Folge 35 Vom 02.09.1995
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Heute auf Seite 3: Tor zur deutschen Einheit UNABHÄNGIGE WOCHENZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND Jahrgang 46 - Folge 35 gggjg'£biihr bmh» 2. September 1995 aaESgSSKSy • C 5524 Finanzen; EU-Nettobeitrag wird verheimlicht Theo Waigel zwischen Kabinetts- und Parteienpflicht Schlechte Nachrichten nicht preiszuge• CSU etliche Stimmen abgenommen. Ande• ben, gehört zu den ältesten Grundsätzen der rerseits läßt sich der Europa-euphorische Politik und wird manchmal recht verniedli• Kanzler Helmut Kohl auf EU-Gipfeln stets chend als diplomatisches Geschick bezeich• für neue und teure Europa-ProjeKte begei• net. Genausogut weiß der Volksmund seit stern. Damit gerät Waigel regelmäßig in ei• langem, daß gerade schlechte Botschaften nen Spagat zwischen Partei- und Kabinetts• Flügel haben, sich also besonders schnell pflicht. Offenbar will er seinen inner- und verbreiten. Aber man kann ja sein Glück in außerparteilichen Gegnern die Munition der Geheimniskrämerei suchen. Selbst ein nicht mehr frei Haus liefern und gibt deshalb Finanzminister versucht so etwas. Theo die Zahl nicht mehr preis. Waigel (CSU) schrieb die auch in seiner eige• nen Partei als zu hoch kritisierten deutschen Immerhin werden in der Finanzplanung Nettozahlungen an die Europäische Kom• Aussagen über die deutschen Bruttoleistun- mission in Brüssel in seine neue Finanzpla• en für die EU gemacht, die von 41,8 auf 55,5 nung nicht mehr hinein. In den letzten Jah• flilliarden bis 1999 steigen werden. Dabei ren waren die Angaben stets gemacht wor• wird beklagt, daß diese Zahlungen um 30 Zeichnung aus „Die Welt' den. Prozent steigen, während der Bonner Haus• halt nur um ein Prozent bis 1999 wachse. Der Nettobeitrag wird berechnet, indem von den deutschen Europa-Gesamtbeiträ• Nach Schätzungen, zum Beispiel des Wildwuchs gen (1995: 41,8 Milliarden Mark) die in die Deutschen Gewerbeverbandes/Bund der ie schnell ein Denkmal vom Sockel Tendenz nichts mehr, fällt es gewiß Politi• Bundesrepublik zurückkommenden EU- Selbständigen wandert jede siebte Mark des gestoßen werden kann, führen uns kern leichter, das „Geschwätz von gestern Gelder wieder abgezogen werden. Waigels Brüsseler EU-Haushaltes in die Taschen von m diesen Tagen die Kritiker am blitzartig zu vergessen, während sich Subventionsbetrügern. Das wären 1994 gut W letzte Planungsübersicnt hatte für das Jahr Beispiel des Schriftstellers Günter Grass vor. Schriftsteller mit beharrlicher Eigensinnig• 1994 einen deutschen EU-Nettobeitrag von 20 Milliarden DM gewesen. Auch die Kom• Der gebürtige Danziger, der einst mit seiner keit immer noch an ihrer frühen „wundersa• 25,6 Milliarden Mark ausgewiesen und eine mission selbst wirft das Geld zum Fenster „Blechtrommel" aus historisch leicht nach• men Melodei" berauschen können. Natür• steigende Tendenz für die Zukunft voraus• hinaus, zum Beispiel 180 000 Mark für die zuvollziehenden Gründen nicht nur das lich ist Literatensinn und Literateneitelkeit, gesagt. Damit liegt Deutschland mit großem „Entwicklung einer globalen Strategie für Liebkind bei seiner Kritikasterschar gewor• um mit Theodor Fontane zu sprechen, Abstand vor allen anderen EU-Ländern. die Bewirtschaftung von Korallenriffen" den war, sondern auch im Gefolge aktivisti• durchaus „ein weites Feld". (Bundesrats-Drucksache 438/95). Ganz schnell ertappt, versuchte sich die scher Wahlbetätigung beträchtlich wärmen• Und Günter Grass, dessen gleichnamiger Bundesregierung herauszureden mit dem Die Deutsche Bundesbank ist damit die de Sonnenstrahlen auf sich umzulenken Roman, der gegenwärtig aus allen Kritiker• Hinweis, es handele sich bei den Nettozah• letzte Instanz, die noch regelmäßig Angaben wußte, gilt bei Eingeweihten dennoch kei• mündern angeekelt ausgespieen wird, hat lungen um „prognostische Aussagen". Es über deutsche EU-Nettozahlungen macht. neswegs als politisch reifer Kopf. vielleicht noch keineswegs begriffen, daß könne nicht gesagt werden, wie sich die Zah• Obwohl mit dem früheren EU-Kommissar Bei deutschen Literaten ein Sachverhalt man ihm nicht nur endgültig die politische lungen weiter entwickeln. Daher sei auf die Peter Schmidhuber (CSU) bei den Frankfur• mit leider steigender Tendenz, der sich am Urteilskraft absprechen, sondern mit diesen Angabe verzichtet worden. Das gilt aber ge• ter Währungshütern ein ausgewiesener segenreichsten immer noch dann auswirkt, Verrissen auch die eigene Weste weiß und nauso für die Vorjahre, in denen eben nicht Waigel-Freund installiert wurde, weisen die wenn er dem Selbstverständnis des Autors reinlich halten möchte. Während Grass sich auf die Angabe verzichtet worden war. Jetzt monatlichen Bundesbank-Berichte immer entspricht. Denn andere halten sich oft um• gewissermaßen eingeigelt hat, um verbissen findet sich in der Finanzplanung nur noch noch die Nettozahlungen aus - und mit 31,9 gekehrt für brillante politische Denker, zu• die alten Frontlinien zu halten, in deren Stel• der Hinweis, die Bundesregierung wolle Milliarden für 1994 weit höhere Summen als mal dann, wenn sie sich aus Konjunktur• lungsgräben aber schon niemand mehr sich künftig vor „übermäßiger Nettobela• die bisherigen Bonner Angaben. 1990 seien gründen oder purer Besserwisserei zum vi- kreucht, ist die alleweil geschmeidig agie• stung" schützen. erst 13,6 Milliarden „netto" in Brüssel ge• gilanten Begleitpersonal politisch Mächti• rende Heerschar der Kritikaster schon mit Die Erklärung für Waigels Aktion dürfte blieben, so die Bundesbank. HL ger küren ließen. Gilt freilich eine politische hoch erhobenen Fahnen ans andere Ufer ge• sein schwerer Stand in der eigenen Partei flohen. Es sind eigentlich weiße Kapitulati• sein, die dem CSU-Vorsitzenden ständig mit Tendenzen: onstücher, mit denen sie aufgeregt wedeln, dem Hinweis auf die zu hohen Europa-Zah• aber sie tun so, als seien es Bannertücher der lungen in den Ohren liegt und Kürzungen Tugend, die sie gleichsam vor den Unbilden verfangt. Diese Kürzungen konnten bisner einer schlimmen Zeit verborgen hielten und nur in ganz wenigen Fällen realisiert wer• Glemp warnt Polen vor EU-Beitritt nicht aufziehen durften. Nun zeigen sie vor den, obwohl sie ausdrücklich als Ziel in der Primas: Der Preis könne der Verlust der nationalen Identität sein laufenden Kameras mit langgestreckten Fin• Bonner Koalitionsvereinbarung genannt gern auf den „Quasseler". Der politische Katholizismus in Polen menleben lasse sich nicht nur auf „leichtere werden. Insbesondere Waigels Rivale, Bay• schwenkt offenbar um: Kardinal Jozef Glemp Arbeit, gutes Essen, Vergnügen und Sex" re• an möchte nach dem unrühmli• erns Ministerpräsident Edmund Stoiber, warnte in einer Rede vor über 100 000 Pilgern duzieren. Zudem sei es heute leicht möglich, chen Ende bolschewistischer Re hatte wiederholt die zu hohen Europa-Zah• in Tschenstochau seine Landsleute vor einem daß Länder nicht mit Waffen, sondern auch gime und nach der Teil Vereinigung lungen kritisiert und sich dafür von Heiner M: Beitritt in die Europäische Union. Zu der an mit Wirtschaftskonzepten zu beherrschen sei• auf der Seite der Sieger sein. Und Grass be• Geißler (CDU) den Vorwurf des „Hochver• sich richtigen Lagebeurteilung, daß Völker en: „Ich kenne Beispiele, wo jemand, der ein greift offenbar deren Motive nicht, weshalb räters" eingehandelt. Der in Bayern recht er• ihre Eigenständigkeit dann verlieren können, Unternehmen kaufen will, es erst ruiniert und er nicht nur den immer so grämlich drein- folgreiche Bund freier Bürger des früheren wenn sie aus rein wirtschaftlichen Motiven zu• dann später fast umsonst gekauft hat." Der schauenden Spiegel-Kritiker Karasek als FDP-Politikers und Europa-Spitzenbeam• sammengeführt werden, meinte er, der EU- Primas warnte seine Landsleute vor solchen „Wadenpisser beschimpft. Ihm riecht alles ten Manfred Brunner hatte die EU-Beiträge Beitritt Polens dürfe nicht auf bloße politische Perspektiven und rief sie dazu auf, darauf zu nach Verrat. zum Wahlkampfthema gemacht und der oder ökonomische Modalitäten verkürzt wer• achten, daß sich Polen nicht eines Tages insge• Es geht längst nicht mehr um die Ausein• den. Glemp sagte: „Die Kirche begreift dies samt in einer solchen Situation wieaerfinden andersetzung, wie konnten wir neunmal• auch als eine moralische Frage und warnt da• werde. klugen Literaten und Kritiker so seinsver• vor, die Bürger zum Preisgeld für den Beitritt Ungeachtet dieser organischen Betrach• gessen sein und dem SED-Regime etwas in den Klub der Reichen zu machen." tungsweise von Kardinal Glemp hat der polni• Aus dem Inhalt Seite abgewinnen oder die Sprengkraft ungelö• Der Preis für diesen Beitritt könne der Ver• sche Außenminister Bartoszewski erst kürz• ster nationaler Fragen zu unterschätzen. In• Desertion und Zeitgeist 2 lust der nationalen Identität sein: „Es gibt für lich anläßlich eines Besuches bei der Europäi• sofern kann Grass gewissermaßen mit En• schen Kommission in Brüssel gefordert, daß Bevölkerungspolitik 4 Arme zwei Wege, um in die Gruppe der Rei• gelszungen davon reden, daß die Stasi an chen aufgenommen zu werden. Der erste Weg die EU-Beitrittsverhandlungen mit Polen be• Haiders Kursschwenk 5 ist der, daß die Armen mit ihrem Charakter, reits 1998 abgeschlossen sein sollten, damit der Vorbereitung der Einheit einen gewis• Johann George Scheffner 9 ihrem Fleiß und ihrer Persönlichkeit Eindruck sein Land zur Jahrtausendwende volles EU- sen Anteil gehabt hat. Man will (oder darf) es inzwischen nicht mehr wissen, daß jeden• Tagebuch aus schlimmer Zeit 11 machen. Der zweite Weg liegt darin, den Cha• Mitglied werden könne. rakter, die Kleider und den Lebensstil abzule• falls ein bestimmter