gerold“, so Wai- densmissionen“. gel direkt, „das geht jetzt nicht mehr.“ Vom „möglichen Spektrum“ der Ak- tionen haben Weisser und seine Co-Au- * Am Freitag letzter Woche vor dem Parteiaus- CSU-Chef Waigel (r.), Protege´ Seehofer* toren konkrete Vorstellungen. Es reicht schuß der CSU in Deggendorf. Schachzug gegen Stoiber

DER SPIEGEL 12/1994 27 DEUTSCHLAND „Von Strauß leben wir noch“ CSU-Politiker Peter Gauweiler über Amigo-Affären und die Rolle der Union

SPIEGEL: Herr Gauweiler, es geht berg- deraufbaus. Eben nicht Lindenstraße, SPIEGEL: Schließen Sie denn eine rot- ab mit den Unionsparteien. Hat sich die sondern Schloßallee. Nur fürchte ich, grüne Regierung in Bonn aus? Union als Volkspartei überlebt? daß die Entwicklung anders verläuft. Gauweiler: Wenn es so weitergeht wie Gauweiler: Geht es bergab mit den Uni- Im Moment halten die bevorstehenden bisher, wird die FDP alsZünglein an der onsparteien oder mit dem ganzen Nach- Wahlen die Politiker zusammen. In Waage zwar verschwinden, aber eine kriegs-Parteiensystem? Parteien sind ja vielen Ländern Europas formiert sich neue FDP hält sich schon bereit: die nicht für die Ewigkeit geschaffen. Von indessen das bürgerliche Lager schon Grünen. Joseph („Joschka“) Fischer als daher stellt sich der Union die Frage: neu. Bei uns gibt sich die politische der neunziger Jahre – oh- Was tun, nachdem die Aufgabe, für die Klasse, auch der CDU, immer noch ne Ritterkreuz, aber mit dem gleichen, man einst gegründet wurde, erfüllt ist? eher links von der Mitte. Aber die Pro- ach so austarierenden Effekt. Und man Kommt etwas Neues? bleme, die gelöst werden müssen, sind hört ja schon aus CDU-Kreisen, daß SPIEGEL: Oder hilft Regeneration in eher rechts von der Mitte: Verteidi- man auch damit leben könne. Hauptsa- der Opposition, in Bayern wie im gung des Wohlstandes, unserer einhei- che man darf irgendwie mitmischen. Bund? mischen Arbeitsplätze, der nationalen, SPIEGEL: Scheiden die Grünen für Sie Gauweiler: Flucht in die Opposition ist kulturellen und landschaftlichen Sub- als Koalitionspartner aus? kein Rezept. In Niedersachsen war die CDU ja schon in der Opposition, sie ist nur noch schwächer geworden. Zu al- lem eine modische Meinung, vom Dop- pelnamen-Gesetz bis zur Quoten-Spin- nerei – Konservative, die Zeitgeist- Themen hinterherlaufen, machen sich zum Teil einer objektiven Heuchelei. SPIEGEL: Ist es Zeit für einen Macht- wechsel? Gauweiler: Schlag nach bei Mark Twain: Nachdem sie ihr Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten sie ihre Anstrengungen: Der Wahlsieg Schröders ist ein Beispiel dafür, daß Ef- fizienz, Pragmatismus und Persönlich- keit gefragt sind und es den Leuten we- niger um Partei- als um Menschenpoli- tik geht. Schröder als bundesweiter Spitzenmann wäre mit seinem Pragma- tismus Helmut Kohl viel gefährlicher geworden als dieser undurchsichti- ge Lindenstraßen-Kandidat namens Scharping. SPIEGEL: Hat die Union noch die Kraft zur Erneuerung? Parteifreunde Gauweiler, Stoiber: „Ohne Not nachgetreten“ Gauweiler: Ihr Rahmen ist nicht mehr fixiert, fast jede Richtung ist vertreten, stanz, der öffentlichen Sicherheit. Gauweiler: Der Sauerteig, aus dem das verbraucht ihre Kraft. Herr Geißler Packen wir das nicht, werden diese diese Bewegung kommt, wird von der und ich finden bei kaum einem Thema Probleme neue Mehrheiten schaffen, gleichnamigen Partei der etablierten den gemeinsamen Nenner – außer dem dann werden sich neue politische 68er nicht vollständig abgedeckt. Es des Machterhalts der Union. Entweder Kräfte bilden. gibt auch andere! Ehemalige Anhän- kommt es zu einer gemeinsamen Neu- SPIEGEL: Wollen Sie eine dieser neu- ger der Revolte – Enzensberger, definition des Zieles, oder das Ganze en Kräfte gründen? Botho Strauß, Walser, Günther Nen- zerfällt. Gauweiler: In Westdeutschland wird ning –, die Täter einer neuen Ruhestö- SPIEGEL: CDU und CSU spalten sich? ja eine Partei nach der anderen neu rung geworden sind, deren Botschaft Gauweiler: Wir erleiden dann das gegründet. Das ist nicht abendfül- schon von den Denkpolizisten der Schicksal der Democrazia Cristiana Ita- lend. „political correctness“ mit Argusaugen liens. Die ist innerhalb weniger Wochen SPIEGEL: Sie weichen aus. beobachtet wird: daß auch für Deut- zerfallen. Gauweiler: Das Ganze gleicht einem sche Heimatrecht ein Menschenrecht SPIEGEL: Wollen Sie eine eigene Partei Gärungsprozeß. Ich kann Ihnen nur ist; daß wir unsere Sprache schützen gründen? eine Momentaufnahme bieten. Mit müssen wie unsere Gewässer; daß wir Gauweiler: Mir wäre am liebsten eine weiteren Entwicklungsprognosen wür- am wirksamsten Bürgerkriege nicht ir- starke Union, wie zu Zeiten des Wie- de ich den Mund zu voll nehmen. gendwo in Bosnien, sondern in unse-

28 DER SPIEGEL 12/1994 bayerischen Staatspar- tei. Eine von der SPD ren U-Bahnhöfen bekämpfen sollen. in Auftrag gegebene Hier künden Vorboten von einer neuen Umfrage der Mannhei- lagerübergreifenden Bürgerlichkeit. mer Forschungsgruppe SPIEGEL: Vielleicht leiden Sie aber Wahlen ortete die CSU auch nur darunter, daß Sie wegen Ihrer vergangene Woche bei Mandanten-Affäre als bayerischer Um- 44 Prozent (1990: 54,9 weltminister zurücktreten mußten und Prozent) – ein schlech- Ministerpräsident Stoiber Ihnen hinter- tes Omen zum Auftakt hergerufen hat, er habe keine Entschei- des Superwahljahres dung lediglich für den Tag getroffen? 1994. Gauweiler: Wenn es wenigstens eine Zwar gilt es in der Affäre gewesen wäre und nicht nur eine CSU als Sakrileg, öf- Gemeinheit! Jeder, der meine Ab- fentlich über den Ver- schiedskundgebung gesehen hat, konn- lust der absoluten te hören, daß ich nicht gegangen bin, Mehrheit bei der Land- um nach dem Beispiel des Jürgen Möl- tagswahl im September CSU-Minister Tandler, Chef Strauß (1981) lemann nach einigen Monaten wieder nachzudenken. Insge- Italienische Zustände Minister spielen zu dürfen. Stoiber, der heim wird der Kata- das wußte, hat also ohne Not nachge- strophenfall jedoch längst erörtert. Tritt desministern, dann soll die Familie treten. Was ich will, ist, daß die CSU er ein, könnte das, so befürchten CSU- Strauß die Stiftungsgelder in die karitati- gewinnt und wieder so unerschütterlich Vorstandsmitglieder, sogar zu Abspal- ve Marianne-Strauß-Stiftung einbringen. wird, wie es Strauß uns vorgemacht tungen von der Christenpartei führen. Im Fall Streibl, der eine eigene Stiftung hat. Bei der CDU, so kolportieren CSU-Vor- aus seinen Testamentseinkünften ver- SPIEGEL: Es sind die Altlasten aus der ständler, gebe es für diesen Ernstfall sprochen hat, werden die Mitglieder des Ära Strauß, die jetzt abgestreift werden schon Pläne, um „einen kleinen CDU- Stoiber-Kabinetts allmählich ungedul- sollen . . . Landesverband in Bayern aufzuma- dig: „Wir wären alle froh“, so Innenmini- Gauweiler: . . . abgestreift werden soll chen“. ster Günther Beckstein, „wenn die die ganze Politik von Strauß. Nur war CSU-Generalsekretär Erwin Huber, Streibl-Stiftung noch vor Ostern käme diese für Bayern und die CSU nicht dessen „Herzenswunsch“ es ist, endlich und nicht nur mit 30 000 Mark.“ Last, sondern Gewinn, von dem wir den Wahlkampf anzukurbeln, stöhnt ob Behutsam setzt sich Stoibers Mann- heute noch leben. Eine CSU ohne der Amigo-Skandale ohne Ende: „Man schaft auch vom einst Großen Vorsitzen- Strauß wäre wie Gaullisten ohne de könnte schon einen sauberen Grant krie- den Strauß ab, dessen Erbe die CSU im- Gaulle. Wenn die Gaullisten sich ir- gen.“ mer mehr belastet. Im engen Kreis um gendwann eine negative Bewertung ih- Vermutlich wird die CSU auch künftig den Regierungschef wurde ein Erklä- res Generals einreden ließen, wäre dies mehr mit Affären-Management als mit rungsmuster entwickelt, wie die Altlast das Ende ihrer Bewegung. Amigo-Sy- Wahlkampf beschäftigt sein. Im Bayeri- einzuschätzen sei. Die Formel lautet: stem, Freundschaftsbeziehungen: Seit schen Landtag untersuchen noch vier 1. Strauß war ein großer Mann. 2. Er war ewigen Zeiten wird mit solchen Vor- Ausschüsse Skandale, in die führende kein fehlerfreier Mann. Er hatte Eigen- würfen gearbeitet. Beeindruckt haben CSU-Politiker verwickelt sind. Partei- heiten, die man so nicht mehr akzeptie- sie uns ernsthaft niemals. obere fürchten, daß dabei womöglich ren würde. 3. Stoiber geht einen ande- SPIEGEL: Stoiber argumentiert, derlei auch Ministerpräsident Edmund Stoiber ren Weg. 4. Tandler und Gauweiler woll- Affären würden heute anders bewertet noch bekleckert werden könnte. ten diesen Weg nicht mitgehen, deshalb als vor zehn Jahren. Stoibers Beteuerung, er habe von wurden sie gegangen. Gauweiler: Das glaube ich nicht. Abge- Franz Josef Strauß nur die Sonnenseite sehen davon, daß man sich vor zehn gekannt, nehmen ihm altgediente Christ- Der neue Hoffnungsträger des CSU- Jahren genauso an die Gesetze zu hal- soziale nicht ab. Sie erinnern sich, daß Chefs Waigel kommt aus Bonn: Bundes- ten hatte wie heute: In der Politik spielt der damalige Chef der bayerischen gesundheitsminister Horst Seehofer, 44, das Skandalisierungs-Tamtam als Be- Staatskanzlei inoffiziell sehr wohl in die soll Nachfolger des zurückgetretenen standteil unfairen Handelns eine Rolle, Mauscheleien bei Hofe eingebunden Parteivize Tandler werden. Waigels Vor- seit es Politik als gelebte Geschichte war. Im engsten Zirkel, dem sogenann- schlag wurde vorige Woche in der CSU gibt. Daß man den Gegner verteufelt, einhellig begrüßt. Niemand zweifelt, daß weil man ihn durch Leistung nicht der Kandidat auf dem CSU-Parteitag schlagen kann: das war die Politik der „Ich hoffe, Anfang September glatt durchkommt. schwachen bayerischen SPD schon vor das ist der letzte Waigel hat damit, überraschend für al- zehn Jahren und wird, wenn sie so wei- le, Führungswillen gezeigt, den viele termacht, auch in zehn Jahren ihr Rücktritt“ CSU-Mitglieder bislang vermißt haben. Hauptinteresse sein. Seehofers Kandidatur ist, so ein Vor- SPIEGEL: Erst Streibl, dann Gauweiler, ten Franzens-Klub, kursierte das geflü- standsmitglied, auch ein „Schachzug ge- jetzt Tandler – kann sich die CSU durch gelte Wort: „Des macht der Edi scho.“ gen Stoiber“. Der hatte verhindert, daß Schwund regenerieren? Stoiber muß auf der Hut sein, seitdem Seehofer bei der Wahl des CSU-Bezirks- Gauweiler: Streibl und Tandler haben der Regierungschef offenbarte, daß sei- vorsitzenden von Oberbayern Anfang für die CSU beste Wahlergebnisse ge- ne Vorgänger Streibl und Strauß im Ge- dieses Monats eine Chance bekam. holt, von denen andere nur träumen gensatz zu ihm jährlich bis zu 300 000 Seehofer ist, wie Waigel selbst, von können. Und was mich betrifft: Im Mo- Mark als Testamentsvollstrecker einer Korruption und Amigo-Skandalen unbe- ment regeneriere ich mich selbst. Und privaten Stiftung in die eigene Tasche lastet. Parteichef Waigel kann daher das kann der CSU nur nützen. steckten. hoffnungsfroh in die Zukunft sehen. Volle Rückendeckung hat Stoiber in „Der war“, so ein Gefolgsmann, „bei Ho- seinem Kabinett. Geht es nach den Lan- fe nie dabei.“ Y

DER SPIEGEL 12/1994 29 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

CDU „Bismarck ist man später“ SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann über Wolfgang Schäuble und die Kraft der Feindbilder

enn er kommt, ist er gewöhnlich nach innen. „Bismarck ist man erst spä- Daß er nur durch Helmut Kohl und nicht zu sehen. Da geht irgendwo ter“, nickt er vor sich hin. nicht gegen ihn ins Kanzleramt rollen Wim Hintergrund des Saales eine Nicht nur in ein peinliches Thema ist wird, hat der Fraktionschef akzeptiert. Flügeltür auf, und herein schreitet eine Wolfgang Schäuble da hineingeschlit- Also taucht er – obwohl er die Wahlver- Gruppe hochgewachsener Herren. Mit tert, in ein unbequemes überdies. luste der CDU in Niedersachsen „im lauernden Blicken und angespannten Be- Schließlich müßte er, wenn der Ver- Rahmen der relativen Befindlichkeit“ wegungen schirmen sie eine energiegela- gleich einen Sinn machen soll, erst ein- erträglich findet – in den vergangenen deneLeerstellezwischensichab, in die ei- mal Kanzler sein. Darüber aber will Tagen aus Bonn ab, um nicht über des ne ehrfurchtsvoll aufgesprungene Menge „der Kronprinz“ des Amtsinhabers im Kanzlers unsichere Zukunft reden zu von oben hineinzustarren versucht: Dar- Wahljahr 1994 überhaupt nicht reden. müssen. In dieser Woche aber ist er um in rollt er seiner Bühne zu – Wolfgang Er weiß doch, daß die „Spitzbuben“ aus so präsenter: in Washington. Kanzler- Schäuble, 51. Presse und Opposition nur darauf war- kandidat Schäuble präsentiert sich auf Er lächelt, während er kraftvoll sein ten, ihn gegen Helmut Kohl in Stellung Goodwilltour, ganz so, wie drei Wochen Gefährt vorantreibt. Gleich wird ihn – zu bringen. später SPD-Chef Rudolf Scharping. unlängst in Wolfenbüttel wieüberall –ein Das verfängt aber nicht bei Schäuble, Ein Bismarck im Rollstuhl? Amerika- vor Ergriffenheit bebender Lokalmata- darf „um Himmels willen“ nicht gelin- nische Deutschland-Kenner, wie etwa dor der Union als einen Mann begrüßen, gen. Sollen ihn ruhig alle wieder als des der Historiker und Ex-Außenminister „der bis an die Grenzen menschlicher Kanzlers „Paladin“ oder „Marionette“ Henry Kissinger, werden – ihren gehbe- Leistungskraft seinen Einsatz für unser verspotten. „Wir haben an dieser De- hinderten Präsidenten Franklin D. Roo- deutsches Vaterland geleistet hat“. batte keinen Bedarf und kein Interes- sevelt in Erinnerung – am körperlichen Spätestens jetzt sind viele Augen se.“ Handikap gewiß weniger Anstoß neh- feucht. Ein kühler Schäuble mustert auf- Gut möglich, daß der immer auf Er- men als an der Bismarck-Attitüde. merksam die Reaktionen. Nur sein rech- folg und meßbare Ergebnisse zielende Hat nicht Schäuble in jüngster Zeit ter Mittelfinger zuckt rhythmisch auf die Wolfgang Schäuble im vergangenen allzu kräftig Erinnerungen geweckt an vor dem Kinn gefalteten Hände. Jahr mit der Idee einer vorzeitigen Ab- die klirrende Mischung aus nationaler Muß er sich nicht „als Heros“ sehen? lösung Helmut Kohls gespielt hat, wie Großmäuligkeit und grellem Gründer- Das fragt Wolfgang Schäuble Wolfgang Parteifreunde glauben. Nun aber, in der fieber, mit der die Deutschen nach Bis- Schäuble in der freundlichen Abgeschie- angelaufenen Wahlserie, wird er Hel- marcks Reichsgründung international denheit seines Bonner Fraktionsbüros. mut Kohl voll unterstützen, ohne frei- aufgetrumpft haben? „Wir Deutsche“, Natürlich nicht, wer ist er denn schon? lich Abstriche zu machen von seinen ei- „unsere Nation“, „unser deutsches Va- Mit soviel Abstand hat der „Chef“ gut genen Ambitionen. terland“, die „Schutz- und Schicksalsge- über sich lachen. An- meinschaft Deutsch- dererseits – „an über- land“, ihre Seele, ihr großer Bescheidenheit Wertegerüst und ihr leide ich ja auch Pflichtenkodex – wer nicht“. Und als wollte hätte es je in den letz- er das beweisen, ent- ten Jahrzehnten ge- fährt dem ehrgeizigen wagt, in Bonn so pro- Badener beim halblau- vozierend mit deutsch- ten Nachdenken über nationalen Kraftwor- sich selbst und seine ten um sich zu werfen politische Rolle unver- wie der schmächtige sehens der Name Bis- Mann aus dem marck. Schwarzwald? Da er das natürlich Wolfgang Schäuble nicht so gemeint hat, findet den Vorwurf, er wie er es nur gemeint habe sich vom pragma- haben kann, versucht tischen Polit-Manager er nachzubessern. zum nationalistischen „Bismarck kann man Ideologen gewandelt, ja nicht sein wollen“, „eher amüsant“. Und versichert er hastig. ist er denn nicht auch Dann senkt sich, für wirklich eher ein plau- eine schweigende Wei- dernder Redner als ein le, der Blick des Man- Kundgebungspatheti- nes, der so überaus ker? „Ich habe doch stolz ist auf die von gar nichts Martiali- ihm herbeiverhandelte sches oder Theatrali- Einheit, nachdenklich Wahlkämpfer Schäuble: Provozierende Kraftworte sches.“

32 DER SPIEGEL 12/1994 Kohl-Kronprinz Schäuble: „Ich habe doch gar nichts Martialisches oder Theatralisches“

Wenn Schäuble mit solchen Selbstbe- Porträt Konrad Adenauers zur Seite. sche Hetzformel, die seit dem Zerfall des schreibungen Ähnlichkeiten mit Franz „Jetzt neigt die Tendenz eher gegen Zer- Moskauer Lagers freilich nicht mehr so Josef Strauß bestreiten will, ist ihm nicht faserung und Aufsplitterung der Ge- gut taugt zur Angstmobilisierung. zu widersprechen. Aber daß etwa die meinschaft.“ Und wie er es in seiner Ju- Also brauchen „Wir“ – das sind, wie SPD-Abgeordneten im Bundestag auf gend im Kalter-Krieg-Staat des „Alten“ Helmut Kohl zu sagen pflegt, „alle Deut- ihn geradezu „allergisch aggressiv“ rea- gelernt hat, pocht er auf die zusammen- schen guten Willens“ – andere gemütsbe- gieren, das weiß nicht nur der sozialde- schweißende Kraft von Feindbildern. wegende Signale der Gemeinsamkeit, mokratische Fraktionschef Hans-Ulrich „Erst im Streit wird klar, wofür oder um gegen „die anderen“ gewappnet zu Klose. Das weiß auch Wolfgang Schäub- wogegen man steht.“ Das ist Wolfgang sein. „Die Geschichte“, „die Nation“, le. Und genau so will er es haben. Schäubles Überzeugung. Also steht er „das Vaterland“ müssen sich in taugli- Dabei sind die coolen Verhandlungsta- beispielsweise mal für Berlin und setzt chen Symbolen spiegeln. lente des Juristen Schäuble auch heute noch eins drauf: „Es geht um Deutsch- Das mag nun für Helmut Kohl, den ge- noch unumstritten. Selbst in politisch bri- land.“ Und dann wartet er, wer aufjault. fühlsgeladenen Inszenator von Verdun santen Verhandlungen wieüber dasAsyl- Das ist dann der Feind, gegen den man und Bitburg eine Leichtigkeit sein. Der gesetz oder die Pflegeversicherung be- sich zusammenschließt. Kanzler, der sich trefflich darauf ver- sticht der Kompromiß-Manager Schäub- Soll das tatsächlich die „konservative steht, Politik aus dem Fundus eigener le durch Wendigkeit und Kompetenz. Revolution“ sein, die Schäubles linker Sentimentalitäten zu kitschigen Höhe- Mit Ironie und Sportsgeist lockert er die punkten zu verdichten, hat ein ziemlich Atmosphäre, auf seine Absprachen ist sicheres Gespür für die Strahlkraft von Verlaß, loben Sozialdemokraten wie Li- Nicht wenigen wird Symbolen. berale. der streitbare Schäuble Dem kalten Verstandesmenschen Längst hatte sich Schäuble auf diesem Schäuble aber, der Emotionen nur als ei- Gebiet in Bonn einen soliden Ruf erwor- auch unheimlich ne ausbeutbare Schwäche seiner Mit- ben, alser abrupt und brutal insRampen- menschen betrachtet, „die man nicht den licht der breiten Öffentlichkeit geriet. Parteifreund Warnfried Dettling als Er- Gegnern überlassen darf“, mißglücken Erst die plötzliche Einheit, dann das At- be Helmut Kohls heraufdämmern sieht? solche Inszenierungen gründlich. Selbst tentat verwandelten den geschäftsfüh- Werden damit „die Uhren der Moderne die eigenen Leute sind befremdet über renden Helfer, der hinter den Kulissen in Deutschland zurückgedreht“, wie der die verquaste Mischung aus nationalem für Kohl die Fäden zog, in einen verant- Soziologe Ulrich Beck befürchtet? Lei- Schwulst und akademischer Belehrung, wortlichen Anführer. Unglücklicherwei- tet Wolfgang Schäuble so den Unter- mit der ihr Fraktionschef im Bonner Par- se ist er seither von der Idee besessen, gang der Union als Volkspartei ein? lament gegen die Verhüllungsaktion des auch den politischen und atmosphäri- Tatsächlich ist der Fraktionschef ve- Künstlers Christo vom Leder zieht, in- schen Zustand der schlingernden Repu- hement in eine „sehr fruchtbare, ver- dem er den unglücklichen Berliner blik aufhübschen zu wollen. nünftige Arbeitsteilung“ mit dem Kanz- Reichstag zum „symbolträchtigsten und „Politik ist immer eine Sache der Ba- ler eingestiegen, die sich ergibt, ohne bedeutungsvollsten politischen Bauwerk lance zwischen individueller Freiheit und daß darüber viel geredet werden muß. Deutschlands“ hochstilisiert. Gemeinschaftsbezogenheit“, doziert er Das Spiel heißt: Wir gegen die. „Frei- Spätestens seitdieser Rede istdeutlich, hinter seinem Bonner Schreibtisch, ein heit statt Sozialismus“ hieß die klassi- daß Wolfgang Schäuble unfähig ist, Ge-

DER SPIEGEL 12/1994 33 DEUTSCHLAND

folgschaft zu stiften. Gewiß, er leitet die eigene Fraktion mit scharfer, galliger Kargheit, allemal gut vorbereitet, zu- meist kurz angebunden. Mitarbeiter er- leben ihn ruppig und arrogant. Worte wie „Quatsch“ und „Blödsinn“ gehen ihm schnell über die Lippen. Seine Ab- geordneten leben in der Furcht, schil- dert ein Minister: „Sobald einer unbe- dacht vor sich hinplappert, wird es schnell eisig.“ Wenn dem Unionsführer dennoch ge- lingt, eine Art „Wir“-Gefühl zu erzeu- gen – auf dem CDU-Parteitag 1993 in Berlin etwa –, dann ist das die Folge kal- kulierter Konfrontation gegen selbster- zeugte Feinde. „Nichts ist schlimmer als Friede mit den Sozis“, zitieren Unions- parlamentarier ihren Vorsitzenden. Po- larisierung – das ist die von Schäuble selbst mit sichtlichem Genuß bekräftigte Strategie: „Streit muß sein, damit es spannend wird.“ Nicht wenigen in seiner Umgebung – und das sind nicht nur Gegner – wird der streitbare Schäuble aber auch unheim- lich. Befremden, Besorgnis, ja Furcht schleichen sich in manche respektvolle Äußerung über den einsamen Politiker, der sich so vehement gegen seinen Schicksalsschlag zu wehren weiß. Eine Zone eisig dünner Luft scheint Men- „Jetzt erschrecke ich nicht mehr, jetzt bin ich abgebrüht“

schen auf Abstand zu halten, sobald sich der Fraktionschef in größere Versamm- lungen begibt. Macht das nur der Rollstuhl? Schreckt die Sicherheitszone um den be- sonders intensiv beschützten Mann die Mitmenschen ab? Gewiß. Vor allem aber prickelt um Wolfgang Schäuble ei- ne elektrisch aufgeladene Atmosphäre von Aggressivität und gebändigter Wut, die sich jederzeit in verletzender Schärfe entladen kann. Wolfgang Schäuble weiß das. „Ich wirke irgendwie schneidend“, räumt er ein, ganz und gar nicht beunruhigt. Im Gegenteil, fast scheint es, als bereite ihm vor allem die Furcht, die er redend auslöst, die ohnmächtige Erregung, die er stichelnd in Gegnern anheizt, einen lustvollen Kitzel. Zornig macht ihn nur der Vorwurf, der Rollstuhl habe ihn hart gemacht, den er dem früheren SPD-Fraktionschef Jochen Vogel nie verzeihen wird. „Ich war schon immer ein sturer Knochen“, darauf beharrt er. Tatsächlich ist der auf Konkurrenz ge- trimmte, körperlich kleine, aber sport- lich gestählte Wolfgang Schäuble vom ersten Tag seiner Karriere an durch die politische Welt in Bonn gelaufen wie ein gespannter Flitzebogen. „In jedem Au-

34 DER SPIEGEL 12/1994 genblick mußte man mit Pfeilen rech- nen“, erinnert sich ein Oppositionspoli- tiker an den einstigen Parlamentari- schen Geschäftsführer der Union. Was damals Sport gewesen sein mag, ist jetzt Lebenskampf. Der Mann, des- sen Dasein sich fast völlig auf die Politik verengt hat, kennt – im Wortsinne – kei- ne Spielräume mehr. Ihm geht es immer ums Ganze. Alle spüren das, vielen macht es Angst – zumal die Inhalte und Maximen, denen Schäubles totaler Ein- satz gilt, innerhalb eines vagen konser- vativen Rahmens ziemlich beliebig sind. „Nur keine Denkblockaden“, heißt das bei ihm. Phasen einfühlsamer Nachdenklich- keit und freimütiger Auseinanderset- zung mit seiner eigenen Verletzlichkeit und den Wunden anderer sind Wolfgang Schäuble nachträglich offenbar als Schwächen erschienen, die er sich nicht leisten kann im harten Politikgeschäft. Als er 1984 Chef des Bundeskanzleram- tes geworden sei, Minister mit einer „wahnsinnigen Verantwortung“, da sei er noch „irgendwie erschrocken“ gewe- sen über die Belastung, erzählt er. „Jetzt erschrecke ich nicht mehr. Jetzt bin ich abgebrüht.“ Das soll locker klingen, selbstiro- nisch. Aber durch solche Scherze schim- mert der Stahlkern seines Machtwillens. Seine öffentlichen Reden sind Waffen, die er mit provozierender Selbstgerech- tigkeit handhabt. Immer macht Schäub- le deutlich – mal mit tremolierendem Pathos, mal mit flüsternder Schärfe –, daß er sich im Besitz der ganzen Wahr- heit weiß. Er ist die Demokratie. Er ist die Vernunft. Er ist Deutschland. So verwandelt er seine Parlamentsre- den zunehmend in eine Serie verbaler Zweikämpfe mit der Opposition, nicht ohne sich dann wehleidig über die vielen Störungen zu beklagen. Harte Sätze sagt er mit weicher Stimme. Die Gefühle, die er sich selbst nicht gestattet, bringt er bei seinen Zuhörern in Wallung. Die Pfeile, die er heute verschießt, sind Brandpfeile. Daß er zündelt, macht Wolfgang Schäuble gefährlich. Gerade weil er kein gläubiger Deutschnationaler ist, al- lenfalls ein konventioneller Bieder- mann, erscheint die Furcht vor seinem vaterländischen Bombast berechtigt. „Er ist sich der rechten Gefahr über- haupt nicht bewußt“, glaubt einer seiner Freunde und Bewunderer. Vielleicht meint der CDU-Politiker wirklich, auf diese Weise die rechten Gelüste im eigenen Lager im Zaum hal- ten zu können, wie er vorgibt. Vielleicht will er tatsächlich die Union nach rechts bewegen, um Republikaner wieder ein- zufangen. In jedem Fall leistet er sich ein Vertrauen in die zügelnde Macht des Willens über kollektive Sehnsüchte, Ängste und Haßempfindungen, das

DER SPIEGEL 12/1994 35 DEUTSCHLAND grob fahrlässig wäre in jeder Demokra- tie. In Deutschland ist es lebensgefähr- lich. Für diese Brisanz hat der Stimmungs- macher Wolfgang Schäuble aber keine Antenne. Lässig ist er in der Lage, bei Bedarf seine tümelnde Patriotismus- Kampagne umzudeuten in eine rein sportive Angelegenheit. Jubelt er denn bei einem Fußball-Länderspiel gegen Frankreich als Verfassungspatriot für die Deutschen? Na, also. Immer wenn Wolfgang Schäuble in Versuchung gerät, sich für ziemlich großartig zu halten – und das ist so sel- ten nicht –, erinnert er sich an den Film mit dem seligen Don Camillo, der sich als eifernder irdischer Streiter wider den Kommunismus von seinem Herrgott sa- gen lassen mußte: „Nimm dich nicht so wichtig.“ Das ist, Wolfgang Schäuble weiß es, derzeit nicht nur aus Demut angebracht, sondern vor allem auch aus taktischen Gründen. Denn eitle Auftritte eines Kanzlerrivalen wären das letzte, was die Stasi-Kontakter Stolpe: Labyrinth verfänglicher Indizien Union in ihrem Kampf um die ent- schwindende Macht am Rhein gebrau- Engholm hatte gelogen, als er be- Die Berichte seien „eine üble Verlet- chen könnte. hauptete, er habe von Reiner Pfeiffers zung meiner Menschenwürde“. Nur deshalb hat Schäuble, auf dem Machenschaften in Uwe Barschels Doch auch verbale Kraftmeierei hilft Berliner Parteitag noch umjubelter Staatskanzlei erst am Abend der Land- dem regierenden Sozialdemokraten Held, in Hamburg eine so karge Rede tagswahl 1987 erfahren. Gleichwohl nicht aus der Bredouille. Es geht längst gehalten. Und daß Helmut Kohl Bun- empfahl ihm Stolpe, „den Rücken gera- nicht mehr darum, ob Stolpe als einsti- deskanzler ist und wieder wird, kann er de zu machen“ und „den Kampf durch- ger Kirchenjurist allzu vertrauensseli- gar nicht oft genug sagen. Bekräftigend zustehen“. gen Umgang mit der Stasi pflegte. fügt er hinzu: „Den Rest wird der liebe Auch in eigener Sache will der Bran- Nicht Fehler in der Vergangenheit, Gott entscheiden.“ denburger so verfahren: Zwar ist er schrieb vorige Woche die Süddeutsche Aber seltsam. Aus dem Munde praktisch überführt, im Landtagsaus- Zeitung, sondern „Fehler im Umgang Schäubles, den das Leben in den letz- schuß, der Stolpes Stasi-Kontakte auf- mit der Vergangenheit könnten den ten Jahren so unbarmherzig auf- und klären soll, die Unwahrheit gesagt zu Sturz herbeiführen“. abgeschleudert hat, klingt diese Er- haben. Aber der Potsdamer Regent, der Bestrebt, immer nur soviel zuzuge- gebenheitsformel fast wie eine Dro- einst als Kirchenjurist mit der DDR- ben, wie ihm zweifelsfrei nachzuweisen hung. Y Staatssicherheit kungelte, zeigt sich ent- ist, verirrt sich Stolpe immer tiefer in schlossen, die Vorwürfe auszusitzen. ein Labyrinth verfänglicher Indizien. Immer enger zieht sich das Netz um Eine Nutzerliste für das „Wenden- Stolpe-Affäre den ehemaligen Inoffiziellen Mitarbei- schloß“ weist aus, daß sich Stolpe, zu- ter (IM) „Sekretär“ zusammen. Die Be- sammen mit den Stasi-Offizieren Joa- lege verdichten sich, daß Stolpe, entge- chim Wiegand und Klaus Roßberg, an gen seinen Beteuerungen, am 21. No- dem fraglichen Tag zwischen 14 und 17 Nackter vember 1978 mit zwei Stasi-Offizieren in Uhr in dem Stasi-Objekt aufhielt. Bei dem Konspirativen Objekt „Wenden- dieser Gelegenheit, behauptet Roß- schloß“, einer Villa in Berlin-Köpenick, berg, habe Stolpe die Auszeichnung er- Kaiser zusammengetroffen ist, um seine DDR- halten, die ihm nebst 14 anderen Inof- Verdienstmedaille entgegenzunehmen. fiziellen Mitarbeitern der Stasi-Minister Manfred Stolpe weiter unter Druck: Dünnhäutig wie noch nie reagierte Erich Mielke am 7. Oktober 1978 zu- Eine von ihm präsentierte Ent- Stolpe am Montag vergangener Woche, gesprochen hatte. nachdem SPIEGEL und SPIEGEL TV Vor dem Ausschuß schloß Stolpe lastungszeugin entlastet ihn nicht. neu aufgetauchte Stasi-Dokumente prä- diese Möglichkeit vergangene Woche sentiert hatten. Sie widerlegen Stolpes noch einmal kategorisch aus. Anhand urz bevor Björn Engholm seinen Einlassung, er sei an jenem Tag nicht im seines Dienstkalenders rekapitulierte Rücktritt von SPD-Vorsitz und „Wendenschloß“ gewesen, das sei schon er: „Ich hatte an diesem Tag um 15 KKanzlerkandidatur verkündete, von seinem damaligen „Dienstplan her Uhr eine andere Verabredung im In- riet ihm, Anfang Mai vorigen Jahres, nicht möglich“ (SPIEGEL 11/1994). nenstadtbereich mit mehreren Perso- ein Parteifreund noch immer zum Er wundere sich, empörte sich Stolpe, nen.“ Durchhalten: Manfred Stolpe, Branden- „wie immer noch gewisse Sensationsme- Namen der Zeugen, die ihm ein Ali- burgs Ministerpräsident, sah keinen dien geradezu schmarotzen in den Lük- bi verschaffen könnten, nannte der Re- Grund, wegen einer erwiesenen Falsch- ken des Stasi-Unterlagengesetzes“. Der gierungschef nicht. Und der Ausschuß, aussage vor einem parlamentarischen Ministerpräsident geißelte den „Jagdei- nach langatmigen und fruchtlosen Be- Untersuchungsausschuß die politischen fer des Sensationsjournalismus“ und die fragungen Wiegands und Roßbergs er- Ämter aufzugeben. „widerrechtliche Papierverwendung“. mattet, bohrte nicht nach.

36 DER SPIEGEL 12/1994 Zwei Tage später überraschte Stolpe einen mit ausführlichen Einzelheiten ge- mußte auf einem eigenen Formular das Gremium mit einer eidesstattlichen spickten Vier-Seiten-Bericht über einen (DIN A6) eingetragen werden, von Versicherung. Darin legte die pensio- „Aufenthalt von Bischof Schönherr in wann bis wann das Stasi-Objekt fre- nierte Oberkirchenrätin Christa Lewek der BRD“ an. In dem Papier ist der In- quentiert worden war. einen Auszug aus ihrem Terminkalen- halt von Gesprächen wiedergegeben, Es gibt keinen Sinn, warum in der der von 1978 vor. Unter dem 21. No- die der DDR-Oberhirte wenige Tage nachträglich angefertigten Nutzerliste vember stehen, nach der Zeitangabe zuvor mit dem damaligen SPD-Bundes- für das „Wendenschloß“ ausgerechnet „15 h“, die Kürzel „LK DK S“. geschäftsführer , SPD-Frakti- die Treffeintragung mit IM „Sekretär“ Bei dieser Eintragung, erläuterte Le- onschef sowie den falsch (oder gefälscht) sein soll. wek, handele es sich um eine Sitzung CDU-Abgeordneten Olaf von Wrangel Günter Nooke, Chef der „Bündnis“- des damaligen Leiters des Sekretariats und in Bonn geführt hatte. Fraktion im brandenburgischen Land- des Bundes der Evangelischen Kirchen Quelle der Informationen über die tag, nahm die Ungereimtheiten zum in der DDR, Stolpe („S“), mit seinen Bonner Gespräche war, laut Treffbe- Anlaß, Stolpe letzte Woche massiv an- beiden Stellvertretern, dem jetzigen richt, der IM „Sekretär“. Derartige Be- zugehen: „Wenn jemand ein Verfas- Magdeburger Bischof Christoph Demke richte wurden nach der Stasi-Hausord- sungsorgan belügt, kann er nicht Mini- („DK“) und ihr („LK“). nung in der Regel spätestens einen Tag sterpräsident sein.“ Wegen der „starken terminlichen In- nach dem Treffen angefertigt. Ultimativ forderten Stolpe und die anspruchnahme“ des Trios, so die Zeu- Vorige Woche, als dieser Treffbericht SPD daraufhin den Koalitionspartner gin, seien vereinbarte Sitzungszeiten „in noch nicht bekannt war, konnte Stolpe auf, sich zu entschuldigen, sonst sei das gewissem Sinne ,heilig‘“ gewesen. Bei noch hoffen, die Nutzerliste fürs Ampel-Bündnis am Ende. Öffentlich Verhinderung auch nur eines Teilneh- „Wendenschloß“ als wenig beweiskräf- dachte Stolpe darüber nach, die Ver- mers habe der Termin verlegt werden tig abtun zu können. Vielleicht, so Wie- trauensfrage zu stellen oder vorgezoge- müssen, in solchen Fällen habe sie den gand vor dem Ausschuß, habe es sich ne Neuwahlen zu erzwingen. ursprünglichen Termin ge- Stolpe setzt auf Zoff: Die strichen. Potsdamer Koalitionskrise Die Gesprächsrunde an je- lenkt ab von seiner Stasi- nem 21. November sei wich- Verquickung. Zudem, so das tig gewesen, weil anderntags Kalkül, würden die Wähler ein Gespräch des Bischofs sich um so enger um den So- Albrecht Schönherr und ihr zialdemokraten scharen, je selbst mit dem Kirchen- mehr der unter Druck kom- Staatssekretär Hans Seige- me. Der Wirbel, glaubt wasser „zum Thema Wehr- Regierungssprecher Erhard unterricht anberaumt“ gewe- Thomas, werde Stolpe einen sen sei. „Anstieg der Sympathiezah- Daraus folgert Christa Le- len von 84 auf 86 Prozent“ wek: „Das Gespräch, das für einbringen. 15.00 Uhr festgelegt war, hat Von den Sympathiewerten stattgefunden.“ Das mag ihres Vormanns hofft auch sein. Aber ob das Gespräch die SPD zu profitieren. Bei auch zum vorgesehenen Zeit- den Kommunalwahlen im punkt geführt wurde, geht Dezember vorigen Jahres aus Leweks feiner Formulie- hatten die Sozialdemokra- rung nicht hervor. ten, von Demoskopen stets Zur Entlastung Stolpes je- kurz vor der absoluten denfalls taugt die Lewek- Mehrheit taxiert, gerade mal Versicherung so recht nicht. 34,5 Prozent der Stimmen Stolpe hat in seinem Kalen- erhalten. Wenn die Partei der an diesem Tag den Ter- nicht erheblich zulegt, min „LdS“ (Leitung des Se- Ex-Stasi-Offizier Roßberg (r.)*: Langatmige Befragung braucht sie auch nach der kretariats) gleich zweimal für den 11. September vor- eingetragen –um 12und um 15Uhr. Inei- nur um eine Reservierung gehandelt, gesehenen Landtagswahl Regierungs- ner schriftlichen Erklärung vom 26. No- und die Verabredung sei dann mögli- partner. vember 1992 gab Stolpe gegenüber dem cherweise doch noch geplatzt: „Ob wir Sollte die PDS, mit der niemand ko- Ausschuß an, möglicherweise sei der dagewesen sind, weiß ich nicht.“ alieren will, mehr als 20 Prozent errei- 12-Uhr-Termin „nicht realisiert, sondern Gegen Wiegands Erzählungen spricht chen, bliebe womöglich nur ein rot- auf 15.00 Uhr verschoben worden“. ebenfalls die Stasi-Norm. Da die Stasi schwarzes Bündnis übrig. Doch die CDU Oder umgekehrt: Der Nachmittagster- fürchtete, so ein ehemaliger MfS-Mann hat angekündigt, sie werde nicht in ein min wurde um drei Stunden vorverlegt – zum SPIEGEL, daß gegnerische Ge- von Stolpe geführtes Kabinett eintreten. und zwar so kurzfristig, daß Christa Le- heimdienste konspirative Objekte und Dem früheren Bürgerrechtler Nooke wek ihre Eintragung nicht mehr korri- Wohnungen ausspähen könnten, sei die kann’s egal sein: Seine Bündnis-Fraktion gierte. Dann hätte Stolpe Zeit genug fürs Überwachung „streng geregelt“ gewe- löst sich im Herbst ohnehin auf, für den „Wendenschloß“ gehabt. sen. Hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter, nächsten Landtag hat allenfalls die verei- Gegen Stolpes Version spricht ein wei- die sich mit einem IM treffen wollten, nigte Öko-Partei Bündnis 90/Die Grü- teres, bisher unbekanntes Dokument. mußten einen „Antrag für Objektbenut- nen, der Nooke sich nicht angeschlossen Unter dem Datum des 22. November zung“ stellen – mit Datum, Uhrzeit und hat, eine Chance. 1978, also einen Tag nach dem in den Sta- Teilnehmern. Nach erfolgtem Treff SPD-Fraktionschef Wolfgang Birthler si-Dokumenten belegten Treff von Wie- versuchte letzte Woche, Nooke eine gand und Roßberg mit IM „Sekretär“ im * Mit seinem Anwalt Andreas Schulz am Mittwoch Brücke zu bauen: Der solle erklären, er „Wendenschloß“, fertigte Stasi-Roßberg letzter Woche vor dem Ausschuß. habe sein Verdikt über Stolpe nicht als

DER SPIEGEL 12/1994 37 DEUTSCHLAND

Fraktionsvorsitzender gefällt, sondern Die Wende kam schneller als von vie- Persönliche Fehden hält Berninger für als Abgeordneter lediglich eine „Gewis- len Alt-Grünen gewünscht. Auch Ober- „schlechten politischen Stil“. Mit den sensäußerung“ getan. RealoJoschka Fischer,45,hattedemStu- Nachwuchsorganisationen der anderen Doch Nooke blieb stur. Er wolle zwar denten geraten, sich zurückzuhalten; es Parteien, etwa den Jungen Liberalen nicht „einen sympathischen und aner- müsse ja nicht gleich der Bundestag sein. oder auch der Jungen Union, verbindet kannten Ministerpräsidenten in Bran- Der selbstbewußte Berninger ignorier- ihn nach eigener Einschätzung mehr denburg loswerden“, so Nooke süffi- te die Weisung. Er wagte es sogar, gegen Konsens als Konflikt. sant, aber er könne nicht „alle Gesetze Fischers engen politischen Gefährten Die Grünen seien keine „pauschalen der Logik außer Kraft setzen“ und die Hubert Kleinert, 39, anzutreten, der Wirtschaftsfeinde“. Siefördern „auch die Aktenlage ignorieren, nur weil Manfred schon der ersten grünen Bundestagsfrak- Wirtschaft und schaffen Arbeitsplätze“, Stolpe „nicht beschädigt werden darf“. tion angehört hatte – und fegte ihn mit wirbt Berninger schon wie selbstver- Man müsse, meint Nooke, „den Mut mehr als100Stimmen Vorsprung von der ständlich um neue Wählerschichten. Der haben, zu sagen: Wo der Kaiser nackt Liste. „Wer das schafft“, zolltihm Fischer Kandidat sei zwar noch sehr jung, lobte ist, ist er nackt“. Y grollend Respekt, „hat Talent.“ die konservative FAZ, dafür „aber schon Wenn Matthias Berninger laut vor vol- Realo“. lem Saal spricht, wird seine Stimme mäd- Und was für einer. In Bonn will er kei- Bundestag chenhaft hell. Er hat schon auf vielen neswegs auf die Oppositionsbank und Landesversammlungen und auch auf „immer nur sagen, wogegen wir sind“. Bundesparteitagen geredet, ein Anfän- Und den Mannheimer Anti-Nato-Be- schluß der Grünen, in dem der Schon Realo Austritt aus dem Bündnis ge- fordert wird, hält Berninger für Ein 23jähriger Student aus Hessen „sehr unglücklich“. hat beste Aussichten, der Aber er kritisiert auch, daß bei den Hessen-Grünen „ein jüngste Bonner Abgeordnete aller Koalitionsvertrag einen höhe- Zeiten zu werden. ren Stellenwert hat als die öko- logischen und sozialen Visio- nen“. ls die Grünen 1983 in den Bundes- Mit solchen Sätzen spricht er tag einzogen, saß er gerade mal in der Basis aus dem Herzen. Sein Ader 6. Klasse. Von der RAF kann- ErfolginLanggönswar auch ein te er nur die Fahndungsfotos im Post- Votum gegen Fischers Macht- amt, deren dunkle Gesichter ihm als anspruch, seine Wunsch- Junge immer einen höllischen Schrek- kandidaten zu plazieren. ken einjagten. „1968 gab es mich noch Wenn er an die üppigen Ab- nicht“, sagt Matthias Berninger – kein geordnetendiäten denkt, wird Bedauern, eine Feststellung. dem Studenten für Chemie und Seit einer Woche gehört der 23jähri- Sozialkunde, der noch zu Hau- ge Jungpolitiker aus dem nordhessi- se bei seinen Eltern wohnt, schen Ahnatal zu jener Truppe, mit der schwummrig. Sein Geld ver- die inzwischen zum Bündnis 90/Die dient er in einem Kasseler Fahr- Grünen gewandelten Öko-Alternativen radladen. Wenn sich die Kom- die Rückkehr in den Bundestag schaf- militonen abends in der Kneipe fen wollen. treffen oder zusammen ein Re- In Langgöns setzten die hessischen ferat vorbereiten, geht er zu Bündnisgrünen den Studenten überra- Versammlungen und Frakti- schend als zweiten Mann nach Joschka Jungpolitiker Berninger onssitzungen. Fischer auf Platz vier ihrer Landesliste. „Wer das schafft, hat Talent“ „Bringt das denn was?“ fra- Er bekam mehr Stimmen als die promi- gen sie ihn immer wieder. Ja, nente auf Platz eins. ger ist er nicht. Trotzdem war er „super- sagt er, und deshalb will er längst nicht Wenn die Grünen in Hessen bei der nervös“ und hätte seine Bewerbungsrede mehr Lehrer werden, sondernsitzt für die Bundestagswahl über zehn Prozent der fast verpatzt, weil er auf dem schmalen Grünen im Kasseler Kreistag, ist Ge- Zweitstimmen bekommen, ist dem Rednerpult nicht vom Manuskript able- meindevertreter in seinem Heimatdorf Neuling ein Parlamentssitz so gut wie senkonnte.Zum Glückhatteerdengröß- Ahnatal, umweltpolitischer Sprecher im sicher. Dann wäre er der jüngste Abge- ten Teil im Kopf. Vorstand der Grünen Jugend Hessen und ordnete in der Geschichte des Bundes- Wie die altlinken Vorderen Daniel seit 1992 zudem im Parteirat. tages – Frankfurts Oberbürgermeister Cohn-Bendit und einst Noch vor der Schlußphase im Wahl- Andreas von Schoeler (heute SPD) war über Marx und Mao stritten, diskutiert kampf will Berninger seine Examensar- 24, als er 1972 für die FDP ins Parla- der Hochschüler Berninger heute über beit über Kunststoff-Recycling fertig ha- ment einzog. Pyrolyse, Thermoselektion und die TA ben. Genauso zielstrebig kam er auch zu Berninger steht für den Generations- Siedlungsabfall. Auf die Katecheten der den Grünen. Als am Wahlabend 1990 be- wechsel in der Öko-Partei: Er ist gegen Ideologie folgt der Fachmann für Ökolo- kannt wurde, daß die Grünen aus dem die „Apo-Opa-Liste“ angetreten, die gie. Bundestag geflogen waren, trat der da- „Grün-Ergrauten“, wie sie von den Stichworte wie Aufruhr, Revolution mals 19jährige demonstrativ in die Partei Jungen spöttisch genannt werden. Das oder Streitkultur, über deren Auslegung ein – „damit sie wieder reinkommt“. Durchschnittsalter der Grünen-Mitglie- sich die Apo-Opas untereinander heftig „Jetzt haben wir jemanden“, verkün- der liegt inzwischen um die 40, junge und heillos befehdeten, sind dem Erben den seine Mitstreiter stolz, „der jung ist Wähler fühlen sich nicht mehr reprä- fremd. Der hat keine Lust auf den „ewi- und nicht nur sagen kann, ich war mal sentiert. gen politischen Streit“. jung.“ Y

38 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

möchte der Sozialdemokrat neuen SPD Typs durchaus, daß Besucher ihn als solchen wahrnehmen. Grandke vollzieht, was Heiner Geiß- ler in seinen besten CDU-Tagen gelun- „Wer ist der Held der gen ist: Er zerrt Begriffe und Vorstel- lungen, die das Publikum bislang ein- deutig mit dem politischen Gegner identifiziert hat, ins eigene Lager. Ver- Arbeit im Sozialamt?“ sehen mit dem eigenen Stallgeruch, kehren die Worte dann auf den politi- Joachim Preuß über den Offenbacher Stadtsanierer Gerhard Grandke schen Marktplatz zurück und werden dort präsentiert, als gehörten sie selbstverständlich seit Menschengeden- enn der Sozialdemokrat Gerhard Mit raschen Filzstiftstrichen hat der ken zu den Urprinzipien der Sozialde- Grandke über „meine Sozialro- Stadt-Unternehmer sein Prinzip, den mokratie. Wmantiker“ spöttelt, liegt Ver- „Markt in die Verwaltung zu holen“, auf Anders als Geißler hat Grandke die ständnis und Milde in seiner Stimme. So große, weiße Bögen geworfen. Daß Worte durch Taten begleitet. In seiner ähnlich redet der Enkel von seinem Grandke in seinem Oberbürgermeister- Heimatstadt Offenbach hat der Sozi, Opa, der schöne Geschichten von da- büro auf Flip-charts arbeitet, jenen wie selbst ein mittelständischer Unter- mals erzählt und mit der neuen Zeit, in- großräumigen Maltafeln der Manager, nehmer der örtlichen Industrie- und zwischen etwas tüdelig geworden, nicht ist alte Gewohnheit und Signal zugleich. Handelskammer einräumt, „ein kleines mehr mitkommt. Einerseits hat der ehemalige Unter- Wunder vollbracht“. Manchmal freilich redet auch Enkel nehmensberater sich nun mal an sein Die Finanzkrise, die derzeit in nahe- Grandke in Worten von früher. Er Handwerkszeug gewöhnt. Zum anderen zu jede deutsche Stadt kriecht, hatte klingt dann wie damals im Jahr 1982, als die FDP den Kanzler kippte. Der Staat sei in Not, die „enorme Verschul- dung eine Hypothek für unsere Kindes- kinder“. Im Unterschied zum grollenden Gra- fen verfügt Gerhard Grandke, der im Sommer 40 Jahre alt wird, über die neu- en Sozialtechniken. Läßt er einen derart niederdrückenden Satz fallen, folgt mit Sicherheit ein breites Lachen und der Hinweis, daß „wir in Offenbach die Lö- sung auf der Schiene“ haben. Seit wenigen Wochen ist der Sozial- demokrat Oberbürgermeister in der Frankfurt am Main benachbarten Stadt. Zuvor hat er drei Jahre als Kämmerer gedient. Die Leute mögen ihn. Über 60 Prozent der Wähler haben für ihn ge- stimmt. Seine Partei, die SPD, hat es in Offenbach (117 000 Einwohner) ein paar Monate zuvor, bei einer Kommu- nalwahl, auf nicht mal 30 Prozent ge- bracht. Was also hat Grandke, was seine Partei nicht hat? Augenfällig ist ein erotisch anmuten- des Verhältnis zu Leuten, die Geld in seiner Stadt investieren. Mit „zwei Dik- ken“ hat er gerade angebandelt. Und jetzt hier, anläßlich der Eröffnung der Offenbacher Ledermesse, kobert er die versammelten Kaufleute: „Testen Sie, vergleichen Sie uns“, stößt er immer neue Lockrufe aus, „Baugenehmigun- gen dauern bei uns nur drei Monate.“ Gerhard Grandke Stadt aus ihrem finanziellen Jammer- Die Stadt ist in den Augen des Ober- tal zu führen. Grandkes Credo: Eine bürgermeisters ein Unternehmen. Die ist seit Januar Oberbürgermeister von Stadt müsse wie eine gut organisierte Mitarbeiter „in der Verwaltung sind Offenbach. Zuvor hatte der 39jährige Firma arbeiten. Für den Job des ersten nicht besser oder schlechter als in der Sozialdemokrat seiner Geburtsstadt Stadtsanierers der Republik brachte Wirtschaft“. Also müsse man die Ent- drei Jahre als Kämmerer gedient. In Grandke beste Voraussetzungen mit. scheidungen nur anders organisieren dieser Zeit vollbrachte der Ex-Juso ein Der studierte Pädagoge hat fünf Jahre („Die Zeitfresser müssen raus“), dann kommunalpolitisches Wunder. Es ge- als Personal- und Unternehmensbera- könne eine Stadt wie eine gutgeführte lang Grandke, die hochverschuldete ter das Manager-Handwerk gelernt. Firma arbeiten.

DER SPIEGEL 12/1994 41 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

Offenbach bereits in den achtziger Jah- ger Zeit in einer Perso- mann mit allen Fines- ren erwischt. Die Stadt war derart plei- nalberatung heuerte sen geworden, als Of- te, daß es nur eine Frage der Zeit war, Grandke beim Frank- fenbach vor dem Of- bis das wohlhabende Frankfurt die furter Flughafen an fenbarungseid stand. Nachbarstadt schlucken würde. und sah nach Organi- Überdies hatte er nie Der Niedergang Offenbachs trug klas- sation und Personal. aufgehört, am sozial- sische Züge. Es war die Kombination Schließlich lockte ihn demokratischen Netz- aus einer langsam erodierenden Wirt- die Frankfurter Unter- werk zu knüpfen: schaft und einer ungebrochenen Nei- nehmensberatung Hir- Grandke bewarb sich gung der Stadtregenten, Geld auszuge- zel Leder & Partner um das Amt des Stadt- ben. an. „Die Professionali- kämmerers, und nie- Der politische Zampano der SPD- sierung seiner Karrie- mand machte es ihm Hochburg hieß über lange Jahre Man- re“, beobachtete ein angesichts der tristen fred Coppik. Der aufrechte Linke, Mei- befreundeter Genosse, Finanzlage streitig. nungsführer in der Partei und Bundes- fand ihr vorläufiges Firmensanierung, tagsabgeordneter, prägte eine ganze Ende. okay, das können vie- Generation von Sozialdemokraten, die Unternehmensbera- le. Aber eine Stadt in dem Wesen der Wirtschaft nur wenig ter wie etwa McKinsey Ordnung zu bringen, Aufmerksamkeit schenkte. Von daher pflegen ihrem Auftrag- das war 1990, und das kam das Geld, irgendwie. geber ein Gutachten ist es auch 1994, eine Als die örtliche Lederindustrie zu schreiben. Darin SPD-Linker Coppik (1981) Marktlücke. schrumpfte, weil asiatische Arbeiter bil- sind die Mißstände ge- Sozialistische Insel Grandkes erste liger nähten, blieb das Geld aus. Das schildert; der Kunde Idee, die längst vom fiel zunächst nicht weiter auf. Schließ- muß sehen, wie er sie abstellt. In der Erfolg durchkreuzt ist, war ein Unter- lich gab es Banken, die Geld verliehen. herkömmlichen deutschen Firma ge- nehmergedanke: Mit dem reparierten Der Verfall beschleunigte sich, die schieht dies nach dem alten Armeeprin- Offenbach auf der Referenzliste wollte Arbeitslosigkeit stieg, die Stadt verarm- zip von Befehl und Gehorsam: Oben er neue Aufträge hereinholen. Der Sozi- te. Pro Kopf zahlte Offenbach Ende der wird angeordnet, in der Hoffnung, daß aldemokrat neuen Typs ist eben da- achtziger Jahre die höchsten Sozialauf- sich unten etwas ändert. durch gekennzeichnet, daß seine Füße Aufgeklärte Berater bevorzugen, zu- gleichzeitig in Politik wie Wirtschaft ste- sätzlich zur Ökonomie, die Erkenntnis- hen. Erst ändern sich se der Psychologie. Erst müssen die Bei seiner spektakulären Sanierung die Menschen, Menschen ihr Verhalten ändern, dann hatte Grandke von vornherein den ändern sich die Dinge und Zahlen. Dazu mächtigsten aller denkbaren Bundesge- dann Dinge und Zahlen bedarf es oft endloser Gespräche. nossen: die unabweisbare Krise. Wann Ein mühsames, aber das einzig erfolg- immer nölende Genossen über die harte wendungen in der alten Bundesrepu- reiche Verfahren, behaupten Leute wie Gangart Klage führten, fragte der Käm- blik. Die Stadt nahm neue Kredite auf, Hirzel und Leder. Grandke erwies sich merer nach dem „Gegenmodell“. Es ge- um die Zinsen der alten Kredite zu be- „als Talent, das blitzschnell erkannte, hörte zu Grandkes Stereotypen, daß zahlen. was in Organisationen los ist“, erinnert „ich alles mache, wenn ihr sagt, wer es Die Lage war so verzweifelt, daß sich sich Thomas Leder. bezahlt“. Kam der Vorschlag „die Indu- die Stadt Attila dem Hunnen ausgelie- Aus dem ehemaligen Coppik-Anhän- strie“, konterte Grandke: „Die ist abge- fert hätte. ger war also ein Management-Fach- hauen.“ Statt dessen kam Grandke. Dessen Werdegang weist ihn als unauffälligen Sozialdemokraten aus. Der Sohn eines Maurers war 1972, zur politischen Hochzeit von , mit 17 Jah- ren zu den Sozialdemokraten gestoßen. Der Grandke am Flip-chart kann sich gar nicht erinnern, etwa wegen unver- nünftiger Dinge, die lediglich die hung- rigen Herzen nährten, in die SPD einge- treten zu sein. Ein Weggefährte weiß hingegen von einem „verwegenen Juso“ zu erzählen, der zu den Aktivisten auf Coppiks „sozialistischer Insel“ gehörte. Nach dem Studium arbeitete Grandke zunächst als Assistent an der Frankfur- ter Uni, ehe er beim DGB in der Berufs- fortbildung unterrichtete. Die verbreite- te Idee jener Jahre, daß Pädagogen dem neuen Menschen auf die Füße helfen würden, verlor ihre Kraft, Grandke wollte „die Lehrerrille nicht mehr“. Er begann, sich für die Psychologie von Or- ganisationen zu interessieren. Der ehemalige Lehrer arbeitete wei- ter an Menschen, nur ging es fortan „um Netzwerke“, „um Systeme“. Nach eini- Geschlossenes Stadttheater Offenbach: „Lackmus-Test der Aufklärung“

44 DER SPIEGEL 12/1994 Grandke hält für diese Art der Dis- kussion die Chiffre „Jäger-90-Gerede“ parat. Es sei zwar wünschenswert, daß der teure Militärvogel gespart werde, aber diese Entscheidung falle nicht in Offenbach, habe mithin nichts mit der „Stadtkass’“ zu tun. Was Grandke statt dessen ins Werk setzte, war, in seiner Sprache, ein Feu- erwerk von „Ressourcenoptimierungs- maßnahmen“, „Marktproduktsegmen- tierungen“ und „Implementierung von Veränderungsstrukturen“. Während sich Politiker landauf und landab in Rhetorikkursen schulen lassen, um be- sonders volksnah zu reden, bevorzugt der Offenbacher Heros seltsamerweise das Fachwelsch. Und seine Bevölke- rung, offenbar beeindruckt von ihrem schlauen Anführer, folgte ihm. Grandke schloß drei unrentable Schwimmbäder, eine Bibliothek, zwei Jugendbegegnungsstätten, das Theater und schenkte dem örtlichen Fußball- verein das Stadion. Wer schwimmen oder ins Theater will, muß ins benach- barte Frankfurt. Der Personaletat schrumpfte, indem pensionierte Beamte nicht ersetzt wur- den. Die rauhere Gangart ließ die Fluktuation von fünf auf zehn Prozent Nur soziale Netzwerke blieben vom Kahlschlag verschont schnellen. Als erste deutsche Stadt zahlte Offenbach eine Leistungszulage: Beschäftigte, die einen verwaisten Job miterledigen, erhalten bis zu 30 Pro- zent des eingesparten Gehalts, maxi- mal ein 14. Monatsgehalt. Für die revolutionäre Bezahlung nach Leistung im Öffentlichen Dienst ließ sich Grandke eine Sondergenehmi- gung durch seinen Ministerpräsidenten geben. Inzwischen greift der Bazillus um sich. Mitarbeiter der Offenbacher Städtischen Presseabteilung verkaufen in einem Pavillon Karten für die Frankfurter Bühnen. Der Kartenver- kauf kostet Überstunden, die aber durch den Spaß an der Selbständigkeit und einen Hunderter monatlich ausge- glichen werden. Natürlich hat Grandke die gängigen Stadtdienste wie Müllabfuhr, Gebäude- verwaltung oder Straßenreinigung ei- ner privaten Management-Gesellschaft unterstellt. Bei anderen Aufgaben sto- ßen Privatisierung und Leistungsbezah- lung an ihre Grenze: „Wer nämlich ist der Held der Arbeit im Sozialamt“, fragt der Stadt-Unternehmer, „der, der weniger ausgibt oder der viel bezahlt?“ Ausgespart vom großen Kahlschlag blieben Vereine, Altenpflege und die Kindertagesstätten, wegen „der sozia-

DER SPIEGEL 12/1994 45 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

Oberbürgermeister Grandke, Sängerin*: „Wir sind die Avantgarde“ len Elastizität“. Die „Netzwerke“ muß- Grandke hat dann geschafft, was in ten unbedingt erhalten werden, sagt nahezu allen deutschen Städten am Grandke und marschiert unerschrocken Ende der fetten Jahre noch fällig ist: unter die 700 Rentner, die in der Stadt- den großen Schnitt. Was erst langsam halle feiern. ins Bewußtsein der Menschen sickert, Offenbach hat sich unter den großen war in Offenbach, durch ein paar Zu- Händen seines ehemaligen Kämmerers fälle verschärft, schon eher dran: „Wir und dann überwältigend gewählten sind die Avantgarde des Prozesses“, Oberbürgermeisters in eine einzige gro- sagt der Held von Offenbach, der ein- ße Baustelle verwandelt. Nach den gro- fach der richtige Mann zur richtigen ßen Streichen haben nun die Investoren Zeit gewesen ist. die Signale vom Aufbruch erhört. Der Daß sich das Ego des 2,01 Meter Münchner Bauunternehmer Schörghu- messenden Lokalpolitikers neuerdings ber baut in einem der Schwimmbäder aufwölbt und „er sich in jede Bürger- ein neues Hotel. Neue Büros entstehen, versammlung drängt“, ist sogar Freun- den aufgefallen. Seine demonstrative Bescheidenheit, die den Offenbacher Mit der Wahrheit Rezepten zur Geltung in Offenbach kann man verhalf, hat abgenommen. Nach Zü- rich und Wien ist er inzwischen einge- Wahlen gewinnen laden worden, um zu erzählen, wie er seine Stadt saniert hat. und bald wird die S-Bahn fertig sein, die Kein Wunder, daß hinter dem Un- in wenigen Minuten nach Frankfurt- ternehmensberater sich der Politiker Mitte führt. neuerdings ganz breitmacht. Und der Es sieht so aus, als ob Grandke mit ist Sozialdemokrat: „Was wir gemacht seiner Idee von der „Back-office-Stadt“ haben, ist der Lackmus-Test, ob die Erfolg hat. Jene Bank in Frankfurt et- Leute Aufklärung aushalten.“ wa, heißt das übersetzt, die ihre Kunden Und, siehe da, daß der Kämmerer in der prachtvollen Marmorhalle emp- Grandke nach drei Jahren Sanierung fängt, kann die Buchhaltung durchaus zum Oberbürgermeister gewählt wur- im schmucklosen Offenbach erledigen. de, ist der Beweis: Die Leute halten es Nach acht Jahren wird der Etat der aus. Im Gegenteil, mit der Wahrheit Stadt dieses Jahr zum erstenmal wieder könne man heute auch dann Wahlen fast im Gleichgewicht sein. Vielleicht, gewinnen, wenn sie Schmerzen berei- wenn alle Verkäufe städtischer Immobi- tet. lien wie geplant klappen, wird auch das In Bonn sei die „Gegenaufklärung Defizit von 200 Millionen Mark, das an der Macht“, die verschleiere und durch kurzfristige Kredite entstanden vertusche. Das sei die Chance der So- ist, dahingeschmolzen sein. zis, sagt Grandke, der in Wahrheit selbst ein Sozialromantiker ist. Nur * Bei einem Auftritt mit einer Mireille-Mathieu- daß die 1994 anders sind als vor 20 Darstellerin in der Offenbacher Stadthalle. Jahren. Y

DER SPIEGEL 12/1994 47 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

Befund seiner Genfer Kollegen mög- Barschel-Affäre lichst zu widerlegen. Knapp zwei Monate später lieferte Janssen sein Gutachten ab, mit unterzeichnet von den damaligen Oberärzten Klaus Püschel und Achim Endgültig Schmoldt. Doch die Familie Barschel nahm das 55-Seiten-Papier unter Ver- schluß. ruhen lassen Bisweilen sickerten dennoch wohldo- sierte Details aus der Expertise in die Öf- Ein Hamburger Gutachter bestätigt: fentlichkeit – fast immer durch Journali- Uwe Barschel hat sich umgebracht. sten, die den Barschels nahestehen, und stets verknüpft mit schaurigen Mordge- Doch die Witwe will „weiterhin schichten. nach der Wahrheit forschen“. Mal soll Uwe Barschel von Waffen- händlern gemeuchelt oder von der DDR- Staatssicherheit in eine Falle gelockt wor- en Obduzenten hatten die Hinter- den sein, mal hatte angeblich der dubiose bliebenen mit Bedacht ausgewählt. Agent Werner Mauss seine Finger im DDer Hamburger Rechtsmediziner Spiel gehabt. Werner Janssen, ein international be- Nun wurde es dem Mediziner Püschel kannter Wissenschaftler, galt, so die zu bunt. Der Arzt, inzwischen als Nach- Welt, als „Spezialist für die Bestimmung folger von Professor Janssen Chef des In- von Todesursachen und Todeszeiten in stituts für Rechtsmedizin, stellte am vor- diffizilen Fällen“. letzten Wochenende im Hamburger So eine Koryphäe mußte ran, um den Abendblatt klar, daß das Ergebnis der Tod des früheren schleswig-holsteini- Leichenschau eindeutig war: Barschel schen Ministerpräsidenten Uwe Barschel habe sich „selbst mit Medikamenten aufzuklären. Dessen Leiche war am 11. getötet“, daran gebe es „nicht den ge- Oktober 1987 in der Badewanne desZim- ringsten Zweifel“. Püschel: „Der Fall mers 317 im Genfer Hotel „Beau-Ri- Barschel steht für einen klassischen Sui- vage“ gefunden worden – vier Wochen zid.“ nachdem der SPIEGEL kriminelle Ma- Bisher hatte das geheimgehaltene Do- chenschaften des Christdemokraten Bar- kument zum Beweis des Gegenteils ge- schel gegen seinen SPD-Kontrahenten dient. Schon am Heiligen Abend 1987, Björn Engholm enthüllt hatte. das Janssen-Gutachten war noch kaum Witwe Freya und Bruder Eike beauf- abgesetzt, berichtete die Welt, erst „bei tragten Janssen, den flinken Selbstmord- der Nach-Obduktion in Hamburg“ seien „zwei weitere Hämatome ent- deckt worden, am Hinterkopf und am Rücken Barschels“. Auch der Buchautor Werner Kalinka, ein Freund der Fami- lie Barschel, zieh aufgrund des hanseatischen Dossiers die Schweizer Behörden der Unfä- higkeit: Sie hätten „Sachver- halte“ übersehen, „auf die es ankam“ – angebliche „Zeichen äußerer, unnatürlicher Einwir- kungen“, die erst bei der Zweit-Obduktion „entdeckt“ worden seien. Der ehemalige CDU-Funktionär und Welt- Redakteur Kalinka, der in sei- nem Buch auch Fotos des to- ten Uwe Barschel aus dem Hamburger Obduktionsbe- richt veröffentlichte, zitierte aus dem Gutachten: Über den rückwärtigen Teilen der oberen Schädelkrümmung – eindeutig oberhalb der soge- nannten Hutkrempenlinie – quer angeordnet eine ausge- dehnte, in sich ungleichmäßig gestaltete 10 x 5 cm große bläu-

Toter Barschel 1987* * In der Badewanne seines Hotelzim- Kein Anhalt für äußeren Zwang mers im „Beau-Rivage“.

DER SPIEGEL 12/1994 51 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND lich-rote Durchtränkung der tiefen Kopf- „Daß es einfache Erklärungen gibt“, schwartenschichten. so das Hamburger Abendblatt, habe be- reits vor Jahren der SPIEGEL-Redak- Diesen Bluterguß, scheinbar Beweis teur Norbert F. Pötzl in seinem Buch für Fremdeinwirkung, konnten die Gen- „Der Fall Barschel“ bewiesen. fer Mediziner gar nicht festgestellt ha- Aber auch die Springer-Zeitung, die ben. Püschel: „Aus unserem Gutachten jetzt über das „nie veröffentlichte Ham- geht ganz klar hervor, daß diese Verlet- burger Gutachten“ berichtete, war zungen erst nach dem Tod entstanden schon im Dezember 1987 auf der richti- sind, durch die Präparation bei der er- gen Spur: Am selben Tag, als die Ver- sten Obduktion in Genf sowie bei der lagsschwester Welt über „seltsame Vor- anschließenden Lagerung und beim gänge“ fabulierte, verwies das Abend- Transport des Leichnams.“ blatt auf „Informationen“ über den Ob- Zweifelsfrei „todesursächlich“ waren duktionsbericht, wonach Barschel dem Hamburger Gutachten zufolge das „vermutlich freiwillig aus dem Leben Schlafmittel Cyclobarbital und die Beru- geschieden“ sei. higungstabletten Pyri- Dies war indes nicht thyldion; der Brech- das Ergebnis, das sich reizhemmer Diphen- die Angehörigen des hydramin und das früheren Kieler Re- Neuroleptikum Pera- genten vorgestellt hat- zin hätten, so Püschel, ten. „Das Wesentli- „die Wirkung ver- che“, die „Art und stärkt“. Es gebe „nicht Reihenfolge der Ein- die geringsten Hinwei- nahme“ der Arznei- se für eine Tötung von mittel, bemängelt Eike fremder Hand“. Barschel, sei „nicht In dem „Rapport“, untersucht“ worden. beharrt hingegen Eike Da gebe es „Lücken, Barschel, „steht nichts die nicht hätten drin von Selbstmord“, son- sein dürfen“. Er habe, dern werde nur ab- sagt der Bruder des strakt von „Medi- Barschel-Gutachter Püschel Toten, „den Hambur- kamenten-Vergiftung“ „Klassischer Suizid“ ger Rapport mal un- gesprochen. Und auch abhängigen deutschen der Hamburger Anwalt der Familie Bar- und ausländischen Professoren gezeigt, schel, Justus Warburg, widerspricht Pü- was sie davon halten“. Die hätten ihm schels Aussage: „Von einer Feststellung „einstimmig gesagt, ich sollte mir das im medizinischen Gutachten, daß sich Geld wiedergeben lassen“. Dr. Uwe Barschel selbst entleibt habe, ist Gegen Püschel hat Freya Barschel ver- überhaupt nicht die Rede.“ gangene Woche Strafanzeige wegen Allerdings lassen bisher nicht veröf- Verletzung von Privatgeheimnissen er- fentlichte Passagen aus dem Gutachten stattet. Niemand habe den Gutachter gar keinen anderen Schluß zu. Unfall von seiner Pflicht zur Verschwiegenheit oder Mord sind laut Gutachten abwegig: entbunden. Anwalt Warburg entrüstet sich über den „beamteten Arzt“, der Eine versehentliche Überdosierung bei „nach mehr als sechs Jahren das Vertrau- einem bewußtseinsklaren Menschen ist en bricht“. angesichts dieser Substanzmengen Der Mediziner wehrt sich gegen den nicht denkbar; ebenso unwahrschein- Vorwurf. Er habe „nur wiederholt, was lich ist die Möglichkeit einer unbemerk- auf anderen Wegen bereits an die Öf- ten Beibringung. fentlichkeit gedrungen“ sei, und dabei Und auf der letzten Seite fassen die „die bisherigen Interpretationen zu- Gutachter zusammen: rechtgerückt“. Das zielte auf die Infor- mationspolitik der Familie Barschel. Ei- Nach den vorliegenden Erkenntnissen ke Barschel beteuert indes, er habe sich gibt es keinen Anhalt für eine Beibrin- „nie und nimmer“ auf die Expertise be- gung der zum Tode führenden Substan- rufen. zen unter äußerem Zwang. Nicht einmal einem Rat Püschels Schlampige Spurensicherung der Gen- („Den toten Barschel sollte man nun fer Polizei und eine Serie von Ermitt- endgültig ruhen lassen“) mag die Familie lungspannen hatten den Nährboden für folgen. Die Witwe will vielmehr „weiter- üppig wuchernde Mordphantasien ge- hin nach der Wahrheit forschen“. schaffen. Winzige Details, die ungelöst Sie hat deshalb, zusammen mit ihrem blieben, wurden zu wilden Spekulatio- Schwager, ein weiteres Gutachten in nen aufgebauscht. Gerüchte über die Be- Auftrag gegeben. „Drei Professoren aus teiligung östlicher Geheimdienste kamen Genf und Zürich“, so Eike Barschel, auf, weil Barschel an Medikamenten hätten diese „dritte Untersuchung ge- starb, die es seit Jahren in Westeuropa macht“, das Ergebnis komme „nächste nicht mehr zu kaufen gab. oder übernächste Woche“. Y

DER SPIEGEL 12/1994 55 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND FORUM

Umwelt SPD Gegen Motten Angstgegner PDS und Menschen in Berlin Teppichböden mit Wollsie- Die Berliner SPD hat in der gel-Qualität werden routine- PDS einen gefährlichen Geg- mäßig mit Mottengiften be- ner ausgemacht. In einem in- handelt. Die dafür häufig be- ternen Strategiepapier, das nutzten Insektenkiller der Berlins SPD-Geschäftsführer Pyrethroid-Gruppe, die in ih- Rudolf Hartung mitverfaßt rem chemischen Aufbau ei- hat, wird eindringlich vor der nem pflanzlichen Gift nach- linken Konkurrenz gewarnt, empfunden sind, können je- die „eine Regierungsübernah- doch auch die Gesundheit me durch die SPD“ in Bonn von Menschen gefährden. verhindern könne. Um den Darauf weisen der Verein für Angstgegner klein zu halten, Umwelt- und Arbeitsschutz Export-Bierkrüge raten die Autoren zur Durch- Bremen und das Bremer setzung „ostdeutscher Inter- Umweltinstitut in einer neu- Recht USA hergestellt wurden. essen auch innerhalb der Bun- en Untersuchung hin. Da- Die Nachfrage läuft nach des-SPD“; mit „Polit-Blabla nach befindet sich das Ner- Läuft Angaben des Familienunter- und leeren Versprechungen“ vengift oftmals in hohen nehmens „wie verrückt“. seien im Osten keine Wahlen Konzentrationen in der Tep- wie verrückt Während derartige NS-De- zu gewinnen. Sorge macht den pichware. Mögliche Wirkun- Die Ausfuhr von Produkten votionalien in der Bundesre- Parteistrategen, „daß viele In- gen auf Menschen: Hautaus- mit Nazi-Emblemen will der publik verboten sind, gibt es telligenzler aus DDR-Zeiten schlag, Kreislauferkrankun- freidemokratische Justizmi- für die Ausfuhr des Politkit- mit der PDS liebäugeln“. Um gen, irreparable Schäden am nister von Rheinland-Pfalz, sches keine Einschränkung. zu verhindern, daß die PDS zentralen Nervensystem. Peter Caesar, per Gesetz Diese „überaus schädliche durch Direktmandate in Ost- verbieten lassen. Anlaß für Gesetzeslücke“, so Caesar Berliner Wahlkreisen in den Datenschutz den Caesar-Vorstoß sind in Schreiben an alle Justiz- Bundestag kommt, sollen die Bierkrüge mit SS-Runen, minister, könne im Ausland Sozialdemokraten an das poli- Gläserne Hakenkreuzen und Porträts den „fatalen Eindruck“ ent- tische Gewissen der PDS- von Adolf Hitler, die von ei- stehen lassen, der deutsche Sympathisanten appellie- Strafakten ner Zinngießerei in einer Gesetzgeber gehe „über die- ren: „Stimmenzersplitterung Westerwald-Gemeinde aus- sen schlimmen Mißstand durch die PDS behindert nur schließlich für den Export gleichsam achselzuckend den notwendigen Machtwech- nach Osteuropa und in die hinweg“. sel.“

Verkehr Bitterer Ernst

Hassemer Sachsens Wirtschaftsminister Kajo Schommer (CDU) will Lastwagen von Eine massive Gefährdung der Straße auf die Bahn zwingen von Persönlichkeitsrechten sehen Datenschützer in einer SPIEGEL: Sie wollen Lastwagen im deutsch- geplanten Gesetzesverschär- tschechischen Grenzverkehr auf die Schiene fung. Ein kürzlich von der setzen. Ist das mehr als ein PR-Gag? Justizministerkonferenz vor- Schommer: Das ist bitterer Ernst. Das Cha- gelegter Entwurf eines Straf- os auf unseren Fernstraßen ist nicht mehr verfahrens-Änderungsgeset- hinnehmbar. Außerdem darf ein freies Eu- zes sieht vor, daß sich diverse ropa nicht Unfälle, Tote und Zerstörung der Schommer Behörden Informationen aus Natur bedeuten. Strafakten zugänglich ma- SPIEGEL: In Bonn heißt es, die Sperrung ei- sere Lösung. Es entstehen keine Mehrko- chen können, darunter Na- ner Bundesstraße für Lkw sei nicht legal. sten, und statt 20oder 30Stunden Stau ist al- men von Beschuldigten, Zeu- Schommer: Wir denken, schon. Aber zur Si- les in zweieinhalb Stunden erledigt. gen, Opfern und Hinweisge- cherheit könnte eine entsprechende Geset- SPIEGEL: Die FDP wirft Ihnen einen Rück- bern, die in Justizdateien ge- zesnovelle beschlossen werden. fall in sozialistische Zeiten vor. speichert sind. Um dem SPIEGEL: Warum bekämpft Verkehrsmini- Schommer: Wir haben nach der Wende er- Trend zu gläsernen Strafak- ster so vehement Ihre lebt, wieunsereIndustriemituralt-ordolibe- ten zu begegnen, fordert der Pläne? ralen Vorstellungen weggeputzt wurde. Das hessische Datenschutzbeauf- Schommer: Der hat sich offenbar dem Urteil lassen wir uns mit unserer Natur und der ge- tragte Professor Winfried seiner Beamten gebeugt. Aus der Wirtschaft rade wieder wachsenden Wirtschaft nicht Hassemer eine Überarbei- gibt es jedenfalls keine Einwände gegen un- noch mal gefallen. tung des Gesetzentwurfs.

DER SPIEGEL 12/1994 57 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

Ausländerfeindliche Schmierereien: „Wer sich von der öffentlichen Meinung getragen fühlt, tut so etwas“

Prozesse Satire zum Aufrütteln? SPIEGEL-Reporterin Gisela Friedrichsen zu einem Urteil des Landgerichts Hannover wegen Volksverhetzung

inen „Balanceakt des Gesetzge- Andere Gerichte ließen Anklagen gar Mölln näherte sich seinem Ende – verur- bers“ nennt Gerd Geilen, Professor nicht erst zu. Manche Staatsanwalt- teilte ein Amtsrichter in Hannover ei- Efür Strafrecht in Bochum, den Para- schaften brachten darum, wenn sie wie- nen Mann namens Heisig wegen Volks- graphen 130 des Strafgesetzbuchs der einen jener unsäglichen anonymen verhetzung zu einer Geldstrafe von 90 (Volksverhetzung): „Wer in einer Wei- Schmutzzettel mit ausländerfeindlichen Tagessätzen zu 25 Mark. se, die geeignet ist, den öffentlichen Parolen in die Hand bekamen, die Sa- Der Angeklagte hatte eine von ihm so Frieden zu stören, die Menschenwürde che nicht mehr zur Anklage. genannte Informationsschrift per Tele- anderer dadurch angreift, daß er 1. zum Im November vergangenen Jahres – fax an ihm unbekannte Personen ver- Haß gegen Teile der Bevölkerung auf- der Anschlag auf ein von Türken be- sandt, in der das – Gedicht mag man es stachelt, 2. zu Gewalt- oder Willkür- wohntes Haus in Solingen lag gerade nicht nennen – gereimte Machwerk maßnahmen gegen sie auffordert oder 3. fünf Monate zurück, der Prozeß wegen „Der Asylbetrüger in Deutschland“ ent- sie beschimpft, böswillig verächtlich des ausländerfeindlichen Attentats in halten war: „Herr Asylbetrüger, na wie macht oder verleumdet, wird mit Frei- geht’s? Oh, ganz gut, bring’ Deutschen heitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Aids...“Zwei der Empfänger erstatte- Jahren bestraft.“ Volksverhetzung ten daraufhin Anzeige. In diesem Text finden sich einige Be- Dieses Machwerk kursiert in Varian- griffe, die so oder so ausgelegt werden als strafrechtlicher Tatbestand ist ten seit geraumer Zeit in Deutschland. können. In seiner langen und wechsel- nicht so leicht zu definieren. „Die Ju- Zahlreiche Ermittlungs- und Strafver- vollen Geschichte, so Geilen weiter, ha- den sind Untermenschen“ ist Volks- fahren beschäftigten sich schon damit. be der Paragraph 130, der bis zum 6. verhetzung. „Die Rechtsanwälte sind Der Urheber ist nicht bekannt, ein Ver- Strafrechtsänderungsgesetz (1960) noch Rechtsverdreher“ hingegen nicht. treiber war nie auszumachen. Der An- von der „Anreizung zum Klassen- Ein gereimtes Machwerk, das vom geklagte in Hannover behauptete vor kampf“ handelte, „zu einem bunten, „Asylbetrüger“ handelt und von dem dem Amtsrichter, der Text stamme von z. T. bedenklich unbestimmten Sammel- niemand weiß, aus welcher trüben dem Berliner Kabarett „Die Stachel- surium von Tatbestandsmerkmalen ge- Quelle es stammt, beschäftigt seit schweine“. Doch weder dies ließ sich führt“, das die Regelung wenig prakti- einiger Zeit Staatsanwaltschaften belegen noch seine weitere Behauptung, kabel mache. und Gerichte. Verurteilten die Amts- auch bei der CDU könne man das Dafür gibt es Beispiele gerade aus gerichte wegen Volksverhetzung, ho- „Gedicht“ bekommen, es gehe „überall jüngster Zeit zuhauf. Fast schien es die ben die nächsten Instanzen wieder zwischen den Parteien hin und her“. Regel zu werden, daß Schuldsprüche auf. Das Landgericht Hannover hat Der Strafrechtler Geilen nennt Volks- wegen Volksverhetzung in der nächsten jetzt Neues, Grundsätzliches gesagt verhetzung „ein Klimadelikt“. Gerade Instanz, spätestens von den Oberlandes- und gewagt. im vergangenen Jahr, als viele Men- gerichten, wieder aufgehoben wurden. schen den Staat wehrlos wähnten ange-

DER SPIEGEL 12/1994 59 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

sichts einer für sie bedrohlich wirkenden hohen Zahl von Asylbewerbern, fielen ausländerfeindliche Parolen auf einen besonders aufnahmebereiten Nährbo- den: „ . . . komm’ direkt aus Übersee, hab’ Rauschgift mit, so weiß wie Schnee, verteil’ im Sommer wie im Win- ter sehr viel davon an deutsche Kin- der . . .“ Der in Hannover angeklagte arbeits- lose „Elektroniker“ Wolfgang Heisig, 49, hielt das „Gedicht“ für eine Satire – eine „Satire zum Aufrütteln“ gegen die seiner Meinung nach zu lasche Politik, die die drängenden Probleme im Lande nicht oder nur auf dem Rücken der Steuerzahler löse. Und ein bißchen übertreiben, meinte er, müsse man ja schließlich: „Wenn ich nicht überziehe, schmeißt jeder meine Informations- schrift in den Müll.“ Mit seiner Verur- Der Richter bekommt vom Angeklagten aufgeblasene Antworten

teilung wegen Volksverhetzung war er, versteht sich, nicht einverstanden. So kommt die Sache vor die 6. Straf- kammer des Landgerichts Hannover mit Hans-Dietmar Warda, 47, als Vorsitzen- den. Auf Befragen erläutert der Ange- klagte, was er mit seiner Informations- schrift bezwecken wollte: zu einem „Bürgerschutzkomitee“ aufrufen, neue Ideen an „runden Tischen“ aushecken, mit bürokratischer Schwerfälligkeit und gedankenlosem Schlamp aufräumen. Er habe das Gefühl in sich, helfen zu wollen. „Ich möchte eine Elite haben in dem Bürgerschutzkomitee, das kann ein Richter sein oder Hackethal . . .“ Am liebsten möchte er sich mit dem Bundes- präsidenten zusammentun oder mit Bie- denkopf. Mit deren Unterstützung, so meint er, könnte er das Land voranbrin- gen. Ein Rechter sei er im übrigen nicht, im Gegenteil. „Bei mir wäre der ganze rechte Mob schon ausgetrocknet, wenn man mich nur ließe.“ Doch Heisigs Unglück ist es, daß kei- ner etwas von ihm hören und wissen will, daß sich die Menschen allenfalls von ihm gestört fühlen. Richter Warda gibt sich große Mühe mit ihm. Immer wieder fordert er ihn auf, seine Gedan- ken und Absichten zu erklären. Warum er, wenn er nichts mit rechtem Gedan- kengut zu tun habe, seinem Bürgerauf- ruf ausgerechnet ein Pamphlet übelster Sorte aus jenem Sumpf beigefügt habe? Der „Asylbetrüger“: „ . . . muß nicht zur Arbeit, denn zum Glück schafft deutsches Arschloch in Fabrik. Hab’ Kabelfernsehen, lieg’ im Bett – werd’ langsam wieder dick und fett . . .“ Was er sich gedacht habe, als er die Verse versandte: „ . . . zahl’ weder Mie-

62 DER SPIEGEL 12/1994 te, Strom noch Müllabfuhr, das müssen dumme Deutsche nur!!“ Richter Warda fragt den Angeklag- ten auch, welche Lösung ihm denn vor- schwebe bezüglich Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und so fort. Er bekommt hohle, aufgeblasene Antworten, Stammtischgeschwätz wie: Unten errei- che man doch nichts; es gehe nicht mehr lange gut; bald knalle es. Richter Warda zitiert aus dem „Asylbetrüger“: „ . . . auch Zahnarzt, Krankenhaus komplett, zahlt jeden Monat deutscher Depp. Wird deutscher Depp mal Pfle- gefall, verkauft ihm Staat Haus, Hof und Stall. Man nimmt ihm einfach alles weg, schafft 40 Jahr umsonst, der Depp . . .“ Der Angeklagte wird dabei nicht ver- legen, sondern er läßt die Faust auf den Tisch sausen: „Jawoll, genau, der Staat muß Härte zeigen, richtig! Ein Mörder kann hier Millionär werden, damit kann ich nicht leben.“ Der Vorsitzende versucht es noch einmal: „Was denken Sie, wenn Sie schreiben: ,Herr Asylbetrüger, na wie geht’s?‘ und einen Totenkopf dazuma- len?“ „Das machen die ,Stachelschwei- ne‘ auch. Schauen Sie die Werbung an“, winkt Heisig ab, „das nimmt doch keiner wörtlich.“ Warda zitiert noch einmal, eindring- lich, Wort für Wort: „ . . . wenn deut- scher Dummkopf ist gestorben, dann müssen Erben Geld besorgen, denn Deutscher muß bezahlen für Pflege- heim und Grab, was als Asylbetrüger umsonst ich hab’ . . .“ Was hat der An- geklagte sich dabei gedacht? „Wenn ich das Gedicht nicht gehabt hätte, hätte ich es nicht hinzugetan“, antwortet er etwas kleinlauter, um gleich wieder aufzutrumpfen: „Da ha- ben Sie nun natürlich was zu meckern. Das Gedicht ist aber nicht von mir. Ich hab’ es nur genommen, weil es schon bekannt war.“ Oberstaatsanwalt Nikolaus Borchers, 53, vertritt die Anklage. Er setzt sich mit der Person des Angeklagten in nachdenklich-strenger, aber nicht un- freundlicher Weise auseinander. Er sagt sogar: „Es ist immer mißlich, wenn man sich in Gegenwart eines Menschen über dessen Persönlichkeit äußert.“ Er sieht in dem Angeklagten keinen rechtsradikalen Ideologen, sondern eher einen „ambitionierten Wirrkopf“, dem zugute zu halten sei, daß er in ei- ner für ihn immer undurchschaubarer werdenden Welt nicht den Platz gefun- den habe, der für ihn der richtige gewe- sen wäre. „Das ist gar nicht selten, daß solche Menschen meinen, missionari- sche Ideen anbieten zu müssen.“ Parolen und Inhalte, die an ihn her- angetragen werden, gebe Heisig wahl- los weiter. „Das verringert nicht die Gefährlichkeit seines Handelns, aber es

DER SPIEGEL 12/1994 63 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

rung, die zum Lachen reizt. Es ist zum Weinen. Oberstaatsanwalt Borchers: „So, wie es den Adressaten erreicht, soll es einen Aha-Effekt hervorrufen und Emotionen anheizen. Jawohl, so ist es!“ Ohne die „scheinbare Legitimität, die vom ausländerfeindlichen Stammtisch ausgeht“, so Borchers weiter, „wären Anschläge wie in Mölln, Solingen und andernorts nicht möglich gewesen“. Hier würden Assoziationen geweckt im Vertrauen darauf, der Leser verstehe schon, was gemeint sei. „Da wird das Feld bestellt, das hinterher in Gewalttä- tigkeit aufgeht.“ Das Feld, auf dem Gewalt wächst: Und so haben auch ein Augsburger und ein Leverkusener Amtsrichter Ange- klagte, die diesen Text unter die Leute brachten, wegen Volksverhetzung ver- urteilt. Die letzte Strophe ist besonders perfide: „ . . . man sieht, daß Deutscher Vorsitzender Richter Warda ein Idiot, muß auch noch zahlen, wann „Eine Verletzung der Menschenwürde“ ist tot. Ich liebe Deutschland – wo noch auf der Welt gibt’s für Asylbetrug auch verringert die Schuld“, sagte der Ober- noch viel Geld . . .“ staatsanwalt. Am gemeinsten aber ist der Schluß: Immer ist dieser Angeklagte im Lauf „ . . . ist Deutschland pleite, fahr’ ich seines Lebens durchgerutscht, wenn ge- heim und sag’, leb’ wohl, du Nazi- siebt wurde. Zum Dreher wurde er aus- schwein!“ gebildet, mußte aber umschulen, als er Heribert Prantl zitierte in der Süd- es mit den Bandscheiben bekam. Dann deutschen Zeitung das Bayerische Ober- wollte er Elektromechaniker werden, ste Landesgericht, das sich 1993 in einer belegte sogar einen Aufbaulehrgang Festschrift zu seinem 350jährigen Beste- zum Computerservice-Techniker. Auch hen rühmte, „Maßstäbe für die gesamte dies ging vorzeitig zu Ende, als eine Rechtsprechung in der Bundesrepublik langwierige Virus-Erkrankung ihn nie- Deutschland gesetzt“ zu haben. Traurig, derwarf. aber wahr: Das Bayerische Oberste hob Endlich wollte er sich mit einem klei- die Augsburger Verurteilung auf. nen Laden selbständig machen – wieder Denn ein „unbefangener und verstän- ohne Erfolg. Seit sechs Jahren ist er nun diger Durchschnittsleser“ könne den arbeitslos und leidet an der Welt, die „objektiven Sinngehalt des Gedichts“ ihm alle Chancen verweigert. Er leidet nicht als Verleumdung der Asylbewer- so sehr, daß er meint, ihm gebühre der ber empfinden, entschieden die hohen Spitzenplatz unter all jenen, die an der Richter in München. Das Flugblatt spre- Welt leiden. „Wenn ich mit Weizsäcker che schließlich nur vom „Asylbetrug“. ein Bürgerschutzkomitee gründen könn- Sie übersahen dabei, daß solche Texte te, hätten wir alle die Probleme nicht eben nicht nur von „verständigen mehr.“ Durchschnittslesern“ konsumiert wer- Aber da ist nun dieses „Gedicht“. den, sondern auch von alkoholisierten, Keine Satire, keine geistreiche Verzer- labilen, politisch nicht oder falsch infor-

Ausriß aus gefaxtem „Gedicht“: Perfides, gemeines Machwerk

DER SPIEGEL 12/1994 65 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

mierten Jugendlichen, die dann – o mit halbwegs intakter innerer Psyche Wunder – mit Brandflaschen werfen. hier zum Lachen bringen?“ Das sei viel Und das Kölner Landgericht, das das eher Stimmungsmache übelster Art. Leverkusener Urteil aufhob, hielt den „Die Anwendung unserer Gesetze ist Text bloß für eine „geschmacklose auf dem historischen Hintergrund zu se- Übertreibung“. Es sei nicht „in den hen“, fuhr Warda fort. „Wir müssen die Kernbereich der Menschenwürde einge- Sensibilität der Öffentlichkeit sehen. griffen worden“. Die politischen Parteien haben sich des Der Verteidiger des Angeklagten zi- Ausländerthemas bedient, ganze Wahl- tierte in Hannover im Plädoyer auch programme waren davon beherrscht, noch ein Urteil des Amtsgerichts Fulda, über die quälenden politischen Debat- das in Sachen „Asylbetrüger“ ebenfalls ten berichtete die Presse bis zum Über- freisprach. Es hieß in der Begründung, druß – all das fließt inzwischen in den schließlich werde nur dargestellt, wie Tatbestand mit ein. Da muß die Tat in sich Asylbetrüger die Sozialgesetze zu- einem anderen Licht erscheinen.“ nutze machten und die Politik diesem Die individuelle Schuld des Ange- Mißbrauch nicht Einhalt gebiete. klagten hielt das Gericht, wie vorher Das Landgericht Hannover jedoch schon die Staatsanwaltschaft, für gering. schloß sich diesen verharmlosenden, un- Der Angeklagte Heisig wurde nicht in angemessenen Argumenten nicht an. eine linke oder eine rechte Ecke ge- Es bestätigte die Verurteilung wegen stellt. Aber: „Man muß nicht ein Nazi Volksverhetzung. Es bleibt vorerst also sein, um die Menschenwürde anderer anzugreifen.“ Heisig begriff nichts. Er unterbrach „Was soll einen Menschen den Richter: „Unverschämtheit!“ Oder mit intakter Psyche er schrie: „Das ist eine Unterstellung, das mit Adolf und den Juden. Das ist hier zum Lachen bringen“ nicht im Sinne des Erfinders.“ Als näch- ste Instanz darf sich nun das Oberlan- bei den 90Tagessätzen für den Angeklag- desgericht Celle mit ihm und der „Satire ten. Wie Oberstaatsanwalt Borchers er- zum Aufrütteln“ befassen. kannte auch Richter Warda die grund- Es wird über die Entscheidung der sätzliche Bedeutung des Falls und be- Strafkammer in Hannover im Schatten gründete eindringlich. einer Entscheidung des Bundesgerichts- Das „Gedicht“ beschwöre Urängste hofs zu befinden haben. Der hob jetzt der Menschen: die Angst um Leben und ein Urteil über den NPD-Bundesvorsit- Gesundheit der Menschen, die Angst um zenden Günter Deckert als „zu pau- ihre Kinder, die Angst um Wohlstand. schal“ auf, gegen den wegen übler Der Asylbewerber werde dargestellt als Nachrede, Verunglimpfung des Anden- einer, der Besitz, Existenz, das gesamte kens Verstorbener und Aufstachelung soziale System in Deutschland, ja sogar zum Rassenhaß auf ein Jahr Freiheits- das Dach über dem Kopf jedes einzelnen strafe mit Bewährung erkannt worden gefährde. war. Deckert hatte einen Vortrag zu- Am Schluß spiele das „Gedicht“ über- stimmend kommentiert, in dem behaup- dies noch auf eine andere Urangst gerade tet wurde, es habe keine Massenmorde der Deutschen an – ihre Nazivergangen- an Juden in Gaskammern gegeben. In heit. Sie wirke bis heute nach. „Dies alles einer neuen Hauptverhandlung soll nun hat uns bewogen, den Tatbestand des ergründet werden, ob sich Deckert da- Aufstachelns zum Haß anzunehmen – im durch mit der nationalsozialistischen Sinne des Anreizens zu einer emotional Rassenideologie identifiziert hat. gesteigerten feindseligen Haltung.“ Der Strafgesetzparagraph „Volksver- Asylbewerber würden alseine hassens- hetzung“ ist kein gesetzgeberisches Mei- werte Bevölkerungsgruppe auf allerun- sterwerk. Doch besonderer richterlicher terster Stufe dargestellt. „Solchen Men- Energie bedarf seine Anwendung, wenn schen spricht man das Recht ab, in unse- es um die „Auschwitz-Lüge“ oder ein rer Gesellschaft zu existieren. Wir sahen Machwerk wie „Herr Asylbetrüger“ darin eine Verletzung der Menschenwür- geht, eigentlich nicht. Da steht nicht die de.“ Freiheit der Gesinnung und der Mei- Nach Meinung der Kammer gefährdet nung auf dem Spiel. Da wird geheizt, da das „Asylbetrüger“-Machwerk den öf- wird gehetzt. Da wird die Menschen- fentlichen Frieden. Es werde zwar nicht würde angegriffen. Da wird das Klima direkt zu Gewalt aufgefordert. Doch für Taten bereitet, von denen es dann in „man kommt nicht auf die Idee, seinen Strafurteilen heißt, sie seien einer Ge- Nachbarn zu erschießen, nur weil er an- sinnung auf niedrigster Ebene entsprun- deren Glaubens ist. Wer sich allerdings gen. von einer Welle der öffentlichen Mei- Wenn es um „Volksverhetzung“ geht, nung getragen fühlt, der tut so etwas schwebt die Strafjustiz oft hoch über gleichwohl“. dem Feld, auf dem Gewalt nicht hätte Von einer Satire könne nicht gespro- wachsen können, wenn Urteile unmiß- chen werden. „Was soll einen Menschen verständliche Zeichen gesetzt hätten. Y

68 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

keit als Nachweis parlamentarischen Abgeordnete Sparwillens aus. Andere rieten zu mehr Selbstzucht. Spontan faßte das Präsidium zwei Be- schlüsse: Der Antrag der Enquete-Kom- Giftiger mission „Schutz der Erdatmosphäre“, unter Leitung des CDU-Abgeordneten Klaus Lippold für 58 000 Mark Indien zu Urlaub bereisen, wurde abgelehnt. Angeblicher Reisezweck: Bonns Parlamentarier planen wei- Information über die besondere Proble- ter Dienstreisen in ferne matik eines Schwellenlandes mit dem größten Bevölkerungswachstum der Er- Gegenden. Ein Trupp ist in Indien de im Rahmen der Vorbereitung des End- unterwegs. berichts der Enquete-Kommission; Fra- gen der Energieversorgung, zur Bevölke- igentlich wollte Rita Süssmuth mit rungsexplosion und zum Artenschutz. dem Präsidium des Bundestages ei- Das Präsidium konnte nicht erkennen, Egene Reisepläne und die Besuche „wiedas vorgesehene Reiseprogramm im ausländischer Parlamentarier bereden, einzelnen sinnvoll abgewickelt werden die sich für 1994 in Bonn und Berlin an- kann“. gesagt haben. Zweiter Beschluß: Fortsetzung der Doch anstatt konkrete Termine zu Debatte am nächsten Tag. besprechen, vertieften sich die Präsi- Dabei einigte man sich darauf, die Ge- dentin und ihre Stellvertreter Mitte Ja- nehmigungspraxis für die kostspieligen nuar in eine Generaldebatte über „die Auslandsreisen –1993 gab der Bundestag Reisepraxis des Deutschen Bundestages dafür fast neun Millionen Mark aus –bei- und ihr Erscheinungsbild in der Öffent- zubehalten. Um dafür bei den Bürgern lichkeit“, so das vertrauliche Sitzungs- Vertrauen zu wecken, sollten die Reise- protokoll. Anlaß war ein SPIEGEL- berichte der Parlamentstouristen besser Bericht (1/1994) über das Fernweh der kontrolliert und die Ergebnisse der Volksvertreter in Zeiten leerer Staats- Dienstfahrten auf Pressekonferenzen kassen. besser dargestellt werden. Einige aus dem Honoratiorenklub Das war einigen schon zuviel des Re- rieten zu souveräner Gelassenheit: Kri- formwillens. Vizepräsident Dieter-Julius tik einfach ignorieren. Die 15prozentige Cronenberg (FDP) mochte der Idee „nur Kürzung, die Finanzminister Theo Wai- in Form eines Experiments“ (Protokoll) gel für Auslandsreisen im Jahre 1994 zustimmen. verfügt hat, reiche vor der Öffentlich- Dem Vorschlag von Rita Süssmuth, ei- * Mit der SPD-Abgeordneten Gerlinde Hämmerle ne „detaillierte und vor allem inhaltlich im Pekinger Kaiserpalast 1992. begründete Vorlage“ müsse für jeden

Polit-Tourist Klein*: Genaue Begründung „nicht machbar“

70 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

Reiseantrag zu den Akten, widersprach missionsreisen“ auf die historische Bau- ihr Vize Hans Klein (CSU). substanz. Der ehemalige Regierungssprecher, Als habe der Indienfahrer derlei Kritik der vor zwei Jahren durch einen ausge- geahnt – am 1. März faxte das Büro Lip- dehnten Asien-Trip aufgefallen war, pold dem Generalkonsulat in Bombay, hielt eine genaue Begründung für nicht auf der Fahrt nach Ajanta könne „noch „machbar, wenn zum Beispiel der Aus- eine kommunale Einrichtung besucht wärtige Ausschuß relativ kurzfristig eine werden“. Der neue Programmpunkt: Be- politisch notwendige Reise anberaumt“. such eines japanisch-indischen Gemein- So sprechen Experten. schaftsprojektes zur „Förderung von um- Eine Woche nach der Reisedebatte weltverträglichem Tourismus in ländli- meldete sich CDU-Lippold bei Partei- chen Regionen“. freundin Süssmuth am Telefon, ein drei Selbstkritische Anfechtungen sind Seiten langer Brief an die „Sehr verehr- vorbei, das Bundestagspräsidium be- te Frau Präsidentin“ tat ein übriges: Er schloß am 2. März, das Parlament verbit- erhielt Reisegenehmigung nach Indien. te sich in Zukunft jede Kritik an Reise- Bis Ende dieser Woche ist er mitsamt programmen von Abgeordneten durch Ehefrau Inge (auf deren Kosten) und Angehörige des Auswärtigen Dienstes drei Parlamentskollegen sowie drei Wis- vor Ort. senschaftlern dort unterwegs. Nun geht es weiter wie gewohnt. Von Schon haben sich deutsche Diploma- 19 geplanten Ausschußreisen wurden 14 ten gemeldet, die den Trip als „Urlaubs- genehmigt. Fünf Anträge wurden wegen reise auf Staatskosten in Tateinheit mit zeitlicher und örtlicher Überschneidung Vergiftung der Erdatmosphäre“ be- mit bereits genehmigten Trips vertagt, zeichneten. Ihnen fiel auf, daß der darunter – bitter für die Abgeordneten „Programmvorschlag“, den die Bot- des Innenausschusses – ein Ausflug nach schaft in Neu-Delhi und das General- Südafrika, Simbabwe und Namibia. konsulat in Bombay erhielten, auffal- Doch die Wartenden können beruhigt lend viele touristische Attraktionen – sein, Geld ist fürs laufende Jahr noch da. darunter das Taj Mahal in Agra – als Von den 2 567 850Mark für Auslandsrei- Ziele nannte. sen der Ausschüsse, Kommissionen und Ein deutscher Diplomat vor Ort fand Arbeitsgruppen sind noch 1 533 850 zwischen dem Besuch der Höhlen- und Mark übrig. In der Kasse für „Internatio- Tempelbauten von Ajanta und dem offi- nale Zusammenarbeit der Parlamenta- ziellen Reisezweck nur eine Verbin- riergruppen“ stecken sogar noch dung: die Erforschung des zerstöreri- 1 111 100 Mark von ursprünglich schen Einflusses „von unnützen Flug- 1 416 100 Mark im Etat. zeugabgasen unnützer Enquete-Kom- Gute Reise. Y

„Wer mich beleidigt . . .“ Werner Zywietz, 53, FDP-Abgeordneter, reagierte schroff auf Kritik an seiner Reiselust. Der Parlamentarier, so hatte der SPIEGEL (1/1994) berichtet, habe „eine Reise samt Begleiterin nach Mo- sambik so präzise (geplant), daß er die Jahreswende 1993/94 im milden süd- afrikanischen Klima erleben konnte“. Dies alles, so Zywietz, sei falsch und „berufsschädigend“. Er habe „eine Dienstreise als Mitglied des Bundesta- ges weder beantragt noch realisiert“, schon gar nicht „auf Steuerzahlers Ko- sten“: „Wer mich beleidigt, bestimme ich selber!“ Vielflieger Zywietz Zywietz dementiert, was niemand be- Wunschgemäß zu Diensten hauptete. Der Entwicklungshilfe-Exper- te hatte in seiner Eigenschaft als Auf- standen dem Abgeordneten nicht. Für sichtsratsmitglied der Deutschen Ge- sein Ticket und für die Kosten des sellschaft für Technische Zusammenar- dienstlichen Teils des Ausflugs kam beit (GTZ) die Länder Mosambik, Sim- die GTZ auf. Sie wird zu rund 90 Pro- babwe und Südafrika besucht. Das Aus- zent aus dem Bundeshaushalt, also wärtige Amt war ihm vor Ort wunschge- aus Steuermitteln, finanziert. mäß über seine Botschaften zu Dien- Vielflieger Zywietz dient seit Anfang sten. Vor dem Rückflug gönnte er sich 1993 dem Philips-Konzern als Berater. samt Begleiterin einen zweiwöchigen Er scheidet im Herbst aus dem Bun- Urlaub in Südafrika. Flugkosten ent- destag aus.

DER SPIEGEL 12/1994 73 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Militär Die Rache des Kaisers Die Russen räumen ihre Wünsdor- fer Zentrale. Das Schicksal der ein- stigen Schaltstelle des deutschen Militarismus ist ungewiß.

owjetische Soldaten stürmten, am 23. April 1945, eine riesige Bun- Skerfestung im Süden Berlins. Hin- ter meterdickem Beton und sechs Stock- werke tief hatte sich dort, zwischen den Orten Zossen und Wünsdorf, Hitlers Oberkommando des Heeres eingegra- Gemeinsame Luftüberwachung von GUS-Armee und Bundeswehr ben. Das Betonlabyrinth der 4000 Räume Sowjetische Kommandozentrale Wünsdorf: Kaisers Truppe, Hitlers Heer und Rote war gerade geräumt. Im Gelaß des Stabschefs fanden die Eroberer nur noch Morgenrock, Puschen, eine ange- brochene Weinflasche sowie, handsi- gniert, Führers Porträt. Dafür war die Nachrichtenzentrale besetzt. Ein einsamer Diensthabender am Fernschreibgerät hatte soeben die letzte Telexanfrage nach dem Stand der Lage beantwortet („Ausgezeichnet, wie immer“), dann blickte er in die Mün- dung einer Maschinenpistole. Bis zur Eroberung durch Stalins Ver- bände war das Wünsdorfer Gelände die Hauptschaltstelle des deutschen Heeres gewesen. Danach wurde das 5500 Hekt- ar große Areal zum Kommandositz der sowjetischen Streitkräfte in Deutsch- land, deren Nachhut – unter dem Na- men Westgruppe der Truppen (WGT) – bis in die Gegenwart die Stellung hält. Nun ist das Ende der Wünsdorfer Mi- litärgeschichte in Sicht. Bis zum 31. Au- Simulatorkanone für Russen-Panzer, Bunkertür im Betonlabyrinth (u.) gust wird Moskaus Armee aus dem Quartier abziehen. An diesem Zeitplan läßt das Militär auch durch Scharfma- cher im eigenen Land nicht rütteln. Der Wahltriumphator Wladimir Schi- rinowski droht, die Truppenstärke wie- der auf 300 000 Mann zu erhöhen, um Reparationen von Bonn durchzusetzen. Die 24 Prozent Stimmanteil für Schiri- nowski bei den WGT-Truppen deutete der Oberbefehlshaber Matwej Burla- kow gelassen: „In einem freien Staat kann jeder Mensch frei entscheiden.“ So wird das riesige Areal womöglich bald zur Geisterstadt. „Jeder Stein er- zählt Geschichte“, sagt Historiker Ger- hard Kaiser, 60, der früher bei der Na- tionalen Volksarmee der DDR als Offi-

* Gerhard Kaiser: „Sperrgebiet. Die Geheimen Kommandozentralen in Wünsdorf seit 1871“. Ch. Links Verlag, Berlin; 200 Seiten; 54 Mark.

76 DER SPIEGEL 12/1994 zier diente und jetzt eine Wünsdorf- Chronik verfaßt hat*. Kaisertruppen, Reichswehr wie Hit- ler-Armee versteckten hier ganze Gene- rationen von Kriegsplanern im märki- schen Sand und machten den Raum um Wünsdorf zum „Platz mit Deutschlands höchster Militarismus-Dichte je Qua- dratmeter“, so Kaiser. Dort fanden, nach dem Ersten Welt- krieg, Freikorps und Kapp-Putschisten im Kampf gegen die Republik Unter- schlupf. Später drillten auf dem Areal Offiziere des hochadeligen 9. Infanterie- Regiments aus Potsdam (Militärspott: „Graf 9“) SS-Männer der späteren Leib- standarte Adolf Hitler. Die Chronik schildert bizarre Bege- benheiten, die sich in der Festung abge-

„Zeppelin“ Museum der Roten Armee Haupteingang Armee – 120 Jahre Militärgeschichte im märkischen Sand „Maybach II“

„Maybach I“

BERLIN

Zossen Wünsdorf Bahnhof Sperenberg Wünsdorf Jüterbog 20 km „Haus der Offiziere“

ca. 520 m Für die Öffentlichkeit Bunker- gesperrte bereich Durchgangs- straße bebautes Gebiet

GUS-Manöver mit Nebelgranaten, ausrangierter Kommandosaal (u.) spielt haben – von den Kanonen, die Kaiser Wilhelm II. dem König von Afghanistan vorführte, bis zum Test von Wunderwaffen, die Armee-Ingenieure für Kaiser oder Führer entwickelten. Auf den Schießbahnen feuerte der Krupp-Mörser „Dicke Berta“ 42-Zenti- meter-Granaten quer über Dörfer, Fel- der und Straßen auf die Übungsplätze bei Jüterbog – Test für die Bombardie- rung belgisch-französischer Grenzbefe- stigungen im Ersten Weltkrieg. Nicht minder halsbrecherisch verlie- fen Erprobungen mit Vorläufern der Hitlerschen Fernrakete V-2, die ein jun- ger Techniker namens Wernher von Braun im Auftrag der Reichswehr bei Zossen vollführte. Über einen Startversuch am 21. De- zember 1932, den Braun mit einem Be- cher brennenden Benzins auslöste, be-

DER SPIEGEL 12/1994 77 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

Vormarsch der Roten Armee*, Nazi-Rakete A3 in Kummersdorf: Konspiration hinter Beton richtete ein Augenzeuge: „Kabel, Bret- Heeres, über hektische Bauarbeiten: schen Nordkap und Afrika zusammen- ter, Blech, Stahltrümmer und Alumini- „Man kommt nicht einmal mit dem gelaufen waren, nutzten die Russen als um wirbelten pfeifend durch die Luft. Wagen an seine Arbeitsstätte.“ Auch Schaltzentrale für den Warschauer Pakt. Stille. Kabel brannten. Der Prüfstand sei „das Fehlen einer Kantine recht Gelegentlich wurde auch zu DDR- war vollständig zerstört.“ störend“. Zeiten von Wünsdorf aus Geschichte Auch Stalins Generäle waren schon Nach 1945 machten die Sieger aus gemacht. Marschall Iwan Konew, des- frühzeitig Gast bei den deutschen Mili- der Kriegszentrale ein verzweigtes Mi- sen Truppen 1945 die Festung überrollt tärs: Sie konspirierten mit der Reichs- litärstädtchen für bis zu 75 000 Sowjet- hatten, kam 1961 als Oberkommandie- wehr bei der Aufrüstung mit modernem soldaten. Die frühere Heeressportschu- render zurück: Von Wünsdorf aus orga- Kriegsgerät, das den Deutschen durch le wurde zum „Haus der Offiziere“ mit nisierte er den sowjetischen Panzer- den Versailler Vertrag verboten war. Lenin-Statue davor. Und in die Bun- schutz für den Bau der Mauer. Die Sowjets versprachen sich von der ker bauten sich die russischen Kom- Und als Mauerbauer Walter Ulbricht, Zusammenarbeit dringend benötigtes mandanten ihren Befehlsstand sowie zehn Jahre später, gekippt wurde, spiel- militärisches Know-how. eine Luftleitstelle, in die nach der te auch Wünsdorf wieder eine Rolle. Nur Eingeweihte wußten, daß es sich Wende auch Fluglotsen der Bundes- Zeitzeugen vertrauten dem Chronisten bei einem unauffälligen Wünsdorf-Rei- wehr einzogen. Kaiser eine bisher unbekannte Episode senden, der sich „Iwanow“ nannte und Die speziellen Telefonleitungen im an, die 1971 begann. beim Herbstmanöver 1932 dabei war, in Fernmeldebunker Zeppelin, wo einst Damals beklagten Ost-Berliner Polit- Wahrheit um Moskaus stellvertretenden alle Drähte der Hitler-Armeen zwi- Bürokraten und sowjetische Militär- Verteidigungskommissar Michail Tu- chatschewski handelte. In einem Wünsdorfer Bunker schließ- lich half 1940 Generalleutnant Friedrich Paulus, den als „Unternehmen Barba- rossa“ getarnten Überfall des Dritten Reichs auf die Sowjetunion zu planen – Anfang vom Ende des NS-Regimes. Seit Bismarcks Zeiten verband eine schnurgerade, 50 Kilometer lange Mili- tärbahn die Reichshauptstadt mit dem abgeriegelten Waldgebiet, das die Nazis Mitte der dreißiger Jahre für den totalen Krieg aufrüsteten. Die Bunkeranlagen mit den Namen „Maybach I“ und „Maybach II“ und die Fernmeldezentrale „Zeppelin“ wurden in großer Eile in den Boden getrieben, die oberirdischen Zugänge unter dick betonierten Wohnhausattrappen ge- tarnt, die Wege auf Namen wie „Adolf- Hitler-Straße“ oder „Hermann-Göring- Straße“ getauft. Noch unmittelbar vor Kriegsbeginn klagte Eduard Wagner, Generalquar- tiermeister des Oberkommandos des

* Oben: im April 1945 in Brandenburg; unten: in einem Wünsdorfer Kompanie-Schlafsaal. Ehrenbett für toten Soldaten*: Demnächst Disneyland?

DER SPIEGEL 12/1994 79 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

Spitzen unisono den wachsenden Starr- sinn des SED-Chefs. Moskaus Vertei- digungsminister Andrej Gretschko be- fand: „Mit ihm ist nichts mehr zu ma- chen.“ Schließlich verfrachteten die Wüns- dorfer einen führenden Ulbricht-Riva- len, den ZK-Sekretär für Agitation und Propaganda Werner Lamberz, in einer Blitzaktion nach Moskau, wo er mit dem Politbüro der KPdSU einen Machtwechsel erörtern sollte. Lamberz, der sieben Jahre später bei einem Hubschrauber-Absturz in Li- byen unter mysteriösen Umständen ums Leben kam, wurde Ende April 1971 zu einem Treff mit Übernachtung nach Wünsdorf bestellt. Während seine Stasi-Eskorte am Tor kehrtmachen mußte, flog der SED-Mann vom nahe gelegenen Luftstützpunkt Sperenberg mit einer schon startbereiten Maschine in die russische Hauptstadt. Nach sei- ner Rückkehr anderntags verkündete er in Wünsdorf: „Es ist beschlossen.“ Am 3. Mai wurde Ulbricht abgesetzt. Eine zivile Zukunft des Wünsdorfer Monstrums ist, nach 120 Jahren Ar- meegeschichte, noch nicht abzusehen. Die demnächst leerstehenden Flä- chen sollen schnellstmöglich besiedelt werden – sonst würden „die Vandalen aus 200 Kilometer Umkreis einrük- ken“, befürchtet Germanus Pause, Geschäftsführer der brandenburgi- schen Landesentwicklungsgesellschaft (LEG). Doch es fehlt an Wohn-Interessen- ten. Weit und breit gibt es we- der brauchbare Verkehrsverbindungen noch Arbeitsplätze. Das „große natio- nale Konversionsprojekt“ (LEG-Pau- se), das allein wohl das Wünsdorfer Vakuum füllen könnte, ist nirgendwo in Sicht. So drückt die Altlast wie Kaisers Rache auf Brandenburgs ratlose Planer und fördert bizarre Nutzungsideen. Angedacht wurden ein Disneyland so- wie eine zentrale Anlaufstelle für Asyl- bewerber und Wolgadeutsche – Ar- beitstitel: „Welcome in Germany“. Nachdem die Bundeswehr ihr Desin- teresse bekundet hat, die abziehenden Russen zu beerben, wird wohl fürs er- ste ein ganz anderes Heer als Nachnut- zer einrücken – Scharen von Staats- dienern, für die das Land Brandenburg in Wünsdorf den Aufbau von Verwal- tungsstellen plant. Denkmalschützer und Militärfor- scher haben bislang vergebens gefor- dert, wenigstens die historisch interes- santen Kerne des ominösen Jahrhun- dertbauwerks zu erhalten. Das Pro- blem erledigt sich womöglich von selbst: Wenn demnächst die russischen Militärs ihre Pumpen abstellen, er- tränkt das Grundwasser die Komman- dobunker für immer. Y

DER SPIEGEL 12/1994 81 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

eröffnet worden. Per Linienflug schick- Drogen te die Marine die Übeltäter nach Hau- se. Alle beteiligten Berufssoldaten, er- klärt ein Marinesprecher, müßten mit Kiffhäuser Rausschmiß rechnen. Die Wehrdienst- leistenden, die nicht durch eine Entlas- sung belohnt werden sollen, werden für Rekruten strafversetzt in „ruhigere Stützpunkte, wo sie garantiert nichts mehr anstellen Gut zwei Dutzend Rauschgift-Ge- können“. nießer waren auf einem Zerstörer Die Rauschgift-Posse kommt ungele- gen. Das Bild vom bekifften oder be- im Mittelmeereinsatz: Die Bundes- koksten Soldaten paßt so gar nicht in wehr hat ein Drogenproblem. die Pläne von Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU), seine Schützlinge weltweit auf Friedenstour in Krisenre- regattenkapitän Axel Schimpf trau- gionen zu schicken. „Wir haben kein te den Augen seiner Untergebenen Drogenproblem“, wiegelte ein Trup- Fnicht. Seit Wochen fielen dem Kom- pensprecher prompt ab. mandanten des Lenkwaffenzerstörers (CSU), der Wehrbe- „Lütjens“ bei seinen Männern erweiter- auftragte des Bundestages, sieht das te Pupillen auf, süßlicher Duft drang aus anders. In seinem jüngsten, Anfang den Kojen, und mancher Matrose legte des Monats vorgelegten Jahresbericht ein „ungewöhnlich verändertes Verhal- befürwortet er die Ausarbeitung eines ten“ an den Tag. „Drogenpräventionsprogramms“ – eine Erste Ermittlungen brachten Licht Aktion, die reichlich spät kommt. unter Deck des Bundeswehrschiffes, das Der Trend zu Koks und Joint zeich- seit Dezember vergangenen Jahres in net sich seit Ende der achtziger Jahre der Adria kreuzt, um das Uno-Embargo ab, Kasernen wurden immer wieder gegen Rest-Jugoslawien zu überwachen: mal zu Kiffhäusern für Rekruten. 1987 Immerhin 25 der rund 330 Besatzungs- fielen 555 Soldaten wegen Drogenmiß- mitglieder, so wurde publik, haben wäh- brauchs auf, ein Jahr später 563. Die rend des Dienstes Haschisch, Kokain Vorfälle wurden verharmlost. Ein Bun- oder Amphetamine konsumiert – ein in deswehrsprecher erklärte, es handele der Geschichte der deutschen Marine sich meistens lediglich um weiche Dro- einmaliger Vorfall. gen wie Haschisch. Gegen alle Beteiligten, darunter zwei Im März 1990 kam heraus, daß Mili- Unteroffiziere und sieben Zeitsoldaten, tärs auch zu Härterem greifen. 21 sind mittlerweile Disziplinarverfahren Wehrpflichtige des in Schleswig-Hol-

Marinesoldaten beim Umtrunk: Langeweile, Frust und Wut

DER SPIEGEL 12/1994 83 DEUTSCHLAND

stein stationierten Jägerbataillons 512 Weißen Hauses überführt, LSD und gestanden, im Dienst Heroin konsu- Marihuana konsumiert zu haben. miert und Kokain geschnupft zu ha- Wer erwischt wird, fliegt – dieses ben. Prinzip gilt nicht nur bei den Amis. Die Soldaten konnten sich beim Mor- Zwar hat die Kieler Justiz das Verfah- genappell kaum rühren, einige zitterten ren gegen die „Lütjens“-Matrosen ein- so stark, daß sie sich nach dem Gewehr- gestellt, da alle Beschuldigten das reinigen nicht mehr imstande sahen, die Rauschgift nur für den Eigenbedarf be- Waffe zusammenzubauen. „Manch- sorgt hatten. mal“, erklärte ein Rekrut, „waren wir Doch die internen Ermittlungen der schon morgens echt gut drauf.“ Bundeswehr laufen weiter, und auch in Entwaffnet und nach Hause geschickt diesem Fall gilt, daß Berufssoldaten wurden sieben Soldaten, die sich wäh- grundsätzlich gefeuert werden, wenn rend des umstrittenen Somalia-Einsat- ihnen der Konsum illegaler Drogen zes der Bundeswehr beim Schmauchen nachgewiesen wird. von Haschisch-Joints und beim Kauen Die harte Linie ist juristisch abgesi- von Khat-Blättern erwischen ließen. chert. Das Oberverwaltungsgericht Ko- Den Stoff hatten sie bei einheimischen blenz bestätigte im Dezember 1992 die Händlern gekauft. fristlose Kündigung eines Hauptgefrei- Die Khat-Blätter, die Halluzinationen ten, der zugegeben hatte, zehnmal Ha- hervorrufen und „wie Sauerampfer“ schisch geraucht zu haben. schmecken (ein Unteroffizier), waren Kiffen kostete auch einen Stabsun- teroffizier der Zweiten Panzergrena- dierdivision die Existenz. Das Kasseler Drogenproblem Verwaltungsgericht entschied, seine Nummer eins ist noch Entlassung sei „zur Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung“ notwendig immer der Suff gewesen, insbesondere um der Gefahr „der Nachahmung“ zu begegnen. zumeist in einer zweimotorigen Ma- Die Reaktionen zeigen, daß mit schine nach Belet Huen geschmuggelt zweierlei Maß gemessen wird. Denn worden. Ihren Verkaufsposten hatten Drogenproblem Nummer eins ist bei die Dealer, 14- bis 16jährige Somalis, der Bundeswehr nach wie vor der auf der Versorgungsstraße vom Nord- Suff. ins Südlager bezogen. Langeweile und Frust, Wut auf Vor- Ungleich größere Dimensionen als gesetzte und Mangel an Freizeitange- bei der Bundeswehr erreicht der Dro- boten führen dazu, daß sich in den genmißbrauch bei den US-Streitkräf- Kantinen und auf den Stuben allabend- ten. Spätestens seit sich viele GIs ge- lich Tausende von Soldaten mit Bier, gen die Strapazen und Grausamkeiten Wein und Schnaps zuschütten. Würden des Dschungelkrieges in Vietnam mit alle Fälle von Trunkenheit im Dienst Marihuana und Heroin zu betäuben ähnlich hart geahndet wie die Joints pflegten, ist die Drogensucht zum auf der „Lütjens“, wären Luftwaffe, größten Problem der stärksten Streit- Heer und Marine längst auf die Trup- macht der Welt geworden. penstärke der Schweizergarde beim Auch bei Razzien in US-Kasernen Papst geschrumpft. auf deutschem Boden wurden immer Wehrexperten wollen beobachtet ha- wieder große Mengen harter Rausch- ben, daß die Wahl der Droge mit Her- gifte gefunden. Unter den schwarzen kunft, Bildung und sozialem Status der Berufssoldaten, die häufig aus den Ar- Betroffenen zusammenhängt. Faustre- menvierteln von Großstädten wie New gel: Real- und Hauptschüler saufen, York und Los Angeles stammen, ist Gymnasiasten kiffen oder sniffen. die Todesdroge Crack zum beliebten Offen bleibt, wer eine größere Ge- Gift avanciert. fahr darstellt: ein Panzerfahrer, der Immer wieder wird die amerikani- vor dem Einstieg in seinen Tank fünf sche Öffentlichkeit durch spektakuläre Bier trinkt, oder sein Kamerad, der Zwischenfälle schockiert. Ende der fünf Joints durchzieht. achtziger Jahre verurteilte ein US-Mili- Sicher ist: Bei einer „fahrlässig her- tärgericht sieben Soldaten zu Gefäng- beigeführten Verpuffung“ (ein Bundes- nisstrafen, weil sie bei der Bewachung wehrsprecher) auf der „Lütjens“, bei von Atomsprengköpfen im niederländi- der Ende Februar drei Menschen leicht schen Steenwijk zeitweise unter He- und einer schwer verletzt wurden, war roineinfluß gestanden hatten. nicht Haschisch im Spiel, sondern Al- Im August 1991 wurde ein Apothe- kohol. ker der Air Force mit drei Jahren Ge- Soldaten, die nach Darstellung eines fängnis bestraft, weil er während des Marinesprechers „in feuchtfröhlicher Golfkrieges seinen Kameraden zu Auf- Runde“ beisammensaßen, hatten mit putschpillen und Schlaftabletten ver- Hilfe einer Bierflasche eine Art Molo- holfen hatte. Kurz darauf wurden 14 towcocktail gebastelt und zur Explosi- Marinesoldaten der Ehrenwache des on gebracht – „aus Versehen“. Y

84 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

Sterbehilfe „Ich will so nicht mehr leben“ Wie eine Mutter ihre 13jährige Tochter mit Zyankali tötete

as tote Mädchen liegt vor dem Bett sichtig eine Traubenzuckertablette in tötet hat. Ein Motiv liegt auf der im Kinderzimmer. Der Kopf mit den Mund geschoben“ – dort finden sich Hand: Irenes schwere Krankheit. Dden geschlossenen Augen ist nach kleine, weiße Bröckchen. Aber nichts, Sechs Wochen lang hatte sie im Kin- rechts gebeugt. Aus dem leicht geöffne- nichts habe geholfen. derkrankenhaus gelegen, zweimal ten Mund rinnt Flüssigkeit. Der Notarzt kreuzt auf der Todesbe- schon war ihr Zustand so kritisch ge- Es trägt ein lilafarbenes T-Shirt und scheinigung die Rubrik an: „Nicht auf- wesen, daß die Ärzte mit dem ums rechte Hand- und das linke Fußge- geklärt, ob natürlicher oder nicht natür- Schlimmsten rechneten. Nach ihrer lenk feine, dunkle Schnüre mit beson- licher Tod“. Deshalb muß der Leichnam Entlassung blieb Irene in intensiver deren Knoten – Geheimnisse einer obduziert werden. medizinischer Betreuung – mit einem Freundschaft unter Teenies. Mit „Gewißheit“, konstatieren die durchaus beruhigenden Ergebnis. Neben der Leiche stehen eine Flasche Gerichtsmediziner in der ihnen eigenen Schon bald, teilt ein Arzt den Morder- Franzbranntwein, ein drittelgefüllter Nüchternheit, liege eine „Blausäurever- mittlern mit, hätte sich „ihr Zustand Cognacschwenker und eine angebroche- giftung“ vor – pro Liter Mageninhalt stabilisiert, aus unserer Sicht war sie ne Flasche Weinbrand. Irene W., eine analysieren sie 90 Milligramm Cyanid, übern Berg“. Realschülerin aus München, war erst im Blut ein Sechstel dieser Menge. Das Bei der Vernehmung bittet Irenes 13, als sie im November 1986 starb. Sie „oral eingenommene Cyanid“ habe aus- Mutter einen Hauptkommissar, sie litt an Leukämie. gereicht, um den Tod des durch Krank- wolle „mit ihm alleine reden“. „Ich ha- Die Mutter Renate W. ruft die Poli- heit geschwächten Kindes „schnell her- be“, sagt Renate W. leise, als gebe sie zei. Zuerst habe sie an tiefe Bewußtlo- beizuführen“. ein Geheimnis preis, „einen Ab- sigkeit gedacht, vielleicht ein unerwarte- Kein Zweifel: Irene war durch Gift schiedsbrief von Irene gefunden, er ter Penicillin-Schock. „Ich habe ihr die gestorben – Zyankali. war hinterm Kühlschrank versteckt.“ Brust mit Franzbranntwein eingerieben, Den Spezialisten der Mordkommissi- Der Kommissar geht mit in die damit sie wieder zu sich kommt. Dann on im Münchner Polizeipräsidium ist Wohnung. Sie rückt den Kühlschrank habe ich ihr Cognac eingeflößt und vor- schnell klar, daß die Mutter ihr Kind ge- beiseite und zieht einen Zettel hervor,

120 Zyankali-Kapseln ten Gnadentod-Helfer stammte. Ungelöst ist wurden dem früheren Präsidenten der weiterhin der Fall der Deutschen Gesellschaft für Humanes 13jährigen Irene W., die Sterben (DGHS), Hans Henning Atrott, von ihrer Mutter mit Zy- 50, zum Verhängnis. Wegen des Ver- ankali umgebracht wur- kaufs des tödlichen Gifts sowie Steu- de. Kam das Gift von erhinterziehung verurteilte das Land- Atrott? gericht Augsburg Atrott letzte Woche Der Ex-Präsident der zu einer Haftstrafe von zwei Jahren größten deutschen Ster- auf Bewährung. Außerdem muß der Di- begesellschaft will jetzt plompolitologe, der mit Hilfe von Mit- zurück an die Spitze der arbeiterinnen einen schwunghaften DGHS. Noch im Augsbur- Gift-Handel betrieb, 40 000 Mark ger Gericht kündigte Geldbuße zahlen. Atrott an, er werde be- Für das Urteil benötigte die 1. Straf- reits „in vier Wochen“ kammer des Landgerichts Augsburg wieder die Führung der nicht einmal einen Tag. Noch im Ge- DGHS übernehmen. richtssaal verzichteten Staatsanwalt- Angeklagter Atrott Am Mittwoch dieser Wo- schaft und Verteidigung auf eine Revi- Selbsternannter Helfer beim Gnadentod che tritt Atrott vor dem sion. Das Urteil ist rechtskräftig. Landgericht Berlin auf: Ein Deal zwischen den Verfahrensbe- vor einer sich möglicherweise da- Er will die neue Leitung der DGHS we- teiligten hatte eine Erörterung von hinschleppenden Hauptverhandlung gen angeblicher Formfehler bei der rund 40 Akten Material und die Befra- brachte die Richter dazu, sich im Vor- Wahl aus dem Amt klagen. Die Aus- gung von 77 Zeugen überflüssig ge- feld mit den Beteiligten zu verständi- sichten Atrotts sind nicht schlecht. macht. Das Verfahren um den welt- gen. „Der will“, sagt der derzeitige DGHS- weit größten Sterbehilfe-Fall drohte Viele Spuren konnten so nicht Präsident Hermann Pohlmeier, 65, umfangreich, schwierig und somit mehr verfolgt werden. Unklar blieb, „mit Macht seine Firma wiederha- zeitraubend zu werden. Der Widerwille woher das Zyankali der selbsternann- ben.“

86 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

Mitglied bei der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben. Danach rief ein Mann von der DGHS bei ihr an. Der Mann, sagt Renate W. aus, habe sich gemeldet mit „Atrott, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben“. Dann sagte er nach ihrer Erinnerung: „Ich habe Ihre Unterlagen auf dem Schreibtisch lie- gen.“ Sie müsse mit „3500 Mark“ Ko- sten rechnen. „Kommen Sie in die Vorhalle des Ho- tels Riegele, direkt am Hauptbahnhof in Abschiedsbrief des Kindes Irene: Zettel hinterm Kühlschrank Augsburg“, sagt der Mann am Telefon. Als Termin sei der 18. November ver- der zwischen Fußleiste und Wand steck- Als die Beamten eintreffen, über- einbart worden, Punkt neun Uhr. te. Es ist ein Stück Papier, das offenbar reicht ihnen Frau W. ein schriftliches In der Lobby des Hotels, so Frau W. aus einem Schulheft gerissen worden Geständnis: weiter, sei sofort ein Mann auf sie zuge- war, zwei Sätze stehen da in kindlicher kommen: „Wir sollten nicht hierblei- Ich gestehe, daß ich Irene Gift gab Schrift: ben, gehen wir ins gegenüberliegende wegen AML*: 1. Erbärmliche Prognose Postamt.“ Dort habe der Mann sie ange- Ich habe die Nase gestrichen voll! Ich 2. Furcht v. übelsten Krankheiten u. wiesen, sich so „unauffällig wie mög- will so nicht mehr leben, und deshalb Nebenwirkung, wie z.B. Ultralan** 3. lich“ zu verhalten. nehme ich das Super-Medikament ein. Liebe 4. Mit-Leiden u. in Schmerzen Dann seien sie nach draußen gegan- Irene auch psych. nicht verschmelzen kön- gen und hätten sich auf eine Bank ge- nen 5. Nicht sofort gestellt, damit Gi- setzt. Der Mann habe seinen Aktenkof- Alle im Morddezernat wissen, daß es sela*** ein. schöne Tage m. mir fer geöffnet und eine kleine Filmdose ziemlich unwahrscheinlich ist, daß ein hat 13jähriges Kind sich selbst mit Gift tö- herausgenommen. „Ich erklärte ihm, Woher sie das Gift habe, fragt daß ich von der Sozialhilfe lebe und nur ein Polizist. „Ich fand es in mei- 600 Mark dabeihabe.“ Sie habe das nem Briefkasten, in einer Film- Geld auf den Koffer gelegt, der Mann dose verpackt.“ Von wem es sei aber großzügig gewesen: „Er schob stamme? „Unbekannt, ohne mir 100 Mark wieder zurück.“ Absender.“ Schließlich habe er ihr erklärt, wie das Erst bei der Vernehmung im Zyankali aufzulösen sei, und die Wir- Präsidium beschreibt die Mutter kung des Gifts beschrieben – „der Mann Irenes, wie es wirklich war – im- sagte, es dauert anderthalb Minuten, bis mer wieder unterbrochen von der Gehirntod eintritt“. Sie solle nach Wein- und Schreikrämpfen, von ihrer Heimkehr ihre Mitgliedschaft bei Geschluchze und Gestammel. der DGHS sofort kündigen und ihre „Ich habe vor einiger Zeit ei- Tochter veranlassen, einen Abschieds- ne Fernsehsendung gesehen brief zu schreiben. Der Text sei sogar über die DGHS und ihren Präsi- „besprochen“ worden. „Wir waren“, denten, den Atrott“, sagt sie. schätzt Renate W. „etwa 45 bis 50 Minu- „Ich rief dort an und schilderte ten zusammen.“ meine Lage.“ Der Mann am an- Zu Hause nahm sie eine Postkarte deren Ende der Leitung wollte und einen Kuli und schrieb: „Da Sie einen Beweis, daß „Irene an meiner Tochter nicht helfen wollen, Leukämie erkrankt ist – ich kündige ich mit sofortiger Wirkung mei- schickte ihm eine schriftliche ne Mitgliedschaft.“ Diagnose des Kinderspitals“. Dann sagte sie nach eigenen Angaben Wenig später kam ein Auf- zu ihrer Tochter: „Schreib doch einfach Zyankali-Kapsel der DGHS (Polizeifoto) nahmeformular; Renate W. mal auf, wie’s dir jetzt ums Herz ist.“ Tod nach anderthalb Minuten zahlte die Gebühr und wurde Die Mutter gibt vor, was Irene schrei- tet; daß es überhaupt in den Besitz von Zyankali kommen kann. Die Ermittler lassen einen Schriftver- gleich machen – das Ergebnis ist eindeu- tig: Die Schülerin hat die Zeilen tatsäch- lich selbst geschrieben. Am 4. Dezember ruft um 11.50 Uhr Renate W. im Präsidium an. „Ich möch- te Ihnen Arbeit ersparen“, sagt sie „kommen Sie bitte zu mir.“

* Abkürzung für akute myeloische Leukämie: Knochenmarkleukämie. ** Ein kortisonähnliches Präparat. *** Irenes Zwillingsschwester. Geständnis der Mutter: „Ich habe sie gestreichelt und gebetet“

88 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite ben soll. Und das Mädchen formuliert: „Ich habe die Nase gestrichen voll . . .“ Anschließend hören Mutter und Toch- ter die Verdi-Oper „Aida“. Über das Fo- to des spanischen Star-Tenors Placido Domingo auf der Hülle der Langspiel- platte habe Irene gesagt, erzählt die Mut- ter, das Bild sei „bezaubernd schön“. Es sind die letzten Worte des Mäd- chens, bevor ihm die Mutter dasGift gibt. Irene schluckt es – und bricht ein paar Augenblicke später zusammen. Der Tod tritt ganz schnell ein. Renate W. kniet ne- ben Irene und hält ihren Kopf. „Ich habe siegestreichelt und gebetet und gebetet.“ Dann ruft sie die Polizei. Neben die Tote stellt sie die beiden Flaschen und das Glas. Die Polizei taucht auch bei der DGHS auf. Sie findet das Kündigungsschreiben. Auf der Nachricht ist handschriftlich ver- merkt: „Austritt 12/86“. Das Gericht weist Irenes Mutter in eine geschlossene Anstalt ein

Und die Fahnder entdecken Atrotts privaten Kalender. Für den 18. Novem- ber, jenen Tag, an dem Renate W. laut ihrer Vernehmung den Mann von der DGHS getroffen hatte, sind nur zwei Termine eingetragen. Bei neun Uhr steht: „W.“ Atrott wird damit konfrontiert. Ja, gibt er unumwunden zu, die „Schrift im Kalender ist meine“. Aber an einen Ein- trag, „so wie er mir heute vorgelegt wird“, könne er sich nicht erinnern. Au- ßerdem sei ihm „diese Person völlig un- bekannt“, es liege wohl eine Verwechs- lung vor. Zur weiteren Aufklärung kann auch Renate W. nicht beitragen. Der Verneh- mungsbeamte zeigt ihr eine Broschüre der DGHS, auf deren Rückseite acht Porträts abgedruckt sind, darunter das Konterfei des bärtigen Atrott. Irenes Mutter erkennt niemanden – außer dem südafrikanischen Arzt Christiaan Bar- nard, der als erster Mediziner der Welt ein Herz verpflanzt hatte. Der Mann, mit dem sie in Augsburg gesprochen hatte, „trug keinen Bart“. Die Akte wird geschlossen. Am 3. Dezember 1987 weist die 24. Große Strafkammer des Landgerichts München I Irenes kranke Mutter in eine geschlossene Anstalt ein. Sie habe zwar „objektiv den Tatbestand des Tot- schlags“ erfüllt, erklären die Richter, we- gen einer „nicht ausschließbaren Schuld- unfähigkeit“ dürfe sie aber nicht ins Ge- fängnis gesteckt werden. Das Gift zur Tötung ihrer Tochter „besorgte sie sich auf nicht eindeutig zu klärende Weise“, schreiben sie ins Urteil – „möglicherweise bei der DGHS“. Y

92 DER SPIEGEL 12/1994 DEUTSCHLAND

Räumung in Potsdam*, Oberbürgermeister Gramlich: „Hausbesetzern nicht die Innenstadt überlassen“

Hausbesetzer Anwohner und Kommunalpolitiker straße zu ersten Krawallen, bei denen die haben die Aktionen der „Instandbeset- Polizei 36 Teilnehmer festnahm. zer“, wie sich die Aktivisten selbst nen- Die Auseinandersetzungen zwischen nen, zunächst toleriert. Doch der Spiel- Besetzern und Staatsmacht eskalierten, Reges Leben raum für die Alternativen, die einen als Polizisten nach einer Hausräumung Verein „Spaß am Leben e. V.“ gründe- im Februar 60 Demonstranten festnah- Die Stadt Potsdam entwickelt sich ten und in der einstigen Musikschule der men, darunter zahlreiche Jugendliche zur Hausbesetzer-Hochburg. Sowjettruppen eine „Volksküche“ ein- unter 18 Jahren. Bei einer Straßen- richteten, wird enger. schlacht wurden mehrere Polizisten und Sicherheitsexperten fürchten eine Haus-Erben, westdeutsche Investo- Hausbesetzer verletzt, Fensterscheiben neue „Hafenstraße“. ren und konservative Hardliner drängen von Banken und Geschäften gingen zu seit Monaten darauf, das „rege Jugend- Bruch. leben“, so ein Geschäftsmann, zu been- Zu den bislang heftigsten Krawallen n der Lindenstraße ist die Ruhe da- den. Im September kam es nach der kam es schließlich Anfang des Monats, hin. Im Altbauviertel der Potsdamer Räumung einer von den Besetzern ge- als die Polizei eine Demonstration von et- IInnenstadt formiert sich in buntbe- nutzten „Tanzfabrik“ in der Gutenberg- wa 400 Sympathisanten der bunt-alterna- malten Häusern postsozialistischer Pro- test. Ein Tarnnetz der Sowjetarmee ziert das Dach, unter dem Kai, 25, umrahmt von Hunden ohne Halsband und Hun- demarke, gemeinsam mit Freunden al- ternatives Leben probt. Quer über die Straße gespannt, verkündet ein gelbes Transparent das Motto der Szene: „Hausbesetzungen sind kein Problem, sondern die Lösung.“ Das sehen Potsdams Stadtobere ganz anders. Der sozialdemokratische Ober- bürgermeister Horst Gramlich, 55, will „den Hausbesetzern nicht die Innen- stadt überlassen“. Baustadtrat Detlef Kaminski, Vertreter des rechten SPD- Flügels, äußerte gar schon Verständnis für Aufrufe zur „Selbstjustiz“. Anlaß für die Aufregung in der sonst eher beschaulichen Preußenstadt: Seit der Wende haben etwa 200 bis 300 junge Leute in der City und im Villenvorort Babelsberg zahlreiche leerstehende Alt- bauten besetzt. Derzeit sind 20 Gebäu- de in ihren Händen.

* Am 22. September 1993 in der Gutenbergstra- ße. Besetzte Häuser (in der Gutenbergstraße): „Wir können auch anders“

DER SPIEGEL 12/1994 93 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite tiven Szene auflöste. Wieder flogen Stei- ne und zerbrachen Schaufensterschei- ben. Bilanz der Randale: 85Festnahmen, Verletzte bei Polizei und Demonstran- ten. Am darauffolgenden Wochenende schepperte es bei einer Räumung erneut, die Polizei zählte 57 Festnahmen. Die Ausschreitungen haben die Beset- zer Sympathien gekostet, vor allem bei Anwohnern der besetzten Häuser. „Sol- che anarchistischen Zustände sind in ho- hem Maße geschäftsschädigend“, klagt Volker Wegner, 46, Geschäftsführer ei- nes Funk- und Fernsehladens in der Gu- tenbergstraße. Die von Baustadtrat Kaminski verkün- dete „härtere Linie“ ist unter den regie- renden Sozialdemokraten umstritten. Ju- gendstadträtin Hannelore Knoblich hält dagegen: „Allein mit dem Knüppel er- reicht man gar nichts.“ PDS-Fraktionschef Rolf Kutzmutz, 46, der bei den Kommunalwahlen im De- zember mit 45,3 Prozent der Stimmen das Oberbürgermeisteramt nur knapp ver- fehlte, profiliert sich als Vermittler zwi- schen Stadt und Besetzern. Kutzmutz möchte „Konzepte für alternatives Woh- nen“ entwickeln. Selbst Strategen in der Potsdamer Poli- zeiführung suchen nach Alternativen zum Knüppel-Kurs. Verfassungsschützer warnen derweil vor einem Hafenstraßen- Effekt. Die Auseinandersetzung um die Hausbesetzer in der Hamburger Hafen- straße hat in der Vergangenheit immer wieder zu schweren Gewaltausbrüchen geführt. Auch diePotsdamerHausbesetzersind uneins,wieweitsiedie Eskalationtreiben sollen. Die Mehrheit ist nach Einschät- zung der Polizei gegen eine bedingungs- lose Konfrontation. „Randale“, sagt Be- setzer Kai, „ist nicht unsere Linie.“ Der Verein „Barocke Denkmalsanie- rung“, der sich um eine gewaltfreie Lö- sung bemüht, hat für 21 Besetzer bereits ein Ausweichquartier am Stadtrand ge- funden, eine ramponierte Villa. Ein drei- jähriger Nutzungsvertrag soll in dieser Woche unterzeichnet werden. Doch eine militante Minderheit von Autonomen ist an Frieden nicht interes- siert. Sie werden durch Gesinnungsge- nossen aus Berlin-Kreuzberg und der brandenburgischen Provinz verstärkt. Eine „Bewegung 8. Mai“ aus Rathenow hat zu „erbitterter Gegenwehr“ aufgeru- fen. Im Berliner Autonomenblatt Interim drohen Militante: „Wir können auch an- ders.“ Angeheizt wird der Konflikt zudem von einigen Geschäftsleuten, die eine Bürgerwehr gegen die Hausbesetzer auf- stellen wollen. Die könnte gefährlichen Zulauf bekommen: Für das Rambo-Pro- jekt interessieren sich vor allem Schläger aus der mit dem Rotlichtmilieu verfilzten rechtsextremistischen Szene in Pots- dam. Y

96 DER SPIEGEL 12/1994 DEUTSCHLAND

Schüler „Es ist unsere Geschichte“ Zu Zehntausenden strömen Jugendliche in Steven Spielbergs Holocaust-Epos „Schindlers Liste“. Der Film ist in vielen deutschen Schulen Hauptthema im Geschichtsunterricht. Die Kinder der Videogeneration, von klein auf an Horror und Action gewöhnt, sind geschockt: „Die Opfer haben Gesichter bekommen.“

ndlich war sie wieder einmal da, die „um sich in das soziale Hängenetz bei rischen Film, weil ihn ein US-Regisseur Weltpresse, und Berlins Schulse- uns zu legen“. Bubis intervenierte gegen gedreht habe, für „Schrott“ hielt. Enator Jürgen Klemann (CDU) spür- die „Diskriminierung von Armutsflücht- Bis vorvergangenen Sonntag haben te die Gunst der Stunde. „Wir setzen lingen“ – und etliche Schüler verließen 371 482 Zuschauer die Rettung von 1100 heute ein Zeichen für das Klima in die- aus Protest den Saal. Krakauer Juden in den Kinos gese- ser Stadt“, sprach er in Kameras und Klemann, unbeirrt, attackierte die hen. In vielen Großstädten werden je- Mikrofone, die am vergangenen Mitt- FDP („Ihre Partei, Herr Bubis“) und den Vormittag Vorführungstermine für woch im „Filmpalast“ am Ku’damm po- schwatzte über Richtlinien für den Un- Schulklassen angesetzt: stiert waren. terricht – bis eine Schülerin die Selbst- i In Köln, wo der jüdische Schriftsteller Die Zuschauer, 400 Schüler der Mar- darstellung des Rathauspolitikers zu be- Ralph Giordano und Mitglieder der tin-Buber-Oberschule aus dem West- enden suchte: „Wir wollten doch über Synagogen-Gemeinde diskussionsbe- Berliner Bezirk Spandau, schwie- gen. Auch Ignatz Bubis, der Vor- sitzende des Zentralrates der Ju- den in Deutschland, knetete nur stumm die Jackentasche. Denn eigentlich waren sie gekommen, um gemeinsam Steven Spielbergs Holocaust-Melodram „Schindlers Liste“ zu sehen. Exakt zehn Minuten Pause gönnte die Senatsregie den Zu- schauern zwischen Film und De- batte. Dann setzte sich Klemann in Szene und zerredete die Be- klommenheit im Saal: Es stimme ihn „froh, daß in Berlin wieder 10 000 Juden leben“. Bubis, der im Film seine „Vergangenheit zum Teil wieder- gesehen hatte“, wollte vorsichtig wissen, wie „junge Menschen, die das alles nur aus Erzählungen kennen, den Film wahrnehmen“. Doch die Pennäler verharrten stumm. „Ich kann meine Gefühle noch gar nicht in Worte fassen“, brachte eine Schülerin schließlich heraus. Verzweifelt ermunterte Lehrer Peter Mengel, 60, seine Zöglinge, zumindest ein paar vorbereitete Schulklassen als „Schindler“-Besucher*: „Dieses Gefühl, man wird gleich vergast“ Statements zu verlesen: „Olli, du wolltest doch was sagen zur Anti-Ratio- den Film nachdenken, sind wir davon reit sind, war die Matinee am Mon- nalität.“ Doch Olli bekam, im Schein- nicht ein bißchen abgekommen?“ tag dieser Woche ebenso ausgebucht werferlicht, vor lauter Aufregung seine „Schindlers Liste“ ist, vor allem in wie zwei Zusatzvorstellungen für Spickzettel durcheinander, und auch Westdeutschland, seit der Uraufführung Schüler an den beiden folgenden Ta- seine Mitschüler vermochten sich eine am 1. März in allen Oberschulen Haupt- gen. Klassen, die leer ausgingen, Stunde lang nicht zum Film zu äußern – fach. Wenn nötig, geht die Initiative von wurden schriftlich vertröstet. dann endlich wollte einer wissen, ob den Schülern selbst aus – eine Münchner i In Frankfurt am Main sahen allein CDU-Politiker „wegen ihres Asyl- Klasse wußte ihren Deutschlehrer vom vergangenen Donnerstag 700 Schul- Wahlkampfes nicht beteiligt sind am Kinobesuch zu überzeugen, obwohl der pflichtige den Kassenschlager. Seit Aufflammen des Rechtsradikalismus“. Geschichtslehrer den semi-dokumenta- dem 3. März waren es in den Schü- Das Thema passe „hier nicht hin“, lervorstellungen 3000. konterte der Senator, außerdem kämen * Vergangene Woche vor dem Bremer Kino i In Wien kamen am ersten „Schind- „viele Asylanten“ nach Deutschland, „Schauburg“. ler“-Tag über 1000 Schüler, teils mit

DER SPIEGEL 12/1994 97 DEUTSCHLAND

lung, und gut drei Stunden lang war es still wie in einem Sarg. Nur ein halbes Dutzend Schüler ver- mögen unmittelbar danach Eindrücke in Worte zu fassen. Björn Bethe,18, möchte „nicht noch einmal hören, daß einer sagt, er sei stolz, ein Deutscher zu sein“. Constanze Schulz, 17, hat in den Dokumentationsreihen im DDR-Fern- sehen den Genozid an den Juden „so noch nie gesehen“. Sie hofft, „daß das alle Leute, die unsere stramme rechte Szene hier für modern halten, endlich aufrüttelt“. Ein Deutscher, glaubt Tobias Joneit, 18, „hätte diesen Film so nie machen können, der hätte immer versucht, die Nation irgendwie zu rechtfertigen“. Der Name Spielberg hingegen garantie- re, daß sich wohl auch „die Rechten den Film reinziehen“. Doch Neonazis und ihre jungen Mit- läufer meiden „Schindler“. „Es besteht Kino-Diskussion über „Schindlers Liste“*: Eine Stille wie im Sarg in unseren Kreisen kein großes Interes- se“, sagt Christian Worch, Chefideolo- gesponserten Freikarten, ins Garten- Lagerkommandant Göth und Fabri- ge der Hamburger „Nationalen Liste“, bau-Kino; schon nach vier Tagen wa- kant Schindler sind nicht die Vernich- lapidar. ren 20 000 angemeldet – ein Viertel tungsbürokraten aus dem Geschichtsun- Störversuche rechter Kids, wie sie aller Schüler ab 14 Jahren. Eröffnet terricht. Die beiden Nazis genießen, der Rostocker Lehrer Klaus Winkler werden die Aufführungen jeweils von umhüllt von Parfüm- und Tabakwolken, beklagt, sind die Ausnahme: „Mit Pop- Zeitzeugen, unter ihnen der Leiter das Leben von kleinen Leuten, die be- corn und Dosengetränken reichlich ver- des Jüdischen Dokumentationszen- quem reich und mächtig werden, weil sorgt“, beschwerte er sich schriftlich trums, Simon Wiesenthal. sie auf der richtigen Seite stehen – der beim Schulsenat, kommentierten Ju- Der Film werde, glaubt der britische nie sterbende Jugendtraum von der rei- gendliche „in brutalsten Vergleichen Independent, in Deutschland „über Jah- bungslosen Karriere. die Bilddokumente auf der Leinwand“. re für Gesprächsstoff sorgen“. Bayerns Göth lebt brutal vor, was es heißt, auf Ob Razzien, ob Erschießungen, schrieb Kultusminister Hans Zehetmair emp- alle Konventionen, alle Regeln, alle Winkler, „jede Szene erhielt in abge- fiehlt, ebenso wie seine Kollegen in Moral zu pfeifen. Schindler bedient den schmacktester Weise bewußt formulier- Schleswig-Holstein und Niedersachsen, anderen Teil jeder Jugendutopie: der te Abwertungen“. „Schindlers Liste“ als „Bestandteil des Gute, der dem Bösen trotzt, der Immerhin bewirkte die Angst vor Unterrichts anzusehen“. Die Aufforde- Mensch, der das Unmenschliche be- rechten Aufmärschen, daß die neuen rung scheint überflüssig: „Allein wegen siegt. Bundesländer bislang mit „Schindler“- Spielberg“, sagt ein Münchner Schüler, Von Schindler erfahren junge Deut- Kopien unterversorgt sind; letzte Wo- „wäre ich schon reingegangen.“ sche zu einer Zeit, da im Selbstverständ- che lief der Film erst in 13 Städten. Von ihrem Märchenonkel Spielberg nis vieler neuer Nationalbewußter ei- Heinz Hinze, Berliner Filialleiter des erfahren Jugendliche zwei Dinge, die ih- gentlich Schluß sein sollte mit „Vergan- Filmverleihs UIP: „Was wäre gewesen, nen ihre Eltern und Lehrer nicht erzählt genheitsbewältigung“, dem ständigen wenn die Leute bei Erschießungsszenen haben. Sie sehen, daß nicht jeder Nazi „Auschwitz-Gerede“ und ähnlichen hi- laut Beifall geklatscht hätten?“ ein Schwein war. storischen Pflichtübungen. Das Ende Und sie bekommen eine Ahnung von der Nachkriegszeit war ausgerufen, dem Herrenmenschen-Spaß jener Zeit, Deutschland sollte ein Staat wie jeder Warum gibt es der ihre Großeltern zu begeisterten Mit- andere sein. keine Oskar- läufern werden ließ. Schindlers Ge- Spielbergs Film zerrt die Deutschen schichte ist um so glaubwürdiger, weil zurück in die Zeit der „Endlösung“. Er Schindler-Schule? sie der Schöpfer von „E.T.“, „Indiana holt die Geschichte des Tausendjährigen Jones“ und „Jurassic Park“ erzählt und Reiches aus der Abstraktion und wirft Bei Vorführungen des deutschen nicht die Bundeszentrale für politische sie den Nachgeborenen wieder vor die Streifens „Stalingrad“, erinnert sich Bildung. Füße – in West und Ost. Hinze, „wurden Veteranen ins Kino ge- Entsprechend ist die Wirkung bei den Das Rostocker „Capitol“ ist das einzi- schleppt, die waren schon blind und Kindern der Videogeneration. Auch ge Kino in ganz Mecklenburg-Vorpom- taub. Aber mitten im Film standen sie wenn sie sonst Action- und Horrorbilder mern, das „Schindlers Liste“ zeigt. Bis mit einem Mal vor der Leinwand und cool wegstecken können – der Film aus zu zehn Gruppenbuchungen täglich, machten den Hitlergruß.“ der Vergangenheit ihrer Großeltern Schulklassen zahlen pro Karte eine So startete in Dresdens größtem Kino packt sie, weil er wahr ist: „Man kann Mark statt sechs. Am vergangenen Mitt- das Spielberg-Epos mit einwöchiger sich in die Juden total hineinversetzen“, woch nachmittag besuchten 300 Schüler Verspätung. Im 300 000 Einwohner zäh- sagt Agnes Zettelmann, 13, aus Hanno- der Christophorus-Schule die Vorstel- lenden Chemnitz kam es erst vergange- ver, „dieses Gefühl, man wird gleich ne Woche ins Programm. vergast.“ Ihre Klassenkameradin aus Daß auch im Osten, trotz jahrzehn- * Am Mittwoch vergangener Woche im Berliner der 7a der Goetheschule, Kristine Rust: „Filmpalast“ mit Ignatz Bubis (M.), Schulsenator telanger antifaschistischer Erziehung, „Es ist unsere Geschichte!“ Jürgen Klemann. Aufklärungsbedarf besteht, begründen

98 DER SPIEGEL 12/1994 Schüler des Dresdner St.-Benno-Gym- nasiums so: „Von KZs wurde schon er- zählt, aber die Opfer waren Kommuni- sten, nicht die Juden. Wir gehörten zum Widerstand, der Kommunismus war toll, und die Wessis waren alle alte Na- zis.“ Weil die Fragen, die Spielbergs Film den ost- und westdeutschen Jugendli- chen, ihren Eltern und Großeltern stellt, so naheliegend sind und doch so schwer zu beantworten, verfolgt „Schindlers Liste“ die Schüler bis in die Wohnzimmer ihrer Familien. Warum wurde Göth zum Amokläufer im Dienste des Führers und warum Schindler zum Judenretter im Namen der Menschlichkeit? Warum schrien kleine deutsche Mädchen „Juden raus“? Warum gelang es Schindler, sich zu wi- dersetzen, und warum haben Millio- nen andere versagt? Warum haben es die Schindlers so schwer gehabt im Deutschland der fünfziger Jahre und die Göths so einfach? Warum starb Oskar Schindler als Versager und Heinrich Lübke als Bundespräsident a. D.? War- um gibt es keine Oskar-Schindler-Schu- le in Deutschland? Schon einmal, 1979, bewegte ein Film über die Nazi-Greuel die Deutschen auf ähnliche Weise: Bis zu 14 Millionen Zu- schauer sahen die vier Teile der ameri- kanischen TV-Serie „Holocaust“, ob- wohl sie nur von den Dritten Program- men ausgestrahlt wurden. Spontan meldeten sich seinerzeit mehr als 30 000 Anrufer bei der ARD. Über das Medium Fernsehen kam die Nation ins Gespräch. Unterrichtsmate- rialien wurden in hunderttausendfacher Auflage gedruckt, die Kinder der Mit- läufer-Generation politisiert. Mehr Informationen über Nationalso- zialismus und Judenverfolgung verlang- ten damals 62 Prozent der 14- bis 19jäh- rigen. 79 Prozent der bis zu 29jährigen gaben an, Dinge erfahren zu haben, „die sie bisher nicht wußten“. Im Radio war „Holocaust“ das „Leitmotiv der Woche“ (SPIEGEL 5/1979) – die Reak- tionen auf „Schindlers Liste“ deuten auf einen ähnlichen Bewußtseinsprozeß hin. Mit einem Unterschied, wie Michel Friedman vom Zentralrat der Juden in Deutschland meint: Heute fordern die jungen Zuschauer daheim vor allem die Generation ihrer Großeltern zur Aus- einandersetzung heraus, und dies unbe- fangen, weil sie nicht „den Mythos der eigenen Eltern zerstören müssen“. Diese Teenager strömen lärmend in die Kinosäle, als gehe es in die Dino- Show. Doch bald herrscht eine für Schulklassen ungewöhnliche Stille, laute Zwischenrufe und Frotzeleien bleiben meist aus. Vor allem die Figur Oskar Schindlers, „und daß er so viele Juden gerettet hat“, beeindruckt den Wiesbadener Abituri- DEUTSCHLAND

enten Stefan Bruinier, 19. Ist Schindler für ihn ein Vorbild? „Er war ein Aus- nahmefall, er hatte Macht.“ Über Auschwitz habe er Bescheid ge- wußt, aber wie bestialisch die Juden in polnischen Ghettos ermordet wurden, das habe ihm erst Spielberg gezeigt. Ca- rolin Cichy, 18: „Die Opfer haben Ge- sichter bekommen.“ Hollywoods Meistererzähler macht das „Hakenkreuz“, die „SS“, die „Par- tei“ und andere Abstrakta aus dem Ge- schichtsunterricht so lebendig, weil er den Konstruktionsprinzipien seiner Un- terhaltungs-Bestseller treu bleibt. Sein Schindler ist, obgleich authen- tisch, durchaus wesensverwandt mit In- diana Jones: Der Mann fordert das Schicksal heraus und beugt sich keiner noch so großen Übermacht. So wird er für Jugendliche leicht zur Identifikati- onsfigur. Die Nazis sind, mit Ausnahme Inmitten des Entsetzens finden sich Orientierungspunkte

von Amon Göth, dem dunklen, bösen Doppelgänger Schindlers, als dumpfe Spießer leicht erkennbar und laden kei- neswegs zur Nachahmung ein. Die Kinder wirken, wie immer bei Spielberg, tröstlich aufs jüngere Publi- kum – sie erscheinen stets gewitzter als die Erwachsenen und verlieren auch dann nicht ihre Unschuld und Reinheit, wenn sie sich in einer Kloake vor den NS-Schergen verstecken müssen. Daß „Schindlers Liste“ sich an die Er- zählprinzipien von Hollywood hält, das macht den Film nicht verlogen, sondern gibt gerade jungen Zuschauern die Chance, inmitten all des Entsetzens und der Ungeheuerlichkeiten trotzdem Orientierungspunkte zu finden. Was noch dadurch verstärkt wird, daß Spiel- berg am Schluß die Überlebenden zeigt: Die geschichtliche Distanz beträgt noch nicht einmal ein Menschenalter. Und weil gutgemachte Spielfilme immer so wirken, als wären sie pure Gegenwart, arbeitet „Schindlers Liste“ auch allen Versuchen entgegen, die Nazi-Verbre- chen in die historische Ferne zu rücken. Der Schindler aus Hollywood bewegt die Deutschen so, wie es der wahre Schindler nie geschafft hat: Als der Ju- denretter 1967 zum erstenmal auf dem Evangelischen Jugendtag zusammen mit Leopold Pfefferberg öffentlich vorge- stellt wurde, zeigten nur wenige Interes- se am Schicksal des guten Deutschen und seines jüdischen Freundes. „Damals hatten wir noch gehofft, Schindler würde richtig bekannt werden“, sagt der ehemalige Frank- furter Probst Dieter Trautwein, „aber die Zeit war noch nicht reif.“ Y

100 DER SPIEGEL 12/1994 WIRTSCHAFT TRENDS

Entwicklungshilfe Lkw zu verlagern. Die Brum- mis sollen die in Autobahn- Deutsche Pkw für nähe gebauten neuen Fracht- postzentren beliefern. Die deutsche Helfer nachts eingesetzten Postzüge Experten der Deutschen Ge- rollen dann nicht mehr. Der sellschaft für Technische Zu- Umsatz der Deutschen Bahn sammenarbeit (GTZ), die in AG mit der Post (etwa 500 Entwicklungsländern arbei- Millionen Mark jährlich) ten, ärgern sich über eine wird dadurch stark schrump- Anweisung aus ihrer Zentra- fen. Den Absprung des le in Eschborn bei Frankfurt. Großkunden Post hat die Auf Wunsch des Bundesmi- Bahn zum Teil selbst ver- nisteriums für wirtschaftli- schuldet. Schon vor Jahren che Zusammenarbeit ordne- verbannte sie den Transport ten die Eschborner an, daß von Postfracht aus den grundsätzlich nur deutsche Gewerkschaftshotel in Buntenbock schnellen Personenzügen, Kraftfahrzeuge beschafft werden sollen. Das Ministeri- Gewerkschaften teten die Manager zweistelli- um ist der wichtigste Auf- ge Millionenverluste. Der traggeber für die GTZ. „Die IG Metall Verkauf dürfte nicht leicht deutsche Herkunft des Ent- werden. Die Ferienziele wicklungsbeitrages“, so die gibt Hotels auf Hauerskopf und Buntenbock GTZ-Zentrale, werde sonst Die IG Metall ist als Hotel- gelten bei Urlaubern als we- „zu wenig deutlich“. GTZ- betreiber gescheitert: Die nig attraktiv. Zudem müßte Fachleute in der Dritten Welt Gewerkschaft sucht derzeit ein Käufer die Bettenburgen ziehen jedoch Toyota-Gelän- Käufer für ihre Ferienhotels erst einmal umbauen und sa- dewagen den deutschen All- Hauerskopf (Schwarzwald) nieren. rad-Fabrikaten vor. Denn und Buntenbock (Harz). Mit Toyotas sind in Asien, Afrika ihren „Feriotels“, die in Stil Post und Lateinamerika so weit und Aufmachung den Hei- verbreitet, daß auch einhei- men des früheren DDR-Ge- Weniger Aufträge mische Mechaniker sie repa- werkschaftsbundes FDGB rieren können. Für die sehr ähneln, wollte die IG Metall für die Bahn viel teureren Mercedes-Ge- den „Kollegen und Kollegin- Die Briefpost will ihre Bahn- ländewagen dagegen gibt es nen und ihren Familien“ transporte drastisch reduzie- kaum Werkstätten, und die verhältnismäßig preiswerte ren. Das Unternehmen Bahnpost-Verladung „Spielzeuge von Opel oder Quartiere verkaufen. Die alt- plant, einen erheblichen Teil anderen“, spottet ein GTZ- modischen Herbergen aber der Brief- und Paketsendun- weil das Be- und Entladen an Mann in Südamerika, „tau- fanden bei den Werktätigen gen im mittleren Entfer- Haltestellen angeblich zu lan- gen höchstens für den Surf- wenig Anklang. Statt der er- nungsbereich von der Bahn ge dauert. Die Bahntechni- ausflug an die Ostsee“. hofften Gewinne erwirtschaf- auf eigene oder angemietete ker versäumten es, modern- ste Ladesysteme einzusetzen und die IC-Züge für eilige Herbst 1991 stattfinden. Doch Postsendungen zu nutzen. technische Pannen verzöger- ten den Start immer wieder. Schuldner Die größten Probleme berei- tete das computergesteu- Japaner erte Flugkontrollsystem. Die Überwachungsanlage wird rutschen ab von einem britischen Unter- Internationale Banken zäh- nehmen im Auftrag der len das krisengeschüttelte Ja- Daimler-Benz-Tochter Dasa pan nicht mehr zu den zehn und der anderen europäischen kreditwürdigsten Ländern. Herstellerfirmen geliefert. In der jüngsten Rangliste des Kampfflugzeug „Jäger 90“ Doch die Engländer bekamen Fachblatts Euromoney fiel die Software des Steuerungs- das Land vom 1. auf den 13. Rüstung systems nicht in den Griff. Erst im Au- Rang zurück. Ursachen dafür gust vergangenen Jahres war die erste Se- seien die hartnäckige Rezes- rienmaschine des schwedischen Jagdflug- sion, Probleme beim Export „Jäger 90“ hebt ab zeuges „Gripen“ abgestürzt. Der Schwe- sowie politische Risiken. Das In den nächsten Wochen soll der minde- den-Jäger war mit einem amerikanischen höchste Vertrauen bei Kre- stens 90 Millionen Mark teure Kampfflie- Steuerungssystem ausgestattet, das dem ditgebern genießen die USA ger „Jäger 90“ in Manching bei Ingolstadt der Britenfirma ähnlich ist. Anfang 1995 vor Österreich und Luxem- zum Erstflug aufsteigen – mit zweieinhalb- will die Bundesregierung entscheiden, ob burg. Deutschland, nach der jähriger Verspätung. Der geplante Jung- sie das Euro-Kampfflugzeug tatsächlich Vereinigung auf Platz 18 ab- fernflug sollte ursprünglich schon im anschafft. gerutscht, ist auf Rang 9 hochgerückt.

DER SPIEGEL 12/1994 101 WIRTSCHAFT

Konzerne DER ZÖGLING ÜBERNIMMT Daimler-Chef Edzard Reuter hat seine Nachfolge geregelt. Im nächsten Jahr führt Luftfahrt-Manager Jürgen Schrempp Deutschlands größten Konzern. Doch Reuter gibt die Macht nicht völlig aus den Händen: Er wird Vorsitzender des Aufsichtsrats – und weiter seine Vision vom Technologiekonzern verfolgen.

dzard Reuter saß mit zusammenge- eines „integrierten Technologiekon- war für ihn mitunter die Arbeit bei der preßten Lippen auf dem Podium, zerns“ folgt. Schrempp, 49, wird Fehl- Deutschen Aerospace. Kaum hatte er Edie Furchen in seinem Gesicht er- entscheidungen Reuters kaum korrigie- dem Firmensammelsurium von Dornier, schienen noch etwas tiefer als gewöhn- ren können, wenn der als Aufsichtsrats- MBB und MTU eine neue Struktur ver- lich. Unten im Saal beschimpften die chef weiterhin über die Zukunft des paßt, strichen die Politiker wichtige Rü- Aktionäre den Vorstandschef von Nachfolgers bestimmt. Zudem besetzt stungs- oder Raumfahrtaufträge, und Daimler-Benz. Reuter noch einen Posten, von dem er Schrempp mußte von vorn anfangen. „Wenn man, wie bei der AEG, eine Einfluß auf die Geschicke des Konzerns Seine Ungeduld war es auch, die ihn Sanierung in sieben Jahren nicht nehmen kann. Er wird Aufsichtsratschef fast den Daimler-Posten kostete. Vor ei- schafft“, wetterte ein Anteilseigner, im Airbus-Konsortium. nem Jahr konnte Schrempp nicht mehr „soll man es doch bleibenlassen.“ Ein Die Position als Oberaufseher von warten. Noch 1993, so erzählte er da- anderer blies einen Luftballon auf und Daimler verdankt Reuter nicht unbe- mals Vertrauten, müsse der Führungs- ließ ihn platzen: „Das sind Edzard Reu- dingt der eigenen Leistung, ters Visionen.“ sondern einem besonderen Soviel Schmach und Häme mußte lan- Umstand. Hilmar Kopper, ge kein Unternehmensführer mehr über Chef der Deutschen Bank, sich ergehen lassen. Heftiger noch traf sorgt sich um das Renom- Reuter die sachlich vorgetragene Kritik. mee seines Instituts. Wenn Mehr als acht Milliarden Mark hat der die Macht der Banken kri- Konzern unter Reuters Führung ausge- tisiert wird, konzentrieren geben, um die Automobilfirma in einen sich die Vorwürfe stets auf Technologie- und Rüstungskonzern zu die Deutsche. verwandeln. Eingebracht haben die Kopper will die Angriffs- neuen Töchter AEG, MBB und Dornier fläche ein wenig reduzie- bislang aber nur Milliardenverluste. ren. Er hat die Beteiligung Edzard Reuter, einst der Star unter der Deutschen Bank an den Managern, am Boden. Der Mann Daimler-Benz von über 28 der klugen Strategien kläglich geschei- auf 24,9 Prozent verringert tert. So mußte es auf der Hauptver- und wird bald nur noch als sammlung im Mai vergangenen Jahres einfaches Mitglied im Auf- erscheinen. sichtsrat sitzen. Seitdem sind die Schwierigkeiten des Kopper kann dann etwas Konzerns gewachsen, die Kritik an sei- entspannter verfolgen, ob nem Chef ebenfalls. Doch jetzt gelang dem neuen Daimler-Chef Daimler-Chef Reuter: Überraschung vor Dienstschluß Reuter ein Überraschungscoup, den Jürgen Schrempp gelingt, ihm kaum noch jemand zutraute: Er re- was Reuter bislang nicht schaffte: den wechsel vonstatten gehen. Der Kon- gelte seine Nachfolge so elegant, daß er einst hochprofitablen Stuttgarter Kon- zern brauche „neuen Schub“. Nach selbst nach seiner Pensionierung im zern, dessen Gewinne drastisch sinken dem „Strategen“ Reuter müsse nun ein kommenden Jahr den Konzern noch (siehe Grafik), wieder auf Erfolgskurs „Realisierer“ an die Macht. Und da mitsteuern kann. zu führen. kam für Schrempp nur einer in Frage: Hilmar Kopper, der Aufsichtsratsvor- Die Voraussetzungen dafür bringt der Schrempp. sitzende bei Daimler, hat sich mit Reu- Fachhochschulingenieur mit. Für Mer- Daimler-Aufsichtsrat Hilmar Kopper ter darauf geeinigt, daß Jürgen cedes-Benz sanierte er gleich zwei reagierte recht gelassen, als er von Schrempp, bislang Chef der Tochter Problemfälle, die Lastwagen-Tochter dem Vorstoß Schrempps hörte. „Wann Deutsche Aerospace (Dasa), 1995 Vor- „Euclid“ in den USA und die Filiale in die Pferde aus der Box kommen“, sag- standsvorsitzender bei Daimler-Benz Südafrika. Anschließend war er im te Kopper, „bestimme ich.“ Konzern- wird. Doch Reuter, der dann 67 Jahre Stuttgarter Vorstand für Lastwagen ver- chef Reuter allerdings war schwer ver- alt ist, wird sich nicht seinen Hobbys antwortlich, bis ihn Edzard Reuter zum ärgert. widmen und häufiger reiten oder segeln Chef der zusammengekauften Luft- und Reuter hat den nimmermüden Dyna- gehen. Er will den Vorsitz im Aufsichts- Raumfahrtfirmen des Konzerns machte. miker stets nach Kräften gefördert und rat übernehmen, den Kopper räumt. In all seinen Jobs agierte Schrempp nicht erwartet, daß der Zögling seinen Auf diesem Posten kann Reuter dafür wie ein Getriebener, dem nichts schnell Mentor vorzeitig stürzen könnte. Er sorgen, daß sein Nachfolger der Vision genug gehen kann. Um so frustrierender verwarnte Schrempp: Noch ein Vor-

102 DER SPIEGEL 12/1994 stoß dieser Art, und der Dasa-Vorsit- ten, Jagdbomber und Autos hergestellt ger ist mit der Aufgabe der Finanzchefs zende habe seine Karrierechancen ver- werden, durch eine zentrale Holding. überfordert. Hinzu kommen persönliche spielt. Automobilmanager Werner würde Probleme. Lieners ehemalige Lebensge- Der zweite Anwärter auf die Reuter- den einzelnen Konzernfirmen lieber fährtin, der er einen Job als Assistentin Nachfolge, Mercedes-Benz-Chef Hel- mehr Selbständigkeit übertragen. Er lä- bei Daimler-Benz verschafft hatte, trat mut Werner, 57, schien derweil Boden stert schon mal darüber, daß er zur Vor- auf der letzten Hauptversammlung als gutzumachen. Er will die Autofirma mit bereitung auf die Vorstandssitzungen Kleinaktionärin ans Mikrofon und kriti- einer neuen Strategie aus der Krise füh- der Holding gleich zwei Pilotenkoffer sierte die Finanzpolitik hart. Edzard ren. Mercedes bringt drei neue Modell- voller Akten durcharbeiten muß. Reuter und die Vorstandskollegen blick- reihen heraus, ein Stadtauto, einen Frei- Schrempp hingegen versprach, das ten verlegen zur Seite. zeitwagen und eine Großraumlimousi- Unternehmen im Sinne Reuters straff Biszum Wachwechselwill Reuter nicht ne. Eine Autofabrik in den USA, die aus der Konzernzentrale zu führen, und nur den Problemfall Liener lösen, son-

Daimler in der Krise Kennzahlen der 100000 Daimler-Benz AG UMSATZ in Millionen Mark 80000

60000

40000

20000

6809** 0

JAHRES- ÜBERSCHUSS 1782 1702 1795 1942 1451 600

*1993 geschätzt ** durch Neubewertung der Pensions- 8,5** rückstellungen und Vorräte mit den übrigen Jahren nicht vergleichbar UMSATZRENDITE 2,6 2,3 2,0 2,0 1,5 0,6 198788 89 90 91 92 93* Nachfolger Schrempp: Wie ein Getriebener

Mercedes derzeit baut, soll die Abhän- verschaffte sich dadurch einen weiteren dern auch dafür sorgen, daß der Konzern gigkeit vom Dollarkurs verringern. Vorteil vor Werner. Mit der Übernah- das eingesetzte Kapital besser nutzt. Hier Gegen den Automanager sprach nach me des niederländischen Flugzeugbau- hat Reuter Reserven von weit mehr alsei- Ansicht Reuters jedoch, daß Werner, ers Fokker hatte sich Schrempp endgül- ner Milliarde Mark ausgemacht. der zuvor für das Lastwagengeschäft tig qualifiziert. Aufsichtsrat Hilmar Das Geld könnte Reuter helfen, die Bi- von Mercedes verantwortlich war, die Kopper gratulierte ihm: „Sie sind jetzt lanz beim Abgang etwas freundlicher zu Lkw-Sparte nicht richtig saniert hatte. um eine wichtige Erfahrung reicher.“ gestalten. Der Konzernchef, dessen Ver- Unter seiner Führung erwirtschafteten Mit dem Wechsel von Reuter auf trag noch bis Ende 1995 läuft, will auf der die Lastwagenbauer zwar erstmals seit Schrempp werden bei Daimler-Benz Hauptversammlung im Mai 1995 wieder langem einen kleinen Gewinn. Doch gleich eine ganze Reihe weiterer Posten steigende Gewinne präsentieren. Und kaum war die Hochkonjunktur vorbei, neu besetzt. Nachfolger Schrempps an wenn ihm dies gelingt, wird Reuter schon brachte das Lkw-Geschäft wieder hohe der Spitze der Dasa wird sein Finanzvor- bei dieser Gelegenheit die Führung an Verluste. stand Manfred Bischoff. Und der bis- Schrempp übergeben. Schwerer noch wiegt, daß Helmut lang im Konzern für die Finanzen ver- An seiner Vision, dem Technologie- Werner zu erkennen gab, was er von antwortliche Gerhard Liener, dessen konzern Daimler-Benz, aber wird Reuter Reuters Führungskonzept hält. Der Vertrag bis Ende 1997 läuft, muß seinen dann weiterbasteln – vom Posten des Daimler-Vorsitzende steuerte das Rie- Job vorzeitig aufgeben. Aufsichtsratsvorsitzenden aus. Seinen senreich, in dem so unterschiedliche Die Liste der Fehlleistungen Lieners Kritikern kündigte er bereits an: „Der Produkte wie Kühlschränke und Satelli- ist lang. Der einstige Lastwagenmana- Traum ist mitnichten ausgeträumt.“ Y

DER SPIEGEL 12/1994 103 Werbeseite

Werbeseite WIRTSCHAFT

Manager „Naßforsche Gangart“ Interview mit Boehringer-Patriarch Curt Engelhorn über seine Entmachtung

Engelhorn, 67, baute den Pharmakon- meiner Stelle zum Vorsitzenden küren. zern Boehringer Mannheim auf. Vor- Gleichwohl bin ich nicht demontiert. letzte Woche wurde er als Chef des SPIEGEL: Sind Sie nun abgesetzt oder Kontrollgremiums abgesetzt. nicht? Engelhorn: Ich bin weiterhin Aufsichts- SPIEGEL: Sie sind 67 Jahre alt, warum ratschef von Boehringer und habe zu- hängen Sie so an Ihren Ämtern? sammen mit dem Betriebsratschef, der Engelhorn: Mich treibt die Sorge um die im Aufsichtsrat mein Stellvertreter ist, Zukunft des Unternehmens, das ich zu eine Sondersitzung einberufen. Am 6. einem weltweit tätigen Konzern ausge- April fällt die Entscheidung auf der Ge- baut habe. sellschafterversammlung. SPIEGEL: Was sorgt Sie? SPIEGEL: Wer hat denn nun die Macht Engelhorn: Mir mißfällt die naßforsche bei Boehringer? Gangart, die das Management mit dem Engelhorn: Ein Teil der Familie wird Schweizer Max Link vorlegt. Mit zwei sich die Provokation gegen mich nicht sehr teuren Zukäufen in nur wenigen gefallen lassen. Ich benötige nur noch Monaten Amtszeit hat der neue Chef etwas mehr als acht Prozent der Stim- das Unternehmen in men, und die sind mir eine riskante Expan- sicher. sion getrieben. SPIEGEL: Dann müssen SPIEGEL: Sie selbst Link und einige Board- haben Link verpflich- Mitglieder gehen? tet. Engelhorn: Das ist si- Engelhorn: Ich habe cher. Wer seine eige- mich und fühle mich nen Gesellschafter ent- getäuscht. Deshalb machten will, muß die wollte ich so schnell Folgen tragen. wie möglich handeln. SPIEGEL: Die Entschei- In einer anderen gro- dung fällt auf den Ber- ßen deutschen Fir- mudas. Als Sie 1985 ma, der Metallgesell- den Firmensitz in das schaft, fiel das Kind in Steuerparadies verleg- den Brunnen, weil die ten, wurden Sie von Ih- Aufsichtsräte zöger- ren eigenen Leuten als ten. Herr Schimmel- Steuerflüchtling be- busch läßt grüßen. schimpft. Jetzt kämp- SPIEGEL: Haben Sie Kontrolleur Engelhorn fen Sie für deren dem Management zu- „Ich bin nicht demontiert“ Arbeitsplätze. Woher viel reingeredet? kam der Sinneswandel? Engelhorn: Ich nervte die mit bohrenden Engelhorn: Steuern sind Kosten, und Fragen, natürlich. Das nenne ich prakti- wir konkurrieren mit internationalen zierte Kontrolle. Aber die Welt ist doch Firmen, deren Steuerbelastung deutlich eigenartig. Mir wird vorgehalten, was in niedriger liegt. Die Ersparnis ist ja anderen Unternehmen vermißt wird, nicht verloren. Boehringer Mannheim nämlich dem Management ein unange- hat in den vergangenen Jahren rund ei- nehmer Partner zu sein. ne Milliarde Mark für Forschung und SPIEGEL: Im Board, dem Kontrollgremi- Entwicklung ausgegeben. Das haben um, sitzen so honorige Männer wie Ex- auch die Betriebsräte eingesehen, die Bundesbankchef Karl Otto Pöhl. Die ha- anfänglich dagegen Randale machten. ben an Ihrer Demontage mitgewirkt. SPIEGEL: Die Betriebsräte stehen voll Engelhorn: Pöhl ist im Hauptberuf Chef hinter Ihnen, weil Sie ihnen die Mann- der Kölner Privatbank Oppenheim und heimer Arbeitsplätze garantieren. Kri- verfolgt, so glauben auch Teile der Fami- tiker vermuten, Sie wollten mit deren lie, eigene Interessen. Vielleicht will sei- Hilfe die Macht wiedergewinnen. ne Bank bei einem möglichen Verkauf Engelhorn: Ich habe mit denen man- mit dabeisein. Ich bin jedenfalls der An- chen Zoff gehabt. Aber Alter bringt sicht, daß Pöhl sich stillos verhalten hat. auch Erfahrung. In einem Unterneh- Ich wurde zuder Sitzung nicht einmal ein- men stehen nun mal nicht nur Ma- geladen. Ich weiß noch heute nicht, ob sie schinen, sondern arbeiten auch Men- überhaupt stattfand. Pöhl ließ sich an schen. Y

DER SPIEGEL 12/1994 105 WIRTSCHAFT

Trick ist die Lösung: die halbierte Rie- aber traf es Reynolds: In den vergange- Zigaretten senzigarette. nen zehn Jahren sackte der Marktanteil Reynolds, so glauben die Konkurren- von 11,5 auf 6,4 Prozent ab (siehe Gra- ten, hat ein 138-Millimeter-Ding ent- fik). wickelt, mit Filtermundstücken an bei- Weil die Reynolds-Hauptmarke Ca- Feuerwerk den Enden. Der Kunde schneidet den mel Filters mittlerweile nur noch auf ei- Reynolds-Riesen in der Mitte durch und nen Marktanteil von 3,8 Prozent erhält so zwei Zigaretten mit jeweils ei- kommt, ist sie inzwischen aus vielen Au- anzünden nem – vermutlich 24 Millimeter langen – tomaten verschwunden. Etwa 40 Pro- Filter. 45 Millimeter lang ist der Tabak- zent aller Zigaretten aber werden über Auf dem schrumpfenden deutschen strang: Das ergibt genau jenes 69-Milli- Automaten verkauft. Findet ein Camel- Zigarettenmarkt geht meter-Format, das Reynolds derzeit te- Raucher dort nicht mehr seine Lieb- stet. lingszigarette, zieht er sich eine andere. es hart zu. Beginnt ein Preiskampf Bei Fabrikzigaretten, so die steuerli- Viele wechseln dann zu dieser Marke mit Billig-Marken? chen Vorschriften, darf der Tabakstrang über. höchstens 90 Millimeter lang sein. Wenn Mit dem gleichen Problem wie Rey- ein Hersteller an den beiden Enden je- nolds kämpft auch die Hamburger in so kurzes Filterstäbchen gab es weils einen Filter anbringt, hat er eine Rothmans Cigaretten GmbH. Immer noch nie in der Bundesrepublik: Zigarette produziert, die – auch wenn weniger Raucher greifen zur Lord Ex- E„Camel Filters Minis“, 69 Millime- der Kunde später zwei daraus macht – tra, die einst die zweitgrößte deutsche ter lang, seit vergangener Woche im wie eine Zigarette versteuert wird. Zigarettenmarke war. Auch die Lord ist Handel. Eine solche Billig-Marke würde Rey- mittlerweile aus den meisten Automa- Das Experiment der Kölner R. J. nolds einen großen Vorsprung bringen, ten verschwunden. Reynolds Tobacco irritierte die gesamte fürchtet die Konkurrenz. Denn bis die Den weiteren Abstieg versucht der Branche. Die Deutschen haben sich bei anderen Hersteller ihre Maschinen um- britische Konzern vorerst auf gewohnte Filterzigaretten an das 84-Millimeter- gerüstet haben oder Bonn das Schlupf- Art zu lösen: Ende des Monats muß mal

Marktanteile der Marktanteile der Marl- 20,6 Zigarettenhersteller führenden Ziga- boro in Deutschland rettenmarken 1993 HB 8,5 Angaben in Prozent wieder der Mann an der Spitze seinen 1984 1990 1993 West 6,1 Schreibtisch räumen. Mit dem Abgang Sonstige von Walter Brammann, 15 Monate im Reynolds F6 5,2 Amt, haben dann in den vergangenen Brinkmann/ Marlboro zehn Jahren fünf Chefs das Unterneh- Rothmans Lights 5,2 men verlassen. Der häufige Wechsel an der Spitze – BAT Peter 3,9 Stuyvesant bei Reynolds hielt sich Weders Vorgän- ger Peter Barton nur zwölf Monate und Lord Extra 3,8 drei Tage – ist ein Anzeichen für die Reemtsma Nervosität unter den kleineren Herstel- Camel Filters 3,8 lern. Reynolds, so fürchten viele schon Philip Ernte 23 2,2 seit langem, könnte einen Preiskrieg an- Morris zetteln, um den schier unaufhaltsamen Niedergang der Camel zu stoppen. Den größten Markt Europas wird kei- ner der internationalen Konzerne Format gewöhnt; nur gut drei Prozent loch im Tabaksteuergesetz gestopft hat, kampflos räumen. „Bevor die sich vom der Raucher mögen andere Längen, und vergeht einige Zeit. deutschen Markt zurückziehen, zünden zwar die 100-Millimeter-Ausgaben von Reynolds-Chef Hans-Joachim Weder die ein Feuerwerk an“, glaubt Paul Hen- Marlboro, HB und Lord. wiegelt ab: Eine Lang-Zigarette zum drys, Chef der Münchner Philip Morris Warum Reynolds nun eine Kurz-Ver- Durchschneiden wolle er nicht auf den GmbH. sion anbietet, etwas billiger als die nor- Markt bringen. Die 69-Millimeter-Ca- Über den chronischen Mißerfolg des male Camel, und die Minis auch nur mel solle nur „etwas mehr Aufmerksam- Kölner Konkurrenten könne er sich kei- acht Wochen lang verkaufen will, dafür keit“ auf die Marke richten. neswegs freuen, versichert der Reemts- fand zunächst niemand in der Zigaret- Doch diese Erklärung klingt etwas ma-Vorstandssprecher Ludger Staby: tenindustrie eine Erklärung. Dann matt. Gerade bei der Camel, so klagen „Wenn einer in die Ecke gedrängt wird, keimte ein Verdacht auf. die Kölner, sei der Bekanntheitsgrad besteht immer die Gefahr, daß er wild Mit den Kurzen aus Köln, so die Ver- doppelt so hoch wie der Marktanteil. um sich schlägt.“ mutung, bereite Reynolds die Einfüh- Die Spitzenmarke von Reynolds Reemtsma selbst stand einmal in der rung einer neuen Preisklasse vor: ein braucht nicht mehr Aufmerksamkeit, Ecke und begann einen harten Preis- Päckchen Zigaretten für rund 2,70 sondern mehr Käufer. kampf, um sich zu retten. Die Hambur- Mark. Die meisten Marken kosten heu- Auf dem schrumpfenden deutschen ger Traditionsfirma, die in guten Zeiten te 4,75 Mark. Zigarettenmarkt haben von den fünf mehr als die Hälfte aller deutschen Rau- Theoretisch ist das Billig-Angebot gar dominierenden Konzernen alle außer cher belieferte, war beständig abge- nicht möglich. Allein die Tabak- und Philip Morris (Hauptmarke Marlboro) rutscht. Mehrwertsteuer für das übliche Päck- Marktanteile verloren, Reemtsma Als die wichtigsten Reemtsma-Mar- chen mit 19 Zigaretten summieren sich (West) ebenso wie BAT (HB) oder ken Peter Stuyvesant und Ernte 23 in- zu einem höheren Betrag. Ein pfiffiger Rothmans (Lord Extra). Am ärgsten nerhalb eines Jahres jeden siebten Käu-

106 DER SPIEGEL 12/1994 fer verloren hatten und eine 50 Millio- Der Bericht der Brüsseler Kommission nen Mark teure Werbekampagne für die Subventionen über ihren „Kampf gegen den Betrug“ im neue Marke West gescheitert war, senk- Jahre 1993, der diese Woche vorgelegt ten die Hamburger in ihrer Verzweif- wird, ist eine kurzweilige Sammlung sol- lung Anfang 1983 den Preis für ihre cher Fälle. Dort wird beschrieben, wie West. In dunkle mit etwas Raffinesse und krimineller In jenem Jahr verbesserte sich die Energie die Töpfe der Gemeinschaft zu West von Platz 22 auf Platz 5 der Ver- leeren sind. kaufsliste; sie ist heute mit einem Kanäle Da werden 3000 Tonnen Zucker von Marktanteil von 6,1 Prozent die Num- Rotterdam aus kreuz und quer durch Eu- mer 3 (siehe Grafik). Der Preiskampf Mit raffinierten Tricks ergaunern ropa gefahren, angeblich um ihn nach hat die Zigarettenindustrie damals 500 Schwindler Milliarden aus der Kroatien und Slowenien zu exportieren. Millionen Mark gekostet, und seitdem Tatsächlich versickert er auf EU-Märk- sind die Gewinne nicht mehr so üppig, Kasse der Europäischen Union. ten. Der Schaden für die Gemeinschaft wie sie einst waren. summiert sich auf über drei Millionen „Das haben alle noch in sehr guter Er- echsTruppsmitjezweiManndurch- Mark. innerung“, sagt ein BAT-Manager, der kämmten 55 Lagerhäuser in Südita- Angeblich lagerten 50 000Tonnen Oli- nicht an einen neuen Preiskampf glaubt. Slien. Die Brüsseler Spezialisten zur venöl feinster Qualität in italienischen Doch vor allem beim Branchenführer Betrugsbekämpfung hätten über eine Tanks. Als die Kommission vorigen Philip Morris herrscht, wie einer die Million Tonnen Hartweizen finden müs- Herbst ihre für viel Geld angeschaffte Stimmung im Haus beschreibt, „eine sen, gekauft und eingelagert im Auftrag Ware verkaufen wollte, stieß sie auf permanente unterschwellige Angst vor der Europäischen Union. Doch 300 000 merkwürdige Zurückhaltung bei den einem neuen Preiskrieg“. Tonnen des Getreides waren verschwun- Käufern. Marktkenner wußten längst, Bis 1983 hielten die Konzern-Chefs den. was Proben vor Ort belegten. Das Öl war die Preise einträchtig hoch. Doch seit- Da sie gerade in der Gegend waren, in- da, aber es war alles andere als feinste dem ist es vorbei mit der Harmonie, spizierten die Beamten auch noch Zoll- Qualität. Der Schaden: rund 70 Millio- wird „mit harten Bandagen gekämpft“, lager in süditalienischen Häfen. Dort nen Mark. so Staby. sollten fast 600 000 Tonnen Weizen la- Vor allem das komplizierte Agrarsy- Unablässig malträtieren sich die fünf gern, bestimmt für den baldigen Export. stem der Gemeinschaft, für das über die Konzerne gegenseitig mit Abmahnun- Ganze 39 000Tonnenverloren sich in den Hälfte des Etats ausgegeben wird, bietet gen, einstweiligen Verfügungen und leeren Hallen. ein unerschöpfliches Repertoire an Be- Prozessen. Mal lassen sie Philip Morris Der Weizen-Coup lohnte sich für die trugsmöglichkeiten, und es kommen im- gerichtlich untersagen, die Marke L&M diebischen Händler. Sie hatten vorab mit mer neue hinzu. als mild zu bezeichnen; mal muß Hilfe gefälschter Export-Bescheinigun- Die jüngste Agrarreform ist ein gutes Reemtsma wegen sieben einstweiliger gen fast 200 Millionen Mark Subventio- Beispiel dafür, welch unerwünschte Fol- Verfügungen die Einführung der New nen kassiert. gen auch ein vernünftiger Ansatz haben West verzögern. Am Ende der Aktion meldete der kann. Statt den Bauern überhöhte Preise Um einem Konkurrenten das Leben Brüsseler Fahndungschef stolz seinen Er- für ihre Produkte zu garantieren und da- schwerzumachen, um Werbekampa- folg. In einer Woche hatten seine Leute mit die Überproduktion zu fördern, soll gnen zu stören oder den Verkauf neuer Schäden in Höhe von insgesamt 350 Mil- der Landmann direkte Einkommenszu- Produkte zu behindern, entfalten die Ju- lionen Mark für den Haushalt der Euro- schüsse erhalten. Dafür muß er seine Pro- risten der Zigarettenfirmen eine außer- päischen Union (EU) aufgedeckt. duktion beschränken, Flächen brach lie- ordentliche Kreativität. Das merkte zuletzt Rey- nolds. Die Kölner hatten die ersten Mini-Camels noch nicht an den Handel ausgeliefert, da erhielten sie bereits eine Abmah- nung aus München, weil auf der Rückseite jedes Päckchens eine „Mini-Sto- ry“ aufgedruckt ist. Unzulässig, mahnten die Philip-Morris-Advokaten: Sowohl nach der Zugabe- Verordnung als auch nach dem „Beipack-Verbot“ – Paragraph 14, Absatz 2 Ta- baksteuergesetz – dürfe keine Kurzgeschichte auf einer Zigarettenpackung erzählt werden. Darüber streiten sich mal wieder die Anwälte. „Bei uns“, juxt Reemtsma- Chef Staby über das ewige Gezänk, „stehen hinter je- dem Werbemann zwei Juri- sten.“ Y EU-Getreidesilo: Unerschöpfliches Repertoire an Betrugsmöglichkeiten

DER SPIEGEL 12/1994 107 gen lassen oder weniger Kühe pro Hekt- ar halten. Die Versuchung ist groß, Still- legungsprämien für einen Acker zu kas- sieren, den es gar nicht gibt, oder die ei- ne oder andere Kuh zu unterschlagen. Jetzt will die Kommission Tiere und Felder aus dem Weltraum per Satellit kontrollieren lassen. Doch in Deutsch- land mit seinen vielen kleinen Parzellen kann die Luftaufklärung nur mäßigen Erfolg haben. Die jährlichen Berichte der Kommis- sion offenbaren einen Konstruktions- mangel der EU. Brüssel gibt zwar immer mehr Geld aus, aber die Möglichkeiten der Kontrolle bleiben eingeschränkt. Die einzelnen Mitgliedstaaten sind für die Verfolgung und Bestrafung der Be- trüger verantwortlich. Der Wille der na- tionalen Behörden, auf das Geld aus den Eurotöpfen zu achten, ist jedoch äußerst unterschiedlich ausgeprägt. Erst im Maastrichter Vertrag, der im November in Kraft trat, werden die Staaten überhaupt verpflichtet, „zur Be- kämpfung von Betrügereien, die sich ge- gen die finanziellen Interessen der Ge- meinschaft richten“, die gleichen Mittel anzuwenden, „die sie auch zur Bekämp- fung von Betrügereien ergeifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interes- sen richten“. Aber das Strafrecht ist unterschiedlich und dehnbar. „Es gibt ja noch nicht ein- mal“, beklagt vom Europäischen Rechnungshof, „einen einheitlichen europäischen Betrugsbe- griff.“ Griechenland ahndet Delikte, die zum Nachteil des Staates begangen werden, als Verbrechen. So könnte das Land auch Straftaten nach EU-Recht behan- deln, meinen Brüsseler Juristen. „In der gerichtlichen Praxis“, stellten die Euro- Beamten enttäuscht fest, „findet diese Lösung jedoch noch keine Anwen- dung.“ Betrogen wird nicht nur von Vieh- züchtern und Weizenhändlern. Der Strukturfonds, der immerhin schon rund 30 Prozent des Gesamthaushaltes aus- macht, bringt zunehmend auch Politiker in Gemeinden und Regionalverwaltun- gen in Versuchung. Aus dem Fonds werden Investitionen in wirtschaftlich schwachen Gebieten ge- fördert. Geld fließt nur, wenn das Emp- fängerland noch einmal dieselbe Summe in das Projekt steckt. Rechnungsprüfer Friedmann fand heraus, daß es auch anders geht: Zu- nächst wird in Brüssel kassiert, dann zieht sich der Partner mit seinem zuge- sagten Anteil zurück. Weil niemand kontrolliert, „gibt es Fälle“, sagt Fried- mann, „da haben wir mehr subventio- niert, als ausgegeben worden ist“. Er könne nicht ausschließen, so der für den Haushalt zuständige Kommissar , daß jeder zehnte

108 DER SPIEGEL 12/1994 WIRTSCHAFT

Ecu seines inzwischen auf über 70 Milliarden ange- wachsenen Etats in dunk- len Kanälen verschwinde. Eine vom Europäischen Parlament beauftragte Ex- pertengruppe schätzte den Verlust kürzlich auf 15 Pro- zent oder 20 Milliarden Mark jährlich. Die Möglichkeiten, dar- an etwas zu ändern, schei- nen auf lange Zeit verbaut. Ein eigenes Europa-Straf- recht, volles Kontrollrecht des EU-Parlaments, viel- leicht sogar eine begrenzte eigene Rechtsprechung, all das läßt sich nicht durchset- zen. Manchmal allerdings zweifeln selbst die Briten, die jeden Machtzuwachs für Brüssel ablehnen, an ihrem eigenen Grundsatz. Anfang des Jahres amne- stierte die Parlaments- Baustelle in Leipzig: „Soviel Geld kann einfach nicht irren“ mehrheit des sozialisti- schen griechischen Ministerpräsidenten „Schließlich ist das mehr als bloß ein Die 500 000 Leipziger können live Andreas Papandreou ein paar alte Par- neues Messegelände“, sagt Christian- miterleben, wie es vorangeht: Auf über teifreunde. Nikos Athanassopoulos, Albert Jacke, 33, und knipst die Be- 200 Baustellen, private Haussanierun- früher stellvertretender Finanzminister, leuchtung des sechs mal vier Meter gro- gen gar nicht mitgerechnet, werden zur war wegen Subventionsbetruges zu ßen Modells an: „Das ist die Zukunft.“ Zeit mehr als 10 Milliarden Mark in den drei Jahren Haft verurteilt worden und Für Zweifler hat Leipzigs smarter sumpfigen Boden investiert. Weitere 20 mit ihm andere Politiker. Wirtschaftsdezernent nichts übrig. Milliarden sollen projektiert sein. Athanassopoulos sitzt jetzt wieder „Wer glaubt, wir schaffen das nicht“, Das Spekulieren auf den Boom ist in im Parlament, sein ebenfalls verurteil- und damit meint der gebürtige Ostwest- Leipzig Pflicht. Kritiker nimmt Jacke ter und amnestierter Kollege Soulis fale nicht nur den 1,3 Milliarden Mark mit auf die Baustelle und deutet auf das Apostolopoulos wurde sogar Chef der teuren Neubau der Messe, „der ist ko- hektische Treiben. „Damit lassen sich staatlich kontrollierten Bank of Atti- lossal schief gewickelt.“ die meisten überzeugen.“ ca. Leipzig kommt – so heißt der hoff- Nicht wenige Beobachter attestieren Als die Briten davon erfuhren, frag- nungsvolle Slogan der Stadt. Und dar- Stadtplanern wie Bauherren kollektiven ten sie zornig in Brüssel an, was man an glauben offenbar auch viele Investo- Größenwahn. „Soviel Geld“, hält ein denn gegen solche Mißachtung der Ge- ren: Großanleger, Banker und Speku- zugewanderter Bankmanager dagegen, meinschaft durch ein Mitglied tun kön- lanten schaufelten seit der Wende Milli- „kann einfach nicht irren.“ Fast 100 ne. Die Prüfung ergab: nichts. Y arden in die alte Messestadt. Die Bankfilialen und Niederlassungen soll Grundstückspreise explodierten, selbst Leipzig haben. Schrott-Immobilien ließen sich schnell An allen Ecken werden teure Büro- Investitionen und teuer verkaufen. häuser, Hotels und Einkaufscenter Doch zur traditionsreichen Leipziger hochgezogen. Der vermeintliche Auf- Frühjahrsmesse kamen in der vorver- schwung Ost und die enormen Ab- gangenen Woche weniger Besucher schreibungsmöglichkeiten haben Inve- Kollektiver denn je. Der Schau droht die Bedeu- storen offenbar jegliche Vorsicht verges- tungslosigkeit. Auch für die Buchmes- sen lassen. se, die am Sonntag zu Ende ging, sucht Der Bedarf war kurz nach der Wen- Größenwahn die Messegesellschaft noch nach einem de, als die meisten Projekte angescho- überzeugenden Konzept. ben wurden, völlig überschätzt worden. Die Industrie stirbt, doch Leipzig Der Stadt sind nicht nur die Ost- Teure Büros lassen sich nun kaum noch boomt. Gelingt die Wende märkte abhanden gekommen. Von der losschlagen. einstigen Großindustrie sind Hunderte „Die Preise wurden künstlich hochge- zur Dienstleistungsmetropole? Brachen übriggeblieben, aber nur weni- redet“, glaubt Matthias Kiekebusch, 35, ge überlebensfähige Betriebe. Geschäftsführer der GKB Immobilien uf vierspurigen Alleen drängen sich „Kein Grund für Endzeitstimmung“, Management GmbH. „Vor zwei Jahren Hunderte silberfarbener Autos, ein wiegelt Leipzigs Wirtschaftsdezernent waren alle Insider sicher: Der Quadrat- AICE rauscht vorbei, Sattelschlep- ab. Die Stadt könne als Dienstlei- meter Büroraum wird mindestens 45 per rangieren zwischen den Laderam- stungs- und Handelsmetropole auch oh- Mark bringen.“ Heute sind das Phanta- pen der fünf riesigen, nüchtern quadra- ne große Industrie überleben. Jacke siepreise. tischen Hallen. setzt auf die Psyche: „Die Region lebt Seit Monaten sucht Kiekebusch nach Die Szenerie wirkt gigantisch, selbst von ihrem Ego.“ Zumindest das scheint Mietern für den 20 000 Quadratmeter im geschrumpften Märklin-Format. intakt. großen Industriepalast aus der Gründer-

DER SPIEGEL 12/1994 109 WIRTSCHAFT zeit (Eigenwerbung: „Eine der besten händler und Präsident des Bundesliga- legschaft von 2700 auf rund 400 zusam- Adressen in Leipzig“). Doch trotz gro- klubs VfB Leipzig, Siegfried Axtmann, mengestrichen. ßer Zeitungsanzeigen ist in dem mon- 34, voraus. Viele haben ihre Grundstük- Von den insgesamt rund 100 000 Ar- strösen Kasten gleich hinter dem Bahn- ke zu teuer eingekauft. beitsplätzen in der Industrie sind gerade hof noch einiges frei. Ohne Produktion wird es keine noch 20 000 geblieben; ein Großteil da- Um das Investment muß der Bauherr, Dienstleistungen geben. Da ist sich von wackelt. die Berliner Grundkredit Bank, den- Franz-Josef Pröpper, früherer Bürger- „Wir würden ja 500 Millionen für In- noch nicht bangen: Die rund 150 Millio- meister von Neumünster und jetzt in dustrieansiedlung ausgeben“, sagt Wirt- nen Mark für den noch eingerüsteten, Diensten des internationalen Beratungs- schaftsdezernent Jacke. „Aber wo sind unter einer grünen Plane versteckten unternehmens Price Waterhouse, si- denn Betriebe?“ Prachtbau sind über einen Fonds an wil- cher. „Etwas anderes zu glauben wäre Lediglich einen nennenswerten Neu- lige Anleger verteilt. naiv.“ ling gibt es in Leipzig: die Eisengießerei Sein eigenes Geld riskiert der hessi- Leipzigs Industrie, der wichtigste Schubert & Salzer. Sie übernahm einen sche Immobilienhändler Jürgen Schnei- Nachfrager für Dienstleistungen, ist zu- Teil der liquidierten Gisag, wo früher der. Wie ein Zocker beim Monopoly sammengebrochen. Früher war die Stadt 8000 Arbeiter vor allem Ketten für rus- hatte er im gerade einen halben Qua- nicht nur Messeplatz, sondern noch vor sische Panzer herstellten. dratkilometer großen und entsprechend Chemnitz das Zentrum der ostdeutschen „Hätten wir uns nicht interessiert, teuren Innenstadtring gekauft, was zu Metallindustrie. Allein auf dem relativ hier wäre wohl alles eingestampft wor- kriegen war. kleinen Stadtgebiet gab es 44 Betriebe den“, meint Geschäftsführer Arnold- Möglicherweise hat sich der forsche mit jeweils über 2000 Beschäftigten, im Jürgen Kawlath, 56. Allerdings war der Schneider verspekuliert. In der Mädler- Großraum noch einmal so viele. Umzug nach Sachsen auch für das baye- rische Unternehmen ein Glücksfall. Das veraltete Stammwerk lag mit- ten in Ingolstadt und hätte ohnehin zuge- macht werden müs- sen. In Leipzig schaffen jetzt 250 gut ausgebildete Fachar- beiter mit modern- ster Technik soviel Umsatz wie vorher rund 500 bayerische Metaller. Ein lohnendes Geschäft: Knapp 91 Millionen Mark wer- den investiert, mit rund einem Drittel ist der Steuerzahler dabei. Dennoch beschlei- chen den Unterneh- mer manchmal leise Zweifel, „ob wir hier langfristig das pas- sende Umfeld ha- Altbau in Leipzig, Wirtschaftsdezernent Jacke: „Kolossal schief gewickelt“ ben“. Abnehmer im Osten gibt es nicht. Passage etwa, einem der berühmtesten Mit Einführung der Marktwirtschaft Die alten Industriestrukturen sind ka- Messehäuser der Stadt, sackten die ge- und durch den Verlust der GUS-Märkte putt, neue nicht in Sicht. Trotzdem glau- forderten Büromieten innerhalb einiger kam für die großen Gießereien ebenso ben die meisten Leipziger fest an ihre Monate von 70 auf jetzt gerade noch 35 schnell das Aus wie für den Schwerma- Stadt – solange nur gebaggert und ge- Mark pro Quadratmeter. schinen- und Anlagenbau. Heute sind baut wird. Dabei kommen die meisten Gewerbe- die meisten Betriebe verschwunden. Doch in zwei, drei Jahren sind die objekte, ob saniert oder neu gebaut, erst „Vom Rest werden noch mehr auf die Milliardenprojekte gelaufen. „Bis dahin in den nächsten beiden Jahren auf den Schnauze fallen“, glaubt Jochen Klet- müssen die Weichen gestellt sein“, Markt. „Dann wird es schwierig“, pro- zin, 41, erster Bevollmächtigter der IG warnt Price-Waterhouse-Berater Pröp- phezeit Kiekebusch. Der Industriepalast Metall in Leipzig. „Ein Ende ist nicht in per. Kleine innovative Unternehmen soll bis dahin voll sein. Sicht.“ sollten gefördert werden, etwa in der Nach einer Schätzung der Immobi- Selbst die Großen, etwa Siemens oder Medizintechnik. Es bleibe, so Pröpper, liengesellschaft Jones Lang Wootton die Mannesmann-Tochter Hartmann & „nur der mühsame Weg, einen Mittel- kommen in Leipzig in den nächsten zwei Braun, bauen weiter ab; und die Klei- stand aufzubauen“. Jahren 900 000 Quadratmeter neuer Bü- nen, so der Westimport Kletzin, „über- Wirtschaftsdezernent Jacke hofft, daß roraum auf den Markt. Der Bestand leben nur durch Selbstausbeutung“. die Baumilliarden nicht verpuffen. wird sich damit bis Ende 1995 fast ver- Um die Restbetriebe der Treuhand Schließlich seien „die Investitionen doch doppeln. „Hier gehen reihenweise Bau- steht es nicht besser. Beim Schwerma- kein Selbstzweck“, sagt er trotzig. „Hier träger krachen“, sagt der Immobilien- schinenbau Kirow etwa wurde die Be- wird ganz sicher weitergearbeitet.“ Y

110 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite WIRTSCHAFT

Was Banken heute treiben, erinnert Laien eher an „Wetten, daß“ als an herkömmliche Geldgeschäfte: Wetten, daß der New-York-Ak- tienindex im nächsten März 50 Punkte unter heutigem Stand sein wird! Andernfalls zahle ich . . . Im Auftrag von seriö- sen Banken und tollküh- nen Spekulanten tür- men Geldtechniker Op- tionen – also vertragli- che Rechte, etwa Wert- papiere oder Währun- gen zu kaufen – auf Op- tionen für diese Optio- nen, bewegen dabei Milliarden, ohne die entsprechenden Wert- papiere oder Devisen Terminhändler in New York: Sagenhafte Gewinne und gigantische Risiken jemals haben zu wol- len. Von 1987 bis 1991 verfünffachte sich Finanzmärkte das Volumen der zumeist zwischen Ban- ken und über Landesgrenzen gehandel- ten Kunst-Finanzprodukte. Ende 1993 summierten sich die Posten aus laufen- „Der GAU ist möglich“ den Geschäften auf zehn Billionen US- Dollar, selbst für Bankier Kopper „eine Rund um den Globus jonglieren Banken und Großanleger mit Tausenden unvorstellbar hohe Zahl“. Für 3580 Milliarden Mark – das ist von Milliarden. Immer raffiniertere Finanzinnovationen heizen das Ge- fast achtmal soviel wie der Bundeshaus- schäft an. Gewaltige Gewinne locken, die Risiken werden verdrängt: Die halt – kursierten Mitte vorigen Jahres Derivate bei oder von deutschen Ban- neue Spekulationswelle kann die Finanzmärkte ins Chaos stürzen. ken. Dazu kommen an ähnlichen, aber schon seit längerem erprobten Devisen- echs Schirme hat der Frankfurter tums- und Profitraten beschert und was termingeschäften weitere 2512 Milliar- Wertpapierhändler ständig im doch selbst den Bankvorständen nicht den Mark. Zusammen, so die Deutsche SBlick. Links und rechts bei den ganz geheuer ist: mit Derivaten. Bundesbank, entspricht das „90 Prozent Aktien – hie Dresdner Bank, da Sie- Was ihn am meisten sorge? Spontan des Geschäftsvolumens aller deutschen mens AG – passiert wenig; das Ge- antwortet Deutsche-Bank-Chef Hilmar Banken“. Und in der Bilanz ist davon, schäft läuft in der Mitte. Kopper mit einem Wort: „Derivate.“ weil rechtlich nicht vorgeschrieben, kei- Ohne Vorwarnung schieben sich Zei- Das Wort elektrisiert weltweit No- ne Spur. len mit Kursen, Daten und Spezifika- tenbanker, es treibt Finanzminister um Werden in der Statistik die kleinen tionen in die Computertabellen; andere und beschäftigt die internationale Ban- Kreditgenossenschaften und Sparkassen springen, genauso plötzlich, aus dem kenwelt wie kein anderes Thema. nicht berücksichtigt, die bei solchen Ge- Bild. Was der Händler über das welt- Es geht um Tausende von Milliar- schäften in der Regel nicht dabei sind, weite Rechnernetz der Banken offe- den, um sagenhafte Gewinne und um dann übersteigen die Umsätze mit Deri- riert, Verkaufsangebote seiner Bank zu gigantische Risiken. Doch außerhalb Mindestpreisen und Kaufgesuche mit des elitären Geldzirkels weiß kein fixierten Höchstbeträgen, findet ir- Mensch so recht, wovon die Rede ist. Kühne Spekulanten gendwann ein Echo. Wieder eine Zeile Die Kursakrobaten der Börsen von Derivative Geschäfte deutscher Banken weg. New York, Tokio oder Frankfurt, die in Prozent des Geschäftsvolumens; Irgendwo auf der Welt taucht sie Zins- und Währungstechniker in den Stand Ende Juni 1993 wieder auf, vielleicht in New York, Spezialabteilungen der Großbanken, Quelle: Bundesbank vielleicht in Tokio. „Ich weiß es nicht, die Schwarzgeldanleger auf den Antil- Großbanken 182,8 die Käufer bleiben anonym“, sagt der len und Bahamas gebrauchen das Wort 35jährige vor den Computerschirmen als Sammelbegriff für Hunderte von und zuckt die Achseln: „Der weiß ja Arten und Abarten hochkomplizierter Privatbanken 120,5 auch nicht, von wem er gerade gekauft Geldgeschäfte. hat.“ Caps und Collars, Swaps und Swap- Neben, vor und hinter ihm, in langen tions, Floors und Futures heißen die Regionalbanken 109,8 Reihen, sitzen fast 300 Kollegen vor neuen Spekulationsgeschäfte. Da wird gleichartigen Computerschirm-Batte- mit den Zinsen vom nächsten Jahr ge- Sparkassen 1,7 rien. Sie alle handeln mit dem, was den handelt oder mit Deutschmark und Banken die derzeit höchsten Wachs- Dollar, die keiner hat.

112 DER SPIEGEL 12/1994 vaten das Normalgeschäft der Geld- häuser deutlich. 182,8 Prozent des Be- trages, der in ihren Bilanzen ausgewie- sen ist, setzen die Großbanken noch einmal, sozusagen heimlich, mit Deri- vaten um (siehe Grafik). Und der Markt wächst weiter. Die letzten beiden Jahrzehnte des 20. Jahr- hunderts, davon ist Alexandre Lamfa- lussy, Präsident des Europäischen Währungsinstituts, überzeugt, gingen „als Zeit der finanziellen Revolution“ in die Geschichte ein. Revolutionen sind freilich nicht ohne Risiko. Die Kreditrisiken aus Derivaten, warnt der für die Bankenaufsicht zu- ständige Direktor der Bank von Eng- land, Brian Quinn, könnten ähnliche Die Pleite eines Geldhauses reißt andere mit

Probleme schaffen wie die Schulden- berge der Entwicklungsländer vor eini- gen Jahren. Kettenreaktionen wie beim weltweiten Börsencrash 1987 fürchtet der Präsident der New York Federal Reserve Bank, William McDo- nough. Weil die Banken das riskante Ge- schäft immer weiter ausbauen, wächst die Gefahr, daß die Pleite eines Geld- hauses viele andere mitreißt. „Dann schwappt das Risiko auf die Börsen, von dort auf die Wechselkurse und da- mit in die reale Welt“, sorgt sich auch Horst Köhler, der Präsident des Deut- schen Sparkassenverbandes. Köh- ler: „Der GAU ist durchaus mög- lich.“ Die „vermutlich größte aktuelle Be- drohung des globalen und immer en- ger verflochtenen Weltfinanzsystems“ (Handelsblatt) hat allerdings auch viele Vorteile. Derivate, so Kopper, „ma- chen die Kapitalmärkte der Welt aus- tauschbar, machen aus langen kurze und aus kurzen lange Kreditlinien. Sie schaffen, wovon wir früher nur träu- men konnten“. Manche dieser „Finanzinnovationen“ (Bankenjargon) wurden entwickelt, um Zins- oder Währungsrisiken zu vermin- dern, andere sollen schwerfällige Ak- tientransaktionen erleichtern, deren Kosten senken und dazu noch die Li- quidität des Käufers schonen. Das Derivat entkleidet die Aktie der für viele Anleger völlig uninteressanten Eigentumsrechte, reduziert das altehr- würdige Papier auf die pure Chance, Kursgewinne einzufahren – oder auf das Risiko, Verluste zu machen. So bieten Derivate geradezu ideale Anlageformen: Der amerikanische Pensionsfonds, der seine Milliarden zur

DER SPIEGEL 12/1994 113 Werbeseite

Werbeseite WIRTSCHAFT

Krisenabsicherung über verschiedene „Große Risiken“ sind zwar für den Währungen, Märkte und Anlageformen zuständigen Unterabteilungsleiter im 3600 Termingeschäfte streut, kann in Frankfurt für viel Geld Finanzministerium Joachim Henke insgesamt Siemens-, Daimler- oder Hoechst-Ak- „nicht in Sicht“. 3300 tien kaufen. Er kann sich aber auch, Aber das sieht die Bundesbank ganz preiswerter und viel breiter gesichert, an anders. Durch den massenhaften Ein- 3000 den Dax, den Deutschen Aktienindex, satz von Derivaten, so die Analyse der hängen – mit festen Verträgen, den Fu- Frankfurter Notenbank, hätten sich die tures, oder mit Kaufoptionen. Finanzmärkte verändert: Sie seien 2700 Steigt der Dax, wird die Option wert- noch enger verflochten und krisenan- voller, sinkt die Stimmung an den deut- fälliger geworden. 2400 Riskantes schen Börsen, verliert die Option – die In ihrem spröden Finanz-Deutsch Spiel beschreiben die Hüter der Deutschen 2100 Bilanzunwirksame Mit einem Schlag ein Mark, was passieren kann: „Bei einem Geschäfte deutscher Ausfall eines großen Marktteilnehmers 1800 Banken; höchst riskantes oder bei gravierenden Marktstörungen jeweils Quartalsende ist nicht sicher, ob Deckungs- oder Er- in Milliarden Mark Spekulationsmedium satzgeschäfte auf den derivativen 1500 Märkten noch möglich sind.“ Das genauso gehandelt wird wie ihre Be- heißt: Bricht eine größere Spekulation 1200 zugspapiere – an Glanz. Im schlimmsten zusammen, kann es zu einer Kettenre- Optionen Fall wird sie wertlos: Das Geld ist aktion kommen. Das gesamte Finanz- 900 weg. system gerät in Gefahr. Swaps Verloren ist dann allerdings nicht ein Das Mindeste, das dann passiert, ist, 600 Aktienpaket für Millionen, sondern nur daß die Zentralbanken gewaltige Geld- ein Stapel Derivate für ein paar Tausen- mengen in den Bankenapparat pumpen derivative 300 Termingeschäfte der oder gar nur Hunderter. Das tat- müssen, ob sie wollen oder nicht. Die sächliche Risiko, beruhigen die ein- Notenbanken der großen Industrielän- Quelle: Bundesbank schlägigen Händler, werde durch den der, fürchtet Bundesbankpräsident 0 Preis der Optionen und Futures limi- Hans Tietmeyer, könnten „bei gravie- 1991 1992 1993 tiert. Das dahinterstehende, um das renden Schieflagen im Finanzsektor Zigfache größere Transaktionsvolumen zum Gefangenen der Märkte wer- könnten rasch zu einer handfesten Kri- sei nur Schein. den“. se führen. Tendenzverstärkend wirke Abgerechnet wird, bei den Börsenpa- Neben den unmittelbaren Ausfällen, dazu die sogenannte dynamische Absi- pieren, jeden Tag. Derjenige, dessen warnt der Internationale Währungs- cherung der Banken: Statt zum Ge- Optionen ein paar Punkte verloren ha- fonds, würde die Stabilitätspolitik vie- schäft gleichzeitig das entsprechende ben, muß bis zum nächsten Vormittag, ler Jahre kaputtgemacht, würde die Gegengeschäft abzuschließen, wird den 10 Uhr, nachschießen. Sonst ist er aus Geld-, Fiskal- und Wechselkurspolitik Optionen in der Praxis zumeist ein Ab- dem Geschäft. Das Ausfallrisiko, so die eines Landes konterkariert und „der sicherungsmix entgegengestellt. Dollar- Derivateprofis, sei mithin auf die letzten Spielraum für die ökonomische Erho- spekulationen werden mit Aktienoptio- 24 Stunden begrenzt. Soviel könne sich lung eingeschränkt“. nen austariert, kurze Zinsgeschäfte mit da an Risiko gar nicht aufbauen. Schon Gerüchte über angebliche langen Futures gesichert, fortlaufend Das Risiko werde zudem durch die Schwierigkeiten eines Kreditunterneh- verändert und jeweils der Marktlage Banken selbst begrenzt. Verkauft eine mens, so William McDonough, Präsi- angepaßt. Bank das Bezugsrecht für Aktien, Wäh- dent der New Yorker Notenbank, Auf einen drastischen Preisverfall rungen oder Kredite, etwa zum 1. März müssen die Optionshändler dann mit nächsten Jahres, wird sie, sofern se- Verkäufen reagieren – was den Verfall riös, sich ihrerseits Kaufoptionen besor- 7000 der Preise noch beschleunigt. Die Kri- gen. 6500 Geschäftsvolumen se füttert die Krise. „Unterschätzt oder Durch solche Gegengeschäfte heben sogar durch Mängel in der Betriebsor- sich die Kurs-, Preis- oder Zinsrisiken 6000 ganisation noch nicht genügend er- im Idealfall auf. Allerdings verdient das 5500 kannt“ hätten die Bankführungen diese Geldhaus in dem – streng seriösen – Fal- Bilanzunwirksame enormen Bedrohungen, fürchtet der le auch nur die schmale Marge zwischen 5000 Geschäfte Frankfurter Währungshüter Tietmeyer. insgesamt An- und Verkaufspreis. 4500 Der Wettbewerbsdruck, ergänzt Euro- Weit höherer Profit lockt, wenn das Notenbanker Lamfalussy, fördere Gegengeschäft nicht abgeschlossen oder 4000 „aggressive Wachstumsziele“ und „eine klein gehalten wird. Freilich wächst 3500 hohe Risikotoleranz“. dann auch der mögliche Verlust mit. Verständlich, immerhin lockt ja auch Aus einem ursprünglich zur Absiche- 3000 Aufgebläht viel Geld. Die Derivate bescheren den rung entwickelten Instrumentarium 2500 Bilanzunwirksame Kreditinstituten und Anlagehäusern wird mit einem Schlag ein höchst riskan- Geschäfte und enorme Umsätze und Gewinne. tes Spekulationsmedium. 2000 Geschäftsvolumen Um 12,5 Prozent pro Jahr legte das „In größerem Umfang“, registriert 1500 deutscher Banken; Geschäft mit Derivaten im Schnitt in die Bundesbank, würden Derivate, vor Quartalsendstände Deutschland zu. Es wuchs, seit Mitte allem von Banken, „spekulativ einge- 1000 in Milliarden Mark der achtziger Jahre, aus dem Nichts setzt“. Weil der jeweils nötige Kapital- 500 zum heute bedeutendsten Geschäfts- einsatz minimal ist, wirke er „wie ein Quelle: Bundesbank zweig der Geldhäuser. 0 Hebel“: kleiner Anschub, dickes Ge- 1991 1992 1993 Neben den internationalen Großban- schäft. ken mischen immer mehr Broker und

DER SPIEGEL 12/1994 115 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Anlagegesellschaften, mit Schwarzgel- dern gespeiste Fonds in Luxemburg oder auf den Bahamas, Versicherun- gen und selbst spekulationshungrige Industriebetriebe mit, die noch weni- ger Erfahrung und in der Regel noch weniger Reserven für den Crashfall ha- ben. So wächst nicht nur beim Weltwäh- rungsfonds „die Sorge, ob die Noten- banken bei Schwierigkeiten eine Be- drohung des Finanzsystems noch ab- wenden können“. „Kein Problem“, sagt dagegen ein versierter Börsenhändler – „solange al- le die Nerven behalten“. Auch größere Ausfälle seien „technisch problemlos“ zu handhaben. Voraussetzung: „Die Börsen arbeiten auch am Tag nach dem Crash normal weiter, Kauf und Verkauf sind möglich.“ Wenn, wie beim Börsencrash 1987 in London, Händler ihre Telefone aus- hängen und Geldhäuser ihre Online- Netze ausschalten, dann können Ge- winne und Verluste nicht mehr ge- geneinander aufgerechnet werden, das Minus kann sich ungebremst entfal- ten. Dann, sagt ein Bundesbank-Direk- tor, „ist leicht vorstellbar, daß alles durchbrennt“. Y

Telefax Beherzt zugegriffen Mit völlig neuen Telefaxgeräten will die Telekom den Markt umkrempeln und die Vorherrschaft der Japaner brechen.

ptisch macht der Apparat nicht viel her. Doch der graue, un- Oscheinbare Kasten hat’s in sich. Die „Weltneuheit“ soll die neue Wun- derwaffe des Postablegers Telekom wer- den. „Wir sorgen dafür, daß die Karten auf dem Faxgeräte-Markt neu gemischt werden“, gibt sich Telekom-Vorstand Dieter Gallist siegessicher. Im Allein- gang wollen die Marketing-Manager des Postablegers eine völlig neuartige Gerä- tetechnik gegen die Vorherrschaft der japanischen Branchenführer durchset- zen. Gut zehn Jahre nach der Einführung der ersten Faxgeräte ist die Briefpost über die Telefonleitung fast überall in Deutschland verbreitet. Inzwischen sind mehr als 1,32 Millionen Telefax-An-

118 DER SPIEGEL 12/1994 WIRTSCHAFT schlüsse in Deutschland registriert. Da zwei und gibt sich zudem mit Normalpa- auch immer mehr Privatleute den elek- pier zufrieden. Da Kopierer, Drucker tronischen Briefkasten neben ihr Tele- und Telefaxgeräte mit der neuen Tech- fon stellen, ist ein Ende des Booms noch nik weitaus weniger Teile benötigen, längst nicht in Sicht. können die Preise drastisch sinken. Da- Die Technik der Fernkopierer ist in- bei ist die Druckqualität so gut wie bei des noch längst nicht ausgereift. Ein- hochwertigen Laserdruckern. fachste Geräte sind zwar schon für etwa Seine vielversprechende Entdeckung 600 Mark zu haben; doch die Druckqua- verkaufte der Tüftler an das schwedisch- lität ist mäßig und das Spezialpapier, das japanische Unternehmen Ito Communi- solche Geräte benötigen, ist umwelt- cations. Als eine Art Ingenieurbüro mit schädlich, teuer und nicht lange haltbar. Hauptsitz in Hongkong entwickelt Ito Für Maschinen, die ein besseres Schrift- Geräte der Büroelektronik und läßt sie bild übermitteln und gängiges Papier ak- von Vertragsfirmen, meist in Südost- zeptieren, muß der Kunde meist mehr asien, produzieren. Zu den Kunden von als 3000 Mark hinblättern. Ito zählt neben berühmten Markenan- Seit langem schon suchen die Inge- bietern wie Alcatel, Rank-Xerox, Bosch nieure deshalb nach Möglichkeiten, das oder Telenorma auch die Telekom. sogenannte Xerografie-Verfahren zu Als Ito seinen Kunden die revolutio- verbessern. Diese 1938 vom Xerox- näre neue Technik vorstellte, griffen je- doch nicht die Elektronikspe- zialisten bei Bosch oder Alca- tel zu, sondern die Abgesand- ten des Bonner Postablegers. Beherzt sicherten sie sich für einige Millionen Mark drei Jahre lang das alleinige Ver- triebsrecht für den gesamten europäischen Markt. Daß die im Verkauf ziemlich unerfahrenen Beamten ihren großen Vorsprung vor der Konkurrenz wirklich nutzen können, wird in der Branche bezweifelt. Durch pfiffiges Marketing oder bei der Umset- zung neuer Ideen haben sich die Beamten bislang nicht her- vorgetan. Produktmanager Dieter Hahn ist indes überzeugt, daß „die Post abgeht“, nachdem das Gerät jetzt auf der Elek- tronikmesse Cebit in Hanno- ver offiziell vorgestellt worden Neues Faxgerät der Telekom ist. Mindestens 20 000 Geräte Die Branche ist skeptisch will Hahn noch in diesem Jahr absetzen und so den Marktan- Tüftler Chester F. Carlson entwickelte teil des Postablegers im Geschäft mit Technik, nach der heute noch fast alle Telefaxgeräten weiter ausbauen. Faxgeräte, aber auch Kopierer und Nach dem Debüt mit dem Mittelklas- Computerdrucker arbeiten, ist sehr auf- se-Modell, das knapp 3000 Mark kosten wendig, überaus störanfällig und schäd- soll, wird Anfang kommenden Jahres lich für die Umwelt. ein abgespecktes Standardgerät zum Den Wettlauf um ein neues Druck- Preis von etwa 1000 Mark folgen. Und verfahren, an dem sich neben den Ex- das, da ist sich Hahn sicher, „wird ein perten der US-Firma Rank-Xerox auch Produkt für den Massenmarkt“. die erfolgsgewohnten Tüftler der Japan- Um ihre Europa-Lizenz ausnutzen zu Konzerne Canon und Sony beteiligten, können, vergibt die Telekom Unter-Li- gewann ein krasser Außenseiter. Der zenzen an Telefongesellschaften im Schwede Ove Larson von der Firma Ar- Ausland. Denn dort darf sie als Bundes- ray Printers AB in Mølndal entdeckte behörde nicht selbst aktiv werden. ein elektronisches Druckverfahren, das Mit den meisten Telefongesellschaf- in etwa dem Siebdruck vergleichbar ist ten sind die Deutschen bereits handels- und den technischen Aufwand im Gerät einig. Nur eine weigert sich, die Stan- drastisch reduziert. dardverträge zu akzeptieren: France Während bei einer herkömmlichen Te´le´com, der angeblich engste Partner Maschine sechs Schritte nötig sind, um der Telekom, will die neuen Faxgeräte eine Kopie herzustellen, benötigt Lar- nur übernehmen, wenn sie auch in sons „TonerJet-Verfahren“ nur noch Frankreich montiert werden. Y

DER SPIEGEL 12/1994 119 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Automobile Lahm und laut Trotz höherer Steuern steigt der Marktanteil von Diesel- Fahrzeugen. Ökologen warnen vor Gesundheitsrisiken.

us dem „Rüpel mit schlechten Ma- nieren“ sei ein „Leisetreter mit AKultur“ geworden, jubelte die Au- tozeitung. Das Fachmagazin mot ver- kündete einen Aufstieg: „vom Penner zum Renner“. Der Diesel, urteilen Ex- perten und Fachpresse einmütig, erlebe zu Recht ein Comeback. Sparsamer im Verbrauch und damit umweltfreundlicher sei er schon lange. Nun sei er auch noch leiser und schnel- ler geworden. „Der Dieselmotor“, er- kannte die Frankfurter Allgemeine, „duftet nach Zukunft.“ Lautstark beklagen die Dieselfans aber, daß die Bonner Finanzpolitik die Chancen des Erfolgsproduktes erheb- lich vermindere. Seit Anfang des Jahres ist für Dieselfahrzeuge eine höhere Kraftfahrzeugsteuer fällig: 37,10 Mark pro 100 Kubikzentimeter Hubraum – 7,50 Mark mehr als bisher.

Mercedes-Diesel „Eine Minderheit wird benachteiligt“

122 DER SPIEGEL 12/1994 WIRTSCHAFT

ter mehr als 15 000 Ki- 16 lometer im Jahr zu- Comeback für rücklege, zahle weni- Diesel ger als der Besitzer ei- Anteil der Diesel- nes Benzinfahrzeugs. Fahrzeuge an Pkw- 14 Schon deshalb dürfte Neuzulassungen die Dieselwelle vorerst in Prozent anhalten. Viele Her- steller haben ohnehin zur Jahreswende die 12 Preise so stark gesenkt, daß die Steuerlast zu- mindest im ersten Jahr mehr als ausgeglichen wird. Meist schrumpf- 10 ten die Preise um 600 88 89 90 91 92 93 bis 1000 Mark. Seitdem stieg der Anteil der von 1991 an mit neuen Bundesländern Dieselfahrzeuge beim Gesamtverkauf. Für einen VW-Golf mit 1,9-Liter-Die- Die meisten Anbieter sind offenbar selmotor zahlt der Besitzer jetzt 704,90 entschlossen, ihre Dieselproduktion Mark Steuern. Der genügsame Wagen auszuweiten. Am weitesten ist Volks- wird fast genauso hoch belastet wie ein wagen, hier hat schon heute eins von Mercedes S 600, ein Zwölfzylinder-Au- fünf verkauften Autos einen Dieselmo- to, mit 792 Mark. tor. Fast alle Hersteller haben kräftig Die Umwelt-Anstrengungen der deut- investiert, damit aus den als lahm und schen Industrie würden „durch die Steu- laut bekrittelten Autos mit dem Trek- ergesetzgebung in Deutschland konter- kerimage Verkaufserfolge wurden. kariert“, klagt Audi-Vorstandssprecher Zu Recht, glaubt Joachim Schulz, Herbert Demel. „Damit gibt man den Ja- Verkehrsexperte bei Prognos in Basel. panern Zeit, Rückstände aufzuholen“, Er erwartet bis zum Jahr 2010 ein wei- schimpft Volkswagen-Chef Ferdinand teres Wachstum des Dieselmarktanteils Pie¨ch. auf über 20 Prozent. Hauptgrund sei Zumindest in einem Punkt haben die der geringere Verbrauch der Selbstzün- empörten Automanager recht: Bei der der, da auch künftig Treibstoff immer Steuererhöhung ging es nicht um ökolo- teurer werde. gische Vernunft. Längst nicht alle Umweltschützer Doch die Nachteile für die Industrie sind von solchen Prognosen angetan. sind geringer, als die Hersteller bekla- Karsten Smied, Luftexperte von gen. Viele Käufer achten bei der Wahl Greenpeace, hält die neue Dieselbegei- zwischen Benziner und Diesel weniger sterung sogar für fatal: Wer den Diesel auf die Kraftfahrzeugsteuer als auf Un- als Öko-Wunder preise, verharmlose, terschiede im Spritpreis. Dabei schnei- daß Rußpartikel in den Dieselabgasen den die Selbstzünder neuerdings noch vermutlich Krebs erregen. besser ab als früher. Seit Jahren streiten Fachleute dar- Das liegt an der ebenfalls erhöhten Mi- über. Zwei neue Untersuchungen deu- neralölsteuer. Der Benzinpreis stieg um ten darauf hin, daß die Bedrohungen 18 Pfennig pro Liter, der Preis für Diesel- bislang eher unterschätzt wurden. Der kraftstoff jedoch nur um 8 Pfennig – ein Sachverständigenrat für Umweltfragen Zugeständnis an deutsche Spediteure. berechnete vor kurzem, Dieselfahrzeu- Denen sollten für ihre Lastwagen keine ge ohne Filter und Katalysator verur- höheren Kosten aufgebürdet werden als sachten ein wesentlich höheres Krebs- der Konkurrenz in den europäischen risiko als Autos mit Benzinmotoren. Nachbarländern. Die Politiker müßten deshalb „zwin- Ausgerechnet sparsame Fahrer wer- gend“ für Abhilfe sorgen. Auch das den durch die Neuregelung am stärksten Hygiene-Institut der Universität Düs- geschröpft. Die Oma, die ihren Diesel seldorf warnte Anfang des Jahres wie- bloß zweimal im Jahr aus der Garage der mal vor Krebsgefahren durch Die- holt, kommt deutlich schlechter weg als selabgase. ihr Enkel, der ständig durch die Land- Die Industrie kontert mit eigenen schaft braust und dadurch vom niedrigen Experten. Werner Stöber, ehemaliger Spritpreis profitiert. Leiter des Fraunhofer-Instituts für To- Das wissen auch die Politiker. „Eine xikologie in Hannover, bezweifelt, daß Minderheit wird benachteiligt“, glaubt die Ergebnisse aus Tierversuchen mit der Bundestagsabgeordnete Dirk Fi- Ratten auf den Menschen übertragen scher, der für die CDU im Verkehrsaus- werden können. schuß sitzt. Doch wer als Besitzer eines Besonders überzeugend ist das nicht: Durchschnittswagens mit einem Ver- Fast alle Krebswarnungen stützen sich brauch von sieben Litern pro 100Kilome- auf Rattenexperimente. Y

DER SPIEGEL 12/1994 123 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite MODERNES LEBEN SPECTRUM

Psychologie Die Leiden der Väter Im dritten und im neunten Monat wird es besonders schlimm. Während die Müt- ter sich mit den echten Pro- blemen der Schwangerschaft plagen, machen die Väter psychisch schlapp: Sie wer- den von Ängsten und De- pressionen gequält, sind reiz- bar, schlaflos, unkonzen- triert. „Häufiger als gemein- hin angenommen“, berichten der Münchner Psychologe Christian Mayer und der Loustal-Zeichnungen Psychiater Hans-Peter Kapf- hammer, leiden werdende Comics „Die Farbe des Traums“ (Schreiber & Le- Väter an derartigen Be- ser, München; 88 Seiten; 39,80 Mark) be- schwerden. Besonders bei schreibt: Da erinnert sich einer an die un- ungeplanten Schwanger- Melancholische Reisen glückliche Ehe mit einer schönen Frau, ein schaften oder solchen, an de- Es gibt kein Glück und keine Erlösung in anderer an seine erotische, traurige Ver- nen die Männer emotional der Comic-Welt des Zeichners Loustal. gangenheit. Loustals Bildgeschichten sind extrem beteiligt sind, zeigt Und wenn seine Bilder auch noch so bunt Postkarten von einer Reise durch die sich das „Couvade-Syn- sind, die Farben noch so unbeschwert, so Kunst: Er hat Ernst Ludwig Kirchner und drom“. Der moderne Mann, berichtet er doch nur von gescheiterten Max Beckmann besucht, hat bei George so die Deutung, habe keine Hoffnungen und hoffnungslosen Sehnsüch- Grosz vorbeigeschaut und auch bei Gau- rechte Möglichkeit mehr, ten: nach Liebe, nach Nähe, nach Leben. guin, hat die Stile dieser Meister adaptiert sich auf die Vaterschaft vor- Miniaturvisionen, illustrierte Tagträume und bleibt doch ganz Loustal: edel, klar, zubereiten. Ihm fehlt, was in sind es, die der Franzose in seinem Buch melancholisch. den meisten vorindustriellen Kulturen üblich war: das „Couvade-Ritual“. Da legten nem exklusiven Urlaubsziel: schnittstemperatur im Som- sich die Männer schwangerer Maximal 30 Touristen beför- mer: 9,5 Grad). Aber die Frauen ins Bett, simulierten dert die Royal Air Force „Individualreisen“, die als Wehen und ließen sich hät- nach Port Stanley, dem einziger deutscher Anbieter scheln. Der moderne Mann 13 100 Kilometer entfernten Windrose (Berlin) im Pro- aber leidet stumm. Hauptort der Falkland-In- gramm führt, sollen ja Na- seln; die restlichen 90 Plätze turfreunde ansprechen. Au- Tourismus sind für Militärs reserviert. ßer Schlachtfeld-Nostalgie ist Zwar hat der südatlantische von dem 10 875 Mark teuren Ferien auf Archipel knapp zwölf Jahre Trip vor allem Zoologisches nach Kriegsende nicht nur zu erwarten: 146 Vogelar- Falkland ein „Imageproblem“ (Gra- ten, See-Elefanten, niedliche An jedem Montag startet ham Bound vom Falkland- Robbenbabys sowie „klare, vom südenglischen Luftwaf- Fremdenverkehrsbüro in reine Luft“. fenstützpunkt Brize Norton London), sondern auch eine Lockheed TriStar zu ei- ein Klimaproblem (Durch- Mode Comme-des-Garc¸ons-Modell Psychedelisches Hemdchen, der Japaner Koji Plastik Tatsuno bietet Polyester mit Es waren Dinge wie diese Paisley-Muster. Comme des Rippenpullis, orange und Garc¸ons schnürt die Models grün gestreift, oder Minirök- in schwarze Folie ein; die ke in Lila mit Mustern in Ro- Pullis des Junya Watanabe se´, welche die siebziger Jahre sind aus 100 Prozent Acryl so unerträglich machten. und psychedelisch gefärbt. Und, schlimmer noch, das Und Yohji Yamamoto möch- Zeug war aus Nylon oder Po- te den Menschen im weißen, lyester und allem, was kratzt durchsichtigen Plastikjäck- oder glitscht. Jetzt geht das chen sehen, das auch nicht wieder los: Der Wiener Hel- viel weniger kostet als ein mut Lang serviert diesen Kaschmir-Jackett, dafür al- Frühling Gewänder in Müll- lerdings den Kuschel-Faktor Strand auf Falkland tüten-Optik an rosa Nylon- Null aufweist.

DER SPIEGEL 12/1994 127 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Berliner Graffiti-Künstler „Ben“: Wird der Sprayer bekämpft, sprüht er um so heftiger um sich

Jugend „GEHT TOTAL VERSTÄRKT AB“ Sind Graffiti-Sprayer Künstler oder Kriminelle? Eine neue Generation von Sprühdosen-Kids, die nachts U-Bahnen, Eisenbahnen, Brücken und Tunnel bemalen, wird von Nahverkehrsunternehmen mit ruinösen Schadens- ersatzforderungen verfolgt – und von Galeristen und Lokalpolitikern, Werbeagenturen und PR-Managern hofiert.

amburgs parteilose Kultursenato- Markte zu tragen. Andererseits müssen rin kam sich komisch vor. „Graf- illegal agierende „Writer“, wie die Graf- Hfiti zu verkaufen“, kommentierte fiti-Artisten im Szenejargon heißen, mit Christina Weiss eine Versteigerung von unerbittlichen Geldforderungen rech- 22 sämtlich legal entstandenen Lein- nen. „Diekriegen richtig was auf den Zet- wandwerken zugunsten des Kinderhilfs- tel“, droht Jens Wrage, Sprecher der werks Unicef, „ist eigentlich eine Ab- Hamburger Hochbahn. surdität.“ Die Situation ist paradox: Ruinöse Nur sechsmal konnte Ehrenauktiona- Schadensersatzforderungen von Nahver- torin Weiss für das Mindestgebot von kehrsunternehmen gefährden die wirt- 1000 Mark ihr Hämmerchen fallen las- schaftliche Zukunft der Sprayer, Frei- sen. Nur wenige solvente Hanseaten wa- heitsstrafen von bis zu zwei Jahren, die ren erschienen und viele Sprayer miß- bei Sachbeschädigung drohen, kriminali- trauisch zu Hause geblieben: „Die wol- sieren sie. Manche Täter aber werden als len uns doch nur ausspionieren.“ Nachwuchskünstler gehätschelt und von Geladen hatte nämlich der Hambur- kommunalen Verkehrsbetrieben, Lokal- ger Verkehrsverbund – der Gegner. Die politikern und dem etablierten Kunstbe- Bosse von Bus und Bahn hofften auf ein trieb aufmerksam hofiert. friedenstiftendes Happening im neu ent- So wurde der Sprayer „Ben“, 19, zwar fachten Streit um unerwünschte Wand- beim Verzieren eines Berliner Kondom- gemälde. automaten erwischt und zu 2000 Mark Einerseits sollen talentierte Sprüher Strafe verdonnert. Dann jedoch gründete der Stadt durch Ausstellungen, Wettbe- er in Spandau den „Wild Style Shop“, ist werbe und Auftragsarbeiten die Gele- inzwischen „Alleinverdiener meiner Fa- genheit bekommen, ihre „sehr, sehr milie“ und erhält für Auftragsarbeiten kraftvollen Äußerungen“ (Weiss) zu zwischen 5000 und 15 000 Mark, unter Münchner Sprayer „Gjeli“, Reinigung eines

130 DER SPIEGEL 12/1994 GESELLSCHAFT

anderem von Mercedes und dem Berli- ner Möbelhaus Behrend. Das Hamburger Hip-Hop-Multitalent „Sonny“, 24, studiert Kommunikations- design und arbeitet legal für Werbe- agenturen („Die zahlen am besten“), für Firmen wie Fuji, Casio und Panasonic oder für Privatleute: „Der eine will sein Badezimmer verschönert haben, andere ihr Auto.“ Zur Schadensbegrenzung eignet sich die Doppelstrategie offenkundig nicht – wird der Sprayer bekämpft, sprüht er um so heftiger um sich; versucht man ihn mit pädagogischer Anbiederung zu ködern, spielt er doch wieder die alten Streiche. Wrage: „Der Nachweis, daß es besser geworden ist, fällt schwer.“ Auch in München, Dortmund, Ro- stock und Berlin fahnden die Betreiber öffentlicher Verkehrsmittel nach wirk- samen Methoden gegen die unbändigen Energien einer neuen Sprühgeneration. „Seit einem halben Jahr“, staunt der Hamburger Künstler „Cren“: 20 000 Mark Schadensersatz für das Werk auf dem Waggon Mainzer Alt-Sprayer „Zebster“, 24, „geht das total verstärkt ab.“ marken? Früher jedenfalls dienten verkaufte die DDR-Außenhandelsfirma Auf einen erfahrenen „King“ der Sze- Graffiti vor allem zur Verkündung poli- Limex für 500 000 Mark an das Museum ne, schätzen Insider, kommen minde- tischer Botschaften. Galerien entdeck- of Modern Art in New York. stens zehn frisch motivierte „Toys“ ten die illegalen Werke dann Anfang Die SPD warb im letzten Bundestags- (Anfänger). Ihre schwammresistenten der Achtziger als zeitgenössische All- wahlkampf mit Graffiti-Motiven auf „Tags“ (Künstlerkürzel), „Throw-ups“ tagskunst, später kamen teure italieni- „Oskar“-Plakaten, und die Pinneberger (schraffierte Signaturen) und bunten sche Herrenhemden im Graffiti-Design Verkehrsgesellschaft (PVG) ließ kürz- „Pieces“ (Bilder) landen überall dort, in die Kaufhäuser (Karstadt-Werbe- lich zwei Linienbusse von einem Graf- wo ein paar Minuten lang niemand hin- spruch: „Wir sprühen vor Ideen“). fiti-Künstler gestalten. PVG-Initiator schaut – bevorzugt auf kahlen Beton- Der Graffiti-Pionier Harald Naegeli, Heinrich Klingenberg, 39: „Wie bei wänden und unscheinbaren Stromkä- 54, hat sich sowohl illegal als auch legal Olympia, die Guten dürfen.“ sten, unbewachten Brückenpfeilern und betätigt (offizieller Preis eines Naegeli- Zeitgleich wurde aber auch der Fahn- geparkten Zügen. Manchen Sprayern Werks: 6500 Schweizer Franken). Ar- dungsaufwand erhöht, Sonderkomman- reichen fünf Sekunden, um sich mit ei- beiten des 1990 verstorbenen New Yor- dos sichern Bahnanlagen mit Kameras nem schwungvollen Schmierakel auf ei- ker Kultstars Keith Haring werden mit und Stacheldraht und schleusen V-Leu- nem U-Bahn-Polster zu verwirklichen. 250 000 Mark gehandelt. Mehrere Stük- te in die Szene ein. Sind die Bilder modisches Design, ke der Berliner Mauer, des größten „Wie sollen sich 14jährige da noch zu- Störkunst oder einfach pubertäre Duft- Graffiti-Gesamtkunstwerks der Welt, rechtfinden“, moniert Barbara Uduwe-

S-Bahn-Wagens, Sprüher „Caesa“: Manchen reichen Sekunden, um sich mit einem schwungvollen Schmierakel zu verwirklichen

DER SPIEGEL 12/1994 131 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite GESELLSCHAFT rella, Initiatorin eines Hamburger sche davongeschlichen hatte. Die Sie- ber des Düsseldorfer Graffiti-Magazins „Treffs“ für Sprüher. „Den Besten gibt benjährige wurde daraufhin aus dem Style Wars, „heute stellen sich viele dem man ein paar Leinwände und Aufträge, Unterricht geholt und von Soko-Beam- Kampf.“ und den Rest verfolgt man wie Schwerst- ten und Schuldirektor so lange be- Den führen sie auch untereinander: kriminelle. Das ist, alslobt ein Lehrer sei- drängt, bis sie weinend die Tüte mit Der neu entbrannte Wettstreit um ne Abiturienten für eine gelungene Klau- Graffiti-Fotos herausgab. Ruhm, Ehre und den ultimativen Sprüh- sur, verbietet aber allen Fünftkläßlern Solche Meldungen wirken auf jugend- stil führt zu Reibereien. Mißgünstige das Schreiben.“ liche Delinquenten eher anstachelnd: Konkurrenten übermalen gegenseitig Einen Großteil ihrer Arbeits- und Frei- „Da kommt richtig Haß auf“, meint ein ihre Werke, rivalisierende Gangs treffen zeit verbringt die Sozialpädagogin inzwi- vorbestrafter Dortmunder Sprayer, zum direkten Faustabtausch im Viertel schen mit der Betreuung hochverschul- „wer erwischt und fertiggemacht wird, aufeinander. Andere kopieren fremde deter Minderjähriger. Zwar werden die verdoppelt noch seine Aktivitäten.“ Signaturen, damit ein ertappter Sprayer Strafverfahren meist eingestellt oder en- Mit den Worten „Halt die Schnauze, den mit geringen Arbeitsauflagen, dafür und leg dich hin“ wurde der Spraykünst- sind die zivilrechtlichen Forderungen ler „Cren“, 16, am Hamburger S-Bahn- mitunter von ruinöser Größenordnung. Depot Bergedorf gestellt. Auflage des Als „Caesa“, damals 15, erfuhr, daß er Gerichts für den Schüler: Sechs Stunden für sein gesprühtes Kürzel in einem Fuß- Arbeit in einer Sozialeinrichtung, Zivil- gängertunnel der Verkehrsgesellschaft forderung der Bundesbahn: 20 000 Norderstedt 10 602 Mark Reinigungsko- Mark. Während der Junge noch von ei- sten zahlen sollte, wollte er schon von der nem hochdotierten Job als Grafiker Schule türmen und untertauchen. Er hät- träumt, sorgt sich die Mutter um seine te die Summe „auf legalem Weg nie zu- Zukunft: „So zieht man sich doch nur sammenbekommen“. Erst Uduwerella Sozialfälle ran.“ konnte den Teenager von seinem Flucht- Das weiß auch Martin Bähr, Jugend- plan abbringen – und die Rechnung beauftragter der Hamburger Polizei: schließlich auf 362 Mark herunterhan- Um minderjährige Schüler nicht schon deln. hoffnungslos verschuldet in die Berufs- Dem Sprayer „Tress“ wurde die Graf- welt zu entlassen, plädiert er dafür, Tä- fiti-Veranstaltung einer Stuttgarter Wer- ter und Geschädigte sollten außerge- richtliche Vergleiche schlie- ßen, welche die „Finanz- kraft der Sprayer berück- sichtigen“. Die Kids seien kriminell veranlagt, simpelt dagegen Manfred Pietschmann vom Essener Regionalbüro der Deutschen Bahn AG, und „eigentlich gehören die auf die Couch“. Resultat der harten Schiene: Im Ruhrge- biet, neben Berlin Hoch- Graffiti-Kunst in Berlin burg der deutschen Sprüh- „Sehr, sehr kraftvolle Äußerungen“ szene, rollen kaum noch un- befleckte Wagen in die für die Fälschungen gleich mit haftbar Bahnhöfe von Köln, Dort- gemacht wird. mund und Düsseldorf. Ganz Hartnäckige haben zudem die „Gereinigt wird nur spora- Ritz-Graffiti entdeckt. Weil schon der disch“, sagt Ekbert Nelhü- Besitz von Spraydosen auf dem tägli- bel vom Bahnpolizeiamt chen Bahnweg zur Schule einigen Ärger Köln, „die Bahn ist einfach und eine hochnotpeinliche Hausdurch- überfordert.“ suchung nach sich ziehen kann, kratzen Auch sind die Kosten im- sie ihre Phantasien neuerdings mit Spray-Star Haring in New York mens: Um allein die Tags scharfen Ringen in die Scheiben von Modisches Design oder pubertäre Duftmarke? und Pieces der schätzungs- Bussen und Bahnen. weise 12 000 Berliner Die „krankhafte Sachbeschädigung“ befirma zum Verhängnis: Soko-Beamte Sprayer zu beseitigen (gängiges Reini- (Pietschmann) hält die Bahn allerdings verglichen seinen Stil mit drei Jahre al- gungsmittel: „Vandal-Ex“), wurden vo- nicht davon ab, aus Graffiti Nutzen zu ten Arbeiten auf dem von ihm früher riges Jahr 8 Millionen Mark aufgewen- ziehen: Die Göppinger Modellbahnfir- heimgesuchten Heidelberger Bahnhofs- det. Die Hamburger Verkehrsbetriebe ma Märklin erhielt eine Lizenz für die gelände und leiteten wegen der schon mußten mehr als 3Millionen, die Münch- „einmalige, eng limitierte Sonderediti- verblaßten Altwerke ein Ermittlungs- ner Bus- und Bahn-Betriebe 1,6 Millio- on“ eines „Graffiti-Komplettsets“ aus verfahren ein. nen Mark für Säuberungen zahlen. drei rundum besprühten Waggons plus Im Dezember wurde der Münchner Die Sprayer der zweiten Generation Lok für 598 Mark, „vorbild- und zeit- „Gjeli“, 15, wegen Verdunklungsgefahr agieren offensiver als die Pioniere in den geistgetreu“. für zwei Wochen in Untersuchungshaft Achtzigern. 14jährige gehen grundsätz- Beworben werden die unter Hobby- genommen, nachdem sich seine jüngere lich mit Tränengas auf nächtliche Sprüh- Eisenbahnern begehrten Sonderwagen Schwester während der Durchsuchung tour. „Früher ist man weggerannt“, kon- mit dem Slogan: „Graffiti gehören heute der elterlichen Wohnung mit einer Ta- statiert Cyril Hildebrand, 21, Herausge- zum Bahnalltag.“ Y

134 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite GESELLSCHAFT

Hausfrauen im Supermarkt zu Eisklum- Küche pen gefrorene Industriehühner und Schollen aus der Tiefkühltruhe – drei Viertel aller in Frankreich gefertigten Speisen sind heute industriell bearbeitet. Beste Nase Paris hat zwar noch immer 93 Restau- rants mit Michelin-Sternen, doch die bür- Frankreich bekämpft seine gerlich-traditionelle Küche ist auf dem kulinarische Krise – mit alten Rückzug. Im Quartier Latin sind die ein- fachen französischen Restaurants fast Rezepten und Geschmacks- völlig durch italienische Pizzerien sowie unterricht für Schulkinder. nordafrikanische und asiatische Imbisse verdrängt worden. Die Schnellgaststät- ten versorgen Hungrige in Eilschichten ie Spürnasen entdeckten „Pot- und sind wegen ihrer geringen Lohnko- jevlesch“ im nordfranzösischen sten preiswerter als ihre einheimische DDünkirchen, sammelten alle ein- Konkurrenz. schlägigen Informationen und fütterten Der Verzehr von Innereien wie Hirn, sie in einen Computer. Das mysteriöse Leber, Nieren und Kutteln, deren Zube- Wort ist kein Code für ein Agenten- reitung hohe Kunst und damit viel Zeit Komplott, sondern für etwas Eßbares: erfordert, ist um 20 Prozent gesunken. ein mit Bier, Knoblauch und Thymian Grande Schande über Frankreichs Kü- angesetzter Eintopf aus Fleisch von che brachte das letzte verbliebene Presti- Lamm, Schwein, Kalb und Kaninchen, ge-Restaurant an den Pariser Champs- der Kennern Tränen der Verzückung in Elyse´es, „Fouquet’s“, das als „Kantine die Augen treibt. der Filmstars“ gilt: Weil er gefrorenen Mit einer kulinarischen Rasterfahn- Thunfisch, gefrostete Leber und Ziegen- dung versucht Frankreich, Land der fei- käse von Pariser Grossisten als naturfri- nen Küche und großen Köche, seine sche Ware angepriesen hatte, wurde Mit- Speisetradition zu retten und histori- te Januar der Manager zu 40 000 Francs sches Kulturgut auf die Speisekarten zu- Geldstrafe verurteilt. rückzuholen. Denn in der Gourmet-Re- Vor allem junge Franzosen suchen publik, so jammert das Pariser Magazin schon lange nicht mehr nach kleinen Re- VSD (Vendredi Samedi Dimanche), sei staurants mit einem Pot-au-feu, einem die „Küchentradition in Gefahr“. Im- würzigen Rindfleisch-Gemüse-Eintopf, mer mehr Franzosen sättigen sich mit auf den karierten Tischdecken. Statt des- Mikrowellen-Kost oder holen sich im sen sorgen sie in den landesweit 300 Schnellimbiß „was auf die Faust“, wie McDonald’s-Filialen, davon 26 in Paris, Le Monde bekümmert konstatiert. für einen Jahresumsatz von fünf Milliar- Statt an Marktständen Geflügel aus den Francs. dem Perigord oder Fisch von der breto- Am meisten stört die Hüter des nischen Küste auszuwählen, kaufen Schlemmergrals, daß „le Macdo“ zum

Küchenchef, Feinschmecker-Nachwuchs: Knoblauch statt Ketchup

138 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite GESELLSCHAFT

Kulttreff für Kinder und Jugendliche fünf Sinne“, in dem Schulklassen aufgestiegen ist. Es sei eine kollektive Schrebergartenambiente vom Knob- Niederlage, sagen sie, daß Frankreich lauchriechen über Vogelgezwitscher bis die Beefburger-Invasion aus Übersee zum Kompottkochen kennenlernen, nicht zumindest mit eigenen Schnellge- und Puristen des „Französischen Insti- richten bremsen konnte. Sein Land ha- tuts für Geschmack“ in Tours wollen be „nicht aufgepaßt“, gesteht Kochzar die Hamburger-Generation zu Fein- Paul Bocuse. „Unsere Künstler und In- schmeckern umerziehen. dividualisten kochen doch nur, wozu sie Die Zeit drängt. Ein Vorkoster be- Lust haben“, kritisiert Brigitte Simon, richtete betreten, daß Siebenjährige Sprecherin des Pariser „Nationalen Ra- zwar noch zwischen süß und salzig zu tes für Kulinarische Kunst“ (CNAC). unterscheiden vermögen, aber bitter Zwei landesweite CNAC-Kampagnen und sauer schon nicht mehr auseinan- sollen eine Renaissance der Cuisine fran- derhalten können. Vor allem das c¸aise herbeiführen: Kulinarische Schät- „Geschmackssensorium für gutes Brot“ ze werden neu entdeckt, gleichzeitig sei degeneriert, meldete der Küchen- Schulkinder wieder peu a` peu an guten chef vom Palast-Hotel in Biarritz, alten Geschmack gewöhnt. Jean-Marie Gautier, nach Schulbesu- Staatlich geförderte Teams aus Biolo- chen. gen, Historikern und engagierten Hob- Nun wird den Kindern wieder beige- byköchen stöbern in alten Bauernhöfen bracht, wie Gaumen und Nase die re- der Auvergne, in Pari- ser Charcuterien und provenzalischen Re- staurants nach Urgroß- mutters Rezepten für Pasteten und Fleisch- töpfe, für Gebäck, Kä- se und Getränke. Die „flamiche“, eine nord- französische Süßspeise aus Quark, Butter und Eiern, verfolgten For- scher bis zum Jahr 1325 zurück. Und sie archivierten die Leib- speise burgundischer Flößer, die ihre Bar- sche und Aale in reich- lich Wein mit Thymian und Knoblauch zur „pochouse“ kochten. Rezepte, die in einer „starken historischen Schnellrestaurant: Invasion der Beefburger Beziehung“ zu Frank- reichs insgesamt 22 Regionen stehen, gionalen Köstlichkeiten identifizieren werden in kulinarischen Inventarbän- können – Honig aus dem Burgund, Rind den zusammengefaßt. Die ersten vier aus dem Charolais, Käse „bleu“ aus der liegen schon in den Buchhandlungen. Auvergne, Oliven der Provence. Den Bei Gourmets und Gourmands, die einfühlsamsten Mini-Kostern winkt der sich den sinnlichen Genuß liebevoll zu- Titel „Beste Nase der Klasse“. bereiteter Speisen nicht durch Fast- Bei den Älteren ist der Küchenchau- und Fertigfood kaputtmachen lassen, vinismus noch weitgehend intakt: 68 liegen die Köche nach alter Väter Sitte Prozent der Franzosen sind überzeugt, richtig im Trend: Anfang März ge- ihren Landsleuten könne niemand etwas währte der „Guide Michelin“ dem vorkochen. Im normannischen Caen Chef des Straßburger „Buerehiesel“, (Spezialität: Kutteln a` la mode de Caen) Antoine Westermann, für die Wieder- wollen die Küchenchefs aus Protest ge- belebung alter elsässischer Speisekultur gen die Eröffnung eines weiteren die höchste Weihe, den dritten Freß- „Macdo“ ihre Restaurants sogar für ei- stern. nen Tag schließen. Zehntausende kleiner Franzosen ler- Die Gastronomen wählten einen Ter- nen wieder, daß es noch anderen Lek- min, der ihrer Aktion zugunsten des kereien gibt als Minz-Kaugummi, Coke „Patrimoine culinaire“ (des kulinari- oder Ketchup und daß Fische nicht als schen Vaterlandserbes) historischen panierte Quader im Atlantik treiben. Rang verleihen und den imperialisti- 1500 Küchenchefs pilgerten mit Ladun- schen Eßbanausen aus Amerika zu- gen von Lauch, Bergamotte und gleich eine Warnung sein soll: den 6. Ju- Frischkartoffeln in die Schulen. Auch ni, den 50. Jahrestag der US-Invasion in Mitarbeiter des Pariser „Hauses der der Normandie. Y

140 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite Ausstellungen Schule der Tscheka Darwin und die Folgen: Eine Ausstellung in Dresden würdigt das Werk des britischen Evolutionstheoretikers.

ir ist, als gestünde ich einen Mord ein“: Der graduierte Theologe Mund Weltreisende, der in einem Brief seine Schuldgefühle einem fernen Freund beichtete, hatte in den Augen sei- ner Zeitgenossen weit Schlimmeres ange- richtet. Als gläubiger Anhänger der bibli- schen Schöpfungslehre war der 22jähri- Museumsleute Roth, Baumunk mit Gorilla: Schock vom ungeschlachten Vetter ge an Bord des Vermessungsschiffes „Beagle“ gegangen, als Umstürzler kehr- te er fünf Jahre später zurück. Charles Darwin hatte, durch Naturbe- obachtung und Reflexion, die Schöp- fungslehre auf den Kopf gestellt. Tier, Pflanze und Mensch waren nicht, seit An- beginn unveränderlich, von Gottvater geschaffen – sie hatten sich, wie Heim- kehrer Darwin lehrte, aus niedrigeren Lebensformen entwickelt. Die Evolutionstheorie mit ihren Schlüsselbegriffen wie „Kampf ums Da- sein“, „natürliche Auslese“ oder „Über- leben des Tüchtigsten“ löste ein weltan- schauliches Erdbeben aus, das bis heute nachwirkt. Auf Darwins Theorien berufen sich Reaktionäre und Rassisten, aber auch Wissenschaftler, denen die Lehren des bärtigen Briten den Weg zur Genetik und zur modernen Verhaltensforschung Naturforscher Darwin*: Schuldgefühle wie nach einem Mord ebenso wiesen wie zur Schaffung künstli- cher Intelligenz. Wie die Ideen des britischen Privatge- lehrten,der inländlicher Ruhe einsorglo- ses Leben führte, ganze Denk- und Staatssysteme aus den Angeln hoben und neu prägten, veranschaulicht die Ausstel- lung „Darwin und Darwinismus“ im „Deutschen Hygiene-Museum“ in Dres- den (vom 25. März bis zum 26. Juni). In dem Monumentalbau der dreißiger Jahre, der als Tempel für populärwissen- schaftliche Aufklärung geplant und spä- ter für rassekundliche Propaganda miß- braucht wurde, hat Projektleiter Bodo- Michael Baumunk ein facettenreiches Darwin-Revival inszeniert. Rund 600 teils nie zuvor gezeigte Exponate machen anschaulich, wie Darwins Hauptwerk mit dem weitschweifigen Titel „Über dieEnt-

* Mitte: Gemälde aus dem Moskauer Darwin-Mu- seum; unten: Haeckel-Plastik, mit der Korallen- Darwin-Propagandist Haeckel*: Schöpfungslehre auf den Kopf gestellt sammlung des Forschers.

142 DER SPIEGEL 12/1994 land gebrachte leben- de Gorilla. Richard Owen, der angesehen- ste Paläontologe seiner Zeit und Erfinder des Begriffs „Dinosau- rier“, war von dem ungeschlachten Vetter des Homo sapiens so schockiert, daß er sich fortanmitEiferbemüh- te, die nicht zu überse- hende Verwandtschaft abzustreiten. Auf die Kriminolo- gie übertrug der italie- nische Arzt Cesare LombrosodieneueAb- stammungslehre: Zur Untermauerung seiner darwinistischen Ver- brechenslehre ließ er Totenmasken von Ver- brechern anfertigen, die bislang, öffentlich Fruchtfliegen-Modell: Haustier der Erbforscher nicht zugänglich, in Tu- rin verwahrt waren. stehung der Arten durch natürliche Aus- Experimente mit der Fruchtfliege, lese oder das Erhaltenbleiben der begün- dem Haustier der Erbforscher – sie stigten Rassen im Ringen um die Exi- schwebt als Riesenmodell durch die Aus- stenz“ (1859) unablässig „weitergedacht, stellung –, leiteten seit der Jahrhundert- umgedeutet, popularisiert und ver- wende den Durchbruch der Genetik ein, fälscht“ (Baumunk) wurde, so etwa von mitsamt ihren Auswüchsen und Fehldeu- dem deutschen Naturforscher Ernst tungen der Darwinschen Theorien. Auf Haeckel (1834 bis 1919), einem Zoologen Darwin, der in seinem Gründungswerk und Kirchenfeind. von Bienen und Tauben, kaum aber vom In lebendigen Szenarien wird die biolo- Menschen und seiner Abstammung ge- gische Revolution samt ihrer Vorge- schrieben hatte, beriefen sich US-Euge- schichte und ihren jüngsten Konsequen- niker, die vermeintlich mustergültige zen vorgeführt – von der höfischen Natu- amerikanische Bauernfamilien prämiier- raliensammlung bis zur gentechnisch ma- ten wieKürbisse und Rinder. Rassekund- nipulierten Tabakpflanze, die von der ler machten sich mit ihrem Schädelmeß- Universität Hohenheim nur unter Sicher- besteck auf, um in afrikanischen Kolo- heitsauflagen herausgerückt wurde. nien die evolutionäre Rückständigkeit Noch in der antiken Denktradition ei- der Eingeborenen nachzuweisen. ner statischen, harmonischen Weltord- Aber auch im revolutionären Rußland nung stehen die in Dresden aufgeblätter- war Darwin ein Säulenheiliger. Trupp- ten Tier- und Pflanzenbücher aus Mittel- weise wurden die Geheimpolizisten der alter und Renaissance. Tscheka im Moskauer Erste Irritationen des Darwin-Museum in Glaubens an die von der Evolutionstheorie Gott ein für allemal ge- geschult. schaffenen Arten spie- Der „Eremit von gelt das legendäre Ka- Down“, wie der weiß- binett des barocken bärtige Gelehrte in sei- holländischen Arztes ner Heimat genannt FrederikRuyschwider, wurde, hielt sich seine das erstmals außerhalb Bewunderer vom Lei- des Aufbewahrungsor- be – etwa den begei- tes St. Petersburg zu se- sterten Karl Marx, der hen ist. in Darwins Tierreich Spektakuläres Inter- den Konkurrenzkapi- esse wie diese Samm- talismus seiner Zeit lung fetaler Mißbildun- wiederfand: Das in gen erregte später, im der Ausstellung ge- Viktorianischen Zeital- zeigte Widmungsex- ter, der erste nach Eng- emplar des „Kapital“ blieb, bis auf die ersten * Aus dem Turiner Institut Totenmaske eines Mörders* 20 aufgeschnittenen für Rechtsmedizin. Verbrechenslehre untermauert Seiten, ungelesen. Y

DER SPIEGEL 12/1994 143 Werbeseite

Werbeseite AUSLAND PANORAMA

Frankreich FMLN, die bei den ersten Wahlen seit dem Rabbi ruft zum Bürgerkrieg eigene Kandidaten aufgestellt hat, die „Maras“ zu unterstützen. Tatsäch- Wahlboykott auf lich gehören die meisten jedoch salvadoria- Ärger um Frankreichs Groß- nischen Straßengangs aus Los Angeles an, rabbiner Joseph Sitruk: Weil die von den US-Behörden nach El Salva- der zweite Wahlgang zu den dor deportiert wurden, weil sie sich in den Departementswahlen am 27. USA strafbar gemacht hatten. In ihrem März mit dem Beginn des Heimatland gibt es für die zumeist apoliti- jüdischen Osterfestes Pes- schen Jugendlichen keine Zukunftsaussich- sach zusammenfällt, rief der ten. Zu marodierenden Banden haben sich Rabbi jüdische Wähler zum auch entlassene Soldaten zusammenge- Urnenboykott auf. Sitruk Prügelei während des Wahlkampfs schlossen. Im Rahmen des Friedensab- heizte damit ein Reizthema kommens waren die salvadorianischen an – die aus der Französi- El Salvador Streitkräfte auf die Hälfte ihrer Truppen- schen Revolution hervorge- stärke verkleinert worden. Die neue Zivil- gangene Trennung von Reli- polizei aus Ex-Soldaten und Ex-Guerrille- gion und Staat. Islamische Der Terror der „Maras“ ros ist unzureichend ausgerüstet und vieler- Schleier in Schulen haben Zwei Jahre nach dem Ende des Bürger- orts noch nicht vertreten. Jesuiten mit tra- nationale Debatten ausge- kriegs hat die Gewaltkriminalität in El Sal- ditionell guten Kontakten zur Guerilla be- löst. Im Januar protestierten vador dramatisch zugenommen. Straßen- richten, daß auch ehemalige Rebellen die Hunderttausende gegen Re- gangs von arbeitslosen und oft drogensüch- Waffen wieder aufgenommen haben, weil gierungspläne, katholische tigen Jugendlichen, „Maras“ genannt, pro- sie vom Verlauf des Friedensprozesses ent- Privatschulen zu finanzieren. vozierten im Vorfeld der Wahlen am ver- täuscht sind. In El Salvador drohen ähnli- Sitruk behauptet, das Wahl- gangenen Sonntag blutige Zusammenstöße che Konflikte wie im benachbarten Nicara- datum hindere gläubige Ju- mit bewaffneten Anhängern der regieren- gua, wo bewaffnete Gruppen von Ex-Sol- den, „ihre Stimme innerhalb den Arena-Partei. Politiker der Rechtspar- daten und Ex-Guerrilleros die politische der Nation“ zu Gehör zu tei beschuldigen Ex-Guerrilleros der Stabilität gefährden. bringen. Der Dachverband der jüdischen Institutionen in Frankreich fürchtet nun, nen um die Jelzin-Nachfolge Königsberg sche Wunschprojekt eines daß die etwa 600 000 Mit- erwählt hat: Kirsan Iljum- Generalkonsulats in Frank- schinow, 31, bislang Ober- Widerstand gegen furt am Main scheitern sollte. haupt der russischen Step- Seinen Bonner Amtskollegen penrepublik Kalmückien. Generalkonsulat Kinkel, der in dieser Woche Kosaken-Abkömmling Il- Bonns Wunsch, in Kalinin- Moskau besucht, will er be- jumschinow gilt neben dem grad, dem ehemaligen Kö- reits in diesem Sinne einstim- Rechtsextremisten Schiri- nigsberg, möglichst rasch ein men und vor Rückfällen „in nowski als Rußlands schil- deutsches Generalkonsulat den germanischen Drang lerndste Politfigur. Der stu- zu eröffnen, stößt in Moskau nach Osten“ warnen: Beson- dierte Außenpolitiker (Spe- auf immer entschiedenere ders die Anfang Februar auf zialgebiet Japan) machte ei- Bedenken. Auf Betreiben Anregung deutscher Abge- ne Blitzkarriere als Unter- von Außenminister Kosyrew ordneter im Europa-Parla- nehmer, bevor er sich im wurde die Frage bereits An- ment angezettelte Königs- April 1993 zum ersten Präsi- fang des Monats an den russi- berg-Debatte und das Ver- denten Kalmückiens wählen schen Sicherheitsrat weiter- langen nach einem „Sonder- ließ. Seinen 325 000 Lands- gereicht. Kosyrew rät, die verhältnis“ zwischen Euro- leuten versprach er ein Deutschen selbst dann auf päischer Union und dem Ge- von Rußland abgekoppeltes unbestimmte Zeit zu vertrö- biet Kaliningrad seien eine Wirtschaftsparadies. Als Jel- sten, wenn dadurch das russi- „glatte Unverschämtheit“. Sitruk zin im vergangenen Herbst das russische Parlament auf- glieder zählende jüdische Ge- lösen ließ, sprang Iljumschi- meinde in einen Laizitäts- now dem entmachteten Jel- streit mit antisemitischen zin-Stellvertreter Ruzkoi bei: Auswirkungen gezogen wird. Im Namen der russischen Provinzchefs forderte er den Rußland Präsidenten ultimativ auf, die Blockade des Weißen Kalmücke als Hauses zu beenden. Nun will Iljumschinow die kal- Vizepräsident? mückische Verfassung wie Jelzins Gegner Nummer eins, das eigene Präsidentenamt Alexander Ruzkoi, 46, wieder abschaffen und fort- nimmt Kurs aufs höchste an nur noch als Moskauer Staatsamt. Er verriet Bera- Gouverneur regieren, bis er tern, welchen Partner er als als Ruzkoi-Vize in den Vizepräsidenten für das Ren- Kreml einziehen kann. Domruine in Kaliningrad

DER SPIEGEL 12/1994 145 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite TITEL

Präsidentengattin Hillary Clinton: Ein neuer Frauentyp, der alles haben will: Beruf und Ehe, Kinder und Karriere HATZ AUF DIE HERRIN SPIEGEL-Reporter Carlos Widmann über Hillary Clintons beschädigte Führungsrolle im Weißen Haus

hr Haupthaar wurde letzthin um Nu- was heutzutage wohl alles geschrieben zapfen sucht: bei jenen 99 Prozent der ancen entblondet und etwas abgedun- würde, wenn wir an dem Projekt auch Amerikaner, die außerhalb des Auto- Ikelt, aber die Schwungtolle über der noch ein bißchen verdient hätten.“ bahngürtels leben, der die US-Haupt- stolzen Stirn wippt so herausfordernd Von wem die Verleumdungen stam- stadt umringt. „Draußen im Lande“ wie eh und je – besonders, wenn Hillary men, verstehen ihre Zuhörer schon: Es nämlich wird die in Washington grassie- Rodham Clinton innerlich aufstampft. sind die Voyeure, Wadenbeißer und rende Whitewater-Hysterie noch über- Und das tut Amerikas First Lady nun je- Kannibalen der Medien gemeint. wiegend mit Unverständnis registriert. desmal, wenn die trüben Wogen von Sie haben ihre Zähne in eine läppi- Tröstlich für Bill und Hillary: Nach ei- Whitewater sie verfolgen und ihr vor sche, 16 Jahre zurückliegende Immobi- ner Umfrage der New York Times meint der zuschauenden Nation die Schuhe lienspekulation des heutigen Präsiden- nur jeder fünfte Amerikaner, daß es sich nässen. tenpaares vergraben und wollen nicht bei „Whitewatergate“, wie das unver- Dann scheint ein Gefühl des Ekels in lockerlassen, ehe die Autorität des Wei- meidliche Wortspiel lautet, um eine An- Hillary aufzusteigen, und mit einem ßen Hauses erschüttert, die Handlungs- gelegenheit von nationaler Bedeutung Tonfall von bitterem, nur mühsam be- fähigkeit der US-Regierung gefährdet, handele. herrschtem Sarkasmus bringt sie ihre die von der Präsidentengattin entworfe- Amerika hat schließlich einen wirt- Pointe unter die Leute: „Gott sei Dank ne Gesundheitsreform gescheitert ist. schaftlich erfolgreichen Präsidenten; da haben wir seinerzeit bei diesem Grund- Hillary bewegt sich scheinbar auf si- die Rezession offenkundig überwunden stücksgeschäft in Arkansas nur Geld cherem Grund, wenn sie – nach vielen ist, kann Clintons Prestige schon man- verloren“, ruft sie zum Beispiel auf dem Wochen verdächtigen Schweigens – für ches aushalten. Und wieviel mag der Campus der Universität von Colorado ihre Verteidigung die medienskeptische ganze Medienzirkus bewirkt haben, in Boulder aus. „Ich muß mich fragen, Stimmung „jenseits des Beltway“ anzu- wenn ein Friseur in Ohio nach sechs

148 DER SPIEGEL 12/1994 Wochen noch sagen kann: eingenommen, zum Beispiel für die Ze- „Keiner meiner Kunden hat in lebritäten-Fotografin Annie Leibovitz dieser ganzen Zeit je das The- und das Modemagazin Vogue. ma Whitewater erwähnt“? Was dabei herauskam, riß einen Gleichviel, politische atemlosen Korrespondenten der Irish Schicksale werden in Washing- Times zu der ekstatischen Beschreibung ton entschieden: auch das der hin: „Das ist Hillary, die Sexgöttin. Auf Präsidentengattin. Hier kann dem einen Bild öffnet die First Lady Hillary Clinton in ihrer einma- suggestiv die Lippen, auf dem anderen ligen Rolle als Machtteilhabe- bietet sie dem Betrachter ihren Schlaf- rin des Weißen Hauses beschä- zimmerblick.“ digt, ja zerstört werden. Die Dieser „Schmusekätzchen-Look“, wichtigste Verbündete des wie die New York Times ihn definierte, Präsidenten müßte, wenn der hat Altfeministinnen verstört, jüngere gegenwärtige Enthüllungseifer Emanzen in tiefe Grübelei gestürzt. anhält und fündig bleibt, zu Würde dieses neueste Image der Power- Bill Clintons schwerer Bürde frau Hillary mit althergebrachten Vor- werden. Und für Millionen fe- urteilen der männerbeherrschten ministisch empfindender Frau- Hauptstadt aufräumen, denen zufolge en – nicht nur in Amerika, son- eine feminine Frau nicht ernst zu neh- dern in aller Welt – bräche ei- men ist? ne Hoffnung zusammen. Powerfrau Hillary Oder würde es umgekehrt nur den zo- Der Prüfstand liegt am Poto- tigen Verdacht der Machos bestätigen, mac, der Kampf wird Tag für daß selbst eine voll verwirklichte Frau Tag ausgetragen im Hochspan- Hillary Clinton „hat zuviel Einfluß“ 53 insgeheim als schieres Objekt, das nungs-Kraftfeld zwischen Kon- männliche Begierden weckt, betrachtet greß und Weißem Haus, im Haltung der Amerikaner in Prozent werden wolle? Quälende Fragen. Gerangel der Sachbearbeiter, 44 Pressesprecher und vertrauli- 40 40 41 chen Informanten, der Kolum- 37 Nur einer Luxusfrau im nisten, Reporter und Fernseh- Höhenrausch konnte köpfe, der Untersuchungsaus- Januar Juli Januar März schüsse, Sonderstaatsanwälte 1993 1994 solcher Unsinn entfahren und Starjuristen. Dieser Haifischteich kann „Negative Meinung“ über Hillary Clinton 40 Hillary, Emanze und Eminenz, die durchaus mörderisch werden, einst Fragen nach ihrer Garderobe als wenn die ersten Blutfäden frivole Zumutung empfand, bewegte durchs Wasser ziehen. Und hat sich zuletzt bei der Kleiderordnung in Hillary nicht schon mehr als 36 Richtung Eva Peron oder Imelda Mar- 34 ein paar Tropfen verloren? 3433 cos. Also raus aus dem Pfuhl, zu- 31 Jedenfalls war es vor allem die Hillary rück zum Wähler, zum unver- 31 Quelle: CNN/ Clinton in Vogue-Ausführung, die sich bildeten Volk. Die First Lady 27 27 USA Today/ nach dem Ausbruch der Whitewater-Af- Gallup hat ein schlichtes Kostüm aus- färe zusätzlich ins Gerede brachte. Nur gesucht, ein blaues Halstuch einer Luxusfrau im Höhenrausch konn- 22 darüber geknotet und geht seit te der Unsinn entfahren, den sie einer Anfang letzter Woche intensiv Januar Juli Januar März Reporterin der Frauenzeitschrift Elle unter die Leute. 1993 1994 kürzlich in die Feder diktierte: Ein Hauch von Pfadfinderin Schuld an der ganzen Aufregung über ist dabei, wenn die Frau des Glamourgirl Hillary (aus Vogue) das längst vergessene Whitewater-Ge- Präsidenten in der Provinz vor schäft seien die Republikaner mit ihrem Kameras und Mikrofone tritt „wohlorganisierten und wohlfinanzier- und endlich das Thema „W“ ten Versuch, die Arbeit meines Mannes anspricht – kurz, doch kämpfe- – und dadurch auch die meine – zu un- risch, getragen vom Jubel ei- tergraben“. nes überwiegend weiblichen Das seien Leute, die „ein anderes po- Publikums. Hier ist wieder der litisches Programm haben oder auch brave Soldat Hillary, der im persönliche und finanzielle Gründe, uns Herbst vorletzten Jahres zu attackieren“. In einer „paranoiden selbstlos für Bill und dessen Verschwörung der wildesten Sorte“ sei- Reformen in den Wahlkampf en diese Kräfte bemüht, „nach Möglich- gezogen war. keiten zu suchen, mich zu unterminie- Ein Faszinosum: die Ver- ren“. wandlungskünstlerin, die in Anderen Verfolgungswahn zu unter- frühere Rollen zurückschlüpft. stellen, wenn frau selber sich verfolgt Denn diese patente Person ist fühlt: das zeugte nicht vom kühlen Sach- natürlich nicht mehr die Hilla- verstand der Juristin Hillary Rodham, ry, die Washington in den letz- die einst als junge Frau in den Kreis der ten Monaten kennenlernte. „hundert erfolgreichsten Anwälte der Die hatte ganz andere Posen USA“ gewählt worden war und in den

DER SPIEGEL 12/1994 149 TITEL

letzten zwei Jahren mit ihren sozialpoli- ßen, ist vollkommen hanebüchen. Es politische Säuberung nutzte, die auf An- tischen Ideen und öffentlichen Auftrit- wäre schon eine unwahrscheinlich hieb nicht sympathisch wirken kann. ten so viele Amerikaner beiderlei Ge- schlafmützige Opposition, die eine Blö- Ein bewährter Hausdiener ist das bekla- schlechts beeindruckt hatte – sogar die ße im Hause Clinton nicht aus eigenem genswerteste Opfer: Chris Emery ist abgebrühten Senatoren und Repräsen- Antrieb ausschlachten würde. sein Name, eingestellt wurde er in den tanten auf dem Kapitolshügel. Die Hillary, die eine „paranoide Ver- Reagan-Jahren, und mit 50 000 Dollar Ein „wohlorganisierter und wohlfi- schwörung wildester Sorte“ anprangert, Jahressalär ernährte er seine fünfköpfi- nanzierter Versuch“ der Republikaner, gehört zu einer anderen Inkarnation ge Familie. Zuletzt blieb Emery dem die Arbeit der First Lady zu „untermi- dieser facettenreichen Persönlichkeit. britischen Staatsgast John Major in Er- nieren“? Hier ist sie wieder, die „Lady Macbeth innerung, dem der Hausdiener die Ge- Der Zungenschlag, der sich da ver- von Little Rock“, die sich nachdrücklich schichte des Lincoln-Gästezimmers er- riet, mußte an verflossene Studentenzei- einer satirischen Behandlung empfiehlt, zählte, bevor der Premier sich in dem- ten erinnern – an die 68erin Hillary bisher jedoch vor allem die Trivialpresse selben schlafen legte. Rodham, die einst in den Eliteschulen beschäftigte. Entlassungsgrund war, daß der treue Wellesley und Yale die amerikanische Dieses gleichsam alternative Erschei- Emery Telefonanrufe seiner ehemaligen Wirklichkeit durch eine besondere Bril- nungsbild Hillarys ist nicht weniger real Herrin Barbara Bush beantwortete, um le wahrgenommen hatte. Was sie nun dieser bei der Handhabung eines Com- andeutungsweise unterstellte, war unge- puterprogramms zu helfen, das er selber fähr dies: Der Respekt vor Hillary einst für sie eingerichtet hatte. Da Frau Die mächtigen Multis der Pharmain- ist inzwischen Barbara gerade ihre Memoiren schreibt, dustrie und die großen Versicherungsge- wirkt die radikale Bestrafung des Die- sellschaften, die sich von der Reform mit Furcht durchwirkt ners wie ein Versuch Hillarys, den Ver- des amerikanischen Gesundheitssystems rat von Hausgeheimnissen zu unterbin- und von der scharfen Kritik der Präsi- als das positive Image, das die Nation den. Wer leidet da an Verfolgungs- dentenfrau bedroht fühlten, würden nun letztes Jahr während der ersten Entfal- wahn? zurückschlagen – mit dem Mittel des tung der neuen First Lady empfangen Der französische Koch Pierre Cham- Rufmords. hatte – es ist aber geprägt durch ihre brin und drei seiner Küchenjungen wur- Den Konzernen derartige Wunsch- Kehrseite, durch nackten Geltungs- den nicht gefeuert, sondern hinausge- träume zu unterstellen ist sicher nicht drang, politische Instinktlosigkeit, ideo- ekelt. Die Presseabteilung der First La- abwegig. Aber die Vorstellung, daß die logische Verbohrtheit, einen Hang zur dy hatte so häufig durchblicken lassen, Republikaner, die aus Whitewater – Vetternwirtschaft und erstaunliche Ge- daß der Mann unfähig sei, fettarme oder mittels Vernehmungen vor dem Kon- fühlskälte. organische Speisen zuzubereiten, daß greß – gern ein Watergate machen wür- Merkwürdig, daß die Herrin im West- ihm nichts anderes übrigblieb als die den, sich dabei von irgendwelchen kapi- flügel des Weißen Hauses diese Wochen Demission. Daß die Umbildung von talistischen Drahtziehern beflüstern lie- schwerer Bedrängnis für eine personal- Hillarys Küchenkabinett noch keines-

24. Dezember 1992 Den Bach runter Wegweiser durch die „Whitewater“-Affäre Der zum Präsidenten gewählte Bill Clin- ton und Hillary verkaufen ihre Anteile an 2. August 1978 4. April 1985 Whitewater für 1000 Dollar an McDougal, Gemeinsam mit dem James McDougal lädt Geschäfts- dessen Sparbank Madison Guaranty in- befreundeten Ehepaar leute aus Arkansas zu einem Emp- zwischen zusammengebrochen ist. Als James und Susan Mc- fang in die Madison Guaranty ein, Anwalt der Clintons tritt Vincent Foster Dougal gründen Bill auf dem um Spenden für die Wahl- auf, ein Hillary-Vertrauter und gleichfalls und Hillary Clinton kampfschulden von Gouverneur Sozius bei Rose. Wenig später wird er 1978 eine Immobilien- Clinton gebeten wird. Doch die zum stellvertre- gesellschaft und erwer- genaue Herkunft des bei die- tenden Rechts- ben ein 92 Hektar ser Gelegenheit eingesammel- berater des großes Waldgrundstück in den Ozark-Ber- Whitewater-Gelände ten Geldes bleibt im dunkeln. Weißen Hauses gen von Arkansas. Als „Whitewater Estate“ Der Verdacht: Die Bank wurde ernannt. soll es erschlossen und parzellenweise wei- geplündert, um Clintons Wahl- terverkauft werden. kampfkasse aufzufüllen. Die Clintons mit Ehepaar Foster

Ende 1984 8. März 1992 20. Juli 1993 Gouverneur Clinton ernennt Beverly Bas- In der New York Times erscheint der Foster stirbt in einem Park in der Nähe von sett Schaffer, eine Freundin der Familie, erste Bericht über das Immobilienge- Washington. Ein Selbstmord ist höchst wahr- zur Bankenaufseherin von Arkansas. Sie schäft „Whitewater“, das die Clintons scheinlich, doch die genauen Todesum- behandelt die in Schieflage geratene Spar- reich machen sollte. Clinton muß stände sind bis heute nicht restlos geklärt. bank Madison Guaranty des Clinton-Freun- noch während des Wahlkampfes eine Noch am Abend des Todestages durch- des McDougal mit ungewöhnlicher Nach- Rechtfertigungsschrift herausgeben. suchen Fosters Chef Bernard Nussbaum sicht. Juristisch wird die Bank vertreten von Aus ihr geht hervor, daß der Parzel- und zwei Mitarbeiterinnen von Hillary, dar- einer Partnerin der Sozietät Rose Law Firm lenverkauf fast 70000 Dollar Verlust unter ihre Stabschefin, das Büro des Toten. aus Little Rock. Ihr Name: Hillary Clinton. Bankbesitzer McDougal bedeutet habe. Sie entfernen Whitewater-Dokumente.

150 DER SPIEGEL 12/1994 wegs abgeschlossen ist, könnte schon Hillarys Freunde verloren ihren freien ihrer Domäne nicht längst das totale beim nächsten Staatsbankett ruchbar Zugang zum Weißen Haus, aber ein Rauchverbot verhängt. werden. übler Nachgeschmack blieb doch. Glaubwürdig dagegen sind die Kom- Nichts als Lappalien und Petitessen? Der Respekt, den Hillary sich im mentare anonym bleibender Beamter Auch kleine Zeichen, die auf Hybris Stab des Weißen Hauses auf Anhieb des Weißen Hauses, die für die „Bun- und Willkür deuten, sollten nicht ganz erworben hatte, ist nicht ausgelöscht, ker-Atmosphäre“ seit Beginn der ignoriert werden. Sie fügen sich in ein doch inzwischen stark mit Furcht Whitewater-Enthüllungen vor allem Bild, das schon vorher erkennbar war, durchwirkt. Die Schärfe ihres Mund- Hillary verantwortlich machen. Hätte aber mehr dem Präsidenten angekrei- werks, die Gletscherkälte ihrer Augen sie sich nur nicht so lange gesträubt ge- det wurde. gen die Ernennung eines unabhängigen Bills teurer Haarschnitt in der Air Ermittlers, dann wäre nicht der fatale Force One, der den internationalen Macht ohne Amt Eindruck entstanden, „daß es bei den Flughafen von Los Angeles für eine sollte es Clintons Leichen im Keller gibt“. Stunde zur Hälfte lahmlegte, mochte Indessen ist es weder Zufall noch noch als Gedankenlosigkeit entschuld- nicht geben männlicher Chauvinismus, wenn es in bar sein. „Travelgate“ hingegen, die der Whitewater-Affäre von Anfang an mutwillige Kündigung von sieben be- und das nichts vergessende Gedächtnis mehr um die Frau des Präsidenten ging währten Angestellten der Reisestelle verleihen dem Arbeitsplatz 1600 Penn- als um Bill Clinton selbst. Die First des Weißen Hauses (sie betreut vor al- sylvania Avenue eine Spur Gefährlich- Lady, das am wenigsten zu öffentlicher lem den großen Journalistentroß), war keit – „wie bei den Medicis im Florenz Rechenschaft verpflichtete Mann- es nicht: des 16. Jahrhunderts“, schreibt die Her- schaftsmitglied des Weißen Hauses, Da handelte es sich um eine dicke renzeitschrift Esquire. „Etwas in Hilla- wird ja eben darum mit besonderem Gefälligkeit für Harry Thomason, den rys Rolle fordert böswillige Männer- Argwohn beobachtet. Mann von Hillarys bester Freundin aus kommentare sogar bei liberalen Baby- Macht ohne Amt, ohne Wahl, ohne Arkansas, Linda Bloodworth-Thoma- boomern heraus.“ festgeschriebenen Verantwortungsbe- son. Harry und seine Frau hatten den Selbst devote Washingtoner Chroni- reich sollte es in einem Rechtsstaat erfolgreichen Werbefilm Bill Clintons stinnen räumen ein, daß sich bei Hillary nicht geben. Insofern war das Mißtrau- für den Parteitag der Demokraten in der Streß bemerkbar mache; aber das en gegen eine starke Präsidentenfrau New York angefertigt. Nun wollte Flackern der Hysterie, das böse Blut im keineswegs nur reaktionär: Hillary ist Harry die Reisestelle des Weißen Hau- Umgang mit dem Ehemann und Präsi- nicht absetzbar, denn sie ist in der ses praktisch an eine Charterfirma ver- denten, die Nachttischlampe, die angeb- amerikanischen Verfassung gar nicht pachten, deren Miteigentümer er sel- lich geworfen wurde – all das ist pures vorgesehen. ber war. Gerücht. Wahrscheinlich wäre von her- Um so geeigneter erscheint sie der Die Sache wurde publik und (dar- umfliegenden Aschenbechern die Rede, Männerwelt für die Rolle des morali- aufhin) zum Teil rückgängig gemacht, hätte die Herrin des Weißen Hauses in schen Blitzableiters. An Bill Clinton

8. Oktober 1993 16. Februar 1994 5. März 1994 Die RTC, eine Abwicklungsbehörde für die Erste Berichte über die Rechtsberater Nussbaum wird in Konkurs gegangenen Sparbanken im Vernichtung von White- gefeuert, nachdem bekannt ganzen Land, empfiehlt dem Justizmini- water-Dokumenten tau- geworden ist, daß er sich in ge- sterium, Ermittlungen in Sachen Whitewa- chen auf. Jeremy Hed- heimen Gesprächen über den ter und Madison Guaranty aufzunehmen. ges, ein Angestellter der Stand der Ermittlungen in Sa- Chef der RTC ist der stellver- Kanzlei Rose, erklärt, chen Whitewater hat berichten tretende Finanzminister Roger er habe Akten in den lassen. Clinton schwört, in Zu- Altman, auch er ein Clinton- Reißwolf gesteckt, die kunft werde es eine „Brand- Freund, der das Weiße Haus mit den Initialen von mauer“ zwischen den Ermitt- über den Stand der Ermittlun- Foster versehen waren. lern und den Betroffenen im Rechtsberater Nussbaum gen auf dem laufenden hält. Weißen Haus geben. Eingang der RTC-Chef Altman Kanzlei Rose 14. März 1994 Staatssekretär Hubbell 20. Januar 1994 Webster Hubbell, dritter 3. März 1994 Oppositions- Justizministerin Janet Reno führer Dole Mann im Justizministeri- ernennt den Juristen Robert Im Kongreß fordern die Repu- um, tritt zurück. Auch Fiske, einen Republikaner blikaner eine parlamentarische Hubbell war ein Partner aus New York, zum Sonder- Anhörung zur Whitewater-Affä- der Rose Law Firm. Zwar staatsanwalt für Whitewater. re. Robert Dole, Oppositions- hat sein Rücktritt formal Fiske erklärt, er werde die führer im Senat, droht, er wer- andere Gründe, doch Clintons unter Eid vernehmen de sonst künftig die Bestäti- trifft auch Hubbell der und auch Fosters Tod unter- gung von Clinton-Ernennungen Vorwurf nicht standes- suchen. Sechs Wochen spä- Sonderstaats- aufhalten. Zwar lehnt Sonderstaatsanwalt gemäßen Verhaltens, ter läßt er durch FBI-Beamte anwalt Fiske Fiske eine parlamentarische Ermittlung ab, der seiner langjährigen zehn Regierungsmitarbeitern gleichwohl beschließt der Senat zwei Wochen Rechts-Partnerin Hillary Clinton in bezug auf Vorladungen zustellen. später ohne Gegenstimmen ein Hearing. Whitewater und Madison Guaranty gemacht wird.

DER SPIEGEL 12/1994 151 TITEL „Hillary war eindeutig die Aktive“ Die Beziehungen der Clintons zu den Reichen und Erfolgreichen von Arkansas

ur 16 Straßenblocks trennten Bill maker“. So werden jene Sozietäts- Im Worthen-Hochhaus, nur wenige und Hillary Clinton, wenn sie in Partner genannt, deren besonders gute Straßen vom Stephens Building ent- NLittle Rock an ihren Arbeitsplät- Verbindungen der Firma einen war- fernt, liegt das Anwaltsbüro Wright, zen saßen. Gleichwohl lagen dann zwi- men Geldregen von zahlungskräftigen Lindsey & Jennings. Hier fand Bill schen ihnen die Büros von allen, auf Klienten bringen. Clinton Unterschlupf, als ihn die Wäh- die es in Arkansas ankommt. Vor allem nachdem Bill 1978 den ler 1980 für zwei Jahre aus dem Amt Wie mit dem Lineal gezogen, ver- Sprung in den Gouverneurssessel ge- katapultiert hatten. Die Großzügigkeit bindet die 4. Straße den Nordflügel des schafft hatte, den er mit zweijähriger seiner Kollegen dankte Clinton später Arkansas State Capitol, wo Gouver- Unterbrechung bis nach seiner Wahl mit einem Job im Weißen Haus: Part- neur Clinton in einem Eckzimmer des zum Präsidenten der USA im Novem- ner Bruce Lindsey gehört als stellver- ersten Stocks insgesamt zwölf Jahre ber 1992 innehielt, brauchte sich Hilla- tretender Stabschef zu seinen engsten lang residierte, mit dem roten Back- ry Rodham Clinton um Klienten keine Begleitern. steinbau, Straßennummer 120, am Sorgen mehr zu machen. Viele saßen Lindseys heutiger Boß, Stabschef Ostrand der Innenstadt, wo sich das nur einen Steinwurf entfernt. Thomas McLarty, ist nicht nur Bill Clintons Schulfreund aus Hope (Arkansas). Er war auch ein Hillary- Klient – als Chef des Energiekonzerns Ar- kla, einer Stephens-Fir- ma. Beim größten Einzel- handelsunternehmen der USA, dem Kauf- haus-Giganten Wal- Mart aus Little Rock, besetzte die Gouver- neursgattin einen Po- sten im Verwaltungsrat. Einer ihrer wichtigsten Klienten war überdies der Hühner-König Don Tyson, ein langjähriger Förderer ihres Mannes. Geschadet hat das nicht: Bis heute blieben Tysons Geflügel-KZ von der staatlichen Auf- sicht wie durch ein Wun- der verschont, obwohl dieExkremente derTie- Ehepaar Clinton in der Gouverneursresidenz von Arkansas (1979): Hilfreiche Freunde re ganze Flußlandschaf- ten verseuchen. zweite Machtzentrum der Stadt befin- Da gab es das Finanzimperium der Die geschäftliche Seite des Familien- det. „Rose Law Firm“ prangt dort in Stephens-Brüder. Stephens, „das unternehmens Rodham & Clinton be- ehernen Lettern über der Doppeltür. größte Maklerhaus außerhalb der Wall sorgte vor allem die Gattin. Selbst ein Hier stand der Schreibtisch der jetzi- Street“, ist ein Rose-Kunde und der Fi- Intimfeind des Präsidenten, der ehe- gen First Lady Hillary. nanzier von Arkansas. Unzählige poli- malige Studienkollege Cliff Jackson, Wer immer in Arkansas etwas errei- tische Karrieren, darunter auch die muß zugeben, daß es „Bill nie um Geld chen wollte, ging zu Rose. Auch die von Bill Clinton, wurden mit Stephens- gegangen ist“. Jungjuristin Hillary Rodham Clinton Geld genährt. Doch der Versuch, viele Moneten zu schaffte 1977 die Aufnahme in die ex- Hilfreich war stets auch die von der machen, wollte Hillary Clinton nicht klusive Kanzlei. Zwei Jahre später Finanz-Familie gegründete Worthen- so recht gelingen. Dank ihrer Ver- durfte sie bereits als Partnerin in den Bank, ein Klient von Hillary Clinton. pflichtungen als Landesmutter stieg ihr illustren Führungskreis aufrücken. Worthen gewährte dem Wahlkämpfer Anwaltssalär auch zuletzt kaum über Ehemann Bill war inzwischen zum Ju- Clinton 1992 einen Kreditrahmen von 200 000 Dollar im Jahr. Das war zwar stizminister gewählt worden. 3,5 Millionen Dollar, als dessen Präsi- immer noch fast sechsmal soviel, wie Als wichtig für die Rose Law Firm dentschaftskampagne an Geldmangel ihr Gouverneur heimbrachte, im Ver- erwies sich Hillarys Funktion als „rain- litt. gleich zu den Rose-Kollegen aber be-

152 DER SPIEGEL 12/1994 über derjenigen des Ehepaars Reagan angesetzt. Dem flot- scheiden. Dankbar hatte sie daher ten Bill wurde ein extravagan- 1978 das Angebot des damals wohlha- ter Haarschnitt verübelt – Ro- benden Familienfreundes James nald Reagan dagegen hätte McDougal angenommen, ein gemein- sich in der Air Force One die sames Immobilienprojekt namens Zehennägel mit Blattgold „Whitewater“ zu gründen. Auf der überziehen lassen können, oh- Verbindung lag indes kein Segen. ne besonderen Anstoß zu er- „Hillary war eindeutig die Aktive“, regen. Er hatte ja auch nie et- berichten alle, welche die Verstrickung was anderes gepredigt als das der Clintons in die „Whitewater“-Stru- Streben nach Reichtum und del kennen. Glück. Um Hillary ranken sich denn auch Hillarys „Politik der Inhal- die meisten offenen Fragen in der Af- te“ indessen, ihre Bemühun- färe: Die Frau, die gebrauchte Unter- gen um Sinnstiftung und wäsche ihres Mannes an Bedürftige ihr politisches Reinheitsgebot spendete und steuersenkend beim Fi- hatten ihr bei der New York nanzamt geltend machte, läßt den be- Times den keineswegs nur iro- trächtlichen Steuervorteil des angebli- nisch gemeinten Titel einer chen Whitewater-Verlustes von fast Clinton-Geliebte Gennifer Flowers „Saint Hillary“ eingetragen. 70 000 Dollar ungenutzt. Warum? Libido auf Sonderwegen Die First Lady war darum, Erfolgreicher war Hillary ebenfalls sollte etwas schiefgehen im 1978 mit hochriskanten Warentermin- selbst nämlich (den Vietnam-Drücke- Joint-venture mit Bill, zur Sündengeiß geschäften. Beraten von Tysons Star- berger, der zwar nachweislich Marihua- geradezu prädestiniert. anwalt James Baird, selbstverständlich na geraucht, aber nach eigenem Be- Freilich kommt es auf die Sündende- auch ein Freund der Clintons, konnte kenntnis dabei nicht inhaliert hat) wer- finition an, die nicht überall in Ameri- die Jungspekulantin binnen zwölf Mo- den keine überpingeligen Maßstäbe an- ka die gleiche ist. Der populistische naten 100 000 Dollar Gewinn einfah- gelegt; andere Talente wirken bei ihm Südstaatler Huey Long beispielsweise ren. stärker ausgeprägt als die reine Lauter- hat als Gouverneur in Baton Rouge 1986 startete Hillary Clinton mit keit. einmal den moralphilosophischen Rose-Kollegen einen Investment- Hillary indessen hat sich als morali- Lehrsatz geprägt: „In der Politik von fonds, der so aggressiv verwaltet wur- sche Anstalt profiliert. Sie vor allem war Louisiana kann man sich alles leisten, de, daß sechs Jahre später ihr Anteil es, die Anfang 1992 den langen Marsch außer im Bett mit einer toten Frau bereits 700 000 Dollar wert war. Nun aus der Anonymität der Provinz auf die oder einem lebenden Jungen erwischt drohen politische Probleme, seit be- Washingtoner Weltbühne mit einer ver- zu werden.“ kannt wurde, daß die Fonds-Verwal- klausulierten Absage an die Philosophie So kraß würde das im Nachbarstaat tung Spekulationen auf Kursverluste der achtziger Jahre eröffnete. Sie drück- Arkansas bestimmt niemand formulie- bei Krankenversicherungen einging – te ihre Verachtung für den Tanz ums ren; aber in seiner Heimat – als Gou- ausgerechnet an dem Tag, bevor Hilla- Goldene Kalb während der Reagan-Ära verneur – und hernach auch im Wei- ry eine Brandrede gegen das Versiche- am deutlichsten aus. ßen Haus hat Bill Clinton nicht selten rungsgewerbe hielt. Kursverluste bei Die moralische Fallhöhe jedenfalls den Eindruck erweckt, daß ein Regie- Versicherungsaktien waren danach war im Hause Clinton, dank Hillary, render die Spielregeln für Normalver- ebenso unvermeidlich wie ein sechs- nun einmal ein beträchtliches Stück braucher nicht gar so ernst nehmen stelliger Gewinn des Fonds. Zu den Anlage-Partnern gehörten die Rose-Juristen Vincent Foster, Webster Hubbell und William Kenne- dy, die alle Hillary Clinton nach Wa- shington gefolgt waren. Mit wenig Glück: Foster hat seinem Leben im Ju- li vorigen Jahres vermutlich selbst ein Ende gesetzt; Kennedy war in allerlei Fehlentscheidungen des Weißen Hau- ses verstrickt; und Hubbell mußte von seinem Führungsposten im Justizmini- sterium zurücktreten. Die gegenwärtige Krise trifft die 174 Jahre alte Kanzlei so hart, daß Insider in Little Rock sogar das Ende des Tra- ditionsunternehmens nicht mehr aus- schließen mögen. Ein Partner, der zu- nächst gehofft hatte, mit dem Einzug der „Arkansas-Armada“ ins Weiße Haus werde das Geld erst so richtig fließen, schimpft heute: „Ich wünsch- te, es hätte Hillary Clinton nie gege- ben.“

Präsidentenehepaar Roosevelt (1935): Platonische Freundschaft

DER SPIEGEL 12/1994 153 müsse. Schließlich ist in Little Rock festes Liebesverhältnis zu ei- ein Politiker vom Charisma des Wil- ner jüngeren Frau unterhielt. liam Jefferson Clinton jemand, der – Das war der Wendepunkt um mit Brecht zu reden – alles dürfen in Eleanors Leben: Sie recht- darf. fertigte ihre Existenz im Prä- Auch Hillary, die aus einer nördli- sidentenpalais dann allein chen Vorstadt Chicagos stammt und durch politischen Aktivis- ihre Erziehung und Ausbildung an den mus, wurde zur platonischen besten Universitäten Neuenglands er- Freundin ihres Mannes und hielt, hat sich im Südstaat Arkansas – entwickelte sich zur großen wohin sie 1974 ihrem Kommilitonen Propagandistin des New Bill Clinton gefolgt war und wo sie Deal. dann beinahe zwei Jahrzehnte gelebt Einen Machtanspruch hat – mit bewundernswerter Gründ- aber, der sich allein durch lichkeit akklimatisiert. den Besitz des Eherings legi- Die „informelle Art, Geschäfte ab- timieren konnte, entwickelte zuwickeln“, in der „die Kultur von Eleanor Roosevelt nicht. Das Little Rock ihre Wurzeln hat“, wo „die kann ja auch nach aller Logik Beziehungen hinter den Kulissen für wahre Feministinnen kein mindestens so wichtig sind wie die for- erstrebenswertes Ziel sein. male Machtstruktur“ (The New York Jetzt herrscht große Aufre- Times): dort hat Hillary Rodham, die gung in Washington: Lee Ha- sich erst viele Jahre nach ihrer Heirat milton ist der erste einfluß- für die Wahlkampfzwecke ihres Man- reiche Demokrat auf dem nes auch Clinton nannte, schnell Fuß Kapitolshügel, der sich dem gefaßt; dort wollte sie am Wirtschafts- Verlangen der Republikaner geschehen teilnehmen. anschließt und für alle Denn Hillary war ja diejenige in der Aspekte der Whitewater-Af- Familie, die notgedrungen das Geld färe Vernehmungen vor dem verdienen mußte; Bill brachte selber Kongreß fordert. Je länger nicht viel nach Hause. Mit seinem diese Geschichte sich hin- Lehrauftrag im Universitätsstädtchen zieht und je mehr peinliche Fayetteville, als Justizminister von Ar- Einzelheiten durch den Jagd- kansas, bald danach als jüngster ameri- instinkt der Presse zutage ge- kanischer Gouverneur – stets war die fördert werden, desto größer Bezahlung eher kümmerlich, und die wird die Zahl derer, die vor Juristin Hillary Rodham verdiente bei dem großen Spektakel nicht der hochrenommierten Rose Law Firm mehr zurückschrecken. weitaus mehr. Sympathie-Werberin Hillary Clinton* Ein Watergate wird sicher Gouverneursgattin in der tiefen Pro- Ein Hauch von Pfadfinderin nicht daraus. Selbst der vinz „war so ziemlich das letzte, das Nachweis einer Vertu- ich mir als Lebensziel ausgemalt hat- wahljahr 1992 gegen Honorar zu Ge- schungsaktion des Weißen Hauses wür- te“, gab die damals 31jährige gegen- ständnissen verleiten. de keine wirklich gravierenden Folgen über einem Damenkränzchen in Little Da erwies sich Hillary nicht nur als haben, weil die ursprünglichen Verfeh- Rock so ehrlich wie taktlos zu. Daß sie treuer Kamerad, sondern auch als politi- lungen in Arkansas ja strafrechtlich höhere, zumindest andere Ziele an- sche Verbündete ersten Ranges. Sie zog kaum relevant waren. Obendrein dürf- strebte, war offenkundig. Bill vor die Fernsehkameras, und händ- ten sie längst verjährt sein. Denn auch das Geldverdienen nach chenhaltend bekannten sie sich gemein- Nur ein Tölpel, schreibt der Kolum- der Art von Arkansas verlangte offen- sam zu einer längst überwundenen nist Abe Rosenthal in der New York bar nach einem Gegengewicht, um das „Ehekrise“. Bills Wahlfeldzug war ge- Times, könne als Amerikaner Befriedi- soziale Gewissen zu beruhigen. Hillary rettet. gung finden beim Anblick einer rui- gehörte bald zu jenem neuen Frauen- „Er steht tief in ihrer Schuld, er nierten Präsidentschaft. Bill Clintons nimmt auch weiterhin ihre Toleranz in Karriere schon im zweiten Jahr seiner Anspruch, und er bewundert nach wie ersten Amtszeit zu Ende zu bringen ist Bill und Hillary sind vor ihren Intellekt“, faßt ein alter Be- bestimmt nicht das Ziel der Politiker, Verbündete auf kannter des Präsidenten diese Ehe zu- die immer heftiger auf öffentliche Ver- sammen. Daß Bill auf Distanz gehen nehmungen in Sachen Whitewater Gedeih und Verderb könnte, wenn Hillary aus ihrer Anwalts- drängen. zeit in Little Rock ein ethischer Sünden- Was aber erstreben sie dann, die typ, der „alles“ haben wollte: Beruf und fall nachzuweisen wäre, gilt als unwahr- Repräsentanten und Senatoren? Wohl Ehe, Kinder und Karriere, Sozialarbeit, scheinlich. Sie sind Verbündete auf Ge- doch die Änderung eines Zustands, Kirche, Umwelt, politisches Engage- deih und Verderb. den sie als institutionell fragwürdig ment, Feminismus. Kuriose Parallele: Eleanor Roosevelt, empfinden, den sie aber nicht nur des- Bill unterstützte das von ganzem Her- die einzige Feministin im Weißen Haus halb zu beenden trachten. zen, begab sich aber zum Ausgleich mit vor Hillary Clinton, hatte noch vor Im stillen kollektiven Wunschdenken der eigenen Libido auf Sonderwege. Franklin Delano Roosevelts Wahl zum dieser traditionsverbundenen Männer- Gennifer Flowers, eine Dauerflam- Präsidenten entdeckt, daß ihr Mann ein welt entwickelt sich eine Neuformu- me, die in Nachtklubs auftrat und der er lierung des „Bündnisses auf Gedeih einen Verwaltungsjob verschafft hatte, * Beim Besuch der Universität von Colorado in und Verderb“: Gedeih, Bill; verdirb, ließ sich ausgerechnet im Präsidenten- Boulder vorletzte Woche. Hillary.

154 DER SPIEGEL 12/1994 TITEL „Dahinter steckt Sexismus“ SPIEGEL-Interview mit der US-Frauenrechtlerin Kim Gandy über die Angriffe auf Hillary Clinton

Gandy, 40, studierte Mathematikerin Berichterstattung dieses Thema zu ei- on, in der sie eigentlich nur verlieren und Juristin, ist seit 1991 geschäfts- nem Skandal machten. kann. führende Direktorin der National Or- SPIEGEL: Sie als Rechtsanwältin sehen Wenn sie jetzt versucht, vor der Öf- ganization for Women, der größten aus Whitewater keine dunklen Geheim- fentlichkeit alle Fragen zu beantwor- Bewegung für Frauenrechte in den nisse aufsteigen, die zu untersuchen ten, setzt sie sich dem Vorwurf aus, USA. Aufgabe der Medien wäre? die Untersuchungen des Whitewater- Gandy: Nein, überhaupt keine. Ich habe Sonderstaatsanwalts zu behindern. Der SPIEGEL: Frau Gandy, eine der ein- die Anschuldigungen genau geprüft – es hat Hillarys Mitarbeiter bereits vergat- flußreichsten Persönlichkeiten in der sind bloße Unterstellungen. Das geht so tert, seine Arbeit nicht durch die Preis- amerikanischen Frauenbewegung, Hil- weit, daß behauptet wird, Vince Fo- gabe von Informationen zu gefähr- lary Clinton, steht unter schwerem Be- ster . . . den. schuß. War die Präsidentengattin ein SPIEGEL: . . . der frühere Kollege von Wenn sie sich aber keiner öffentlichen guter Anwalt in eigener Sache? Hillary Clinton und stellvertretende Befragung stellt, wird man sie dafür Gandy: Während der Amtszeit anprangern. ihres Mannes hat sie sich ganz SPIEGEL: Hillary Clinton ist das ein- ausgezeichnet gehalten und vor flußreichste Mitglied im politischen allem die Interessen der Bevöl- Team des Präsidenten. Zugleich aber kerung dieses Landes vertre- beansprucht sie alle Schutzrechte von ten, ganz besonders der Schich- Privatpersonen – mit dem Hinweis, sie ten mit geringem Einkommen. bekleide kein Amt in der Regierung. Sie hat den Boden bereitet für Bestärkt das nicht alte Vorurteile über ein Krankenversicherungssy- Frauen in hohen Positionen? stem, das Millionen Amerika- Gandy: Nein, denn Hillary Clinton un- nern helfen wird. Es wird auch terscheidet sich von allen übrigen Be- jene absichern, die derzeit kei- ratern des Präsidenten nur darin, daß nen Versicherungsschutz genie- sie auch seine Frau ist. In ihrer Rolle ßen. als Leiterin des Stabs für die Kranken- Hillary Clinton war sogar au- versicherungsreform dagegen hatte sie ßerordentlich mutig, als sie vor Rechte und Pflichten wie alle anderen wenigen Monaten die milliar- denschwere Versicherungsindu- strie kritisierte. Dafür muß sie „Das Weiße Haus nun zahlen, denn für die Versi- wird mit cherungen steht enorm viel Geld auf dem Spiel, wenn Anrufen überflutet“ der Clinton-Plan durchkommt. Versicherer und Republikaner Berater. Auch die haben Anspruch auf stecken hinter dem sogenann- eine Privatsphäre. ten Whitewater-Skandal. SPIEGEL: Wie reagieren Amerikas SPIEGEL: Und die Clintons ha- Frauen auf die unablässige Kritik an ben nichts falsch gemacht? Hillary Clinton? Gandy: Es geht doch nur an Gandy: Sie werden wachgerüttelt. An- der Oberfläche um Whitewa- fangs hegten viele Frauen zwiespältige ter. Die Geschichte ist den Hillary-Verbündete Gandy Gefühle gegenüber einer Geschlechts- Gegnern der Clintons seit 1992 „Alles tun, um Schaden zu vermeiden“ genossin in so einflußreicher Position. bekannt. Es war ein ausgespro- Jetzt, wo sie mehr Informationen ha- chen schlechtes Immobiliengeschäft, an Rechtsberater des Präsidenten, der im ben und merken, daß Hillary Clinton dem Hillary Clinton nur passiv beteiligt vergangenen Juli erschossen aufgefun- kaputtgemacht werden soll, um den war. den wurde . . . Wandel zu verhindern, der für unser SPIEGEL: Wäre Offenheit von Anfang Gandy: . . . sei ermordet worden. Da- Land so wichtig ist, ergreifen sie Posi- an nicht viel hilfreicher gewesen? für gibt es nicht die Spur eines Bewei- tion. Nicht nur wir, auch das Weiße Gandy: Im nachhinein ist man immer ses. Das belegt doch, wie weit die Haus wird überflutet mit Anrufen, die klüger. Als die Geschichte aufgebracht Gegner der Clintons zu gehen bereit Hillary Clinton zum Durchhalten auf- wurde, hat Hillary Clinton sich gesagt: sind. Sie werden keinen Erfolg damit fordern. Ich sehe hier keinen Skandal und werde haben. Aber sie machen ihr damit das SPIEGEL: Sehen Sie frauenfeindliche auch nicht so tun, als gäbe es einen. Sie Leben schwer. Motive hinter der Kritik an Hillary wollte nicht denen in die Hände arbei- SPIEGEL: Wenn es so gar nichts zu ver- Clinton? ten, die mit dieser angeblichen Affäre bergen gibt, wäre es dann nicht besser, Gandy: Nach ihrem Einzug ins Weiße die Krankenversicherungsreform aus wenigstens jetzt alle Fakten auf den Haus mußte sie sicher große Vorurteile dem Gleis zu werfen suchten. Leider ha- Tisch zu legen? überwinden und einen goldenen Mit- ben die amerikanischen Medien unver- Gandy: Das ist nun kaum noch mög- telweg finden zwischen dem Geplauder antwortlich gehandelt, als sie durch ihre lich. Hillary Clinton ist in einer Situati- über Mode und Porzellan, das viele

DER SPIEGEL 12/1994 155 Aktivistin Clinton beim Krankenbesuch „Versicherungsindustrie kritisiert“

von der Frau des Präsidenten erwar- ten, sowie ihrem Engagement für wich- tige politische Aufgaben. Sobald sich Hillary Clinton zu sehr um Politik kümmert, wird sie dafür kritisiert. Da- hinter steckt Sexismus. Die Whitewater-Attacken gehen dar- über hinaus. Sie richten sich mehr ge- gen die einflußreiche und glaubwürdige Advokatin für politische Veränderun- gen und für eine grundlegende Ge- sundheitsreform. SPIEGEL: Jeden Mitarbeiter, der zur Belastung wird, kann der Präsident feuern, nicht aber seine Frau. Ist das nicht das Problem? „Der Präsident kann sich von engsten Freunden trennen“

Gandy: Sollte Bill Clinton je zu der Auffassung kommen, daß die First La- dy ihr übertragene politische Aufgaben nicht mehr angemessen erfüllen kann, wird es ganz schnell eine gemeinsame Pressekonferenz der beiden geben. Dort wird dann Hillary erklären, daß sie sich ab sofort anderen Aufgaben widmen wolle. SPIEGEL: Damit rechnen Sie aber nicht in nächster Zeit? Gandy: Weder jetzt noch in Zukunft. Aber Hillary Clinton liegt der Erfolg dieser Präsidentschaft so sehr am Her- zen, daß sie alles tun würde, um Scha- den zu vermeiden. Und Bill Clinton hat doch wohl bewiesen, daß er sich der Sache wegen sogar von engsten Freunden trennen kann. SPIEGEL: Aber nicht von Hillary . . . Gandy: . . . weil er die offensichtlich nicht für eine Belastung hält. Y

156 DER SPIEGEL 12/1994 AUSLAND

Die Räumung solch radikaler Siedler- Saı¨b Irakat, Delegationschef für die Israel Hochburgen hatte nicht nur PLO-Chef Friedensgespräche, belächelte es als Jassir Arafat als Bedingung für eine „bloße Pille Aspirin“. Wiederaufnahme des Friedensprozesses Zu weitreichenden politischen Gesten gefordert. Auch in Israels Regierung zeigte sich Israels Regierungschef vor- Sehnsucht mehrt sich der Unmut über die Präsenz erst nicht bereit: Nach dem Besuch bei aggressiver Extremisten in den besetz- US-Präsident Bill Clinton, der helfen ten Gebieten: 62 Palästinenser, so die is- soll, den festgefahrenen Aussöhnungs- und Kampf raelische Menschenrechtsorganisation prozeß wieder mobil zu machen, ver- Bzelem, seien dort seit Beginn der Inti- sprach Rabin in vagen Worten Maßnah- Palästinenser fordern die Räumung fada vor gut sechs Jahren von israeli- men zum Schutz der Palästinenser. radikaler Siedler-Hochburgen. schen Zivilisten erschossen worden. PLO-Forderungen nach Stationierung Hebrons hartgesottene Dogmatiker, internationaler Beobachter lehnte er je- Hebrons rechte Zeloten rüsten die sich als religiöse Vorhut israelischer doch rundweg ab. gegen die Evakuierung. Landnahme begreifen, fürchten nicht Mit seiner hartleibigen Haltung will nur die blutige Vergeltung palästinensi- Rabin vor allem innenpolitisch Spiel- scher Terroristen. Vor allem argwöhnen raum gewinnen: Seine Regierungskoali- ie Pforten zum Paradies sind per- tion verfügt auch nach fekt bewacht: Sie liegen, laut einer dem Beitritt der religiö- Djüdischen Legende, hinter den zy- sen Schas-Partei nur klopischen Mauern der Patriarchengruft über eine knappe in Hebron. Jetzt, dreieinhalb Wochen Mehrheit; die Untersu- nach dem Massaker in der Ibrahim-Mo- chungskommission für schee, bei dem der Siedler Baruch Gold- das Hebron-Massaker stein, begleitet offenbar von einem Kom- fördert immer neue plizen, mindestens 30 betende Moslems Ungereimtheiten und erschoß und Dutzende schwer verletzte, Widersprüche zutage, sichern israelische Grenzpolizisten die die ihm in seiner Dop- Zugänge. Eliteeinheiten sind auf Dä- pelrolle als Premier chern und an Straßensperren postiert. und Verteidigungsmini- „Wir können leider noch nicht wieder ster gefährlich werden rein, wegen der Araber“, bedauert Mo- könnten. ria Seira, 23, aus der nahe gelegenen is- Doch selbst wenn raelischen Siedlung Kirjat Arba. Die Gespräche über eine Fremdenführerin, die im Auftrag der Evakuierung jüdischer Talmud-Schule „Rückkehr nach He- Siedlungen „zum ge- bron“ rare Touristen auf den „Pfad der genwärtigen Zeit- Patriarchen“ führt, erklärt das Innere der punkt“ (Rabin) noch monumentalen Grabanlage daher an tabu sind, signalisierten Hand von Fotos: „Hier liegt der Eingang Israels Unterhändler zum Garten Eden.“ gleichwohl, daß sie – Hebrons Realität ist weniger glückse- nach der Wiederauf- lig. Seit der Mordtat des israelischen Arz- nahme der Friedensge- tes, den Führerin Moria ehrfürchtig als spräche – bereit sind, „wirklich besonderen Menschen“ be- mit der PLO über die schreibt, wurden vor den fünf jüdischen Zukunft einiger isolier- Enklaven Hebrons tonnenschwere Be- ter israelischer Enkla- tonplatten aufgebaut – Schutz gegen Ge- ven zu verhandeln. wehrfeuer und Molotowcocktails. Protestdemo in Tel Aviv*: „Stimmung des Irrsinns“ Die orthodoxen Die 100 000 palästinensischen Ein- Hardliner Hebrons arg- wohner der Stadt stehen seit dem Atten- sie, Israels Premier Jizchak Rabin könn- wöhnen, daß vor allem ihre Stützpunkte tat unter kollektivem Ausgehverbot. te ihre waffenstarrenden Siedlungen in Gefahr wären. Dem möglichen Räu- Frei bewegen können sich hingegen die evakuieren lassen. mungsbefehl wollen sie daher mit der ra- rund 400israelischen Siedler – aus Furcht Daß dessen Geduld mit den rechten schen Anwerbung zusätzlicher Zeloten vor Angriffen meist jedoch in Gruppen, Ultras am Ende ist, bewies Rabin am zuvorkommen: Vergangene Woche fei- viele behängt mit Funksprechgeräten vorletzten Sonntag: Gerade noch recht- erten sie den Zuzug einer weiteren Fami- und Maschinenpistolen; Busse und Au- zeitig vor Beginn seines USA-Besuches lie. Unweit der Patriarchengräber soll tos fahren nur in Begleitung der Armee. ließ er, per Kabinettsbeschluß, die radi- noch vor dem jüdischen Passah-Fest eine „Fühle die majestätische und heilige kalen Gruppen „Kach“ und „Kahane Talmud-Schule fertiggestellt werden. Atmosphäre, die aus jeder Ecke Hebrons Chai“ für illegal erklären – rassistische Nicht alle Anwohner indes verkraften aufsteigt“, verspricht das Informations- Organisationen im Geiste des fanati- die jetzt verordnete Wagenburgmentali- blatt für Besucher, das Moria verteilt. schen Rabbiners Meı¨r Kahane, der 1990 tät. Mehr als150Siedler aus dem benach- Doch der Ausflug („Geschützte Wagen in New York ermordet wurde. barten Kirjat Arba erkundigten sich nach mit bewaffneten Führern“), angekündigt Das Verbot, von Israels rechter Op- Entschädigung für den Fall eines „freiwil- als „aufregende Tour durch Tausende position prompt gerügt als „US-Diktat, ligen Abzugs“. Vergangene Woche Jahre von Siedlung, Sehnsucht und um die Palästinenser zu besänftigen“, packte die erste Familie die Koffer: Awi Kampf“, soll vor allem Sympathien für beeindruckte die PLO-Führung nicht. Malul, von seinen Nachbarn als „Verrä- die kleine Schar ultraorthodoxer Zeloten ter“ beschimpft, zog nach Jerusalem, wecken. „Hebron“, so das Motto, „darf * Transparent-Aufschrift: „Laßt euch nicht an der weil er die „Stimmung des Irrsinns“ nicht nicht verlassen werden.“ Nase herumführen.“ mehr ertrug. Y

DER SPIEGEL 12/1994 157 AUSLAND

Gespaltenes Land Kroatisch-moslemischer Teilungsvorschlag für Bosnien-Herzegowina Bevölkerungsverteilung in Bosnien vor Kriegsausbruch KROATIEN 75 Km

Ostslawonien Krajina

SERBIEN 8 7 13 KROATIEN Banja Sarajevo Luka 9 3

KROATIEN SERBIEN Gebiete mit Maglaj 16 mehr- mehr 2 Tuzla heitlicher als 2/3 10 serbischer 1 Zadar kroatischer MONTENEGRO moslemischer Serbische Kantone 14 15 11 17 Bevölkerung 1 Drvar Sarajevo 2 Banja Luka 6 Derzeitiger Frontverlauf in Bosnien 3 Semberija KROATIEN 4 4 Romanija 12 5 Alt-Herzegowina Kroatische Kantone Mostar

SERBIEN 6 West-Herzegowina 5 KROATIEN 7 Posavina Sarajevo 18 Moslemische Kantone MONTENEGRO Uno/EU- Dubrovnik 8 Una Protektorat von 9 Tuzla Serben Umstrittene Kantone 10 Zenica Kroaten MONTENEGRO 13. Sana 16. Maglaj Moslems 11 Sarajevo 14. Gornja 17. Podrinje gehaltene Gebiete 12 Mittel-Herzegowina 15. Lasˇva 18. Neum Von Serben gehaltene Gebiete in Kroatien Balkan gehört nun ebenso der Vergangenheit völkerung stellen, bilden sie in der zu- an wie das Streben Zagrebs nach einem künftigen Konföderation 60 Prozent der ethnisch reinen Großkroatien. Einwohner – die moslemische Mehr- Den slawischen Streithähnen blieb heitsbevölkerung Bosniens kommt da- Voller keine andere Wahl, seit sich Moskau als gegen gerade noch auf 25 Prozent an der Schutzpatron der Serben und Gegenge- Gesamtbevölkerung. wicht zu den Vereinigten Staaten auf Das Washingtoner Vertragswerk Tücken dem Balkan in Szene setzt und die An- steckt voller Tücken und Schwachstel- gliederung serbischer Eroberungen an len. Keine Einigkeit besteht unter den Eine kroatisch-moslemische Kon- Belgrad als Ausweg zur Lösung des fast Parteien, föderation ist beschlossen, zweijährigen Konfliktes akzeptiert. Da i in welchen Grenzen die bosnischen mußten Moslems und Kroaten ihre Feh- Kantone abgesteckt werden sollen, doch eine Nachkriegsordnung fehlt. de schnellstens beenden, um in gemein- i wer sich der rund 1,5 Millionen kroa- samer Allianz die Gefahr aus dem Osten tischen und moslemischen Vertriebe- as ist eine Vernunftehe“, erklärte abzuwehren. nen annimmt und die Rückführung in Bosniens Präsident Alija Izetbego- Bei dem Washingtoner Arrangement ihre alte Heimat absichert, Dvic´ und zeigte sich entsprechend stand das Modell der Schweizer Eidge- i wie die paritätische Besetzung der ge- zuversichtlich: „So eine Verbindung hält nossenschaft Pate. Jeder Kanton, so meinsamen Armee aussehen kann, oft länger als ein Liebesbund.“ wollen es die Staatsrechtler, wird eine i wie der wirtschaftliche Wiederaufbau Wie lange die Liaison zwischen dem eigenständige Verwaltung für die Berei- bestritten wird. bosnischen Moslemführer und seinem che Polizei, Bildung, Kultur und Sozia- Politiker beider Lager reden weiter kroatischen Amtskollegen Franjo les erhalten. Eine übergeordnete Zen- haßerfüllt aneinander vorbei. Der Mos- Tudjman aber bestehen wird, bleibt un- tralregierung regelt in Absprache mit lemvertreter in Zagreb, Semsˇo Tanko- gewiß. Die erbitterten Feinde von ge- den Kantonen die Außenpolitik, die vic´, ließ bei einer Fernsehdiskussion kei- stern gaben am vergangenen Freitag un- Verteidigung, Wirtschaft und Finanzen. nen Zweifel aufkommen, daß die Kon- ter der Obhut von US-Präsident Clinton Moslems und Kroaten übernehmen föderation nur ein Gebilde auf Zeit sei, in großer Washingtoner Zeremonie le- im jährlichen Wechsel das Amt des Prä- bis „Bosnien wieder in seinen histori- diglich das Ja-Wort zum Zweierbund – sidenten. Dach dieses neuen Zwei-Völ- schen Grenzen ersteht“. Kroatische Dis- einer kroatisch-moslemischen Konföde- ker-Staates soll eine Konföderation mit kussionsteilnehmer drohten: „Wir holen ration. der Nachbarrepublik Kroatien sein. uns einfach unser Land – Bosnien ade.“ Beide Parteien opferten dabei ihre Das Kalkül der Kroaten: Während ih- Trotz aller Skepsis stehen die Wa- Träume: Der Kampf der Regierung in re Landsleute innerhalb der bosnischen shingtoner Unterschriften für eine Wen- Sarajevo für ein einheitliches Bosnien Grenzen nur knapp 15 Prozent der Be- de im Balkankonflikt. Nicht mehr Euro-

158 DER SPIEGEL 12/1994 pa ist der Regisseur, sondern die großen när geworden, nachdem er ein Drittel die meist nur einen einzigen Kandidaten Zwei entscheiden über das Schicksal der sämtlicher Erdbebengelder aus Rom auf anbieten. In seinem Wahlkreis in der Betroffenen. Rußland und die Vereinig- eine Bank überweisen ließ, an der er Nähe von Salerno kann er auf 50 000 ten Staaten stecken in Europa ihre Ein- nebst 13 Familienmitgliedern als Aktio- Wählerstimmen rechnen, die dankbare flußsphären ab – damit zahlt der alte när beteiligt ist. Klientel von einst. Sie wird ihn gewiß Kontinent für seine eklatante Hilflosig- Nun steht De Mita unter schwerem nicht im Stich lassen. keit im Balkangemetzel. Korruptionsverdacht. Beim Partito Po- Jeder dritte der christdemokratischen Das Gespenst von Jalta – als Stalin, polare, einer Nachfolgepartei der unter- Kandidaten im Süden Italiens stammt Roosevelt und Churchill 1945 die Gren- gegangenen DC, durfte er daher nicht aus dem alten politischen Establish- zen Europas neu gezogen hatten – ist kandidieren. Mit Unterschriftensamm- ment, gegen viele von ihnen laufen Er- auf dem Südbalkan wieder lebendig. lungen und Protestaktionen wehrten mittlungsverfahren. In Sizilien bewirbt Mazedonier und Albaner, Bulgaren und sich die Bewohner von Nusco gegen den sich zum Beispiel der Ex-Sozialist Calo- Rumänen fragen sich, ob die bosnische Ausschluß ihres mächtigen Gönners gero Mannino, der dem Sohn eines Teilung Schule machen wird. vom Urnengang am kommenden Sonn- stadtbekannten Mafioso als Trauzeuge Nach einer erfolgreichen bosnischen tag und Montag. diente. Befriedung könnte Mazedonien zum Selbstverständlich werden sie dem Die meisten Wählerlisten und -verei- nächsten Konfliktherd werden, mut- Stellvertreter De Mitas ihre Stimme nigungen treten unter nichtssagenden maßt die regierungsnahe Tageszeitung nicht verweigern. Gegen De Vito läuft Schlagworten wie Movimento Democra- Nova Makedonija aus Skopje. Serbische zwar auch ein Ermittlungsverfahren we- tico, Partito Riforma Democratica oder und griechische Ultranationalisten sind gen Amtsmißbrauchs und Erpressung. Movimento per la Giustizia an. Durch- seit langem darauf aus, die kleine Viel- Aber er gilt als kleiner Fisch und durfte blick für die Wähler: null. völkerrepublik aufzulösen und sich je- trotzdem kandidieren. weils die Hälfte zuzuschlagen. So werden sich im neu- Die albanische Minderheit wiederum, en Parlament vertraute knapp ein Drittel der 1,9 Millionen Ein- Gesichter wiederfin- wohner Mazedoniens, schert sich nicht den, nicht alle so sau- um die Verteidigung der jungen Repu- ber, wie es nach dem blik, Tirana ist näher als Skopje. Und in Zusammenbruch der Sofia hält sich die bulgarische Regierung Schmiergeldrepublik im Falle einer serbisch-griechischen Ag- Tangentopoli wün- gression gegen Mazedonien oder einer schenswert wäre. großalbanischen Gefahr „alle Optionen Gut zwei Jahre nach offen“ – auch die Eingliederung der Beginn der Säube- Mazedonier in ein vergrößertes Bul- rungswelle steht Ita- garien. Y lien am 27. und 28. März vor einer histori- schen Wahl. Doch die Italien große Wende, die das Land braucht, wird sich kaum einstellen. Das liegt vor allem Vom Affen am neuen Wahlrecht. Es war im August ver- Wahlkämpfer Berlusconi: Sogenannter Pol der Freiheit gangenen Jahres ver- erfunden abschiedet worden und zu einer „mino- Auch die Hoffnung, das neue Wahl- taurischen Mißgeburt“ geraten, meint recht werde Italien in zwei übersichtli- Die Neuwahl nach dem Ende Angelo Bolaffi im römischen Message- che politische Lager aufteilen, die sich ro. Denn klare Mehrheiten, politische künftig in der Regierungsmacht abwech- der Schmiergeldrepublik Stabilität und Transparenz, die sich die seln, hat sich nicht erfüllt. bringt nicht die erhoffte Wende. Italiener vom neuen Wahlgesetz erhof- Statt zweier großer Gruppierungen fen, wird es nicht geben. sind nun drei Pole entstanden. Bei den alverino De Vito, Senator seit sie- So ermöglicht das Mehrheitswahl- Fortschrittlichen scharen sich um die ex- ben Legislaturperioden, braucht recht, mit dem künftig 75 Prozent der kommunistische Partei der demokrati- Ssich im Wahlkampf nicht anzu- Kandidaten für den Senat und die De- schen Linken unter Achille Occhetto strengen. Um die Wähler in seinem putiertenkammer gewählt werden, Fos- kleinere Parteien wie Leoluca Orlandos Wahlkreis Nusco in der süditalienischen silien des alten korrupten Systems, sich Anti-Mafia-Bewegung, die Demokrati- Region Kampanien zu beeindrucken, wieder ins Parlament einzuschleichen. sche Allianz, die Grünen und die nicht reicht ihm ein einziger Satz: „Mich Niemand unter den neuen und alten unterzukriegenden Altkommunisten schickt Ciriaco.“ Parteien mochte etwa Paolo Del Mese von der Rifondazione Comunista. Der heißt mit vollem Namen Ciriaco aufstellen, der früher ein mächtiger Im rechten Lager hat der Medienma- De Mita, war in der Blütezeit seiner Mann im Ministerium für Staatsbeteili- gnat Silvio Berlusconi mit seiner neuen Karriere 1988 Ministerpräsident und gungen war. Auch er steht unter Kor- Partei Forza Italia den sogenannten Pol galt seit jeher als eine Säule der dauer- ruptionsverdacht, außerdem haben ihn der Freiheit aufgemacht. Zu ihm gehö- haften Christdemokraten-Herrschaft in zwei „pentiti“, reumütige Mafiosi, we- ren kaum zu vereinbarende politische Italien. De Mita stammt aus Nusco. gen enger Verbindungen zur Ehrenwer- Kräfte wie Umberto Bossis Separati- Mit staatlichen Geldern, die für Erd- ten Gesellschaft bei der Justiz ange- stenbewegung Liga Nord und die rechts- bebenopfer gedacht waren, hatte er in schwärzt. Doch das konnte Paolo Del konservative Nationale Allianz des Neo- den achtziger Jahren dem 5000-Seelen- Mese nicht bremsen. faschisten Gianfranco Fini. Ort nicht weniger als 18 Unternehmen Er gründete die Unita` Popolare, eine In der Mitte schließlich blieb der Re- zugeschanzt. De Mita selbst war Millio- der zahlreichen Do-it-yourself-Listen, former Mario Segni mit seinem Pakt für

DER SPIEGEL 12/1994 159 Italien hängen, weil er sich weder für Berlusconi noch für Occhettos Linksde- mokraten entscheiden konnte. Sein möglicher Bundesgenosse ist Mino Mar- tinazzoli, Chef der DC-Nachfolgepartei Partito Popolare. Keine dieser Gruppierungen wird es aller Voraussicht nach schaffen, im Par- lament eine tragfähige Mehrheit zu bil- den. Mehr Chaos denn je verspricht Ita- liens unmittelbare Zukunft. „Dieses Wahlsystem muß ein Affe erfunden ha- ben“, höhnte im Corriere della Sera ein Kommentator. Y

Ungarn Brutaler Demonstration für Pressefreiheit in Budapest: Kahlschlag vor der Wahl La´szlo´Csu´cs, der sich nur noch unter ges Bild von Ungarn macht“. Jetzt aber, Polizeischutz in seinen Sender wagt, die befand er 1991, „sind radikale Verände- Rausschmiß Massenentlassung. rungen in der politischen Einstellung und Das prominenteste Opfer, A´ kos Me- Geisteshaltung des ungarischen Radios Zum Auftakt des ungarischen ster, Chef der populären Nachrichten- und Fernsehens durchziehbar“. Wahlkampfs tobt ein Krieg um die schau „168 Stunden“, kontert: „Eine Nach monatelanger Zermürbungstak- rechtsextreme Gruppierung hat sich des tik traten die Intendanten Anfang 1993 Beherrschung der Medien. Rundfunks bemächtigt.“ zurück. An ihre Stelle rückten von der Aus dem Ausland bezog die Budape- Regierung berufene kommissarische or Empörung bebend, meldete sich ster Regierung für ihren „brutalen Verwalter. Im Fernsehen wurden Oppo- der Abgeordnete Istva´n Csurka im Rausschmiß“ (Le Monde) Prügel – be- nenten von der Mattscheibe verbannt, VParlament zu Wort. Erregt schleu- sonders unangenehm, weil der Coup mit Nachrichtensendungen auf stramme Re- derte der massige Rechtsextremist wilde Ungarns Bewerbung um Aufnahme in gierungslinie gebracht. Anschuldigungen gegen „Lumpen“ und die Europäische Union zusammenfällt. Dann kam der traditionell aufmüpfige „Ferkel“inden Saal. Siehätten mitihrem Von der Londoner BBC bis zum Wall Rundfunk dran, der in einem Land, in unerhörten Benehmen bewiesen, wie Street Journal hagelte dem sich viele Men- recht man getan habe, sich ihrer zu entle- es Kritik, das Interna- schen aus finanziellen digen: tionale Presseinstitut Gründen keine Zei- Gefeuerte Rundfunkredakteure seien, intervenierte, die In- tung leisten, für die enthüllte der Volksvertreter, randalie- ternationale Journali- tägliche Information rend durch den Sender gezogen und ins stenföderation forder- sehr große Bedeutung Zimmer des abwesenden Intendanten te Wiedereinstellung hat. Radiochef La´szlo´ eingedrungen. Dort hätten sie den Chef- der Gefeuerten. Csu´cs verbot das be- stuhl mit Exkrementen beschmiert. Rundfunkpräsident liebte „Radio-Kaba- Die „Pfui“-Rufe der Csurka-Kolle- Csu´cs beharrt dagegen rett“ und bedauerte gen waren verfrüht. Denn wie so oft, darauf: „Es ist unzu- bereits im vorigen wenn der geifernde Verfolger von libe- lässig, daß die legitim Jahr, daß „es die poli- ral-bolschewistisch-kosmopolitisch- jüdi- gewählte politische tische Situation noch schen Komplotten gegen das heilige Un- Führung im öffentlich- immer nicht erlaubt, garntum eine neue Schandtat des Erz- rechtlichen Rundfunk Massenentlassungen feindes geißelt, war auch dies eine Latri- geschmäht wird.“ vorzunehmen“. nenparole. Im Zimmer des Intendanten, Der Krieg um die Doch jetzt bewilligte das niemand betreten hatte, war lediglich elektronischen Medien Extremist Csurka das Kabinett, dem die ein Blumentopf umgefallen. dauert schon lang. Die Verfrühte Pfui-Rufe Entlassungslisten vor- Doch der Ausfall des rechten Hetzers, Regierung hatte be- lagen, das Geld für die der bis vor einem Jahr noch der Führung reits im Juli 1990 zwei angesehene Fach- fälligen Abfindungen. Am 4. März er- des regierenden Demokratischen Fo- leute mit der Reform von Fernsehen hielten 129 Mitarbeiter, davon ein Vier- rums angehört hatte, heizte eine Affäre und Rundfunk betraut. Doch die nah- tel aus der Informationsabteilung, die weiter auf, die derzeit das öffentliche Le- men Pressefreiheit ernst und widersetz- Kündigung – verbunden mit sofortigem ben des Landes beherrscht: Zwei Monate ten sich den immer unverschämteren Arbeitsverbot. vor den Wahlen am 8. Mai waren 129 Pressionen der Herrschenden. Der Überrumpelungsversuch so kurz Bedienstete des öffentlich-rechtlichen Deren Linie hatte der Fraktionschef vor den Wahlen, bei denen der Regie- Rundfunks auf die Straße gesetzt wor- der Regierungspartei MDF und heutige rungspartei eine vernichtende Niederla- den. Dem Kahlschlag fielen ausschließ- Innenminister Imre Ko´nya vorgegeben. ge droht (in Umfragen liegt sie bei 10 bis lich Regierungskritiker zum Opfer. In einem geheimen Papier hatte er die 15 Prozent), war dann doch zuviel. Zu- „Durch das Sieb fiel nur, wer einem Notwendigkeit eingeräumt, „in der er- mal der Rundfunkputsch in eine Zeit fachlichen oder ethischen Minimum nicht sten Phase die Konfrontation zu vermei- mit symbolhaftem Charakter fiel: Der entsprach“, rechtfertigte Rundfunkchef den, damit sich das Ausland ein günsti- 15. März ist Ungarns Nationalfeiertag,

160 DER SPIEGEL 12/1994 AUSLAND an dem das Land des Aufstands gegen die onsführer Mesut Yilmaz: „Seid nett zu Habsburger im Jahre 1848 gedenkt – des- Türkei Frau C¸ iller und behandelt sie gut. Sonst sen Hauptforderung war Pressefreiheit könnte sie wieder weinen.“ und die Abschaffung der Zensur. Zu viele gravierende Fehler sind der Am Vorabend versammelten sich über gelernten Wirtschaftsprofessorin in ih- 30 000Menschen zu einer Lichterdemon- Schleier rer kurzen Regierungszeit unterlaufen. stration in der Hauptstadt. Die Zeitung So hatte sie die Immunität von sieben Südungarn lud die 129 geschaßten Rund- kurdischen Abgeordneten im Eilverfah- funkleute zu ihrem Presseball nach Sze- aus Paris ren aufheben lassen. Die Volksvertreter ged, wo sie als Märtyrer der Meinungs- wurden unter entwürdigenden Umstän- freiheit gefeiert wurden und Ehrengäste Ministerpräsidentin Tansu C¸iller, den beim Verlassen des Parlamentsge- eines Festaktes mit dem Staatspräsiden- die erste Regierungschefin des bäudes von einem riesigen Polizeiaufge- ten A´ rpa´d Göncz waren. Der betonte, bot festgenommen. daß laut Grundgesetz „jeder das Recht Landes, ist nach nur neun Monaten Die scharfe Reaktion aus dem Westen auf freie Meinungsäußerung sowie dar- politisch am Ende. überraschte die Regierungschefin. Be- auf hat, an Informationen von öffentli- ziehungen zur terroristischen Arbeiter- chem Interesse heranzukommen oder partei Kurdistans PKK, wie sie den Ab- diese zu verbreiten“. er Hilferuf ging ins Jenseits. In geordneten vorgeworfen wurden, gelten Ex-Außenminister Gyula Horn, Chef großformatigen Zeitungsanzeigen in der Türkei als Hochverrat, der mit der Sozialisten, die in den Umfragen mit Driefen die Rotarier des Landes den der Todesstrafe bedroht wird. Von Ge- Abstand führen, erinnerte an die Mah- vor 55 Jahren gestorbenen Gründer der neralstabschef Dogan Güres stammt die nung des amerikanischen Präsidenten türkischen Republik um Beistand an. Parole: „Die Banditen sitzen im Parla- Abraham Lincoln, wonach ein Volk nicht „Lieber Atatürk, wir brauchen Ihre ment.“ frei sein könne, das die Wahrheit nicht kenne und keine Gelegenheit habe, sie kennenzulernen. Zudem versprach er, die Gefeuerten nach einem Wahlsieg so- fort wieder einzustellen. Die Wahl werde eine Protestabstim- mung wie 1990, prophezeite der Fernseh- redakteur Mester, dessen „168Stunden“- Programm bereits als hektographierte Schrift in der „Samisdat“-Tradition der Untergrundliteratur kommunistischer Zeit verbreitet wurde. Damals habe es die Kommunisten getroffen, nun gehe es gegen Reaktionäre, die nichts aus der Vergangenheit gelernt hätten. Die Regierung bemüht sich inzwi- schen, den politischen Schaden zu be- grenzen. Premier Pe´ter Boross („Weder im Westen noch im Osten wird toleriert, daß an der Spitze der Medien Leute ste- hen, die der Regierung nicht gefallen“) weist jede Verantwortung am Raus- schmiß im Rundfunk von sich: „Bei uns herrscht Demokratie, die Regierung hat Ministerpräsidentin C¸iller, Militärs: Gehorcht aufs Wort keinerlei Einfluß auf die Medien.“ Sein für die Presse zuständiger Staatssekretär Führung heute mindestens genausosehr In einer Resolution verurteilte das Tama´s Katona beteuert angesichts „die- wie in den Tagen des nationalen Kamp- Europäische Parlament Ankaras Vorge- ser Tragödie“ verzweifelt: „Wir haben fes.“ Die Beschwörung des Altvorderen hen. Bonn verlangte, die Aufhebung das nicht getan, das hat allein der Herr ist ein Symbol für die Furcht vieler Tür- der Immunität sofort zurückzunehmen. Csu´csgemacht, uns schadet es doch nur.“ ken vor der Zukunft. Nach nur neun Und auf Bitten von Staatspräsident Glauben finden sie damit kaum. Miß- Monaten im Amt hat Tansu C¸ iller, die Franc¸ois Mitterrand übernahm der ehe- trauische vermuten noch weit schlimme- erste Ministerpräsidentin in der Ge- malige französische Außenminister Ro- re Motive hinter dem Manöver als nur ei- schichte des Landes, abgewirtschaftet. land Dumas die juristische Verteidigung nen Anschlag auf die Pressefreiheit: Wo- Nach dem 27. März könnte ihre politi- der Abgeordneten. Washington gab der möglich wollten rechte Scharfmacher sche Karriere abrupt zu Ende gehen. An türkischen Regierung den Rat, nichtmi- Konflikte provozieren, die einen Aus- diesem Tage wählen etwa 30 Millionen litärische Lösungen anzupeilen, „um nahmezustand rechtfertigen könnten. Türken ihre Bürgermeister und kommu- den Konflikt zu beenden“. Dann hätte – und dieser Verdacht allein nalen Parlamente. Schneidet C¸ illers Das freilich hat C¸ iller nie angestrebt. offenbart schon die tiefe politische Kluft Partei des Rechten Weges schlecht ab, Blind folgt sie den Militärs, die den Süd- im Lande – die Regierung Gelegenheit, wie Umfragen signalisieren, dann wer- osten des Landes mit eiserner Faust be- die Wahlen auf unbestimmte Zeit zu ver- den sich die Macher der konservativen frieden wollen. Dort gibt es keine zivile schieben. Partei rasch nach einer neuen Führungs- Autorität mehr, wird nach Belieben ge- Die Konfrontation spitzt sich zu. Die figur umsehen. mordet – von der PKK, von Todes- verbliebenen Rundfunkbediensteten Schon zeigt die pausbäckige Regie- schwadronen, die der Regierung nahe- wollen diese Woche in den Streik treten. rungschefin Nerven. Seit sie bei einer stehen, und von fundamentalistischen Extremist Csurka tritt schon dafür ein, al- öffentlichen Veranstaltung unvermittelt Banden. Fast 11 000 Menschen fielen le 2100 Funkleute zu feuern. Y in Tränen ausbrach, spöttelt Oppositi- dem Bürgerkrieg bislang zum Opfer, je-

DER SPIEGEL 12/1994 161 AUSLAND den Tag sterben fünf bis sechs Soldaten, 30 Prozent an Wert. Um ihre Beamten mischen Staat verwandeln und predigen meist junge Wehrpflichtige aus allen Tei- bezahlen zu können, läßt die Regierung eine „gerechte Ordnung“. Doch sie len der Türkei. ständig neues Geld drucken. Viele Ar- überzeugen weniger durch Worte Als jüngst kolportiert wurde, die Ge- beitnehmer tauschen nach jeder Ge- als durch Taten. Auf dem Lande offe- neräle bereiteten wieder einmal einen haltszahlung ihre Lira-Millionen gegen rieren die RP-Büros Hilfe in allen Le- Putsch gegen die demokratisch gewählte wertbeständige Devisen ein. benslagen. Am Rande der Städte Regierung vor, stichelte ein hoher Beam- Dieser schleichenden Verarmung sind bauen sie Wohnungen, Küchen, Schu- ter: „Die Dame gehorcht doch jetzt schon neben dem Mittelstand vor allem die len für die Neuankömmlinge – und aufs Wort.“ bäuerlich geprägten Gebiete Anatoliens Moscheen. Selbst auf ihrem Fachgebiet konnte die ausgesetzt. Folge: Die Dörfer leeren Den islamischen Eiferern werden gu- Ministerpräsidentin nicht reüssieren. Die sich, immer mehr Menschen ziehen in te Chancen bei den Kommunalwahlen Wirtschaft, die in der Vergangenheit die großen Städte. Dort werden sie mit eingeräumt. Nach Meinung des türki- meist hohe Zuwachsraten produzierte, offenen Armen von der islamistischen schen Verfassungsgerichtspräsidenten lahmt nun. Die jährliche Inflationsrate, Wohlfahrtspartei (RP) empfangen, Yektar Özden bilden sie „die größte Ge- die C¸ iller unter 50 Prozent drücken woll- Staat und Kommunen kümmern sich fahr für Staat und Gesellschaft“. te, nähert sich der 100-Prozent-Marke. kaum um die Landflüchtigen. Die Moslempartei, der täglich etwa Seit Beginn des Jahres verlor die türki- Die Fundamentalisten wollen die lai- 5000 neue Mitglieder zulaufen, will aber sche Lira gegenüber Dollar und Mark fast zistische Atatürk-Republik in einen isla- nicht nur durch gute Taten überzeugen.

Südafrika „Wir haben 60 000 unter Waffen“ SPIEGEL-Interview mit dem Extremistenführer Eugene Terre Blanche

Terre Blanche, 53, ist beteiligen sich nicht dar- Chef der ultrarechten, an. militanten und rassisti- SPIEGEL: Nicht das Zulu- schen Afrikaner Weer- Volk, sondern die Inka- standsbeweging (AWB). tha-Partei von Häuptling Buthelezi wird der Wahl SPIEGEL: Ihre Invasion im fernbleiben. Umfragen Homeland Bophuthatswa- zufolge werden mehr als na war ein Fehlschlag: Ih- die Hälfte der Zulus Nel- re vermeintlichen Freunde son Mandelas ANC wäh- schickten Sie zurück. Drei len. Ihrer Männer wurden ab- Terre Blanche: Unsinn. geknallt wie Hunde . . . Die Zulus werden ihrem Terre Blanche: ... die König folgen, der sie auf- Aktion in Bophuthats- fordert, nicht zu wählen. wana war ein strahlender Und Inkatha wird dafür Triumph für die AWB. sorgen, daß dieser Befehl Wir sind nicht angeschla- auch befolgt wird. gen, sondern werden im- SPIEGEL: Haben Sie als mer stärker. weltbekannter Rassist SPIEGEL: Aber Bophu- Rassist Terre Blanche: „Als freier Mann sterben“ plötzlich Ihre Liebe zu thatswana-Präsident Man- den Zulus entdeckt? gope, den Sie retten wollten, wurde ge- nen autonomen Staat fordern. Und Terre Blanche: Wir haben die besten stürzt. für diesen Volksstaat werden wir Beziehungen. Mindestens zweimal in Terre Blanche: Hätten uns die südafri- kämpfen. Es ist besser, als freier, un- der Woche besuchen uns Inkatha-Ge- kanische Armee und General Constand abhängiger Mann zu sterben, denn nerale. Die AWB hat mit der Zulu-Or- Viljoen, der mittlerweile zurückgetre- als Sklave unter der Knute der Kom- ganisation in Transvaal einen Sicher- tene Chef der Afrikaaner-Volksfront, munisten zu leben. Das hat die Nati- heitspakt geschlossen. nicht verraten, wäre Mangope heute on der Afrikaaner ihrem Gott in ei- SPIEGEL: Heißt das, Ihre Kommandos noch Präsident von Bophuthatswana. nem heiligen Eid geschworen. würden ähnlich wie nach Bophuthats- SPIEGEL: Die überwältigende Mehr- SPIEGEL: Warum nehmen Sie nicht wana auch nach KwaZulu gehen, um zu zahl der Menschen in Bophuthatswana an den Wahlen teil, wenn Sie so si- kämpfen? wollte keinen separaten Staat. Wieso cher sind, daß alle Buren den Buren- Terre Blanche: Wenn ein Homeland uns sind Sieso sicher, daß die Afrikaaner ihr staat wollen? im Kampf gegen die Kommunisten um eigenes Territorium wünschen? Terre Blanche: Die Wahlen sind jetzt Hilfe anruft, werden wir das erwägen. Terre Blanche: Unsere Umfragen erga- schon illegal. Die größte Nation Süd- SPIEGEL: Ihre Kampfkraft in Bophu- ben, daß 95 Prozent der Afrikaaner ei- afrikas, die neun Millionen Zulus, thatswana scheint nicht allzugroß.

162 DER SPIEGEL 12/1994 Sie möchte sich ein modernes Image ge- ben und den Geruch von Schweiß und Europäische Union Knoblauch loswerden, der ihre Anhän- ger bislang zu umwabern pflegt. Der Kandidat der Wohlfahrtspartei für den Posten des Oberbürgermeisters in Ohne Gnade Istanbul, Tayyip Erdogan, will von Pari- ser Modeschöpfern elegante islamische Wie kamen die Norweger in die Kleidungsstücke entwerfen lassen. EU? Einem Adligen und dem „Kohä- Tschador, Kopftücher und Mäntel von Cardin sollen die moderne türkische Frau sionsfisch“ ist es zu verdanken. für den Islam gewinnen. Erdogan ist überzeugt, nach einer is vor wenigen Wochen hielt Diet- Machtübernahme den Schleier nicht vor- rich von Kyaw Sardinen für so et- schreiben zu müssen. „Wir werden ihn Bwas wie die stark gekürzte Volks- durch Modenschauen so attraktiv ma- ausgabe der Makrelen, den Kabeljau chen, daß die Frauen ihn freiwillig anle- kannte er nur aus dem Restaurant – gen.“ Y aber schließlich ist der Adelsherr weder Fischer noch Meeresbiologe, sondern nur Ständiger Vertreter der Bundesre- gierung in Brüssel. Ausgerechnet ihm haben die Fische Terre Blanche: Wir haben 60 000 wie die Bürger Norwegens es zu dan- Männer unter Waffen. Und die ken, wenn sie von 1995 an der euro- Mehrzahl der 150 000 Mann starken päischen Fischereipolitik unterliegen. Reservetruppen der südafrikanischen Denn von Kyaw war es, der den Streit Armee unterstützt uns. Mandela wird um Fische und Fangquoten so gnadenlos EU-Vermittler von Kyaw, Kinkel dieser Armee niemals befehlen kön- effizient schlichtete, daß die Verhand- „Fische kann ich nicht“ nen, unseren Staat zu besetzen und lungen über den Beitritt Norwegens zur auf ihre eigenen Väter und Brüder zu Europäischen Union (EU) letzte Woche sowie Belgien und Deutschland, also schießen. abgeschlossen werden konnten. den beiden Ländern, die im Turnus der SPIEGEL: Wann werden Sie Ihren Weshalb ausgerechnet die Deutschen Ratspräsidentschaft vor beziehungswei- Volksstaat ausrufen? das Norwegervolk in die EU hineinzu- se hinter den Griechen liegen. Terre Blanche: Das kann jederzeit verhandeln hatten, wie das Gekatzbalge Da aber, wie sich nach einiger Ver- passieren – jede Minute. um ein paar tausend Tonnen Fisch hin wirrung herausstellte, der belgische Au- SPIEGEL: Was haben Sie eigentlich oder her ganze Delegationen an den ßenminister in Afrika statt in Brüssel mit den Schwarzen vor, die in Ihrem Rand der Erschöpfung brachte und wie aufhältig war, kamen als nächste im Al- Volksstaat leben: Das ist ja wohl die der Zwist schließlich durch eine wunder- phabet die Dänen dran – wieder Pech: Mehrheit der Bevölkerung? same Fischvermehrung zu einem vorläu- Der Außenminister des Kongeriget Terre Blanche: Aus wirtschaftlichen fig gütlichen Ende kam – man hätte die Danmark war, das Wochenende nahte, Gründen werden einige bleiben. Wir Filmrechte erwerben sollen für das schon nach Hause gefahren. behandeln sie als Gastarbeiter. Wäh- Schauspiel, das Europa während des Schließlich übernahmen die Franzo- len müssen sie allerdings in einem der Beitrittsgerangels bot. sen die Verhandlungen mit den Öster- schwarzen Staaten. Einen seiner schönsten Höhepunkte reichern – offenbar in der ihnen eigenen SPIEGEL: Wann legen Sie endlich ei- erreichte das Dramolett, als Jürgen Manier, denn die Älpler fühlten sich be- ne Karte Ihres Burenstaates auf den Trumpf, Bonner AA-Staatssekretär, handelt wie Einschulungspflichtige. Tisch? seinem Brüsseler Statthalter befahl: Nachdem dann die Griechen die ver- Terre Blanche: Das mit Blut und Trä- „Kyaw, du machst die Fische.“ gleichsweise einfachen Verhandlungen nen erkämpfte Land unserer Vorfah- „Fische“, gab der zurück, „Fische mit den Schweden und den Finnen für ren umfaßt Transvaal und den Oran- kann ich doch gar nicht“ – jedoch, es sich reklamierten, blieb den Deutschen je-Freistaat sowie einen Teil im Nor- verschlug nichts. Da stand er nun, der der Problem-Kandidat Norwegen mit den Natals und Richards Bay als un- 59jährige Karrierediplomat, ohne einen seinen vielen Fischen – und hinter denen seren Hafen. Ich bin bereit, ganz Na- Schimmer, wovon die Norweger spra- war vor allem das nicht minder sture tal den Zulus zu überlassen. Durban chen: „Shetland Box“? „Relative Stabi- EU-Mitglied Spanien her wie der Hai mit all diesen Indern können sie gern lität“? „Bewirtschaftungssystem nörd- hinterm Taucher: 18 000 Tonnen Kabel- haben. Nur wenn wir Buren dieses lich 62“? Alles Hekuba, aber daran wa- jau zusätzlich, so die Forderung der Spa- Land erhalten und die Zulus ihr eige- ren nur die Griechen schuld. nier, wollten sie jährlich aus norwegi- nes Reich, kann das größte Blutbad Denn eigentlich hätten die als derzeit schen Beständen abfischen. in Südafrikas Geschichte verhindert amtierende Ratsvorsitzende die Bei- „Not a single fish!“ Immer wieder werden. trittsverhandlungen mit Österreich, knödelte der norwegische Fischereimi- SPIEGEL: Keine andere Bevölke- Schweden, Finnland und auch Norwe- nister Jan Henry Olsen seinen Protest rungsgruppe am Kap erkennt Ihre gen führen sollen. Doch die Griechen durch den Raum – ein wenig schwach- Ansprüche an; nicht einmal Ihre hatten offenbar irgendeinen Katastro- brüstig, gewiß, aber noch sind die Nor- Freunde, die Zulus, tun das. Wie phoulos mit der Organisation betraut – weger an das Brüsseler Ellenbogen-Bio- wollen Sie denn die Grenzen zie- jedenfalls waren nicht annähernd ge- top nur suboptimal adaptiert. hen? nug griechische Verhandlungsführer in Nicht minder fehl am Platze fühlten Terre Blanche: Der Krieg, der vor Brüssel präsent, um mit allen Beitritts- sich anfangs auch die von ihrem Ver- uns liegt, wird die Grenzen ziehen. kandidaten zu konferieren. handlungsauftrag überraschten Deut- Daraufhin trat die sogenannte Troika schen – allen voran von Kyaw, der zehn an, ein Dreigespann aus Griechenland Minuten vor der ersten Arbeitssitzung

DER SPIEGEL 12/1994 163 AUSLAND mit den norwegischen Experten zum Fi- schereibeauftragten bestellt wurde. Et- was ratlos blätterte er durch das Ver- handlungsdokument Konf-N/94, das er vorher nie gesehen hatte. Doch zum Erstaunen der Norweger parlierte der Diplomat schon zwei Tage später kundig über Vorbehaltszonen und die lästigen Fangaufwandsbeschrän- kungen. Selbst so abseitige Probleme wie die Aufnahme der Tiefseegarnelen in die Marktordnung für Fischereier- zeugnisse löste von Kyaw binnen weni- ger Tage – auch Kommissionspräsident Jacques Delors, der sich in der EU be- kanntlich für die Vorstufe zum lieben Gott hält, war ein wenig beeindruckt. Im ersten Durchgang nicht regeln ließ sich die 18 000-Tonnen-Forderung der Spanier. Bis dann, im zweiten Anlauf und nach einem spannenden Kopf-an- Kopf-Rechnen zwischen Spaniern und Norwegern, eine Lösung nach bewähr- ter Art zurechtgebrüsselt wurde. Einen Ausweg wies der sogenannte Kohäsionsfisch. Er bezeichnet eine ge- staffelte Kabeljau-Fangquote, die Nor- wegen 1993 unter anderem den Spa- niern eingeräumt hatte. Wenn nun, so Teil eins der leicht schwindelerregenden Rechnung, die für 1997 vorgesehene Kohäsionsquote von 11 000 Tonnen schon 1995 (ursprüngli- che Plan-Quote: 8500 Tonnen) in Kraft tritt, dann brächte dies schon mal 2500 Tonnen Kabeljau. Die müßten die Spa- nier eigentlich mit den Portugiesen tei- len – aber dieser Aspekt wurde, da stö- rend, schnell schubladisiert. Weil, zweitens, in den Fangnetzen der Spanier auch der eine oder andere Rot- barsch oder Seelachs hängenbleibt, wird noch eine „Beifangquote“ von zehn Pro- zent hinzuaddiert – macht, auf 11 000 Tonnen gerechnet, weitere 1100 Tonnen Fisch. Zusätzliche 1000 Tonnen dürfen die Spanier in Fischgründen vor der Kü- ste Kanadas ernten. Nachdem sich die Spanier auf eine Quotenforderung von 10 000 Tonnen hatten herunterhandeln lassen, fehlten schließlich nur noch 5400 Tonnen. „Wo kriegen wir“, hörte man Außenminister Klaus Kinkel flehentlich über die Flure des Ratsgebäudes Charlemagne rufen, „nur den verdammten Fisch her?“ Der wird, so lautet nun der Beschluß, in Form einer entsprechenden Fangquo- te von den Russen hinzugekauft. Der Knackpunkt ist, daß die von ihrem Glück zwar wissen, es aber bislang ver- absäumt haben, sich dazu zu äußern. Doch wie vergänglich der Kompro- miß zwischen Spanien und Norwegen auch sein mag – einer wird ihn nie ver- gessen können: Dietrich von Kyaw, der dem Oberlausitzer Uradel entstammt (seit 1348) und seinen Namen „Kiau“ ausspricht. In Brüssel wird er nur noch Herr von Kabeljau genannt. Y

164 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite Ausbildungskurs an der Militärschule von Dschalalabad, Flüchtlingslager: Die uralte Ordnung mit der neuen Macht versöhnt

Afghanistan Mit Schwert und Zunge SPIEGEL-Redakteurin Birgit Schwarz über den Wandel eines Kriegsherrn zum Friedensfürsten

ie die Raben hocken die Männer daß niemand hinein-, aber auch nie- und ein großes Wunder: Er hat dem zer- auf der Mauer. Seit unten auf der mand herauskommt. rissenen Land und seinen Bewohnern WStraße der Konvoi aus Gelände- Torcham, das staubige Straßendorf gezeigt, wie Afghanistan aus dem Bru- wagen vor dem weißgetünchten Grenz- am Khaiberpaß, mündet in den wichtig- derkampf zum Frieden finden kann. Ka- häuschen haltgemacht hat, sammeln sie sten Grenzübergang zwischen den bei- dir, der Feudal- und Kriegsherr, ver- sich dort oben. Im Hinkauern zurren sie den zentralasiatischen Ländern. Seit die söhnte die uralte Ordnung mit der neu- die Decken fester um ihre Schultern und rivalisierenden Machthaber in Kabul im en Macht, die Stammesfürsten mit den ziehen die Turbane tiefer in die Stirn; es Namen Allahs die eigene Hauptstadt siegreichen Kommandanten aus dem weht ein scharfer Wind in diesen Bergen. bombardieren, ist die Grenzstation auch Befreiungskrieg gegen die Sowjets. Alle Augen starren auf das Eisengatter. Endstation – für die Flüchtlinge jenseits Nach sechs Tassen grünem Tee und Schon 20 Tage versperrt es den Weg des eisernen Tors ebenso wie für die vielen Ferngesprächen mit pakistani- von Pakistan nach Afghanistan, wachen Geldwechsler, Händler und Krisenge- schen Behörden bekommt Kadir im Ge- uniformierte Schnauzbärtige darüber, winnler auf pakistanischer Seite. Als bäude der Grenzpolizei die Antwort, wollten sie die Kraft auf welche die Männer auf der Mauer orientalischer Be- hofften: Flüchtlinge mit gültigen Auf- schwörungsformeln er- enthaltsgenehmigungen für Pakistan proben, harren die und fliegende Händler dürfen die Gren- Wartenden auf der ze zumindest tagsüber wieder passieren. Mauer aus. „Lang lebe Hadschi Kadir“, rufen die Sie hoffen wieder Männer dem Konvoi des Wundertäters einmal auf den hoch- nach. Der Umjubelte rast auf der As- gewachsenen Mann phaltstraße nach Dschalalabad in kugel- mit dem aschfahlen sicherem Tempo davon. Auf dem Weg Vollbart, der vor zwei in die Provinzhauptstadt sind Regie- Stunden im Gelände- rungsfahrzeuge des öfteren beschossen wagen heranbrauste, und ausgeraubt worden. Der Stamm der das Gebäude der paki- Schinwari macht alte Besitzansprüche stanischen Grenzpoli- geltend. Der Streit um 7500 Hektar kol- zei betrat und seither lektivierter Zitrus- und Olivenfarmen ist für ihre Sache feilscht. nicht beigelegt. Doch gelang es Kadir, In den zwei Jahren einflußreiche Stammesälteste mit politi- seiner Herrschaft voll- schen Ämtern zu beschwichtigen. brachte Hadschi Ab- Neben den im Heiligen Krieg mächtig dul Kadir, 40, Gouver- gewordenen Mullahs und Mudschahidin neur der afghanischen sitzen sie seither im 50köpfigen Rat der Gouverneur Kadir (M.) in Dschalalabad Grenzprovinz Nangar- Provinz Nangarhar. Von der selbstzer- „Afghanistan ist sterbenskrank“ har, schon viele kleine störerischen Zentralregierung in der

166 DER SPIEGEL 12/1994 Ohne Gnade führen die islamischen Gotteskrieger ihren Kampf am Hindukusch weiter. Seit sie die sowje- Versorgung von Kriegsopfern: Keine Antibiotika mehr tischen Besatzer und deren Vasallen vertrieben haben, sind aus Verbündeten Feinde geworden. schleppen. „Die Leute der hölzernen Decke der Turbinenhalle. Zwei Jahre dauert der Bruderkrieg zwischen den brauchen Brennmaterial. „Allah sei Dank, sie ist steckengeblie- Freischärlern des Islamisten Gulbuddin Hekmat- Sie haben keinen Strom. ben.“ jar und den Mudschahidin des Religionswissen- Wir sind da machtlos“, ent- Rauf hat schon viele Eroberer kom- schaftlers Burhanuddin Rabbani nun bereits an. schuldigt Kadir die Kahl- men und gehen sehen. Seit 32 Jahren Der Konflikt hat die Hauptstadt Afghanistans schläge. Mindestens 80 000 pflegt er die Turbinen mit der gleichen schlimmer verwüstet als der zwölfjährige Befrei- Menschen haben seit Be- Hingabe, mit der er seinen Glauben ungskampf. Seit elf Wochen liegt Kabul wieder ginn des Jahres in der be- lebt: Ist die Gebetsstunde gekommen, täglich unter Beschuß, bekriegen sich Regie- friedeten Provinz Zuflucht breitet er seine Decke aus, legt die Stirn rungschef und Präsident mit Raketen und Bom- vor den Kämpfen um Kabul auf den Boden und murmelt vor den ben. Mehr als tausend Menschen starben, Hun- gesucht. Sie holzen ab, was surrenden Batterieschränken Koransu- derttausende wurden obdachlos oder ergriffen der Krieg gegen die Un- ren in seinen Bart. die Flucht. Rivalisierende Kriegsherren haben gläubigen übrigließ. Die drei blitzenden Turbinen sind die den Rest des Landes in ihrer Gewalt. Wenigen ge- Als wäre ein Feuersturm einzigen Stromlieferanten der von lingt es – wie in der Provinzhauptstadt Dschalala- über die Landschaft hin- Flüchtlingen übervölkerten Stadt. Seit bad –, einen Weg aus dem Chaos zu finden. weggefegt, ragen Baum- Kadir die zerbombten Transformatoren stümpfe aus verdorrtem reparieren ließ, funktionieren sie wie- Gras. Hinter Hügeln aus der. Wenn nur der Staudamm, der sie rötlichem Sand flattern die mit Antriebskraft versorgt, nicht so we- Kabul Dschalalabad Zelte der Flüchtlinge. nig Wasser führte. Das Reservoir wird Khaiber- Dort, in der „Rote Mau- aus dem Kabulfluß gespeist. Doch die paß er“ genannten Bergkette, flußaufwärts gelegenen Dämme werden Kabul berichtet Kadir, habe er von Truppen des Islamisten Hekmatjar Kabulfluß im Befreiungskrieg seine kontrolliert, und die lassen kaum noch Nangarhar Torcham schlimmste Schmach erlebt Wasser durch. Also muß Rauf rationie- Afghanistan China – und das, obwohl die So- ren – bis zur Schneeschmelze jedenfalls. Provinz wjets längst abgezogen wa- Damit nicht die gesamte Stadt im Dun- Nangarhar Pakistan ren. keln liegt, wird den Wohnvierteln ab- Auf dem Weg nach Ka- wechselnd der Strom gesperrt. bul hatten seine Mudschahi- Wenn der Provinzrat nicht schleunigst Pakistan Indien 50 km din das in der fruchtbaren für Nachwuchs im Werk sorgt, werden Ebene des Kabulflusses ge- die Lichter bald ganz ausgehen, prophe- legene Dschalalabad er- zeit der Alte. Die Beschriftung der Räd- Hauptstadt haben sich die Ratsherren obern wollen. Sie erwarteten einen chen und Meßgeräte, über die er wacht, losgesagt. Kadir kann die Provinz regie- schnellen, triumphalen Sieg. Doch dau- stammt noch aus der Gründerzeit. Rauf ren wie ein autonomes Fürstentum. erte der Belagerungskrieg gegen die von weiß die Sicherungen für die Turbinen Männer wie er sind die eigentlichen prokommunistischen Afghanen gehalte- von denen für die Transformatoren und Herren in Afghanistan, solange Kabul ne Provinzhauptstadt drei Jahre, bevor die Öldruckmesser von den Stromzäh- im Chaos versinkt. Und doch kann der die Gotteskrieger sie im April 1992 ein- lern zu unterscheiden. An wen aber soll Streit um die Herrschaft in der Haupt- nehmen konnten – drei Jahre, in denen er das ganze gespeicherte Wissen wei- stadt den Provinzfrieden jederzeit ge- die ertragreichen Orangenplantagen zu tergeben, klagt er, „wenn unsere jungen fährden: „50 Prozent unserer Gelder Brennholz wurden. „Tag und Nacht Leute nichts als Krieg in ihren Köpfen und 95 Prozent unserer Gedanken die- wurden wir bombardiert“, erinnert sich haben“? nen der Sicherheit“, sagt der Gouver- Kadir. Der Gouverneur regelt die Nach- neur, als sein Wagen wieder mal bewaff- Eine der Raketen traf das Elektrizi- wuchsfrage mit einem Telefonanruf und nete Posten am Straßenrand passiert. tätswerk der Stadt. „Dort oben ist sie vermeldet knapp: „Problem gelöst.“ Sie kontrollieren Flüchtlinge, die bu- eingeschlagen.“ Der alte Abdul Rauf Kadir managt die täglichen Krisen mit schige Reisigbündel auf ihren Rücken deutet auf eine kreisrunde Flickstelle in der Improvisation des Guerillaführers:

DER SPIEGEL 12/1994 167 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite AUSLAND keine Unterschriftenmappen, keine Do- kumente auf seinem Schreibtisch. Die Regierungsgeschäfte erledigt er im Vor- übergehen. Wo immer er verweilt, steckt man ihm Zettel zu, kritzelt er selbst Anweisungen auf Notizpapier oder koordiniert Wiederaufbau und Machterhalt per Telefon. Ohne ihn fällt keine Entscheidung in Dschalalabad. „Du mußt mit dem Schwert und der Zunge für deine Ziele kämpfen“, haben die Dorfältesten ihn während gemein- sam durchwachter Kriegsnächte gelehrt. Wenn Kadir heute vor dem Rat der Pro- vinz das Wort ergreift, eindringlich, aber nur selten aufbrausend, besteht nicht der geringste Zweifel, daß er die Lektion verstanden hat. Mit der Macht der Rhetorik, mit der sich die Spingiri, die Weißbärtigen, seit eh und je den Re- spekt ihrer Paschtunenstämme sichern, beherrscht Kadir sein Parlament, die Schura von Nangarhar. „Afghanistan ist sterbenskrank“, be- schwört er die Bärtigen, die in Decken gehüllt vor ihm sitzen. „Wir brauchen, wollen wir den islamischen Staat erhal- ten, ein Bündnis der Provinzen.“ Aus- druckslos lauschen die Kommandeure, Mullahs und Stammesführer. Gebets- perlen gleiten durch wettergegerbte Hände. Ein Bündnis würde Machtver- zicht bedeuten. Aber am Ende stimmen sie mit Ja. Zwölf Jahre ihres Lebens, von 1980 bis 1992, haben sie dem Kampf gegen die Ungläubigen geopfert, um eine isla- mische Republik gründen zu können. Doch in den zwei Jahren seit ihrer Machtübernahme haben die Führer des Widerstands die Hauptstadt schlimmer verwüstet als im Befreiungskrieg. Sie- ben Parteien kämpfen in Kabul um die Alleinherrschaft. Alle sieben sind auch in Nangarhars Schura vertreten. Aber in der Provinz gelang, was in der Hauptstadt immer aussichtsloser scheint: die paritätische Aufteilung der Macht. Unersetzlich für den Zusammenhalt ist Kadir, der Füh- rer, der von sich sagt, daß er „der Erste unter Gleichen“ sei. Als ein junger, ehrgeiziger Komman- dant das Gleichgewicht der Kräfte zu stören versuchte, starb er im Kugelhagel von Heckenschützen. Kadir befand sich außer Landes, als der Mord geschah und Vergeltungsschläge der Klankrieger das überparteiliche Bündnis zu sprengen drohten. Er löste den Konflikt, indem er sich auf die alte Stammestradition be- sann und eine Dschirga einberief, eine unparteiische Ältestenversammlung. Die beschied, das vakant gewordene Schura-Amt dem Bruder des Ermorde- ten zu vermachen. Niemand fahndet mehr nach den Schuldigen. Zuviel Aufklärung ist schlecht für die Einheit, damit schlecht für den Frieden und schlecht für die Bevölkerung. Die kann seit einem Jahr wieder ihre Felder bestellen; die Bewässerungskanäle sind gereinigt, die Böden frei von Minen. Zwar kampieren noch immer Flüchtlin- ge in den Palmengärten der ehemaligen Königsresidenz, sprießt Weizen, wo einst Rosenstauden standen, doch flo- riert das Geschäft für Ziegel- und Holz- händler. Dörfer werden wieder aufge- baut, Brunnen gebohrt, und hinter Rei- sigzäunen verkneten Neuankömmlinge Mistfladen mit Lehm zu Hüttenwänden. Auch die Krankenhäuser sind repa- riert. Obwohl es an Blutkonserven man- gelt, wird wieder operiert und Typhus kuriert. Die Versorgung mit Medika- menten ist besser geworden, seit Kadir den Chef des Gesundheitskomitees ent- machten ließ. Der hatte mit Arzneimit- telspenden Handel getrieben. Ernüchtert durch die Dauerfehden in Kabul, schwören selbst benachbarte Kriegsherren Kadir ihre Treue. Und längst haben die Kommandeure von Nangarhar zum Zeichen ihrer Loyalität ihre Kämpfer dem Befehl der Schura unterstellt. „Wir haben den Russen einen Arm gebrochen“

An der Militärschule vor den Toren Dschalalabads wird den Befreiungskrie- gern soldatische Disziplin eingedrillt. Wie Donner grollen die Kommandos von General Gul Amir auf die Kompa- nie herab. Über 500 Rekruten hat der bullige Befehlshaber bereits trainiert. Vor zehn Monaten sind sie ihm zuge- teilt worden. Sie kamen in ihren weiten Baumwollhosen und den wadenlangen Hemden, die Kalaschnikows lässig über die Schulter geworfen. Jetzt marschie- ren sie in Tarnuniform und in geordne- ter Formation vor dem Ausbildungslei- ter. Nur die Helme rutschen noch zu tief in die Augen. Die Kopfbedeckung ge- hörte zur Ausrüstung der Ungläubigen, der Russen. „Wir haben Allahu akbar draufgeschrieben. Das sind keine Kom- munistenhelme mehr“, sagt der General mit den zwei Sternen auf den gestrickten roten Schulterstücken. Amir, 48, spricht die Sprache der ein- stigen Besatzer fließend. Sein Hand- werk hat er auf Kabuls Militärakademie gelernt, wo die Ausbildung einst Teil russischer Entwicklungshilfe war. Als aus den theoretischen Kriegsspielen Ernst wurde, schloß er sich den Befrei- ungskriegern an und half, seinen Lehr- meistern die folgenschwerste Niederlage ihrer Geschichte zu bereiten. „Wir ha- ben den Russen einen Arm gebrochen“, sagt er. „Das war der Anfang vom Ende einer Supermacht.“ Aber auch der An- fang vom Ende des heiligen Bundes der Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite AUSLAND

Mudschahidin. Eine Schande sei es, so über die Einhaltung islamischer Gesetze Amir, daß die Freischärler, seit es nie- wacht, ließ in Kadirs Abwesenheit die manden mehr zu befreien gibt, einander Mädchenschulen wieder schließen. Die- umbringen. Kein Friede ohne Armee, se Eigenmächtigkeit hat ihn inzwischen lautet die Lehre, die er aus dem Krieg in das Amt gekostet. Kabul zieht. Die Mullahs könnten zur Herausfor- Von den mehr als 50 000 bewaffneten derung für den Gouverneur werden, Männern in Nangarhar konnten nur sollten sie sich einig sein und ihn beim 8000 in den Streitkräften der Provinz Freitagsgebet nicht länger als Friedens- unterkommen. Schon ein Heer dieser stifter feiern, sondern als Ungläubigen Größe kann sich Kadirs Regierung nicht verteufeln. Es wäre nicht das erste Mal, leisten. Außer Zöllen und Handelssteu- daß sie im Verbund mit Stammesälte- ern hat sie kaum Einnahmen, und auch sten ein Regierungsoberhaupt stürz- diese fließen nur, wenn die Grenze nach ten: Pakistan nicht geschlossen ist. Im November 1928 brannten von Re- Seit neun Monaten haben die Solda- ligionsführern aufgehetzte Schinwari- ten keinen Sold mehr bekommen, seit Krieger in Dschalalabad den königli- vier Monaten erhalten Krankenschwe- chen Winterpalast nieder. Der reform- stern, Lehrer, Verwaltungsangestellte geneigte Herrscher Amanullah hatte an- keinen Lohn. geordnet, die Frauen zu entschleiern Kürzungen im Verteidigungsbudget und die Schulpflicht einzuführen. können dem Gouverneur wohl nicht Kadir ist weiser und hofft, seine Geg- zum Verhängnis werden, denn für den ner durch Geduld zu bezwingen: Er ver-

Mädchenschule in Dschalalabad: „Wer soll die Töchter schreiben lehren?“

Wiederaufbau sind selbst die Komman- ordnete Schleierzwang – und eröffnet deure bereit, Einsparungen hinzuneh- weiter Mädchenschulen. „Diese Gesell- men. Als gefährlicher erwies sich sein schaft“, sagt er, „verkraftet keine plötz- Versuch, mit Traditionen zu brechen: lichen Veränderungen.“ Erstmals brachte Kadir alte Ordnung Was die Gesellschaft verkraften kann, und neue Macht geschlossen gegen sich hört der Gouverneur, wenn er einmal in auf, als er verfügte, höhere Mädchen- der Woche im populärsten Teehaus der schulen zu eröffnen. Stadt einkehrt. Die Stimmung ist Er mußte seine ganze Redekunst auf- schlecht unter den Männern, die bei bieten, um die Schura-Deputierten da- schummriger Beleuchtung vor dampfen- von zu überzeugen, daß auch Frauen für den Teegläsern und Tellern mit gezuk- den Wiederaufbau nötig sind. Der Pro- kerten Mandeln hocken. Die Pakista- phet, beschwor er sie, habe ausdrücklich ner haben die Grenze wieder geschlos- „jedem moslemischen Mann und jeder sen. moslemischen Frau“ die Aneignung von „Wir haben keine Antibiotika mehr“, Wissen zugestanden: „Wer soll denn eu- klagt der Arzt des Kinderkrankenhau- re schwangeren Frauen versorgen, wer ses, „gerade jetzt, da so viele Kinder aus eure Töchter schreiben lehren?“ Kabul mit Lungenentzündung eingelie- Es war eine Kraftprobe. Er sei zu mo- fert werden.“ Der Teppichhändler la- derat, warfen die Räte ihm vor und deu- mentiert: „Alles wird teurer, nur die teten seinen „zu kurzen“ Bart als Be- Teppiche werden billiger.“ Er gehört zu weis für mangelnde Gottesfurcht. Der den wenigen Kaufleuten, die keine Vorsitzende des Scharia-Gerichts, das Nachschubsorgen plagen. Das Angebot

174 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite AUSLAND an handgeknüpften Läufern wächst mit Annemarie Goedmakers, fänden sich in Sie setzten auf fernab lebende Exper- der Zahl der Flüchtlinge. den Finanzaufstellungen vieler EU-Län- ten statt auf örtlichen Sachverstand, Wann denn wieder mit einer Lohn- der nur „Sternchen“, wo der Beitrag zur beteiligten die betroffene Bevölkerung zahlung zu rechnen sei, fragt ein Ver- globalen Umweltwende in der Dritten zu wenig und stimmten ihre Konzepte waltungsangestellter vorsichtig. Nach- Welt und in Osteuropa verzeichnet sein nicht aufeinander ab. mittags verkauft er Blumenkohl auf dem sollte. Gerade 2Milliarden Dollar sagten Umweltschützer und Drittweltstaaten Basar, statt ins Büro zu gehen. die Industriestaaten bislang fest zu, 240 lehnten die Vergabepraxis der Welt- „So wie man mit einer Gitarre, der ei- Millionen davon Deutschland. Über die bank für den neuen Globalfonds denn ne Saite gerissen ist, keine Musik ma- Kriterien, nach denen diese Mittel im auch kategorisch ab, während die mei- chen kann, so kann diese Provinz ohne Rahmen des Globalen Umweltfonds der sten westlichen Regierungsbeamten die eure Arbeit nicht zu neuer Blüte gelan- Uno (Guf) vergeben werden sollen, ent- Effizienz der Banker rühmten. Sie gen“, wirbt Kadir. Zwei Jahre Galgen- brannte ein hitziger Streit. fürchten, daß neue Institutionen die in- frist gibt er sich selbst noch – wenn die Bislang bedienten sich die Industrie- ternationale Bürokratie noch weiter Männer im Teehaus seinen Worten wei- staaten bei gemeinsamen Finanzhilfen an aufblähen und politische Koalitionen terhin Vertrauen schenken. Entwicklungsländer der 1944 gegründe- der Entwicklungsländer die Guf-Ent- Wenn nicht, „dann ist schon morgen ten Weltbank und des Internationalen scheidungen diktieren könnten. alles zu Ende“. Y Währungsfonds in Washington. Die Bei der jüngsten Guf-Tagung vergan- USA, Japan und Deutschland verfügen – gene Woche in Genf gelang aber nun- entsprechend ihren Beiträgen – über die mehr der Durchbruch: Im neuen Exe- Umwelt Stimmenmehrheit, streng nach dem Mot- kutivrat des Globalen Umweltfonds er- to: Wer zahlt, schafft an. Von Guatemala halten die Entwicklungsländer eine bis Indien finanzierte die Weltbank über- Sitzmehrheit, verzichten aber auf einen dimensionierte Kraftwerke und Stau- ständigen Ratsvorsitzenden. Abge- Sternchen dämme, die – wie etwa der Tucurui- stimmt wird zweimal, nach Ländern Damm in Brasilien – riesige Waldflächen und Beitragszahlern. So kann keiner vernichteten, Millionen Menschen zur der Blöcke den anderen majorisieren. statt Dollar Umsiedlung zwangen und sich zumeist Zwar wird die Weltbank, zusammen auch als ökonomische Flops erwiesen. mit zwei Uno-Entwicklungsorganisatio- Durchbruch beim Streit um die Erst in jüngster Zeit verhüllten die nen, die meisten Projekte weiterhin be- Öko-Milliarden von Rio: Nord und Banker ihre Projekte mit einem grünen treuen, aber nicht darüber entscheiden. Mäntelchen. Bei einem 130-Millionen- Eine „weltweit neue Mischung“ sei ge- Süd einigen sich auf ein neues Dollar-Kredit für Ägyptens Tourismus- lungen, freut sich der deutsche Chef- globales System der Umwelthilfe. industrie legten sie noch einmal 4,75 Mil- verhandler, Hans Peter Schipulle. Der lionen drauf, um wenigstens einen Teil malaysische Uno-Botschafter, Ismail der durch Hotelabwässer direkt bedroh- Razali, lobt das „Haus in der Mitte enn Freunde die Beamtin um ihr ten Korallenriffe am Roten Meer unter zwischen Weltbank und Uno-Prinzi- „Traumleben“ beneiden, lacht Schutz zu stellen. pien“. Und Bonns Minister Töpfer, der WCornelia Quennet nur gequält. Die Zusatzgelder stammten aus einem sich als Integrationsfigur von Industrie- Ihr Chef, der deutsche Umweltminister, Pilotfonds des Guf, den die Bank völlig und Entwicklungsländern sieht, hat schickte sie im vergangenen Jahr nach dominierte. „Die mißbrauchen den Guf sich sogar eine zentrale Drittweltforde- Washington, Rom, Paris und nach Carta- zur Umweltschutzkosmetik“, kritisierte rung zu eigen gemacht: Neben dem gena in Kolumbien. In Genf und New die Weltbank-Spezialistin Barbara Un- Guf sollten jetzt noch zusätzliche Fi- York war sie öfter, als sie sich spontan er- müßig. nanzfonds eingerichtet werden, „die innern kann. Wie gewohnt, verfielen die Banker in sich von der Weltbank weg entwik- Mit 37 Jahren zählt die diplomatische die alten Fehler der Entwicklungshilfe: keln“. Y Juristinzuden jüngstenReferatsleitern in Bonner Ministerien, zuständig für „Inter- nationale Zusammenarbeit, Umwelt und Entwicklung“. Längst aber empfindet sie den Öko- Verhandlungsmarathon als „aufrei- bend“. Die „hoffnungsvolle Aufbruch- stimmung“, die 1992 vor dem histori- schen Umweltgipfel von Rio entstanden war, ist verflogen. Kaum noch beachtet von der Weltöf- fentlichkeit, versuchen dennoch Tausen- de Beamte und Experten aus allen Uno- Staaten, die verwirrende Vielfalt der Ab- kommen und finanziellen Versprechen von Rio de Janeiro politisch umzusetzen. Nach der weltweiten Zäsur von 1989 und angesichts der anhaltenden Wirtschafts- krise kürzten allerdings viele reiche Staa- ten ihre Entwicklungshilfeetats. Der Bei- trag der Deutschen schrumpfte, gemes- sen an ihrer Wirtschaftskraft, nach der Vereinigung sogar um 60 Prozent. Statt konkreter Zahlen, so klagt die niederländische Europa-Abgeordnete Tucurui-Staudamm in Brasilien: Zumeist ökonomische Flops

176 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite AUSLAND

Polen „Die Kirche ist doch kein Fräulein“ Bischof Pieronek über die Kluft zwischen Klerus und Gesellschaft

SPIEGEL: Herr Bischof, fünf Jahre nach reichen. Wäre der Mensch vollkommen, der Wende hat die katholische Kirche verlöre die Kirche ihre Existenzgrundla- stark an Ansehen verloren. Woran liegt ge als erlösende Kraft. das? SPIEGEL: Vor den letzten Parlaments- Pieronek: Es stimmt, daß die Populari- wahlen haben die Bischöfe es als eine tät der Kirche in jüngster Zeit gelitten Sünde angeprangert, nicht zur Wahl zu hat. Die Gründe dafür sind vielfältig. gehen. Dennoch blieben viele Polen zu Das Umfeld, in dem die Kirche ihren Auftrag erfüllt, hat sich stark verändert. Unter den Kommunisten war die Kirche Hort des Widerstandes gegen den Tota- litarismus. Deshalb versammelte die Kirche auch die politische Opposition um sich, die sich nicht immer mit dem Katholizismus identifizierte. SPIEGEL: 90 Prozent der Polen erklären, sie seien gläubig, 50 Prozent bezeichnen sich als praktizierende Katholiken. Das sind Zahlen, von denen andere Kirchen nur träumen können. Gleichwohl schwindet die Autorität der Oberhirten. Beunruhigt Sie das nicht? Pieronek: Die Gesellschaft wird weltli- cher, materialistischer, konsumorien- tierter. Das sind die gleichen Prozesse, die es seit Jahren im Westen gibt. Wir, damit meine ich Bischöfe, Priester, Lai- en, sind auf die neue Situation nicht aus- reichend vorbereitet – weder auf die Möglichkeit, die uns die Freiheit bietet, noch auf die Aufgaben, die sich daraus ergeben. SPIEGEL: Die Mehrheit der Gläubigen nimmt sich die Freiheit, nicht mehr wie in alten Zeiten auf die Anweisungen der kirchlichen Obrigkeit zu hören. Pieronek: Ich würde mit der These von dem schwindenden Einfluß der Kirche sehr vorsichtig sein. Allein die Tatsache, daß die meisten Polen sich als gläubige Katholiken bekennen, spricht für sich. Seit Mai vorigen Jahres ist unser Anse- hen laut Meinungsumfragen um 16 Pro- Tadeusz Pieronek zent gestiegen. SPIEGEL: Ein Gegenbeispiel: Viele Po- ist seit einem Jahr Generalsekretär linnen gehen zwar sonntags in die Kir- der polnischen Bischofskonferenz che, eine Abtreibung lassen sie sich und damit nach Jo´zef Kardinal gleichwohl nicht verbieten. Glemp höchster kirchlicher Würden- Pieronek: Das Problem existierte schon träger des Landes. Der in Radzie- immer. Die Diskrepanz zwischen Glau- chowy geborene Pieronek, 59, stu- ben und Praxis ist das größte Drama des dierte kanonisches Recht an der ka- Menschen, nicht nur im religiösen Le- tholischen Universität Lublin und Zi- ben, sondern auch in vielen anderen Be- vilrecht in Rom. Der Bischof gilt im konservativen polnischen Klerus als Das Gespräch führten die Redakteure Andreas Lo- offen und reformfreundlich. renz und Ulrich Schwarz.

178 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite AUSLAND

Hause. Die Parteien mit den christli- ein Bischof im Prinzip chen Namen erlitten eine deftige Nie- das Recht haben soll- derlage. Hat Ihr Wort keinen Wert te, seine Meinung zu mehr? äußern. Pieronek: Man könnte sagen, die Kirche SPIEGEL: Teilen Sie hat eine Niederlage erlitten, indem man die Ansicht Ihres ihr den Gehorsam verweigerte. Aber Landsmannes, des die Ursachen dieses Wahlergebnisses Schriftstellers Andrzej sind vielschichtiger: Die Menschen Szczypiorski, daß die konnten die ihnen aufgebürdete wirt- polnische Kirche in schaftliche Last nicht mehr tragen. Men- diesen Tagen die tief- schen, die sich in einer dramatischen Si- ste Krise ihrer tau- tuation befinden, suchen nach einem sendjährigen Ge- Ausweg, der uns nicht immer logisch er- schichte durchmacht? scheint. Pieronek: Diese Mei- SPIEGEL: Können Sie sich italienische nung ist vollkommen Verhältnisse in Polen vorstellen: starke unbegründet, das sind christliche Traditionen, eine mächtige leere Worte. Wir ha- Kirche auf der einen Seite, auf der ande- ben zum erstenmal seit ren eine völlig weltliche Gesellschaft? langer Zeit geordnete Pieronek: Völlig weltlich ist sie nicht. kirchliche Strukturen Die Situation in Polen ist schon ein biß- mit 100 Bischöfen, vol- chen so, wie sie in Italien war, obwohl Warschauer Nachtklub len Priesterseminaren wir keine starke christlich-demokrati- „Moralische Grundsätze angetastet“ und Tausenden Pfar- sche Partei haben. Die reien, in denen fast 80 Kirche hat kein Mono- Prozent der Kinder und Jugendlichen pol als gesellschaftli- freiwillig den Religionsunterricht in den che Institution. Schulen besuchen. Das innere Leben SPIEGEL: Damit schei- kann Szczypiorski erst recht nicht be- nen die Bischöfe werten, das können nur die Seelsorger. schlecht fertig zu wer- Es ist schade, daß manche Leute ihre den. Zugehörigkeit zur Kirche erklären, sich Pieronek: Ich gebe das aber nicht mit ihr identifizieren. zu: Wie die ganze Ge- SPIEGEL: Der Primas der polnischen sellschaft muß auch die Kirche, der Warschauer Kardinal Glaubensgemeinschaft Glemp, hat selbst von der Schwäche der lernen, in der Demo- Kirche in sozialen und moralischen Fra- kratie zu leben. Das gen gesprochen. Wo liegen die konkret? braucht Zeit und be- Pieronek: Seit 1987, als sich die ersten stimmte Bedingungen, Anzeichen des Zusammenbruchs des man muß Demokratie Kommunismus zeigten, hat sich die leben. Auch die Amts- Haltung der Polen geändert, gewisse kirche steht vor einer moralische Grundsätze wurden angeta- neuen Wirklichkeit. Es stet. ist schwer für Men- SPIEGEL: Zum Beispiel? schen, die in der kom- Pieronek: Ich denke an die Ausbreitung munistischen Zeit auf- Religionsunterricht: „Unsere Mentalität ändern“ von Pornographie und Prostitution. Die gewachsen sind, im hat es zwar immer gegeben, aber mehr Handumdrehen zu Demokraten zu wer- SPIEGEL: Ihren Rückzug haben viele im Untergrund. Auf dem Weg zur Frei- den. Das gilt ebenfalls für Priester und Polen offenkundig nicht bemerkt. Sie heit sind viele Menschen in Richtung Bischöfe. protestieren immer wieder gegen die dieser extremen Randerscheinungen ge- SPIEGEL: Polnische Nation und katholi- starke Einflußnahme im öffentlichen gangen, weil dies bequem, angenehm sche Kirche waren über Jahrhunderte Leben und in der Familie. Viele Intel- und manchmal auch lohnend ist. Das ist nahezu eins. Ist diese Epoche endgültig lektuelle fürchten sogar einen katholi- ein beunruhigendes Phänomen. zu Ende? schen Staat polnischer Nation. SPIEGEL: Wir fragten nach den Schwä- Pieronek: Diese Identität ist vor allem in Pieronek: Die Furcht ist völlig unbe- chen der Kirche und nicht der Gesell- drei historischen Perioden entstanden, gründet. Aber es ist möglich, daß einzel- schaft. in denen die Kirche für die unterdrückte ne Äußerungen meiner Glaubensbrüder Pieronek: Es existiert eine gegenseitige Nation kämpfte: bei den Teilungen, un- diese Angst ausgelöst haben. Abhängigkeit: Die Kirche ist so wie die ter der Hitler-Okkupation und während SPIEGEL: Selbst ein überzeugter Katho- Gesellschaft und umgekehrt. des Kommunismus. lik wie der frühere Ministerpräsident SPIEGEL: Das Zweite Vatikanische SPIEGEL: Welche Rolle soll die Kirche Tadeusz Mazowiecki wirft Ihnen vor: Konzil hat den gesellschaftlichen Plura- in der demokratischen Zukunft spielen? „Der Schaden, den die politische Einmi- lismus akzeptiert. Seit im Vatikan der Pieronek: Wir haben uns freiwillig aus schung angerichtet hat, ist groß.“ Pole Wojtyla regiert, verstärkt sich der der Politik zurückgezogen. Ich meine Pieronek: Das ist seine Meinung. Ich Eindruck, er wolle die Entwicklung zu- damit nicht, daß wir keinen Einfluß stimme nicht mit ihr überein. Es gab rückdrehen. mehr auf das Leben in Polen ausüben zwar einzelne Fälle der direkten Einmi- Pieronek: Ich weiß, was man über den wollen. Aber es soll nur noch indirekt schung, etwa als zwei Bischöfe bei der Papst sagt. Ich kenne ihn persönlich, ich über Laien im Parlament und andere Auswechslung von Woiwoden prote- habe mit ihm lange zusammengearbei- Machtstrukturen geschehen. stierten. Das war nicht nötig, auch wenn tet. Das Konzil hat zweifellos eine enor-

182 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite AUSLAND

me Öffnung zur Welt hin bewirkt. Geburtenkontrolle gang und gäbe Aber es blieben Grenzen, ohne die wir ist. unsere Identität verlieren würden. Der Pieronek: Warum sollen wir zwischen Papst wird jenen die Tore verschlie- dem einen und dem anderen Übel ßen, die über diese Grenzen hinausge- wählen? Wählen wir zwischen dem Bö- hen wollen. Das ist seine Aufgabe. sen und dem Guten. Es gibt natürli- SPIEGEL: Aber er tut das Gegenteil: che, von uns erlaubte Empfängnisver- Er zieht die Grenzen immer enger, er hütung. wendet den Geist des Vatikanischen SPIEGEL: Muß die Kirche nicht doch Konzils ins Konservative. Ein Beispiel um Menschen buhlen wie die Kandida- ist der Weltkatechismus, der den tota- tinnen in einem Schönheitswettbe- len Machtanspruch der Kirche über werb? Wenn die Zuschauer aus dem den einzelnen wiederbeleben möchte. Saal rennen, weil das Fräulein so häß- Pieronek: Warum sollen wir gegen den lich ist, verkünden die Geistlichen ihre Papst auftreten, der die höchste geisti- Wahrheiten vergebens. ge und moralische Autorität ist? Pieronek: Ich gebe zu, daß wir verlore- SPIEGEL: Mit dem Weltkatechismus nes Gebiet zurückerobern müssen, will der Papst die Gewissensfreiheit aber nicht um jeden Preis. Dafür brau- des einzelnen Gläubigen wieder zu- chen wir eine neue Sprache, ein neues rückschrauben, sein Verhalten bis ins Herangehen an die Probleme, ohne Ehebett hinein normieren. das Wesentliche aus den Augen zu ver- Pieronek: Sie übertreiben. Die Freiheit lieren. Wir müssen unsere Mentalität des Gewissens repräsentiert einen so ändern, die Massenmedien stärker nut- enormen Wert, den zen. Wir brauchen ei- die Kirche auf keinen ne neue Generation Fall verletzen will. Der von Religionslehrern, Mensch kann sich ent- weil sich die Lage in scheiden, ob er das den Schulen drastisch Gute oder das Böse geändert hat. Wir wählt, ob er Christ sein brauchen noch besser will oder nicht. ausgebildete Geistli- SPIEGEL: Aber der che, die neue Anfor- polnische Papst legt derungen bewältigen fest, was gut und können. was böse ist. Ein klas- SPIEGEL: Welchen sisches Beispiel ist konkreten Einfluß hat die Empfängnisver- der Papst auf die polni- hütung: Die starre sche Kirche? Ablehnung fast aller Pieronek: Es ist ein Formen der Verhü- Drama: Die Kirche tung hat viele Katho- hört dem Papst zu, liken dazu gebracht, aber ist nicht immer sich von der kirchlich gehorsam. verordneten Moral ab- SPIEGEL: Wie bitte? zuwenden, auch in Po- Pieronek: Der Papst len. war mehrmals in Po- Pieronek: Die Kirche Johannes Paul II., Walesa len, zum erstenmal im ist nicht dazu da, bei „Der Mensch ist ein Geheimnis“ Juni 1979. Dieser Be- den Leuten möglichst such hat den Polen die populär zu sein. Die Kirche ist doch Hoffnung gegeben, daß sich die politi- kein Fräulein, das in einem Schön- sche Lage ändern wird, was auch ge- heitswettbewerb gewinnen möchte. Es schah. Der Heilige Vater hat dadurch an geht bei der Empfängnisverhütung um der Wende erheblich mitgewirkt. Aber die Frage nach dem Wert des mensch- wenn er jetzt über die moralische Krise lichen Lebens und um das Recht des spricht, die Notwendigkeit, sich den ver- Menschen, einen so großen Wert zu änderten Bedingungen anzupassen, manipulieren. Die Empfängnisverhü- wenn er das Leben mit Gott anmahnt, tung wird als ein Mittel gesehen, das wollen die Polen nicht mehr so gern ge- unbegrenztes Vergnügen erlaubt. horsam sein. SPIEGEL: Wer hat schon etwas gegen SPIEGEL: Sie haben einmal erklärt, Sie unbegrenztes Vergnügen? wären auch zu einem Dialog mit dem Pieronek: Diese Problematik ist zu Teufel bereit. Wer könnte das sein? schwerwiegend, als daß man über sie Pieronek: Nur der Teufel selbst. Es scherzen sollte. Der Mensch ist ein heißt, er nehme Menschengestalt an. Geheimnis, das auch Leiden beinhal- Deswegen muß die Kirche mit den Men- tet, was einen tiefen religiösen Sinn schen reden, auch wenn das nicht immer hat. leichtfällt. Auch das Gespräch mit Ih- SPIEGEL: Kondome sind doch immer nen war nicht leicht. noch besser als später eine Abtrei- SPIEGEL: Herr Bischof, wir danken Ih- bung, die in Polen als Methode der nen für dieses Gespräch. Y

184 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite AUSLAND

Niederlande Kabinetts Den Uyl geschrieben hat, dessen Früchte wir nun ern- ten. Sicher – an diesem Artikel gibt „Starke Hitzewallungen“ es viel auszusetzen. Er ist in dem apodiktischen Stil geschrieben, der Presseecho auf „Frau Antje in den Wechseljahren“ (SPIEGEL 9/1994) diesem deutschen Magazin eigen ist . . . Aber im allgemeinen ist das Bild, das von den heutigen Nieder- landen gezeichnet wird, nicht un- richtig . . . Erich Wiedemann ist wieder auf Besonders ärgerlich ist nur, daß dem Kriegspfad. Er hat es zu sei- ein deutsches Wochenblatt Kritik nem Lebenswerk gemacht, die Nie- übt. Denn im deutsch-niederländi- derlande mit sicherer Regelmäßig- schen Verhältnis sind wir Nie- keit durch den Schlamm zu zie- derländer es, die das Recht auf hen . . . Kritik haben, und nicht umge- Frau Antje, seit vielen Jahren kehrt . . . Maskottchen des niederländischen Nicht so schlecht – jedoch Agrarexports und Symbol nieder- Psychologie mit dem Holzham- ländischen Wohlstands, ist in Wie- mer. demanns Augen herabgesunken zu einer spritzenden, saufenden und Joints paffenden Dirne in den Frau-Antje-Karikatur (Ausschnitt) Wechseljahren. Sie sollten ihre gegenseitige Beurtei- lung dringend überdenken. Es ist Zwischen Kiel und München kurzsichtig und unverantwortlich, stinkt’s in allen Städten und Dör- daß wir die Breitenwirkung der nie- fern nach verbranntem Fett. Darin derländischen Kultur Rudi Carrell brät der Deutsche die Currywurst, Angeblich leidet Frau Antje unter und Linda de Mol überlassen. von der er täglich, am liebsten ste- starken Hitzewallungen. In einem Martin van Gelderen, Dozent hend auf der Straße, ein Dutzend exaltierten Artikel über die Nieder- für Niederländische Geschichte als Zwangshandlung verschlingt. lande bringt der Autor viele Fak- an der TU Berlin Diese Schilderung gibt ein ebenso ten, an denen wenig zu korrigieren verzeichnetes Bild von den Eßge- ist . . . Jedoch die Verbindungen, Die eigene Straße wird sauberge- wohnheiten der Deutschen, wie die er zwischen den Fakten zieht, fegt, und aller Schmutz wird über DER SPIEGEL es von den unse- sind weit von der Realität ent- die Ostgrenze geschoben. Vielleicht ren gibt . . . fernt . . . können sich die Niederländer, die so Fahrraddiebstahl werde nicht mal Positiv ist, daß ein Deutscher gern den Zeigefinger heben und die mehr registriert, schreibt DER sich über unsere koloniale Kriegs- so „wütend“ werden, wenn sich an- SPIEGEL mit einer Entrüstung, vergangenheit äußert. Es schmerzt, derswo bedenkliche Entwicklungen die sich in einem Land versteht, daß wir von jenseits unserer Ost- zeigen, hier einmal Deutschland wo die Bürger nachts in einer grenze auf die tragischen Kapitel zum Vorbild nehmen. Kein Land ausgestorbenen Stadt warten, unserer Geschichte hingewiesen der Welt hat sich so intensiv mit den bis die Fußgängerampel auf Grün werden müssen. Diesen Text aus Schattenseiten seiner Vergangenheit springt. dem Artikel sollten wir beachten – befaßt wie die Nachkriegs-Bundes- er ist eine Diskussion wert. republik. Rob Apeslag vom Institut für Friso Wielenga, ausserordentlicher Internationale Beziehungen Clingendael Professor für Deutschlandstudien an der Universität Groningen Warum hat der Mythos ein so zä- Der Autor läßt wenig ungenutzt, hes Leben? Weil er uns auf beque- wenn es um die Anfuhr von Muniti- me Art und Weise hilft, unsere mo- on geht, um den niederländischen ralische Überlegenheit gegenüber Ruf zu ruinieren. Ganz „Spie- unseren östlichen Nachbarn zur Wir erwarten nun ein Widerwort geliaans“ ist die journalistische Me- Schau zu stellen. Unterdessen ver- des niederländischen Botschafters thode: Man sucht, gestützt auf das stärken wir unseren Minderwertig- in Bonn auf diesen vernichtenden berühmte SPIEGEL-Archiv, mög- keitskomplex gegenüber Deutsch- Artikel. Dem wird er sich wohl lichst negative Elemente und land enorm. nicht entziehen können. Das Peinli- schreibt sie flott zu einer großen, Jan Bosmans, Professor che für Botschafter van Walsum ist zwingenden Anklage zusammen . . . für Neuere Geschichte an der Universität Nimwegen allerdings, daß er selbst in den Wo bei den meisten Deutschen das siebziger Jahren kritische Artikel Hirn sitzt, hängt bei Erich Wiede- Deutsche, aber auch Niederlän- zu dem Fortschrittsoptimismus des mann vom Magazin DER SPIEGEL der sollten mehr Selbstkritik üben. (damaligen sozialdemokratischen) ein Beutel Sülze.

186 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite Dopingsünderin Otto (1988, mit Honecker), Schwimmerin Hase: Positive Tests vertuscht

Doping „EINE GROSSE MAFIA“ Anabolikamißbrauch war keineswegs nur ein Sündenfall des Ostens. Internationale Sportführer, die in den letzten Tagen effektivere Dopingkontrollen versprachen, geraten durch jetzt entdeckte Stasi-Akten ins Zwielicht. Aufzeichnungen des IM „Technik“ beweisen, daß ein weltweites Kartell bei der Vertuschung half.

usgerechnet mitten in der Olympia- DDR-Sportführer zu einem ungewöhn- Politiker beteiligt. Der gesamte Welt- vorbereitung gerieten die besten lichen Beweis sozialistischer Solidarität: sport, sagt deshalb der angesehene AGewichtheber der DDR in große Den Fahndern wurde der positive Be- österreichische Sportmediziner Ludwig Not. Zum entscheidenden Ausschei- fund des großen Bruders verschwiegen. Prokop, „ist eine große Mafia“. dungswettbewerb in Meißen meldeten Doping und Leistungssport – es wird Da kaum jemand an der Enthüllung sich unerwartet zwei ausländische Do- eine unendliche Geschichte bleiben. der Dopingpraxis wirklich interessiert pingkontrolleure an. Erst in der letzten Woche versammel- war, hielt die Allianz des Schweigens Das war fatal, denn die Heber waren ten sich im hessischen Heusenstamm auch noch, als erwischte Athleten im- gerade mit Anabolika stark gemästet Experten aus aller Welt, um schlüssige mer häufiger auf ihre Hintermänner ver- worden; die Menge hätte für einen gan- Rezepte zur Ausrottung der Muskel- wiesen. Ausgerechnet Höppner selbst, zen Kälberstall ausgereicht. Ein recht- mast zu finden. Die optimistischen Ab- der wie ein Pate bei vielen Manipulatio- zeitiges Absetzen der Pillen war nicht schlußerklärungen sind noch druck- nen die Drähte zog, half nun indirekt, mehr möglich. Also mußte auf Befehl frisch, da beweisen nun aufgetauchte al- über die wahren Verhältnisse aufzuklä- der obersten Sportführung wieder ein- te Akten, was von solchen Formulierun- ren: Der Chefdoper lieferte als IM mal der listige Doktor ran. gen zu halten ist: In Heusenstamm sa- „Technik“ der Staatssicherheit der Manfred Höppner, der Chefarzt des ßen auch Sportführer mit am Tisch, die DDR detaillierte Berichte – und die Sta- Sportmedizinischen Dienstes, diente über Jahrzehnte das Doping schützten. si schrieb auf, was im internationalen sich den Dopingfahndern als Transpor- Was 1984 zu Gunsten der DDR-Ge- Sport unterderhand geschah. teur für die Urinproben an. Auf dem wichtheber geschah, gehörte nach den Die Weltverbände tolerierten mal au- Weg zum Labor sollte der auch interna- Stasi-Aufzeichnungen zum Alltag. genzwinkernd, mal murrend, wenn tional bekannte Sportmediziner die Hochrangige Wissenschaftler erstellten Höppner, wie bei der Kugelstoßerin Ilo- Plomben aufbrechen, die positiven Pro- gefälschte Gutachten; Funktionäre bra- na Slupianek, der späteren Sprint- ben vernichten und gegen „reine Urine chen Siegel, um Dopingproben un- Olympiasiegerin Marlies Göhr, dem auswechseln“. brauchbar zu machen. Und tauchten Gewichtheber Gunter Ambraß oder Der Plan funktionierte – wie schon wirklich einmal positive Ergebnisse auf, dem Turner Ralf-Peter Hemmann, Aus- ein Jahr zuvor, als die starken Ostdeut- so wurden diese gemeinsam unter den reden und Lügen für positive Befunde schen sauber geblieben waren, dafür Teppich gekehrt. auftischte. aber ein Pole, ein Iraker und ein Sowjet- Ob im Westen oder Osten – am Kar- Im Gegenzug galt allen der „Pokal russe erwischt worden waren. Die ein- tell des Vertuschens waren überall Me- der Blauen Schwerter“ für Gewichthe- mal begonnene Gaunerei nutzten die diziner, Funktionäre und hochrangige ber in Meißen als Einladung zur Täu-

188 DER SPIEGEL 12/1994 SPORT schung, da hier Urin ebenso regelmäßig vaterländischen Interessen als ihrem in- Zeit zum Doping-Eldorado. Aus Angst wie folgenlos untersucht wurde. Davon ternationalen Auftrag verpflichtet. vor Schlagzeilen der Weltpresse, „daß profitierten nicht nur DDR-Heber. In Die Forscher haben viele Sportler er- die kleine DDR der großen Sowjetunion einem Jahr unterschlugen die Kontrol- wischt, wie den Magdeburger Speerwer- einen internationalen Skandal bereitet“ leure die positiven Befunde von zwei fer Volker Hadwich, den Leipziger Ju- (Höppner), wurden besonders sowjeti- Sowjetrussen, vier Ungarn, zwei Tsche- doka Axel Lobenstein, die erst 16jähri- sche Praktiken gedeckt. choslowaken und einem Schweden. ge Junioren-Europameisterin im Speer- Doch als Manfred Ewald, der Präsi- Der Kölner Dopinganalytiker Man- werfen Anja Reiter aus Halle sowie – ei- dent des Turn- und Sportbundes der fred Donike fand nachträglich im Urin nen Tag vor der Abreise zur Europa- DDR, begriff, daß „sich auch unter von 60 Sportlern, die an den Olympi- meisterschaft 1989 in Bonn – schen Spielen 1980 in Moskau teilge- die Schwimmerin Kristin Otto nommen hatten, Spuren von Anaboli- mit einem anomal hohen Testo- ka, 12 hatten eindeutig positive Befunde steronquotient von 17 (erlaubt – die offiziellen Untersuchungen wäh- ist äußerstenfalls 6). Danach rend der Spiele hatten angeblich keine trat die sechsmalige Olympia- Hinweise auf Dopingverstöße ergeben. siegerin von 1988, die heute Vier Jahre später berichtete Höppner beim ZDF arbeitet, zurück. der Stasi, daß sich Donike mit Primo Bisher hat sie stets jegliche Do- Nebiolo, dem Präsidenten des Leicht- pingeinnahme abgestritten. athletik-Weltverbandes, bei den Spielen Die neuen Dopingfakten ha- in Los Angeles „überworfen habe“. Ne- ben nicht nur historischen biolo habe Donike in sein Hotelzimmer Wert, sie helfen auch, Ereignis- bestellt und ihn aufgefordert, für „weni- se der jüngeren Vergangenheit ger positive Dopingfälle“ zu sorgen. zu werten. So bekam die Donike, der als Mitglied der Medizini- Schwimmerin Dagmar Hase schen Kommission des Internationalen nach ihrem Olympiasieg 1992 Olympischen Komitees (IOC) die La- in Barcelona noch im Fern- borwissenschaftler überwachte, weiger- sehstudio einen Weinkrampf, te sich. als sie auf die Situation ih- Der allmächtige Nebiolo erreichte rer Schwimmerkollegin Astrid dennoch sein Ziel. Die Namen von acht Strauß aufmerksam machte. Sportlern, die am Schlußwochenende Strauß war kurz vor den der Spiele positiv getestet worden wa- Spielen wegen eines zu hohen Dopingfahnder Donike: Stasi-Spitzel im Labor ren, gestand Laborleiter Craig Kamme- Testosteronwertes gesperrt rer, seien nie veröffentlicht worden. worden, den sie allerdings auf den über- Freunden der Klassenkampf abspielt“, Die neuen Fakten beweisen, daß auch mäßigen Genuß von Erdbeerbowle zu- begann er systematisch Material über Dopinglabors mittricksten, die die offi- rückführte. Jetzt scheint sicher, daß we- den großen Bruder zu sammeln, um „in zielle Akkreditierung des IOC als ver- niger ein alkoholisches Getränk als ein ähnlichen Situationen ein Entgegen- meintliches Gütezeichen im Briefkopf spezielles Magdeburger Dopingrezept kommen“ erpressen zu können. Der führten. Besonders die Chemiker im für den Anstieg des Hormonspiegels Sportchef wollte speziell bei den Olym- sächsischen Kreischa waren mehr den verantwortlich sein muß: Bei einer pischen Spielen 1980 in Moskau „eine Überprüfung am 7. August Art Narrenfreiheit genießen“ (Höpp- 1989 hatte Dagmar Hase fast ner). den gleichen Wert wie drei Während sich die DDR zuletzt mit Jahre später Astrid Strauß. den sozialistischen Ländern sogar, wie Oft schalteten sich sogar ein Funktionär sagte, in einem „regel- die Politiker ein. Dopingfälle rechten Krieg“ wähnte, weil die Bruder- bei der Gewichtheber-WM staaten das ostdeutsche Doping-Know- 1980 wurden in der sowjeti- how begehrten, gestaltete sich das Aus- schen Botschaft verhandelt. kommen mit den westlichen Kollegen Als 1979 die Bulgarin Totka durchaus ersprießlich. Obwohl sich die Petrowa als gedopt gemeldet beiden Sportsysteme in der Öffentlich- werden mußte, weil Kreischa keit befeindeten, waren sich die höch- um seine IOC-Akkreditie- sten Vertreter intern in Dopingfragen rung fürchtete, forderten die auffällig einig. Bulgaren „eine Eliminie- Höppner pflegte mit dem karrierebe- rung“ der Probe. Höppner wußten Sportmediziner Joseph Keul aus mußte für Parteichef Erich Freiburg eine Duzfreundschaft. In inter- Honecker, der wenig später nationalen Beratungen vertrat der zum Staatsbesuch nach Bul- Westdeutsche bisweilen sogar die Argu- garien reiste, ein Diskussi- mente der DDR (siehe Kasten Seite onspapier schreiben – Gast- 192). geber Todor Schiwkoff galt Nur Donike fürchtete Ost-Berlin, als besonderer Fan der Welt- nachdem anfängliche Kontakte abge- klasseathletin. kühlt waren. Zunächst hatte Höppner Die gegenseitigen Abspra- geglaubt, den nach seiner Ansicht pro- chen machten die Welt hinter filsüchtigen und geldgierigen Doping- dem Eisernen Vorgang lange fahnder einbinden zu können. Donike Chefdoper Höppner (1990)* verlangte für seinen Sohn die Trainings- „Ein schlimmer Pillendreher“ * Foto von Ludwig Rauch. pläne der ostdeutschen Radfahrer – und

DER SPIEGEL 12/1994 189 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite SPORT

bekam sie auf konspirative Weise. End- lern, Angaben über die Vergabe von gültig wähnte Höppner den Westdeut- u.M.* sowie zur Trainingsbelastung. schen nach einem Besuch am 9. Septem- Diese Feststellung ist der Beweis dafür, ber 1985 in Köln auf seiner Seite. Der daß DONIKE entgegen den vielen Pres- IM „Technik“ notierte: severöffentlichungen nicht ausschließ- lich Dopingkontrollen durchführt, son- Der IMB konnte sich ungehindert in den dern auch individuelle Absetz-Termine Institutsräumen bewegen und stellte in einem Nebenraum eine große Anzahl * u.M: Abkürzung für unterstützende Mittel, in von Urinproben fest. Auf den Flaschen der DDR gebrauchtes Synonym für Dopingpräpa- waren die Klarnamen von BRD-Sport- rate.

„Anwendung erfolgt“ Wie der Freiburger Joseph Keul dem IM „Technik“ zuarbeitete

r selbst, erzählt nem westdeutschen Joseph Keul Kollegen. Egern, sei eigent- Die geistige Über- lich der Erfinder der einstimmung zwi- Doping-Kontrollen. schen Höppner und In Talk-Shows und Keul führte bald zu Interviews präsentiert einer innigen Freund- sich der weißhaarige schaft. Der Freibur- Sportmediziner als ger bewirtete Höpp- strenger Anti-Do- ner an der Bar, er lud ping-Kämpfer. ihn in sein Hotelzim- Jetzt holt den Frei- mer, schließlich zu ei- burger Sportmedizi- nem Besuch in seine ner, der in dieser Wo- Freiburger Villa ein. che die deutschen „Das einzige, was Tennisprofis beim Keul an einer Tätig- Daviscup in Öster- Sportmediziner Keul keit in der DDR stö- reich betreut, die Medikamente angeboten ren würde“, schrieb Vergangenheit ein. Höppner auf, „ist, Keul hatte, so weisen Berichte der daß er nicht nebenbei Geld verdie- Staatssicherheit aus, ein Doppelge- nen kann.“ sicht: In der Öffentlichkeit geißelte Großzügig habe Keul ihm „einen Keul Doping, in internen Zirkeln Koffer mit Medikamenten“ angebo- befürwortete er durchaus die Mus- ten. Höppner lehnte ab, war von da kelmast. an sicher, „daß uns die Westkollegen Manfred Höppner, der Chefdoper nie verraten würden“. der DDR, berichtete 1974 der Stasi, Der Stasi-Spitzel will Keul kleine- Keul habe bestätigt, daß „in der re Aufträge angetragen haben. Vor- BRD generell die Anwendung von nehmlich den Aufenthaltsort repu- Anabolen erfolgt“. Keul habe auch blikflüchtiger Ärzte sollte Keul her- „im Prinzip nichts dagegen einzu- ausfinden. Zu Alois Mader, der heu- wenden“, er sei außerdem „nicht ge- te an der Sporthochschule in Köln neigt“, auf die „Verabreichung von arbeitet, konnte Höppner Informa- Anabolen zu verzichten“. tionen abrufen. Mehrmals habe sich Als die internationale Ärzteschaft Keul abfällig über den aus Halle ge- strengere Doping-Richtlinien for- kommenen Kollegen geäußert. derte und einige Mediziner auf Schließlich habe der Zuträger aus „drastische Art und Weise auf die Freiburg von selbst funktioniert. Ei- eintretenden Gefahren beim Sport- nes Abends, gegen Mitternacht, ha- ler hingewiesen“ hätten, sei es unter be Keul „zu verstehen gegeben, daß anderem auch dem Einsatz Keuls zu er mit dem IMV noch ein persönli- verdanken gewesen, daß „wesentli- ches Gespräch führen will“. Dann che Passagen“ wieder gestrichen habe er detailliert über die Situation wurden. Höppner konnte sich nach eines weiteren ehemaligen DDR- eigener Einschätzung in der Diskus- Mediziners berichtet, der „Angst vor sion zurückhalten, er „überließ in er- einer möglichen gewaltsamen Zu- ster Linie die Argumentation“ sei- rückführung in die DDR“ habe.

192 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite SPORT

bestimmt und damit das Doping eben- sieht anders aus: „Sich frei fühlen und Schumacher, Wendlinger und Frentzen falls unterstützt. die Kuh fliegen lassen.“ Für ihn haben gebildet. Damals war Frentzen schneller Autorennen auch „was mit Show zu gewesen als Schumacher, jener Mann, Donike bestreitet diesen festgestellten tun“. Doch die Marketing-Manager, die der inzwischen zum nach Ayrton Senna Sachverhalt nicht, wohl aber die Inter- ihn jetzt in die Königsklasse des Auto- besten Piloten der Welt avanciert ist. pretation. Der Urin sei nicht für Doping- mobilsports hievten, erwarten nur gute Doch anders als der gewissenhafte tests, sondern für „harmlose wissen- Plazierungen. Schumacher galt der mit einer Überdo- schaftliche Tests“ gebraucht worden. Also spürt Frentzen, 26, den Druck sis Talent ausgestattete Frentzen bei sei- Zweifel an dieser Erklärung kontert schon vor seinem ersten Grand Prix am nem ersten Mercedes-Engagement als Donike mit dem Hinweis auf Höppners kommenden Wochenende in Sa˜o Paulo. Kindskopf, der sich mit albernen Scher- Bewegungsfreiheit in seinem Institut. Denn er sitzt nicht in irgendeinem Auto, zen dem Erwachsenwerden entzog. Diehätteerniezugelassen,wenn esetwas sondern in jenem, das den Stern aus Un- Der begabte Luftikus kündigte den zu verbergen gegeben hätte. Schließlich tertürkheim trägt. Mercedes-Werksvertrag zugunsten ei- habe er von dem aus der DDR geflüchte- Einerseits ehrt es den Neuling, ausge- nes Jobs in der Formel 3000, das Wagnis ten Sportarzt Alois Mader erfahren, daß rechnet jener Deutsche zu sein, der nach geriet zur Pleite: Wo Frentzen war, war „dieser schlimme Pillendreher“ auch ein 39 Jahren Abstinenz wieder einen For- unten. Acht Monate hatte er keinen Mann der Stasi sei. Y mel-1-Mercedes lenken darf. Anderer- Rennwagen mehr gefahren, als ihm eine seits belastet ihn das „Pflichtgefühl“, Tätigkeit in Japan angeboten wurde, ei- das er darob verspürt, schließlich sei die gentlich eine Bankrotterklärung für eu- Formel 1 Erinnerung vieler Leute an die glorrei- ropäische Fahrer. chen Silberpfeile noch wach. Doch Frentzen erkannte dies als seine Ob Frentzen die psychische Balance letzte Chance. Sein Reifeprozeß im von Freiheit und Pflicht findet, wird ei- fremden Osten blieb auch Peter Sauber, Kuh fliegen ne der spannendsten Fragen der neuen der Mercedes gerade als Partner für sein Saison. Daß sich seine Arbeitgeber – Formel-1-Team gewonnen hatte und auf der Schweizer Peter Sauber und der der Suche nach einem Piloten war, nicht lassen High-Tech-Lieferant Daimler-Benz – verborgen. Da hinter Senna und Schu- überhaupt für den Mönchengladbacher macher „das Angebot auf dem Fahrer- Der neue deutsche Grand-Prix-Pilot als zweiten Piloten neben dem Tiroler markt recht flach ist“, lud der Schweizer Heinz-Harald Frentzen liebt das Ri- Karl Wendlinger aussprachen, werten den geläuterten Desperado zu Probe- Experten als „bewundernswert mutige fahrten ein: Frentzen überzeugte. siko. Aus Angst vor zuviel Schrott Entscheidung“. Ganz mag der Sohn eines Bestat- wollen seine Förderer ihn bremsen. Die wesentlichen Naturgesetze des tungsunternehmers aber von der Lok- Motorsports sprachen gegen Frentzen – kerheit nicht lassen. Als auf dem Genfer er hat in seiner Karriere bislang weder Automobilsalon die neuen Sauber- ie erste Dienstfahrt des Trainings- Titel gewinnen noch Geldgeber mobili- Sponsoren präsentiert werden, erscheint tages endete bereits nach sechs Ki- sieren können, 7 der 16 Grand-Prix- Wendlinger im feinen Sakko mit Weste D lometern. Wie ein Fahrschüler, Kurse sind ihm fremd. Doch ein Argu- und Krawatte, Frentzen beantwortet der in verkehrter Richtung in eine Ein- ment war stärker: Mercedes hatte 1990 den irritierten Blick des Kollegen auf bahnstraße biegt, hat Heinz-Harald für die Einsätze um die Sportwagen- seinen mausgrauen Teampulli und die Frentzen vor einer Kuppe die Orientie- Weltmeisterschaft ein Junior-Team mit braunen Wildlederschuhe lakonisch: rung verloren und rast von der Piste. den drei Nachwuchsfahrern Michael „Schwarze Schuhe habe ich nicht da- Das Abbremsen seines Renn- wagens besorgen die Leitplan- ken. Drei Stunden nach dem pein- lichen Crash, vorletzte Woche im italienischen Imola, wird der Formel-1-Neuling ans Telefon gerufen. Er habe halt probieren wollen, erklärt Frentzen sei- nem Gesprächspartner, wie schnell er eine ihm unbekannte Rennstrecke erlernen könne. Doch Teamchef Peter Sauber kontert, daß er Fahrer, „die mit der Brechstange hantieren“, nicht sonderlich schätze. Geplagt von schwerem Kopf und schlechtem Gewissen, legt Frentzen den Hörer auf die Ga- bel. Der Gedanke an die näch- ste Testfahrt am Nachmittag bereitet ihm Unbehagen: „Ich bin verkrampft, ich bin nicht frei.“ Saubers Schelte kann er zwar verstehen, „aber sie ist Gift für einen Piloten“. Frentzens Traum vom Rennfahrerglück Formel-1-Neuling Frentzen, Trainingsunfall: „Gewagte Fights auf der Piste“

DER SPIEGEL 12/1994 195 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite SPORT bei.“ Auch das Früchtemüsli, das ihm der Team-Masseur verordnet hat, ersetzt er Fußball schon mal durch Gambas, Schnecken und einen edlen Wein: „Ein schönes Dinner ist die beste Entspannung.“ Den Unfall von Imola verarbeitet der „Ich verachte alle Genußmensch in einer Weise, die ihn vom Gros der Rennfahrerkollegen unter- scheidet. „Fehler“, setzt er seine Vertei- Eichbergs dieser Welt“ digungslinie, „gehören zur Entwicklung einesMenschen: Man kann nichts perfekt Präsident Bernd Tönnies über die Schalker Finanzmisere machen.“ Selbst wenn er schließlich seine Hara- kiri-Aktion zu „einer meiner verrückten Tönnies, 41, gründete mit 17 Jahren ting GmbH zu tun. Da gibt es ein ge- Ideen“ herunterredet, schimmert immer seine erste Firma, baute daraus eine waltiges Defizit. Schalke hat Werbe- wieder durch, daß Frentzen mit den küh- Unternehmensgruppe, die auch maro- rechte von 20 Millionen Mark an die len Strategen der Branche nicht viel ge- de Fleischfabriken in St. Petersburg Marketing abgegeben, aber es sind mein hat. Er ist, aller neuen Reife zum und der Ex-DDR übernahm. Dort erwarb nicht genügend Gelder zurückgeflos- Trotz, noch kein Profi. Er ist Fan geblie- sich der gelernte Metzger aus Rheda sen. Das hat uns ein Minuskapital von ben, was am deutlichsten wird, wenn er einen Ruf als erfolgreicher Sanierer. 8,6 Millionen Mark eingebracht – und vom Ferrari-Piloten Jean Alesi Seit sechs Wochen ist er Präsident des das müssen wir dem Verband erklären. schwärmt. Dessen „aggressiver Fahrstil“ Bundesligaklubs Schalke 04. SPIEGEL: Heißt das, der Klub ist plei- habe ihm früher „immer eine Gänsehaut te? verschafft“. SPIEGEL: Herr Tönnies, Sie sind ange- Tönnies: Nein, die Liquidität ist in Wie jetzt der Deutsche kam auch Alesi treten, den FC Schalke 04 zu sanieren. Ordnung. Es ist ein bilanztechnisches vor fünf Jahren mit dem Ruf des super- Kaum im Amt, drohen dem Klub nun Problem. Wir haben noch eine Forde- schnellen Talents in die Formel 1. Bis heute hat der Franzose nicht ein Rennen gewonnen. Alesi, lästern die Kollegen, fahre zwar spektakulär, „aber dumm“. Daß inzwischen sogar sein Held Alesi begonnen habe, „sauber und auf Ankom- men zu fahren“, bekümmert den roman- tisierenden Formel-1-Einsteiger. Die lo- gische Konsequenz, „so steril und com- putergesteuert wie Lauda oder Prost zu fahren“, widerstrebt Frentzen. Rennwagen sind für ihn Genußartikel, „Spaß gehört zum Leben und zum Wohl- fühlen“. Im Zwang, auf der Piste nichts riskieren zu dürfen, sieht er die Gefahr, „sich zurückzuentwickeln“. Und noch etwas könnte ihn zu Vollgas- fahrten treiben: der Vergleich zwischen ihmund Schumacher. Weil Frentzens Ex- Freundin Corinna vor zwei Jahren zu Schumacher überlief, findet der inner- deutsche Wettkampf auch auf dem Me- dien-Boulevard statt. Wie ernst der deutsche Konkurrent das Fernduell nimmt, zeigte sich noch vor dem Saisonstart in Brasilien. Unmittel- bar nach Tests seines Herausforderers er- kundigte sich Schumacher bei Dritten: Schalker Präsident Tönnies: „Die Kohle ist weg“ „Wat macht der Hein?“ Manager Ortwin Podlech, der in sei- der Lizenzentzug durch den Deutschen rung von über 4,1 Millionen Mark ge- nem Klienten „den jungen Gerhard Ber- Fußball-Bund und der Zwangsabstieg in gen die Marketing GmbH und damit ger“ wiedererkennt, hat Frentzen von die Regionalliga. gegen deren alleinigen Gesellschafter, „gewagten Fights auf der Piste“ dringend Tönnies: Ich war entsetzt darüber, daß Günter Eichberg. Solange die Marke- abgeraten: „Fahre für dich und das Team das in die Öffentlichkeit getragen wur- ting und Eichberg keinen Konkurs an- und für sonst niemanden.“ Auch Team- de. Es gibt beim DFB kein Urteil und gemeldet haben, planen wir diese For- chef Sauber sieht in ähnlichen Ratschlä- noch nicht einmal eine Meinungsbil- derung ein. Dazu sind noch Einnah- gen seine „pädagogische Aufgabe“. dung. Aber ich bin sicher, daß wir nicht men aus Spielertransfers zu buchen – Der Novize hat sich denn auch brav bestraft werden, weil wir dem DFB un- ich erwarte am Ende sogar ein Plus. entschlossen, „den Kompromiß zwischen sere Lage erläutern können. SPIEGEL: Es gab die Bedingung des Spektakel und Ankommen zu suchen“. SPIEGEL: Sie sind von der Vergangen- DFB, die Marketing GmbH ohne Stei- Doch nicht erst seit dem Crash der vor- heit, der Ära Ihres Vorgängers Günter gerung der Schalker Vereinsschulden letzten Woche hat Sauber Angst vor die- Eichberg, eingeholt worden? aufzulösen. ser Suche: „Heinz-Harald wird uns Tönnies: Unsere derzeitige Lage hat mit Tönnies: Das ging nicht, denn Eich- Schrott bescheren.“ Y der von Eichberg gegründeten Marke- berg hat seine Versprechen nicht ein-

198 DER SPIEGEL 12/1994 gehalten. Angeblich hat er wird sicher noch dauern. Aber das Erbe Millionen in den Verein ge- war so schon schlimm genug. Jede Bank steckt, aber ich habe in unse- wollte doch am liebsten nach Hause, al- ren Büchern noch nichts ge- les in Sicherheit bringen. funden. SPIEGEL: Was würde denn ein Lizenz- SPIEGEL: Was hat der unab- entzug für Schalke bedeuten? hängige Wirtschaftsprüfer fest- Tönnies: Darüber nachzudenken habe gestellt, der in Ihrem Auftrag ich mir verboten. Zweite Liga oder gar die Ära Eichberg aufarbeiten Amateurliga, das wäre eine Katastrophe sollte? für Schalke. Tönnies: Nachdem er allein SPIEGEL: Und wie lange brauchen Sie, fünf Stunden damit zugebracht falls Sie die Lizenz erhalten, um die hat, einen einzigen Transfer in Schulden der Vergangenheit abzuarbei- all seinen Verästelungen nach- ten? zuvollziehen, wurden die Gut- Tönnies: Einerseits drücken uns die Zin- achterkosten von 30 000 auf sen, andererseits müssen wir in unsere 200 000 Mark hochgesetzt. Mannschaft investieren, um in der Bun- Das war mir viel zu teuer für desliga mitzuspielen. Wir können gar die Erkenntnis, daß Eichberg nicht riskieren, das Geld komplett zur das Geld rausgeworfen hat. Schuldentilgung einzusetzen. Deshalb SPIEGEL: Haben Sie deshalb haben wir dem DFB ein robustes Fi- Ihren Vorgänger bei Heim- nanzkonzept vorgelegt, in dem die Til- spielen auf die letzte Reihe der gung auf mehrere Jahre verteilt ist. Tribüne verbannt? SPIEGEL: Wie wollen Sie denn dem Ver- Tönnies: Der Herr Eichberg ein unternehmerisches Denken einbleu- hat erst gejammert, weil er sich en? eine Karte kaufen mußte, und Tönnies: Ich denke mittelfristig an eine dann hat er bitterlich geweint, Gewinnbeteiligung von zehn Prozent für weil sein Platz zu weit oben die vier wichtigsten Angestellten, vom war, ein bißchen weit weg von Finanzjongleur Eichberg Trainer bis zum Geschäftsführer. Bei der Ehre. Ich habe nichts da- „Reich sein wie im schlechten Film“ fünf Millionen Mark Gewinn, die wir gegen, ihn etwas weiter nach pro Jahr machen müßten, wäre eine hal- vorne zu setzen, wenn er mit seinen Ein- ist: Anders als in einem Unternehmen be Million für sie im Topf. trittsgeldern die Schulden von Schalke tut es niemandem weh, wenn Geld sinn- SPIEGEL: Die würde dann der Schalker bezahlt. los ausgegeben wird. Zudem ist man auf Kasse fehlen. SPIEGEL: Haben Sie ihm das persönlich Gedeih und Verderb darauf angewie- Tönnies: Diese Ausschüttung ist ein gesagt? sen, daß die Leute anständig sind. wichtiger Teil ihres Gehalts. Wenn sie Tönnies: Ich habe dem guten Tag ge- SPIEGEL: Und das waren sie nicht? dann eine Mark durchs Fenster werfen, sagt, guten Tag, Herr Eichberg. Guten Tönnies: Leute wie Udo Lattek, Aleks- ist immer ein Groschen von ihnen dabei. Tag, Bernd, sagte er. Ich sagte: Guten andar Ristic oder Günter Netzer haben SPIEGEL: Die Schalker Fans hoffen viel- Tag, Herr Eichberg, ich muß Sie jetzt schon ausgenutzt, daß in diesem Verein mehr, daß jetzt der Unternehmer Tön- wieder siezen, denn was Sie hier ange- der Erfolg mit der Brechstange gesucht nies eigenes Geld in den Verein steckt. richtet haben, gefällt mir überhaupt wurde. Das ganze Desaster gründet sich Tönnies: Wir haben Unternehmen auf- nicht. auf Schalkes katastrophale Transferbi- gebaut, die wie Familienbetriebe struk- SPIEGEL: Wieviel Eintritt müßte Eich- lanz. Wenn ich die Liste der früheren turiert sind; manche Arbeiter sind schon berg zahlen? Berater auf Schalke sehe, weiß ich, war- seit 24 Jahren dabei. Diese Leute wür- Tönnies: Er müßte zu allen Heimspielen den es nicht verstehen, wenn ich das einer Serie kommen und jedesmal eine Geld, das mit unserer Arbeit verdient Million Mark mitbringen – das wäre toll. „Jede Bank wollte wird, für Fußball ausgebe. Die wissen, SPIEGEL: Aber selbst das würde nicht doch alles in wie charakterfest ich bin. Ich bringe den Vorwurf entkräften, daß Schalke in aber auf Schalke meine wirtschaftliche den letzten beiden Saisons mit dem Sicherheit bringen“ Erfahrung mit und rechne dafür noch Schuldenzuwachs gegen die DFB-Aufla- nicht einmal Spesen ab. gen verstoßen hat. um Duisburgs Trainer Ewald Lienen SPIEGEL: Sie wollen der erste wirkliche Tönnies: Das Kernproblem ist einfach: sich von niemandem beraten läßt – der Diener unterm Schalke-Schal werden? Wir müssen dem DFB deutlich machen, ist jedenfalls ganz oben mit seinem Tönnies: Wer pausenlos Kartoffeln und daß Eichbergs Marketing GmbH eine MSV. Sauerkraut essen und die Pullover der vereinsfremde Gesellschaft war, die von SPIEGEL: Ihr Manager meldete in den älteren Schwestern auftragen mußte, niemandem kontrolliert wurde und alle vergangenen Wochen Millionengewin- weil zu Hause nie Kohle da war, ist nun Gremien hinters Licht geführt hat. Eich- ne. Da müßte sich die Liquidität doch einmal von solchen Erfahrungen ge- berg ist für mich ein Scharlatan – und für schlagartig verbessert haben. prägt. Ich empfinde eine tiefe Verach- dessen jahrelange Mißwirtschaft kann Tönnies: Ja, die Liquidität hat sich ver- tung für alle Eichbergs dieser Welt. man den Verein doch nicht verantwort- bessert, aber das Geld ist schon im vor- SPIEGEL: Sie halten sich für immun ge- lich machen. hinein verpfändet. Die Kohle ist weg, gen große Auftritte, die solch ein Präsi- SPIEGEL: Aber Eichberg war immerhin die jonglieren hier ja schon etwas län- dentenamt mit sich bringt? gleichzeitig Vereinspräsident. ger. Tönnies: Herr Eichberg hatte Vorstel- Tönnies: Eichberg hat sich anfangs mit SPIEGEL: Wissen Sie inzwischen genau, lungen vom Reichsein, wie man sie aus seinem Geld die Autorität erkauft. Das welches Erbe Sie angetreten haben? schlechten Filmen kennt. Das ist einem Problem eines Vereins wie Schalke, der Tönnies: Wir werden jetzt wohl alle westfälischen Bauernsohn wie mir sehr eigentlich über genügend Geld verfügt, Vorgänge genau aufdröseln müssen, das suspekt. Y

DER SPIEGEL 12/1994 199 KULTUR SZENE

tigte, überreichte Hilmar Hoffmann, Präsident des Goethe-Instituts, dem „Ho- locaust Memorial Museum“ in Washington deutsches Schaffen zum Thema: rund 50 Videokassetten von Film- und TV-Produktionen (Ost wie West) über den Holo- caust und die Folgen. Auf Hoffmanns Liste beispiels- weise: Staudtes „Die Mörder sind unter uns“ (Defa 1946), Meier, Meier-Platte Artur Brauners „Morituri“ (1947), Frank Beyers „Jakob Füßen trägt nämlich die Inschrift: „Am 23. der Lügner“ (Defa 1974) Maerz 1994 von 15.00 bis 16.00 Uhr wird und Eberhard Fechners Dieter Meier auf dieser Platte stehen Kas- Majdanek-Prozeß-Vierteiler sel, 27. Juni 1972“. Das in den Boden ein- (NDR-TV 1981). Hoffmann, Kunst betonierte Eisen war und ist Meiers offi- vom Museumsdirektor Jesha- zieller Beitrag zur Documenta V. Ein biß- jahu Weinberg als „my dear chen mulmig sei ihm bisweilen schon gewe- friend Hilmar“ vorgestellt, Urlaub vom Totsein sen, erzählt der Künstler, es hätte ja „ir- wollte mit dieser „demon- Wer am Mittwoch dieser Woche am frühen gendeine höhere Macht auch entscheiden strativen Geste“ zeigen, daß Nachmittag auf dem Kasseler Bahnhofs- können: so nicht, Junge“. Außerdem habe auch das „Verursacherland“ vorplatz eine lebende Statue entdeckt, sich in den 22 Jahren der Countdown den Holocaust filmisch auf- kann sein Kleingeld steckenlassen. Es wird enorm beschleunigt. Wie im Leben. Von gearbeitet hat – wenn auch sich bei dem vermutlich vornehm gekleide- solcher Relativität der Zeit läßt Meier sich nicht so zwingend wie Spiel- ten Herren nicht um einen darbenden allerdings nicht anfechten. Der einzelne berg. Kleinkünstler handeln, sondern um den Mensch sei doch bloß ein paar lächerliche Schweizer Filmemacher, Sänger, Perfor- tausend Tage auf diesem Planeten. Das Le- Wissenschaft mance-Künstler und Millionär Dieter Mei- ben sei nur „Urlaub vom Totsein“. Da ge- er, der damit ein Versprechen getreulich be es vor allem die Pflicht, sich und andere Sprung einlöst. Die gußeiserne Platte unter seinen gut zu unterhalten. ins Spirituelle Was wir schon immer ahn- Film spieler Colm Feore als Kulturpolitik ten, aber nie zu sagen wag- Gould-Interpret, Interviews ten: wir sind unsterblich. Der Einsiedler mit Freunden und Verwand- Hoffmanns Diese Frohbotschaft ver- ten des Pianisten suggerieren treibt, heureka, ein Professor als Spekulant dagegen Authentizität. Zu Liste der Physik, Frank J. Tipler Ein Lebenslauf wie aus ei- all dem tönen die Highlights Die deutschen Kinomacher, aus New Orleans. In seinem nem Handbuch für tragische aus Goulds Plattenreper- so geht die Rede, haben vor Buch „Die Physik der Un- Genies: mit 12 als Wunder- toire. Erstaunliche Erkennt- Hitlers Massaker gekniffen, sterblichkeit“ (Piper Verlag; kind am Klavier gefeiert, da- nis der erfrischend unhe- den Holocaust ausgeblendet. 49,80 Mark) durchstreift Tip- nach die Weltkarriere und, roischen Heldenverehrung: Falsch. Während Steven ler, mathematisch stets auf dem Höhepunkt des Er- der Pianist war ein manischer Spielbergs US-Film „Schind- schußbereit, ehemals religiö- folgs, mit 31 Jahren, der Telefonierer und begabter lers Liste“ die ersten deut- se Gefilde (Untertitel: „Gott Rückzug aus dem Konzertbe- Börsenspekulant. schen Kinogänger überwäl- und die Auferstehung der trieb. Schließlich 1982 der Toten“) und kommt mit frühe, einsame Tod mit 50 der Wunderwaffe „Moderne Jahren – und, folgerichtig, Kosmologie“ auch zum All- sofortige Verklärung zur Le- mächtigen. Einsamer Spin- gende. Doch Glenn Gould, ner? Keineswegs. Tipler der radikalste aller Pianisten, steht in einer Phalanx von war nicht nur der exzentri- Gelehrten, die sich aus tota- sche Einsiedler, sondern bis- ler Wissenschaftsgläubigkeit weilen auch ein anhänglicher tief ins Spirituelle stürzen. Menschenfreund. Dieses Als ihr Pate gilt der englische Bild entwirft der kanadische Kosmologe Stephen Haw- Regisseur Franc¸ois Girard in king, der als Ziel aller Physik der Hommage auf seinen die „Gedanken Gottes“ anvi- Landsmann: „32 Variationen siert. Leider wird das alles über Glenn Gould“. Der nicht hienieden stattfinden, Film, der jetzt in deutsche denn, so Tipler, „die Erde ist Kinos kommt, vermischt zum Untergang verdammt“, Spiel- und Dokumentarele- der Mensch muß sie verlas- mente. In nachgestellten Sze- sen und „den Raum koloni- nen versucht sich der Schau- Szenenfoto mit Colm Feore als Glenn Gould sieren“. Mal sehen.

200 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite KULTUR

Zeitgeschichte IM RAUSCH DER GEWALT Der Erfolg des chinesischen Films „Lebewohl meine Konkubine“ von Chen Kaige hat eine verdrängte Epoche grell ins Bewußtsein gerückt: die „Kulturrevolution“ (1966 bis 1976). Drei neue Erinnerungsbücher von Beteilig- ten beschwören die Terrorherrschaft der „Roten Garden“; eines davon stammt von dem Filmemacher Chen Kaige.

er Menschenfresser ist für Kinder überall auf der Welt eine Alp- Dtraumfigur, die in Märchen droht. Doch für kleine Chinesen, die in den ersten Jahren der Volksrepublik gebo- ren wurden, etwa im „Jahr des Dra- chen“ 1952, bekam die Angstgestalt realeren Umriß: durch eine Hungerka- tastrophe. Chen Kaige erinnert sich, wie er als etwa Achtjähriger in Peking um Marktstände herumstrich, um vielleicht einen genießbaren Kohlstrunk zu er- gattern, und er erinnert sich an Erzäh- lungen, daß man in Dörfern, wo nie- mand den Hunger überlebt hatte, in Kochtöpfen oft Babyknochen fand. Jung Chang, die wie Chen im „Jahr des Drachen“ geboren wurde, mußte nicht hungern, obwohl in ihrer Hei- matprovinz Sichuan fast zehn Prozent der Bevölkerung starben, denn ihre El- tern gehörten zur Parteiprominenz. Doch auch Jung Chang wußte, daß kleine Kinder manchmal spurlos ver- schwanden und daß es auf dem Schwarzmarkt „luftgetrocknetes Kanin- chenfleisch“ gab, nach dessen genauer Herkunft die Käufer nicht fragten. Die Parole hieß „Der Große Sprung nach vorn“ und sollte den Agrarstaat China aus dem Stand in eine Industrie- nation verwandeln: Während die Bau- ern Wälder in primitiven Hochöfen verfeuerten, faulte auf den Feldern die Ernte. Im Zuge dieses Programms, das sich als unerfüllbar erwies, sind zwi- schen 1960 und 1962 etwa 30 Millionen Menschen verhungert. Ein paar Jahre später wurden die „Kinder des Drachen“ Subjekt und Objekt eines neuen und noch gewaltsa- meren gesellschaftlichen Umwälzungs- experiments, der „Großen Proletari- schen Kulturrevolution“. Ihre erste, sichtbarste Wirkung bestand darin, daß Dreharbeiten zu „Rote Azalee“ mit Anchee Min: Madame Maos Apotheose Tempel, Museen, Bibliotheken verwü- stet wurden und daß Schüler wie Chen betrieb die Partei mit einem beispiello- gerlichkeit aufzuräumen, paßte ihnen oder Chang ihre Lehrer als Verräter sen Personenkult seine Vergöttlichung, nicht in den Kram. Jung Changs Vater beschimpften, verprügelten, folterten andererseits suchten die Pragmatiker zum Beispiel, der in Sichuan das Sagen und manchmal auch totschlugen. des Apparats den starrsinnigen Visio- hatte und mit dem aus Sichuan stam- Es war Maos letzter Machtkampf när aufs Altenteil zu drängen. Sein Ap- menden Deng Xiaoping Verbindung mit seinen Gefährten. Denn einerseits pell, nun endlich mit aller Bildungsbür- hielt, wollte die von Mao geforderte

202 DER SPIEGEL 12/1994 Kulturrevolution, wenn es denn sein „Mein Vater hat mir vergeben, aber triert, wo sich die Mao-Ehefrau Tschi- mußte, als „rein akademische Debatte“ ich selbst kann mir nicht vergeben.“ Im- ang Tsching mit allem frustrierten Ehr- betreiben. mer wieder kommt Chen Kaige auf diese geiz als „Große Bannerträgerin“ her- Doch es kam anders, weil der Füh- bittere „Schlüsselerfahrung meines Le- vortun durfte: Sie war die Anregerin rerkult ins Ekstatische wuchs. „Manche bens“ zurück, zuletzt in einem Dialog jener heroischen Propaganda-Opern, sprangen von Häusern herunter, um ih- (für den Londoner Observer) mit der Au- die allein auf der Bühne, im Radio re Treue zu Mao zu bekunden“ (An- torin Jung Chang, die seit 1978 in Eng- und im Film noch erlaubt waren. chee Min). Ein konspirativer Klub von land lebt und ihre kulturrevolutionäre Ju- Zur Unterdrückungsmoral der Kul- halbwüchsigen Mao-Verehrern, der gend in dem Buch „Wilde Schwäne“** turrevolution, die Tschiang Tsching, Ende Mai 1966 an einer Pekinger Elite- beschrieben hat. genannt Madame Mao, besonders rigi- Mittelschule entstand und sich „Rote Natürlich war sie als Nomenklatura- de vertrat, gehörte die Sexualfeindlich- Garde“ nannte, verstand das Kulturre- Kind bei den Roten Garden dabei, wenn keit. Anchee Min erzählt in ihrem volutionsprogramm als Aufforderung auch, nach Meinung der Rädelsführer, zu Buch „Rote Azalee“, das jetzt auf zum Lehrersturz und machte Ernst. In- weich beim Lehrer-Mißhandeln, und sie deutsch erscheint***, wie man in ihrer nerhalb weniger Wochen entwickelte nahm gern die Strapazen einer tagelan- LPG einmal nachts auf dem Feld ein sich diese spontane Jugendrevolte zu Liebespaar erwischte: Der junge Mann einer Massenbewegung von explosiver wurde nach kurzer Verhandlung er- Eigendynamik, die Mao selbst mitriß. Der Straßenterror schossen, das Mädchen verlor durch Der 14jährige Chen Kaige war ju- brachte Mao zurück an Gehirnwäsche den Verstand, beging belnd dabei, als sich Mao, Ende Juli, in Selbstmord und erhielt postum den der Großen Halle des Volkes von Tau- die Macht Ehrentitel „Verdiente Genossin“. senden wie ein Gott bejubeln ließ, in- Anchee Min, die seit 1984 in den dem er nur stumm erschien und wieder gen Pilgerreise nach Peking auf sich, USA lebt, ist ein paar Jahre jünger als entschwand. Drei Wochen später legte um unter Hunderttausenden auf dem die „Kinder des Drachen“. Ihre El- er sich selbst die Armbinde der Roten Platz des Himmlischen Friedens aus tern, beide Lehrer in Schanghai, ka- Garden an und trat an die Spitze der der Ferne Mao anzubeten. men mit Umschulung auf Fabrikarbeit fanatisierten Millionen, deren Straßen- Doch in der zweiten Phase der Kul- glimpflich durch die Jahre. Die Toch- terror ihm, gegen die Parteiprofis, die turrevolution richtete Mao die Zerstö- ter stieg schon als Kind bei den „Klei- Macht zurückgewann. rungslust der jugendlichen Bilderstür- nen Roten Garden“ zur Führerin auf, Chen Kaige, Sohn des Filmregisseurs mer gegen den Parteiapparat selbst, weil sie Maos „Rotes Büchlein“ aus- Chen Huaikai, ist später selbst als Fil- und nun kamen Jung Changs Eltern wendig konnte, und durfte als 13jähri- memacher zu Ruhm gekommen, aber vors Tribunal. Die Foltern, die ihnen ge vor 2000 Zuschauern ihre Lieblings- auch mit dem Regime und der Zensur absurde Geständnisse entlocken soll- lehrerin als amerikanische Spionin de- in solche Schwierigkeiten geraten, daß ten, waren unter poetischen Namen nunzieren. er für drei Jahre in die USA übersie- wie „Singender Brunnen“, „Land- Mit 17 Jahren wurde auch Anchee delte. 1989 hat er seine Erinnerungen schaftsmalerei“ oder „Tigerbank“ ge- Min aufs Land geschickt, in eine jener an die Kulturrevolution in einem skep- läufig. Während Vater und Mutter Riesen-LPGs am Ostchinesischen tisch-empfindsamen Buch festgehalten, Chang, invalide geprügelt, Jahre in Meer, wo sich – angeblich aus Idealis- das erst in Japan veröffentlicht wurde, Haft und Lager durchlitten, diente die mus, tatsächlich unter Straflagerbedin- dann in Taiwan, aber nicht in der Tochter dem Staat nun zwangsweise gungen – etwa 200 000 Jugendliche ab- Volksrepublik China. Nun erscheint, unter Bergbauern am Fuß des Himala- quälten, um „ödes, versalzenes Land“ angeregt und auch betreut durch das ja. in Reisfelder zu verwandeln. Richard-Wilhelm-Übersetzungszentrum Die Abkommandierung der Stadtju- Was sie ernteten, reichte nicht ein- der Universität Bochum, eine deutsche gend zur Landarbeit in ferne arme mal, um sie selbst zu ernähren, „über- Ausgabe unter dem Titel „Kinder des Provinzen – als dritte Drachen“*. Phase der Kulturrevo- Chens jüngster und bisher erfolg- lution ein großer reichster Film „Lebewohl meine Kon- Sprung rückwärts –half kubine“ schildert wie kein chinesischer nach dem bürger- Film zuvor die Kulturrevolution und kriegsähnlichen Chaos stellt sie als Inferno von Demütigung einer gewissen Wieder- und Verrat dar. Das Buch legt offen, herstellung der öffent- wie sehr das Filmthema Chens eigene lichen Ordnung: die Biographie geprägt hat: Als der junge verwilderten Unruhe- Mao-Schwärmer entdecken mußte, daß stifter waren weg. er bei den Roten Garden nicht mitma- Chen Kaige kam in chen durfte, weil sein Vater einst im den südlichsten Zipfel Krieg gegen Japan auf seiten der Na- des Landes, zum Berg- tionalchinesen gekämpft hatte und des- volk der Dai an der halb nun am Pranger stand – da erlag Grenze zu Burma. auch der Sohn dem Gewaltrausch und Dort hat er im Lauf von beschimpfte öffentlich den Vater als zwei Jahren, elend und Verräter. hungrig, beim Abhol- Autorin Jung Chang, Regisseur Chen Kaige zen der Regenwälder Kinder des Drachen * Chen Kaige: „Kinder des Drachen“. Verlag Gu- seinen Glauben an Mao stav Kiepenheuer, Leipzig; 168 Seiten; 34,80 für immer eingebüßt. Dann tauchte er, all Hinrichtungen“ hoben die Erträge Mark. vier Jahre lang, in der Armee unter, wo kaum, doch Anchee Mins Geschick ** Jung Chang: „Wilde Schwäne“. Droemer Knaur man immerhin nicht verhungerte. nahm eine überraschende Wendung: Verlag, München; 640 Seiten; 16 Mark. *** Anchee Min: „Rote Azalee“. Verlag Kiepen- Das Revolutionäre wurde inzwischen Nach vielen Ausscheidungsrunden in ei- heuer & Witsch, Köln; 352 Seiten; 39,80 Mark. wieder auf die eigentliche Kultur konzen- ner landesweiten Konkurrenz wurde sie

DER SPIEGEL 12/1994 203 KULTUR

1976 auserkoren, als neues proletari- dafür büßen, daß Madame Mao aus ihr Geister nicht zu fürchten braucht. Es sches Idol in dem Film „Rote Azalee“ ein Idol hatte machen wollen. waren natürlich alles Engel, die nun an die Hauptrolle zu spielen, eine glori- Die „Kinder des Drachen“, sagt Chen die Türen klopften: Im mitternächtli- fizierte Version von Madame Maos Kaige, seien „eine in der chinesischen chen Peking hörte man überall die Ge- Jugend, also die Revolutionsgöttin Geschichte beispiellos verbissene, de- räusche von zerberstenden Türen und schlechthin. struktive und am Leben verzweifelnde die Schreie von fliehenden, um Hilfe ru- Anchee Mins schwärmerisches Buch Generation“, aber man könne von der fenden, gequälten Menschen. Gegen verliert sich ein wenig in den Intrigen Kulturrevolution nicht lassen, weil sie dieses Feuer war die tatenlos zuschauen- und Ekstasen dieser Kultfilmprodukti- „in Wirklichkeit noch immer nicht vor- de Feuerwehr machtlos. on, doch der Schluß kommt mit Schrek- über“ sei. Anchee Min kommt von der Als mein Vater eines Abends zusam- ken: Am Tag, als Mao starb, dem 9. „Roten Azalee“ nicht los, Jung Chang men mit einigen anderen Männern in September 1976, brach man die Drehar- arbeitet seit zwei Jahren an einer Bio- unseren Wohnhof gestoßen wurde, beiten ab, und mit Jian Ching stürzte graphie von Mao Tse-tung, und Chen stand ich in der Zuschauermenge. Alle auch ihre 19jährige Darstellerin in tief- Kaige hat letzte Woche publik gemacht, wußten, was die Rotgardisten mit ihnen ste Ungnade. Jahrelang mußte sie als wie sein nächster Film heißen soll: anstellen würden. Ich weiß nicht, ob die Putzfrau in den Schanghaier Filmstudios „Madame Mao“. Blässe auf den Gesichtern der Malträ- tierten vom Mondlicht herrührte oder ob sie schon ein Ausdruck der Furcht vor dem war, was ihnen bevorstand. Va- ter war nur noch ein Schatten seiner „Wie konnte ich?“ selbst, als er in den Hof stolperte. Im Westflügel des Wohnhofs lebten Regisseur Chen Kaige über seinen Vater-Verrat in der Kulturrevolution zumeist bekannte Künstlerfamilien. Wie auch die anderen Kinder hatte ich be- ls die Roten Garden auf die Stra- Straßenschilder wie das vor der sowje- reits am Nachmittag vor der Kritiksit- ßen gingen, gab Maos Stellvertre- tischen Botschaft tauschten sie aus. Aus zung als Willkommensgruß für das von Ater Lin Biao die Parole aus: „Mit der Yangwei-Straße der Selbstaufwer- der Arbeit heimkehrende Familienober- eurer Begeisterung müßt ihr Himmel tung wurde die „Straße gegen den Revi- haupt selbstverfaßte Spruchbänder mit und Erde umstürzen und einen Orkan sionismus“. Schaufensterscheiben und Schmähungen über unserer Wohnungs- entfesseln! Ihr müßt den Kapitalisten ih- Neonreklamen in Geschäften gingen zu tür angebracht. re dekadente Ruhe nehmen und die Bruch, und schließlich stellten sich die Abgehalten wurde die Sitzung im Hof Proletarier zum Kampf aufwiegeln!“ Jugendlichen gruppenweise an Straßen- hinter dem von uns bewohnten Flügel. So verging der August 1966 damit, kreuzungen auf und warteten auf Pas- Während Vater und die anderen mit daß die Jugendlichen in Gotteshäuser santen, um ihnen die Köpfe zu scheren vorgebeugtem Oberkörper im schwa- eindrangen, verheerende Verwüstungen oder ihre bourgeois-engen Hosenbeine chen Lichtschein, der aus einem Fenster anrichteten und die ausländischen Non- aufzuschlitzen. Sie rissen den Frauen die drang, standen, begannen ihre Kolle- nen verprügelten und vertrieben. Dann Absätze mit Zangen von den Schuhen gen, mit denen sie noch kurz zuvor ein- kamen die Antiquariate an die Reihe, in und brüllten die Weinenden mit Mega- trächtig zusammengearbeitet hatten, denen sie alte Bücher, Kalligraphien phonen an: „Nieder mit der Macht der mit ihrer Kritik. Sie stellten Fragen, die und wissenschaftliche Instrumente zer- Kapitalisten!“ von der Politik bis hin zur bevorzugten störten. In den Restaurants machten sie Jede dieser Aktionen zog auch beifall- Zigarettenmarke reichten. ein Ende mit der Speisenvielfalt und er- klatschende Gaffer an, wodurch die Als Vater an der Reihe war, senkte er fanden ein „Menü nach dem Geschmack Rotgardisten sich weiter anstacheln lie- den Kopf noch tiefer und ließ sich als der Massen“. Unzählige Bücher von un- ßen. Ein chinesisches Sprichwort be- „Konterrevolutionär und Rechter“ be- schätzbarem Wert wurden in den Biblio- sagt, daß derjenige, der ein reines Ge- schimpfen. Die Zuschauer geiferten: theken ein Raub der Flammen. wissen hat, den nächtlichen Besuch der „Nieder mit ihm!“, und auch ich stimm-

Kulturrevolutionäre Umbenennung eines Kaufhauses in Schanghai: „Nieder mit der Macht der Kapitalisten!“

204 DER SPIEGEL 12/1994 te in ihre Rufe ein, ohne mir klarzuma- demütigen, ihnen jede Würde genom- ster Ball gespielt und stundenlang das zu chen, was ich damit tat. Schließlich rie- men hätten. Als er dies sagte, lachte ich ihren Füßen wachsende fleckige Moos fen die Rotgardisten meinen Namen bitter auf. Auch ich hatte an solchen betrachtet. auf, und ich trat in die Mitte. Was ich Massenaktionen teilgenommen und da- Auf dem Boden sah man überall die genau sagte, weiß ich nicht mehr, doch bei meinen Vater verloren. Doch konn- im Sonnenlicht glänzenden Schleimspu- Vaters Blick, als ich ihn wegschubste, ten diese Massen ihn mir tatsächlich er- ren der Schnecken, die sich von der sehe ich noch überdeutlich. Ich stieß ihn setzen? Mauer bis unter das Hausdach zogen, zwar nicht mit aller Kraft, aber ich stieß Eines Morgens, etwa gegen neun Uhr wo die Tierchen ihr Quartier hatten. Oft ihn, und er zuckte zusammen, ohne mir früh, drang mein Klassenkamerad war ich an der Mauer hochgeklettert, wirklich auszuweichen, und senkte nur Zhang Xiaoxiang mit seinen Kumpanen um nachzuschauen, ob sie wohl zu Hau- den Kopf noch tiefer. in unser Haus ein. Wenn er früher zu se seien, und es versetzte mir jedesmal Meine Empfindungen, während mir uns kam, war ich meist von ihm heraus- einen Stich, wenn ich vergebens nach ei- die Augen der Menge unentrinnbar auf gerufen worden, um mit ihm, über Gott ner Schnecke spähte. Dann verharrte der Haut brannten, werde ich nie ver- und die Welt schwatzend, gemächlich ich manchmal so lange reglos an der gessen. Ich brüllte ir- Mauer, bis mich je- gend etwas. Plötzlich mand ins Haus rief, wo war eine starke Liebe ich meinen Kummer zu meinem Vater in schnell wieder vergaß. mir hochgestiegen, die- Nun stand meine Mut- sem Fremden, der nie ter vor dieser Mauer. der mächtige Mann ge- Einer der Eindring- wesen war, für den ich linge lächelte vertrau- ihn immer gehalten enerweckend. Doch hatte, sondern ein ge- wenn er laut auflachte, brechlicher Mensch. kam seine ganze Bos- In diesem Augen- heit zum Vorschein. blick wurde er für mich Wir waren nie dicke erst zu einem richtigen Freunde, als wir noch Vater. Wenn ich schon in dieselbe Klasse gin- älter oder dieses Ereig- gen, denn immer hatte nis nur ein Schauspiel eine gewisse unausge- gewesen wäre, hätte sprochene Animosität ich das alles sicher bes- zwischen uns ge- ser ertragen; doch ich herrscht, die bei Jun- war erst 14 Jahre alt. gen häufig vorkommt Aber wie konnte es und an sich belanglos geschehen, daß ich mit ist. Deshalb war mir 14 Jahren meinen Va- Kulturrevolutionär in China 1966: „Geschmack der Massen“ sofort klar, warum er ter verriet? Ich wollte meine Mutter vor der meine Tränen unterdrücken, sie ran- durch die Straßen Pekings zu radeln. Mauer stehen ließ. Während der Haus- nen mir in die Kehle, ganz salzig: Wo- Oft hatte er mir neue Lektüre mitge- durchsuchung kam er mit seinem Lä- her kommt das bloß alles? Was be- bracht. cheln immer wieder zu mir, um sich weist das alles? Ist es denn nicht per- Was diesen Besuch von früheren un- nach dem Aufbewahrungsort bestimm- vers, daß Menschenmassen johlend terschied, war zunächst, daß er sein ter Lieblingsgegenstände zu erkundi- und anfeuernd dabeistehen, wenn ein Fahrrad an jenem Tag an der gegen- gen, die er dann genüßlich vor meinen Kind sich selbst und seinen eigenen überliegenden Hofseite abstellte. Die Augen zerstörte. Vater Stück für Stück vernichtet? Was Sonne schien freundlich durch die Fen- Die Rotgardisten rissen den Kleider- ist das nur für ein Volk, bei dem so et- ster, doch es war nach einem nächtli- schrank auf und zerrten alle Kleidungs- was möglich ist? chen Gewitter noch angenehm frisch. stücke auf den Boden. Es roch nach An jenem Abend lag Mutter in ih- Die Zimmer lagen noch im Dämmer- den überall herumkullernden und zer- rem dunklen Zimmer im Bett, die Lip- licht, und wir erkannten die Gesichter tretenen Mottenkugeln. Alles, was aus pen krampfhaft aufeinandergepreßt, der Eindringlinge nicht sofort. Es moch- Seide oder anderen wertvollen Mate- als hielte ihr jemand ein Messer an die ten sieben oder acht Jungen aus meiner rialien war, zerfetzten sie, nur die ein- Kehle. Ganz leise sagte sie: „Geh!“ Klasse sein, von denen einer zu mir sag- fachsten Baumwollstoffe überstanden Diese Nacht war die einzige, die ich te: „Chen Kaige, wir Rotgardisten sind die Aktion. Von einigen alten Leder- nach meinem Verrat an meinem Vater gekommen, um eure Wohnung zu fil- schuhen, die Mutter in den fünfziger mit ihm unter einem Dach verbrachte. zen.“ Eigentlich hätte ich ihm etwas ent- Jahren getragen hatte – jetzt trug sie Bis zum nächsten Morgen sagte er kein gegnen müssen, aber ich brachte kein wegen ihrer Herzkrankheit nur noch Wort, und wir wagten nicht, einander Wort heraus. flache Stoffschuhe –, schlugen sie die anzuschauen. Ich verstand nicht genau, Mutter lag an jenem Morgen krank im Absätze ab oder zersäbelten sie mit was Mutter im Schlafzimmer zu ihm Bett. Als wir gezwungen wurden, das Küchenmessern, bis sie ganz stumpf sagte, nachdem das Licht gelöscht war. Haus zu verlassen, mußte sie von Groß- waren. Am anderen Morgen wurde er abge- mütterchen gestützt werden. Man be- Sogar die Möbel rückten sie von den führt. fahl ihr, sich mit dem Gesicht zur Wand Wänden, die wie der Holzfußboden Viele Jahre später unterhielt ich vor die glatte Außenmauer des Wohn- mit Brechstangen auf Hohlräume abge- mich mit einem nach Taiwan ausge- hofs zu stellen, die schon seit der Qing- sucht wurden. Dabei tauchte hinter ei- wanderten Freund, der mir erzählte, Zeit stand. Diese Mauer hatte nur eine nem Schrank eine seit Jahren vermißte daß auch er viele Fälle erlebt habe, in winzige schadhafte Stelle, die einen an Sprechpuppe meiner kleinen Schwester denen die Rotgardisten, indem sie Kin- das Gesicht eines alten Menschen erin- wieder auf. Die warfen sie durch die der zwangen, ihren eigenen Vater zu nerte. Hier hatte ich mit meiner Schwe- offene Tür in den Hof, wo sie einen

DER SPIEGEL 12/1994 205 letzten klagenden Ton von sich gab, als daran dachte, wie lange eine Schnecke sie an einem Baum zerschellte. für den Weg vom Fuß der Mauer bis zu Mangels Song-Porzellan oder Rollbil- ihrem Quartier unter dem Dach brauch- dern aus der Yuan-Zeit zertrümmerten te. Meine Mutter hatte bis dahin schon sie die Gläser aus dem Küchenschrank drei Stunden reglos an der Mauer ge- und die Fensterscheiben. Einer von ih- standen. nen machte sich über Großmütterchens Während der ganzen Aktion kam es Habseligkeiten her und schleuderte ih- mir nicht ein einziges Mal in den Sinn, ren Flakon mit dem Osmanthusöl gegen diese Willkür der Rotgardisten zu durchs Fenster, nach dem dann der gan- protestieren oder wenigstens eine Dis- ze Hof duftete. Aus Schränken und kussion über Recht und Unrecht anzu- Schubladen stahlen sie Bargeld und zetteln. Ich war auch nicht wütend ge- Sparbücher und lasen feixend die Briefe nug, um mich einfach mit ihnen zu prü- meiner Eltern, bevor sie sie in Fetzen geln. Ob alles noch schlimmer gewor- rissen. Nachdem sie vergebens versucht den wäre, wenn ich es getan hätte? hatten, eine kleine Kassette aufzubre- Aber ich stand nur da, dachte nicht chen, in der die ersten Locken von mei- nach über das Geschehen und bemühte ner Schwester und mir aufbewahrt wur- mich auch nicht sonderlich, es in mei- den, schlugen sie sie wütend platt. nem Gedächtnis zu speichern. Ich starr- Zum Schluß waren dann die Bücher te nur ins Feuer, als ginge mich das alles an der Reihe. Wir hatten zum Leben im- nichts an. mer nur das Einkommen meiner Eltern Natürlich wußte ich von Leuten, die gehabt und verfügten über keinerlei Er- in ähnlicher Lage protestiert hatten, wie sparnisse. Von dem Geld, das monatlich vor kurzem ein junger Mann aus der übrigblieb, haben Mutter und Vater im- Nachbarschaft, der in Wut geraten war, als man das Haus seiner Eltern durch- suchte. Mit einem Küchenmesser ver- Sie lasen feixend suchte er sich gegen die Rotgardisten zu die Briefe meiner Eltern wehren, und sie hatten ihn mit diesem Messer dann zu Tode gequält. und zerrissen sie War es Angst vor dem Tod, die mich schweigen ließ? Ja. Aber ich fürchtete mer nur Bücher gekauft. Die meisten noch mehr, von den jugendlichen Re- waren mit Anmerkungen versehen, un- bellen nicht akzeptiert zu werden. Diese zählige Absätze rot unterstrichen. Die Furcht war stärker als die Todesangst. Seiten waren stark vergilbt und glichen Schließlich baute sich Großmütter- den Gesichtern alter Menschen. Mutter chen vor Zhang Xiaoxiang auf und sag- glaubte: Wer Bücher liebt, der liebt te: „Junge, Kaiges Mutter ist krank. auch sich selbst. Gib ihr einen Stuhl.“ Zhang stellte ihr Mit Ausnahme der Werke Mao Tse- einen Stuhl hin, doch Mutter warf nur tungs und einiger anderer revolutionä- einen kurzen Blick darauf und blieb ste- rer Klassiker trugen sie alle unsere Bü- hen. Ich habe sie nie gefragt, was ihr an cher auf einem Haufen unter dem Baum jenem Tag, als sie vor der Mauer stand, im Hof zusammen und steckten sie an. durch den Kopf ging. Mütter hegen im- Während ich wie gelähmt dabeistand mer die Hoffnung, daß aus ihren Söh- und in die Flammen starrte, kam mir der nen tapfere Männer werden. Hatte sie Gedanke, daß mein bisheriges Leben damals alle ihre Hoffnung verloren? nichts als ein Kindertraum gewesen sei, Das Feuer brannte bis weit in die der gerade mit den Büchern zu Asche Nacht hinein. Es versengte die Äste der wurde. Nun also würde das richtige Le- Hofbäume und sprengte die steinernen ben beginnen. Bodenplatten. Vom Wecker bis zum Keiner von uns gab einen Laut von Fotoapparat hatten meine Mitschüler sich, als die Bücher brannten. Es regte alles mögliche mitgehen lassen, selbst sich kein Lüftchen, und im Sonnenlicht die Tabletten meiner Mutter, angeblich, erschien das Feuer nicht einmal sehr um die Sachen „nach Abschluß der Un- hell. Im Rauch konnte ich nicht mehr tersuchung“ an das Filmstudio zurück- erkennen, daß die Rotgardisten immer zugeben. Beim Gehen verabschiedete wieder ins Haus liefen und weitere Sa- sich jeder einzelne Rotgardist mit chen herausschleppten. Die Buchseiten Handschlag von mir. Das sollte mir verglühten im Feuer wie im Frühling wohl klarmachen, daß sie mich aus den aufblühende Knospen. Klauen von Verbrechern errettet und Mutter verharrte vor der Mauer. Sie nun Anspruch auf meine Dankbarkeit trug ein Seidenkleid und ein paar Haus- hatten. schuhe mit handgesticktem Blumenmo- Am anderen Morgen begannen tiv. Mal rang sie die Hände vor der Großmütterchen und ich damit, wieder Brust wie eine Opernsängerin, mal ließ ein wenig Ordnung zu schaffen, und sie sie schwer herunterhängen. In der schleppten Eimer voll Abfall zum Au- Mittagssonne sah man die Schnecken- ßentor des Wohnhofs. Noch lange Zeit spuren auf der Mauer immer deutlicher. später flog die Asche unserer verbrann- Meine Augen wurden feucht, als ich ten Bibliothek durch die Luft. Y

206 DER SPIEGEL 12/1994 KULTUR

Kunst „Ghettos aufbrechen“ Catherine David über die Documenta 1997

David, 39, studierte Literatur, Lingui- goldenen Worten um sich werfen. Ich stik und Kunstgeschichte, organisier- bin eine Person, die ungern politisch te von 1981 bis 199O Ausstellungen taktiert, und bin also auch nicht bereit, am Pariser Centre Georges Pompidou Veränderungen um jeden Preis zu ver- und ist seitdem Kuratorin am Pariser sprechen. Ich möchte eine Documenta, Museum Jeu de Paume. Jetzt wurde die die Probleme der Zeit klar und mu- sie zur künstlerischen Chefin der Kas- tig verdeutlicht. seler Documenta 10 im Jahr 1997 SPIEGEL: Erzwingt das nicht einen berufen. Schwerpunkt mit Kunst aus dem Osten? David: Diese Frage mag in Deutschland SPIEGEL: Frau David, Sie sind die er- eine Rolle spielen, aber der Osten hat ste Frau auf dem Kasseler Posten. Ei- nicht auf mich gewartet, um zu existie- nige feiern Ihre Wahl vor allem als po- ren. litisch korrekt. Stört Sie das? SPIEGEL: Glauben Sie an eine Wieder- David: Ich habe Schwierigkeiten, zu kehr der Malerei? verstehen, daß man am Ende des 20. David: Das ist schon mal ein ganz unpas- Jahrhunderts immer noch eine Frau für sender Ausdruck. So etwas wie Wieder- kehr gibt es nicht, wohl aber Moden, auch in der Kunst. Die hängen natürlich nicht zuletzt von finanziellen Interessen ab. Das hat nichts mit der Ent- wicklung der Kunst zu tun. Ich glaube, daß im Moment das Wichtige da passiert, wo die Ghettos der traditionellen Gattungen und Materialien aufgebrochen werden. Aber letztlich zählt das Werk. SPIEGEL: Welche Werke zei- gen Sie? David: Ich werde auf keinen Fall jetzt schon Namen und Programme aus dem Hut zau- bern. Dazu ist es noch zu früh. Aber eines ist sicher: Ich wer- de nicht von allem ein bißchen zeigen. Die Documenta ist nicht dazu da, um jedermann zu gefallen. SPIEGEL: Was gefällt Ihnen? David: Für mich zählt die inne- Ausstellungsmacherin David re Konsequenz eines Kunst- „Der Osten hat nicht auf mich gewartet“ werks, seine Genauigkeit im Ausdruck. ein Phänomen hält. Diese Reaktionen SPIEGEL: Wen wollen Sie 1997 mit Ihrer erstaunen mich und gehen mir auf die Auswahl nach Kassel locken? Nerven. David: Das Kunstpublikum heute ist SPIEGEL: Was war für Sie die Docu- sehr heterogen. Für alles gibt es Spezia- menta in der Vergangenheit? listen. Also ist es wohl besser, man hat David: Eine Veranstaltung, die den Zu- gar nicht erst jemand Bestimmten im Vi- stand der Kunst in aller Welt doku- sier. Denn so richtet man sich vielleicht mentierte. Manchmal gelang das exzel- an alle . . . lent, manchmal weniger gut. Das ist SPIEGEL: . . . und bietet einen Super- wie beim Wein. Am besten schmeckte markt der Kunst? mir 1972 die Documenta 5 von Harald David: Das werde ich verhindern. Las- Szeemann. sen Sie sich überraschen. Die sogenann- SPIEGEL: Was werden Sie ändern? ten Randbereiche der bildenden Kunst, David: Ich gehöre nicht, wie ein paar Literatur und Film etwa, könnten plötz- meiner Vorgänger, zu denen, die mit lich ins Zentrum rücken. Y

DER SPIEGEL 12/1994 207 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite KULTUR

Polemik „Zu kurze Banane“ Henryk M. Broder über das Buch „Einheitsfrust“ des Ost-Berliner Satirikers Mathias Wedel

Broder, 47, lebt und arbeitet in Berlin den fünf neuen Ländern meint, „drük- verändern. Die Ossifizierung der Bun- und Jerusalem. Zuletzt veröffentlichte ken auf die politische Kultur der Repu- desrepublik hat begonnen.“ er „Erbarmen mit den Deutschen“ blik, ihr Lebensraum ist die Anonymität Nun kommt auch Wedel aus dem (1993). der Masse, ihr Kraftquell die diffuse So- Osten, geboren 1953 in Erfurt, aufge- lidarität der Zukurzgekommenen**.“ wachsen in Thüringen, zuletzt wohnhaft auter Schläge in die gesamtdeutsche Es ist ein Menschenschlag, „dem die Ba- in Berlin, Hauptstadt der DDR, wo er Magengrube: „Seit dem 3. Oktober nane immer zu kurz ist“, in ständiger für die Wetternachrichten beim Deut- L1990 hat sich der Bundesbürger (alt) Bewegung gehalten „von der Angst, zu schen Fernsehfunk zuständig war. Er ist an zivilisatorische Verluste zu gewöh- spät zur Stelle zu sein, wenn es irgendwo ein promovierter Possenreißer, seine nen. Ein Typ Mensch führt mehr und was umsonst gibt“; es sind Leute „mit Dissertation, die er 1985 bei der Akade- mehr das öffentliche Wort, der bis dahin der einseitig entwickelten Libido zum mie der Gesellschaftswissenschaften in den Grenzen der deutschen Nach- starken Staat, fidele Denunzianten der hinterlegte, hieß: „Besonderheiten der kriegsordnung wohl verwahrt gewesen Falschparker und Falschdenker, Män- Kabarett-Satire im Sozialismus“; allein war. Für jede nationalistische Phrase zu ner und Frauen, denen die Lynchhand das schon eine imponierende Leistung begeistern, devot gegenüber eingebilde- locker sitzt“. in einem System, dessen Wirklichkeit ten Autoritäten, hysterisch bei der Und schon hat Wedel für diesen Ty- ihrer satirischen Reproduktion immer kleinsten Verunsicherung durch einen pus, der sich zu gleichen Teilen aus voraus war. neuen Gedanken und gewalttätig gegen Feigheit und Aggressivität zusammen- Doch mit den „dumpfsinnigen Dat- Fremde und Schwache – in diesem ver- setzt, einen Begriff geprägt, der, wenn schenbauern des Sozialismus“ will We- wahrlosten Zustand schleimt er sich in alles gutgeht, zum nächsten Unwort des del nichts zu tun haben. Die Thesen, auf die Verbände, Institutionen, Parteien, Jahres aufsteigen könnte: „Ostdeut- denen Wedel sein Buch aufgebaut hat, vor die Mikrofone und Kameras.“ scher Mitläufer“, abgekürzt OM – der hätten keine Chance, von der Bonner So geht es los, und so geht es weiter, Doppelgänger des berüchtigten IM Enquete-Kommission, die derzeit die 156 Seiten lang: der Amoklauf eines („Inoffizieller Mitarbeiter“ der Stasi). Lebensbedingungen in der DDR unter- Ostdeutschen gegen die Deutschen in Die OMs lauern überall, in den Par- sucht, anerkannt zu werden: Die DDR Ost und West, vor allem gegen die in teien, in den Medien, in den gesell- war kein Unrechtsstaat, die Regierung Ost. „Diese Leute“, schreibt Mathias schaftlichen Organisationen. „Sie schik- wurde – erfolgreich! – vom Volk er- Wedel, womit er die „Neubundis“ in ken sich an, die alte Bundesrepublik zu preßt, die Masse der „Ostdeutschen Mitläufer“ war mit ihrem Leben zufrie- den. „Die OMs brauchten keine Ni- schen. Sie repräsentierten die Gesell- schaft, die Gesellschaft selbst war die Nische.“ Wedel dreht die Dinge so lange auf den Kopf, bis sie endlich zwar verkehrt herum, aber doch richtig daherkom- men. Eine absurde Konstruktion wie die DDR, in der 16 Millionen Täter genau- so viele Opfer unterdrückten, läßt sich nicht wie ein pleite gegangener Geträn- kegroßmarkt wegstecken. Und wenn zum 3. Jahrestag der Wiedervereinigung 60 Prozent der Ostdeutschen erklären, sie hätten in einer „schönen Utopie“ ge- lebt, dann sagt diese Einschätzung nur, wie wenig man sich allein auf Zeugen- aussagen Betroffener verlassen darf, wenn man sich ein Bild vergangener Wirklichkeit machen will. Wedel kümmert sich einen Dreck um den nationalen Auftrag, die „Mauer in den Köpfen“ abzutragen, und türmt fröhlich einen Stein auf den anderen. Die „ostdeutsche Identität“ – eine Chi- märe: Der „Muff der Werkskantinen,

* Im Januar im Festsaal der Humboldt-Universi- tät. ** Mathias Wedel: „Einheitsfrust“. Rowohlt Berlin DDR-Nostalgie-Party*: „Dumpfsinnige Datschenbauer“ Verlag; 156 Seiten; 26 Mark.

210 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite KULTUR

das Doppelleben in Gesellschaft und tive gewesen? Am rechtsstaatlichen Be- Familie, die gegenseitige Überwa- wußtsein der führenden Kader kann es chung . . .“; die OMs – das Letzte vom nicht gelegen haben, daß die DDR zu- Letzten: „eilfertige Denunzianten und sammengekracht ist. ekelhafte Zeitgenossen“; der Sozialis- Kaum hat Bärbel Bohley ihren ehe- mus als solcher – ein System der „maxi- maligen Anwalt als „Stasi- malen Resteverwertung“. Spitzel“ verunglimpft, läßt er ihr im We- Käme Wedel nicht selbst aus jenem ge einer einstweiligen Verfügung verbie- Land, das er nun lustvoll bekübelt, könn- ten, so über ihn zu sprechen. Worauf te man ihn der „Geistesfraktion des tota- Frau Bohley auf „Stasi-Spritzel“ aus- litären Antikommunismus“ (Günter Gaus) zurechnen, die an der DDR kein gutes Haar lassen will. Da Wedel aber ein authentischer Eingeborener des ersten BESTSELLER und vorläufig letzten deutschen Arbei- ter-und-Bauern-Staates ist, taucht ein BELLETRISTIK anderer Vorwurf über den Harzer Ber- gen auf: der des Selbsthasses. Grisham: Die Akte Mit diesem Vorwurf wird Wedel reich- (1) 1 Hoffmann und Campe; lich bedacht werden, ebenso mit der An- 44 Mark klage, er sei ein Nestbeschmutzer. Doch ein beiläufiger Blick in die Zeitungen der Republik zeigt, daß Wedel mit seinen 2 Pilcher: Wilder Thymian (2) Gemeinheiten sehr nah an den Kern der Wunderlich; 42 Mark Sache herankommt. An der Ost-Berliner Humboldt-Universität finden „DDR- Gaarder: Sofies Welt (3) Partys“ statt, deren Teilnehmer FDJ- 3 Hanser; 39,80 Mark Hemden und Grenzeruniformen tragen und „Rotkäppchen“-Sekt und Club Cola Høeg: Fräulein Smillas (6) trinken. 4 Gespür für Schnee Ehemalige Mitarbeiter der Staatssi- Hanser; 45 Mark cherheit melden sich zu Wort, um zu be- weisen, „wie bunt das Leben eigentlich Gordon: Der Schamane (4) war“ – 70 bis 75 Prozent aller IMs hatten 5 Droemer; 44 Mark „präventive Aufgaben zu erfüllen“; wäh- rend einige damit beschäftigt waren, Zimmer Bradley: Die „Brände und Havarien vorbeugend“ zu (5) 6 Wälder von Albion verhindern, kümmerten sich andere „um W. Krüger; 49,80 Mark Ruhe und Ordnung an den Grenzen des Landes“ und halfen damit, „eine Schuß- anwendung zu verhindern“. 7 Atwood: Die Räuberbraut (10) Es muß ungeheuer viele Brände und S. Fischer; 48 Mark Havarien in der DDR gegeben haben, je- denfalls fällt die Meldung, es habe im Pirinc¸ci: Francis – Felidae II (7) letzten Jahr ihrer Existenz in der DDR 8 Goldmann; 38 Mark 173 000 IMs gegeben, niemandem als Pilcher: Die (8) 9 Muschelsucher „Begegnung Wunderlich; 45 Mark mit der eigenen Raffgier“ Clavell: Gai-Jin (9) 10 C. Bertelsmann; 49,80 Mark seltsam auf. Jeder 100. DDR-Bürger war ein IM, rechnet man die Kinder, die 11 Nooteboom: Rituale (12) Kranken und die Alten ab, war es sogar Suhrkamp; 28 Mark jeder 50.! Oder waren die IMs damit be- schäftigt, Brände zu legen und Havarien Morrison: Jazz (11) zu arrangieren? Wir wissen es nicht. 12 Rowohlt; 36 Mark Gern würden wir jemanden fragen, der es wissen müßte, etwa den Theolo- Walters: Im Eishaus (14) gen und bekennenden Sozialdemokra- 13 Goldmann; 38 Mark ten Richard Schröder. Doch auch der zeigt sich ratlos. „Noch sind wir uns im Kinkel: Die Puppenspieler (15) Osten nicht einig darüber, was genau 14 Blanvalet; 44 Mark verkehrt war in der DDR.“ Was kann es nur gewesen sein? Hätte Grisham: Die Firma der grüne Pfeil nach links statt nach 15 Hoffmann und Campe: 44 Mark rechts zeigen sollen? Oder wäre ein Tra- bant mit Alufelgen die richtige Alterna-

212 DER SPIEGEL 12/1994 weicht, womit Herr Gysi auch nicht ein- Bundesrepublik“ einen sachlichen verstanden ist. Gysis Partei, die PDS, Klang: „So wollen die OMs das neue möchte, daß „die Ostdeutschen eine ei- Deutschland: eine entzivilisierte Gesell- gene Kammer wählen können“, und schaft, in der der einzelne für nichts haf- erntet mit diesem sezessionistischen tet und nicht in Anspruch genommen Vorschlag kein Gelächter. werden darf, ein kleinbürgerliches Kol- Angesichts dieses Szenarios, das täg- lektiv, das ossifizierte Gemeinwesen.“ lich mit neuen Überraschungen aufwar- Droht also eine neue Gefahr aus dem tet, bekommen Wedels hysterische Osten? Statt der gelben Ameisen und Warnungen vor einer „Ossifizierung der der roten Heuschrecken sollen es dies- mal die eigenen Landsleute sein. Solan- ge noch „ganze Mitläuferfamilien im Schaufenster des BMW-Händlers pro- besaßen und ,brumm, brumm, brumm‘ machten“, konnten die Westler über die SACHBÜCHER armen Verwandten mitsamt ihrem „Gefühlsstau“ milde lächeln. Doch bis Ogger: Nieten in (1) Mitte 1993 waren schon eine Million 1 Nadelstreifen Droemer; 38 Mark „Man hätte mich nicht Wickert: Und Gott (2) 2 schuf Paris bei den Widerständlern Hoffmann und Campe; 42 Mark gefunden“ Carnegie: Sorge dich (3) 3 nicht, lebe! Ostler in den Westen gekommen, bald Scherz; 42 Mark wird der OM „an vielen Orten dominie- Filipovic´: Ich bin ein (4) ren“ und „ganze Landstriche werden 4 Mädchen aus Sarajevo von seiner Verbissenheit und Humorlo- Lübbe; 29,80 Mark sigkeit überschattet sein“. Ein prominenter OM namens „Lip- 5 Falin: Politische (6) pi“, der die DDR mit seiner guten Lau- Erinnerungen ne bis zum Schluß „malträtiert“ hatte, Droemer; 48 Mark hätte es beinah geschafft, auch in der Zachert/Zachert: Wir (7) westlichen Kulturlandschaft was zu wer- 6 treffen uns wieder in den, nachdem die Revolution es ver- meinem Paradies säumt hatte, sich an ihm „für seine Lübbe; 29,80 Mark zwanghaften Infantilismen schadlos“ zu halten. Auch „Lippi“ führte seinen Ab- 7 Sasson: Ich, Prinzessin (9) sturz auf den Ost-West-Konflikt zurück. Sultana, und meine Töchter Blödsinn, sagt Wedel, „nicht genug, daß C. Bertelsmann; 38 Mark sie eine komische Revolution gemacht Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (11) haben, die Ostler, jetzt machen sie sich 8 Integral; 19 Mark auch noch lächerlich“. Es liegt in der Tat eine gigantische Hawking: Einsteins Traum (5) Komik darin, daß eine Gesellschaft, die 9 Rowohlt; 36 Mark jeden kommunistischen Briefträger zum Scholl-Latour: Eine Welt (8) Verfassungsfeind promovierte, sich nun 10 in Auflösung mit 2,5 Millionen ehemaligen SED-An- Siedler; 44 Mark gehörigen arrangieren muß; daß Honek- Hacke: Der kleine (12) ker im Jahre 1987 wie ein Staatsgast in 11 Erziehungsberater Bonn empfangen, fünf Jahre später wie Kunstmann; 19,80 Mark ein Krimineller vor Gericht gestellt wur- de, bis sich der Berliner Verfassungsge- Gore: Wege zum (14) richtshof seiner erbarmte, indem er im 12 Gleichgewicht Gesundheitszustand des Angeklagten S. Fischer; 39,80 Mark einen Einstellungs- und Haftaufhe- Schmidt: Handeln (10) bungsgrund sah. Und daß die ehemalige 13 für Deutschland Staatspartei der DDR sich – ritsch, Rowohlt Berlin; 34 Mark ratsch! – einen neuen Namen zulegte und sogleich selbst zum Wachhund von 14 Hensel: Glück gehabt Demokratie und Rechtsstaat ernannte. Insel; 38 Mark Das ist der Stoff, aus dem große Dra- von Arnim: Staat (13) men geformt werden könnten. Doch im 15 ohne Diener vereinigten Deutschland reicht es grade Kindler; 38 Mark für eine kleine Verwechslungskomödie mit dem Namen „Weil das Land Ver- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom söhnung braucht“, in der die Pastorin Fachmagazin Buchreport Dönhoff und der Graf Schorlemmer die Hauptrollen spielen. Und ist es nicht

DER SPIEGEL 12/1994 213 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite KULTUR

saukomisch, daß ehema- ten verschlagen hätte, lige staatlich anerkannte halten sie für so wahr- Regimegegner wie Ru- scheinlich wie eine Ver- dolf Bahro, Stefan wandlung ihres Opel Heym und Wolfgang Astra in einen Trabi de Harich nunmehr drüben Luxe. gemeinsame Sache mit „Eines weiß ich mit Si- ihren ehemaligen Ver- cherheit“, bekannte eine folgern machen, wäh- Journalistin in der Süd- rend hüben der erste deutschen Zeitung stell- Botschafter Bonns in vertretend für viele kurz Ost-Berlin, Günter nach dem dritten Jahres- Gaus, zum letzten Bot- tag der Wiedervereini- schafter der DDR in der gung, „man hätte mich vergrößerten Bundesre- nicht bei den Wider- publik mutiert? Satiriker Wedel ständlern gefunden. Andere gehen noch „Ossifizierung der Republik“ Meine Angst vor den weiter. Erich Kuby et- Schergen und Schikanen wa, der große alte Mann des radikallibe- der Staatssicherheit, vor Ausgrenzun- ralen Imperativs, schrieb in der von gen, Demütigungen und Entwürdigun- Günter Gaus mitherausgegebenen Wo- gen, meine panische Angst davor, ein- chenzeitung Freitag, „das Ausbluten des gesperrt zu sein – das alles hätte mich zweiten deutschen Staates ist klug und auf jeden Fall davon abgehalten, unan- defensiv durch die Mauer verhindert genehm aufzufallen, aufsässig zu sein, worden“. Nein, wir haben uns nicht ver- mich als Heldin zu beweisen.“ lesen. Es sind nicht Menschen an der Da hat man/frau sich gemütlich bei Mauer verblutet, es ist nur das Ausblu- Spätzle, Benetton und bleifreiem Ben- ten der DDR verhindert worden. zin in dem großen Supermarkt namens „Seit die DDR verschwunden ist, wis- Konsumdemokratie eingerichtet, ist ab sen viele Westler nicht mehr, wo ihnen und zu auf eine Demo für die 35-Stun- der Kopf steht“, stellt Wedel mit feinem den-Woche und gegen Ausländerfeind- Understatement fest, um an diese einfa- lichkeit gegangen und gruselt sich nun che und doch so richtige Feststellung die genüßlich und risikofrei bei der Vorstel- Frage anzuschließen: „Wieso entschul- lung, was wäre gewesen, wenn . . . digt er sich fortlaufend bei ihm für den So kann man/frau mit der eigenen Makel, nicht selber in der Diktatur ge- „Ehrlichkeit“ kokettieren und zugleich lebt zu haben?“ Ganz einfach: Weil man den blöden Bürgerrechtlern in der DDR „dem eigenen Spiegelbild nicht ins Ge- noch nachträglich einen Tritt verpassen, sicht schlägt“. die wenigstens Anstand zeigten, wo Wi- Viele Westdeutsche erkennen sich im derstand unmöglich war. Und dann un- ehemaligen DDR-Bürger wieder. „Da terschreibt man/frau, gutes Gewissen in- begegnet ihnen ihre eigene Raffgier und klusive, eine Protestresolution gegen Unempfindlichkeit, ihr Rassismus und den Film „Beruf Neonazi“, denn man/ ihre Bigotterie, ihre Deutschtümelei, ih- frau weiß ja, was das Gebot der Stunde re Staatsfrömmigkeit und ihr Kitsch.“ ist: „Wehret den Anfängen!“ und „Nie wieder ’33!“ Wedels gemeine, hinterfotzige, völlig „Westler sind unausgewogene, kurzum: grandiose Ab- unbeliebter, als es der rechnung mit den „ostdeutschen Mitläu- fern“ läßt die Westler weitgehend unge- Russe je war“ schoren. Daß „der Westler im Osten entschieden unbeliebter ist, als es der In der Tat spricht einiges für die Ver- Russe je war“, beweist, daß die Ossis al- mutung, manche Westdeutschen wären len Verbiegungen zum Trotz noch im- gern so geworden, wie die Ossis werden mer über einen nicht korrumpierbaren mußten. Nur zu gern hätten sie sich dem Kern verfügen. Was man von den „gei- dekadenten Charme der Diktatur hinge- stig verfetteten, entpolitisierten Klein- geben, doch weil sie dazu keine Gele- bürgern des Westens“ mit derselben genheit hatten, versuchen sie nun, das Entschiedenheit nicht behaupten kann. Verpaßte wenigstens rhetorisch nachzu- Um ihr Land auf das politisch-morali- holen. sche Niveau der DDR zu bringen, brau- Wo immer derzeit in der Bundesrepu- chen die Westler nicht die Nachhilfe der blik Diskussionen über die Geschichte Krauses, Stolpes und Schorlemmers. der DDR stattfinden, legen Westler Die „Ossifizierung der Bundesrepublik“ freiwillig umfassende Geständnisse ab. hat schon vor der Wiedervereinigung „Auch ich hätte mitgemacht“, lautet die begonnen. Sie in Freiheit und Selbstbe- stereotype Formel, auf die sich die stimmung zu vollenden, ist eine Aufga- Möchtegern-Kollaborateure irgendwie be, der die „westdeutschen Mitläufer“ geeinigt haben; die Möglichkeit, daß sie (WM) sich mit der allergrößten Begei- das Schicksal auf die Seite der Dissiden- sterung widmen werden. Y

216 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite KULTUR

Bücher Wolf im Talar Mit Witz und Wortgewalt erzählt ein Münchner Theologe von einem historischen Fall: dem Mör- der aus Büchergier.

ange ahnten seine Schäfchen nichts Böses. Unbeschwert schien der Pa- LstorvonPosernaseinenDienstpflich- ten nachzukommen. „Überall“, so ein Biograph, habe der gelehrte Gottesmann des kursächsischen Fleckens sich „durch Pflichttreue, Eifer, Geschick und Wan- del“beliebt gemacht. Johann GeorgTini- Autor Huizing: „Darf ich mal in Klammern sprechen?“ us, dessen Gedächtniskünste allseits ver- blüfften, galt als Vorbild. Sein Hauptvorbild, Huizing verheim- Zitatmontagen über Lust und Last der Wie wilder Bänkelsang klang darum, licht es nicht, warPatrick Süskindsmorbi- Lektüre. was nach vier Jahren 1813 von Amts we- der Duftorgien-Seller „Das Parfum“. Aber nicht genug damit: Parallel zum gen ans Licht kam: Der äußerlich so bie- Das Opus vom Letternwahn istallerdings bösen Magister erzählt Huizing von ei- dere Seelenhirte, passenderweise aus ei- noch erheblich delikater angerichtet. nem Doppelgänger aus dem heutigen ner Schäfersippe, war ein Wolf im Talar Denn Huizing, als Holländisch-Refor- München, dem Philologiestudenten Falk gewesen. Reisegenossen in der Postkut- mierter im katholischen Bayern über alle Reinhold. sche hatte Tinius, auch als Giftmischer Fragen des Buchstabenglaubens bestens Kunststück, daß Reinhold, kaum an ein Experte, betäubt und ihnen dann die im Bilde, nutzt den Fall Tinius zu einer der Uni, zum Büchernarren wird – trotz Barschaft stibitzt. Eine begüterte Witwe pfiffigen Grundsatzabrechnung mit der oder wegen der Bibel, des „volkstümli- und wohl auch ein reicher Kaufmann hat- Leselust, auch der eigenen. chen Kultbuchs“, das Mutti ihm noch ten gar ihr Leben lassen müssen, alles den Inspiriert vom Zettelträumer und Hei- rasch ins Gepäck geschmuggelt hatte. Büchern zuliebe. dewitzling Arno Schmidt, der sich schon Klar, daß er stutzig wird, als er von Tinius 60 000 Bände entdeckte die Polizei in 1956 als klammheimlicher Tinius-Sympa- erfährt. Und wasWunder, daß er beialler Haus und Scheune des wörtergeilen Be- thisant geoutet hatte, macht Huizing aus Computerausrüstung bald ebenso behext schaffungskriminellen, den Abwegen seines im Spiegelkabinett der Lektüren herum- „ferner eine Menge Pe- Helden ein literarisches strolcht wie ehedem Tinius, dessen apo- rücken, falsche Bärte Prinzip. Die Morde sind kalyptische Visionen er zur ganz privaten und allerhand Verklei- ihm, so scheint es lange, Botschaft umdeutet. dungen“, unter deren fast egal – erst auf Seite Schließlich wird der neue Buchtrinker Schutz der Herr Pfar- 125 geht es dann doch seinem Urbild derart ähnlich, daß beide rer zu seinen Räuberei- noch zur Sache. wie in einem fatalen „Regelkreis“ ver- en aufgebrochen war. Statt in Räuberszenen schaltet zu sein scheinen: Auch Reinhold Leugnen half nichts, die zu schwelgen, fahndet mutiert zum Unhold, verloren an die Let- Indizien sprachen Bän- der Erzähler lieber da- ternwelten, die er auf seinen Bildschirm de. nach, wie einer über- bannt. So restlos verschlingt ihn die Bald war ganz Sach- haupt der Lesewut ver- Sucht, daß nur noch ein paar Zeugenaus- sen über die Untaten des fällt. Sammlerisch sagen zurückbleiben – und als würdiger lesesüchtigen Magisters durchstöbert er die Abschluß eine „Postkarte an Herrn Der- im Bilde. Mit Schimpf Kindheit seines Helden, rida“. und Schande verlor Tini- schweift ab („Darf ich Denn was beide Bibliomanen an sich us seine geistlichen Wür- einmal länger in Klam- erfahren, folgt nur zu buchstäblich den den – aber geständig mern sprechen?“), fragt Ideen des postmodernen Kirchenvaters wurde er nie. Fromme Huizing-Titel kokett nach („Finden Sie in Paris: Sie gehen unter in ihrer eigenen Traktate über das Welt- Vom Reinhold zum Unhold nicht?“), gibt Buchtips „Dekonstruktion“, hinter allzu vielen ende und eine keines- oder stellt Rätselfragen. Texten kommt ihnen die Welt abhanden. wegs reumütige Autobiographie schrieb Gleich vornan steht eine „Höfliche „P.S. Bin momentan in München nicht er im Kerker; später kam er als skurri- Einladung, genauer zu lesen“, und re- anwesend. Sie lesen von mir“, schreibt ler Fall in die Verbrecherchronik des gelmäßig sind Intermezzi zum Nachden- Falk Reinhold. „Neuen Pitaval“. Und jetzt kann jeder, ken zwischengeschaltet. „Teppiche“ Das könnte Wortjongleur Huizing den vor Bibliotheksregalen schon ein- nennt der Autor die zartgesponnenen selbst gesagt haben. Zwar verrät der mal ein Klaugelüst beschlich, die Mär schwer belesene Tausendsassa nicht, vom entfesselten Leser als Roman ge- * Klaas Huizing: „Der Buchtrinker – Zwei Romane woran er momentan arbeitet. Aber der nießen. Wortgewaltig und verschmitzt und neun Teppiche“. Albrecht Knaus Verlag, Mün- Schlußfaden eines seiner Teppiche, na- hat der Münchner Uni-Theologe Klaas chen; 192 Seiten; 32 Mark. Tinius’ „Merkwürdi- türlich wieder ein Zitat, läßt hoffen. Dort ges und lehrreiches Leben“ ist in der Friedenauer Huizing, 35, den „Buchtrinker“ porträ- Presse, Berlin, erschienen; 24 Seiten; 16,80 heißt es, mit Hölderlins Worten: „Näch- tiert*. Mark. stens mehr.“ Y

DER SPIEGEL 12/1994 219 KULTUR

Hörer des Berlin-Brandenburger Sen- tung. Wer jung, vorzugsweise weiblich Rundfunk ders „Fritz!“. und wortgewandt klingt, wird mit „hallo, Zur Jugendwelle des Ostdeutschen lieber junger Mensch“ begrüßt. Manch- Rundfunks Brandenburg (ORB) kam er mal auch nicht: „Hallo, hier ist Birgit“ – als Aushilfskraft im Plattenarchiv. Ans „Tach Birgit.“ Zack. Die Nächste. „Du Nuscheln Mikrofon verschlug es ihn durch Zufall. sitzt hier im Wasserwerfer“, sagt Kutt- Die Redaktion suchte eine Stimme aus ner, „da kommt keiner rein, und du dem Volk für eine Hörspielparodie auf kannst die Leute alle naß spritzen.“ von nüscht das Sendeschlußbild des ORB-Fernse- Und mit ihnen spielen: Zum Thema hens. Es zeigt ein Aquarium, das sich „Zweikanal“ sendete Kuttner auf einem Auf ostdeutschen Kanälen nächtens bis zu 40 000 Zuschauer anse- Stereo-Kanal Musik, auf dem anderen locken frech-frische hen. So wurde Mike Lehmann geboren, Telefongespräche. Die Zuhörer sollten der Tierpfleger des ORB-Aquariums. sich mit Hilfe des Balancereglers ihre in- Moderatoren junge Hörer an. Nach einer Woche schon kamen die er- dividuelle Sendung zusammenstellen. sten Fanbriefe mit Fischfutter. Als Besitzer von Monoradios gegen die enn der Moderator die Nach- Lehmanns wundersamer Aufstieg zur Kakophonie protestierten, riet ihnen richtensprecherin niedernölt, Kultfigur ist typisch: Im östlichen Äther Kuttner, die Lautsprecher einzutreten. W„smoke on the water“ rülpst und tummeln sich eine ganze Reihe von un- Ein anderes Mal, beim Thema „De´ja`- von seinem Freund Orson, dem Wels, pa- erhörten Stimmen. Radio in den neuen vu“, begann die Sendung alle halbe Stun- lavert, dann ist im Äther über Berlin ein Bundesländern klingt schon wieder ganz de von vorn. Mittlerweile erprobt der Ra- gewisser Mike Lehmann auf Sendung. anders als der geklonte westliche Weich- dio-Freak sein Talent dienstags und Neun Heiratsanträge hat ihm das bisjetzt spülfunk: Sendungen wie Captain Kirk samstags im Fernsehen. eingebracht – „zwei mit Bild“ sowie kilo- Kuttners „Sprechfunk“, die alle Regeln Anarchistische Schlagseite demon- weise Fischfutter in der Fanpost. perfekter Radioproduktionen ignorie- striert der promovierte Kulturwissen-

Ost-Moderatoren Neuber, Kuttner: „Hier sitzt du im Wasserwerfer und kannst die Leute alle naß spritzen“

Nicht ganz Lehmanns Geschmack: ren, sind weder in Frankfurt noch in schaftler auch in der Sparte Musik. Ma- Der Ansager achtet auf eine strenge Hamburg oder München zu hören. Das ria Callas serviert er neben Jimi Hen- Diät aus „Pilssuppen“ (Schankbier) und „ernsthaft witzigste Talk-Radio der Re- drix; „Rote Lippen soll man küs- „18er Rundstutzen“ (Flaschenbier). publik“ (Die Tageszeitung) kommt, wie sen . . .“ hält er für große Kunst und Sein Kulturverständnis ist ähnlich breit Lehmann, vom ORB. Da nuschelt und spielt danach eine anonym eingesandte gefächert. Es reicht von der Zierfisch- ost-berlinert einer, „der von allem Garagen-Punk-Version vom „Lied der zucht bis zum 1. FC Union („olee-olee- nüscht weeß“ und darüber am offenen bolschewistischen Reiterarmee“. oleeolee“). Und viele seiner Kalauer Telefon brillant zu erzählen weiß. Hinter dem stilistischen Spagat steckt zünden erst jenseits der 0,8-Promille- Plaudernd und sinnierend inszeniert Kalkül. Kuttner zielt auf eine Spannung Grenze: „Meine zwei Lieblingsfische“, Jürgen Kuttner, 36, seine akustischen aus „wohliger Nostalgie und der Ah- scherzt der Aquarianer, „sind Karpfen Roadmovies auf UKW. Abschweifun- nung, wie absurd sie eigentlich ist“. Of- blau, Forelle Müllerin und Rollmops.“ gen sind ausdrücklich erwünscht, der fensichtlich trifft dieses Gefühl viele in Lehmann, bürgerlich Peter Neuber, 31, Umweg ist das Ziel. Überraschend fin- Berlin und Brandenburg ins Mark. hält sich für „volle Kacke peinlich“; det Kuttner Brücken von der manuellen Kuttner funkt auf UKW 102,6 Mega- Skrupel hat er nur bei dem Gedanken, Brotschneidemaschine zu Majakowski hertz, einer Frequenz, die verpflichtet. daß seine Mutter ihn hören könnte. und landet schließlich im Bahnhofskiosk Auf ihr sendete bis 1992 der legendäre Den guten Geschmack von Rund- von Nauen, wo es „voll juten Döner Ke- DDR-Jugendsender DT 64. Als er trotz funkintendanten und Programmdirekto- bab mit Sauerkraut“ gibt. massiver Hörerproteste abgewickelt ren trifft Lehmann mit seinem stets zu Wer Kuttner anruft, ist direkt auf wurde, schlüpften die jungen Funkpio- lauten Vorstadtmundwerk nicht. Eben Sendung. „Olle Knacker“ schmeißt der niere bei anderen Sendern unter. Mitt- drum lieben ihn die meist jugendlichen Plauderprofi postwendend aus der Lei- lerweile setzt ihre „ungebändigte Sub-

220 DER SPIEGEL 12/1994 jektivität“ (Frankfurter Allgemeine) Maßstäbe in öffentlich-rechtlichen An- stalten. Knapp zwei Dutzend ehemalige DT-64-Redakteure arbeiten unter dem Dach des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) für den über Satellit verbreite- ten DT-64-Nachfolger Sputnik. Obwohl das Programm aus dem Studio Halle nur über Parabolantennen zu empfangen ist und nur in wenige Kabelnetze einge- speist wird, hat sich schnell eine wach- sende Fangemeinde gebildet. „Egal, welchen Kanal du einschal- test“, sagt Sputnik-Starmoderator und Alt-DT-64er Karsten Blumenthal, 25, „überall hörste Ex-Kollegen.“ Wer vom SED-Jugendfunk oder den Nachfolge- organisationen Rockradio B und Sput- nik kommt, gilt als potentiell kultver- dächtig: Lutz Bertram beispielsweise, der auf Radio Brandenburg die schrill- ste politische Sendung im Großraum Berlin moderiert. Bereits wenige Sekun- den nach dem Aufstehen leidet er „unter erheblichem Mitteilungsdruck“, und den läßt er werktäglich von sechs bis zehn im „ultimativen Morgenmaga- zin“ namens „Auftakt“ ab: „Morgen, Damen und Herren, vorsichtig die Dek- kel aufgestellt, was sehen Sie? Sie sehen einen Tag, Modell Donnerstag, in recht verregneter Ausführung.“ Da werden mit geschliffener Zunge Pudels Kerne „freipräpariert“ oder am Ende der Sendung „der Stiel aus der Birne gezogen“. Zwischendurch schreckt Bertram, 40, seine Zuhörer gern mit einem „Huuhuu, ihr Lieben!“ oder kräht: „Jetzt ziehen wir, wenn’s konveniert, zu Ihrer Erbauung die Wet- terprognose blank: za-wölf Ge-rad!“ Vielen geht Bertrams Jargon auf die Nerven. Dennoch hängen jeden Morgen wieder hunderttausend Mithörer am Radio, wenn er, Schachtelsätze und Wortkaskaden ausspuckend, seine In- terviewpartner in die Ecke treibt. Ber- tram ist blind, seine ganze Konzentrati- on gilt der Sprache. Verbale Nebelgra- naten pustet er gnadenlos aus. Er redet und will Fraktur hören. CDU-General- sekretär Peter Hintze drohte derart be- drängt, das Interview abzubrechen. Al- fred Dregger und Karl-Eduard von Schnitzler knallten die Hörer vorzeitig auf. Solche respektlosen Töne ist man im deutschen Äther nicht gewohnt. Doch die Fans der schrägen Radio- kost werden immer zahlreicher. Biswei- len nimmt ihre Anteilnahme schon ab- surde Züge an. Als Mike Lehmann der Fangemeinde neulich mitteilte, einer der Guppys im Aquarium schwimme Bauch oben, schleppten die Hörer tags darauf in Marmeladengläsern und Pla- stiktüten haufenweise Ersatzfische in den Sender. Und wieder einmal dachte keiner daran, 18er Rundstutzen mitzu- bringen. Y Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite KULTUR

rosexueller Nichtbehinderter, nicht ar- SPIEGEL-Gespräch beitsloser, gesunder Mensch. Das ist ja eine festgelegte Identität, mit der man ethnische Probleme hat. SPIEGEL: Die Frage ist noch nicht beant- „Unglück, dein Name wortet. Beltz: Na ja, ich bin momentan in der mißlichen Lage, mich nicht beklagen zu können. ist Scharping“ SPIEGEL: Sie könnten doch im Super- wahljahr ’94 richtig Geld machen. Der Kabarettist Matthias Beltz über Politik, Satire und Fußball Beltz: Ich könnte mein Programm etwas umgestalten und mir beispielsweise von der SPD eine tolle Tournee zusammen- stellen lassen. Aber da ich unglücklicher- weise vom Willen beseelt bin, Lebens- freude zu empfinden, lass’ ich das. SPIEGEL: Haben Sie denn mit den Ge- nossen so schlechte Erfahrungen ge- macht? Beltz: O ja, allerdings: Unglück, dein Na- me ist Scharping. Ich war im Februar bei der Kleinkunstpreisverleihung in Mainz, da saßen er und die aus seiner Staatskanz- lei, und wir sind einander nicht näher- gekommen. Es war ruhig, absolut still, und dann auf der Bühne stehen und ins Nichts spielen: So schön kann Horror sein. SPIEGEL: Haben Sie wieder über Europa räsoniert und behauptet: „Europa ist wie

Matthias Beltz ist einer der bissigsten Vertreter der deutschen Kabarettszene und er- hielt Anfang dieses Jahres den deut- schen Kleinkunstpreis. Der 49jähri- ge studierte Jura, war nach 1968 bei den Spontis und stand sechs Jahre bei Opel am Fließband. 1982 wurde Beltz (M.), SPIEGEL-Redakteure*: „Es gibt Hoffnung, nur nicht für uns“ er mit dem „Vorläufigen Frankfurter Fronttheater“ als Kabarettist bun- SPIEGEL: Ihrer Meinung nach haben al- SPIEGEL: Läßt der Nachwuchs auch desweit bekannt. Solo- und Fernseh- le Kabarettisten einen Hau, sind klein, sonst hoffen? auftritte wie „Nachschlag“ und „Frei- kommen aus der Provinz, haben einen Beltz: Ich fand schon großartig, daß spruch für alle – Beltz’ fröhliches Sprachfehler oder sonst einen Schaden. überhaupt einer da war. Man muß als Standgericht“ folgten. Der Mitbe- Beltz: Ja. Kabarett erwächst wie viele Junger nicht gleich mit Kabarett anfan- gründer des Frankfurter Variete´- Künste nicht gerade aus der Kraft. gen, man kann seinen Protest ja auch Theaters „Tigerpalast“ tourt zur Zeit SPIEGEL: Ihre Karriere verdanken Sie anders herauslassen – wie zum Beispiel mit seinem Programm „Die paar Ta- demnach Ihrer trostlosen Kindheit. beim Hip-Hop. Das sind, genauso wie ge noch“ durch Deutschland. Beltz: Trostlose Kindheit, unglaublich. beim Kabarett, aggressive Versuche, So lasse ich nicht mit meiner Mutter sich selbst zu definieren oder seinen umspringen. Und doch: Man fängt ja Platz in der Gesellschaft zu finden. eine Wohngemeinschaft. Jeder greift in mit Kabarett nicht ohne Grund an. SPIEGEL: Haben Sie ihn denn inzwi- die Haushaltskasse, und keiner bringt Meistens deshalb, weil man als Kind schen gefunden? den Müll runter“? ausgelacht wird. Wir haben vor kurzem Beltz: Ganz unter uns, ich glaub’s ja Beltz: So was in der Art. Ich glaube, daß in Hamburg einen Workshop für Nach- nicht. Mein Platz in der Gesellschaft ist die Politiker teilweise so blöd sind, je- wuchskabarettisten gemacht. Da war ein Hotelzimmer, manchmal neben dem den meiner Sätze ernst und wörtlich zu ein 17jähriger Schüler mit einer un- Aufzug, und das ist grauenhaft. Das nehmen. Wahrscheinlich würden die glaublich starken Brille. Der wollte Ka- sind Träume aus der Jugend, daß man auch, wenn sie im Theater sitzen und ei- barett machen, wie er sagte, weil die einen endgültigen Ort findet. Nur den ner auf der Bühne sagt: „Ich bringe dich Leute ihn abwechselnd für einen Psy- letzten Ort, den findet man immer. Und um“, rausrennen und die Sicherheitsleu- chopathen oder einen netten Kerl hiel- dann ist Ruhe. te alarmieren. ten. Der hat die besten Voraussetzun- SPIEGEL: Lebt es sich als Kabarettist in SPIEGEL: Woher rührt die Humorlosig- gen. Deutschland so furchbar? keit der Politiker? Beltz: Das ist die Frage: Lebt es sich Beltz: Das ist die Unfähigkeit, eine an- * Ralf Klassen und Angela Gatterburg im Engli- überhaupt? Nicht nur als Kabarettist, dere Wirklichkeit als ihre wahrzuneh- schen Garten in München. sondern auch als Hesse, als weißer hete- men. In der Show, die sie machen, müs-

224 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite KULTUR

sen sie ja immer, wie es so schön heißt, SPIEGEL: Das politisch-korrekte Geha- allein um der Glaubwürdigkeit willen be, das jetzt so modern ist, liegt Ihnen etwas sagen, von dem man glauben nicht? könnte, das hätten sie auch so gemeint. Beltz: Bei meinem Auftritt beim Kaba- Und durch dieses Spiel haben sie ver- rett-Festival in Hamburg neulich haben lernt, andere Spiele zu durchschauen. Leute in der Pause herumgerätselt, ob SPIEGEL: Glauben Sie denn, daß Ru- das, was ich mache, noch auf der linken dolf Scharping bei Dieter Hildebrandt Linie liegt oder schon Verrat ist. Wenn lacht? ich dann sage: „Okay, aber es kommt Beltz: Ich will Hildebrandt gar nicht zu- doch eine Haltung dabei raus“, dann sa- muten, daß der Scharping bei ihm sitzt. gen die: „Stimmt ja gar nicht.“ Die mei- SPIEGEL: Irgendeinem anderen Kolle- nen aber nur ihre „richtige“ Haltung. gen vielleicht? SPIEGEL: Und die wäre? Beltz: Nee, oder doch, dem Thomas Beltz: Daß man eine klare linke Position Freitag. Ich weiß jetzt zwar nicht, war- hat gegenüber den Schweinen, die uns um, aber ich sag’s jetzt einfach mal so. Eigentlich weiß ich gar nicht, wann Scharping lacht. Er grinst ja auch eher. „Der Kanzler Wahrscheinlich lacht er, wenn er Kanz- ist selbst schon ler wird. Aber er lacht nimmer, wenn Joschka Fischer Vizekanzler wird. gut genug“ Dann lach’ wieder ich. SPIEGEL: Mit dem Zynismus Ihres neu- von rechts angreifen, von brandstiften- en Programms kommen viele Leute den Neonazis über Gauweiler, das Kapi- nicht klar. Hat sich die Schmerzfähig- tal, bis zum Staat. Das erinnert mich an keit des Publikums, was bitterböse Sa- den Spruch von Brecht: „Das Verbre- tire angeht, verringert? chen hat Namen und Anschrift.“ Aber Beltz: Ja. Ich bin manchmal verblüfft das Verbrechen hat eben nicht Namen über die Reaktionen, weil ich das, was und Anschrift, das ist ja das Dilemma. ich mache, für ungeheuer harmlos hal- SPIEGEL: Es sind ja nicht nur alte Weg- te. Ich finde mich nicht bitterböse. gefährten, die von Ihnen enttäuscht Wer mich bitterböse findet, hat offen- sind. Feuilletonisten der taz und der bar den Kontakt mit der Wirklichkeit Frankfurter Rundschau werfen Ihnen verloren. Bösartig ist, wenn Eltern ihre vor, sie hätten einen Gemischtwarenla- Kinder vergewaltigen, das auf Video den, in dem alles beliebig zusammenge- aufnehmen und die Filme im Bekann- rührt sei. tenkreis verscherbeln. Was ich erzähle, Beltz: Ich mache ein Unterhaltungspro- sind nur einige Beobachtungen aus gramm und erzähle Geschichten über dem Alltag. Diese Verstörung hängt Recht und Unrecht. Das ist eher eine li- wahrscheinlich damit zusammen, daß berale Fragestellung und keine soziali- es in den achtziger Jahren eine un- stische. Bestimmte Zuschauer halten glaubliche Verharmlosung auf den mich für extrem unradikal und merken deutschen Kabarettbühnen gab. nicht, daß sie mit ihren eigenen linken

Beltz (in seiner Frankfurter Wohnung): „Ich finde mich nicht bitterböse“

226 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite KULTUR

Ansprüchen oft ganz nahe Verwandt- krank, meiner Partnerin sind schaften mit rechts eingehen. Nehmen allerhand Schrecklichkeiten Sie mal den Satz: „Menschenrecht bricht passiert, und die Schwieger- Staatsrecht.“ Das ist ein toller Satz, ech- mutter war leider auch nicht tes Mutlangen. Aber der Satz stammt aus da.“ Da habe ich gedacht: Das „Mein Kampf“, und das ist einfach doof, darf doch nicht wahr sein, mit daß der Führer das gesagt hat. Diese welcher Jahresbilanz von Tra- Sprüche, die wir heute so sagen, etwa, gödien die jetzt ihre Zuschauer daß Politiker korrupt sind, die hat Goeb- behelligen. Das ist Belästi- bels auch schon gesagt. Mit radikalen gung, das ist Körperverlet- Worten kann man spielen, aber ich finde zung. es teilweise reaktionär, wenn man ein- SPIEGEL: Wie deutsch sind Sie fach unbekümmert Begriffe übernimmt, denn? nur weil sie gut klingen. Häufig greift Beltz: Ich bin natürlich auch man dabei voll ins Wörterbuch der sehr deutsch. Meine Mutter NSDAP-Propaganda. kommt aus Gießen, meine SPIEGEL: Sie verbreiten eine fröhliche Großmutter aus Krefeld, mein Hoffnungslosigkeit und begnügen sich Vater aus Kassel, also lauter damit, daß die Leute etwas angeheitert Orte des Entsetzens. Es gibt von Ihrer Vorstellung nach Hause gehen. diese schöne Geschichte von Beltz: Nein. Natürlich möchte ich auch Dostojewski, der sagt: „Die die Menschen bessern! Natürlich geht es Deutschen sind ein ewig prote- mir auch um Moral, schon allein, weil ich stierendes Volk.“ Der Prote- das Interesse habe, daß andere Men- stantismus mußte in Deutsch- schen sich auch moralisch verhalten und land erfunden werden, die mich nicht tothauen. Ich habe regelrecht Deutschen protestieren von Kabarettist Beltz* ein Überlebensinteresse an der Moral. Haus aus, haben grundsätzlich „Natürlich geht es mir um Moral“ Nur: Ich glaube, man darf in unserem Job schlechte Laune und sind im- nicht so tun, als sei man der gute Mensch, mer dagegen. Nehmen Sie Uta Ranke- ren geht’s noch schlechter. Die Politiker der alles besser weiß. So eine linke Rich- Heinemann. In Frankreich und Italien zum Beispiel glauben nicht einmal mehr tung gab es ja mal. Und das ist noch heute kann man sich das nicht vorstellen, daß an die Macht und an sich selbst und sind so im DDR-Kabarett: Die wissen ein- eine Protestantin in die katholische Kir- dadurch zu vollständig entpolitisierten fach, daß sie besser sind als die Kapitali- che geht, um rumzustänkern. Verwaltungs-Pappkameraden gewor- sten, und das ist natürlich Blödsinn. SPIEGEL: Sie haben mal gesagt: „Wenn den, die nichts bewegen wollen. Die ich wüßte, daß es nach dem Tod weiter- Parteien sind doch die reinsten Gesangs- geht, würde ich erst gar nicht sterben.“ vereine. Sie kandidieren ein bißchen „Wenn ich Fußball Beltz: Ja. So eine Überraschung möchte und machen ein wenig parlamentarische guck’, bin ich nicht noch mal erleben. Arbeit. Aber ihnen fehlt die Vision und SPIEGEL: Der Satiriker, sagt Tucholsky, metaphysische Kraft, die beispielsweise ich Nationalist“ ist ein gekränkter Idealist. Macht sich Willy Brandt auszeichnete. Deswegen bei Ihnen und Ihren Kollegen Endzeit- interessieren mich die Parteien auch SPIEGEL: Sie benutzen den Begriff stimmung breit? Sie nennen Ihr Pro- nicht. DDR ganz bewußt? gramm „Die paar Tage noch“, Richard SPIEGEL: Sie mögen ja noch nicht ein- Beltz: Ja, durchaus. Ich habe das Ge- Roglers heißt „Finish“, Werner Schney- mal Politikerparodien. fühl, ich kann in Österreich besser ar- der tritt unter dem Motto „Abschieds- Beltz: Ganz hübsch, aber auf die Dauer beiten als in der DDR, weil in der DDR abend“ auf. langweilig. Der Kanzler ist selbst schon im Moment die Fremdheit zwischen den Beltz: Kann schon sein, daß sich bei uns gut genug, aber wenn mir das Original beiden Deutschlands noch schärfer aus- Finalnihilismus breitmacht, aber ande- schon auf den Keks geht, möchte ich mir geprägt ist als vor 1989. nicht auch noch stundenlang eine Kopie SPIEGEL: Wollen Sie etwa auch die anhören. Außerdem kann man nur je- Mauer wiederhaben? manden nachmachen, den man sehr Beltz: Man müßte manche Grenze wie- mag, und ich habe keine Lust, den der neu errichten, die Grenze der Höf- Kanzler zu lieben. lichkeit anderen gegenüber beispiels- SPIEGEL: Sie lieben statt dessen Ein- weise. Wenn jemand mich fragt, wie es tracht Frankfurt. mir geht, sage ich gut und belästige den Beltz: Richtig. Die Eintracht ist eine ko- anderen nicht damit, daß ich gestern mische Mannschaft, die herrlich spinnt. Halsschmerzen hatte und mich heute Sie hat als Kollektiv das Unzuverlässige noch andere Zipperlein plagen. von künstlerischen Menschen. Das letz- SPIEGEL: So etwas erleichtert das Zu- te Jahr fing grandios an, fünf Punkte sammenleben ungemein. Vorsprung, und dann vergeigen sie ein Beltz: Allerdings. Bei den Olympischen Spiel nach dem anderen. Das ist so wie Spielen neulich, als diese Paarläuferin bei Pavarotti, der plötzlich sagt: Tut mir aufs Kinn gefallen ist – sie und ihr Part- leid, heute kann ich leider nicht singen. ner sind für mich typische Deutsche, die Der Ausdruck Diva ist eine schöne und alles falsch machen. Da war auch der richtige Bezeichnung für die Eintracht. Sturz kein Zufall. Die wurden anschlie- Und beim Fußball verhalte ich mich ßend interviewt, und der Mann sagte sinngemäß: „Ja, Gott, wir hatten ja Komiker Schneider * Als Rechtsanwalt in seinem aktuellen Pro- solch ein Pech dieses Jahr, erst war ich „Wie ein Kind ohne Hemmungen“ gramm „Die paar Tage noch“.

228 DER SPIEGEL 12/1994 übrigens kein bißchen politisch korrekt. Wenn’s gegen die Italiener geht, bin ich extrem italienerfeindlich, und wenn’s gegen die Engländer geht, engländer- feindlich. Wenn ich Fußball guck’, bin ich Nationalist, da gibt’s nichts. SPIEGEL: Dazu kommen Sie ja selten, weil Sie abends meistens auf der Bühne stehen. Beim Hamburger Kabarett-Fe- stival waren nahezu alle Vorstellungen mit täglich rund 1000 Zuschauern aus- verkauft. Was treibt die Leute in die Vorstellungen? Beltz: Sie wollen ausgehen und Spaß ha- ben und sehnen sich gleichzeitig danach, daß auf der Bühne die Gegenwart be- handelt wird. Ich glaube, das Kabarett hat das Theater abgelöst, denn uns feh- len Bühnenautoren wie David Mamet, der zeitgenössische, spannende Stücke schreibt. Wo ist das gute Theaterstück über die Wiedervereinigung? Längst fäl- lig wäre auch ein Stück über den SPIE- GEL. Denn das ist doch sicher ein inter- essantes, voller Dramen steckendes Haus. SPIEGEL: Zu viel der Ehre. Und das könnte nur ein Redakteur schreiben, der kurz vor der Rente steht. Beltz: Tja, das ist problematisch, denn als Frührenter hätte er wahrscheinlich keine Lust mehr dazu. Ich könnte mir auch eine hübsche Serie vorstellen, a`la Dallas. SPIEGEL: Sie sind inzwischen mit einer Art Satire-Talkshow auch im Fernsehen gelandet, natürlich zu einer angemessen späten Sendezeit. Humoristen wie Hel- ge Schneider und Harald Schmidt läßt man in den frühen Abendstunden ihre Scherze treiben. Beltz: Mit Recht. Aber warum die so er- folgreich sind, weiß ich nicht. Schneider ist wie ein Kind ohne Hemmungen. Der patscht im Dreck und ist bös’ zu Mami. Das spiegelt offenbar Seelenträume ei- ner Volksgemeinschaft, die zu nichts mehr entschlossen ist. Und Schmidt hat so eine gemäßigte Bösartigkeit nach dem Motto: „Schön frech, was?“ Und dann lese ich in den Feuilletons, dieser Anarcho-Nonsens sei mindestens so ge- nial wie Samuel Beckett und Richard Wagner. Diese Ergriffenheit wundert mich. Das schreiben Feuilletonisten, die offenbar seit Jahren nicht mehr in Knei- pen verkehren und nicht mehr wissen, wie normale Leute auftreten. SPIEGEL: Wäre Ihre melancholische Re- signation nicht ein Einschaltquotenkil- ler? Beltz: Nein. Wie heißt es doch: „Es gibt Hoffnung, nur nicht für uns.“ Das ist ein schöner, wahrer, trauriger Satz. Denn aus der grünen Hoffnung, bald sei so- wieso alles vorbei – daraus wird ja nichts. Die Menschen sind ja so muta- tionsfähig. SPIEGEL: Herr Beltz, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Y KULTUR

nieren (SPIEGEL 14/1993). Ihn wird des- sei zum Zeitpunkt der Trauung nicht ge- Prinzen wegen besonders interessieren, was ver- schäftsfähig gewesen; Angie müsse ihre gangenen Donnerstag auch die Boule- Prinzessinnen-Rolle samt Namen wie- vardpresse alarmierte – eine Verhand- deraufgeben. lung vor dem Kemptener Familienge- Das Verhängnis nahm seinen Lauf, Adel richt, die laut Sitzungsaushang so annon- denn der Anwalt nahm die Versöhnung ciert wurde: „Staatsanwaltschaft Kemp- nicht ernst. Er forderte die Stuttgarter ten gegen 1. Prinz von Hohenzollern, 2. Staatsanwaltschaft auf, die Rechtmäßig- vernichtet Prinzessin von Hohenzollern-Emden“. keit der Eheschließung zu überprüfen, Klatschspalten-Leser kennen die Ge- um den willensschwachen Adeligen vor Einer derer von Hohenzollern schichte: Die schöne Angie, 53, die vor Geschäften mit seinem Namen zubewah- beschäftigt die Gerichte: War er ihrer Erhebung in den Prinzessinnen- ren. stand Angela Stölzle hieß und Gespielin Dabei waren Carl Alexander und sein geistig präsent, als er des Titelhändlers Konsul Weyer war, er- Vater schon zuvor aus der Prinzen-Rolle die schöne Angie heiratete? obert 1990 den verarmten Emanuel Jo- gefallen: Sie hatten zur Aufbesserung ih- seph von Hohenzollern (Bild: „Der Müll- rer Haushaltskasse einen „Carl-Alexan- prinz“), wendet sich dann aber dem Sohn der-Orden“gegründet und Neureiche ge- er Kaiser Wilhelm Zwo, den kei- Carl Alexander (Bild: „geiler Depp“), gen gutes Geld zu dessen Rittern geschla- ner wiederhaben wollte, war sich 23, zu und erwirbt durch die Eheschlie- gen. D sicher: Die Ehe zwischen einem ßung in Leutkirch das ersehnte „Krön- Mit einem Gutachten, das Hoheit – Prinzen und einer Bürgerlichen sei so lein“, wie sich der erwählte Schwan aus- Adel vernichtet – Geistesschwäche be- unmöglich „wie biologisch die Verbin- drückt. scheinigte, überzeugte daraufhin die dung zwischen einem Schwan und einer Angies Glück mit dem kleinen Prinzen Staatsanwaltschaft das Amtsgericht Bad Gans“. währte nur kurz: Nach zwei Monaten – Cannstatt. Doch dessen Annullierungs- Die Prognose aus höchstem Munde Adel vergiftet – lief Carl Alexander mit urteil hob das Oberlandesgericht Stutt- hat sich längst als brüchig erwiesen. dem türkischen Playmate Hülya davon. gart auf und verwies den Fall nach Kemp- Adels- und Bürgervögel können’s mit- Ihm habe, so mußte man seine rüden ten. einander. Prinz Louis Ferdinand, lang- Worte übersetzen, der Sinn mehr nach Auch vergangene Woche gab es kein jähriger Chef des preußischen Hohen- rosiger Apfelblüte denn nach reifem Urteil: Das Kemptener Gericht beraum- zollern-Flügels, weiß ein Lied davon Boskop gestanden. te einen späteren Entscheidungstermin zu singen. Mit scharfem Hausgesetz Die Affäre mit der „nackten Kanone“ an. Angie und Carlie, im dunkelblauen kämpft er gegen Mesalliancen. Blaublü- (Bild)hielt nur kurz. Der ungetreue Prinz Jaguar vorgefahren, verließen in demon- ter aus seinem Clan, die es zu den Gän- floh per Mountainbike über die Schwäbi- strativer Verliebtheit Justitias Hallen. Sie sen zieht, droht der Schwanentod: Sie sche Alb zurück zu Angie und versöhnte glauben nun besser zu wissen, wer tren- riskieren ihr Erbe. sich mit ihr. nen will, was sie zusammengefügt hat: Auch Erbprinz Karl Friedrich, 41, Doch so einfach ließ sich das Eheglück nicht hoheitliche Sorge um reines Blau- Thronfolger der schwäbischen Linie des nicht runderneuern. Der stürmische blut, sondern schnöde Geldgier. Würde Hauses, wacht streng darüber, daß nicht Adelsmann hatte sich einen Anwalt ge- die Ehe annulliert und damit festgestellt Namensräuber oder verarmte Anver- nommen, der auf Annullierung klagte. werden, daß Prinz Carl Alexander ge- wandte das edle Prinzen-Logo inflatio- Begründung: Der Hochwohlgeborene schäftsunfähig ist, könnte er, wie Angie fürchtet, auch nicht ei- ne sehr eventuelle Erb- schaft von sächsischen Latifundien antreten. Der „dicke Batzen“ (Angie) fiele an die Erbfeinde. Doch was immer die Gerichte sagen, Prinz und Prinzessin wollen, notfalls und wenn sie nicht gestorben sind, „nochmal heiraten“ und dann „ein Hotel eröffnen und dort glücklich leben“ (An- gie). Bis dahin allerdings muß Gattin Angela weiter in Nizza als Klei- derdesignerin für die bessere Gesellschaft schaffen, während er sich – Adel verzich- tet – in Dietmannsried- Überbach mit dem Job „Mädchen für alles“ im Landgasthof „Rößl“ auf seine Karriere vor- Prinzenpaar Angela, Carl Alexander: Mit dem Mountainbike geflohen bereitet. Y

230 DER SPIEGEL 12/1994 WISSENSCHAFT PRISMA

Mißbildungen Fehlalarm an der Waterkant? Mit einer Horrormeldung erschreckte das ARD-Magazin „Monitor“am Donnerstag letzter Woche werdende Mütter inNorddeutschland: „Auf Anhieb“,hießesindem Bericht, habe die „Monitor“-Mannschaft an der Nordseeküste 20 Kinder gefunden, „die ohne Hände geboren wurden“. Al- lein im Umfeld von Wilhelmshaven liege „die Zahl dieser seltenen Fehlbildungen bis zu 18mal höher“ als im übrigen Bundesgebiet. Damit knüpfte „Monitor“ an Berichte aus Großbritannien und Nordirland an, wo gleichfalls Babys mit Fehlbildungen der Gliedma- ßen Aufsehen erregt hatten. Un- tersuchungen hatten ineinem von sechs verschiedenen Gebieten er- geben, daß die Zahl der Mißbil- Heuschreckenschwarm dungsfälle im Rahmen der übli- chen Schwankungen liegt. Das- Mars oder gar einem fernen Umwelt selbe, meinen Experten, könnte Sonnensystem, sondern aus auch für die von „Monitor“ prä- den Werkhallen des amerika- Pilze gegen sentierten Mißbildungen in den nischen Hubschrauberbauers Regionen an der Waterkant gel- Sikorsky Aircraft. 75 Flug- Heuschrecken ten.Soistder „Interessengemein- stunden hat das ferngelenk- Mehr als 400 Millionen Dol- schaft Arm- und Handfehlbildun- te Robotvehikel „Cypher“ lar wurden zwischen 1985 gen“, die 130betroffene Familien schon hinter sich. Zwei vier- und 1989 in Afrika aufge- vertritt, keine Häufung solcher blättrige Rotoren im Inneren wendet, um der Heuschrek- Fälle in Küstennähe aufgefallen. des ringförmigen Flugkör- kenplage Einhalt zu gebie- Auch für einen – von „Monitor“ pers halten das bizarre Ge- ten. Über elf Millionen Li- behaupteten – bundesweiten An- fährt in der Luft. Als Antrieb ter des Organophosphor-In- stieg angeborener Behinderun- dient ein – nach dem Wan- sektizids Fenitrothion wur- gen gibt es „keinerlei Anhalts- kelprinzip arbeitender – den dabei versprüht. Doch punkte“, so Professor Eberhard 52-PS-Zweitaktmotor. Das nach wie vor suchen die Mißgebildetes Kind in Passarge vom Institut für Human- leichtgewichtige und sparsa- schon in der Bibel erwähn- Wilhelmshaven genetik an der Uni Essen. me Fluggerät (Durchmesser: ten Kahlfresser periodisch knapp zwei Meter; Maximal- weite Teile Afrikas und gewicht: 140 Kilo) soll bis zu Asiens heim. Britische Wis- Computer zerns entwickelt wurde zwölf Stunden in der Luft senschaftler setzen nun auf (Mindestgebot: fünf Dollar), bleiben können. Sikorsky einen einfachen Pilz namens Auktion oder das neue Software-Pa- sieht mannigfache Einsatz- Metarhizium flavoviride. ket „Ethernet Sniffer“, das möglichkeiten für die Unter- Die Forscher haben ent- im Netz die Funktionssicherheit von tasse nicht nur im militäri- deckt, daß dieser Pilz nur Versteigert wird am PC-Bild- Computernetzen garantieren schen, sondern auch im zivi- auf Insekten wächst und die- schirm, Gebote können auf soll (Mindestgebot: 3000 len Bereich, etwa bei Erkun- se durch eine Verstopfung der Computertastatur einge- Dollar). Gebote können als dungsflügen, wenn nach ihres Zirkulationssystems tippt werden: „Die erste In- elektronische Post (E-Mail) Großbränden gefährliche abtötet. Zwar kommt Me- ternet-Auktion“, bei der das oder auch per Telefon einge- Gase freigesetzt werden und tarhizium auch in der nor- weltumspannende Datennetz reicht werden. Der Meistbie- den Zugang zum Brandherd malen Umwelt der afrikani- (mehr als 20 Millionen Be- tende bei der Museumsaukti- erschweren, oder auch nach schen Heuschrecken vor, nutzer) als „virtuelle Aukti- on erhält darüber hinaus ei- Naturkatastrophen. doch nur in den kurzen onshalle“ dient, hat jetzt das nen Siegerpreis, der von Mi- Niederschlagsperi- Computer Museum in Bo- crosoft-Chef Bill Gates über- oden. Bei Feldversu- ston (US-Staat Massachu- reicht wird: das Computer- chen in Benin, Niger setts) angekündigt. Für die spiel-Set, das sich Gates für und Mauretanien ha- Versteigerung, die vom 22. den Fall wünschen würde, ben die Forscher eine bis zum 29. April stattfindet, daß er „auf einer einsamen pilzhaltige, ölige Emul- wird ein vernetzter Muse- Insel (mit Stromanschluß) sion versprüht und da- ums-PC zum „On-line-Auk- strandet“. mit auch außerhalb der tionator“ umfunktioniert, im Regenzeit gute Erfolge Angebot sind originale Hard- Technik erzielt. Die Wahr- ware-Devotionalien aus der scheinlichkeit, daß die Geschichte der Computerre- Irdische Heuschrecken gegen volution. Ersteigert werden das Insektizid ebenso können beispielsweise der Untertasse resistent werden könn- Pappmodell-Computer „Car- Nun gibt es sie wirklich, die ten wie gegen chemi- diac“, der in den Bell-Labo- „Fliegende Untertasse“ – sche Mittel, halten die ratorien des AT&T-Kon- aber sie kommt nicht vom Fluggerät „Cypher“ Forscher für „gering“.

DER SPIEGEL 12/1994 231 Behandlung mit Ballonkatheter: „Patienten, die vier- oder fünfmal dilatiert wurden, sind keine Seltenheit“

Medizin BLINDEKUH IM PUMPMUSKEL Herzchirurgen bauen Umgehungswege („Bypass“) für den infarktbedrohten Muskel. Kardiologen weiten die verstopften Adern mit Ballonkathetern. Jetzt liegen die beiden Disziplinen im Clinch: Zocken die Kardiologen zuviel Geld ab, und landen die Patienten am Ende doch auf dem OP-Tisch?

er amerikanische Herzchirurg mißbraucht, kritisierte Robicsek: Die nur an Engstellen in einem einzelnen Francis Robicsek, 68, ist ein Mann Kardiologen dilatierten „viel zu häufig Herzgefäß heran, dilatieren sienun schon DmitBiß:TrockeneDiskurseaufwis- und viel zu früh“, sie belästigten ihre Pa- mehrere Kranzarterien gleichzeitig: „Ein senschaftlichen Tagungen belebt er gern tienten mit diesem Eingriff ein Leben sehr rasch ansteigender Trend,“ meint mit ironischen Seitenhieben und bösen lang. Dauerhafte Abhilfe und damit Ru- der Kieler Kardiologe Rüdiger Simon; Scherzen. Diesmal, auf der Jahrestagung he vor dem Arzt verschafften dem Herz- auch komplizierte Verschlüsse sind kein der Deutschen Gesellschaft für Thorax-, kranken eher die Chirurgen mit der Hindernis mehr. Herz- und Gefäßchirurgie in Bonn, zi- klassischen Bypass-Operation. „Wir haben unser Monopol verloren“, tierte Robicsek seinen Landsmann Mark Mit Spott, Klagen und harschen Vor- sagt Niels Bleese, Herzchirurg am Ham- Twain: „Wer einen Hammer in der Hand würfen reagieren zur Zeit die mit Kno- burger Albertinen-Krankenhaus. Bibli- hat, sucht auch nach Möglichkeiten, chensäge und Skalpell hantierenden sche Töne schlägt der Aachener Herz- draufloszuschlagen.“ Herzoperateure auf den Boom der Dila- operateur Bruno Messmer an, der auf der Der von dem alten Zyniker entlehnte tationen. Das scheinbar simple Verfah- Bonner Tagung Ende Februar fragte: Spruch war auf die Konkurrenz gemünzt ren, von Andreas Grüntzig 1977 erst- „Was fällt nun noch vom Tische des – die Zunft der Kardiologen, der nicht mals angewandt, hat sich seit Beginn der Herrn und bleibt übrig für die Knechte?“ operierenden Herzspezialisten, die den neunziger Jahre explosionsartig verbrei- Der enorme Aufschwung der noch jun- Chirurgen zunehmend die Butter vom tet. gen „Dehnungstherapie“ gehe auch zu Brot nehmen. Mit der Methode der Bal- Fast doppelt so häufig wie der opera- Lasten der Patienten, hieß es. Übermütig londilatation machen die Kardiologen, tive Bypass wird am kranken Herzen gewordene Kardiologen spielten mit ih- fast unblutig, verengte Herzkranzgefäße mittlerweile der Ballonkatheter einge- rem Gerät im Gefäßsystem „Blindekuh“ wieder durchgängig, vielfach ersetzt die setzt, um sklerotische Ablagerungen an (Messmer). Nicht selten müßten Chirur- mechanische Aufdehnung eine Operati- die Gefäßwand zu drücken; noch 1987 gen mit Notfalloperationen lebensbe- on am offenen Herzen. war das Verhältnis umgekehrt. Die chir- drohliche Schäden reparieren, die eifrige Das subtile Werkzeug der Kardiolo- urgische Umgehung blockierter Adern Dilateure ihnen eingebrockt hätten. Es gen, der feine, am Ende aufblasbare mit einer eingenähten Venenbrücke galt fehle vor allem die in der Herzchirurgie Dehnungsschlauch, werde jedoch, wie damals noch als maßgebliche Therapie. längst etablierte Qualitätskontrolle, be- der Twainsche Hammer, zunehmend Wagten sich anfangs die Kardiologen mängelte Bleese.

232 DER SPIEGEL 12/1994 WISSENSCHAFT Blockade gelockert Blockierte Herzkranzgefäße können operativ ten Gefahrenstelle. Mit 180 000 Umdre- oder mit einem Ballonkatheter behandelt werden. hungen in der Minute trägt der Bohrer Behandlung verstopfter Bei der chirurgischen Methode wird die verstopfte die störenden, starren Beläge ab. Herzkranzgefäße Strecke mit einer Umgehungsader (Bypass) Auf diese Weise konnten die Kardiolo- überbrückt; das überpflanzte Gefäß wird einer gen beispielsweise einem 75jährigen hel- Beinvene oder der inneren Brustwandarterie fen, dessen bereits 16 Jahre alter Bypass (Mammaria) entnommen. Bei der Ballon- Bypass hochgradig verengt war. Nachdem durch dilatation werden mit dem am Ende auf- die Rotablation der Weg bereitet war, blasbaren Herzkatheter Gefäßablagerun- konnte die Ballondilatation, mit einem eingepflanzte gen an die Arterienwand gedrückt. In Druck von sechs bis acht Atmosphären, Umgehungs- schwierigen Fällen wird zuvor der Weg die Arterie auseinanderpressen und dau- ader mit dem Rotablator freigefräst. erhaft weiten. „Der Patient brauchte sich in seinem Alter nicht noch einmal das Ballondilatation Brustbein aufsägen zu lassen“, sagt Ma- verengte rotierender Bohrkopf Herzkranz- they, „eine erneute Bypass-Operation arterie blieb ihm erspart.“ Mit raffiniertem Miniaturgerät versu- Ablagerung chen die beiden Hamburger Kardiologen Rotablator auch das Risiko zu vermindern, das im- elastische mer noch mit einer Dilatation verbunden Gefäßwand ist: Wenn bei der Entfaltung des Ballons Innenschichten der Gefäßwand beschä- digt werden und einreißen, droht ein In- Der Katheter wird farkt. Nur eine sofortige Bypass-Operati- durch die Leisten- Ablagerung arterie bis in die on, bei der die Chirurgen für die plötzlich Herzkranzarterie Ballonkatheter verschlossene Strecke eine Umgehung geschoben. schaffen, konnte bislang in solchen Fäl- len den Patienten retten. Anreiz für den Mißbrauch der Metho- herkömmlichen einfachen Herzkatheter Dieses gefürchtete Gefäßtrauma kön- de könnten die üppigen Honorare sein, untersucht. Nach der Diagnose einer nen die Kardiologen nun mit Hilfe soge- die Dilatationen mitsamt den dazugehö- Herzkranzgefäßerkrankung behandel- nannter Perfusionskatheter reparieren, rigen teuren Materialien und den diagno- ten die Kardiologen dann in über 3000 die durch seitliche Löcher ihres Ballons stischen Katheteruntersuchungen ein- Fällen die Patienten mit „interventionel- den Herzmuskel, wenn auch einge- bringen. So sehen es mittlerweile auch len“ Katheterprozeduren der verschie- schränkt, weiterhin mit Blut versorgen. Ärzte anderer Fachrichtungen: Das densten Art. Bis zu 45 Minuten lang bleiben die blut- „Koronarklempnerunwesen“, schimpft Langstreckige und besonders heikel spendenden Lochballons entfaltet – in der Hamburger Internistenfunktionär gelegene Aderengpässe, die einer Bal- der Regel Zeit genug, um die eingerisse- Hanno Scherf, zeige eine „katastrophale londilatation allein nicht zugänglich wä- nen Wandschichten der Herzgefäße wie- Fehlentwicklung an“. Die Ressourcen ren, können neuerdings mit Hilfe des der miteinander zu verkleben. der Medizin würden „aufgebraucht von „Rotablators“, eines diamantbeschich- „Wenn wir damit Pech haben“, so der Technik“: Mit 40 Millionen Mark teten, olivenförmigen Bohrkopfes, frei- Schofer, „bleibt immer noch der Stent“ – jährlich verschlingen in der Hansestadt gefräst werden: Nachdem die Ärzte ei- eine winzige Metallstütze, die wiederum fünf kardiologische Großpraxen 3,1 Pro- nen millimeterdünnen Katheter bis ins über den Ballonkatheter an die Scha- zent des Gesamtbudgets der rund 3000 kranke Herzkranzgefäß dirigiert haben, densstelle gebracht wird und das gerisse- Hamburger Kassenärzte. gelangt, auf einen nachgeschobenen ne Gewebe an die Gefäßwand andrückt. Weit über 60 000Dilatationen am Her- „Führungsdraht“ gefädelt, der Rotabla- Diese Prothese überzieht sich im Lauf zen werden mittlerweile in Deutschland tor samt Druckluftturbine zur verkalk- weniger Wochen mit einer körperei- pro Jahr vorgenom- genen Gewebsschicht und integriert sich men, die Zahl steigt in die Gefäßwand. weiter. Die Hochburg Monopol verloren In der Hamburger Praxis bahnen die der Dilateure ist Ham- Anzahl der Ballondilatationen und Bypass- Kardiologen der Blutversorgung des burg, mit weitem Ab- Operationen in den alten Bundesländern Herzmuskels auch mit Laserlicht den stand vor Hessen (mit 60 000 Weg, vor allem bei stark oder ganz ver- der Metropole Frank- schlossenen Engpässen, abhängig von furt). In der Hansestadt der Beschaffenheit und Lage der Gefäße. zeigt vor allem die 50 000 Ballon- So konnte einer 34jährigen geholfen High-Tech-Praxis der dilatationen werden, der schon das Kinderwagen- Spezialisten Detlef Ma- 40 000 schieben schwere Herzschmerzen verur- they und Joachim Scho- sachte: Sie hatte zehn Wochen vor dem fer, in welchem Aus- Eingriff unbemerkt einen Infarkt über- maß die Fortentwick- 30 000 standen. lung des Verfahrens Nachdem der Versuch mißlungen war, binnen weniger Jahre 20 000 Bypass- das blockierte Gefäß auf herkömmliche das Repertoire der An- Operationen Weise zu weiten, setzten die Kardiologen wendungsmöglichkei- bei ihr den Laser ein. Über einen extrem ten erweitert hat. 10 000 dünnen Führungsdraht prasselte aus der Rund 7000mal wur- Spitze des Laserkatheters eine Energie den in der Hamburger von 55 Millijoule pro Quadratmillimeter Praxis seit 1990 Patien- 1978 1980 1985 1990 1992 Oberfläche auf die sklerotische Stelle. ten ambulant mit dem Ein schmaler Kanal war damit gebahnt,

DER SPIEGEL 12/1994 233 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite TECHNIK

durch den nun der Ballonkatheter einge- führt und entfaltet werden konnte. „Die Automobile Kranzarterie wurde vollständig eröffnet, die Beschwerden der Patientin sind be- seitigt“, berichten die Ärzte. Solche Glanzleistungen werden jedoch Wind im Netz getrübt durch eine hohe Rückfallrate: Fast jeder dritte Patient muß binnen drei Ohne Preiserhöhung bringt Porsche bis sechs Monaten erneut zum Dilatie- das neue 911 Cabriolet auf ren. „An dieser hohen Wiederverschluß- rate“, räumen Mathey und Schofer ein, den Markt – erstes Produkt aus „hat sich seit Grüntzig nichts geändert.“ der neuen „Kaizen“-Ära. Ursache der erneuten Verengung ist of- fenbar ein überschießendes Zellwachs- tum, mit dem die Gefäßwand auf den eisterhaft gleitet das exotische Zu- Eingriff reagiert. Neugebildetes Binde- behör hinter den Sitzlehnen des gewebe hemmt den Blutfluß. Gneuen Porsche 911 Cabrio empor, Schon überlegen die Kardiologen, wie während sich das Verdeck beim elek- sie künftig zur Vorbeugung wachstums- trisch ferngesteuerten Öffnungsvorgang hemmende Substanzen über den Dilata- achtern in seinen Ruheplatz bettet. tionsballon gleich mit einschleusen könn- Simple Mechanik bewirkt den Ef- ten. Doch bislang ist das Problem unge- fekt. Ein mit dem Verdeckgestänge löst. So landen, nach einer Serie von Di- verbundener Schlepphebel drückt den latationen, viele Herzpatienten am Ende ersten vollautomatischen Windabweiser doch noch auf dem Operationstisch. der Automobilgeschichte gen Himmel. „Inzwischen sind Patienten, die vier- Voll ausgefahren steht dieser wie ein oder fünfmal dilatiert wurden, keine Sel- hochgeschlagener Mantelkragen schräg tenheit mehr“, berichtet der Frankfurter hinter den Kopfstützen – ein trapezför- Herzchirurg Hans-Peter Satter. miger Aluminiumrahmen, bespannt mit An den Befunden und Arztbriefen einem schwarzen Stoffnetz. können die Kliniker oftmals auch able- Das feinmaschige Gewebe bremst sen, wie manch überwiesener herzkran- rücklings einfallende Luftwirbel und ker Patient vorher regelrecht „abge- schützt somit auch bei höherem Tempo zockt“ worden ist, sagt Peter Kremer, kostspielige Designerfrisuren vor zer- selbst Dilateur und Kardiologe am Al- störerischen Turbulenzen. Doch dieses bertinen-Krankenhaus. Da werden bei- simple Instrument, das dem gehobenen spielsweise, in einer der großen Dilatati- Cabriofahrer die Kräfte vom Halse onspraxen, gleich routinemäßig „Ganz- hält, die er rief, wird nicht gratis mitge- körperangiographien“ gemacht: Herz-, liefert. Nieren- und Halsschlagadern werden in 490 Mark extra verlangt Porsche für einem Aufwasch, ohne Not, bei jedem das Windschott – zusätzlich zum Basis- Patienten per Katheter untersucht und preis von 142 620 Mark. Da leuchtet es durchleuchtet. nicht auf Anhieb ein, wenn Porsche- Die Krankenhausärzte seien überdies Vorstandschef Wendelin Wiedeking, „sensibilisiert“, weil sie sich „manches 41, betont, daß es sich hier um ein er- Wochenende mit Notfällen um die Ohren schlagen, die nach Dilatationen mit Blau- licht in die Klinik kommen“, klagt Kre- mer. Schwarze Schafe unter den Kolle- gen nutzten jede Gelegenheit zum Dila- tieren, die Verführung sei groß: Wäh- rend in den Kliniken Kardiologen und Chirurgen über diegünstigste Art der Be- handlung gemeinsam beraten, weist sich der Praxisarzt nach seiner Diagnose den Patienten gleich selbst zu. Weil Dilatationen, bei hoher Rückfall- rate, „oft bis zur Sinnlosigkeit wiederholt werden“ (Bleese), kann sich der anfängli- che Kostenvorteil der schonenderen Me- thode am Ende verflüchtigen. Peter Kal- ma´r, Herzchirurg an der Universitätskli- nik Hamburg-Eppendorf, errechnete an- hand einer Vergleichsstudie mit 300 Pa- tienten, daß vier Jahre nach der Bypass- Operation oder Dilatation unterm Strich beide Verfahren mit rund 28 000 Mark gleich teuer wurden. Auch die Sterblich- keit war in beiden Gruppen mit etwa 1,5 Porsche-Vorstandschef Wiedeking Prozent vergleichbar. Y „Erst denken, dann schrauben“

236 DER SPIEGEL 12/1994 staunlich knapp kalkuliertes, also preis- te-Emma-Laden an zweieinhalb Meter wertes Automobil handle. hohen Regalen hochklettern muß, um 500 Millionen Mark investierte Por- zu seinen Teilen zu kommen. Die Rega- sche in die neuen Modelle, das 911 Cou- le wurden erst verkleinert und dann pe´, das im vergangenen Herbst einge- ganz abgeschafft. Statt dessen begleitet führt wurde, und das Cabrio, das jetzt jetzt eine Art Einkaufswagen, ins Band auf den Markt kommt. Trotzdem wur- eingeklinkt, den entstehenden Motor. den bei beiden Typen die Preise der Die Schrauber haben sofort Zugriff zum Vorgänger beibehalten – ein Novum in benötigten Material. der Geschichte des Sportwagenherstel- Um die japanische Botschaft in be- lers. Bisher holte sich das Unternehmen kömmliches Fließband-Deutsch zu die Entwicklungskosten für neue Mo- übersetzen (Iwata und seine Leute spre- delle mit saftigen Preiserhöhungen um chen weder deutsch noch englisch), ließ bis zu 20 Prozent wieder rein. Wiedeking an alle Mitarbeiter die Bro- Solange die Kunden Schlange stan- schüre „Der Qualitätsturbo“ verteilen, den, sprach nichts dagegen. Jetzt, da die in der die jüngst kreierte Comic-Figur Verkaufszahlen von einst über 50 000 „Tom Turbo“ in Schlagworten die pro Jahr auf rund 13 000 gesunken sind, schwäbische Variante der Kaizen-Philo- ist die Zeit des forschen Forderns vor- sophie verklickert. Das Ganze heißt bei. Preiserhöhungen könnten womög- „Porsche Verbesserungs-Prozeß“. lich die letzten Käufer vergraulen. In ihm verdichtet sich die filigrane In- Gespart wird daher im Werk durch dustrie-Mystik der Asiaten zu handfe- radikalen Stellenabbau. Knapp ein Drit- stem Zuffenhausener Alltagspragmatis- tel der Porsche-Mitarbeiter verloren in mus. Mit der Wucht einer Karosserie- den vergangenen Jahren den Job. presse stanzt Tom Turbo seine Sprech- Am härtesten traf es die Führungs- blasen in die schwäbische Schlossersee- ebenen, wo Wiedeking 38 Prozent der le: „Erst denken . . . dann schrauben.“ Stellen strich. Seiner Meinung nach tra- Oder: „Jedes Problem läßt sich lösen: gen die leitenden Mitarbeiter die turbomäßig!“

Neues Porsche 911 Cabrio: Ein schützender Kragen rettet die Frisur

Hauptschuld an der Misere: „Das Ma- Den größten Motivationsschub brach- nagement hat den Mitarbeitern am te das „PVP-Vorschlagswesen“, denn Band vorgeschrieben, ineffizient zu ar- für tüchtige Besserwisser setzt Tom die beiten.“ „Turbo-Belohnung“ in Aussicht. Jeder Wie es besser weitergeht, sollen die Verbesserungsvorschlag, der umgesetzt Porsche-Werker jetzt von Experten aus wird, bringt bis zu 100 Mark in bar und Fernost lernen. Als erster deutscher Au- Punkte. Fleißige Punktesammler dür- to-Boß holte Wiedeking einen japani- fen, je nachdem, was der Vorschlag ein- schen Sanierungstrupp ins Haus. spart, auf höhere Geldprämien hoffen. Yoshiki Iwata, einst Produktionsex- Sonderpreis am Jahresende: eine Har- perte bei Toyota, durchkämmt seit etwa ley-Davidson für 18 000 Mark. Die Zahl einem Jahr mit vier auf den kontinuierli- der Verbesserungsvorschläge nahm chen Verbesserungsprozeß („Kaizen“) nach Einführung des Systems von 12 auf geeichten Mitstreitern die Produktions- über 2000 pro Monat zu. hallen in Zuffenhausen, sucht Fehler Der Verbesserungsprozeß allein löst und findet Lösungen. Die sind teilweise Porsches Probleme nicht, solange die so simpel und einleuchtend, daß man Verkaufszahlen sich nicht deutlich erho- sich fragen muß, ob Wiedeking und an- len. Mit dem derzeitigen Modellpro- dere Produktionsfachleute jahrelang mit gramm sind keine großen Sprünge zu Scheuklappen durch die Fabriken gelau- machen. Die Ladenhüter 968 und 928 – fen sind. der eine zu langweilig, der andere viel So erkannte Iwata, daß es zeitrau- zu teuer – spielen kaum 30 Prozent der bend und ermüdend ist, wenn ein Mon- Verkaufszahlen ein. Den Löwenanteil teur am Motorenfließband wie im Tan- bringt der 911. Doch der Klassiker ist

DER SPIEGEL 12/1994 237 TECHNIK mit Preisen ab 125 760 Mark kein Hoff- renden Tanker „Nassia“, der im russi- Schwarzes nungsträger fürs große Volumen. Wiede- schen Schwarzmeerhafen Noworossijsk BULGARIEN MAKE- Meer king rechnet mit einer Gesamtprodukti- 98 500 Tonnen Rohöl geladen hatte und DONIEN s ru on von 18 000 Wagen für das laufende auf dem Weg nach Genua in Italien war. o p s Geschäftsjahr, einschließlich 2000 Auf- Das Frachtschiff zerbrach und knallte o GRIECHEN- TÜRKEI tragsfertigungen für Audi und Mercedes. frontal gegen das Ufer; der Tanker ging, LAND B Den großen Durchbruch könnte in durch Funkenschlag, in Flammen auf Tanker- zwei Jahren der neue Basis-Porsche und spie brennende Ölsuppe ins Was- Mittelmeer kollision „Boxster“ bringen, der nur 70 000 Mark ser. Schlechte kosten soll. Wenn die Rechnung aufgeht, Schreiend sprangen die Besatzungs- Sicht dann werden in Zuffenhausen wieder mitglieder, überwiegend Filipinos, von Schlechte 30 000 Autos pro Jahr vom Band laufen. Bord. Mindestens 19 starben im Feuer. Sicht, Beykoz Porsche wäre dann immer noch eine der Nur wenige wurden mit schwersten Ver- starke Starke Strömung Strömung kleinsten, aber auch wieder eine der sta- brennungen gerettet, zumeist von Fi- bilsten Autofabriken der Welt. Y schern wie Mehmet Uncu, die mit ihren ächzenden Holzbooten todesmutig ins Schlechte Sicht, Flammenmeer schipperten. Schlepper Bebek Tankerunglück zogen die brennende „Nassia“ später starke Strömung zum Löschen ins Schwarze Meer hinaus. Besiktas Wäre es nur wenige Kilometer weiter südlich zu dem Zusammenstoß gekom- Istanbul Dichter Verkehr Fatale Eile men, hätten die Bürger von Istanbul mit durch Fähren einer Katastrophe rechnen müssen. Chaotisches Gedränge im Schiffs- Brutal erinnerte das Inferno die Ein- verkehr führte zur jüngsten wohner der Zehn-Millionen-Metropole 10 Kilometer an die hohen Risiken des ungezügelten Tankerkatastrophe im Bosporus. Schiffsverkehrs vor ihren Haustüren. Leuchtturm Lotsenstation „Das ist so, als würde man täglich mit ei- er Fischer Mehmet Uncu kippte ner Ladung Atombomben durch die In- sich gerade ein Schlückchen nenstadt von Istanbul fahren“, erregte Tag eineinhalb Millionen Pendler beför- DBranntwein in die Kehle, als kurz sich der türkische Umweltminister Riza dern, sowie Hunderte von Fischerboo- vor Mitternacht das Meer in Flammen Akc¸ali. ten, Ausflugsdampfern und Seglern – stand: „Ich war überzeugt, der Jüngste Die 31 Kilometer lange, äußerst kur- ein heilloses Durcheinander, das immer Tag ist angebrochen.“ venreiche Meerenge, die das Mittelmeer wieder zu Unfällen führt. Doch das Höllenfeuer, das am vor- mit dem Schwarzen Meer verbindet, Etwa im November 1979, als schon letzten Sonntag den Himmel über Istan- teilt die Stadt Istanbul in zwei Hälften. einmal ein Frachter gegen einen – vor bul erleuchtete, war Menschenwerk. Im An einigen Stellen ist die Wasserstraße Istanbul vor Anker liegenden – Tanker Bosporus, rund sieben Kilometer nörd- mit ihren heftigen Strömungen nur 700 krachte. Drei gewaltige Explosionen lie- lich der türkischen Millionenstadt, Meter breit (siehe Karte). Durch dieses ßen die Stadt wie bei einem Erdbeben rammte der zypriotische Frachter „Ship- Nadelöhr fahren täglich 140 Tanker und erzittern, im Umkreis von sechs Kilome- broker“ den unter gleicher Flagge fah- Frachtschiffe, dazu 1000 Fähren, die am tern zersplitterten die Fensterscheiben. Nur günstige Winde verhinderten damals, daß die hundert Meter hohen Flammenzungen, die aus dem brennenden rumänischen Tanker „Independenta“ loder- ten, auf den Stadtteil Ka- diköy übergriffen; fast wäre der historische Sul- tanspalast eingeäschert worden. Noch zwei Mo- nate nach der Havarie brannte das Schiffswrack wie eine mahnende Fackel. Unter dem beklem- menden Eindruck des Desasters hatte dietürki- sche Regierung eine Änderung des Meer- engenabkommens von Montreux aus dem Jahre 1936 verlangt, verge- bens. Der Knebelver- trag, der fristgemäß erst 1996 gekündigt werden kann, garantiert sämtli- Brennender Tanker „Nassia“: „Als führe man mit Atombomben durch die Innenstadt“ chen Handelsschiffen

238 DER SPIEGEL 12/1994 der Erde –Tagund Nacht und kostenlos – freie Fahrt durch den Bosporus. Die Türkei hat nicht einmal das Recht, ausländische Kapitäne zu zwingen, sich für die schwierige Passage einen Lotsen an Bord zu holen. Zum 1. Juli wird eine Regelung angestrebt, wonach jeweils nur noch ein Gefahrenschiff zur Zeit durch die Meerenge steuern darf, verbunden mit einer Einbahnstraßenregelung für al- le übrigen Frachtschiffe während dieser Passage. Am Geldmangel scheiterten vor zwei Jahren auch die jetzt wieder hervorgehol- ten Pläne, zur Lenkung des Schiffsver- kehrs für 100 Millionen Dollar hochmo- derne Radarstationen an den Ufern des Bosporus aufzustellen. Unterdessen stieg die Zahl der Schiffs- bewegungen weiter an, innerhalb der letzten drei Jahre um fast 20 Prozent. Vor allem Rußland, das Seehäfen im Balti- kum verloren hat, schafft mit seinen Pöt- ten immer mehr Öl und Gas durch den Bosporus gen Westen. Der Verkehrsinfarkt auf der engen Wasserstraße und die damit verbunde- nen Gefahren, so warnte die türkische Regierung Ende März vergangenen Jah- res in einem vertraulichen Bericht an die International Maritime Organization, hätten inzwischen „erschreckend kriti- sche Ausmaße erreicht“. Am vorletzten Freitag, nur zwei Tage vor der feurigen Kollision, hatten Greenpeace-Aktivisten von einer Bosporus-Hängebrücke ein riesiges Transparent entrollt: „Stoppt die Todesschiffe.“ Wie sich vergangene Woche zeigte, stellt ein Tankerunglück in der Meerenge nicht nur eine mörderische Bedrohung für Mensch und Natur dar, sondern ge- fährdet auch den ungehinderten Schiffs- verkehr. Nach dem Crash wurde der Bos- porus für vier Tage gesperrt, 350 Schiffe steckten im Stau, für die Reeder ein teu- rer Aufenthalt: Die täglichen Betriebs- kosten eines Tankers liegen bei 100 000 Mark. Ein Lotse ist billiger. Allerdings: Ausgerechnet der Lotse hat womöglich das Unglück der vergan- genen Woche verursacht. Ohne Zwi- schenfall, so eine Version des Unfallher- gangs, hatte er die „Shipbroker“ am Zen- trum von Istanbul vorbeigeführt. Wenige Kilometer vor der Mündung ins Schwar- ze Meer, aber noch in der tückischen Meerenge, ließ der Lotse das Frachtschiff dann auf den entgegenkommenden Tan- ker „Nassia“ zusteuern – offenbar in der Absicht, von dem einen auf das andere Schiff überzuwechseln und dort den Lotsendienst zu übernehmen. Vermut- lich bei diesem waghalsigen Manöver rumste es. Die Erklärung für die fatale Eile: Lot- sen im Bosporus verdienen nur einen Hungerlohn; ohne ein Trinkgeld von den Schiffskapitänen kämen sienicht über die Runden. Y TECHNIK

Universitäten entwickelt wurde und die Gesponnen wurde das Datengewebe Datennetze demnächst als kommerzielles Programm von Berners-Lee, der 1984 als EDV-Be- von der US-Firma Spry vermarktet wer- rater zum Kernforschungszentrum Cern den soll. gekommen war. Die Gemeinschaft der Die notwendigen Rechneroperatio- Hochenergie-Physiker, stellte der Com- Zielloses nen laufen verdeckt im Hintergrund ab putermann damals fest, pflegte „keine wie die digitale Vermittlung bei einem hierarchische, sondern eine chaotische Übersee-Telefonat. Auch bei der zu- Informationsstruktur“ – vielfach ver- Blättern künftigen Datenautobahn soll die Com- zweigt wie das Netz einer Spinne. putertechnik gewissermaßen unter der Ein Aufsatz des US-Wissenschaftlers Ein mausgesteuertes Such- Straßendecke versteckt werden. Vannevar Bush, der im Zweiten Welt- programm hilft bei der Navigation Statt Wähltasten wird beim World krieg die amerikanische Regierungsfor- Wide Web auf dem Bildschirm zunächst schung koordiniert hatte, brachte den im weltumspannenden ein „Einstiegspunkt“ aus Text und Gra- EDV-Experten auf die Idee zum World Rechnerverbund „Internet“. fik angezeigt, der einer Zeitschriftensei- Wide Web. Bereits 1945 hatte Bush in te ähnelt. Wenn der Informationssucher der US-Zeitschrift The Atlantic Monthly in diesem „Hypertext“ mit der Compu- die überbordende Informationsflut be- er Weg zu Amerikas „First Cat“ klagt. Für die Nachkriegszeit führt durch den Computer. Wer schlug er vor, eine Maschine zu Ddas Neueste über „Socks“, die ge- bauen, die Informationen su- fleckte Katze der US-Präsidentenfamilie chen und organisieren könnte. Clinton, erfahren will, muß sich ins „Memex“, wie der US-For- weltumspannende Datennetz „Internet“ scher seinen Apparat nannte, begeben, an das Millionen von Rech- sollte als eine Art „verlängertes nern angeschlossen sind. Gedächtnis“ funktionieren. Die „Socks“-Anfrage wird zuerst über Die Zukunftsmaschine, so das einen Vermittlungsrechner, sodann Konzept, würde bestimmte As- über Universitätscomputer in Chicago soziationsketten des Benutzers und North Carolina bis in eine Daten- aufzeichnen und automatisch bank in Washington geleitet. Doch der nachvollziehen. Benutzer muß sich um Anwahlnum- EDV-Mann Berners-Lee mern, Dateiformate oder Abfrage-Dia- übertrug die Idee auf das Inter- lekte für Datenbanken nicht kümmern: net. Dort verfügt jeder einzelne Ein Mausklick genügt, um das Katzen- Rechner über eine individuelle dossier aus dem Weißen Haus auf den Kennziffer, ähnlich einer An- neuesten Stand zu bringen. schlußnummer im internatio- Den unkomplizierten Zugang zum nalen Telefonnetz. Das World wesentlichen und unwesentlichen Wis- Wide Web basiert auf einer spe- sen der Internet-Welt eröffnet eine spe- ziellen Programmsprache, mit zielle Software, die von dem britischen deren Hilfe die Internet-Rech- Computerfachmann Tim Berners-Lee ner angesteuert werden – ver- im Europäischen Kernforschungszen- gleichbar etwa der Steuersoft- trum Cern entwickelt wurde: das ware eines Telefon-Vermitt- „World Wide Web“ (WWW). Das lungsrechners. „weltweite Spinnennetz“, in das sich Das Ergebnis: Was von US- neuerdings auch die Benutzer gewöhnli- Vordenker Bush ursprünglich cher Personalcomputer einklinken kön- zum Eindämmen der Informa- nen, erleichtert die Navigation durch die Internet-Angebot „Tango-Schule“ tionsflut gedacht war, trägt nun Weiten des Rechnerverbunds. Heiße Verweise im weltweiten Computerver- Immer mehr Onliner erkunden inzwi- bund dazu bei, daß sie unauf- schen auf diese Weise das Internet, das termaus bestimmte Stellen anklickt, so- haltsam weiter ansteigt. Britische In- als Modell der von der US-Regierung genannte Hot Links („heiße Querver- ternet-Fans machten sich einen Jux geplanten „Datenautobahn“ gilt. Hoch- weise“), wird er augenblicklich zu weite- daraus: Abfragen läßt sich dort der per konjunktur haben Firmen und Vereine, ren Rechnern durchgestellt. Videokamera festgehaltene Pegelstand die privaten Benutzern außerhalb der Wie ein Händler auf dem Börsenpar- der Kaffeemaschine im Computerlabor Universitäten gegen Gebühr einen Zu- kett, der per Handzeichen Aktienbewe- der Universität Cambridge in Eng- gang zum Internet vermitteln, in gungen am anderen Ende der Welt aus- land. Deutschland etwa Eunet in Dortmund, löst, schaltet der „Web“-Benutzer zwi- WWW-Sitzungen am Bildschirm ver- Netmbx in Berlin, Pelikan & Partner schen Knotenpunkten in Australien, laufen oftmals wie das ziellose Blättern oder Hanse e.V. in Hamburg. Rußland oder Costa Rica hin und her, in einem vielbändigen Lexikon: Der Das World Wide Web (Computerjar- häufig ohne zu wissen, mit welchem Leser schlägt es an einer Stelle auf, gon: „W3“) gibt einen Vorgeschmack Erdteil er gerade verbunden ist. folgt dann Querverweisen, nimmt dazu auf die multimediale Zukunft. So lassen Während sich der Computerbenutzer weitere Bände aus dem Regal und hat sich über WWW bereits alle im Netz an- auf diese Weise durchs weltweite Daten- am Ende womöglich vergessen, wel- gebotenen Dienste – Text-, Audio- und gewebe hangelt, wird sein „Assoziati- ches Stichwort am Anfang seiner Su- Videodaten – durch Anklicken von onspfad“ vom Rechner im Hintergrund che stand. Symbolen und Stichwörtern auf dem automatisch mitprotokolliert. So ent- Auch als Einkaufsdienst und Show- Bildschirm abrufen, etwa mit Hilfe der steht ein Dokument der Suche, das je- Übermittler wird das WWW-System PC-Software „Windows“ und der Such- derzeit wieder konsultiert und beliebig inzwischen benutzt. Videoclips über hilfe („Viewer“) „Mosaic“, die an US- erweitert werden kann. die Geschichte des Paartanzes liefert

240 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite WISSENSCHAFT beispielsweise die Tango-Schule „Casa Rosada“ im schweizerischen Lausanne übers Internet. Den offenkundigen Unterhaltungs- wert des grenzüberschreitenden Daten- dienstes hat auch der Sprecher des Cern im benachbarten Genf schätzengelernt. An verregneten Nachmittagen, erzählt Neil Calder, schaut er zuweilen im Com- puter nach, was es im sonnigen Santa Monica (US-Staat Kalifornien) im Kino gibt. Y

Völkerkunde Kohl Daumen nach oben Warum geniert die Griechen, was Italiener als Anerkennung werten? Ein britischer Ethnologe analysiert die Gesten der Völker. Geißler Anhalter nders, mitunter auchstörend, istder Gestikulierende Deutsche: Höchstes Lob oder Aufforderung zum Analverkehr? Iren Art: Ob Reden, Trinken, Sin- Agen oder gar beim Streit – in all ih- Geste mit der geballten Faust und dem der geballten Faust ragenden Mittelfin- rem Tun, außer bei der Arbeit, neigen sie hochgereckten Daumen interpretiert der ger entgegenreckt und dessen Spitze zu jenem Überschwang, von dem kelti- in diesen Dingen besonders empfindliche gleichzeitig mit den Fingern der anderen sche Dichter soviel singen und sagen. Grieche wahlweise als Kastrationsan- Hand umfaßt. Als Gesprächspartner sind sie oft so schlag oder als Aufforderung zum Anal- Diese russische Spezialversion der al- laut und monologisch, daß selbst der Süd- verkehr. In Italien hingegen, wo der Po len Kulturvölkern geläufigen Mittelfin- länder mit seinem hypermotorischen eine Ebene ist, gilt derselbe Fingerzeig gergeste birgt allerdings erhebliche Risi- Maulwerk verstummt. Als Trinker unter- als Ausdruck höchster Anerkennung. ken für den Ausführenden – da setzt’s ziehen sie sich Exerzitien, bei denen auch „Es ist erstaunlich, wie wenig Gemein- dann schnell ein paar „poschtschjotschi- der Skandinavier neidvoll erschauert. samkeiten zwischen den Gebärdenreper- ny“, wie in Rußland die Maulschellen Gar nicht zu reden von ihrem le- toires der europäischen Völker beste- heißen; denn der dortige Mensch rea- thargischen Verhältnis zu Ordnung und hen“, resümiert Collett in seinem soeben giert in der Regel sehr prompt auf jed- Pünktlichkeit, das ohnedies osteuropäi- auf deutsch erschienenen Buch, das Art wede Form der Ehrverkürzung – ganz sche Dimensionen erreicht – wer jemals und Wesen der nationalen Verhaltens- im Gegensatz zum Iren, der Colletts Be- versucht hat, zum Beispiel einen irischen weisen und die Vielzahl der Gestikulati- obachtungen zufolge vor der Beohrfei- Autor zur rechtzeitigen Abgabe eines onsstile im europäischen Raum be- gung seines Beleidigers erst mal ge- Manuskripts zu bewegen, weiß, wovon schreibt – Pflichtlektüre für jeden Reise- mächlich „die Jacke auszieht und damit die Rede ist. tätigen, der Wert auf den Erhalt von Re- seine Kampfbereitschaft signalisiert“. Doch wiesehr sich die Iren auch immer putation und körperlicher Unversehrt- Wie der Keim das Licht kennt, ehe er anstrengen, all jene Eigenschaften zu le- heit legt*. durch die Erde stößt, so weiß der Ire ben, die der Umfragedeutsche an ande- Diesbezüglich Gefahr besteht in der schon als Kind, daß der Tyrannei der ren Völkern Europas ausdrücklich nicht Türkei zum Beispiel für Heiner Geißler, Uhr nur zu begegnen ist, indem man sie schätzt – es nützt den Iren nichts. der häufig die Spitze des Zeigefingers an bricht: 90 Prozent der Dubliner Schul- 88Prozent der Bundesbürger beharren die des Daumens anbiegt – das „Ringzei- uhren, freute sich die Irish Times über darauf, sie „uneingeschränkt“ zu mögen. chen“ gilt dort als geschlechtliches Ange- das Ergebnis einer behördlichen Erhe- Das ist Rekord, denn damit haben die bot an Mann und Frau. Achthaben sollte bung, befänden sich „trotz ständi- Deutschen an den Iren weniger auszuset- auch Helmut Kohl, wenn er sich in Italien ger Reparaturbemühungen im grund- zen als an jeder anderen Nation Europas, mit Daumen und Zeigefinger am Ohr- sätzlich begrüßenswerten Zustand mut- sich selbst eingeschlossen – oder können läppchen zupft: Es wäre peinlich, wenn willig herbeigeführter Funktionsuntüch- 70 Millionen Deutsche so tragisch irren? seine Gesprächspartner diese Geste nach tigkeit“. Welche Deformation im deutschen Landesgewohnheit als homosexuell ge- Kein Wunder, daß Collett nicht um- Wesen dafür verantwortlich ist, daß die tönte Beleidigung deuteten. hin kann, die Iren den „zeitvergesse- Krauts derart hibernophil sind, vermag Den Russen hingegen treibt man so nen“ Gesellschaften zuzurechnen, die auch Peter Collett nicht zu erklären. richtig in Rage, indem man ihm den aus im sonstigen Europa 15 Breitengrade Dafür weiß der britische Ethno-Psy- weiter südlich angesiedelt sind. chologe, weshalb griechische Autofahrer Aber Vorsicht, dort unten in Spanien, * Peter Collett: „Der Europäer als solcher . . . ist des öfteren mitteleuropäische Tramper unterschiedlich“. Kabel-Verlag, Hamburg; 252 Portugal, Griechenland und dem Süden windelweich prügeln: Deren Anhalter- Seiten; 29,80 Mark. Italiens verhält es sich mit dem Zeitbe-

242 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite WISSENSCHAFT griff beileibe nicht so einfach, wie dies die Menschen im „zeitbewußten“ Mit- tel- und Nordeuropa vermuten. Zwar betrachtet der Mediterrane die Zeit grundsätzlich als etwas, das sich den Anforderungen entsprechend aus- dehnt oder zusammenzieht und sich, der zyklischen Ordnung aller Dinge folgend, beständig selbst erneuert – ein Verständnis von Zeit, das es zum Bei- spiel dem Spanier ermöglicht, selbst wichtigste Tätigkeiten immer wieder auf „man˜ana“, auf morgen, zu verta- gen. Andererseits aber bedroht er jeden mit schwarzflammendem Sakrilegblick, der ihn etwa dazu aufforderte, sein stets zur gleichgewohnten Stunde eingenommenes Mittagsmahl oder, schlimmer noch, seine Siesta zu ver- schieben. Die Erklärung für dieses Paradox, das vor allem deutsche Funktionsmen- schen immer wieder in die schönste Raserei zu treiben vermag, liegt in der dem Spanier eingeborenen Fähigkeit, zwischen zwei Arten von Zeit zu unter- scheiden: der „geheiligten“, die wichti- gen Dingen wie Essen, Familie und der restlichen Freizeit vorbehalten ist; und andererseits der „profanen“, die für Die Italiener sind das waschaktivste Volk Europas das Geschäftsleben und alle damit ver- bundenen Unannehmlichkeiten gilt. „Während die Spanier durchaus be- reit sind, Ereignisse zu ignorieren, die in die profane Zeit fallen, widersetzen sie sich energisch jedem Versuch, ein Er- eignis zu verschieben, das zur heiligen Zeit gehört“, konstatiert Collett, der des weiteren beobachtet hat, daß i es die Deutschen mit der Hygiene bei weitem nicht so genau nehmen wie die Italiener, die das waschaktivste Volk Europas sind; ganz unten auf der Rangliste der Reinlichkeit stehen die Spanier, die dafür mit Abstand das meiste Parfüm verbrauchen; i der Engländer seine Augenbrauen hochzieht, wenn er seinem Ge- sprächspartner Aufmerksamkeit si- gnalisieren will, während der Ire in der gleichen Situation die Augen- brauen zusammenzieht – was Men- schen mit anderen mimischen Kon- ventionen den Eindruck vermittelt, die Engländer seien pausenlos über- rascht und die Iren chronisch ver- wirrt; i sich „die gesamte deutsche Kultur da- durch auszeichnet, daß sie von Schei- ße besessen“ sei – bescheuerte These, aber bitte, Mr. Collett, warum denn nicht: Schließlich kackten schon die

244 DER SPIEGEL 12/1994 WISSENSCHAFT

Raben Huginn und Muninn aus der Germanensage „vol fröide“ in die Weltesche Yggdrasill. Nicht zu leugnen ist allerdings, daß den Deutschen ein fasziniertes Interesse nicht nur am analen, sondern am gesamten uropoetalen Bereich eigen ist – eine Fi- xierung, die ihnen ein in ganz Europa ein- zigartiges Repertoire an einschlägigen Ausdrücken beschert hat. Als Ausländer ist Collett natürlich nicht in der Lage, den wahren Reichtum dieses Sprachschatzes zu ermessen. Die- ser liegt darin, daß es den Deutschen ge- lungen ist, viele asexuelle Begriffe erfolgreich zu analisieren – wobei Wörter wie „Anschiß“, „Verarschung“ oder „Arschkriecher“ Dilettantismen sind im Vergleich zu dem, was der Volks- mund zu bieten hat: „Furzschnüffel“ (Polizist), „Klistierfunse“ (Kranken- schwester), „Puparsch“ (dunkles Bier), „Furzfänger“ (Rock), „Furchenschei- ßer“ (Bauer), „Kackwühler“ (Klemp- ner) und, für den Beamten, den beson- ders einfallsreichen „Staatshämorrhoi- denreferendar“. Ebenfalls europäische Spitze sind die Deutschen, was die Zahl, vor allem aber die Poesie der Euphemismen angeht, die sie für jenes Organ gefunden haben, das Nietzsche das „ehrwürdige Symbol an sich“ nannte –etwa: Hanewackel, Lause- wenzel, Dingus, Dietz und Petermann; Zischerwachel, Götzenjeckel, Pemstel, Knief und Wurliblam; Triemel, Zacherl, Girigari, Pink und Kumpf und Lari- fari. Im europäischen Vergleich miserabel schneiden die Deutschen hingegen im Fluchen ab, worin sie über ethnosensible Blasphemien („Kruzitürken“) kaum hin- auskommen; daran vermögen auch die Bewohner der unter bayerischer Ver- waltung stehenden Gebiete mit ihrem Monumentalfluch („Himmiherrgottsa- kramentzefixallelujamilextamarscheiß- glumpfaregtz“) nichts ändern. Denn beim Fluchen sind die Spanier, deren Repertoire an wüsten Beschimp- fungen äußerst emotionsgeladen und provokativ ist, uneinholbar: Mit nie er- lahmender Begeisterung führen sie zum Zwecke der Ehrenkränkung Wörter wie „con˜o“ (Fotze) oder „cojones“ (Eier) im Mund. Immer wieder auch ein imposantes Miterlebnis ist, wenn sie dem Opfer ihrer Fluchattacken zu passiver Sodomie raten („Laß dich von einem Esel ficken“) oder ihnen das Unglaubliche („Ich scheiß’ dir in die Muttermilch“) androhen – ein Mangel an Subtilität, welche den Iren zu- mindest in dieser Hinsicht überreich zu eigen ist. Denn deren schlimmster Verwün- schungsfluch – na raibh tu olta ar feadh do shaoil uafassaigh – lautet: „Mögest du den erbärmlichen Rest deines Lebens nüchtern sein.“ Y

DER SPIEGEL 12/1994 245 PERSONALIEN

nach einem neuen Pressespre- cher umschauen. Matthias Ul- rich, 32, bisher Sprachrohr Poltes, steigt aus. In der italie- nischen Hafenstadt La Spezia will er eine Kneipe mit deut- schem Bier und deutschen Snacks übernehmen. Der ge- lernte Eisenbahner und Schauspieler, seit der Wende im Öffentlichen Dienst, woll- te „dieses selbstmitleidige Os- si-Bewußtsein, diese traurige Miene als Einheitsgesicht“ nicht mehr ertragen: „Das geht mir einfach gegen den Strich.“

oschka Fischer, 45, hessi- Jscher Umweltminister, stieg auf zur Leitfigur des Schönheitskults. In der In- formationsschrift Cosmetic Berlusconi, Sohn World präsentiert die deut- sche „Arbeitsgemeinschaft eronica Lario Berlusconi, 38, Ehefrau des Fernsehen gilt dort – wie überall in Steiners der Fachkosmetikerinnen“ VMedienmagnaten Silvio Berlusconi, hält Schulen – als schädlich für Kinderseelen und den fülligen Politiker der wenig von dem Medium, das ihren Mann ist zumindest in den ersten Schuljahren ver- Grünen als Beispiel für eine reich und berühmt gemacht hat. Im Park der pönt. Veronica Berlusconi teilt die Auffas- gepflegte äußere Erschei- Villa Arcore in der Nähe von Mailand, in sung der Schule und spielt dann schon lieber nung. Fischer wisse, so das der die Familie lebt, zieht sie biodynami- mit den Kindern. Nur am Sonntag dürfen Blatt über den früheren sches Gemüse. Die zwei ältesten ihrer drei die kleinen Berlusconis eine Stunde lang vor Turnschuhpolitiker, „wie Kinder, Barbara, 10, und Eleonora, 8, besu- dem Fernseher sitzen, unter Aufsicht des wichtig eine gute Hautpflege chen die Rudolf-Steiner-Schule in Mailand. Papas. ist“. „Hautpflege“, so wird der hessische Umweltmini- ster zitiert, sei für ihn „per- Buches „Mittendrin – Von angeboten werden, so Dema- sönlich Gesundheitsvorsor- der Großen Koalition zur ret im Le Soir Illustre´, sage ge“. Freilich müßten die Kos- Deutschen Einheit“ intensiv er: „Wenden Sie sich an die metikprodukte „natürlich, einem seltenen Gast auf Partei.“ Belgiens Christde- umweltfreundlich und mög- der politischen Bühne: Rut mokraten zwangen Demaret lichst aus Hessen sein“. Dem Brandt, der geschiedenen vergangene Woche unver- Grünen-Politiker Fischer, zweiten Frau des früheren züglich zum Rücktritt. den die Fachgazette als Zu- Kanzlers. Der einstige SPD- schauer im Fußballstadion Kanzlerkandidat Lafontaine illi Polte, 55, Oberbür- abbildet, ist die Ehrung schreibt es der Nachrede von Wgermeister von Magde- durch die Kosmetikerinnen- Brigitte Seebacher-Brandt burg und Präsidiumsmitglied zunft nicht recht erklärlich. zu, daß Willy Brandt seinen des Deutschen Städtetages, Allenfalls vor Fernsehauftrit- Lieblingsenkel im Wahl- muß sich vor den Kommunal- ten lasse er sich schminken, Ehmke, Rut Brandt, Lafontaine kampf 1990 fallenließ. wahlen in Sachsen-Anhalt und das „nur unter Protest“.

skar Lafontaine, 50, saar- ichel Demaret, 54, Brüs- Oländischer Ministerpräsi- Mseler Bürgermeister, hat dent und SPD-Vize, versuch- sich mit einem Zeitungsinter- te sich an der Witwe des im view um Amt und Würden Oktober 1992 gestorbenen geredet. Der Christdemokrat Ex-Kanzlers Willy Brandt zu gab auf die Frage, ob er je- rächen. Dazu ließ sich der mals Steuern hinterzogen ha- Saarländer in Unkel am be, die Antwort: „Ich hatte Rhein, dem Wohnort von noch nie die Gelegenheit da- Brigitte Seebacher-Brandt, zu, sonst hätte ich es getan.“ demonstrativ auf dem Wil- Im übrigen seien für ihn die ly-Brandt-Platz vor einer größten Betrüger die Rich- Brandt-Ehrentafel für Wahl- ter. Obwohl Katholik, lebe kampffotos aufnehmen. An- er nicht nach den Vorschrif- schließend widmete sich La- ten des Papstes, „der noch fontaine im Bonner Politiker- nicht mal weiß, wie man ein treff „Maternus“ anläßlich Kondom benutzt“. Wann im- der Vorstellung des Ehmke- mer ihm Bestechungsgelder Fischer (M.), Zuschauer

246 DER SPIEGEL 12/1994 ennifer Saunders, 34, und JJoanna Lumley, 47, briti- sche TV-Stars, machten mit 30 Jahre schlechtem Geschmack und scharfen Witzen die britische Knochenmehl TV-Nation kirre. Acht Millio- nen Fans genossen die allwö- chentliche, inzwischen been- dete Sendung „Absolutely Fa- bulous“ der beiden im BBC. Schon fragt die amerikanische Hochglanz-Society-Postille Vanity Fair: „Wann endlich können wir die Sendung in Amerika sehen?“ Nicht ohne Grund: Patsy (gespielt von Joanna Lumley) und Edina (Jennifer Saunders), die in der Sendung unablässig trinken, kettenrauchen und Drogen einwerfen, sind würdige Kon- kurrenten der britischen Schwarzhumoristen von Berger „Monty Python’s Flying Cir- cus“. Ein Beispiel: Edina er- erry Adler, 44, amerikanischer wartet den Besuch einer alten JJournalist, geriet ins Sinnieren Rivalin, fürchtet aber, diese über das vorzeitige Ableben von Ge- sundheitsaposteln. Anlaß war der Tod des amerikanischen Ernäh- rungswissenschaftlers Stuart M. Berger, der jetzt im Alter von nur 40 Jahren starb. Was Adler so faszi- niert: Berger habe zwar nie behaup- tet, er würde 100 Jahre, „aber er schrieb, er wüßte, wie man so alt wird“, noch dazu ohne zu altern. Der Experte für immerwährende Ju- gendlichkeit behandelte die Rei- chen und Schönen, und nicht nur Gewichtsprobleme. Mit seiner Lumley, Saunders „Kraft Diät“ und Vitamintherapie hielt er auch Krebs, Bluthochdruck, könnte ihr Übergewicht be- Arthritis und Immunschwächen für merken. Kurz vor der An- heilbar. Nur noch ein Unfall konnte kunft der Rivalin rauscht Pat- zum vorzeitigen Tod führen. Doch sy herein: „Tolle Neuigkeit!“ Berger starb im Schlaf und wog bei Edina: „Sie ist dick?“ Patsy: seinem Ableben 166 Kilo. Welchem „Viel besser.“ „Sie ist tot?“ Ernährungsguru kann da ein norma- „Sie ist blind!“ ler Mensch noch vertrauen? Adler führt den amerikanischen Verleger gal Presler, 50, oberster J. I. Rodale an, einen Verfechter IAnti-Terrorberater Israels, von Gesundheitsnahrung. Der hatte belehrte seine reiselustigen in der Dick-Cavett-Show behauptet, Landsleute per Flugblatt er würde mit seiner Lebensweise, über Grundregeln der Sicher- er nehme seit 30 Jahren Knochen- heit: Bürger des jüdischen mehl, 100 Jahre alt. Sekunden spä- Staates seien vor allem im ter sank er vornüber, Herzschlag Ausland durch Attentate ge- mit 72. Ein ähnliches Schicksal er- fährdet. In Zügen sollten sie litt der Jogging-Papst James Fixx. Er daher nur in gutbesetzten starb beim gepriesenen Dauerlauf, Abteilen Platz nehmen, Au- gerade mal 52 Jahre alt. Dennoch totüren stets von innen ver- seien die Gurus nicht zu schelten, riegeln und nie in ein bereits so Adler, der eine Verehrerin Ber- wartendes Taxi steigen. In gers zitiert: „Ich kenne eine Menge Hotels gelte für Israelis: Ärzte, die anderen Menschen, aber „Kein Zimmerservice.“ Vor nicht sich selber helfen konnten.“ allem aber empfahl Presler: „Nicht auffallen, kein Hebrä- isch sprechen.“

DER SPIEGEL 12/1994 247 REGISTER

Gestorben rigkeiten mit der Wahrheit“; sie wurde in der untergehenden DDR zum Bestseller, Jürgen von Manger, 71, Adolf Tegtmei- der Autor begeistert gefeiert. Am Ende er, sein Alter ego, hat immer aussem sah Janka, beeindruckt von einem Ge- Stegreif geredet, wie se ehm im Kohlen- spräch mit seinem ehemaligen Wider- pott so quatschen, son bisken gestelzt, standsgefährten Willy Brandt, sein sozia- aber ausse Perspektive von unten, von- listisches Lebensziel am ehesten noch ne Kumpels, untann ging dat über beim linken Flügel der SPD aufgehoben. „Cowboys und Spi- Walter Janka starb am Donnerstag ver- nat“ bis zu Aufklä- gangener Woche in Potsdam. rungsstückskes. Wat so allet grade anlag. Sandra Paretti, 59. Die deutsch-schwei- Aigentlich war Man- zerische Unterhaltungsschriftstellerin ger Kabarettist, ge- für die großen Gefühle inszenierte ihren boren in Koblenz, Abschied vom Leben, als hätte sie diesen auffe Schule in Ha- für einen ihrer Romane beschreiben müs- gen. Dann kam dat sen. So setzte sie ihre Todesanzeige mit Theater, unt 1962 viel Pathos auf („Auch das große Fest des hatter, als Kabarettist, den Tegtmeier Lebens verlasse ich mitten in dem Wal- mittat Schieberkäppi unner Denke zer . . .“), bevor sie von der Sterbehilfe- „ohne Kupplung und Bremse“ (FAZ) organisation Exit zur Verfügung gestell- erfunden, son Gemütsmensch, der auch tes Gift nahm. Die als weiblicher Konsa- öfters auffe Glotze war, in „Tegtmeiers lik verehrte Autorin („Der Winter, der Reisen“. Dat Abstrakte hatter vonne ein Sommer war“), deren Bücher sich höhere Sphären runtergeholt und selbst über 30millionenmal verkauften und aus Schiller sein „Wilhelm Tell“ sonne auch erfolgreich verfilmt wurden („Das Art ährliches Staublungen-Epos ge- Traumschiff“, „Der rote Vogel“), wußte macht. Seit saim Schlachanfall 1985 konnter nich mehr auftreten, aber wat Fetischismus is, hatter der alte „Schlik- kefänger“ (wie er selbst sachte) immer noch gewußt: „Dat is, wenn einer ein Frottierhandtuch klaut, wo sich de Ge- liebte de Mauken mit abgetrocknet hat.“ Hans Jürgen Julius Emil Fritz von Manger starb am vergangenen Dienstag in Herne.

Walter Janka, 79. Seine Unbeugsamkeit war legendär. Doch wenn er Hundege- bell hörte, verfärbte sich sein Gesicht: Das Bellen beschwor seine Erinnerun- gen ans Stasi-Gefängnis herauf. Ins ge- bereits seit zwei Jahren von ihrer Krebs- fürchtete Zuchthaus Bautzen wurde erkrankung. Sandra Paretti starb am vor- Walter Janka zwei- vergangenen Samstag in Zürich. mal eingesperrt: als junger Mann von Friedrich Sengle, 84. Ansichten waren den Nazis und gut 20 seine Stärke. Der Literarhistoriker, als Jahre später von den Sohn eines Missionspfarrers in Indien ge- Stalinisten seiner ei- boren, schrieb sogar mit schwäbischem genen Partei, der Hintersinn. Schon 1949, zwei Jahre bevor SED. Doch weder er seinen ersten Lehrstuhl in Köln be- den Braunen noch kam, stellte er den Nachkriegszweifeln den Roten gelang es, ein Bild weise bewahrter Gelassenheit Janka seine Ideale auszutreiben. Gegen entgegen: Seine große Wieland-Biogra- alle Erfahrungen hielt der Sohn eines phie zeigte den Dichter als „bescheide- Werkzeugschlossers, der im Spanischen nen, versöhnlichen und immer heiteren Bürgerkrieg als jüngster Bataillonskom- Geist“ und rehabilitierte zugleich eine mandeur auf republikanischer Seite ganze Epoche, das Rokoko. Richtig be- mehrfach verwundet wurde, ein Leben rühmt wurde der allen Methoden-Moden lang an seinen Überzeugungen fest. Aus abgeneigte Germanist nach der Emeritie- dem mexikanischen Exil ging er nach rung durch seine sozialgeschichtlich auf- dem Krieg in die DDR und übernahm wendige Neubewertung der literarischen 1952 die Leitung des berühmten Aufbau „Biedermeierzeit“. Und erst voriges Verlags. Nach mehrjähriger Inhaftie- Jahr, in einer Untersuchung über das rung unter Ulbricht fristete Janka seine schwierige Verhältnis Goethes zum Existenz lange Jahre als Film-Drama- Großherzog Carl August, triumphierte turg. Kurz vor dem Fall der Mauer er- seine Emsigkeit ein letztes Mal. Friedrich schien seine Autobiographie „Schwie- Sengle starb am vergangenen Montag.

248 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite 21. bis 27. März FERNSEHEN

MONTAG love you“) TV-Kameras ver- 17.30 – 19.15 Uhr Kabelkanal weigert. Dem Filmemacher Gaz Gorham gelang es jetzt, Erotik und Prüderie Stevie Wonder davon zu Lüstlinge, die dem Sammel- überzeugen, daß sich die Zu- Titel unter den Rock gucken, schauer und Zuhörer gern werden es bereuen: Lauter von ihm selbst durch sein mu- alte Film-Plotten wie „Die sikalisches Werk führen las- schwarze Narzisse“ mit De- sen. borah Kerr oder die verun- glückte Effi-Briest-Verfil- 22.15 – 23.35 Uhr ZDF mung „Rosen im Herbst“ be- drohen den Seher. Mord mit System Als Graham (Michael 19.15 – 21.00 Uhr Kabelkanal Caine), Angestellter einer New Yorker Werbefirma, Auf der Reeperbahn bei der lange erwarteten Be- Szenenfoto aus „Nummer 5 lebt!“ nachts um halb eins förderung übergangen wird Häng den blonden Hans ein- und statt seiner ein aalglatter 23.00 – 0.30 Uhr ZDF 20.15 – 22.10 Uhr RTL Yuppie den Chefsessel über- fach in einen normannischen Nummer 5 lebt! Kleiderschrank, und schon nimmt, entschließt er sich zur Swingpfennig / Demonstration einer beson- Deutschmark Ein Blitz macht aus einem deren Variante der schlanken militärischen Kampfroboter Sie hätte vielleicht doch auf Produktion. Mit raffinierten einen mündigen Gesellen: einen Erzählstrang verzich- Methoden bringt er erst seine Das Gehorsams-Modul ist ten sollen, meinte Regisseu- nörgelnde Ehefrau, dann sei- lahmgelegt. Die Generäle er- rin Margit Czenki bei der Ki- nen Konkurrenten und klären den eisernen Kamera- nopremiere ihrer „dokumen- schließlich den Firmenvor- den daraufhin für kaputt, er tarischen Spielfilmcollage“ stand um. Yeah! Doch, Mist: selbst scheint sich dagegen so vorvergangene Woche in Wer soll ihn jetzt noch beför- gesund wie nie zuvor zu füh- Hamburg. Aber auch dann dern? len. Voller Neugier macht wäre es noch anstrengend ge- sich der Maschinenmensch nug geblieben, dem hekti- daran, die Welt zu entdek- 2.50 – 6.30 Uhr Premiere schen Alltag der jungen Mu- ken. Nach seinem Film Die 66. Oscar-Verleihung siker zu folgen, die im Ham- „Wargames“, der das be- in Los Angeles burger Stadtteil St. Pauli auf klemmend realistische Szena- die Spuren der „Swing-Ju- rio eines durch einen Compu- „The winner is . . .“ Wir sind gend“ aus den dreißiger Jah- Jürgens dabei. Such is live. terfehler ausgelösten nuklea- ren stoßen. Die Anstrengung ren Vergeltungsschlags ent- wird indessen belohnt: mit läuft das Geschäft, dachten wirft, hatte Regisseur John dem erfrischenden Lebensge- sich die Schränker der Film- Badham einigen Ärger mit DIENSTAG fühl von Jugendlichen, denen branche, als sie dieses Re- dem Pentagon auszustehen. 19.25 – 20.15 Uhr ZDF das Eintreten gegen Gewalt make (BRD 1969) des be- Das kam dieser Science-fic- und Rassismus ebenso selbst- rühmten Albers-Films mit Florida Lady tion-Komödie (USA 1985), verständlich ist wie die Re- Curd Jürgens drehten. Doch die die Militärs hemmungslos Letzte Folge. Krokodilsträ- spektlosigkeit gegenüber Au- heute zeigt sich, daß nur das der Lächerlichkeit preisgibt, nen trocknen wieder. toritäten. Jürgens-Möbel nach Motten- zugute. kugeln riecht. 22.15 – 23.00 Uhr ZDF MITTWOCH 20.15 – 22.30 Uhr ARD 21.45 – 22.30 Uhr West III „Ich habe die Hölle 19.25 – 20.55 Uhr ZDF Fußball live Signale: Bluff im Bett – gesehen“ Die Orgasmuslüge Die Jagd nach dem Deutschland gegen Italien, Tod, mehr Licht, das ewig Teufelsrubin aber mit Heribert Faßben- Kommen Sie doch einfach, Weibliche zieht uns hinan – der. heißt das Ziel dieses TV-Pa- von wegen. Statt freundlicher Gut geknackt und doch ver- lavers mit der Filmemacherin Wesen warten im Jenseits un- loren: Gus (Christopher Ricki Reichel. Vögler, höret angenehme Brüder, ergibt Lambert) und Bruno (Chri- 23.05 – 0.30 Uhr Sat 1 die Signale: Ein Absolvent sich aus diesem Film über stopher Lloyd) holen aus ei- eines Tantra-Seminars be- Nah-Todeserfahrungen nem Safe einen 90karätigen Wenn der Klempner richtet von dem Orkan, der (Autor: Norbert Buse). „Sie Ring, halten ihn aber für kommt ihn heute erfaßt, wo früher haben mir ein Ohr abge- wertlos und werfen das teure . . . ist das normalerweise nur ein Windchen war. schnitten und mich an mei- Stück auf den Müll. Die hal- kein Grund zur Besorgnis, im nen Haaren gezogen, und be Welt jagt nun dem „Feuer Gegenteil. Dieser Handwer- von Byzanz“ hinterher. Gags 22.10 – 23.05 Uhr Arte dann war überall dieses Ge- ker jedoch verlegt seine Roh- lächter“, berichtet der ehe- sind nicht ausgeschlossen – re unter der Regie des austra- Stevie Wonder malige Kunstprofessor Ho- das Drehbuch zu dieser lischen Thriller-Spezialisten Zehn Jahre lang hat sich der ward Storm, der vor fünf Jah- US-Gaunerkomödie (1989) Peter Weir, der bekannt da- blinde Musiker („Supersti- ren fast an einem Magen- schrieb Gene Quintano für ist, den Hahn für Angst- tion“, „I just called to say I durchbruch gestorben wäre. („Police Academy“). schweiß weit aufzudrehen.

250 DER SPIEGEL 12/1994 DONNERSTAG der zurückgezogen lebenden FREITAG 20.15 – 20.59 Uhr ARD Amish-Sekte, wird in Phil- 16.40 – 17.00 Uhr 3Sat MEDIEN adelphia Zeuge eines Mor- Das Geheimnis der des. Der ermittelnde Polizist Zweifels Zeitzonenzwirbler Bildschirm-Schrecken: Grabesritter (Harrison Ford) entdeckt, Dem Ingeniör ist nichts zu Bomben, Brände und Kein Bericht über die Bera- daß Kollegen hinter der Blut- schwör – eine Daniel-Düsen- Leichen ohne Ende: RTL tungen der ARD-Intendan- tat stecken, und kann ihnen trieb-Reise durch die Welt der sitzt in der ersten Reihe, ten, die Privaten mit höheren nur schwerverletzt entkom- Erfindungen. wenn es um das Zeigen Quoten zu übertrumpfen. men. Er versteckt sich bei den von Gewalttaten in Infor- Ein WDR-Team hat einen Amish, und damit tritt die 20.15 – 22.05 Uhr Sat 1 mationssendungen geht. Blick hinter die Kulissen des Krimihandlung vorüberge- Die Zeitschrift Media katholischen Ordens der hend in den Hintergrund: Un- Top Secret Perspektiven veröffent- „Ritter vom Heiligen Grabe gewöhnlich einfühlsam schil- . . . ist es schon lange nicht lichte jetzt die Ergebnis- zu Jerusalem“ riskiert – zum dert Weir die Konfrontation mehr, daß sich hinter dem se einer Auftragsstudie Mißvergnügen der Ordens- der gegensätzlichen Lebens- Kürzel ZAZ die Filmemacher der öffentlich-rechtli- leute. Denn die papsttreue stile, ohne eine Kultur gegen David Zucker, Jim Abrahams chen Anstalten, mit der Elitegruppe, der prominente die andere auszuspielen. Für und Jerry Zucker verbergen, die Blutrünstigkeit von Politiker und Wirtschaftsfüh- den „Krieg der Sterne“-Dar- die für Slapstick und Kalauer Info- und Reality-TV-Sen- rer angehören, steht unter steller Harrison Ford war das der erbarmungslosen Sorte dungen untersucht wur- dem Verdacht, als geheimes der Durchbruch vom Teenie- stehen. In dieser Agentenkla- de. In allen Gewalt-Be- Machtzentrum selbst die Zu- Filmstar zum Charakterdar- motte (USA 1984) sind die sammenarbeit mit der Mafia steller. grimmigen, stets sächselnden Fernsehgewalt 1993 nicht zu scheuen. Anteile der Gewalt in Informations- und Reality-TV-Sendungen 20.15 – 21.15 Uhr Sat 1 Tat und Opfer 1,7% Schwarz greift ein sichtbar 5,0% Der Titel dieser Serie läßt Tat sich nicht nur auf den Hel- sichtbar den, den zum Priester mu- tierten Ex-Polizisten (Klaus 0,7% Wennemann) beziehen, son- 1,7% dern auch auf die Hinter- Opfer 10,9% 3,4% gründe der Produktion. Die ohne Tat katholische Kirche förderte RTL ARD das Privat-TV-Projekt als Quelle: Media Perspektiven Imagewerbung mit 1,5 Mil- lionen Mark. Gottes Wege reichen, von Autounfäl- sind verschlungen. len bis zu besonders grausamen Szenen, do- „Top Secret“-Produzenten Abrahams, Jerry und David Zucker miniert RTL deutlich mit 20.15 – 22.30 Uhr Pro 7 einem Anteil von 17,6 Der einzige Zeuge 21.03 – 22.00 Uhr ARD DDR-Grenzpolizisten sehr Prozent der Sendezeit Vordergründig geht es in der Kein schöner Land rege beim Durchladen ihrer gegenüber 6,8 der ARD ersten Hollywoodproduktion Dienstwaffen, das edle Tröpf- (ZDF: 6,2 Prozent, Sat (USA 1985) des australischen Opernsänger Günter Wewel chen „Verdienter Wein des 1: 9,3 Prozent). Regisseurs Peter Weir um ei- führt mit viel Musik auf Volkes“ frißt sich sogar durch ne Kriminalgeschichte: Ein die Zugspitze und nach Jenaer Glas – und die mit Tibet-Pop: Der US-Video- kleiner Junge, Angehöriger Oberammergau, Kloster Et- Gummistiefeln verkleidete clipsender MTV bedient tal und Garmisch-Partenkir- Kuh ist längst zu einer Ikone den chinesischen Markt chen. Kein Wunder, daß im- des Kalten Krieges geworden. mit einem TV-Programm mer mehr Berge einen Berg- doktor brauchen. in tibetischer Sprache. 20.40 – 22.00 Uhr Arte Als Anbieter auf dem Sa- tellitensender Star TV 22.30 – 0.23 Uhr West III Drei Wochen in Jerusalem des Medienmoguls Ru- Als Montage aus Spiel- und pert Murdoch liefert MTV Mein Kampf Dokumentarfilm inszenierte Landschaftsbilder und Selbst schon ein Zeitdoku- Amos Kollek diesen Polit- Populärsongs aus Tibet, ment: Erwin Leisers Film thriller (Israel 1993) über eine das 1950 von China be- (Schweden 1960) über das New Yorker Journalistin setzt wurde. Einige in Leben Adolf Hitlers. (Faye Dunaway), die nach Is- China produzierte Propa- rael geschickt wird, um über ganda-Videos über Mao, 23.10 – 23.55 Uhr Vox den israelisch-palästinensi- Peking und die Volksbe- schen Konflikt zu berichten. freiungsarmee sichern Liebe Sünde Den muß sie jedoch bald den Pop-Kapitalisten aus Wenn nicht nur der Kopf selbst austragen, nachdem sie New York die Gunst der hängt – Impotenz / Körperar- zwei Männer aus den verfein- Regierung. beit – sich schinden für den deten Lagern kennen- und lie- Ford Superbody. bengelernt hat.

DER SPIEGEL 12/1994 251 FERNSEHEN

sachsen und Thüringen, Ger- NSDAP und verherrlichte hard Schröder und Bernhard Hitler als gleichsam gottge- Vogel, ließen – gar nicht sandten Führer. In Ray Mül- dumm – sogar ein Kamera- lers zweiteiliger Dokumenta- team bei Gesprächen zuse- tion (2. Teil am 3. April), die hen. im vergangenen November mit einem „Emmy Award“ 22.30 – 23.00 Uhr ARD ausgezeichnet wurde, wird die 91jährige noch einmal mit ZAK den Schauplätzen ihrer Bio- Eine halbe Stunde ist arg we- graphie konfrontiert und nig für einen Wochendurch- kommentiert sie. blick, aber sehr viel, wenn es um die Sendeplanung im Superwahljahr geht. Einige DIENSTAG ARD-Bürokraten fürchten 23.10 – 23.50 Uhr Sat 1 „Big“-Szenenfoto mit Robert Loggia, Tom Hanks wohl, Friedrich Küppers- SPIEGEL TV busch könnte mit seiner REPORTAGE 21.15 – 21.45 Uhr ZDF (USA 1988) zugleich den um- satirischen Moderation die Der diskrete Charme des gekehrten Traum: die Welt Wahlkampfrituale durchein- Reform oder Kollaps? Alexander Schalck-Golod- wieder mit den Augen eines anderbringen, und wollen Ihr Name ist schon eine Kindes erleben zu können. der Sendung daher im Som- kowski – die graue Emi- Krankheit: die Gesundheits- „Was sind schon die Karriere mer eine neunwöchige nenz der DDR packt aus: reform. Peter Treppner hat und der Terminstreß eines Zwangspause verordnen. über seine Karriere, Priva- der Dame trotzdem den Puls Vizepräsidenten der Spiel- Doch es gibt Hoffnung. tes und Geheimes. gefühlt. Seine Zwischenbi- zeugfabrik gegen ausgelasse- ARD-Vorsitzender Jobst lanz kommt zur Diagnose: nes Herumtollen im Herbst- Plog über die Möglichkeiten, MITTWOCH Zustand kritisch. laub, was sind die Ehewün- das Magazin das ganze Jahr 22.00 – 22.45 Uhr Vox sche einer hübschen Kollegin durchlaufen zu lassen: „Das SPIEGEL TV THEMA 22.45 – 24.00 Uhr Bayern III gegen die Freundschaft mit kann ich mir gut vorstellen.“ dem Nachbarsjungen Billy, Hotline – Ersatzbefriedi- Nachtclub was ist das Erwachsensein ge- 23.00 – 0.40 Uhr ZDF gung Telefon: von der Kein Platz für helle Köpfe – gen den Traum davon?“ erin- Powerline über die „Com- Wirtschaft und Forschung im nerte sich die Frankfurter Die Macht der Bilder: puter-Villa“ bis zum Tele- Dornröschenschlaf? Allgemeine. Leni Riefenstahl fonsex. Sie ist eine der letzten leben- den Legenden der Filmge- 22.00 – 23.20 Uhr RTL FREITAG SAMSTAG schichte: Leni Riefenstahls Boxen extra 21.10 – 21.50 Uhr Vox 20.15 – 22.00 Uhr ZDF fast vierstündige Dokumen- Henry Maske verteidigt den tation der Olympischen Spie- SPIEGEL TV Bella Block – Die Weltmeistertitel im Halb- le 1936 in Berlin wurde mit INTERVIEW Kommissarin schwergewicht gegen Ernesto Preisen überhäuft und galt Sandra Maischberger Max Färberböck, diesjähri- Magdaleno (USA). noch lange nach dem Krieg in sprach mit dem Münchner ger Grimme-Preisträger, hat den USA als einer der zehn Jet-set-König Rudolph das platte Land eines Doris- 22.10 – 23.55 Uhr Pro 7 besten Filme der Welt. Sie ist Moshammer. Gercke-Krimis in ein theatra- eine der umstrittensten Per- lisches Gebirge verwandelt Leon sonen der Filmgeschichte: (SPIEGEL 11/1994). Was Boxen ultra: Jean-Claude Mit „Triumph des Willens“ SAMSTAG beeindruckt, sind die Cool- Van Damme als desertierter (1934) glorifizierte sie die 22.15 – 24.00 Uhr Vox ness, mit der Hannelore Ho- Fremdenlegionär, der in den SPIEGEL TV SPECIAL ger als Bella Block durch die- USA seine Fäuste zu Geld se Dramen aus Betrug und macht (USA 1990). Der diskrete Charme des Amok schreitet, und die An- Alexander Schalck-Golod- deutungen zarter, vergebli- kowski. Langfassung der cher Sehnsucht, es möge das SONNTAG Reportage vom Dienstag. Landleben unzerstört blei- 18.15 – 18.57 Uhr ZDF ben. SONNTAG ML Mona Lisa 21.50 – 22.30 Uhr RTL 20.15 – 22.10 Uhr Pro 7 Live aus Sarajevo – fünf Wo- chen nach dem Ultimatum. SPIEGEL TV MAGAZIN Big Suche nach einem Zuhau- Ein zwölfjähriger Junge 20.45 – 21.30 Uhr Nord III se – obdachlose Kinder in möchte endlich groß sein. Deutschland / Fummeln, Sein Wunsch wird erhört, am Können Politiker klüger Grapschen, Anquatschen nächsten Morgen wacht er im werden? – sexuelle Belästigung im Körper eines 35jährigen auf. Sie versuchen es zumindest Öffentlichen Dienst / Den Zuschauern erfüllt die gelegentlich und versammeln „Helft unserer Polizei“ – Wunschmaschine Kino mit dafür Berater um sich. Die Sperrmüll für die Wache. Penny Marshalls Komödie Regierungschefs von Nieder- Riefenstahl

252 DER SPIEGEL 12/1994 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus der Neuen Bildpost: „Die Mehrzahl Der SPIEGEL berichtete . . . der Gläubigen ist von schlichtem Ge- müt, darum hören sie auch mehr auf den . . . in Nr. 10/1994 ASYL – DAS IST EIN Landpfarrer und seine einfache Bilder- ECHTES WUNDER über ein bayerisches sprache als auf die theologisch achtba- Dorf, das für das Bleiberecht einer kurdi- ren Erklärungsversuche göttlicher Exi- schen Asylbewerberfamilie kämpft. stenz.“ Das Bundesamt für die Anerkennung Y ausländischer Flüchtlinge hat überra- schend den Asylfolgeantrag der Familie Aus den Mitteilungen der Landsmann- Nas angenommen und prüft nun erneut, schaft Schlesien: „Wir bitten unsere ob diese in der Türkei politisch verfolgt Landsleute, in Todes-Anzeigen und auf wird. Sollte der Asylantrag wiederholt Grab-Inschriften auch stets den Ge- abgelehnt werden, will sich noch einmal burtsort mit dem Zusatz ,Schlesien‘ an- der Petitionsausschuß des Bayerischen zugeben. Damit halten wir unsere Hei- Landtags mit dem Fall befassen. Den mat auch für kommende Generationen Landesparlamenten sind jedoch seit in Erinnerung.“ dem Asylkompromiß weitgehend die Hände gebunden: Sie können noch Y nicht einmal aus humanitären Gründen Aus den Aachener Nachrichten: „Die eine Duldung von Asylbewerbern Auswahl an selbstgebackenen Kuchen durchsetzen. Die alleinige Kompetenz sorgt für musikalische Unterhaltung.“ liegt beim Bundesamt.

Y . . . in Nr. 10/1994 PERSONALIEN über die Prügelei des niedersächsischen Landtagspräsidenten Ernst-Henning Jahn (CDU) mit einem 17jährigen Berufsschü- ler, nachdem der ein Wahlplakat Jahns abgerissen hatte.

Gegen Jahn, der im Falle eines CDU- Aus der Abendzeitung Wahlsiegs Innenminister in Niedersach- sen hätte werden sollen, ermittelt die Y Staatsanwaltschaft Braunschweig wegen gefährlicher Körperverletzung. Mittler- weile hat sich bei den Ermittlern eine weitere Zeugin gemeldet, welche die Aussagen des Jungen weitgehend bestä- tigt. Bei der Landtagswahl verlor Jahn seinen Wahlkreis Wolfenbüttel, den er 20 Jahre gehalten hatte, an seine SPD- Kontrahentin. Aus der Frankfurter Rundschau

Y . . . in Nr. 8/1994 SAARLAND – LAFON- TAINE SETZT DIE JUSTIZ UNTER DRUCK und 10/1994 RÜCKSPIEGEL über einen Rechtsstreit zwischen dem saarländi- schen Ministerpräsidenten Oskar Lafon- taine und dem CDU-Fraktionsvorsitzen- den Peter Jacoby.

Vergangene Woche hob die mit absolu- ter Mehrheit regierende SPD im Saar- brücker Landtag die Immunität Jacobys auf. Grund: Die Staatsanwaltschaft er- mittelt gegen den Politiker aufgrund ei- Aus dem Lehrplan für Gymnasien in ner Strafanzeige, die Lafontaine wegen Baden-Württemberg übler Nachrede erstattete. Jacoby hatte behauptet, die Union besitze „Kenntnis Y von Vorgängen“, die es erlaubten, den Aus den Erläuterungen zur Grund- Ministerpräsidenten zu fragen, ob er in stücksbeschreibung des Finanzamtes seiner Zeit als Saarbrücker Oberbürger- Hanau: „Grundstücke, die jemand in meister an Recht und Gesetz vorbei Eigenbesitz hat, werden dem Eigenbe- Rotlichtbetrieben Steuervorteile ver- sitzer zugerechnet. Eigenbesitzer ist, schafft habe. Zivilrechtliche Schritte La- wer ein Grundstück als ihm gehörig be- fontaines gegen Jacoby blieben bislang sitzt.“ erfolglos.

254 DER SPIEGEL 12/1994