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6/2013 Themen der Katholischen Akademie in Bayern

7 17 25 43 Gesellschaft und Politik in Frankreich Der Schriftsteller Martin Walser war Prof. Dr. Bernhard Löffler analysiert Edeltraud Böhm-Amtmann betrachtet und Deutschland vergleicht Prof. Dr. Gast bei Albert von Schirnding bayerische Staatlichkeit jenseits von Bayern im Prozess der europäischen Alfred Grosser Patriotismus und Heimattümelei Integration 11 21 29 46 Prof. Dr. Horst Möller vergleicht die Prof. Dr. Hubert Wolf über die Rolle des Bayern in der deutschen Geschichte des Gibt es eine bayerische Kunst?, fragt Intellektuellen rechts und links des Vatikans im Kontext von Hitlers 19. Jahrhunderts ist das Thema von Prof. Dr. Reinhold Baumstark Rheins „Machtergreifung“ Dr. Katharina Weigand

Gedanken zur Enzyklika Lumen fidei Die neue von Papst Franziskus Papst-Enzyklika Erzbischof Gerhard Ludwig Müller

1. Kontext des Entstehens

Auch der schönste Vortrag über eine Enzyklika kann das sorgfältige Lesen nicht ersetzen. Doch der Mensch ist als „Hörer des Wortes Gottes im Men- schenmund seiner Verkünder“ (vgl. 1 Thess 2,13) ein Gemeinschaftswesen. Darum ist es durchaus angebracht, sich gemeinsam in einem Auditorium einzu- stimmen auf ein gründliches Studium dieses ersten Rundschreibens des neuen Papstes. Denn der Glaube, „ohne den es unmöglich ist, Gott zu gefallen“ (Hebr 11,6), ist ein Schlüsselbegriff der ganzen christlichen Existenz. Der Glau- be vermittelt Wahrheit, Heil und gött- liches Leben. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen eingebore- nen Sohn dahin gab, „damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, son- dern das ewige Leben hat“ (Joh 3,15). Die gesamte Bewegung der mensch- lichen Existenz auf den dreifaltigen Erzbischof Gerhard Ludwig Müller Gott hin zusammenfassend, sagt der Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, beantwortete Fragen der mehr als 500 Apostel Paulus: „Gerecht gemacht aus Präfekt der römischen Glaubenskongre- Besucher der Veranstaltung – Akade- dem Glauben haben wir Frieden mit gation miedirektor Dr. Florian Schuller mode- Gott durch Jesus Christus, unseren rierte die Diskussion. Herrn. Durch ihn haben wir auch Zu- gang zu der Gnade erhalten, in der wir stehen und rühmen wir uns unserer Spe salvi, die eine sehr positive Reso- Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes ... nanz gefunden haben. Die Arbeit an der Die im Juli erschienene Papst-Enzy- 18. Juli 2013 vor mehr als 500 Zuhö- Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde Vollendung dieser Trilogie war schon klika Lumen fidei gilt als ein starker rern in der Veranstaltung „Die neue gehen; denn die Liebe Gottes ist aus- weit gediehen, als er am 11. Februar Text – eine gute Mischung aus hoher Papst-Enzyklika“. gegossen in unsere Herzen durch den 2013 seinen Amtsverzicht erklärte. Er Theologie und ihren Konsequenzen Lesen Sie nachfolgend das überarbei- Heiligen Geist, der uns gegeben ist“ übergab seinem Nachfolger den Text- für das Handeln von uns Menschen. tete Referat. Nachhören können Sie (Röm 5,1-5). entwurf. Und Papst Franziskus ent- Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, den Vortrag unter http://mediathek. Benedikt XVI. hatte die drei göttli- schloss sich in der Mitte des Jahres des Präfekt der römischen Glaubenskon- kath-akademie-bayern.de/audio/ chen Tugenden des Glaubens, der Hoff- Glaubens und gleichsam als dessen gregation, erläuterte die grundlegen- enzyklika-lumen-fidei nung und der Liebe, durch die wir um- Höhepunkt, eine Endredaktion zu den Passagen der Enzyklika am fassend und dynamisch auf den Gott der erstellen. So erschien am Hochfest der Liebe bezogen sind, zum Thema einer Apostel Peter und Paul, der Gründer Reihe von drei Enzykliken gemacht. Wir und Patrone der römischen Kirche, erinnern uns an Deus caritas est und an seine erste Enzyklika Lumen fidei. Es ist ein schönes Zeichen der Kon- tinuität im Petrusdienst, wenn – bei aller Unterschiedlichkeit in der Lebens- Editorial erfahrung, der geistigen Prägung und der Schwerpunktsetzung, wie sie offen- kundig sind – der Heilige Vater gegen- Liebe Leserinnen und Leser! über seinem Vorgänger Dankbarkeit äußert für die schon geleistete Arbeit. Vor einigen Tagen hat uns eine Er schreibt: „In der Brüderlichkeit in E-Mail der Universidad Pontificia Christus übernehme ich seine wertvolle Comillas aus Madrid erreicht. Darin Arbeit und ergänze den Text durch teilt uns der leider namenlose Absen- einige Beiträge“ (Nr. 7). der mit, dass bisher noch keine Es lohnt sich die literarkritische Übung nicht, einzelne Textteile dem Nummer 6/2013 unserer „debatte“ einen oder anderen Autor zuzuordnen. angekommen sei, und fährt fort: In der vorliegenden Endfassung stellt „Esperamos que nos los remitan tan die Enzyklika Lumen fidei ein kohären- pronto como sea posible.“ Wir sollten tes Dokument des ordentlichen Lehr- sie also schnellstmöglich schicken. amtes von Papst Franziskus dar. Der Falls dies aber nicht möglich sei, Inhalt, über den die Enzyklika spricht, werden wir gebeten, die Gründe der ist ohnehin nicht das geistige Eigentum Verspätung mitzuteilen: „Si no es asi, eines menschlichen Verfassers. Christus les rogamos nos comuniquen las cau- selbst ist der „Urheber und Vollender sas de la demora.“ unseres Glaubens“ (Hebr 12,2), der In intensivem Gespräch: Dr. Albert Solche Leser kann sich eine Zeit- von der Kirche bezeugt und in ihrer Schmid, Vorsitzender des Landeskomi- schrift nur wünschen! Leser, die es Gemeinschaft gelebt wird. tees der Katholiken in Bayern (li.), und Die Enzyklika setzt als bekannt vor- Kardinal Reinhard Marx. vor lauter Ungeduld kaum aushalten, aus die großen Entscheidungen des die aktuelle Nummer noch nicht in Lehramtes zu den Themenbereichen: der Hand zu halten. Und wenn das Glaube und Gnade, Glaube und Recht- dann noch aus einer Päpstlichen fertigung, Glaube und gute Werke, und seiner Offenbarung willig zustimmt. Eröffnung des II. Vatikanischen Kon- Universität verlautet, ist es fast schon Glaube und Vernunft, Glaube und Tau- Dieser Glaube kann nicht vollzogen zils. Und so ist der Anklang von Lumen ein Ritterschlag, ein katholischer und fe, Glaube als personaler Akt (qua werden ohne die zuvorkommende und fidei an Lumen gentium nicht zufällig. ein wissenschaftlicher. creditur) und als Bekenntnis der Kirche helfende Gnade Gottes und den inne- In der Dogmatischen Konstitution über Nun endlich halten Sie die heiß (quae creditur), Glaube als persön- ren Beistand des Heiligen Geistes, der die Kirche wird Christus das Licht der ersehnte Nummer 6 in der Hand liche Entscheidung und Glaubensver- das Herz bewegen und Gott zuwenden, Völker genannt. Und es war „der drin- (bzw. sie liegt vor Ihnen auf dem mittlung in der dogmatischen, liturgi- die Augen des Verstandes öffnen und es gende Wunsch dieser im Heiligen Geist Tisch, weil sie diesmal ja ziemlich schen und katechetischen Tradition der jedem leicht machen muss, der Wahr- versammelten Heiligen Synode, alle dick geraten ist). Und auch in Kirche. Wir erinnern uns an die Zurück- heit zuzustimmen und zu glauben“ Menschen durch seine Herrlichkeit, weisung des Pelagianismus und Semi- (DV 5). die auf dem Antlitz der Kirche wider- Madrid wird inzwischen wohl ein pelagianismus, die Auseinandersetzung scheint, zu erleuchten, indem sie das Exemplar angekommen sein. Also um das reformatorische sola fide und 2. Grundanliegen der Verkündigung auf zur Lektüre! den bloßen Fiduzialglauben mit der des neuen Papstes Die Vorstellung der neuen Papst- Antwort im Rechtfertigungsdekret des In der vorliegenden End- enzyklika „Lumen Fidei“ durch Erz- Konzils von Trient. Zu erwähnen ist Der literarischen Gattung nach dürfte fassung stellt die Enzyklika bischof Gerhard Ludwig Müller, aber gerade beim Thema Glauben und die Enzyklika am ehesten einem patris- Präfekt der Glaubenskongregation, Rechtfertigung auch die Gemeinsame tischen Sermon entsprechen, der ganz „Lumen fidei“ ein kohären- zwischenzeitlich in diesem Amt von Erklärung von 1999, die eine große aus der biblischen Botschaft gespeist tes Dokument des ordent- ökumenische Annäherung in diesem ist, aber konkret und pastoral auf die Papst Franziskus bestätigt, wird lichen Lehramtes von Papst sicher auch die Spanier interessieren. alten Kontroversthema gebracht hat. gegenwärtigen dogmatischen und spiri- Der Themenkomplex „Intellektuelle, In der Gegenwart ist ein gemeinsames tuellen sowie auf die moralischen und Franziskus dar. Kultur und Religion links und rechts Zeugnis über den heilsbringenden gesellschaftlichen Fragestellungen ein- Glauben dringend und notwendig, geht. Sie ist keine fachtheologische Ab- des Rheins“ stellt so etwas wie die „damit die Welt glaubt, dass der Vater handlung über den Glauben und ver- Evangelium allen Geschöpfen verkün- Land-Brücke von uns zur Iberischen den Sohn gesandt hat“ (Joh 17,21), denn meidet bewusst – so weit wie möglich det“ (LG 1). Denn die Kirche ist nicht Halbinsel her und erinnert daran, „er ist wirklich der Retter der Welt“ – die Fachterminologie und die Stel- irgendeine von Menschen geschaffene dass wir eine ähnliche Tagung zum (Joh 4,42), wie die heidnischen Samari- lungnahme zu theologischen Debatten. und organisierte Religionsgemeinschaft, Vergleich Deutschland/Spanien be- taner erkennen und bekennen. Zu erin- Im Jahr des Glaubens stellt der Papst sondern das von Gott gestiftete und im reits vor einigen Jahren durchführ- nern ist auch an die Auseinanderset- sein Rundschreiben an alle Gläubigen Heiligen Geist wirksame „Sakrament ten. zung mit dem Rationalismus und dem in den Dienst der Neuevangelisierung. des Heils der Welt“ (GS 48) in Jesus Wenn unsere Madrilener Freunde Traditionalismus im 19. Jahrhundert, Gerade den Christen in Ländern alter Christus, dem Verbum incarnatum dann aber die Dokumentation des die mit der katholischen Sichtweise des christlicher Tradition soll die unüber- (LG 8). Symposions „Bayern in der deut- organischen Zusammenhangs und der holbare und ewige Neuheit des Evan- Es entspricht auch dem Verkündi- schen und europäischen Geschichte“ Unterscheidung von Glaube und Ver- geliums Jesu Christi wieder voll zu Be- gungsstil des neuen Papstes, ohne Um- schweife und ungehindert durch den lesen, werden ihnen zwei Sätze ent- nunft beantwortet wurde. Wichtig ist wusstsein kommen. Es geht nicht da- hier die Dogmatische Konstitution Dei rum, dass die Kirche nach mensch- gelehrten Apparat, aber durchaus pro- gegenleuchten. Der eine bei der Er- Filius über den katholischen Glauben lichem Urteil eine Zukunft hat im Sinn blembewusst und tiefsinnig die Men- innerung an den Spanischen Erbfol- auf dem I. Vatikanum, die thematisch einer Bestandssicherung, sondern viel- schen anzusprechen, ja wach zu rütteln, gekrieg: „Ein Wittelsbacher auf dem von Johannes Paul II. in der Enzyklika mehr darum, dass es ohne das Licht des aufzumuntern und mit Zuversicht zu Thron in Madrid hätte das europäi- fides et ratio wieder aufgegriffen wurde. Glaubens an Jesus Christus keine helle erfüllen. So könnte man in den vier sche Gleichgewicht gewahrt und da- Unmittelbar auf die Höhe des gegen- und frohe Zukunft für die Menschheit Hauptteilen der Enzyklika auch große mit Spanien und Europa einen Krieg wärtigen Problembewusstseins führt uns gibt. Denn die Hoffnung ist nicht ein Katechesen sehen, wie sie für die Welt- erspart.“ Und der zweite Satz aus das Verständnis der Offenbarung und vages Bangen oder ein immer zum jugendtage entwickelt worden sind. unserer Epoche: „Nach dem Zweiten des Glaubens als personale Begegnung Scheitern verurteiltes menschliches Pro- In seinen täglichen Predigten und Weltkrieg ernannte Konrad Ade- und dialogische Gemeinschaft von Gott gramm der Weltverbesserung. Unsere Meditationen vermag der Heilige Vater nauer den Prinzen Adalbert von und Mensch mit einer summarischen Hoffnung ist Jesus Christus in Person. vielen Menschen aus dem Herzen zu Bayern, Sohn und Enkel einer spa- Fassung des Glaubensbegriffs in der Man erinnert sich an Abraham, den sprechen. Die Zeichen, die manchmal Dogmatischen Konstitution über die nur banal und sensationslüstern inter- nischen Infantin, zum ersten Bot- Vater des Glaubens, der im Anschluss göttliche Offenbarung Dei Verbum. Im an Paulus in der Enzyklika breit gewür- pretiert werden, sind Ausdruck seiner schafter in Madrid.“ Kontext der Offenbarung als Selbstmit- digt wird. „Gegen alle Hoffnung hat er kompromisslosen Liebe zum armen Man sieht – unsere Leserschaft ist teilung Gottes in seinem Fleisch gewor- voll Hoffnung geglaubt ... Er wurde Christus und zu Christus in den Armen. international, genauso wie unsere denen Wort und im Heiligen Geist als stark im Glauben und erwies Gott die Man fühlt sich erinnert an die Ein- Vorträge! Lassen Sie mich deshalb Gnade, Wahrheit und Leben des Men- Ehre, fest davon überzeugt, dass Gott gangsworte der Pastoralkonstitution für heute schließen mit dem Gruß schen fasst das II. Vatikanum den Glau- die Macht besitzt, zu tun, was er ver- Gaudium et spes mit der berühmten aus der Madrider E-Mail: ben als ganzheitliche Antwort des Men- heißen hat. Darum wurde der Glaube Einleitung: „Freude und Hoffnung, schen auf das Wort Gottes, das uns in ihm als Gerechtigkeit angerechnet. Trauer und Angst der Menschen von „Muchas gracias, un atento saludo“, allen Dimensionen unserer geschöpf- Doch nicht allein um seinetwillen steht heute, besonders der Armen und Be- lichen Existenz ergreift und bergend in der Schrift, dass der Glaube ihm an- drängten aller Art, sind auch Freude Ihr umfasst: „Dem offenbarenden Gott ist gerechnet wurde, sondern auch um und Hoffnung, Trauer und Angst der der ‚Gehorsam des Glaubens‘ (Röm unseretwillen, er soll auch uns ange- Jünger Christi. Und es gibt nichts wahr- 16,26; vgl. Röm 1,5; 2 Kor 10,5f) zu rechnet werden, die wir an Ihn glauben, haft Menschliches, das nicht in ihren leisten. Darin überantwortet sich der der Jesus, unseren Herrn, von den Toten Herzen seinen Widerhall fände. Ist Mensch Gott als ganzer in Freiheit, in- auferweckt hat“ (Röm 4,18-24). doch ihre eigene Gemeinschaft von Dr. Florian Schuller dem er sich dem ‚offenbarenden Gott Das Jahr des Glaubens begann mit dem Menschen gebildet, die, in Christus ge- mit Verstand und Willen voll unterwirft‘ Gedenken an den 50. Jahrestag der eint, vom Heiligen Geist auf ihrer

2 zur debatte 6/2013 Pilgerschaft zum Reich des Vaters ge- Zu Martha sagt Jesus wegen der Trauer katholisch, dann wenigstens romkri- leitet werden und eine Heilsbotschaft über ihren verstorbenen Bruder Laza- tisch, ist die Devise, wie Aufklärung und empfangen haben, die allen auszurich- rus: „Habe ich dir nicht gesagt: Wenn Christentum ausgesöhnt werden sollen.) Themen „zur debatte“ ten ist. Darum erfährt diese Gemein- du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Die Kirche ist weit davon entfernt, schaft sich mit der Menschheit und Gottes sehen?“ (Joh 11,40). Wer also die Erfolge der Vernunft in Wissen- ihrer Geschichte wirklich engstens ver- das Licht des Glaubens hat, der erkennt schaft, Technik, Medizin, der globalen Editorial 2 bunden“ (GS 1). die ganze Wirklichkeit, „und er sieht Kommunikation, in Gesellschaftslehre Aber ebenso eng wie Papst Franzis- mit einem Licht, das die ganze Weg- und Völkerrecht, zu der christlich-gläu- Die neue Papst-Enzyklika kus mit den Leiden und Sorgen der strecke erleuchtet, weil es vom aufer- bige Naturwissenschaftler und Soziolo- Gedanken zur Enzyklika Menschen von heute verbunden ist, standenen Christus her zu uns kommt, gen Wesentliches beigetragen haben, zu Lumen fidei von Papst Franzskus strahlt er auch die Gewissheit des Glau- dem Morgenstern, der nicht untergeht“ schmälern und die Fehlschläge der Erzbischof Gerhard Ludwig Müller 1 bens aus, „dass Christus, der für alle (Nr. 1). Ideologien und der politischen Selbster- starb und auferstand, dem Menschen Gleich zu Beginn der Enzyklika geht lösungsprogramme im 20. Jahrhundert Licht und Kraft schenkt durch seinen der Papst auf den entscheidenden Ein- auszunutzen, um die Menschen zum Intellektuelle, Kultur und Geist, damit er seiner höchsten Beru- wand gegen den Glauben ein, der viele Glauben zu nötigen. Dem wahren Glau- Religon links und rechts fung nachkommen kann ..., dass in Menschen gerade aus der Herkunft des ben an den souveränen Gott wird am des Rheins ihrem Herrn und Meister der Schlüssel, christlichen Kulturraums intellektuell meisten geschadet, wenn man ihm die Gesellschaft und Politik in der Mittelpunkt und das Ziel der gan- und emotional von ihren Wurzeln abzu- Funktion des „Lückenbüßers“ in intel- Frankreich und Deutschland zen Menschheitsgeschichte gegeben ist“ schneiden droht. Es zeigt sich, dass die lektuellen Fragen oder des „Nothelfers“ Alfred Grosser 7 (GS 10). Das ist seine Überzeugung und Enzyklika, auch wenn sie nicht im Stil für moralische Ziele zuweist, so als die Triebfeder seiner Pastoral. Von da- eines wissenschaftlichen Diskurses ob der Glaube erst dann zum Einsatz Grußwort her erkennen wir gleichsam auch das geschrieben ist, keineswegs nur deskrip- käme, wenn die Vernunft versagte. Generalkonsul Emmanuel Cohet 10 Programm zu Beginn seines Pontifika- tiv den Glauben wiedergibt, sondern Wir glauben nicht an Gott, weil wir Intellektuelle in Deutschland tes, das Licht des Glaubens als Weg durchaus problembewusst, aber sympa- ihn brauchen, sondern weil er uns liebt. und Frankreich – worin bestehen zum Wohl und Heil zum Strahlen zu thetisch auf den modernen und post- Der Satz „Wir haben die Liebe, die die Unterschiede? bringen. modernen Menschen eingeht und ihn Gott zu uns hat, erkannt und gläubig Horst Möller 11 Was ist das Thema der Enzyklika? als Bruder und Schwester in der Suche angenommen“ (1 Joh 4,16), worin sich Ich möchte dazu wörtlich das Konzil nach der verlorenen Wahrheit ernst das innerste Wesen des Glaubens an Culture und Kultur in Frankreich anführen, das sich in seiner Zielsetzung nimmt. Gott, den Vater und seinen Sohn im und Deutschland. Unterschiede mit der ersten Enzyklika des Papstes Ist der Glaube nicht doch ein trüge- Geist zeigt, belegt das Gegenteil der und Gemeinsamkeiten in der Zeit Franziskus deckt: „Im Lichte Christi risches Licht, eine Illusion, wie die geis- Ableitung der Religion als Verwiesen- der Globalisierung also, des Bildes des unsichtbaren Got- tesgeschichtliche, politische und tiefen- heit auf Gott aus Furcht vor dem Tod, Henri Ménudier 13 tes, des Erstgeborenen vor aller Schöp- psychologische Religionskritik des 19. aus Angst vor den Naturgewalten, der Die religiöse Lage heute: fung, will das Konzil (und heute unser und 20. Jahrhunderts das Christentum Unfähigkeit sie zu erklären und zu be- Neue Ähnlichkeiten in den Heiliger Vater) alle Menschen anspre- entlarven wollte? Oder hat die Aufklä- herrschen, so dass mit der modernen alten Unterschieden? chen, um das Geheimnis des Menschen rung des 18. Jahrhunderts nicht das Naturwissenschaft und Technik der Jean-Louis Schlegel 15 zu erhellen und dabei mitzuwirken, Licht des Glaubens als Vorstufe der Glaube an die Existenz und Wirksam- dass für die dringlichsten Fragen unse- mündigen, frei denkenden und auto- keit Gottes ins Reich der Fabel und der Autoren zu Gast rer Zeit eine Lösung gefunden wird“ nom entscheidenden Vernunft der Mo- Mythen verwiesen wäre. bei Albert von Schirnding (GS 10). derne deklassiert und damit das vorauf- Schöpfung, Erlösung und Vollendung Martin Walser Genau daran knüpft die Enzyklika geklärte „finstere Mittelalter“ (als Meta- von Welt und Mensch sind freie Offen- an mit ihrem Cantus firmus, der alles pher für das geschichtliche Christen- barung seiner Güte. Glaube und Ver- Aus der Fülle des Mangels durchtönt: Lumen fidei. Das Licht des tum) als Epoche der klerikalen Bevor- nunft sind innig miteinander verbun- Albert von Schirnding 17 Glaubens entzündet sich an der Selbst- mundung, des infantilen Glaubens an den, weil Vernunft und moralischer Begrüßung offenbarung Gottes in Jesus Christus. Wunder und Märchen, wie die vulgäre Wille immer einer Person angehören, Florian Schuller, Akademiedirektor 19 „Wie haben seine Herrlichkeit gesehen, Aufklärungsrhetorik es propagierte, die die ganze Welt der Immanenz und die Herrlichkeit des einzigen Sohnes hinter sich gelassen? Hat nicht die Kontingenz, in der sie lebt, durch den Auszug aus den einleitenden vom Vater, voll der Gnade und Wahr- autonome Vernunft durch Technik und Glauben im Licht Gottes sieht, zu dem Worten Martin Walsers 20 heit“ (Joh 1,14). „Christus ist das wahre Wissenschaft der Menschheit die Fackel der Mensch in einer personalen Bezie- Licht, das jeden Menschen erleuchtet“ des Fortschritts vorangetragen, um der hung steht. Der Glaube an Gott inte- Akademiegespräch (Joh 1,9). Im Licht des Heiligen Geistes, Menschheit eine helle und lichte Zu- griert die Vielfalt menschlicher Gedan- Der Vatikan und Hitlers dessen Liebe in unsere Herzen ausge- kunft zu bereiten? Statt der Hoffnung ken und Handlungen in die Einheit der „Machtergreifung“ gossen ist, erfassen wir hinter den Phä- auf die Erlösung von oben und das Person und stiftet eine relationale und Hubert Wolf 21 nomenen die Tiefen der Wirklichkeit, Leben nach dem Tod steht das Vertrau- dialogische Identität des Menschen. weil durch das Wort, das Gott ist, alles en in die eigene Kraft, die hier auf Und der Glaube begründet und trägt die Viertes Karl Graf Spreti Symposium geworden ist. Die Wirklichkeit in Natur, Erden das Paradies schaffen will – das natürliche und gnadenhafte Einheit des Bayern in der deutschen Geschichte und Gesellschaft wird trans- sind die uns heute noch in den Ohren Menschengeschlechtes. Darum heißt und europäischen Geschichte parent auf den transzendenten Gott. klingenden Parolen des Fortschritts- es gleich zu Beginn der Enzyklika Die heidnische Welt, in der durch die glaubens. Aus dieser Zeit resultiert das nicht anklagend und schulmeisterlich, Jenseits von Patriotismus und Verkündigung der Kirche das Licht Überlegenheitsgefühl des Progressisten, sondern überzeugend und werbend: Heimattümelei. Die bayerische Christi aufgeleuchtet ist, verehrte den das sich bis zur Bekämpfung des Chris- „Darum ist es dringend, die Art von Staatlichkeit im Horizont der Sol invictus, dessen Licht zwar täglich tentums als Feind der Aufklärung und Licht wiederzugewinnen, die dem Glau- deutschen Geschichte bis 1800 den Sieg über die Finsternis davontrug, Autonomie steigern kann, dem auf der ben eigen ist, denn wenn seine Flamme Bernhard Löffler 25 der aber das Dunkel des Todes nicht anderen Seite der eingeredete Inferiori- erlischt, verlieren am Ende auch alle Von den Befreiungskriegen bis erhellte. Christus ist die wahre Sonne, tätskomplex der Gottgläubigen ent- anderen Leuchten ihre Kraft. Das Licht zu den Schützengräben des Ersten deren Licht niemals untergeht; er hat spricht, die stets beweisen müssen, auf des Glaubens besitzt nämlich eine ganz Weltkriegs: Bayern in der deutschen die Finsternis für immer überwunden. der Höhe der Zeit zu sein. (Wenn schon besondere Eigenart, da es fähig ist, das Geschichte des 19. Jahrhunderts gesamte Sein des Menschen zu erleuch- Katharina Weigand 29 ten. Um so stark zu sein, kann ein Licht nicht von uns selber ausgehen, es muss Das Haus Wittelsbach als aus einer ursprünglicheren Quelle kom- europäische Dynastie men, es muss letztlich von Gott kom- Gerhard Immler 33 men. Der Glaube keimt in der Begeg- Regensburg, Nürnberg, Augsburg – nung mit dem lebendigen Gott auf, der Bayerische Metropolen in uns ruft und uns seine Liebe offenbart, europäischen Netzwerken eine Liebe, die uns zuvorkommt und Mark Häberlein 36 auf die wir uns stützen können, um gefestigt zu sein und unser Leben aufzu- Rolle und Gewicht Bayerns im bauen. Von dieser Liebe empfangen wir Bund – Reflexionen zu den beiden neue Augen, erfahren wir, dass in ihr letzten Jahrzehnten eine große Verheißung von Fülle liegt, Roland Sturm 40 und es öffnet sich uns der Blick in die Bayern im Prozess der europäischen Zukunft. Der Glaube, den wir von Gott Integration als eine übernatürliche Gabe empfan- Edeltraud Böhm-Amtmann 43 gen, erscheint als Licht auf dem Pfad, das uns den Weg weist in der Zeit. Gibt es eine bayerische Kunst? Einerseits kommt er aus der Vergangen- Reflexionen zwischen Skepsis heit, ist er Licht eines grundlegenden und Stolz Gedächtnisses, des Gedenkens des Le- Reinhold Baumstark 46 bens Jesu, in dem sich dessen absolut verlässliche Liebe gezeigt hat, die den Altschwabinger Sommerausklang Tod zu überwinden vermag. Da Christus 2013 51 Auch viele junge Menschen waren beim aber auferstanden ist und über den Tod Impressum 52 Vortrag von Erzbischof Gerhard Ludwig hinaus uns an sich zieht, ist der Glaube Müller zu Gast in der Akademie. zugleich ein Licht, das von der Zukunft

zur debatte 6/2013 3 Schöpfung und seiner geschichtlichen Gesellschaftsordnung ist nicht Toleranz Selbstmitteilung in Gnade und Wahr- und Religionsfreiheit, sondern die Dik- heit hinzielt. tatur des Absolutismus eines gottglei- chen Herrschers oder der herrschenden LF III. Ich überliefere euch, was ich Meinung von individuellen oder kollek- empfangen habe (vgl. 1 Kor 15,3). Der tiven Führergestalten. Glaube wird entsprechend der generati- Glaube ist immer auch konkret Exo- onsverbindenden Gemeinschaftsnatur dus-Erfahrung. Auf Gottes Anruf und durch die Tradition vermittelt. Die Kir- Erwählung folgt die Einlösung seiner che ist das Subjekt der Offenbarung und Verheißung im befreienden Handeln. ihrer geschichtlichen Vermittlung, vor Daraus erwächst das Glaubensbekennt- allem im Wort und in den Sakramenten nis Israels als Erzählung der Heilstaten Gottes. Glaube ist auch ein Eintauchen Gottes, die im Gottesdienst in Erinne- in die Gebetsgemeinschaft der Kirche. rung gerufen werden, so dass mittels der Teilnahme an der Liturgie und Leben memoria die Kinder und Enkel und alle nach den Geboten Gottes lassen sich künftigen Generationen am geschicht- nicht voneinander trennen. Die Tradi- lichen, gegenwärtigen und zukünftigen tion der einen, heiligen, katholischen Heilshandeln Gottes teilhaben und so und apostolischen Kirche garantiert Erben seiner sich immer neu erfüllen- auch die Einheit und Unversehrtheit des den Verheißung werden (vgl. Nr. 12). Glaubens, durch den wir Gott erkennen Auch unser Tauf- und Glaubensbe- und Leben und Heil empfangen. kenntnis enthält nicht bloß eine Sum- me von offenbarten geschichtsfreien Der Regensburger Generalvikar Dr. und unterhielt sich unter anderem mit LF IV. Gott bereitet für sie eine Stadt Wahrheiten. Wir glauben an den Gott, Michael Fuchs (li.) war zum Vortrag Dr. Christian Schaller, dem stellver- (vgl. Hebr 11,26). Glaube ist nicht eine der sich in Schöpfung, Menschwerdung seines früheren Bischofs Gerhard Lud- tretenden Direktor des Instituts Papst Privatüberzeugung, die keinen etwas und Geistsendung mitgeteilt hat, um wig Müller in die Akademie gekommen Benedikt XVI. in Regensburg. angeht. Christlicher Glaube ist seiner für uns Weg, Wahrheit und Leben zu Natur nach auf das Gemeinwohl be- sein. zogen. Weltverantwortung und Weltge- Die Geschichte Jesu bietet schließlich staltung aus dem christlichen Men- das Kompendium der Erlösung, in dem her kommt, vor uns großartige Hori- schrieben und so thematisch zusam- schenbild entspringen der Positivität alle Linien der Heilsgeschichte Israels zonte eröffnet und uns über unser iso- mengefügt ist: des Seins und orientieren sich stets an sich sammeln und bündeln. Er ist „das liertes Ich hinaus in die Weite der dem aufschlussreichen Urteil Gottes: endgültige Ja zu allen Verheißungen, Gemeinschaft hineinführt. Wir begrei- LF I. Wir haben die Liebe gläubig „Und Gott sah, dass alles, was er ge- das Fundament unseres abschließenden fen also, dass der Glaube nicht im Dun- angenommen (vgl. 1 Joh 4,16). Im ers- macht hatte, sehr gut war“ (Gen 1,31). ‚Amen‘ zu Gott (vgl. 2 Kor 1,20)“ (Nr. keln wohnt; dass er ein Licht für unsere ten Kapitel tauchen wir ein in die Ge- Die Positivität der Schöpfung als Ana- 15). Mit Jesus Christus können wir end- Finsternis ist“ (Nr. 4). schichte des Glaubens von Abraham logie der wesenhaften Güte und Wahr- gültig sagen, dass wir „die Liebe, die Genau daran möchte uns die Enzyk- und in das innere Ringen des Volkes heit Gottes schließt jeden manichäi- Gott zu uns hat, erkannt und gläubig lika Lumen fidei erinnern: das Licht, Israel und werden hingeführt zur Fülle schen Dualismus und jeden Geschichts- angenommen“ haben (1 Joh 4,16), denn das vom Glauben kommt, von der der Offenbarung und dem Heil durch pessimismus kategorisch als eine Art er „ist der vollkommene Erweis der Ver- Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Chris- den Glauben an Jesus Christus in der Urhäresie aus. Der Glaube ist ein Licht lässlichkeit Gottes“ (Nr. 15). Mit ihm tus und in seinem Geist, erleuchtet die weltweiten Communio der Kirche. für Ehe und Familie. Der Glaube er- erreicht der Glaube seine Vollendung. Tiefen der Wirklichkeit und hilft uns zu möglicht ein sinnvolles Leben in der „Nun aber offenbart jedoch der Tod erkennen, dass es die unauslöschlichen LF II. Glaubt ihr nicht, so versteht Gesellschaft und zeigt auch die Prinzi- Christi die völlige Verlässlichkeit der Zeichen des Heilshandelns Gottes in ihr nicht (vgl. Jes 7,9). Im zweiten Kapi- pien unserer Soziallehre auf, die per- Liebe Gottes im Licht seiner Auferste- sich eingeschrieben trägt. Dank des tel geht es um das Stehen und Bleiben sonale Würde jedes Menschen, die Soli- hung“ (Nr. 17) Dieser Glaube lädt uns Lichtes, das von Gott kommt, kann der in Gottes Wahrheit durch den Glauben. darität und die Förderung von Freiheit. ein anzuerkennen, dass Gott nicht in Glaube tatsächlich „die gesamte Weg- Glaube führt zur Erkenntnis Gottes in Der Glaube zeigt uns, dass Christus den den fernen Höhen seines Himmels ver- strecke“ (Nr. 1), „das gesamte Sein des seiner Wahrheit und Liebe. Glaube ist Leidenden und Sterbenden nahe ist, er blieben ist, sondern sich offenbart hat in Menschen“ (Nr. 4) erleuchten. Der Hören des Wortes, Sehen des Lichtes kann negative Entwicklungen in der Jesus Christus, der gestorben und auf- Glaube „trennt uns nicht von der Wirk- Gottes und Anfassen, Berühren und Gesellschaft benennen und bekämpfen. erstanden ist und der mitten unter uns lichkeit, sondern erlaubt uns, ihren Umfangen des Wortes Gottes in seiner gegenwärtig bleibt. tieferen Grund zu erfassen und zu ent- leiblichen Gestalt, im Wort, das Fleisch 4. Wichtige Aspekte Wenn wir Jesus folgen, wird dank des decken, wie sehr Gott diese Welt liebt geworden ist und unter uns gewohnt Glaubens das ganze Sein des Menschen und sie unaufhörlich auf sich hin aus- hat, das bleibend bei uns ist und uns als 4.1. Gottesglaube und Freiheit verwandelt. Der Glaubende ist eine richtet“ (Nr. 18). der gute Hirte vorangeht. Glaube steht neue Schöpfung, er ist Kind Gottes und im Verhältnis zu Gott in seiner Trans- Auf einige wichtige Themen möchte Miterbe Christi, des gekreuzigten und 3. Aufbau und wesentliche Inhalte zendenz und Immanenz suchenden, die ich etwas näher eingehen. Im ersten Teil auferstandenen Herrn. Das Ich, die Per- Welt erforschenden und die Gesell- wird der Weg aufgezeigt vom Glauben son des Glaubenden, öffnet sich für die Die Enzyklika Lumen fidei ist in vier schaft gestaltenden Vernunft des Men- Abrahams als eines Menschen, der in ursprüngliche Liebe, die im Glauben Teile gegliedert, die wir gleichsam als schen. Die Theologie – nicht isoliert, der Stimme Gottes „einen tiefen Ruf, geschenkt wird (vgl. Nr. 21), und wei- vier „Szenen“ eines einzigen großen sondern verbunden mit der Philosophie der von jeher in das Innerste seines tet sich für „ein kirchliches Leben“ „Gemäldes“ auffassen können. Dass wir und den empirischen Wissenschaften – Seins eingeschrieben ist“(Nr. 11), er- (Nr. 22). Indem er uns öffnet für die es mit Katechesen des Glaubens zu tun dient der Kirche und der ganzen kennt, hin zum Glauben des Volkes Gemeinschaft mit unseren Brüdern und haben, zeigt sich daran, dass jedes der Menschheit in der Wahrheitssuche, Israel. Das Volk Israel schwankt ständig Schwestern, will der Glaube uns nicht vier Kapitel durch ein Schriftwort über- die auf die Erkenntnis Gottes in seiner zwischen der „Versuchung des Unglau- reduzieren „auf ein einfaches Rädchen bens“ (Nr. 13) und der Anbetung der in einem großen Getriebe“ (Nr. 22), Götzen, die Werke von Menschenhand sondern uns helfen, dass „jeder sein sind, und dem „Gedenken der Wohlta- eigenes Sein bis ins Letzte“ gewinnt“ ten Gottes und an die fortschreitende (Nr. 22). „Für den, der auf diese Weise Erfüllung seiner Verheißungen“ (Nr. 12). verwandelt worden ist, öffnet sich eine Interessant ist hier, dass dem biblischen neue Sichtweise“ (Nr. 22) und der Glaubensbegriff nicht der Unglaube als Glaube wird zum wahren „Licht“, das Verneinung einer übernatürlichen Er- einlädt, sich immer wieder neu vom Ruf kenntnis, sondern der Götzendienst Gottes verwandeln zu lassen. gegenübersteht. Die Götzen sind ver- absolutierte endliche Dinge und Werte, 4.2. Wahrheit und Liebe die den Menschen zwischen ihren Angeboten hin und her locken und ihn Im zweiten Teil legt die Enzyklika in ein Labyrinth der vielen Wege ohne mit Nachdruck die Frage nach der Ausweg einfangen. Der Glaube an Gott, Wahrheit vor als die Frage im „Zentrum den Schöpfer aller Welt und den sou- des Glaubens“ (Nr. 23). Der Glaube veränen Herrn der Berufung und Er- berührt auch die Erkenntnis der Wirk- wählung und des Bundes führt das Volk lichkeit. Er ist ein Akt der Erkenntnis: auf dem Weg in die Freiheit. Der Poly- „Glaube ohne Wahrheit rettet nicht [...]. theismus ist vom Standpunkt des „Glau- Er bleibt ein schönes Märchen [...]. bens an den einen Gott, den allmächti- Oder er reduziert sich auf ein schönes gen Vater, den Schöpfer des Himmels Gefühl“ (Nr. 24). Wir leben heute in und der Erde“ nur eine geschichtliche einer Wahrheitskrise, die leicht in die Spielart des Atheismus, während Diktatur einer gewissen sich absolut Glaube im biblischen Sinn die Anhäng- setzenden Weltanschauung, in die lichkeit des Menschen an Gott (fides) Diktatur des Relativismus umschlagen SPD-Politiker: der frühere Parteichef der Landeshauptstadt München und und die zuverlässige Treue Gottes kann. Objektive Kriterien für eine inter- Dr. Hans-Jochen Vogel und Dr. Ger- seit 1998 Mitglied im Allgemeinen Rat (fides) zu den Menschen bedeutet. subjektive, universale Kommunikation traud Burkert, ehem. 2. Bürgermeisterin der Akademie. Die dem Atheismus entsprechende scheint es nur in der Technik und in

4 zur debatte 6/2013 Erzbischof Gerhard Ludwig Müller zur Einheit in der Kirche

Aus der Vielzahl von Diskussions- kennt sie natürlich. Wir sprechen auch beiträgen haben wir die Antwort darüber. Seine Position: Wir müssen Erzbischof Gerhard Ludwig Müllers versuchen, diese Lagerbildung, dieses auf eine Intervention des Salzburger Sich-Abkapseln zu überwinden. Aber Weihbischofs Prof. Andreas Laun wir können es nicht einfach befehlen, ausgewählt, der von seinem Eindruck sondern nur dazu einladen. Es gibt sprach, dass innerhalb der Kirche die großartige Aussagen über den Glauben, „Gemeinschaft des Glaubens klamm- wir haben das Glaubensbekenntnis, wir heimlich zerbrochen“ sei. In der sind in der Taufe miteinander verbun- Antwort des Präfekten der Glaubens- den. Denn der Glaube ist eine geoffen- kongregation kann wohl die Kernauf- barte, uns geschenkte Wahrheit, nicht gabe dieser Kongregation zusammenge- einfach die Summe dessen, was wir uns fasst werden. selber ausdenken.

Erzbischof Gerhard Ludwig Müller: Man kann sicher nicht als „pressure group“ auftreten und irgendetwas Bei der Begrüßung: Prof. Andreas Laun, komitees der Katholiken in Bayern, Es ist natürlich eine Versuchung, die durchsetzen wollen. Die Geschichte Weihbischof in Salzburg, Dr. Albert Erzbischof Gerhard Ludwig Müller und in der menschlichen Natur liegt und hat immer gezeigt, dass dabei am Schmid, Vorsitzender des Landes- Akademiedirektor Dr. Florian Schuller. die Kirche schon immer begleitet. Schluss nur Spaltungen, Abspaltungen, Schon von Korinth her kennen wir Gegeneinanderstehen das Ergebnis diese Fragestellung. „Ich halte zu sind. Gerade in unserer Welt heute Apollos“, „ich halte zu Kephas“, brauchen wir nicht das Zeugnis der „ich halte zu Paulus“, und die ganz Zerrissenheit der Christen und der den Erfahrungswissenschaften und in und bekennt (vgl. Nr. 45). Er kann da- Schlauen sagen, „ich halte zu Jesus“, Spaltung und der giftigen Reden ge- der digitalen Welt der Cyberkommuni- her „die Worte des Credos nicht in als ob wir nicht alle auf dem einen geneinander und des Misstrauens, kation zu geben. Die je meinige Wahr- Wahrheit aussprechen, ohne dadurch Grund und Fundament Jesu Christi sondern die Welt braucht das gemein- heit des Subjekts bestünde nur in der verwandelt zu werden“ (Nr. 45). Denn stehen würden. Das sind die Gefahren same Zeugnis der Christen. Wir kön- authentischen Empfindung sich selbst der Glaube drängt zu einem beständi- der Parteibildung und dann der psy- nen nicht nur von Ökumene reden, gegenüber. Der Rekurs auf die für alle gen Wandel und verbietet es dem Men- chologischen Verhärtung, dass man sondern müssen auch innerkatholisch geltende, verbindliche und verbindende schen, sich in eine bequeme Gelas- nicht mehr in der Lage oder bereit ist, Parteibildungen und grundsätzliches Wahrheit, die Gott ist und uns in Jesus senheit einzuschließen. Die Liebe ist miteinander zu sprechen, miteinander Misstrauen immer wieder überwinden. Christus offenbart wird, steht unter dem authentisch, wenn sie an die Wahrheit zu wirken. Ich glaube, dem Heiligen Vater gelingt Verdacht der Intoleranz und des Gewis- gebunden ist, und die Wahrheit lockt es dadurch, dass er ständig von dem senszwangs. („Ich lass mir doch von uns mit der Kraft der Liebe. „Diese Ent- Das ist bis zum heutigen Tag eine positiven Gehalt des Evangeliums niemanden vorschreiben, was ich zu deckung der Liebe als Quelle der Er- konkrete Gefahr, und der Heilige Vater redet. glauben und wie ich zu leben habe“.) kenntnis, die zur ursprünglichen Erfah- Nach Ludwig Wittgenstein ist Glaube rung jedes Menschen gehört“, wird uns so etwas wie die Erfahrung des Verliebt- „in der biblischen Auffassung des Glau- seins im Sinn einer Gültigkeit für mich, bens“ bezeugt (Nr. 28). Das ist vielleicht die aber nicht objektive Geltung bean- einer der wichtigsten und schönsten spruchen kann. Liebe aber ist nicht Aspekte der Enzyklika. nur Gefühl im Sinn eines subjektiven Aufgrund der Tatsache, dass der seiner Hilfe unterstützt wird (vgl. Nr. geben kann. Denn „was in der Kirche Getroffenseins von etwas ästhetisch Glaube auf die Erkenntnis bezogen und 35), auch ohne sich dessen bewusst zu mitgeteilt wird, […] ist das neue Licht, Ansprechendem. Liebe ist Hingabe des an die Wahrheit gebunden ist, kann sein. das aus der Begegnung mit dem leben- Willens an die Wahrheit, ist moralische Thomas von Aquin von oculata fides digen Gott kommt“ (Nr. 40). Das ist Verantwortung für eine Person, für die sprechen, „vom sehenden Glauben“, 4.3. Glaube schafft Gemeinschaft, das richtige Verständnis der lebendigen Familie, für die Kinder, ist Hingabe des vom Glauben als einem Geschehen, das Einheit und Solidarität Tradition als Prozess, der nicht zu tren- Lebens nach dem Vorbild des guten das „Sehen“ betrifft (Nr. 30). Der Glau- nen ist von seinem Inhalt, der ganzen Hirten. Liebe und Wahrheit fallen in be betrifft das Hören, aber er ist auch Ich möchte noch auf einen anderen Offenbarung. Was hat dieses reiche und Gott zusammen, so dass der Glaube an „ein Entwicklungsprozess des Sehens” wichtigen Aspekt im dritten und vierten tiefe Verständnis der apostolischen und Gott auch die Vermittlung seiner Offen- (Nr. 30), der die Wahrheit sucht und Teil der Enzyklika aufmerksam machen. kirchlichen Tradition zu tun mit der barung der Wahrheit an die Vergegen- erkennt und bei dem „Glaube und Ver- Der Mensch ist nicht ein isoliertes We- Reduktion der Kirchenlehre auf die wärtigung seiner Liebe gebunden hat. nunft sich gegenseitig stärken“ (Nr. 32). sen, sondern in eine Gemeinschaft ein- Abwehr des offenbarungsfeindlichen Der Glaube ist eine Antwort in Freiheit, So hatte im Übrigen schon der heilige gebunden. Der Glaube wird deshalb „in Liberalismus des 19. Jahrhunderts und die verbindet mit den Mit-Glaubenden Augustinus „entdeckt, dass alle Dinge der Form des Kontakts von Person zu mit dem Modernismus mit seiner sub- in der Kirche. Die Wahrheit affiziert eine Transparenz in sich tragen“ und so Person weitergegeben, wie eine Flamme jektivistischen Beschränktheit ihrer nicht nur meine Gefühle, die ich mit „die Güte Gottes, das Gute widerspie- sich an einer anderen entzündet“ (Nr. Aufnahme? Im ersten Fall reduziert keinem anderen teilen kann. Die Wahr- geln können“ (Nr. 33). Der Glaube hilft 37). Der Glaube ist eingebunden in ein sich der Traditionsbegriff auf die mecha- heit fordert mich heraus zur Verantwor- uns also, die Fundamente der Wirklich- Gewebe von Beziehungen, das uns vor- nische Wiedergabe von übernatürlichen tung. Sie nimmt mich in Pflicht allen keit in ihrer Tiefe zu ergründen. ausgeht und uns überschreitet, in ein Informationen und wird nicht entwi- anderen Menschen gegenüber in der In diesem Sinn kann man verstehen, „Wir“, das uns einlädt, aus der Einsam- ckelt aus der Beziehung und Gemein- praktischen Liebe zum Nächsten wie zu auf welcher Ebene das Licht des Glau- keit unseres Ichs auszubrechen, um uns schaft mit dem sich als Wahrheit und mir selbst und das im Horizont der bens „die Fragen unserer Zeit über die einzuordnen in eine größere Sichtweise, Leben mitteilenden Gott in der Ge- Liebe zu Gott, dessen Liebe wir alles Wahrheit erhellen“ kann (Nr. 34), also in einen Dialog und einen Weg zum ge- schichte seines Volkes. Diese Begeg- verdanken, was wir sind und tun. die großen Fragen, die im menschlichen meinsamen Ziel: der communio sanc- nung mit dem lebendigen Gott ermög- Die Frage nach der Wahrheit und das Herzen aufsteigen angesichts der ge- torum. Die dialogische Struktur, in der licht es der Kirche, von ihm glaubwür- tatkräftige Bemühen um die Wahrheits- samten Wirklichkeit mit ihren Schön- sich unser Credo zeigt, wird auch an dig Zeugnis zu geben. Werkzeuge und suche können nicht umgangen werden, heiten, aber auch angesichts ihrer Dra- dieser Tatsache und an dieser Bewegung wirksame Zeichen dieser Begegnung so wie man auch nicht a priori den Bei- men. Denn die Wahrheit - hier kommt deutlich, die im Inneren des kirchlichen „sind die Sakramente, die in der Litur- trag ausschließen kann, den die großen der Glaube ins Spiel - ist gebunden an „Wir“ zu verorten ist, in dem neuen gie der Kirche gefeiert werden“ (Nr. 40). religiösen Traditionen zur Wahrheitssu- die Liebe und kommt von der Liebe. Subjekt, dem wir aufgrund des Glau- Deshalb betont die Enzyklika, dass der che leisten, insbesondere insoweit sie Die Wahrheit muss uns nicht Angst bens angehören. Die Kirche ist der Ort, Glaube eine sakramentale Struktur hat. sich auf die fundamentalen Wahrheiten machen, denn sie drängt sich nicht mit in dem diese Bewegung der Person, die Von hier aus kann man gut die dem des menschlichen Seins richten. Darum Gewalt auf, sondern trachtet danach, aus dem gelebten Glauben hervorgeht, Glauben eigene Bewegung verstehen: kapselt sich der Glaube nicht ein im wirklich zu überzeugen fortiter ac sua- gegründet ist und von dem aus sie ohne Er setzt an beim Sichtbaren und Mate- Kreis der Gleichgesinnten, sondern viter, kraftvoll und mild. Unterlass angetrieben wird. Die Kirche riellen, um uns „auf das Geheimnis der verbindet mit allen aufrichtig suchenden Das ist der Grund, warum die Enzyk- öffnet uns für Gott und für die anderen. Ewigkeit hin“ zu öffnen (Nr. 40). In die- religiösen Menschen. lika daran festhält, dass „der Glaube die Sie wird so zu einer neuen Weltan- se Bewegung wird der Gläubige mit Was ist der Beitrag, den diesbezüglich Horizonte der Vernunft [weitet], um die schauung, einer besonderen Sichtweise seinem ganzen Sein hineingenommen, der Glaube an Jesus Christus zu bieten Welt, die sich der wissenschaftlichen der Welt. Sie ist, um das schöne Zitat in die Wahrheit, die er erkennt und vermag? Der Glaube öffnet uns für die Forschung erschließt, besser zu durch- von Romano Guardini aufzugreifen, bekennt (vgl. Nr. 45). Er kann daher Liebe, die von Gott kommt, er verwan- leuchten“ (Nr. 34). Dies gilt für die wis- „die geschichtliche Trägerin des vollen „die Worte des Credos nicht in Wahr- delt unsere Sichtweise der Dinge, „weil senschaftliche Forschung, aber auch Blicks Christi auf die Welt“ (Nr. 22). heit aussprechen, ohne dadurch ver- die Liebe selber Licht bringt“ (Nr. 26). für die Suche jedes wahrhaft religiösen Die Kirche ist der Ort, in dem Glau- wandelt zu werden“ (Nr.45) Denn der Auch wenn es für den modernen Men- Menschen. Denn der Glaube offenbart be entsteht und in dem er eine Erfah- Glaube drängt zu einem beständigen schen scheint, dass die Frage nach der uns, dass derjenige, der die Wahrheit rung wird, die man anderen mitteilen Wandel und verbietet es dem Men- Liebe nichts mit der Wahrheitsfrage zu und das Gute zu suchen beginnt, sich und von der man in nachvollziehbarer schen, sich in eine selbstzufriedene tun hat, die Wahrheit, die er erkennt bereits Gott nähert und schon von und vertrauenswürdiger Weise Zeugnis Gelassenheit zurückzuziehen.

zur debatte 6/2013 5 Hoffnung bieten. Man könnte sagen: und klarstes Urbild im Glauben und in Die Enzyklika will auf neue Weise der Liebe gegrüßt” (LG 53). Die Ge- bekräftigen, dass der Glaube an Jesus schichte des Glaubens begann mit Christus alle Situationen erhellt, Freud Abraham, dem Vater des Glaubens, und und Leid, Gegenwart und Zukunft, und kommt zur Vollendung in Maria, der dass er so ein Gut für alle Menschen ist. Mutter des Glaubens, die uns Christus Der Glaube „ist ein Gemeingut; sein geboren hat: „Licht zur Erleuchtung der Licht erleuchtet nicht nur das Innere Heiden und Herrlichkeit des Volkes der Kirche, noch dient er allein der Israel“ (Lk 2,32). Maria ist die Mutter Errichtung einer ewigen Stadt im des Glaubens und die Mutter der Glau- Jenseits; er hilft uns, unsere Gesellschaf- bensgemeinschaft, der Kirche Jesu ten so aufzubauen, dass sie einer Christi. Darum wendet sich Papst Fran- Zukunft voll Hoffnung entgegengehen... ziskus am Ende der Enzyklika an Maria. Die Hände des Glaubens erheben sich Er tut dies in der Form des Gebet ge- zum Himmel, aber gleichzeitig bauen wordenen Glaubens: „Hilf, o Mutter, sie in der Nächstenliebe eine Stadt auf, unserem Glauben! Öffne unser Hören die auf Beziehungen gründet, deren dem Wort, damit wir die Stimme Gottes Fundament die Liebe ist“ (Nr. 51). und seinen Anruf erkennen. Erwecke in uns den Wunsch, seinen Schritten zu 5. Maria – Typus und Urbild folgen, indem wir aus unserem Land des Glaubens wegziehen und seine Verheißung an- nehmen. Erinnere uns daran: Wer Der Heilige Vater schließt die Enzyk- glaubt, ist nicht allein. Hilf uns, dass wir Der Präfekt der Glaubenskongregation lika mit dem Blick auf Maria, die Mut- uns von seiner Liebe anrühren lassen, (li.) und der Erzbischof von München ter des Herrn, von der gilt: Selig, die damit wir ihn im Glauben berühren und Freising im Gedankenaustausch. geglaubt hat (vgl. Lk 1,45). Damit greift können. Hilf uns, dass wir uns ihm ganz Papst Franziskus nicht nur eine Ge- anvertrauen, an seine Liebe glauben, wohnheit seiner Vorgänger auf, sondern vor allem in den Augenblicken der Be- verweist auf eine grundlegende katholi- drängnis und des Kreuzes, wenn unser Glaube stiftet Einheit, gemäß einer ist gegründet in der Wahrheit, so nimmt sche Wahrheit, die das II. Vatikanische Glaube gerufen ist zu reifen. Säe in Predigt von Papst Leo dem Großen, sie uns nichts weg, sondern bereichert Konzil folgendermaßen zusammenge- unseren Glauben die Freude des Aufer- die auch in der Enzyklika zitiert wird: uns mit den Gaben, die dem Großmut fasst hat: Maria ist „Mutter der Glieder standenen. Lehre uns, mit den Augen „Wenn der Glaube nicht einer ist, ist er des göttlichen Herzens und jedes einzel- (Christi), denn sie hat in Liebe mitge- Jesu zu sehen, dass er Licht sei auf kein Glaube“ (Nr. 47). Wir leben in nen Menschen entstammen. wirkt, dass die Gläubigen in der Kirche unserem Weg; und dass dieses Licht des einer Welt, die trotz aller Tendenzen zur Eben diese Einheit in der Wahrheit, geboren würden, die dieses Hauptes Glaubens in uns immerfort wachse, bis Globalisierung gespalten und zerteilt ist. zu der uns Gott, der Vater aller, führt, Glieder sind. Daher wird sie auch als jener Tag ohne Untergang kommt, Jesus In den vielen verschiedenen „Welten“ kann uns auch helfen, die wahre Wur- überragendes und völlig einzigartiges Christus selbst, dein Sohn, unser Herr“ stehen die Menschen zwar miteinander zel der Brüderlichkeit zu entdecken Glied der Kirche wie auch als ihr Typus (Nr. 60). „ in Verbindung, leben aber doch häufig (vgl. Nr. 53). Ohne Wahrheit und ohne isoliert und nur zu oft im Konflikt mit- Gott kann der Traum der universellen einander. Die Einheit des Glaubens ist Brüderlichkeit, der am Anfang der Mo- deshalb ein kostbares Gut, das der derne steht, nicht Wirklichkeit werden, Papst und seine Mitbrüder im Bischofs- sondern nur die traurige Erfahrung von amt bezeugen, nähren und schützen, Babel wiederholen. Denn die Brüder- und zwar als Vorbotin einer Einheit, die lichkeit, „die des Bezugs auf einen ge- Presse ein Geschenk für die ganze Welt sein meinsamen Vater als ihr letztes Funda- möchte. ment entbehrt“, vermag „nicht zu be- Die neue Papst-Enzyklika „Lumen fidei“ Dabei handelt es sich nicht um eine stehen“ (Nr. 54). Die Geschichte der monolithische Einheit, sondern um eine beiden vergangenen Jahrhunderte zeigt Einheit in reicher und lebendiger Viel- uns dies sehr deutlich. Süddeutsche Zeitung von Papst Franziskus. Zugleich stelle falt. Gott selbst ist einer und zugleich Es stimmt, dass der echte Glaube mit 16. Juli 2013 – Vor zwei Wochen stellte „Lumen fidei“ der Welt die „ewige Neu- dreifaltig. Das Zeugnis für die Einheit Freude erfüllt und „das Leben weit“ Papst Franziskus die Enzyklika „Lumen heit des Evangeliums Jesu Christi“ und gehört zur Sendung der Kirche, die vom macht (Nr. 53). Das ist ein Gedanke, fidei – Licht des Glaubens“ vor, die die Freude am Christsein wieder vor II. Vatikanischen Konzil als „Zeichen der Papst Franziskus eng mit Benedikt Benedikt XVI. begonnen hatte und die Augen. Das hat (…) Erzbischof Gerhard und Werkzeug“ (Lumen gentium, Nr. 1) XVI. verbindet. Zugleich lässt uns das er selbst vollendete. (…) Darüber wird Ludwig Müller (…) am Donnerstag im der Einheit, die von Gott kommt, be- Licht des Glaubens aber „nicht die Lei- am Donnerstag, 18. Juli, der höchste gesteckt vollen Vortragssaal der Katho- zeichnet wurde und deren Bestimmung den der Welt vergessen“ (Nr. 57), son- Hüter der römischen Lehre in der lischen Akademie in Bayern unter- es ist, die ganze Menschheit zu umfas- dern öffnet uns zu „einer begleitenden Katholischen Akademie referieren. Der strichen. Er würdigte den Text als „ko- sen. Diese Einheit wird mit Recht Gegenwart, einer Geschichte des Guten, Präfekt der Glaubenskongregation, der härentes Dokument des ordentlichen „katholisch“ genannt, denn sie ist in der die sich mit jeder Leidensgeschichte frühere Regensburger Bischof Gerhard Lehramts“ (…). Regina Einig Wahrheit gegründet, der sie zu dienen verbindet, um in ihr ein Tor zum Licht Ludwig Müller, wird die Enzyklika hat und von der her sie zu bewerten ist. aufzutun“ (Nr. 57). Nur das Licht, das interpretieren und mit Gläubigen dar- Donaukurier Sie vermag „alles in sich zu assimilieren, von Gott kommt, dem menschgeworde- über diskutieren. 23. Juli 2013 – Kirchenkritikern hält der was sie in den verschiedenen Bereichen, nen Gott, der den Tod erlitten und be- Kurienerzbischof entgegen: „Die Kirche wo sie hingelangt, und in den verschie- siegt hat, kann angesichts des vielfälti- Der neue Tag ist weit davon entfernt, die Erfolge der denen Kulturen, denen sie begegnet, gen Leids, welches das menschliche 20. Juli 2013 – Papst Franziskus ist Vernunft in Wissenschaft, Technik, Me- vorfindet“(Nr. 48). Denn diese Einheit Leben bedrückt, eine glaubwürdige wenige Tage nach der Veröffentlichung dizin, der globalen Kommunikation, in seiner ersten Enzyklika (…) bewusst auf Völkerrecht, zu denen christlich-gläubi- die italienische Insel Lampedusa gereist, ge Naturwissenschaftler und Soziologen um auf das Flüchtlingselend hinzuwei- Wesentliches beigetragen haben, zu sen, sagte Kurienerzbischof Gerhard schmälern und die politischen Fehl- Ludwig Müller am Donnerstagabend in schläge der Ideologien und der politi- München. Der Besuch sei kein Zufall schen Selbsterlösungsprogramme im gewesen. Weder das Elend der Flücht- 20. Jahrhundert auszunutzen, um die linge, noch die 20.000 Menschen, die Menschen zum Glauben zu nötigen.“ bei der Flucht im Mittelmeer ertrunken Dem wahren Glauben werde am meis- sind, dürfe die Kirche ignorieren. ten geschadet, wenn man ihm die Funk- Alexander Pausch tion des „Lückenbüßers“ in intellektuel- len Fragen oder des „Nothelfers“ für Rheinische Post moralische Ziele zuweise – so als ob der 20. Juli 2013 – Als Müller jetzt bei der Glaube erst dann zum Einsatz käme, Katholischen Akademie in Bayern als wenn die Vernunft versage. offizieller Deuter der ersten Franziskus- Angela Wermter Enzyklika „Lumen fidei“ (…) referierte, war der große Saal der Akademie trotz Münchner Kirchenzeitung Biergartenwetters proppenvoll. Auch 28. Juli 2013 – Kurienerzbischof Ger- Münchens Erzbischof, Reinhard Kar- hard Ludwig Müller (…) hat dazu auf- dinal Marx, hatte sofort seine Teilnah- gerufen, Parteienbildung und Misstrau- me angekündigt, nachdem feststand, en innerhalb der Kirche zu überwinden. welcher intellektuelle Stargast aus Rom Die Welt brauche nicht Zerrissenheit anreisen würde. Reinhold Michels und Gegeneinander, sondern das ge- meinsame Zeugnis der Kirche, sagte der Sprachen über Kirche und Glauben: der Die Tagespost Präfekt der Römischen Glaubenskon- Kabarettist Bruno Jonas (rechts) und 20. Juli 2013 – Die Kontinuität im gregation bei einer Veranstaltung der Akademiedirektor Dr. Florian Schuller. Petrusdienst präge die erste Enzyklika Katholischen Akademie in München.

6 zur debatte 6/2013 nach dem Krieg wieder aufbauen konn- anders das deutsche Bundesverfassungs- te. Das war also eine völlig andere Aus- gericht: Es lebt ständig in der Angst, gangslage als in Deutschland, und man von Luxemburg und von Straßburg, brauchte dazu keinen Colbert wie im 17. vom Europäischen Gerichtshof für Intellektuelle, Jahrhundert. Ab 1945 wurde in Abset- Menschenrechte, so heruntergesetzt zu zung vom Vergangenen einer freien werden wie die Bundesbank von der Marktwirtschaft der Weg bereitet. Im Europäischen Zentralbank. Angesichts Nachkriegs-Frankreich herrschte eine dieser großen Angst spricht man als Kultur und Religion Aufbruchstimmung, durch den Staat mit Verfassungsgericht noch lauter. Ich bin dem Staat. Jean Vilars Théâtre National völlig auf der Seite von Innenminister Populaire hat nur bestehen können, Friedrich, wenn er sagt, wenn Andreas weil eine Beamtin des Kulturministe- Voßkuhle, Präsident des Bundesverfas- links und rechts riums ihn aufgefordert hatte, etwas zu sungsgerichts, sich politisch einmischen tun. Nach 1945 erfuhr Frankreich einen wolle, solle er als Richter abdanken und enormen intellektuellen, wirtschaft- für den Bundestag kandidieren. Es steht lichen und geistigen Aufschwung. Um dem Bundesverfassungsgericht nicht zu, des Rheins nur ein Beispiel zu nennen: Durch das politisch zu entscheiden. Das ist ein private Netzwerk „Peuple et Culture“ deutsch-französischer Unterschied. entfaltete sich die Kultur in Kreisen, wo Ich habe immer gesagt, auch wenn sie zuvor verleugnet worden war; sie ich in Karlsruhe gesprochen habe: Die richtete sich nicht mehr nur an eine Bundesrepublik ist zugleich Rechtsstaat Anlässlich des 50. Jahrestages des am 26. April 2013 nahm speziell die Elite. und Land der Juristerei, manchmal eher deutsch-französischen Freundschafts- kulturell-geistesgeschichtliche Situati- das zweite als das erste. Aber dann stellt vertrages, mit dem 1963 die politische on in den Blick. II. sich die Frage, wenn ich Frankreich lo- Aussöhnung zwischen Frankreich und „zur debatte“ dokumentiert die Refe- be, ob es nicht auch viel zu sagen gäbe Deutschland auf den Weg gebracht rate. Die Vorträge von Professor Horst Ich sprach eben von der Kommunis- über die Art, wie wir Franzosen Wei- wurde, fragte die Katholische Akade- Möller und Professor Alfred Grosser tischen Partei. Hier gibt es den Unter- sungen europäischer Behörden nicht mie Bayern nach dem Stand der Be- finden Sie zum Nachhören auch in schied zwischen Deutschland und durchführen. Was ist eigentlich ein ziehungen der beiden Nachbarländer. unserer Mediathek http://mediathek. Frankreich, dass bei uns 1936, nach Franzose? Niemand wird in Frankreich Die Tagung „Intellektuelle, Kultur und kath-akademie-bayern.de/audiobei- dem Umschwung von Stalin 1935, die sagen: Ich bin ein Franzose mit Migra- Religion links und rechts des Rheins“ traege. Kommunistische Partei die Volksfront- tionshintergrund. Das sagte auch nicht regierung unterstützte. Diese war von Raymond Forni, Sohn kommunistischer 1945 bis 1947, bis Stalin wieder um- Italiener, der Präsident unserer Natio- schwenkte, in der Regierung. Der nalversammlung geworden ist. Das sagt Minister, der die „sécurité sociale“ auch nicht Manuel Valls, unser Innen- zustande gebracht hat, war der Kommu- minister, der als Spanier geboren wurde nist Ambroise Croizat. In Deutschland Gesellschaft und Politik in Frankreich hingegen wurde der Kommunismus bereits 1933 verboten, nachdem 1932 und Deutschland zusammen mit der NSDAP in Berlin So ist in Deutschland die demonstriert worden war. Und dann Freiheit der nicht vom Staat kam die Zwangsvereinigung von KPD Alfred Grosser und SPD in der SED, also ein völlig gelenkten Wirtschaft ein anderer Ausgang. Geschenk der Befreiung von Anders war der Ausgang auch bei dreierlei Unterdrückungen. den Gewerkschaften. In Deutschland waren sie immer politisch rechts; der Allgemeine Deutsche Gewerkschafts- verband ADGB ist sozusagen als Für- und erst seit wenigen Jahren Franzose I. sorge-Team geschaffen worden. Bei uns ist. Das sagt auch nicht Nicolas de in Frankreich waren sie hingegen poli- Nagy-Bocsa, der vorige Präsident der In Frankreich befasst man sich im tisch links, so dass sie noch heute nicht Republik – ich habe nie verstehen kön- Blick auf die Vergangenheit heute nicht mit dem Kapitalismus zusammenarbei- nen, dass Marine Le Pen nicht gesagt mit Deutschland, sondern vor allem mit ten wollen. Die bisher größte Leistung hat, juristisch müsse er mit seinem Vichy und dem Algerienkrieg. Etwas der Regierung von François Hollande vollen Namen kandidieren; im „Who is Neues kommt hinzu, das für Deutsch- stammt von Sozialminister Michel Who“ steht er noch mit seinem Namen land vorbildlich sein sollte: Frankreich Sapin, der erreicht hat, dass es zu einem Nicolas Sarkozy de Nagy-Bocsa. Wir befasst sich mit einer fernen Vergangen- Abkommen zwischen Arbeitgebern und alle wären keine Franzosen, wenn die heit. In Nantes, wo unser Premierminis- Arbeitnehmern gekommen ist – nach Gesetze früherer Präsidenten und die ter Jean-Marc Ayrault, übrigens ein gu- deutschem Vorbild. Das heißt, dass Ge- Verfügungen von dessen letztem Innen- ter Germanist, Bürgermeister ist, gibt es werkschaften und Arbeitgeber sich an minister gegolten hätten. Unsere Väter jetzt ein wunderbares Monument, das einen Tisch setzen und etwas vereinba- wären nie nach Frankreich hereingelas- daran erinnert, dass die Stadt im 18. ren. Die Leistung des Premierministers sen worden. Glücklicherweise ist die Jahrhundert durch den Sklavenhandel bestand jetzt darin, die Fraktion der jetzige Regierung dabei umzusteuern, so reich geworden ist. Das ist eine positive Sozialisten dazu zu bringen, nicht ein- dass man aufgenommen werden kann. schöpferische Erinnerung. zugreifen und dieses Abkommen Gesetz Das hat allerdings auch eine andere In Deutschland befasst man sich so werden zu lassen, und nicht zu sagen, Seite. Die jungen Leute in Vororten gut wie ausschließlich mit der Zeit von das sei ungenügend und die Regierung großer Städte sind – anders als die 1933 bis 1945. Es soll jetzt – warum wolle etwas Anderes, etwas Neues. Auf meisten jungen Türken in Berlin – Fran- auch immer – auch 1914 geben. Und der anderen Seite muss die Präsidentin zosen, und sie sind als Franzosen diskri- dann stellt man sich immer die Frage: des Arbeitgeberverbandes, Laurence miniert. Als Franzose diskriminiert zu Was wird das Ausland sagen? Das Aus- Parisot, gehen, und man weiß noch sein aber ist noch schlimmer, als als land aber sagt manchmal dies, manch- nicht, ob der Nachfolger hart oder auch Ausländer diskriminiert zu sein. Diese mal das. Als besonders wichtig wird Prof. Dr. Alfred Grosser, Politologe und gesprächsbereit sein wird. Leute kommen nicht aus ihren „Ghet- erachtet, was Israel sagt, und ständig Publizist, Paris Wie aber sieht es mit der Politik aus? tos“ heraus und haben keine Berufs- lässt man sich im Namen von Ausch- In Frankreich haben wir eine Verfas- chancen. In den letzten Jahren sehen witz von Israel erpressen. Dabei wird sung, die nicht wirksam ist. So geben sie sich einer Polizei gegenüber, die sie heute völlig vergessen, was nach 1945 die Artikel 20 und 21 dem Premiermi- nur angreift und brandmarkt. Manche in unseren beiden Ländern geschehen In Frankreich war es genau anders nister alle Macht, auch in militärischen von ihnen suchen eine neue Identität. ist und vieles an unserer aktuellen poli- herum: De Gaulle und andere haben Dingen, und doch trifft der Präsident Und diese finden sie im Islam – nicht, tischen und gesellschaftlichen Lage er- dort die Wirtschaft nach 1945 durch alle Entscheidungen. Andererseits ha- weil sie Islamisten wären, sondern weil klärt. den Staat wieder aufgebaut, übrigens ben wir eine Europatreue der großen sie von Frankreich, ihrem Vaterland, Als ins Amt kam, be- mit Unterstützung der Kommunisti- Institutionen, wie es sie in Deutschland schlecht behandelt worden sind. Das ist freite er die Wirtschaft der Bundesrepu- schen Partei, die damals in der Regie- nicht gibt. So haben unser höchstes die andere Seite des Französischseins. blik von drei Arten der Unterwerfung: rung war. Es wurde sozialisiert, weil im Gericht, die „Cour de cassation“, 1975 derjenigen unter Hitlers gelenkte Wirt- Kohle- und Elektrizitätsbereich die pri- und unser „Conseil d’État“ 1989 fest- III. schaft und derjenigen unter die Wirt- vaten Besitzer nicht mehr investiert hat- gelegt: Europarecht hat das eigentliche schaft der Alliierten, die nach Kriegs- ten. Die Eisenbahn war seit 1937 sozia- Vorrecht. Kürzlich ist unser Verfas- Aber wir haben zwischen Deutsch- ende in den drei Westzonen allein das lisiert. Der von den liberalen Vereinig- sungsrat zum Europäischen Gerichtshof land und Frankreich auch Gemeinsam- Sagen hatten, sowie derjenigen in der ten Staaten getragene Marshall-Plan hat nach Luxemburg gegangen und hat keiten. So etwa die Einschätzung: sowjetisch besetzten Zone. So ist in großzügig dazu gedient, die französi- gefragt, ob Frankreich dies oder jenes „Die da oben“ sind fürchterlich. Zum Deutschland die Freiheit der nicht vom sche öffentliche Wirtschaft zu unterstüt- entscheiden dürfe; wenn das Luxembur- Oben-Sein in Deutschland gehört nicht Staat gelenkten Wirtschaft ein Ge- zen, so dass der Monnet-Plan, ein Re- ger Gericht sage, das ist Europarecht, zuletzt der Doktortitel. Bei uns ist es schenk der Befreiung von dreierlei gierungsplan zur Modernisierung der dann ziehe man sich zurück und über- aber viel schlimmer. Wir haben in Unterdrückungen. französischen Wirtschaft, das Land lasse ihm die Entscheidung. Ganz Frankreich Seilschaften, die sogar viel

zur debatte 6/2013 7 haben: die leben „gewissenhaft“. Nein, katholische Kirche in Frankreich so. solche abfälligen Einschätzungen hielt Die „laïcité“ wird so verstanden, dass ich für seit der Mitte des 19. Jahrhun- der Rechtsstaat die Grundlage für die derts verschwunden. Und doch haben religiöse Freiheit gibt und unabhängig sie hier in Deutschland einen enormen von der Religion ist. Die Religionen Erfolg, auch mit solchen Passagen. genießen völlige Freiheit, und sei es nur Unsere beiden Länder sind belastet diejenige, auf sozialem Gebiet zu inter- durch Vergehen, die von Banken be- venieren. Ein normaler französischer gangen werden. In Frankreich hat zum Priester bekommt 800 Euro im Monat. Beispiel eine Bank in Luxemburg einen Im vorletzten Jahr haben alle Priester Fonds geschaffen, der jetzt geschlossen der Erzdiözese Lyon ein Monatsgehalt wurde, mit dem Namen „Lux umbrella“ für soziale Zwecke zur Verfügung ge- – das ist eine tolle Worterfindung –, um stellt. Ein solches Opfer entspricht dem Kapital unter einem Sonnenschirm zu Verständnis von Kirche, wie es der neue verstecken. Die Deutsche Bank ist in Papst vertritt. den Vereinigten Staaten für einen Mil- Es wäre viel zu sagen über all das liardenschaden angeklagt, weil sie mit- Positive, das in der kirchlichen Sozial- gemacht hat bei dem enormen Betrug arbeit in den letzten Jahrzehnten ge- beim Interbankenzinssatz Libor. Sie hat schehen ist. Nun aber ist die Kirche in ebenso bei allem mitgemacht wie die der Lage, sich wegen des aktuellen hef- Schweizer Banken. Wie soll man da tigen Streits um die Homo-Ehe neu zu Vertrauen haben? Ich habe einmal in orientieren. Ausgenutzt wird die Situa- der FAZ geschrieben: „Wir haben alle tion nicht nur von der rechten Partei, das Vertrauen in die Banken verloren. sondern auch von extremen Kräften, die Wen kann ich anklagen, und wen kann jetzt mit dieser zusammengehen, nach- Akademiedirektor Dr. Florian Schuller ich rauswerfen?“ Offenbar sind wir in dem Präsident Sarkozy die Mauer zwi- (re.) auf dem Podium mit Professor einer wirtschaftlichen und sozialen La- schen rechts und extrem rechts zerstört Alfred Grosser. ge, in der wir von Menschen und Insti- hat. Viele Bischöfe fühlen sich ver- tutionen abhängig sind, die wir nicht pflichtet, den Gläubigen zu sagen: Ihr kontrollieren, und wo man anfängt, habt Recht, zu demonstrieren; die Legi- darüber nachzudenken, wie man sie timität ist auf der Straße, nicht im Par- kontrollieren könnte. Wie sieht nun das alles in den Augen der Kirchen aus? Hier haben wir ein Novum, auf französischer Seite. Kein schlimmer sind als in Bayern. Die unten“. „Die da oben“, das ist heute in französischer Katholik kann verstehen, ehemaligen Schüler der Ecole Nationale Frankreich eine schwierige Geschichte. wie man auf deutscher Seite entschuldi- d’Administration, der Ecole polytech- Man glaubt dort, die Bundesrepublik sei gen oder erklären kann, dass derjenige nique, der Ecole Centrale Paris, der wegen Gerhard Schröder wirtschaftlich nicht zur Kommunion gehen kann, der Ecole des Hautes Etudes Commerciales genesen. Es stimmt zwar, dass wir in die Kirchensteuer nicht bezahlt hat. Als usw. übergeben die Posten anderen aus Frankreich viel „pantouflage“ haben, die Bischöfe dies kürzlich bekräftigten, derselben Schule. Und wenn sie mit 55 d.h. hohe Beamte, die in die Privatwirt- habe ich Kardinal Marx eine ganz kurze Jahren irgendwo ernannt werden, steht schaft gehen. Aber wir haben noch nie Mail geschickt, in zwei Worten: „Mam- bei ihrem Namen dabei, wo sie studiert einen Premierminister gehabt, der sich mon siegt!“. Ich glaube, hier haben wir haben und welchen Seilschaften sie in den Dienst eines fremden Diktators eine echte deutsch-französische Diffe- angehören. gestellt hat. Das Schlimme in Frank- renz. Die deutsche Kirche ist reich, und reich ist, dass man glaubt, in Deutsch- der Kardinal von Köln verteilt Geld, an land sei man nur durch Schröders Maß- wen er will, zum Beispiel nicht an die Ich glaube, etwas gibt es nahmen, die Agenda 2010, aufgestiegen. Jesuiten der Karl-Rahner-Gesellschaft. Dabei vergisst man völlig die Bedeutung Hinzu kommt, dass man in der deut- Gott sei Dank nicht in der Forschung: VW betreibt mehr For- schen Kirche brav sein muss, um nicht Frankreich: die Verachtung schung als die Firma Peugeot, die bei rauszufliegen. So wurde zum Beispiel schlechter wirtschaftlicher Lage sofort in Essen ein Kantor entlassen, weil er der Starken gegenüber den Hunderte von Forschern entlassen hat. seine Frau verlassen hatte. Weil er sein Schwachen. Man denkt nicht an die Verhältnisse Recht nicht vor einem deutschen Ge- zwischen Gewerkschaften und Arbeit- richt einklagen konnte, wandte er sich gebern, die in Deutschland hundertmal an den Europäischen Gerichtshof für Andererseits ist bei uns die Schule in positiver sind als in Frankreich. Und Menschrechte in Straßburg. Und Straß- mancher Hinsicht besser als in Deutsch- man denkt auch nicht an all die Pan- burg hat ihm Recht gegeben, woraufhin land. Es gibt ein neues deutsches Wort, nen, die es in Deutschland gibt, etwa das Bistum Essen die Angelegenheit als das ich total lächerlich finde, nicht zu- den Flughafen Berlin Brandenburg, eine Angelegenheit zwischen der Bun- Professor Alfred Grosser griff auch vom letzt in Bayern: das „Turbo-Gymnasi- Berlin Hauptbahnhof, Stuttgart 21, die desrepublik und dem Vatikan hinstellte, Saalmikrofon aus in die Debatte ein. um“, nur weil in der Bundesrepublik Hamburger Elbphilharmonie und den die das Bistum nichts angehe. Es könn- endlich die europäische Norm der 12 Hafen Friedrichshafen ohne Schiffe, te nun passieren, dass die vielen Ange- Jahre durchgekommen ist. In den Mi- jetzt auch Siemens und die ICE-Flotte, stellten von Diakonie und Caritas bald nisterien, vor allem in Bayern, hat man die nicht funktioniert. Auf diesem Hin- ein Streikrecht bekommen – was aus entschieden, dass man in diesen 12 Jah- tergrund, denke ich, sollte es eine ge- der Sicht der deutschen Kirche heute lament. Jahrelang hat die Rechte gesagt, ren dasselbe lernen muss wie zuvor in wisse deutsche Bescheidenheit geben. noch furchtbar erscheint. die gewerkschaftlichen Großdemonstra- 13 Jahren. Die armen Schüler stehen Doch die ist oft nicht vorhanden, und In Frankreich versteht man das alles tionen hätten keine Legitimität; diese vor schwierigen Aufgaben, kommen man hat sogar manchmal den Eindruck, nicht. Als ich kürzlich mit drei Großen sei vielmehr im Parlament. Heute gibt aber dann immer noch vergleichsweise es gäbe eine gewisse deutsche Arroganz, der EKD in Paris war und wir mit zwei es eine neue grundsätzliche Diskussion spät in den Beruf. Einer unserer Söhne die natürlich noch dadurch verstärkt französischen Pastoren dieses Problem um die Legitimität. Jetzt heißt es, der ist Historiker, ich bin Germanist; wir wird, dass in Wembley zwei deutsche diskutierten, meinte einer der Deut- Kampf gegen die Homo-Ehe sei ein waren beide mit 22 Jahren Studienrat Fußballmannschaften aufeinandertref- schen, das wäre doch so, wie wenn bei Element des Protests gegen die Instituti- auf Lebenszeit. In diesem Alter fängt fen werden. der CDU ein Sozialdemokrat angestellt on als ganze, und die Kirche solle da man in Deutschland erst an, zu über- würde. Da haben die drei Franzosen mitmachen. Das ganze soziale Engage- legen, ob man studieren wird. IV. schallend gelacht und gesagt: Na und? ment leidet unter der jetzigen Auseinan- Frankreich hat einiges nicht Gutes zu Wenn jemand zum Beispiel sich hat dersetzung. bieten, etwa das Autoritäre in unserem Ich glaube, etwas gibt es Gott sei scheiden lassen, so gehört das für Fran- Schulsystem, aber auch einiges Gute, Dank nicht in Frankreich: die Verach- zosen in den Privatbereich, nicht wo- V. zum Beispiel gute Pädagogen und die tung der Starken gegenüber den Schwa- anders hin. École maternelle. In Deutschland gibt chen. Theo Sarrazin hat geschrieben: Anfang der 50er Jahre lud der da- Wie wird es nun in Zukunft mit den es keine École maternelle, sondern im „Es gibt einerseits die Besitzlosen und malige Kardinal von Köln, Joseph Ähnlichkeiten und Differenzen zwi- Allgemeinen bezahlbare Kinderhorte. Leichtsinnigen, die häufig genug noch Frings, den Kardinal von Paris, Maurice schen unseren Ländern weitergehen? Das ist in Frankreich alles gratis, genau- durch Laster aller Arten hinabgezogen Feltin, ein, im Kölner Dom zu sprechen. Ich kann etwas in Frankreich nicht so wie die Sozialversicherung, die bei werden. Das sind die Unkultivierten“. Und Kardinal Feltin sagte vor großem verstehen: Einerseits haben wir den uns vom Staat viel mehr bezuschusst Ich würde sagen: „diejenigen, die kei- deutschem Publikum: „1905 ist uns europäischen, wahrscheinlich sogar den wird als in Deutschland, daher auch das nen Zugang zur Kultur gehabt haben“. die Trennung zwischen Staat und Kir- Weltrekord im Konsumieren von Beru- große Defizit. Aber es ist wunderbar, Und Sarrazin fährt fort: „Auf der ande- che auferlegt worden.“ Darauf zeigten higungsmitteln, andererseits wurden wie es funktioniert. Das sind alles Din- ren Seite die Sorgsamen und Mäßigen, die Gesichter der deutschen Hörer noch nie so viele Kinder gezeugt. Ich ge, die man vergleichen sollte. welche meist auch in anderer Beziehung allgemeines Mitleid. Und er fuhr fort: glaubte, ein Kind zu haben, sei ein Be- Aber ich glaube, eine Ähnlichkeit gewissenhaft leben.“ So wie der Vor- „Was konnte uns Besseres geschehen!“ weis dafür, dass man zukunftsfreudig zwischen unseren beiden Ländern be- stand der Hamburgischen Landesbank Worauf unter den deutschen Hörern ist, sonst würde man es nicht auf die steht auch in der Unterscheidung zwi- oder wie alle, die die Katastrophen der totales Unverständnis herrschte. Und Welt bringen. Wie kann man das verein- schen „denen da oben“ und „denen da Bayerischen Landesbank verschuldet doch denkt, bis jetzt jedenfalls, die baren? Ich habe darauf keine Antwort.

8 zur debatte 6/2013 Foto: akg-images Die Unterzeichnung des Elysée-Vertra- Schröder (CDU), rechts Frankreichs ges am 22. Januar 1963. Adenauer und Premierminister und späterer Staats- de Gaulle umarmen sich, links der da- präsident Georges Pompidou. malige Bundesaußenminister Gerhard

Kinder gibt es in Frankreich genügend, Beamte 40 % weniger Lohn bekommt. so dass auch das Problem der Jugendar- Dieses Verständnis müsste man laut beitslosigkeit bei Ihnen und bei uns zum Ausdruck bringen, sonst heißt es, nicht dasselbe ist; Sie haben ja immer es gebe einen deutschen Willen der weniger Jugendliche. Macht und der Arroganz gegenüber Beide Länder müssten zur Kenntnis Europa. nehmen, wie ihre Gesellschaften aus- Das ist in Frankreich nicht der Fall, sehen, dass ihre Politik voll von Wider- weil Frankreich in diesem Sinn klein sprüchen ist. Zum Beispiel die SPD, die geworden ist und wir unsere Probleme mit Gerhard Schröder in den Wahl- noch weniger lösen. Aber auch weil die kampf zieht, aber gegen das kämpft, deutsch-französische Differenz heute was er politisch umgesetzt hat. In der nicht daher kommt, dass man sich nicht Agenda 2010 steht nicht, dass wir uns mag oder dass die Strukturen unten um Mindestlohn und um die Leute un- nicht dieselben sind, sondern weil oben ten kümmern müssen. Und die christ- beide Seiten nicht ganz ehrlich mitein- demokratische Bundeskanzlerin war in ander verhandeln und den anderen Brüssel und hat in Abstimmung mit nicht ganz verstehen. Dieses Unver- dem britischen Premierminister Came- ständnis oben ist zwar teilweise über- ron, einem Feind Europas, einen Haus- wunden durch das gute Verstehen un- halt gebilligt – ja, in Deutschland gibt es ten, doch ist damit die Lage nicht geret- im September 2013 Wahlen. Dabei tet. Im Gegensatz zu Albert Camus bin bräuchte Europa einen enormen euro- ich ein glücklicher Sisyphus, denn wenn päischen Fonds, der es möglich machen der Stein herunterfällt, bleibt er jedes würde, dass Spanien, Portugal und Mal ein bisschen höher liegen als zu- Griechenland nicht durch Sparen völlig vor. Und jedes Mal ist ein bisschen Die vier Referenten: die Professoren zugrunde gehen, dass man ein bisschen mehr Hoffnung, auch wenn es schlecht Horst Möller, Jean-Louis-Schlegel, Hen- Mitgefühl zeigt und nicht nur Geld gibt, geht. Deswegen, meine ich, könnten ri Ménudier und Alfred Grosser (v.l.n.r.). das durch die Banken weitgehend zu- wir die Tagung ein bisschen freudig rückkommt. Dass man nicht nur Geld machen, wenngleich die Chancen, gibt, sondern auch sagt: Wir verstehen Freudiges zu erleben, in der heutigen die Lage in Spanien, wo jetzt 27 % der Zeit selten sind. „ Bevölkerung arbeitslos sind, und wir verstehen, dass jetzt der griechische

zur debatte 6/2013 9 statt, der die Aussöhnung zwischen Gern zitiere ich an dieser Stelle aus Grußwort Frankreich und Deutschland definitiv Ihrer Präsentation dieses Forums den besiegelt hat. Der Auftakt dieses Satz: „Doch wissen sich beide Seiten Generalkonsul Emmanuel Cohet Deutsch-Französischen Jahres fand am trotz verbleibender Differenzen aufein- 22. September 2012 in Ludwigsburg ander angewiesen und Europa ver- statt, an dem Ort, an dem General de pflichtet.“ Die heutige Zusammenkunft Gaulle vor 50 Jahren einen Appell an ist zwar ein Beitrag zum Gedenken an die Jugend richtete, zur Aussöhnung den Elysée-Vertrag, doch ist sie auch zwischen den Völkern. Die abschließen- der Gegenwart und der Zukunft der de Veranstaltung wird am 5. Juli 2013 deutsch-französischen Beziehungen Es ist mir eine große Freude, hier in in Paris stattfinden, am 50. Jahrestag gewidmet, mit dem Ziel, unsere kultu- der Katholischen Akademie an diesem der Gründung des Deutsch-Französi- rellen und spirituellen Unterschiede zu Seminar teilzunehmen. Ihre Institution schen Jugendwerks. begreifen, aber auch unsere Gemein- ist ein zwangloser, einladender Ort der Hervorheben möchte ich in diesem samkeiten hervorzuheben. Begegnung, der den Austausch und die Zusammenhang die Ausstellung am Wie im Programm bereits angedeutet, Diskussion über Religion ermöglicht Münchner Odeonsplatz. Sie stand unter nimmt dieses Treffen die kulturelle und und darüber hinaus ein besonderes dem Titel „Adenauer und de Gaulle. geistesgeschichtliche Situation in den Augenmerk auf die Herausforderungen Wegbereiter deutsch-französischer Blick: Welche Trends bestimmen heute unserer modernen Gesellschaft lenkt. Freundschaft“ und konnte auf Initiative das Leben in Deutschland und Frank- Vor zwei Monaten war der Präsident des Französischen Generalkonsulats in reich? Wo zeigen sich kulturelle Ge- der Europäischen Zentralbank, Herr München und mit Unterstützung der meinsamkeiten, wo Unterschiede? Mario Draghi, hier zu Gast, mit einem Stadt München, der Bayerischen Staats- Welche Rolle spielen Elite und Intellek- spannenden Vortrag über die Wirt- kanzlei sowie deutscher und französi- tuelle in Deutschland und Frankreich? schaft. Auch Fragen der internationalen scher Sponsoren vom 6. bis 16. April Wir leben in einer Zeit, die nicht zu- Beziehungen und der Wissenschaften 2013 gezeigt werden. Premierminister letzt von Schwierigkeiten und Heraus- werden hier diskutiert. Am 14. Mai Jean-Marc Ayrault eröffnete sie am forderungen im wirtschaftlichen und dieses Jahres wird in der Akademie die 6. April mit Oberbürgermeister Chris- finanziellen Bereich geprägt ist. Selbst- 3. Deutsch-Französische Expertendis- tian Ude und Wissenschaftsminister verständlich ist eine gesunde Wirt- kussion über das Thema „Stammzellen. Wolfgang Heubisch. Wir können stolz schaft wesentlich für jede Gesellschaft Perspektiven in Forschung, Therapie sein über die mehr als 17.000 Besucher, und ihre Bürger, aber jede Gesellschaft und Ethik“ stattfinden. Ich begrüße die- die dieser Ausstellung ihr Interesse versteht sich insbesondere auf dem se Initiative und freue mich sehr über geschenkt haben. Hintergrund des intellektuellen Lebens die hervorragende Zusammenarbeit, die Am gleichen Ort, auf dem Münchner mit unterschiedlichen Glaubensrich- seit Jahren zwischen der Katholischen Odeonsplatz hat General de Gaulle an- tungen und Werten, im weiteren Sinne Akademie in Bayern und Vertretern Emmanuel Cohet, Generalkonsul der lässlich seiner Deutschlandreise am von seiner Kultur her. Darüber berich- meines Landes besteht. Französischen Republik in Bayern 8. September 1962 eine bedeutsame ten in wenigen Minuten die Professo- Im Rückblick verdienen folgende von Rede gehalten. Sie kam von Herzen. Er- ren Grosser, Möller, Ménudier und der Akademie in Frankreich ausgerich- lauben Sie mir, daraus eine Passage zu Schlegel. tete Debatten Erwähnung: Das Sympo- zitieren: „Wie auch immer in der Ver- Abschließend erwähne ich noch sium im Februar 1965 in Paris über und Professor Joseph Rovan, der für gangenheit die Streitigkeiten zwischen gerne meine Unterredung mit Herrn Probleme des Katholizismus in seinen Einsatz für die Versöhnung zwi- Franzosen und Deutschen waren, so Dr. Schuller vor einigen Monaten über Deutschland, im April 1979 in Straß- schen Deutschen und Franzosen mit weiß doch jeder, dass stets und trotz al- die Richtigkeit bzw. die Relevanz des burg über Europa und die Christen, im dem Romano Guardini Preis 1993 lem zwischen Bayern und meinem Land heutigen Symposions und seiner The- Oktober 1986 in Paris über verschiede- ausgezeichnet worden ist. Die Akade- ein gegenseitiges Verständnis und eine matik. Die Zahl der Teilnehmer spricht ne Aspekte der Beziehungen zwischen mie pflegt auch enge Beziehungen zur besondere Sympathie bestehen. Aber für sich. Herzlichen Glückwunsch an Politik und Glaube in Frankreich und Ökumenischen Gemeinschaft von Taizé heute, wo Frankreich und Deutschland die Organisatoren und alle Mitwirken- Deutschland, im Oktober 1993 in Paris nahe Cluny in Frankreich: Im Oktober vor der gleichen Bedrohung stehen und den für die geleistete Arbeit! Es hat sich über die Menschenrechte, ihre Her- 2009 haben Sie ihr den Ökumenischen in der neuen Welt so viel Gemeinsames gelohnt. Wie General de Gaulle am kunft, Geltung und Gefährdung, und Preis verliehen, weil sie sich als zu bewältigen haben, gilt es, sich wieder Odeonsplatz sagte: „Von ganzem vor zwei Jahren, im November 2011, in privilegierter zeichenhafter Ort der zu vereinigen. Demnach kann und muss Herzen und im Namen Frankreichs Paris über Intellektuelle und Religion in Versöhnung unter gespaltenen Christen die Freundschaft, jawohl die Freund- Danke an München, diese liebenswerte Frankreich. und getrennten Völkern erwiesen hat. schaft zwischen Franzosen und Bayern und prachtvolle Hauptstadt. Es lebe Prominente Franzosen waren hier als Die heutige Veranstaltung findet sowohl in der Gegenwart wie in der München! Es lebe Bayern! Vive l’amitié Vortragende zu Gast, zum Beispiel im Rahmen der Feierlichkeiten des Zukunft ein Schwerpunkt sein.“ franco-allemande!“ Ich wünsche Ihnen Kardinal Jean-Marie Lustiger, Jean-Luc Deutsch-Französischen Jahres zum Auch 50 Jahre danach haben diese einen bereichernden Nachmittag und Marion von der Académie Française 50jährigen Jubiläum des Elysée-Vertrages Worte die gleiche Überzeugungskraft. danke für Ihre Aufmerksamkeit! „

Presse

Rheinische Post 8. Mai 2013 – Die deutsch-französi- schen Beziehungen – oft werden sie nüchtern beschrieben, manchmal hymnisch besungen, zuletzt kritisch kommentiert. Florian Schuller, Leiter der Katholischen Akademie in Bayern, hatte zum 50-jährigen Bestehen des Elysée-Vertrages zwischen Paris und (damals) Bonn eine beachtliche intellektuelle Runde in München versammelt (...). Schuller (...) fragte, ob etwa der ehemalige Präsidentenberater Jacques Attali recht habe, wonach sich das deutsch-französische Verhältnis derzeit auf Minimalniveau befinde. Grosser nahm den „Ball“ umgehend auf, und das nicht ohne Selbstironie: „Ich bin schon deshalb Franzose, weil ich mich selbst überschätze.“ Frankreich sei gegenüber dem wiedervereinigten Deutschland schwächer geworden; das Foto: dpa/Stephan Rumpf nähre bei manchen Franzosen den Das Dante-Gymnasium in München keit, das deutsche und französische konkreten positiven Ergebnisse der Eindruck, der starke Nachbar im Osten (hier Schulleiter Bernhard Fanderl und Abitur (AbiBac) parallel abzulegen. Die engen deutsch-französischen Zusam- verhalte sich arrogant. die Fachbetreuerin Französisch Andrea Möglichkeit, diesen besonderen Schul- menarbeit auf kulturellem Gebiet. Reinhold Michels Hofferberth-Rieger) bietet die Möglich- abschluss zu machen, ist eine der vielen

10 zur debatte 6/2013 zwei Charakteristika genannt: Zum Autorität als engagierte Kritiker ge- Intellektuelle in Deutschland und Frank- einen seien sie im Prinzip links, zum sellschaftlicher oder politischer Fehl- anderen gelte diese Einschätzung in entwicklungen geschädigt. Der Wahr- reich – worin bestehen die Unterschiede? erster Linie für Frankreich, weshalb es heitsanspruch, der seit Voltaire und eben in Deutschland bis zur Bundesre- Zola das politische Engagement außer- Horst Möller publik keine wirklichen Intellektuellen halb der eigenen sachlichen Kompetenz gegeben habe. Beides ist falsch: In der legitimierte, wurde unglaubwürdig. Der Auseinandersetzung mit Zola standen Auseinandersetzung mit den immer mit Barrès, Maurras u. a. dezidiert noch aktuellen Verbrechen der kommu- nationalkonservative Intellektuelle, in nistischen Regimes wich man aus, prak- Deutschland entwickelte sich mit der tizierte aber zugleich einen plakativen ebenfalls heterogenen, der sog. Konser- Antifaschismus in Europa, der zumin- I. vativen Revolution um Ernst Jünger, dest nach dem Ende des Franco-Regi- Hans Freyer, Oswald Spengler ein mes 1975 einem Phänomen der Ver- Was sind Intellektuelle? Ein Intellek- rechtsintellektueller Kreis gegen die gangenheit galt. tueller ist ein Mensch, der die Welt auf während der Weimarer Republik do- den Kopf stellt. So könnte man frei minierenden Linksintellektuellen. Unter 2. Von Intellektuellen wie André nach Karl Marx antworten, der in seiner Letzteren waren die bekanntesten Kurt Glucksmann, Alain Finkielkraut und berühmten Kritik an Hegels Staats- und Tucholsky, Carl von Ossietzky, Heinrich Bernard-Henri Lévy geht kein annä- Rechtsphilosophie bemerkte, er habe Mann, Klaus Mann, Bert Brecht, Lion hernd so großer intellektueller Reiz aus, Hegel vom Kopf auf die Füße gestellt, Feuchtwanger, George Grosz, Ernst wie ihn – trotz aller Irrtümer – Jean- sprich vom Geist auf die Materie. Nach Toller, Ernst Mühsam und viele andere. Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Marx bestimmt bekanntlich das – sozio- Als Typus freier Schriftsteller, die in die die anderen linken Denker und Schrift- ökonomische – Sein das Bewusstsein, Öffentlichkeit wirkten, dezidierte poli- steller dieser Jahre im Kreis um Sartres während – so würde ich den Faden tische Kritik übten, traditionelle Auto- Zeitschrift „Les Temps modernes“ aus- weiter spinnen – die Intellektuellen ritäten angriffen, unterschieden sie sich übten. Unter deren politischen Kämpfen überzeugt sind, ihr Bewusstsein, also kaum von den französischen Intellek- war beispielsweise die scharfe Abrech- auch ihre Ideen, bestimmten das Sein: tuellen. nung mit dem Algerienkrieg (1954 – Ist die Welt der Vorstellung erst revo- Nach dem Zweiten Weltkrieg spielten 1962) und seinen Methoden. lutioniert, hält die Wirklichkeit nicht in Frankreich, anders als in Deutsch- stand, erklärte Hegel folgerichtig. Zwei- land, die linken, ja marxistischen Intel- Seit dem Ende der Ära Sartre wird fellos enthält diese Formulierung kriti- lektuellen in den „années Sartre“ eine die vielberufene „Krise der Intellektuel- sches Potential gegenüber der Realität, bedeutende kulturelle und gesellschaft- len“ diskutiert. Die wirklich bedeuten- in diesem Fall der gesellschaftlichen liche Rolle. Das lag zum einen an Zahl den philosophisch, sozialwissenschaft- und politischen Realität, jede Beschrei- und Rang dieser Gruppe, zum anderen lich oder methodologisch anregenden bung des Intellektuellen enthält also ein an der mit Deutschland nicht vergleich- Werke kamen zum erheblichen Teil oppositionelles Element, die Frage stellt Prof. Dr. Horst Möller, Professor für baren Anerkennung, die in Frankreich nicht mehr aus Saint-Germain-des-Prés, sich also: Sind Intellektuelle in politi- Neuere und Neueste Geschichte an der traditionell die Intellektuellen, aber sondern aus dem Quartier Latin, aus scher Hinsicht zwangsläufig kritisch Universität München nach 1945 auch der Kommunismus dem Collège de France oder der Ecole und oppositionell? besaßen, weil er ein wesentlicher Teil des Hautes Etudes en Sciences Socia- Nach der ersten Antwort, die auf eine der Résistance gegen die deutsche Be- les, von Autoren wie Jacques Derrida, spezifische Weltbetrachtung abhebt, satzung war. Demgegenüber waren die Michel Foucault, Claude Lévy-Strauss, nämlich die Beurteilung der Realitäten einer zentralen Forderung der gemein- Kommunisten in Deutschland in viel- Paul Ricoeur, Pierre Bourdieu oder nicht vom Sein, sondern vom Sollen, europäischen Aufklärung. Frankreich facher Hinsicht diskreditiert. Auch der außerhalb dieses Kreises von Pierre von einer durch den Intellekt definier- und Deutschland unterscheiden sich Neokommunismus der 1960er und Nora. Ihr Denken ist aber sehr viel an- ten Norm her, stellt sich eine zweite also nicht dadurch, dass es dort Intel- 1970er Jahre erlangte keine gesellschaft- spruchsvoller und komplexer als das der Frage: Wie sind die Intellektuellen in lektuelle gibt und hier nicht, sondern in liche Breitenwirkung; kommunistische Nouveaux philosophes und schon des- der sozialen Schichtung zu verorten? der Art des Intellektualismus. Und sie Intellektuelle galten in der Bundesrepu- halb meist weniger direkt für breites ge- Und in Bezug auf diese Frage werden ähneln sich in bestimmten Konstella- blik eher als Sektierer, denn als kriti- sellschaftlich-politisches Wirken geeig- im allgemeinen die prinzipiellen Unter- tionen und gesellschaftlichen Rollen. sches und konstruktives gesellschaftli- net. Insofern hat sich der Einfluss der schiede zwischen deutschen und fran- Natürlich ist damit die Frage noch nicht ches Potential. Und nicht zu vergessen: Intellektuellen auf die französische zösischen Intellektuellen gesehen. Die beantwortet, ob die politische Rolle der Nach 1945 hatte die deutsche Bevölke- Öffentlichkeit und damit indirekt auf einfachste Antwort lautet: Intellektuelle Intellektuellen in Frankreich tatsächlich rung nur noch eine sehr begrenzte Nei- die Politik verringert. Dem widerspricht sind Menschen mit intellektuellen Be- oder nur vermeintlich größer ist als in gung zu großen ideologischen Utopien. nicht die Behauptung von Lévy, den rufen, also verkürzt gesagt, mit Kopf- Deutschland. damaligen Staatspräsidenten Sarkozy arbeit: Wissenschaftler, Schriftsteller, Die gängige Unterscheidung, dass III. von der Notwendigkeit überzeugt zu Künstler, Publizisten, Journalisten, sich in Deutschland kein vergleichbar haben, gegen Gaddafi in den Krieg zu Lehrer usw. Doch schon hier wird es intellektuelles Feld herausgebildet habe Die zentralen Fragen der Intellektu- ziehen. Die Frage ist auch, ob für heuti- schwierig, würde man doch bestimmte, wie in Frankreich, weil in Deutschland ellen von Saint-Germain-des-Prés und ge Politiker die Literatur noch eine – durchaus intellektuelle Qualifikation diese Rolle, wenn überhaupt, nur in vom Montparnasse in Paris finden sich zumindest nach außen zur Schau getra- erfordernde Berufe zwar ggf. indivi- begrenzter und sehr spezifischer Weise in dem Schlüsselroman der Nachkriegs- gene – vergleichbar legitimierende Be- duell, jedoch nicht kollektiv zu den von Gelehrten, d. h. von beamteten intellektuellen „Les Mandarins“, den deutung für ihr Selbstbild hat, wie für Intellektuellen zählen. Professoren oder Angehörigen von Ins- die Sartre-Gefährtin Simone de Beau- die vorhergehenden Generationen. Fragen wir nach einem weiteren titutionen wahrgenommen worden sei, voir 1954 veröffentlichte. Bei vielen Unterscheidungsmerkmal: In den ge- läuft auf eine künstliche Unterschei- Pariser Intellektuellen dieser Jahre half IV. nannten Berufsgruppen finden sich dung hinaus und trifft nur epochenbe- weder die historische Erfahrung noch solche, die sich nicht allein im Hinblick zogen und partiell zu. Schon die Unter- die engagierte nüchterne Analyse des Nach dem Zweiten Weltkrieg ver- auf ihre Disziplin, sondern sozial ge- stützer von Zolas „J’accuse“ waren großen Raymond Aron in seinem Buch suchten Intellektuelle an das europäi- sehen in ihrer arbeitsrechtlichen Stel- keineswegs überwiegend freie Schrift- „L’ Opium des intellectuels“ von 1955 sche Gespräch anzuknüpfen, das es lung unterscheiden: Sie können be- steller. über ihre marxistische Ideologietrun- trotz aller Wirrnisse auch zwischen den amtet, angestellt oder freiberuflich sein. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts kenheit hinweg, sondern erst die Nie- Kriegen gegeben hatte, etwa zwischen Und hier sehen dann auch viele Inter- ragen zweifellos Voltaire, Diderot und derschlagung des Ungarn-Aufstandes André Gide und Ernst Robert Curtius preten einen wesentlichen Unterschied d’Alembert heraus, allesamt „freie“ durch sowjetische Truppen 1956. Wie- oder Klaus Mann, zwischen Romain zwischen französischen und deutschen Schriftsteller, in Deutschland ebenfalls der andere benötigten die Erfahrung des Rolland und Stefan Zweig. So organi- Intellektuellen: Während in Deutsch- die „freien“ Schriftsteller Lessing, Prager Frühlings 1968. sierten nach Beginn des Kalten Krieges land diese Spezies vor allem durch Nicolai, Mendelssohn, aber auch der Mit dem Fall der Sowjetunion 1989/ 1950 im Westen des geteilten Berlin Wissenschaftler, meist Professoren ge- Professor Kant. Und im 19. Jahrhundert 91 brach die Zeit der Nouveaux philo- europäische Intellektuelle einen großen prägt werde – die beamtet sind – seien stehen in Deutschland neben den Pro- sophes an, die zwar die politischen internationalen Kongress für kulturelle die französischen Intellektuellen den fessoren der „Göttinger Sieben“ bei- Illusionen Sartres nicht mehr teilen, Freiheit, als Zeichen gegen den Kom- Schriftstellern, den Literaten i.w.S. zu- spielsweise freie Schriftsteller wie Börne ihm aber an philosophischer Substanz munismus. Unter den Rednern waren zuordnen, also freiberuflich. und Heine, der freilich nach Frankreich und schriftstellerischer Kraft weit unter- Raymond Aron, Ernst Reuter, Carlo emigrierte. Und in beiden Ländern legen sind und inzwischen alle Möglich- Schmid, Arthur Koestler, Ignazio Silone II. sollte seit dem 19. Jahrhundert in erster keiten des Medienzeitalters nutzen. und Jules Romains. Doch das dort be- Linie nicht mehr die Kirche, sondern In den letzten zwei bis drei Jahrzehn- schlossene Manifest bildete auch den Die Geschichte des modernen Intel- die weltliche Obrigkeit in ihre Schran- ten haben sich die Gewichte vor allem Endpunkt; danach trennten sich die lektuellen beginnt nicht erst mit Emile ken gewiesen werden. aus zwei Gründen verschoben: Wege, einer der Mitgründer Melvin J. Zolas „J’accuse“ 1898 und der damali- Zwar existieren epochen- und situa- Lasky gab die mehrere Jahrzehnte be- gen Begriffs- und Gruppenbildung „der tionsspezifische Eigenheiten, jedoch 1. Die politischen Irrtümer zahlrei- stehende wichtige politische Zeitschrift Intellektuellen“, sondern mit der Auf- keinen prinzipiellen Unterschied zwi- cher Intellektueller, insbesondere ihre „Der Monat“ heraus, welche die politi- klärung und zwar nicht allein in der schen dem Typus des Intellektuellen, so langwierige Ablösung von kommu- schen Gegensätze dokumentierte. Füh- französischen, sondern in der europäi- seinen Handlungsformen und seiner nistischen Illusionen während des rende europäische Intellektuelle publi- schen, also auch der deutschen Auf- Wirksamkeit in Deutschland und Zweiten Weltkriegs und in den Jahr- zierten dort Artikel, von Bertrand Rus- klärung. Der Kampf der Intellektuellen Frankreich. zehnten danach, haben ihre mehr als sel, George Orwell bis zu Golo Mann gegen weltliche und kirchliche Obrig- Im Blick auf die politische Haltung eineinhalb Jahrhunderte währende und Sartre, der über die „Intellektuellen keit um Religionstoleranz basiert auf der Intellektuellen werden in der Regel durchaus berechtigte gesellschaftliche in der Krise der Gegenwart“ schrieb.

zur debatte 6/2013 11 Joachim Fest, Wolf Jobst Siedler oder bis heute um Günter Grass, Martin Walser, Jürgen Habermas, Hans Magnus Enzensberger oder Peter Sloterdijk han- delt. In den 1970er und 1980er Jahren meldeten sich in Reaktion auf die „1968er“ verstärkt konservative Intel- lektuelle zu Wort, beispielsweise Gün- ther Maschke, Günter Rohrmoser, Armin Mohler und andere. Doch blie- ben sie nur eine kleine Minderheit und gewannen auf die Gesellschaft insge- samt sehr viel geringeren Einfluss als die linken Intellektuellen. Insofern ist die Konstellation ähnlich wie in Frankreich. Zu erwähnen ist auch die intellektu- elle Kritik an Linksintellektuellen und der kulturpolitischen Entwicklung in Deutschland in Kongressen und Pub- likationen, die seit Ende der 1970er Jahre zu einer „Tendenzwende“ auf- forderten. Einer der Wortführer war der frühere sozialdemokratische Staats- sekretär und Philosoph Hermann Lübbe oder auch der bedeutende – ebenfalls sozialdemokratische – Politik- wissenschaftler und Publizist Richard Löwenthal, die neben eher konservative Publizisten wie Dolf Sternberger, Golo Mann und Erwin K. Scheuch traten. Zu einer Fundamentalkritik setzte 1975 der Soziologe Helmut Schelsky an, der durch wichtige Zeitdiagnosen wie „Die skeptische Generation“ (1957), „Soziologie der Sexualität“ (1955) oder „Einsamkeit und Freiheit. Idee und Ge- stalt der deutschen Universität“ (1971) hervorgetreten war. Schon der Titel seines Buches signalisiert die Kampfan- sage: „Die Arbeit tun die anderen. Klas- senkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen“. Später folgten dann ähnlich (selbst)kritische Essays von Intellektuellen, etwa von dem eher linksliberalen Politologen Kurt Sont- heimer. Offensichtlich wurde für einige Intellektuelle das politische Engage- ment selbst zum Problem. Insgesamt näherte sich jedenfalls die gesellschaftliche Rolle politisch enga- gierter Intellektueller in Deutschland und Frankreich an. Ihre immer wieder auftretenden markanten politischen Irrtümer sind ebenfalls vergleichbar. In einem bleibt aber ein wesentlicher kom- munikativer Unterschied, den schon die Aufklärer des 18. Jahrhunderts bemerk- ten: In Frankreich ist – trotz aller kultu- reller Bedeutung auch anderer traditi- onsreicher Städte – Paris nach wie vor das Zentrum des intellektuellen Dis- kurses. Ein vergleichbares Zentrum fehlt in Deutschland aufgrund der föde- rativen Struktur, die den kulturellen Polyzentrismus, aber keine Kohärenz begünstigt wie in Paris. Dort konzen- trieren sich auf wenigen Quadratkilome- tern die Intellektuellen, aber auch wis- senschaftliche Institute, Eliteuniversitä- ten, Akademien, Zeitschriften, Verlage und Buchhandlungen. Und trotzdem: Fördert die enge Nachbarschaft in Paris wirklich die wechselseitige Hochschätzung von Foto: akg-images Politikern und Intellektuellen stärker, Tiefe Freundschaft damals: Staatsprä- berühmten gemeinsamen Messe in der als es die räumliche Distanz in Deutsch- sident Charles De Gaulle und Bun- Kathedrale von Reims am 8. Juli 1962. land erlaubt? General de Gaulle soll deskanzler bei der zwar über den im Mai 1968 im Quartier Latin agitierenden Sartre gesagt haben: „Voltaire verhaftet man nicht“, doch zum Minister hat er den geläuterten André Malraux, nicht aber Sartre be- rufen. Ebenso wenig hat Es war tatsächlich erst der lange Ab- Wenngleich in Deutschland die Dis- Schriften sowie die kulturpolitischen Heinrich Böll oder seinen Wahlhelfer schied vom Kommunismus und Neo- ziplin der Intellektuellengeschichte sehr Nachkriegszeitschriften, wie zum Bei- Günter Grass (der dies gerne wollte) in marxismus, der den politischen Weg der viel weniger ausgeprägt ist als in Frank- spiel die Frankfurter Hefte, die Neue die Bundesregierung geholt. Und nicht meisten Intellektuellen in Deutschland reich, wird sie doch auch bei uns in- Rundschau, Merkur, die Neue Gesell- zu vergessen: Auch in Deutschland ge- und Frankreich bis in die 1980er Jahre zwischen stärker untersucht. Der poli- schaft, die noch heute existieren. Dieses langten führende Intellektuelle in poli- getrennt hat – trotz mancher Analogie tisch engagierte, in die Öffentlichkeit politische Engagement der schreiben- tische Ämter, beispielsweise Theodor im französischen Existentialismus, der wirkende kritische Intellektuelle erlebte den Zunft hat in der Geschichte der Heuss, Carlo Schmid, Hans Maier, zeit- durch die deutsche Phänomenologie, insbesondere aufgrund der Auseinan- Bundesrepublik nicht nachgelassen, ob weise auch . Insofern die Existenzphilosophie sowie den dersetzung mit dem Nationalsozialis- es sich nun früher um Wolfgang Koep- zeigt sich auch bei den Intellektuellen überragenden Einfluss von Martin mus seit 1945 in Deutschland, nach der pen, die Frankfurter Sozialphilosophen eine Angleichung europäischer Gesell- Heidegger auf die französische Nach- erzwungenen zwölfjährigen Pause, seine Alexander und Margarete Mitscherlich, schaften. „ kriegsphilosophie geprägt wurde. Wiedergeburt. Davon zeugen zahlreiche Johannes Gross, Sebastian Haffner,

12 zur debatte 6/2013 Forschungsinstitutionen sehr systema- Jugendwerk, in dessen Rahmen seit fast Culture und Kultur in Frankreich und tisch aufgebaut. Auch gab es eine Zu- 50 Jahren über acht Millionen junge sammenarbeit zwischen dem Centre Franzosen und Deutsche in Austausch- Deutschland. Unterschiede und Gemein- national de la recherche scientifique programmen das jeweilige Partnerland (CNRS) und der Deutschen Forschungs- besucht haben. So sind durch das samkeiten in der Zeit der Globalisierung gemeinschaft. Deutsch-Französische Jugendwerk In Frankreich wurden deutsche Ins- wirklich sehr viele Menschen zusam- titutionen gegründet, wie das Deutsche mengekommen. Daneben gibt es auch Henri Ménudier Historische Institut und das Deutsche andere Gelegenheiten, sich mit der Kul- Forum für Kunstgeschichte. Auch gibt tur des Nachbarn vertraut zu machen, es dort besondere Institute wie das etwa Festspiele, bei denen das Partner- Centre d’information et de recherche land sehr oft berücksichtigt wird. sur l’Allemagne contemporaine (CIRAC), dessen Präsident Alfred III. Ich möchte mit zwei Zitaten anfan- Grosser ist. Eine Zusammenarbeit im gen. „Ich hasse alle Franzosen ohne Universitätsbereich gibt es durch das Der deutsch-französische Kulturaus- Ausnahme im Namen Gottes und Centre interdisciplinaire d’études et de tausch beschäftigt sich nicht nur mit meines Volkes. Ich lehre meinen Sohn recherches sur l’Allemagne (CIERA), Literatur, Kunst und Musik, sondern diesen Hass.“ Diese Meinung vertrat ein interdisziplinäres Zentrum für auch mit Massenkultur, mit Medien und Ernst Moritz Arndt 1814, ein Beispiel Deutschland-Studien in den Bereichen Sport. Auch hier bieten sich sehr viele der kommenden Erbfeindschaft. Und Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Austauschmöglichkeiten. ein zweites Zitat: „Es kann gar nicht Kultur. Zu erwähnen ist natürlich auch In den Romanen der letzten Jahre in genug deutsch-französische Beziehun- das Institut für Zeitgeschichte hier in Frankreich wurde sehr oft Deutschland gen, gar nicht genug deutsch-französi- München, das sich immer auch be- als Bezugspunkt genommen. Aus Zeit- schen Kulturaustausch geben.“ Das hat sonders für Frankreich interessiert hat. gründen kann ich natürlich nicht alle Konrad Adenauer am 3. November In Deutschland gibt es umgekehrt französischen Autoren nennen, die in 1949 in einem „ZEIT“-Interview gesagt. französische Institutionen, z. B. die Deutschland publiziert wurden, oder Ich freue mich, dass sich der Stand- Mission historique française in Göttin- umgekehrt. Aber es gibt eine bedenkli- punkt von Adenauer durchgesetzt hat. gen; sie heißt heute Institut français che Entwicklung: ein starker Rückgang d’histoire und beschäftigt sich beson- der Übersetzungen. Es werden weni- I. ders mit der deutschen Geschichte. In ger französische Romane ins Deutsche Berlin ist das Centre Marc Bloch sehr übersetzt, und umgekehrt. Das ist na- Als erstes möchte ich an die Verträge bekannt, das sich vor allem im Bereich türlich nicht besonders gut für die ge- erinnern, auf denen wir die deutsch- der Sozialwissenschaften und der Ge- genseitige Verständigung. französische Zusammenarbeit aufgebaut schichte engagiert. Sechs deutsche Uni- In der philosophischen Diskussion haben. Am Anfang war die Besatzungs- versitäten haben zwischen 1989 und in Frankreich haben Marx, Nietzsche, politik Grundlage der französischen 2011 Frankreich-Zentren eröffnet, dar- Freud, Husserl und Heidegger eine Kulturpolitik in Deutschland. Damals unter Freiburg. Das Bayerisch-Französi- große Rolle gespielt haben, und auf hat Frankreich seine Kultur nach Prof. Dr. Henri Ménudier, Professor für sche Hochschulzentrum arbeitet mit deutscher Seite gilt dies u. a. für Jean- Deutschland exportiert und nicht so Politikwissenschaft an der Université den französischen Hochschulen und Paul Sartre, den Existentialismus, auch sehr die bilaterale interkulturelle Zu- Paris III – Sorbonne Nouvelle den Grandes Écoles zusammen. Und in Merleau-Ponty, Paul Ricœur und sammenarbeit gesucht. Trotzdem gab es Saarbrücken gibt es die Deutsch-Fran- Bourdieu. bereits sehr positive Initiativen. So wur- zösische Universität, die keine echte Eine erfreulich enge deutsch-franzö- de z. B. eine ganze Reihe Französischer Universität ist, sondern ein Organ zur sische Zusammenarbeit gibt es nicht Institute in Westdeutschland gegründet, Herr Grosser wie ich Mitglieder dieses Verwaltung der zahlreichen, oft ehr- zuletzt im Bereich Theater. In Frank- zusätzlich eines in Westberlin. Beson- Kuratoriums waren in der Zeit, als diese geizigen integrierten Studiengänge. reich werden viele deutsche Theater- ders in Rheinland-Pfalz wurde eine Institution wirklich unabhängig war – Zu erwähnen ist darüber hinaus ein ganze Reihe von wissenschaftlichen Ins- was heute leider nicht mehr der Fall ist. wichtiges Ergebnis der offiziellen Zu- titutionen gegründet. Es gab damals Im Rahmen des Élysée-Vertrags er- sammenarbeit im Kulturbereich: die Im Blick auf den Bereich also bereits ein starkes kulturelles Enga- folgte später eine ganze Reihe von Maß- Gründung der deutsch-französischen gement, nicht zuletzt ein besonderes nahmen. So wurden etwa wissenschaft- Gymnasien in Saarbrücken, Freiburg im Film fällt auf, dass in Interesse für die deutsch-französischen liche Institutionen gegründet. Es fanden Breisgau und Buc sowie die Einführung Deutschland zahlreiche Jugendtreffen. deutsch-französische Kulturgipfel in des Abi-Bac, des kombinierten bacca- Das erste Kulturabkommen zwischen Frankfurt und in Weimar statt. Jedes lauréat und Abitur. Damit werden neue französische Filme großen Frankreich und Deutschland wurde am Mal wurden wichtige Texte verabschie- Generationen von Schülern für das Stu- Anklang finden, und umge- 23. Oktober 1954 von Pierre Mendès det. Doch nicht immer waren die Ergeb- dium im jeweiligen Nachbarland vor- France und Konrad Adenauer in Paris nisse sehr überzeugend. bereitet. Es gibt noch andere kulturelle kehrt. unterschrieben. Dabei ging es vor allem Netzwerke zwischen Deutschland und um den Austausch von Schülern, Stu- II. Frankreich, darunter natürlich die Ins- denten, Assistenten, Lehrern und um tituts français oder das, was davon ge- stücke aufgeführt, und vor allem arbei- Stipendien. Das sollte alles unterstützt Die deutsch-französischen Beziehun- blieben ist, denn ihre Mittel wurden ten zahlreiche Regisseure im jeweils werden. Von Anfang an wurde großer gen zeichnen sich dadurch aus, dass sehr oft gekürzt. Das Gleiche gilt von anderen Land. Hier hat das Festival Wert auf die Sprache gelegt: Man sollte sehr enge Netzwerke die Zusammenar- den Goethe-Instituten; Wir haben in d’Avignon eine wichtige Rolle gespielt, die Sprache des Nachbarn lernen. Im- beit fördern. Erst durch sie kann die Frankreich leider einige Goethe-Institu- und natürlich die anderen Nationalen mer wieder weisen die Regierungen auf ganze Vielfalt der kulturellen Aktivitä- te verloren. Dafür wurde Ende der Theater in Paris. Die Zusammenarbeit die Bedeutung des Erlernens der Spra- ten entfaltet werden. Der Kulturbegriff 1990er Jahre eine „Fédération des mai- ist nicht immer sehr leicht, denn das che des Nachbarn hin, doch fehlt es wurde in sozialer und inhaltlicher Hin- sons franco-allemandes“ gegründet, mit Theaterleben ist in Frankreich ganz weithin am Engagement, die Abkom- sicht erweitert. Ziel der kulturellen Zu- Vertretungen in Heidelberg, Montpel- anders organisiert als in Deutschland. men umzusetzen. Auch hat es sich kon- sammenarbeit nach dem Zweiten Welt- lier, Dijon, Aix-en-Provence, Paris (die Einige bekannte französische Theater- traproduktiv ausgewirkt, dass sich die krieg war es nicht nur, eine bürgerliche Maison Heinrich Heine) und Rennes. regisseure sind sehr oft in Deutschland für die kulturellen Belange zuständigen und elitäre Gruppe zu erreichen, son- Eine besondere Rolle spielen die Stif- tätig, z. B. Jérôme Savary, Ariane Bundesländer meist für Englisch als ers- dern breitere soziale Schichten. In die- tungen. Auf französischer Seite haben Mnouchkine, Patrice Chéreau. Das te Fremdsprache entschieden haben. sem Sinne hat sich Alfred Grosser sehr wir nur die kleine Fondation franco- deutsche Theater von Bertolt Brecht Der zweite wichtige Text für die kul- stark engagiert. allemande in Straßburg. Auf deutscher und Helene Weigel ist auch in Frank- turelle Zusammenarbeit ist natürlich In diesem Zusammenhang müssen Seite gibt es die sehr wichtige Robert reich bekannt; „Mère courage et ses der vor 50 Jahren, am 22. Januar 1963, drei Institutionen erwähnt werden, die Bosch Stiftung in Stuttgart, die zahlrei- enfants“ wurde oftmals aufgeführt. Von unterzeichnete Élysée-Vertrag. In dem für die Nachkriegszeit eine große Rolle che Projekte unterstützt hat. den deutschen Theatermachern oder programmatischen Teil II C geht der gespielt haben: 1) das von Père Jean du Zu nennen sind auch die Netzwerke Regisseuren kannte man in Frankreich Vertrag auf Erziehungs- und Jugendfra- Rivau gegründete Bureau International der Lehrer, z. B. die Lehrervereinigun- nicht zuletzt Peter Stein. Zurzeit haben gen ein, insbesondere Sprachunterricht, de Liaison et de Documentation, 2) das gen für die Sekundarstufe, und im Uni- wir oft mit Thomas Ostermeier zu tun, Gleichwertigkeit der Diplome und Zu- von Alfred Grosser mit gegründete versitätsbereich etwa das Deutsch-Fran- der in Avignon eine wichtige Rolle sammenarbeit auf dem Gebiet der wis- Comité français d’échanges avec l’Alle- zösische Historikerkomitee. So gibt es spielt. senschaftlichen Forschung. Beide Staa- magne nouvelle, das von 1948 bis 1967 eine ganze Reihe von Organisationen, Im Blick auf den Bereich Film fällt ten unterstreichen noch einmal die we- aktiv war und im Hinblick auf den Ju- die sehr eng miteinander verbunden auf, dass in Deutschland zahlreiche sentliche Bedeutung der Kenntnis der gendaustausch und die kulturelle Zu- sind und über Ländergrenzen hinweg französische Filme großen Anklang Sprache des jeweils Anderen. Immer sammenarbeit viel bewirkt hat; 3) pa- zusammenarbeiten. finden, und umgekehrt. Vor allem seit wieder kommt man darauf zurück, aber rallel dazu entstand in Ludwigsburg das Über 200 deutsch-französische Ge- den 1980er und 90er Jahren wird der die Möglichkeiten haben sich seither Deutsch-Französische Institut, damals sellschaften entwickeln in beiden Län- Neue Deutsche Film in Frankreich sehr leider nicht wesentlich verbessert. Der von Fritz Schenk geleitet; Carlo Schmid dern sehr oft kulturelle Aktivitäten. Das positiv aufgenommen. So sind dort u. a. einzige wirklich neue Punkt in diesem hat eine wichtige Rolle gespielt, später tun auch die deutsch-französischen Volker Schlöndorff, Wim Wenders, Vertrag ist der Jugendaustausch. Um auch Robert Picht. Städtepartnerschaften, denn die Städte Rainer Werner Fassbinder, Alexander diesen zu vertiefen, wurde ein Deutsch- Ab 1963 hat der DAAD unter der pflegen oft ein wichtiges Kulturerbe, Kluge, Margarethe von Trotta gern ge- Französisches Jugendwerk gegründet, Leitung von Hansgerd Schulte die Zu- und das trägt zur gegenseitigen Berei- sehene Filmregisseure. Michael Haneke „an dessen Spitze ein unabhängiges sammenarbeit mit den Universitäten in cherung bei. Nicht vergessen werden hat zweimal die Goldene Palme in Kuratorium steht“. Ich zitiere das, weil Paris, mit den Grandes Écoles und den darf natürlich das Deutsch-Französische Cannes bekommen, mit „Das weiße

zur debatte 6/2013 13 Heinrich Heine in Paris oder Joachim Umlauf, der jetzige Direktor des Goe- the-Instituts in Paris. Eine Reihe bekannter Germanisten und Romanisten engagiert sich beson- ders intensiv im kulturellen Austausch. Die Dolmetscher und Übersetzer sorgen dafür, dass es überhaupt einen solchen Austausch geben kann. Wichtig ist auch der Beitrag der Stiftungen, etwa der Fondation franco-allemande in Straß- burg und vor allem der Robert Bosch Stiftung. Gerade im kulturellen Bereich gibt es Stiftungen, Preise, die für Über- setzungen verliehen werden. Zum Aus- tausch tragen auch die deutschen Buch- handlungen in Frankreich, vor allem in Paris, bei. Die Presse, die Medien allgemein, prägen das Bild des jeweils anderen Landes sehr stark mit. Leider müssen wir feststellen, dass die deutsche Presse in Paris besser vertreten ist als die fran- zösische Presse in Berlin. Es gibt mehr deutsche Korrespondenten in Paris als umgekehrt, und das hat natürlich Aus- wirkungen auf die Häufigkeit und die Qualität der Berichterstattung. – Eine Vermittlungsrolle übernehmen auch einige Fachzeitschriften. In Frankreich befassen sich mehrere Zeitschriften, u. a. „lendemains“, mit Deutschland und den deutsch-französischen Bezie- hungen. Und in Deutschland gibt es etwa das Frankreich-Jahrbuch des Deutsch-Französischen Instituts.

Die Presse, die Medien allgemein, prägen das Bild des jeweils anderen Landes sehr stark mit. Leider müs- sen wir feststellen, dass die Diese Karikatur von Fritz Behrendt deutsche Presse in Paris stammt aus dem Jahr 1963 und ist er- besser vertreten ist als die schienen in seinem Buch „Helden und andere Leute“, Düsseldorf/Wien, 1975. französische in Berlin.

Ich möchte schließen mit einem Zitat des Schweizers François Bondy, der eine wichtige Rolle in der Diskussion über Frankreich und Deutschland ge- spielt hat. In einer Bilanz der deutsch- französischen Beziehungen hat er 1973 gesagt: „Die Zeit der großen Begegnun- gen und Auseinandersetzungen zwi- Band“ und im vergangenen Jahr mit Stockhausen. In Deutschland sind z. B. Die deutsch-französischen Beziehungen schen französischem und deutschem seinem Film „Liebe“. Kürzlich fand in Pierre Boulez und Daniel Barenboim funktionieren überhaupt nur dann, Geist ist vorbei.“ Das war natürlich sehr Deutschland der französische Film „Les sehr bekannt. Im Bereich Chanson gibt wenn drei Voraussetzungen gegeben negativ. Aber ich habe nicht den Ein- inséparables“ („Ziemlich beste Freun- es eine ganze Reihe deutsch-französi- sind: Strukturen, engagierte Menschen druck, dass wir seither die Beziehungen de“) eine große Resonanz. Einige fran- scher Gesellschaften oder Partnerschaf- und natürlich Geld. Die Deutschland- und den Austausch nicht weitergebracht zösische Regisseure haben sich inhalt- ten, die gerade kulturelle Programme Experten in Frankreich und die Frank- hätten. Zwar erfolgt die Rezeption der lich intensiv mit Deutschland auseinan- vorbereiten. Die französische Sängerin reich-Experten in Deutschland sowie Kultur des jeweils Anderen nicht immer dergesetzt, so Max Ophüls, Claude Barbara kennt man nicht zuletzt wegen die Experten für deutsch-französische regelmäßig, doch gibt es meines Erach- Lanzmann, bekannt durch seinen Film ihres Liedes über Göttingen, das ein Beziehungen sind zahlreicher gewor- tens nach wie vor von jeder Seite viele „Shoah“, und Georg Troller. Eine her- Symbol der deutsch-französischen Be- den. Neben den offiziellen Vertretern Impulse. Es mag sein, dass wir uns viel- ausragende Schauspielerin, die aus ziehungen geworden ist. Beliebt sind sind auch die Mitarbeiter zahlreicher leicht manchmal auseinanderleben, aber Deutschland kam, aber als Französin auch die Lieder von Patricia Kaas, die kultureller Institutionen zu erwähnen. ich glaube nicht, dass man ein wachsen- betrachtet wurde, war Romy Schneider. im Grenzbereich zwischen Frankreich Besonders erfreulich finde ich, dass des Desinteresse zwischen Frankreich und Deutschland, im Saarland, gewohnt gerade im universitären Bereich heute und Deutschland feststellen kann, be- hat. In Deutschland sehr bekannt war eine junge Generation sehr engagiert sonders im Blick auf die Kultur. Sicher- Viele deutsche Dirigenten früher Mireille Mathieu, „der Spatz von ist. lich gibt es Schwierigkeiten, auch ei- Avignon“. Zu den historischen Mittlern des nige Rückschläge, aber man kann doch haben französische Orches- Eine wichtige Rolle im kulturellen Austauschs zwischen Deutschland und sehen, dass wir enorme Fortschritte ter dirigiert. Einer der be- Austausch zwischen unseren Ländern Frankreich gehören auf französischer gemacht haben. Deutsche und Franzo- spielen auch Kunstausstellungen. Die Seite Alfred Grosser, Jean du Rivau und sen sind echte Partner geworden. Man kanntesten ist Kurt Masur, erste große Ausstellung über deutsche Joseph Rovan, auf deutscher Seite Gil- spricht heute sogar von einer Erb- der sich sehr für den Kunst in Frankreich fand 1950 in der bert Ziebura, Carlo Schmid und Robert freundschaft. Gerade im kulturellen Orangerie statt. Danach gab es 1978 Picht. Eine andere Gruppe, die nicht Bereich besteht ein sehr enges, dichtes deutsch-französischen eine zweite im Centre Pompidou, und unterschätzt werden darf und die mei- Beziehungsnetz auf ganz unterschied- Dialog eingesetzt hat. derzeit läuft im Louvre die bereits er- ner Meinung nach eine wichtige Rolle lichen Kooperationsebenen und mit wähnte, umstrittene Kunstausstellung gespielt hat, sind die Assistenten und verschiedenen Partnern. „ „De l’Allemagne“. Lektoren, die in vielen Institutionen als Auch die Musik ist im kulturellen Mittler tätig waren und die später die Leben Frankreichs sehr präsent. Viele IV. Leitung wichtiger deutsch-französischer deutsche Dirigenten haben französische Institutionen übernommen haben. Dazu Orchester dirigiert. Einer der bekann- Eine besondere Bedeutung für die gehört Robert Picht, der zunächst Lek- testen ist Kurt Masur, der sich sehr für deutsch-französischen Beziehungen tor an der ENA und später Leiter des den deutsch-französischen Dialog ein- kommt den Mittlern zu, die sich stark Deutsch-Französischen Instituts in gesetzt hat. Zu nennen wären auch für den kulturellen Austausch engagie- Ludwigsburg war. Dazu gehören auch Christoph Eschenbach und Karl-Heinz ren und ein bisschen den Weg zeigen. Christiane Deussen mit dem Maison

14 zur debatte 6/2013 leider nicht über eventuelle evangelikale las, man habe jetzt auch in Deutschland Die religiöse Lage heute: Neue Ähnlich- Entwicklungen in der Evangelischen von einer „Katholikenphobie“ gespro- Kirche in Deutschland sprechen. Ich chen. In Frankreich und, soweit ich keiten in den alten Unterschieden? möchte nur bemerken, dass viele evan- weiß, auch in Deutschland kommt diese gelikale Großveranstaltungen in Vor- Klage vor allem aus konservativen Jean-Louis Schlegel orten großer Städte stattgefunden ha- Milieus. Wenn das aber stimmen würde ben, und dass sie viele Mitglieder aus – woran ich zweifle –, müsste man eher Überseedepartements oder katholischen darin ein Zeichen der Krise der Glau- afrikanischen Immigranten rekrutieren. benswürdigkeit der Kirche sehen. Wenngleich dies nicht genau zum The- Der schlimme Missbrauchsskandal ma der „Gegenerscheinungen“ gehört, hätte auch in Frankreich passieren kön- darf man doch darauf hinweisen, dass nen. Aber er ist schon im Jahre 2001 Ich möchte vor allem als Religions- heute auch die katholische Kirche in (und in den Jahren zuvor) geschehen, soziologe zu Ihnen sprechen. Da ich den Vororten einen Großteil ihrer Ge- als der Bischof von Bayeux und Lisieux, aber auch offiziell ein Mitglied der ka- meindemitglieder aus diesen Gruppen tholischen Kirche bin, bitte ich zu ak- rekrutiert. (Ich denke besonders an das zeptieren, dass meine Ausführungen Département Seine/Saint-Denis, im wohl nicht völlig objektiv oder neutral Norden von Paris, ein sehr bekanntes Der schlimme Missbrauchs- bleiben werden. Sowieso und alles in Beispiel für die Bevölkerungsvielfalt in skandal hätte auch in allem, müssten denn die Soziologen Frankreich: schon vor etwa zwanzig Frankreich passieren kön- „objektiv“ sein? Jahren zählte man in diesem Départe- Wenn ich meinen Beitrag zusammen- ment fast 400 solche unabhängige evan- nen. fassen sollte, würde ich sagen: Es gibt gelikale Kleinkirchen). im religiösen Bereich viele Ähnlichkei- ten im Allgemeinen, viele Einzelheiten 2. Die katholische Kirche: ein Zeichen in der Normandie, vor Gericht gebracht und Unterschiede im Detail. Zwischen des Widerspruchs wurde, weil er einen betroffenen Pries- Deutschland und Frankreich bestehen ter nicht angezeigt hatte. Weil aber seit- viele Analogien auf wirtschaftlichem, Die katholische Kirche sieht sich in her die Bischöfe soweit wie möglich die gesellschaftlichem, wissenschaftlichem unseren beiden Ländern, soweit ich betroffenen Priester immer dem zivilen und sogar auf kulturellem Gebiet. Ich sehe, mit ganz ähnlichen Herausforde- Gericht überantworten, hat man in war lange Herausgeber in Frankreich rungen konfrontiert, wenngleich mit Frankreich das, was jüngst in anderen und habe immer festgestellt, dass die immer wieder anderen Gestalten, Be- Ländern, besonders auch in Deutsch- meisten Buchübersetzungen zwischen zeichnungen und Traditionen. Merk- land, passiert ist, wohl vermeiden kön- unseren beiden Ländern im religiösen würdigerweise neigen die deutschen nen. Und, soweit ich mich erinnere, Bereich zu finden waren. Aber vieles Katholiken in bestimmten Zusammen- kam es niemals, auch nicht vor fünf- wird verschieden interpretiert, erlebt hängen offenbar zu mehr Protest und zehn Jahren, zu einer so großen Auf- und gelebt. Dies trifft auch auf den Prof. Dr. Jean-Louis Schlegel, Religions- zu heftigerem Widerstandsgeist als die regung und zu so langen und heftigen, religiösen Bereich zu. soziologe und Verleger, Paris französischen. Das gilt etwa für die Fra- inneren und äußeren Debatten und Obwohl sich das religiöse System in ge der Umstrukturierung von Pfarreien. Befragungen über Wesen oder Bedeu- beiden Ländern sehr unterschiedlich Kürzlich habe ich gelesen, dass in tung der Pädophilie in der Kirche. darstellt und unsere religiösen Ge- Deutschland Gemeindemitglieder die Letztlich bleibt der Hauptunterschied schichten und Überlieferungen sehr sei es zu Recht oder nicht, als zu „libe- Strukturveränderungen stark in Frage zwischen unseren Ländern meines Er- verschieden erscheinen, verbindet uns ral“ oder allzu kompromissbereit ge- stellen – was ich bis heute in Frankreich achtens der Status der Kirche. In Frank- doch die starke Säkularisierung als ge- genüber den liberalen Demokratien nicht erlebt habe, obwohl es auch dort reich ist er im Laizitätsgesetz von 1905 meinsames Schicksal. Seit den 1970er empfunden werden. Die Priesterbruder- Kritik an der Durchführung gibt (Soll geregelt, und in Deutschland als „Kör- Jahren herrscht links und rechts des schaft St. Pius X. findet besonders in man z. B. in so vielen Kirchen wie mög- perschaft des öffentlichen Rechts“ defi- Rheins dieselbe Säkularisierung, die Frankreich und in Deutschland An- lich die Sonntagsmesse zelebrieren, niert. Die Konsequenzen daraus sind in Europa während der letzten 30 bis 40 klang. Traditionalistische Bewegungen oder eine feierliche Messe nur an einem einer Krisensituation wie der heutigen Jahre wie eine Welle erfasst hat. Indivi- zugunsten des Latein haben nach dem Ort?). Es sei auch daran erinnert, dass vielleicht besser zu erkennen. Als Fran- dualisierung, Vereinzelung, Pluralisie- Motu proprio „Summorum Pontificum“ internationale Priester-, Theologen- und zose denke ich an die rechtliche, soziale rung, Relativierung, vom Konsum ge- von 2007 einen Aufschwung erfahren. Laienpetitionen in Frankreich in den und wirtschaftliche Verflechtung der prägtes religiöses Leben und andere Vielleicht noch eindrucksvoller sind die letzten Jahren wenig Erfolg hatten. Eine Kirche in die deutsche Gesellschaft, und Phänomene haben natürlich Konse- Veränderungen im französischen Pro- mögliche Ursache ist die größere mate- an ihre Bedeutung für die einzelnen quenzen. Wie wirken sie sich auf die testantismus: In Frankreich bilden rielle und spirituelle Zerbrechlichkeit Gläubigen, wie sie im Dekret der Deut- Religionen aus? Was tun die Religionen, heute die Evangelikalen bzw. die evan- der französischen Kirche. Aber viel- schen Bischofkonferenz vom September um sich dagegen zu wehren? Wie ver- gelikalen Kleinkirchen die Hälfte aller leicht liegt es auch an der historischen 2012 bestimmt ist. Eine solche poli- ändert sich der Glaube, wie passen sich Protestanten (schätzungsweise 1,1 Milli- Tatsache, dass sich die Trennung von tisch-theologische Verbindung von die Gläubigen an? Gerade anhand eini- on Anhänger). Staat und Kirche nicht nur politisch, finanzieller Teilnahme und kirchlicher ger dieser neuesten, auch religiösen Er- Dieser Aufschwung hat bis heute kei- sondern auch gesellschaftlich auswirkt, Zugehörigkeit ist in Frankreich einfach scheinungen möchte ich Ähnlichkeiten nen sichtbaren politischen Einfluss. und dass innerkirchliche Angelegenhei- undenkbar. wie auch einige Unterschiede aufzeigen, Man weiß nur, dass die Mitglieder der ten in der profanen Gesellschaft ge- und daran anknüpfend neue gemeinsa- Reformierten Kirche, wie man die fran- wöhnlich kaum kommentiert werden. 3. Der Gott der Anderen me Fragen im Hinblick auf das Mitein- zösischen Calvinisten nennt, die aus Dies gilt gerade heute, etwa bei Be- anderleben formulieren. Meinen Vor- historischen Gründen eher eine laizis- sprechungen geistlicher und kirchlicher Die großen traditionellen Religionen trag werde ich aber nicht in zwei Teile tisch und aufklärerisch linke Tradition Publikationen in den profanen Medien. in Deutschland und Frankreich (die – Ähnlichkeiten und Unterschiede – vertraten, heute mehrheitlich rechts Freilich werden kirchliche Ereignisse katholische und die evangelische Kir- aufteilen, vielmehr werde ich auf vier wählen – so wie die meisten Katholiken auch unterschiedlich rezipiert: Der che, auch das Judentum) haben wenigs- inhaltlich kontrastreiche Themenstel- Amtsverzicht von Papst Benedikt XVI. tens zum Teil ihren gesellschaftlichen lungen eingehen. und die Wahl von Papst Franziskus Hegemoniestatus verloren – vielleicht In Frankreich bilden heute wurden eifrig von allen Medien, ob nicht ihren rechtlichen Status, soweit 1. Extreme und Radikale weltlich oder nicht, ob katholisch oder sie einen solchen haben. Aber das die Evangelikalen bzw. die nicht, übertragen und kommentiert. Gleichheitsstreben veranlasst heute Zuerst denke ich an die Gegener- evangelikalen Kleinkirchen Hingegen erhebt sich immer wieder andere Religionen oder gar humanisti- scheinungen zu all dem, was ich als Protest gegen Medien, weil sie sich an- sche Verbände, vom Staat denselben neue Säkularisierung angeführt habe. die Hälfte aller Protestanten geblich zu intensiv mit Religion befas- Status einzufordern und für sich poli- Man darf diese ja nicht, wie wir heute (schätzungsweise 1,1 Millio- sen, ohne Respekt gegenüber Nicht- tisch wie gesellschaftlich gleiche Rechte wissen, einseitig als einen Verlust ver- Gläubigen oder schlecht Gläubigen. durchzusetzen. In Deutschland kann stehen. Wie die Rückseite eines Blattes, nen Anhänger). Dieses Leitmotiv bringt in Frankreich, dies etwa Auswirkungen auf die Rege- gibt es Gegenerscheinungen zu dem wenn auch in einem negativen Sinn, die lung des Religionsunterrichts haben. In „flüssig“ Religiösen: Integrismus bzw. Rückkehr der Religionen in die Öffent- Frankreich hat man die rechtliche Stel- Traditionalismus, Sektenphänomene, und Juden. Dass der letzte Vorsitzende lichkeit zum Ausdruck. So wurden lung der etablierten Religionen in den Kommunitarismus, starke Identitätsbe- der Fédération protestante de France, Skandale in der Kirche, nicht zuletzt die staatlichen Medien (Hörfunk und Fern- hauptungen, angezeigte Sichtbarkeit Pfarrer Claude Baty, von einer maßvol- Affären während des Pontifikats von sehen) am Sonntag überprüfen müssen, bzw. Forderungen nach immer mehr len evangelikalen Tendenz herkam, Benedikt XVI., immer wieder von Mas- um auch anderen Religionen und Welt- öffentlicher Sichtbarkeit. In den 1980er zeigte vor sechs Jahren die Veränderung senmedien aufgenommen. Ich denke anschauungen (etwa den Freidenkern) und 1990er Jahren und bis heute haben des Kräfteverhältnisses im französi- nicht nur an die letzten Jahre und Mo- ihren Platz einzuräumen. In Deutsch- sich beide Länder mit ihren „Sektenaf- schen Protestantismus. (Ich sage: „der nate dieses Pontifikats, sondern auch an land wie in Frankreich geht es jetzt um fären“ auseinandergesetzt. Sie hatten letzte Vorsitzende der Föderation der den umstrittenen Vortrag in Regensburg die Grundsatzfrage, wie man mit gro- mindestens eine gemeinsame Gruppie- protestantischen Kirche in Frankreich“, im Jahre 2006. Natürlich reagierten die ßen Religionen verfahren kann und soll, rung im Visier: die Scientology-Kirche. weil, wie Sie vielleicht wissen, diese in großer Zahl in Frankreich vertrete- die noch nicht im Lande existierten, als Sektierertum aber gibt es nicht nur Föderation der Lutheraner und der nen Muslime sehr heftig darauf. Vor die Trennung bzw. die Beziehung von außerhalb der großen Religionen. Viel- Calvinisten Frankreichs am 11. Mai diesem bewegten Hintergrund ging in Staat und Kirchen staatsrechtlich ge- mehr sind diese selbst durchdrungen 2013 zur „Vereinigten protestantischen Frankreich schon vor einigen Jahren die regelt wurde. Dabei ist vor allem an den von solchen Tendenzen – schon des- Kirche Frankreichs“, also zu einer einzi- Rede von einer „Kathophobie“, und ich Islam zu denken, dessen Integration in halb, weil sie von diesen Bewegungen, gen Kirche, werden wird.) Ich kann habe kürzlich lächeln müssen, als ich beiden Ländern auf viele Hindernisse

zur debatte 6/2013 15 Willaime (für Frankreich) von einer möglichen „Anerkennungs-Laizität“, die freilich noch weit von einer Integration von Staat und Kirche entfernt sei, weil Frankreich in Paragraph 2 des Gesetzes von 1905 den Begriff „Anerkennung“ ausdrücklich zurückweise. Von daher denkt Willaime eher an eine Koopera- tions-Laizität, im Unterschied zur Indif- ferenz- und Enthaltungs-Laizität, wie sie gewöhnlich in Frankreich propagiert wird. Doch wird dies von Denkern und aktiven Mitgliedern oftmals vehement zurückgewiesen. Viele reklamieren Ent- schiedenheit und eine Erweiterung der Laizität in neue Bereiche hinein; sie fordern zum Beispiel ein Kopftuchver- bot auf der Straße, in Zügen oder auf dem Marktplatz. Heute wird häufig angenommen, es habe sich im Blick auf das Gesetz von 1905 eher eine liberale Tendenz bei den Republikanern dieser Epoche durchge- setzt, das heißt: Im Rahmen der Tren- nung zeige sich doch eine Bereitschaft, Lösungen zu finden, die in Richtung eines religiösen Friedens zielten. In jüngster Zeit, wo sich die religiöse Sichtbarkeit von unten her meldet und der Islam in Frankreich noch keine Stabilität gefunden hat, sieht man die Laizität sich zusammenkrampfen. Und diese Position wird auch von anderen aktiven Anhängern der Laizität stark in Zweifel gezogen.

Resümee Foto: dpa Schwierige Freundschaft heute: Frank- Wenn ich mich selbst resümieren reichs Staatspräsident François Hollan- wollte, würde ich sagen: In Deutschland de bei seinem ersten Besuch in Berlin haben Sie die Kirchenaustritte, die für bei Bundeskanzlerin Angela Merkel. die deutsche katholische Kirche ein gro- ßes Problem darstellen, die aber für Franzosen kaum zu verstehen sind. Und in Frankreich gibt es Zeichen einer neuen Selbstbehauptung der Laizität, oder eine „unruhige“ Laizität, die Deut- sche wohl nur mit Mühe nachvollzie- stößt und dessen geschichtliche Ent- deutung der Religionen für unsere post- Beobachtung der neuen Entwicklungen hen können. wicklung beidseits des Rheins während modernen Gesellschaften mehr und durch die Soziologen bestätigt eine sol- Ich hätte noch von vielem anderen der letzten dreißig Jahre doch ziemlich mehr Erwähnung. che Annahme nicht. In Frankreich wei- sprechen müssen: der Theologie etwa. viele Ähnlichkeiten aufweist. (Ich denke Noch ein Wort zur Präsenz der Welt- sen Soziologen nach, dass die Laizität Kurz gesagt, haben wir viele gute Theo- an die „religiösen Zeichen“ in der religionen: In unseren beiden Ländern als republikanische Ideologie und als logen aus der Konzilsgeneration, aber Öffentlichkeit, besonders an die Bil- geben die Religionen Anlass zu vielen Philosophie der strikten Trennung von es gibt keine herausragende neue Theo- dungsanstalten, oder an den Bau von Treffen, nicht nur auf amtlicher Ebene, Staat und Kirche in den jüngeren und logie (aktuell einer der besten Theolo- Moscheen). Ich neige der in Deutsch- sondern der Gläubigen selbst, und sie sogar in älteren Generationen stark gen in Frankreich ist ein Deutscher: land vertretenen Anerkennungsphiloso- geben auch Anlass zu zahlreichen Pub- der Jesuit Christoph Theobald). In der phie und der Auffassung zu, die Reli- likationen und Debatten über den Gott nächstfolgenden Generation – derjeni- gionen seien „nützlich“ für die Gesell- des jeweils Anderen, auch zu Bekehrun- gen von Johannes Paul II. und Benedikt schaft, bzw. die positive Kooperation gen und Relativierungen. Das Phäno- In jüngster Zeit, wo sich die XVI. – sehe ich so gut wie keinen Na- zwischen Staat und Religion sei heute, men der „Weisheitsbücher“ ist in gewis- religiöse Sichtbarkeit von men und kein Werk, das herausragen in der post-metaphysischen Gesell- sem Maße in diesem Kontext der reli- würde. Doch gibt es in dieser Generati- schaft, eher von Vorteil. Hier spiele ich giösen Globalisierung zu sehen. Und unten her meldet und der on junge katholische Laien, die, in der auf Habermas und seinen historischen dieses Phänomen gilt auf beiden Seiten Islam in Frankreich noch Regel philosophisch gebildet, theologi- Dialog mit Kardinal Ratzinger in der des Rheins. Doch hat, soweit ich sehe, sche Essays schreiben, deren Denken Katholischen Akademie in Bayern an. jedes Land seine prominenten Autoren, keine Stabilität gefunden jedoch öfters eher einer „intransigen- Beide Referate habe ich im Juli 2004 für und nur wenige von ihnen überschrei- hat, sieht man die Laizität ten“ Tradition zu entsprechen scheint. die Zeitschrift Esprit ins Französische ten die Grenze. Es gibt eine große Aus- Wenn ich ganz aufrichtig hätte sein übersetzt. Die Texte wurden viel gelesen nahme: Pater Anselm Grün, von dem sich zusammenkrampfen. wollen, dann hätte ich von den jüngsten vieles von vielen (vor allem) christli- Ereignissen sprechen müssen, die wir chen Verlagen übersetzt wird. in Paris seit drei Monaten um die Da ich von dem Gott der Anderen an Akzeptanz verloren hat. Vielen er- Homo-Ehe erleben, und vielleicht von Immer wieder spricht man, gesprochen habe, möchte ich mit nur schließt sich heute kaum noch der ge- den Entwicklungen im französischen besonders in Frankreich einem Satz erwähnen, dass der Atheis- naue Sinn und das Recht der Laizität – Katholizismus, die sich hier wohl an- musstreit vor drei oder vier Jahre in von daher ergeben sich zahlreiche von deuten. Aber entschuldigen Sie bitte: und auch außerhalb, von Frankreich wenig Beachtung fand, den Regeln der Laizität abweichende Wir sind hier drei Franzosen, und ich der Laizität als einer beson- jedenfalls viel weniger als in Deutsch- Praktiken, nicht nur bei Muslimen. ziehe vor, dass wir alle drei, vielleicht land. Offenbar hat die Welle der Säkularisie- mit unterschiedlichen Akzenten, dar- ders strengen Trennung rung die Laizität, ebenso wie die Reli- über sprechen. „ zwischen Kirche bzw. Reli- 4. Die Laizität, Opfer der gionen, erfasst. Säkularisierung? Dieser Trend, aber auch (wie Haber- gion und Staat. mas sagt) die Entgleisungen der Moder- Immer wieder spricht man, besonders nität, die neuen Gestalten des Religiö- in Frankreich und auch außerhalb, von sen und des Politischen sowie die Reli- und durchgearbeitet, sogar an staatli- der Laizität als einer besonders strengen gionspolitik der Europäischen Union chen Universitäten und Instituten. Ich Trennung zwischen Kirche bzw. Reli- fordern von den Staaten Europas eine erinnere mich noch: Acht Tage nach gion und Staat. Die Aktivisten der fran- neue Offenheit für positive Beiträge der Erscheinen der Übersetzung in Esprit zösischen Laizität hoffen, diese werde Kirchen und Konfessionen. Das zeigt erreichte mich eine E-Mail aus Brasili- in Zukunft den anderen 26 Ländern der sich bereits heute vielfach in Deutsch- en, mit der Bitte um das Recht zu über- Europäischen Union als Modell dienen. land und in anderen Ländern. Ich spre- setzen, und dann kamen noch weitere Übrigens gibt es in verschiedenen euro- che hier vor allem von Frankreich, wo Anfragen aus anderen Ländern. In den päischen Ländern kleinere Gruppen, nach Lage von Recht und Gesetz die letzten Monaten finden im laizistischen die sich eine solche rigorose Trennung Religion keinem offiziellen Bedürfnis oder „laikalen“ Frankreich die Stellung- zwischen Staat und Kirche nach fran- des Landes entspricht. Deshalb spricht nahmen von Jürgen Habermas zur Be- zösischem Modell wünschen. Doch die der französische Soziologe Jean-Paul

16 zur debatte 6/2013 Autoren zu Gast bei Albert von Schirnding Martin Walser

Mehr als 450 Literaturfreunde kamen Dazu passend las Martin Walser aus am Abend des 12. Juni 2013 in die dem vom Wiener Dogmatiker Jan- Akademie, um Martin Walser in unse- Heiner Tück jüngst herausgegebenen rer Reihe „Autoren zu Gast bei Albert Sammelband „Was fehlt, wenn Gott von Schirnding“ zu sehen und ihm fehlt? Martin Walser über Rechtferti- zuzuhören. Dem wie immer gekonn- gung – Theologische Erwiderungen“. ten Einführungsvortrag des Gastge- Anschließend unterhielten sich beide bers – selbst ein bekannter Autor und Literaten über Walsers Essay „Recht- Publizist – folgte eine Betrachtung fertigung, eine Versuchung“ und des 86-jährigen Schriftstellers zum weitere interessante Themen. Verhältnis von Literatur und Religion.

Martin Walser (rechts) und Akademie- direktor Dr. Florian Schuller.

Aus der Fülle des Mangels und wenn die feindlichen Flieger über Nichtigkeit“ hätten sagen können, wenn unser Haus gen Norden schwärmten, nicht auch diese Selbstbezeichnung Albert von Schirnding sangen wir mit Deta vor diesem Bild schon des Sichwichtignehmens zuviel „Maria, breit den Mantel aus“. Wir hör- gewesen wäre. Das rückte jemanden ten die fernen Detonationen, sahen wie Janker in die Nähe von Robert den brandroten Horizont nicht ohne Walser. Grauen und Mitleid, aber auch in dem Im 2011 erschienenen Roman des Bewusstsein, dass die Nazis in der 35 anderen Walser „Muttersohn“ trifft der Kilometer entfernten Landeshauptstadt Leser auf die kürzeste Formel für diesen „Ein ernster Tag, ein großer Tag! / es sträflicherweise versäumt haben Zerknirschtheitsmodus: „Non sum“. Ein Ehrentag, ein heiliger Tag!“ So mussten, sich unter den Schutz und „Ich bin nicht. Ach, was liegt ein unaus- beginnt der zweite Aufzug des „Rosen- Schirm der Gottesmutter zu begeben. sprechliches Wesen in diesem Non sum. kavalier“. Martin Walser, den ich aufs Josefine Ruß hatte eine Mitschülerin Ach, diesen Weg will niemand wandern ehrerbietigste und herzlichste begrüße, gehabt namens Maria Müller-Gögler. [...]. Wir sind und wollen und wollen ist nicht Ochs von Lerchenau, und ich Die sei eine echte Schriftstellerin, er- immer sein, immer einer über den ande- bin kein Herr von Faninal. Aber die zählte Deta stolz. Jahre später entdeckte ren.“ vierfache Beschwörung der Exzeptio- ich in einer Anthologie des Limes Ver- nalität des Tages trifft auch hier und lages, in der bekannte Autoren die je- jetzt zu. Es besteht Grund zur Beun- weils zehn schönsten Gedichte der ers- Ravensburg liegt im Walser- ruhigung – für mich. Denn wie endet ten Jahrhunderthälfte benannten, ein der Akt? Mit Faninals Verzweiflungsruf: siebzehnstrophiges Gedicht – „Die Gei- land. Wasserburg, Lindau, „Blamage!“ Die guten Geister dieses ge“ –, als dessen Verfasserin jene Maria auch Nußdorf sind nahe. Hauses werden mir beistehen. Darauf Müller-Gögler figurierte. Kein Geringe- vertraue ich, lieber Herr Dr. Schuller. rer als Hermann Hesse hatte es ausge- Die Bodenhaftung, Boden- Und ebenso auf Ihr Wohlwollen, meine wählt. Da schickte ich ihr, mich auf seehaftung, der Walser’schen Damen und Herren. Deta berufend, einen Packen eigener Ich versuche, mich meinem Thema Verse, und der Sechzehnjährige fand Epik ist ein Gemeinplatz. auf einem strikt persönlichen Wege zu sich in dem ausführlichen Antwort- nähern. Josefine Ruß wurde am 1. Ja- schreiben aus der Meisterhoffstraße in nuar 1900 kurz nach Mitternacht ge- Weingarten als „Lieber junger Dichter“ So Percy, kein Selbstbildnis, sondern boren, weshalb ich sie die erste Frau tituliert. Wieder ein paar Jahre später eine späte Wunschfigur seines Autors. des Jahrhunderts zu nennen pflegte. Die war ich mehrfach mit Peter Hamm, Percy, der Pfleger, hat bei Professor ausgebildete Kinderschwester kam, als Josef W. Janker und Cyrus Atabay ihr Dr. Dr. Augustin Feinlein Latein gelernt. ich ein Jahr alt war, 1936, in unsere Fa- Albert von Schirnding, Autor und Teegast. Wir fühlten uns daheim in der Feinlein ist der Nachfahre eines Abtes milie und blieb fünfzehn Jahre, bis wir Publizist Buchhandlung von Ruth Dittus. Wie- des ehemaligen Prämonstratenser-Klos- fünf Kinder einigermaßen menschen- derholt übernachtete ich in der Janker’- ters Scherblingen, das mittlerweile zum ähnliche Züge angenommen hatten. schen Mansardenwohnung in der Ra- psychiatrischen Landeskrankenhaus Wovon rede ich? Ich rede von Ravens- vensburger Innenstadt. geworden ist, als dessen Chef Feinlein burg. Josefine Ruß, unsere Deta, stamm- Josef W. Janker, Verfasser mehrerer amtiert. Nicht von ungefähr heißt er te aus Ravensburg, wo sie in der Feder- vielleicht noch darüber hinaus. Die Suhrkamp-Bände und einer Werkaus- nach Augustinus, dem Schöpfer einer burgstraße geboren worden war und Dialektik von mesopotamischer (Meso- gabe im Verlag Robert Gessler, Janker, Gnadenlehre, die jenes „Non sum“ aufwuchs. Im „Waldhorn“, das damals potamien: nach Arnold Stadler das den Martin Walser einmal im Auto über voraussetzt. Auch er, Feinlein, ver- noch kein Feinschmeckerlokal beher- Land zwischen Donau und Bodensee) den zugefrorenen Bodensee chauffierte, dankt seine Existenz der Walser’schen bergte, hatte sie einen Tanzkurs besucht. Begrenztheit und kosmopolitischer Aus- was ihm aber erst post festum mitgeteilt Wunschenergie. Ihre Heimatstadt war, obwohl wir in dehnung, die Walsers Romane zu eben- wurde, war ein überaus bescheidener Wir sind schon im Zentrum der reli- Regensburg lebten, auch die unsere. In so universalen wie eng umgrenzten Mensch. Das Gegenteil eines Rechtha- giösen Thematik, die in Walsers Werk jedem Winkel von Detas Kindheit wa- Spiel-Räumen macht, war in Detas Ra- bers, jener Sorte von Menschen, mit seit der „Halbzeit“ von 1960 eine Rolle ren wir, ehe uns eine eigene zuwuchs, vensburg schon vorgebildet: Ein Bruder denen Martin Walser Zeit seines Lebens spielt, dem Roman, der ja keine Halb- schon sesshaft gewesen. war fünfzehnjährig nach Amerika aus- zu tun hatte – man lese seine „Erfah- zeit markiert, sondern nach dem Auf- Ravensburg liegt im Walserland. Was- gewandert, von wo er nach dem Krieg rungen mit dem Zeitgeist“, die Rede, die takt der „Ehen von Philippsburg“ (1957) serburg, Lindau, auch Nußdorf sind Kindheitshöhepunkte markierende er 2008 in der anderen Akademie, der einen mächtigen Anfang. In den letzten nahe. Die Bodenhaftung, Bodenseehaf- Care-Pakete schickte. bayerischen der sogenannten schönen beiden Romanen, eben in „Muttersohn“ tung der Walser’schen Epik ist ein Ge- In Ravensburg sind die Menschen Künste, bei ihrer Jahresfeier gehalten und dem Briefroman „Das dreizehnte meinplatz. Auch dass gerade diese Her- noch katholischer als in Regensburg hat. Im Einklang mit dem Zeitgeist sein Kapitel“, sowie dem essayistischen Ver- kunftsgetauftheit (um das Wort Heimat- und in dem anderen, dem Kriegs-Kind- heißt Recht haben. Das Recht habende bindungsstück „Über Rechtfertigung“ verbundenheit zu vermeiden) zur Trieb- heitsort südlich von München bei Tölz. und rechthaberische Ich läuft überall im hat das religiöse Element deutlich an kraft wurde und wird für den literari- Auf Detas Nachttisch stand ein Bild der Kulturbetrieb herum. Aber ich kannte Virulenz gewonnen. Weil wir hier weni- schen Aufbruch ins Weltweite – und Ravensburger Schutzmantelmadonna, auch Menschen wie Janker, die „meine ger an einem literarischen als an einem

zur debatte 6/2013 17 abstirbt, macht sich das Rechthaben breit. Der Autor des Romans „Das dreizehnte Kapitel“ und des Rechtfer- tigung-Essays setzt auf seine unzeitge- mäß-zeitgemäße Weise die Arbeit von Nietzsches „tollem Menschen“ fort: die

Wo das religiöse Bedürfnis nach Rechtfertigung ab- stirbt, macht sich das Rechthaben breit.

Aufklärungsarbeit nicht am Mythos, sondern an der Aufklärung. Der „tolle Mensch“, man lese den 125. Abschnitt der „Fröhlichen Wissenschaft“ nach, wendet sich mit seiner Botschaft vom Tode Gottes ja nicht an die Gläubigen, sondern an die Ungläubigen, denen die Ungeheuerlichkeit des Verlusts noch gar nicht bewusst geworden ist, die es sich in ihrem Atheismus behaglich einge- richtet haben. Ich kehre zum Schluss an meinen Ausgangspunkt zurück: nach Ober- schwaben. Mein letzter Gast hier war der aus Meßkirch stammende Arnold Stadler. In seinem Buch über den Maler Jakob Bräckle „Auf dem Weg nach Winterreute“ schreibt er: „Als Schrift- steller von Oberschwaben kann auch ich sagen: Walser ist unser Säntis.“ Heute Abend haben wir das Glück, von der Höhe dieses Säntis, den Walser selbst einmal mit dem Fudschijama verglichen hat, auf die Welt zu blicken, Viele Besucher nutzten die Gelegenheit, ein Fernsehteam von BR-alpha, das den auf Walsers weite Welt. Es ist höchste mit dem Autor kurz zu sprechen und Literaturabend für eine Folge der Reihe Zeit für mich, diesem Blick nicht länger sich Werke signieren zu lassen. Links „alpha lógos“ aufzeichnete. im Weg zu stehen. „

Ort sind, wo Fragen der Gesellschaft, liebe nicht minder zum Glauben be- Schmerz (das ist jetzt wieder Walser, der Politik, der Wissenschaften und gabte Deta sie nötig hatte. Die unan- und nicht erst der Autor der hohen nicht zuletzt der menschlichen Existenz gefochtene ravensburgisch-weingartne- opus-Zahlen, die Wendung findet sich im Licht religiöser Verbindlichkeit, doch risch-oberschwäbische Katholizität fin- bereits in der Büchnerpreisrede von ohne dogmatische Engführung verhan- det im sogenannten Weingartner Blut- 1981), der Schmerz, mit dem wir spü- delt werden, beziehe ich mich vor allem ritt eine ihrer kraftvollen Ausdrucks- ren, dass „Gott“ der Name für einen auf diese jüngsten Bücher des Dichters. formen. Eine kostbare Monstranz, die Mangel ist, der nicht durch irdische Die vorläufig allerjüngste Veröffentli- einige Blutstropfen Jesu enthält, wird Güter behoben werden kann, ist die chung (sie wird es nicht lange bleiben) in einer Reiterprozession von Dorf zu religiöse Dimension, die aus dem Leben „Meßmers Momente“ las ich in diesem Dorf befördert. Deta ließ das Spekta- der meisten Zeitgenossen verschwun- Zusammenhang als eine Art Exerzitium kel vor unseren Augen erstehen. Im den zu sein scheint und damit auch aus im Non-sum-Programm, als Etüden der „Muttersohn“-Roman kommt der Reli- der zeitgenössischen Literatur. Wo das Ent-Ichung. quie eine handlungsbestimmende Be- religiöse Bedürfnis nach Rechtfertigung deutung zu. So verschieden die beiden Formen des religiösen Verhaltens sind, haben So verschieden die beiden sie doch eine gemeinsame Quelle: den Formen des religiösen Ver- Mangel. Erst dann, wenn nichts mehr hilft, siegt der Glaube an die Echtheit haltens sind, haben sie der Reliquie über das aufgeklärte Wis- doch eine gemeinsame sen und macht sie zu einem unentbehr- lichen Schatz. Und andrerseits ist es im Quelle: den Mangel. „Dreizehnten Kapitel“ der grundlegende Mangel der sterblichen Existenz – er äußert sich nicht erst hier, sondern in Wenn ich den Verfasser dieser vier den meisten Büchern Walsers vor allem Bücher im Hinblick auf die in ihnen in der Unmöglichkeit oder doch ewigen vorkommende Glaubens- und Gnaden- Mangelhaftigkeit der Liebe –, der an lehre einigermaßen richtig verstanden Kierkegaard und Karl Barth orientierte habe, ergibt sich ein Spagat zwischen Reflexionen hervorbringt. „Meine Muse einer Glaubenskraft, die jenseits von ist der Mangel“, lautet der zentrale Satz aufgeklärtem und aufklärerischem Bes- der Walser’schen Poetik. Und das ist zu- serwissen die Welt schöner macht, als gleich sein zentraler Glaubenssatz. Es das Wissen dies vermag, und andrerseits geht darum, das Bewusstsein des Man- der mehr oder weniger aussichts- und gels bis in den äußersten Schmerz des hoffnungslosen Sehnsucht nach der An- Fehlenden offenzuhalten, der Versu- wesenheit eines Gottes, der als verbor- chung einer voreiligen Rechtfertigung gen, als abwesend erfahren wird. Um des Daseins durch den praktizierten das Ausmaß dieser Abwesenheit zu er- Glauben an säkulare Heilslehren zu messen, ohne an ihr zu verzweifeln, widerstehen. wird von unserem Dichter empfohlen, „Gott gibt es nicht“, hat Dietrich Kierkegaard und Karl Barth zu lesen. Bonhoeffer gesagt. Das ist kein atheis- Augustin Feinlein und Percy haben sol- tisches Statement, sondern heißt, dass Im Anschluss an die Einführung von che philosophisch-theologische Hilfe Gott uns nicht gegeben ist wie irgend- Albert von Schirnding (li.) unterhielten nicht nötig – ebenso wenig wie, um ein etwas sonst Vor- und Zuhandenes, dass sich die beiden Literaten über verschie- letztes Mal an sie zu erinnern, meine er uns fehlt. Der „zahnwehscharfe“ dene Themen.

18 zur debatte 6/2013 Begrüßung

Florian Schuller, Akademiedirektor

Herzlich willkommen zu einem ganz wenn ich so einen Schwächeanfall andere: „Lass mich zwischen ein paar religione universale“ ist vor kurzem besonderen literarischen Abend. „Be- bekomme (also, ob Kirchensteuer ja Geräuschen niederknien und warten, auch auf Deutsch erschienen: „Vom sonders“ schon rein quantitativ. So viele oder nein), dann denke ich an Wasser- bis keine Hoffnungen mehr täuschen.“ katholischen Fühlen“. Darin betont der Anmeldungen, über 450, so viele Teil- burg, an den Pfarrer dort und an den Wenn ich in der Kirche etwas zu sa- aus der säkularen Turiner Schule stam- nehmerinnen und Teilnehmer hatten Kaplan im Nachbardorf Nonnenhorn. gen hätte, würde ich die große Harvard- mende Philosoph, dass sich das Wesen wir bei solchem Anlass noch nie. Und Der Kaplan hatte 72 Bände Karl May, Vorlesung „Über Rechtfertigung“ ers- des Katholizismus weniger in Lehrsät- diese Besonderheit verdankt sich natür- und ich bin immer wieder hinaus zu tens zur Pflichtlektüre für alle Pfarrer zen über Gott, Jesus Christus, die Kir- lich dem besonderen Gast. ihm und habe mir einen neuen Band und hauptamtlichen Seelsorger und che, also in bestimmten Dogmen aus- Ich heiße Sie, sehr verehrter Herr geholt.“ Bei mir war es genauso. Nur Seelsorgerinnen machen. Mich hat sie drücke, sondern in einer bestimmten Walser, im Namen aller Anwesenden dass ich meine 72 Bände Karl May 2012 jedenfalls gepackt. Schon lange Art zu fühlen, d.h. in Grundprägungen ganz herzlich willkommen. Danke, dass nicht beim Kaplan holte, sondern in der hatte ich nämlich nicht mehr ein solch des Alltags. Womit wir wieder bei den Sie unserer Einladung gefolgt und heute Pfarrbücherei. Liebe Teilnehmerinnen aufwühlendes, faszinierendes – ja ich 72 Bänden Karl May wären. zu Gast sind bei Albert von Schirnding. und Teilnehmer, Sie sehen, was alles wage das Wort: theologisches – Buch Ich schlage zum Schluss noch einmal Als Sie vor drei Monaten vom Wiener gebürtige Augsburger Diözesanen ganz gelesen. Zweitens müssten diese von „Meßmers Momente“ auf. Auf Seite 27 Kardinal Christoph Schönborn zu einer tief verbindet. mir verpflichteten Pfarrer ihre eigene lese ich: „Man kommt nach München Dekanefortbildung in Passau eingeladen Womit wir schon mittendrin in jenem Stellungnahme gegenüber dieser, wie sie in eine entsprechende Gesellschaft und wurden, sollen Sie gesagt haben, dies Thema wären, das u. a. wesentlich auch Martin Walser nennt, „Versuchung“ zu muss sich trotzdem beherrschen. Geht sei die erste offizielle Einladung der von Martin Walser nicht nur in das Be- Papier bringen, in voller eigener Verant- es Ihnen auch so? möchte man fragen katholischen Kirche an Sie gewesen. wusstsein seiner Leserinnen und Leser, wortung dieser ihrer Position. Am bes- und dazu aufzählen, was einem alles Einem Kardinal treten wir gerne das sondern auch der überraschten Auf- ten so, wie es auf Seite 30 der „Recht- passiert, was man alles erfahren hat. Erstgeburtsrecht ab; aber es sei doch merksamkeit des Großfeuilletons zu- fertigung“ heißt: „Es sollte üblich sein, Man wird sich also beherrschen, und betont, dass Sie schon sehr lange auf rückgebracht wurde: die Leerstelle dass jemand, der etwas behauptet, das, man wird nicht sagen, warum.“ unserer Sehnsuchtsliste standen. „Gott“ in der Erfahrung von Welt und was er behauptet, auch widerlegt.“ Was mir, was Ihnen, was uns „alles Ich habe übrigens festgestellt, dass Leben. Vielleicht ausgedrückt mit zwei Um aber doch vor dem Versuch zu passiert“, was ich, was Sie, was wir „er- Sie und mich eine ganz bestimmte von „Meßmers Momenten“, Martin warnen, Martin Walser kirchlich-theo- fahren“ haben – dem das Fragewort kirchlich-prägende Erinnerung verbin- Walsers jüngster Veröffentlichung. Die logisch zu vereinnahmen, will ich nur „warum“ anzuhängen, genau darum det. Auf die Frage beim Spiegelinter- stehen sich auf Seite 14 und 15 gegen- an den italienischen Philosophen Mario sind wir heute Abend nach München in view zu Weihnachten 2012, mit welcher über, unverbunden, und deshalb genau Perniola erinnern. Dessen für mich Ho- diese entsprechende Gesellschaft ge- Gemütslage Sie Kirchensteuer zahlen, richtig. Der eine „Moment“: „Die Welt rizonte aufreißendes Buch „Del sentire kommen. Und wir „beherrschen“ uns lautete nämlich die Antwort: „Immer ist alles, was verpfuscht ist.“ Und der cattolico. La forma culturale di una nicht. „

Auch das Atrium musste bestuhlt wer- Regensburger Domvikar Dr. Werner den, um den mehr als 450 Besuchern Schrüfer, Leiter der City-Pastoral und Platz zu bieten. Rechts vorne sitzt der Künstlerseelsorger im Bistum.

zur debatte 6/2013 19 Auszug aus den einleitenden Worten Martin Walsers

Ich lese heute aus zwei kleinen Bü- gegen zu sagen, wie die normale sind – gestatten Sie mir jetzt das große chern. Das eine habe ich jetzt gerade Feuilleton-Kritik einen Schriftsteller Wort – in einem Dienst, und dass sie bekommen. Es hat Jan-Heiner Tück, behandelt. Nur, ein Literaturkritiker mich hineingenommen haben in ihren Professor für katholische (dogmati- glaubt immer, er beschäftige sich mit Dienst, das konnte ich nicht ahnen, als sche) Theologie an der Universität in dem Autor, und versucht, sich über ich durch mancherlei Entwicklungen Wien, herausgebracht und ihm den einen Autor zu äußern. Er versucht, ein dazu gekommen bin, solche Sachen zu Titel gegeben „Was fehlt, wenn Gott Urteil, eine Kritik abzugeben. Die kann schreiben. fehlt“, Untertitel „Martin Walser über so oder so ausfallen. Diese Art, mit Auf jeden Fall muss ich sagen, es ist Rechtfertigung. Theologische Erwide- einem Schriftsteller umzugehen, ist eine eine andere Welt, und eine Welt, die in rungen“. schriftstellerische Art. Der Kritiker ist der übrigen Literatur verlorengegangen Darin haben sich Theologen mit mir ein Schriftsteller, wie der Schriftsteller, ist, und wodurch ich mich nachträglich beschäftigt. Das ist mir jetzt zum zwei- über den er schreibt. wieder ein bisschen ermuntert fühlte, ten Mal passiert, und da ich ja ein Le- Die theologische Betrachtung ist eine die Kluft zwischen Religion und Litera- ben verbracht habe mit der Erfahrung andere Welt. Die Theologen beschäfti- tur zu schließen, weil beide ursprüng- literarischer Entgegnungen jeder Art, gen sich mit einem Werk der Literatur lich eins waren. Dass die Psalmen gro- auch politischer Entgegnungen jeder nicht um jeweils ihretwillen, sondern es ße Literatur sind, dass Hiob große Art, kann ich diese neueste Erfahrung, geht ihnen um eine Sache, die im lite- Literatur ist, ist nicht zu bezweifeln. die ich seit zwei, drei Jahren mache, rarischen Bereich, im Feuilleton schon Nur, jetzt nennen wir das eine Religion Martin Walser ergriff zu Beginn der dass sich Theologen mit mir beschäfti- lange nicht mehr existiert; denn da und das andere Literatur. Und die Veranstaltung das Wort und gab gen, als etwas ganz Besonderes sehen. existiert nur noch das Individuum, das beiden gehören eigentlich auf einen Ast eine kurze, inhaltsreiche und launige Ich will jetzt keinem Theologen jetzt so und so herauskommt und dar- am selben Baum. Einschätzung ab, aus der wir einen schmeicheln. Es ist auch nichts da- gestellt werden muss. Die Theologen kleinen Teil abdrucken.

Ausgewählte Veranstaltungen der Katholischen Akademie sind in BR-alpha, dem Bildungskanal des Bayerischen Fernsehens, zu sehen. Die journalistisch aufbereiteten Zählten zu den Gästen, Abt em. Odilo Förderer der Interessen Lateinamerikas, 45-minütigen Beiträge werden vier- Lechner von Sankt Bonifaz, Ernes- und der Kirchenhistoriker Prof. Dr. zehntägig in der Reihe „alpha-lógos“ to Baumann, ein großer Freund und Klaus Ganzer (v.l.n.r.). am Sonntagabend, jeweils von 19.30 bis 20.15 Uhr, gesendet. Sie bieten Originalauszüge aus den Vorträgen und Diskussionen, Interviews mit den Referenten sowie vertiefende Informationen.

Die Sendungen der Reihe werden vierzehntägig sonntags, jeweils um ca. 0.50 Uhr, wiederholt. Gezeigt wird immer der Beitrag, der in der Vorwoche um 19.30 Uhr zu sehen war.

Noch ein Hinweis

Die Sendungen der „alpha-lógos- Reihe“ sind jeweils ein Jahr lang auch auf der Homepage von BR-alpha abzurufen und können damit jederzeit auf dem heimischen Computer gesehen werden. Die Internetadresse lautet: http://www.br.de/fernsehen/ br-alpha/sendungen/logos/logos104

Eine aktualisierte Programmvor- schau finden Sie unter http://mediathek.kath-akademie- Am Büchertisch konnten die neuen bayern.de/akademie-bei-br-alpha Werke von und über Martin Walser gekauft werden.

20 zur debatte 6/2013 Editionen verlassen, sondern die Doku- die NSDAP als überkonfessionelle poli- mente im Original prüfen und im Vati- tische Partei zu etablieren und das völ- Akademiegespräch kanischen Geheimarchiv und anderen kisch-religiöse Gedankengut zurückzu- Quellenbeständen nach weiteren su- stellen. In Artikel 24 ihres Parteipro- Meister Eckhart im chen; die Kommission scheiterte. gramms von 1920 bekannte sich die Der Begriff „Geheimarchiv“ bedeutet NSDAP zur Freiheit aller religiösen Be- jedoch nicht, dass etwas geheim kenntnisse im Staat, „soweit sie nicht gehalten wird, sondern bezeichnet dessen Bestand gefährden oder gegen DerOriginal Vatikan lediglich das private Archiv eines das Sittlichkeits- und Moralgefühl der Souveräns. Der Einzige, der darüber germanischen Rasse verstoßen“. Die entscheiden kann, wann etwas zugäng- Partei vertrete damit den Standpunkt Fakten, Bilder und Legenden lich wird, ist der, dem es gehört. Nach eines „positiven Christentums“. In und Hitlers deutschem Recht werden Quellen in „Mein Kampf“ hob Hitler hervor: „Es nach 750 Jahren staatlichen Archiven automatisch nach konnte in den Reihen unserer Bewe- einer bestimmten Zeit öffentlich, im gung der gläubigste Protestant neben „Machtergreifung“ Vatikanischen Geheimarchiv sobald der dem gläubigsten Katholiken sitzen, Papst dies entscheidet. Grundsätzlich ohne je in den geringsten Gewissens- werden dann alle Akten eines gesamten konflikt mit seiner religiösen Überzeu- Pontifikats zugänglich. gung geraten zu müssen.“ inz Wi 2003 und 2006 zählten dazu Während in der evangelischen Kirche Zum Akademiegespräch mit Offizie- schen Archive, in seinem Referat „Der beispielsweise die rund 5.500 Nuntia- die nationalsozialistisch geprägten ren aus Bundeswehrstandorten in Vatikan und Hitlers Machtergreifung“ turberichte, die Eugenio Pacelli 1917 „Deutschen Christen“ großen Einfluss Süddeutschland hatte die Katholische kritisch die Rolle der katholischen bis 1929 als Nuntius in München und gewannen, blieb die katholische Kirche Akademie Bayern und die katholische Kirche beim Aufstieg des NS-Regimes. Berlin geschrieben hatte, bevor er bis 1933 konsequent auf Distanz. Die Militärseelsorge am 12. März 2013 Lesen Sie hier das überarbeitete Kardinalstaatssekretär wurde. Es gibt deutschen Bischöfe erklärten von 1928 eingeladen. Vor mehr als 400 Offizie- Referat. Nachhören können Sie den keine andere Quelle, die so dicht bis zur Märzwahl 1933 mehrfach und ren und Offiziersanwärtern beleuch- Vortrag auf unserer Homepage unter Entwicklungen dieser Zeit in Deutsch- unmissverständlich, dass Katholizismus tete Prof. Dr. Hubert Wolf, Professor http://mediathek.kath-akademie- land beschreibt. Die Berichte werden und Nationalsozialismus inkompatibel für Mittlere und Neuere Kirchenge- bayern.de/audio/vatikan-und-macht- deswegen zurzeit in Münster durch ein seien. Wer Katholik sei, könne nicht schichte an der Universität Münster ergreifung Langfristvorhaben der Deutschen For- Nationalsozialist sein. In einem Bericht und exzellenter Kenner der vatikani- schungsgemeinschaft in einer Online- über die Verhandlungen der Diözesan- Datenbank ediert. Pacelli schenkte synode für die Erzdiözese München seine Aufmerksamkeit nicht nur der und Freising vom 19. November 1930 katholischen Kirche in Deutschland, beispielsweise wird sehr klar erläutert: sondern auch der Politik und der Kultur „Die Grundlage dieser völkischen Welt- im Berlin der goldenen Zwanziger. So anschauung ist zugleich ihre Hauptirr- brachten in seinen Augen die damals lehre: sie stellt das Völkische und Ras- Der Vatikan und Hitlers neuen Tänze Frauen und Männer viel senmäßige über die Religion, macht das zu nahe. Grundsätzlich betrachtete er Völkische und Rassenmäßige zum Maß- Deutschland jedoch mit großer Sym- stab für die Religion, Offenbarung und „Machtergreifung“ pathie, und schon bald sprach er die Sittlichkeit. Es steht somit fest, dass die Sprache fließend. Das trug dazu bei, nationalsozialistische Weltanschauung Hubert Wolf dass seine Kritiker ihm vorwarfen, er als solche […] mit den katholischen habe auch später eine zu große Nähe Grundsätzen in scharfem Widerspruch zu Deutschland bewahrt. steht.“ Zum Jahr 1933 wurden bei der letz- Hitler versuchte den Verdacht zu ten Archivöffnung alle Berichte zugäng- zerstreuen, dass der Nationalsozialis- lich, die Cesare Orsenigo, der Nachfol- mus eine Weltanschauung sei, die an- ger Pacellis als Nuntius in Deutschland, dere Religionen gefährde. Er inszenier- Drei Ereignisse im März und April nach Rom schrieb, außerdem alle Wei- te sich sogar als christlich geprägter 1933 sind zentral für die Geschichte des sungen, die Pacelli jetzt als Kardinal- Staatsmann, etwa in seiner Regierungs- Verhältnisses von Katholizismus und staatssekretär von Rom nach Berlin erklärung vor der Abstimmung über das Nationalsozialismus: schickte. Auch sämtliche Berichte der Ermächtigungsgesetz: „Die nationale Audienzen Pacellis mit den Botschaf- Regierung sieht in den beiden christli- 1. Am 23. März 1933 stimmte die tern am Heiligen Stuhl sind überliefert. chen Konfessionen wichtigste Faktoren Zentrumspartei dem Ermächtigungsge- Dazu kommt noch eine besondere der Erhaltung unseres Volkstums. […] setz zu. Damit trug sie entscheidend zur Quellengattung: Pacelli unterhielt sich Sie erwartet aber und hofft, dass die Zweidrittelmehrheit und somit zur Ver- jeden zweiten Tag unter vier Augen mit Arbeit an der nationalen und sittlichen fassungsänderung bei, die Hitler zu- Pius XI. und machte sich hierzu Noti- Erhebung unseres Volkes, die sich die mindest scheinbar legal zum Diktator zen auf kleinen DIN-A5-Zetteln. Diese Regierung zur Aufgabe gestellt hat, um- machte. Audienznotate sind der Schlüssel, um gekehrt die gleiche Würdigung erfährt. 2. Am 28. März 1933 nahmen die zu rekonstruieren, worüber der Papst […] Ihre Sorge gilt dem aufrichtigen katholischen deutschen Bischöfe ihre informiert war, was der Kardinalstaats- Zusammenleben zwischen Kirche und „allgemeinen Verbote und Warnungen“ sekretär ihm vorenthielt, was der Papst Staat. […] Ebenso legt die Reichsregie- gegenüber dem Nationalsozialismus anordnete und was nachher tatsächlich rung […] den größten Wert darauf, die zurück und erlaubten Katholiken die als Weisung herausging. freundschaftlichen Beziehungen zum Mitarbeit am neuen „Reich“. Die neuen Quellen ermöglichen Heiligen Stuhl weiter zu pflegen und 3. Am 7. April 1933 bot Reichsvize- auch, die Frage nach dem möglichen auszugestalten.“ kanzler Franz von Papen Pius XI. und Tauschhandel rund ums Reichskonkor- Vor allem der letzte Satz wurde oft seinem Kardinalstaatssekretär Eugenio dat zu beantworten. Außerdem zeigen als verklausulierte Ankündigung eines Pacelli ein Reichskonkordat an, mit sie, wie sich der Heilige Stuhl 1933 zur Konkordates interpretiert. Die Regie- dem das Verhältnis der katholischen beginnenden Judenverfolgung verhielt. rungserklärung brachte jedenfalls eine Kirche zum nationalsozialistischen Dagegen ist es noch zu früh, um die Dynamik in Gang, an deren Ende die Staat vertraglich geregelt werden sollte. Prof. Dr. Hubert Wolf, Professor für Rolle von Pius XII. während des Zwei- Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz, Mittlere und Neuere Kirchengeschichte ten Weltkriegs und des Holocausts zu die Rücknahme der bischöflichen Ver- Lagen diese drei Ereignisse nur zu- an der Universität Münster beurteilen. Erst wenn ab nächstem Jahr bote und Warnungen sowie das Reichs- fällig in zeitlicher Nähe zueinander oder die Quellen aus diesem Pontifikat zu- konkordat standen. hingen sie kausal zusammen? Handelte gänglich werden, 200.000 Schachteln Aus Orsenigos Nuntiaturberichten es sich vielleicht sogar um einen Tausch- insgesamt, werden neue Erkenntnisse wissen wir, wie sehr der Reichskanzler, handel? Dann wäre dieser, verkürzt falls auf deren Fehlen, auf Indizien und zu erwarten sein. Goebbels und andere nationalsozialisti- gesagt, nach dem Muster abgelaufen: umstrittene logische Schlüsse berufen. sche Größen immer wieder auf den „Ich, der Papst, gebe dir, Hitler, die Zu- Alle hofften daher auf die entschei- Reichskonkordat gegen Ermächti- Nuntius einredeten, um die Stellung- stimmung zum Ermächtigungsgesetz denden Belege, als Johannes Paul II. gungsgesetz – ein Tauschgeschäft? nahme der Bischöfe zu ändern. Die und die Rücknahme der Verurteilung 2003 und 2006 überraschend die Archi- Katholiken machten etwa ein Drittel des Nationalsozialismus; und du gibst ve des Vatikans für das Pontifikat von Zuerst ist die Frage zu beantworten, der Bevölkerung des Deutschen Reichs mir dafür das langersehnte Reichskon- Pius XI. (1922 bis 1939) öffnete. wie katholische Kirche und Nationalso- aus. Die Verbote und Warnungen droh- kordat, das die katholische Kirche vor Schon im Vorfeld des Heiligen Jahres zialismus vor 1933 zueinander standen. ten die Gläubigen auch weiterhin daran der Gleichschaltung schützen wird.“ Be- 2000 hatte der Papst eine jüdisch-ka- Die NSDAP hatte ihre Wurzeln in der zu hindern, an der neuen nationalen schleunigte also die katholische Kirche tholische Historikerkommission ge- völkischen Bewegung. Die Mitglieder Regierung mitzuwirken. Das wäre für zur Wahrung ihrer eigenen Interessen bildet, die ihn über die Rolle der Kirche stritten um die Frage: Widmen wir uns Hitler, Ermächtigungsgesetz hin oder das Ende der Demokratie in Deutsch- und insbesondere des Papstes Pius XII. einer völkischen Religion oder sehen her, eine schwere Hypothek gewesen. land? Diese Frage löste in der Forschung angesichts des Holocausts aufklären wir uns als politische Partei? Hitler Doch am 28. März 1933 verkündete eine heftige Kontroverse aus. Beide sollte. wollte Konflikten mit den Kirchen auf Kardinal Bertram, Vorsitzender der Seiten konnten sich jedoch nicht auf Die jüdischen Mitglieder wollten sich dem Weg zur Macht möglichst auswei- Fuldaer Bischofskonferenz: „Die Ober- eindeutige Quellenbelege, sondern allen- aber nicht auf vorhandene Auswahl- chen. Daher traf er die Entscheidung, hirten der Diözesen Deutschlands

zur debatte 6/2013 21 haben aus triftigen Gründen […] in den nicht durchsetzen. Zuletzt blieben bei- letzten Jahren gegenüber der national- spielsweise in der Jugendarbeit fast nur sozialistischen Bewegung eine ableh- noch die katholischen Ministranten nende Haltung durch Verbote und War- übrig, die Verbände wurden nach und nungen eingenommen […]. Es ist nun- nach als irgendwie politisch eingestuft mehr anzuerkennen, dass […] öffentlich und aufgelöst. und feierlich Erklärungen gegeben sind, Was gab aber der Vatikan Hitler hier- durch die der Unverletzlichkeit der für? Dies ist in Artikel 32 des Reichs- katholischen Glaubenslehre und den konkordats zu finden: „Auf Grund der unveränderlichen Aufgaben und Rech- in Deutschland bestehenden besonde- ten der Kirche Rechnung getragen, so- ren Verhältnisse wie im Hinblick auf die wie die vollinhaltliche Geltung der von durch die Bestimmungen des vorstehen- den einzelnen deutschen Ländern mit den Konkordats geschaffenen Sicherun- der Kirche abgeschlossenen Staatsver- gen einer die Rechte und Freiheiten der träge durch die Reichsregierung aus- katholischen Kirche im Reich und sei- drücklich zugesichert wird. Ohne die in nen Ländern wahrenden Gesetzgebung unseren früheren Maßnahmen liegende erlässt der Heilige Stuhl Bestimmungen, Verurteilung bestimmter religiös-sitt- die für die Geistlichen und Ordensleute licher Irrtümer aufzuheben, glaubt die Mitgliedschaft in politischen Par- daher der Episkopat das Vertrauen he- teien und die Tätigkeit für solche Par- gen zu können, dass die vorbezeichne- teien ausschließen.“ Mehr als die Hälfte ten allgemeinen Verbote und Warnun- der Abgeordneten der Zentrumspartei gen nicht mehr als notwendig betrachtet im Reichstag waren 1933 Geistliche. zu werden brauchen.“ Dass diese nicht mehr an der politi- Dadurch wurde die Mitarbeit der schen Aktion teilnehmen dürfen hätte Katholiken an der sogenannten Macht- für die katholischen Parteien das Ende ergreifung sittlich erlaubt, kein Katholik bedeutet – wenn sie sich nicht schon musste mehr um sein Seelenheil fürch- vor der Unterzeichnung des Reichskon- ten, wenn er Nationalsozialist werden kordats selbst aufgelöst hätten. wollte – ein genialer Coup für Hitler. Ernst Wolfgang Böckenförde, späte- Keine zwei Wochen später machte der rer Verfassungsrichter, stellte in den Reichskanzler über seinen Vizekanzler 1960er-Jahren als Erster die sogenannte Papen dem Papst das Angebot, ein Affinitätsthese auf. Diese besagt, dass Reichskonkordat abzuschließen. Zu sich Kirche und Nationalsozialismus dessen wesentlichen Bestimmungen auf das Reichskonkordat einigen konn- zählten beispielsweise der Schutz des ten, da beide gleichermaßen autoritär Religionsunterrichts (Artikel 21) und und sich daher strukturell sehr ähnlich der katholischen Bekenntnisschulen waren. Die Junktims-These, die vor (Artikel 22), was vor allem in Bayern allem der früh verstorbene evangelische immer ein zentrales Thema darstellte. Kirchenhistoriker Klaus Scholder ver- Die Artikel 31 bis 32 lassen erkennen, trat, ging noch weiter, sie behauptet im wo die zentralen Interessen der Betei- Grunde das schon skizzierte Tauschge- ligten lagen und was als Basis eines schäft: Das Zentrum stimmte dem Er- „Tauschgeschäfts“ dienen konnte. Arti- mächtigungsgesetz zu und die Bischöfe kel 31 verzeichnet das, was Hitler dem nahmen ihre Verbote und Warnungen Vatikan zugestand: „Diejenigen katho- zurück, weil sie schon zu diesem Zeit- lischen Organisationen und Verbände, punkt wussten, dass das Reichskonkor- die ausschließlich religiösen, rein kultu- dat die Gegenleistung von Hitler sein rellen und karitativen Zwecken dienen würde. Diese These führte zu einer und als solche der kirchlichen Behörde Kontroverse mit dem katholischen His- unterstellt sind, werden in ihren Ein- toriker Konrad Repgen und der Kom- Foto: akg-images richtungen und in ihrer Tätigkeit ge- mission für Zeitgeschichte. Scholder Dieses Foto von Edith Stein stammt schützt.“ Die katholischen Vereine spitzte seine Thesen in der Diskussion aus dem Jahr 1935. Auch sie bekam und Verbände sollten also, solange sie weiter zu und gelangte schließlich zu keine Antwort, als sie nach Rom religiösen Zwecken dienten, von der dem Fazit, dass dieses Tauschgeschäft schrieb. Gleichschaltung durch die National- nur funktionieren konnte, wenn jemand sozialisten ausgenommen werden. Eine an einer einflussreichen Stelle im Hin- verbindliche Liste mit den Namen der tergrund die Fäden zog, der gleichzei- Vereine, die ausschließlich religiösen tig die deutsche Situation kannte und Zwecken dienten und als solche ge- gegenüber Zentrumsabgeordneten schützt waren, konnte Pacelli jedoch und deutschen Bischöfen genügend

Professor Wolf (li.) mit Brigadegeneral Johann Berger, dem Kommandeur des Landeskommandos Bayern (Mi.), und Generalmajor a. D. Bruno von Meng- den.

Generalapotheker Wolfgang Ackermann unterhält sich vor Beginn der Veranstal- tung mit Jakob Geltinger, dem früheren Präsidenten der Bundeswehrverwaltung in München.

22 zur debatte 6/2013 Das Reichskonkordat

Foto: akg-images Die Unterzeichnung des Reichskonkordats am 20. Juli 1933: Am Tisch in der Reichsinnenministerium. Ebenfalls anwesend waren bei der Unterzeichnung Mitte Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII.; links in Rom Vatikan-Unterstaatssekretär Giuseppe Pizzardo (stehend links) und sitzt Vizekanzler Franz von Papen, der den Vertrag für die Reichsregierung Substitut Alfredo Ottaviani. unterzeichnete, rechts am Tisch Ministerialdirektor Rudolf Buttmann aus dem

Weisungskraft hatte. Diesen Strippen- gefeiert. Kaas habe das Ja des Zentrums Mussolini gemeint, genauso verhandelte gegenwärtige nationale Regierung in zieher glaubte er in Kardinalstaatssekre- zum Ermächtigungsgesetz abhängig ge- er jedoch auch mit Hitler. Ein Konkor- Deutschland durch die katholische Par- tär Eugenio Pacelli gefunden zu haben. macht von der Bereitschaft der Reichs- dat sollte dem Schutz der Seelsorge tei unterstützen zu lassen. Pacelli ver- Als Indizien für seine These führte regierung, mit dem Heiligen Stuhl über dienen. Auseinandersetzungen zwi- neinte dies. Es gibt auch sonst keinerlei Scholder vor allem die Memoiren des ein Reichskonkordat mit dem Heiligen schen Staat und Kirche in Europa und Anzeichen dafür, dass er versuchte, die ehemaligen Reichskanzlers und Zen- Stuhl zu verhandeln. Goebbels stimmte Lateinamerika hatten immer wieder die Zentrumspartei direkt zu beeinflussen. trumspolitikers Heinrich Brüning an, in also in diesem Punkt mit Brüning über- Spendung der heiligen Sakramente ver- Über den Schritt der Bischöfe zeigte denen es mit Blick auf das Ermächti- ein. hindert und damit das Seelenheil der man sich im Vatikan sogar überrascht, gungsgesetz über den Vorsitzenden der Auch der Präsident des Deutschen Gläubigen gefährdet. So etwas durfte ja verärgert. Pacelli wollte schon seit Zentrumspartei hieß: „Kaas’ Wider- Evangelischen Kirchenbundes Kappler nie wieder passieren. 1917 ein Reichskonkordat, und er hätte stand wurde schwächer, als Hitler von hatte anscheinend bereits am 23. März Aber war Pacelli tatsächlich der dafür auch ein Tauschgeschäft in Kauf einem Konkordat sprach und Papen 1933, also einen Tag vor dem Ermächti- Strippenzieher hinter dem Reichskon- genommen. Aber die Verbote und War- versicherte, dass ein solches so gut wie gungsgesetz, Informationen darüber, kordat? Die Quellen beantworten diese nungen der Bischöfe waren sein Trumpf garantiert sei.“ Hierzu muss man wissen, dass die Reichsregierung mit Rom ein Frage eindeutig mit „Nein“. Zahlreiche im Pokerspiel mit der nationalsozialisti- dass Brüning und Ludwig Kaas sich Konkordat abschließen wollte. Dies prominente Besucher im Vatikan be- schen Regierung, den er eigentlich noch nicht gut verstanden und Brüning seine führte dazu, dass die Junktims-These in drängten Pacelli, er solle auf die Bischöfe aufheben wollte. Wenn es nach dem Memoiren rückblickend schrieb, womit der außerkatholischen Forschung und einwirken, damit diese die Verurteilung Kardinalstaatssekretär gegangen wäre, eine präzise Erinnerung nicht unbedingt der Öffentlichkeit fast einhellig als plau- des Nationalsozialismus zurücknähmen. hätten die Bischöfe die Verbote und gegeben sein muss. Aus diesen Gründen sibel wahrgenommen wurde. Doch der Kardinalstaatssekretär war Warnungen erst zurückgenommen, existiert gegenüber jener Aussage eine Dass der Papst bereit war, mit allen sich mit Pius XI. einig, dass eine Inter- wenn die Reichsregierung garantiert grundsätzliche Skepsis. möglichen Diktaturen Verträge abzu- vention des Papstes weder notwendig und bewiesen hätte, dass das katholi- Außerdem verwies Scholder auf schließen, um die Seelsorge zu garantie- noch ratsam sei. Es gab also keine Wei- sche Vereinswesen abgesichert war. einen Artikel, der zum vierten Jahrestag ren, ist unbestritten. Pius XI. sagte in sung aus Rom an die deutschen Bi- Einen weiteren Trumpf nahm die des Reichskonkordats in der von Joseph einer Audienz vom 16. Mai 1929: schöfe, diese handelten eigenständig. Zentrumspartei Pacelli am 5. Juli 1933 Goebbels herausgegebenen Zeitung „Wenn es sich darum handeln würde, Gleiches gilt für die Zentrumspartei. aus der Hand: Noch bevor das Reichs- „Der Angriff“ erschien: Prälat Kaas auch nur eine einzige Seele zu retten Der Botschafter Italiens besuchte am konkordat endgültig unterschriftsreif habe schon 1932 einen Artikel über die […] so würden Wir den Mut aufbrin- 14. März 1933 Pacelli und fragte ihn auf war, löste sie sich selbst auf. So über- Lateranverträge geschrieben und diese gen, sogar mit dem Teufel in Person zu Anweisung Mussolinis, ob der Heilige zeugend die Hypothese des Tauschhan- zugleich als Vorbild für Deutschland verhandeln.“ An dieser Stelle ist zwar Stuhl schon Befehl gegeben habe, die dels klang, so eindeutig ist sie also auf-

zur debatte 6/2013 23 kreuzen sich einerseits das gewaltige Geschehen im außerkirchlichen Raum, dem gegenüber der Papst die Zurück- haltung beobachten will, die ihm unbe- stechliche Unparteilichkeit auferlegt, andererseits die kirchlichen Aufgaben und Nöte, die sein Eingreifen verlangen […]. Wo der Papst laut rufen möchte, ist ihm leider manchmal abwartendes Schweigen, wo er handeln und helfen möchte, geduldiges Harren geboten.“ Der Papst kann und darf also nicht laut protestieren, weil er sonst seine Unparteilichkeit als „padre commune“ aufgäbe, der für die Katholiken in allen kriegführenden Ländern gleichermaßen zuständig ist. Das ist noch keine Erklärung, aber eine erste Hypothese für das Verhalten Pius’ XII. zum Holocaust. „

Literatur

Winfried Becker, Das Reichskonkordat von 1933 und die Entpolitisierung der deutschen Katholiken. Verhandlungen, Motive, Interpretationen, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 177 (2008), S. 353-393.

Thomas Brechenmacher, Teufelspakt, Selbsterhaltung, universale Mission? Leitlinien und Spielräume der Politik Mehr als 400 Offiziere und Offiziers- des Heiligen Stuhls gegenüber dem anwärter waren in die Akademie ge- nationalsozialistischen Deutschland kommen. (1933–1939) im Lichte neu zugänglicher vatikanischer Akten, in: Historische Zeitschrift 280 (2005), S. 591-645.

Thomas Brechenmacher (Hg.), Das Reichskonkordat 1933. Forschungs- grund der neu zugänglichen vatikani- des Heiligen Stuhles käme nun einem Starkmuts und großherziger Gesinnung stand, Kontroversen, Dokumente schen Quellen widerlegt: Pacelli sorgte Protest gegen ein deutsches Staatsgesetz verleihe, welche die Voraussetzung des (Veröffentlichungen der Kommission für weder für die Zustimmung des Zen- gleich.“ Und einen solchen Protest woll- endlichen Sieges sind.“ Zeitgeschichte, B 109), Paderborn u.a. trums zum Ermächtigungsgesetz und te der Vatikan offenbar nicht riskieren. Manche Briefe wurden dem Papst 2007. die Auflösung der Partei noch wies er die So kam es 1933 zu keinen öffentlichen nicht einmal vorgelegt, beispielsweise Bischöfe an, die Verurteilung des Natio- Erklärungen zugunsten der verfolgten der von Arthur Zacharias Schwarz, Rudolf Morsey, Der Untergang des po- nalsozialismus zurückzunehmen. Juden in Deutschland. Und das, obwohl einem Rabbiner aus Wien, der Papst litischen Katholizismus. Die Zentrums- Das Reichskonkordat bedeutete sich in den Quellen eine bedrückende Pius XI. gut kannte. Ein Mitarbeiter des partei zwischen christlichem Selbstver- jedoch die endgültige Preisgabe des Akte mit zahlreichen Bittschriften an Staatssekretariats notierte auf diesen ständnis und „Nationaler Erhebung“ politischen Katholizismus. Ein Wieder- den Papst findet, die alle denselben Brief: „Mir scheint es sehr heikel [molto 1932/33, Stuttgart 1977. erstehen des Zentrums und der Baye- Tenor hatten: Bitte sprechen Sie für die delicato] zu sein, eine Antwort zu rischen Volkspartei in ihrer alten, vom verfolgten Juden! Die bekannteste die- geben.“ Ludwig Volk, Das Reichskonkordat Klerus geprägten Gestalt, war nicht ser Bittschriften stammte von der in- vom 20. Juli 1933. Von den Ansät- mehr möglich. Und für den Nationalso- zwischen heiliggesprochenen Edith Ausblick: Pius XII. und der Holocaust zen in der Weimarer Republik bis zur zialismus bedeutete der Vertrag einen Stein. Sie war damals Dozentin am Ins- Ratifizierung am 10. September 1933 großen Prestigegewinn. Doch es war ein titut für wissenschaftliche Pädagogik in Warum das „Schweigen“ des Vati- (Veröffentlichungen der Kommission für Pakt mit dem Teufel, wie sich schon Münster und bekam als einzige der kans auch im Angesicht des Holocausts Zeitgeschichte, B 5), Mainz 1972. 1933 an der beginnenden Judenverfol- fünfzig Bittsteller eine Antwort – wahr- andauerte, warum Pius XII. den Mas- gung zeigte. scheinlich, weil sie ihr Schreiben von senmord nicht ausdrücklich und öffent- Ludwig Volk (Bearb.), Kirchliche Akten einem Mittler überbringen ließ, dem lich verurteilte und wann er was dar- über die Reichskonkordatsverhand- Der Vatikan und die Juden Erzabt von Beuron. über wusste: Das sind die drängendsten lungen 1933 (Veröffentlichungen der im Jahr 1933 Edith Stein schrieb: „Heiliger Vater! Fragen, zu denen erst nach der nächs- Kommission für Zeitgeschichte, A 11), […] Seit Wochen sehen wir in Deutsch- ten Archivöffnung neue Antworten zu Mainz 1969. Kurz nach der sogenannten Macht- land Taten geschehen, die jeder Ge- erwarten sind. Bis dahin lässt sich nur ergreifung und der Verabschiedung des rechtigkeit und Menschlichkeit – von festhalten, dass Eugenio Pacelli schon Hubert Wolf, Papst und Teufel. Die Ar- Ermächtigungsgesetzes verschlechterte Nächstenliebe gar nicht zu reden – als Nuntius und Kardinalstaatssekretär chive des Vatikan und das Dritte Reich, sich die Lage der Juden in Deutschland Hohn sprechen. […] Seit Wochen in und mit Deutschland prägende München 2008. dramatisch. Am 1. April organisierte die warten und hoffen nicht nur die Juden Erfahrungen machte. NSDAP einen reichsweiten Boykott […] darauf, dass die Kirche Christi ihre Seine erste Aufgabe als Nuntius in Hubert Wolf, Tauschgeschäft Reichs- jüdischer Geschäfte. Wie reagierte die Stimme erhebe, um diesem Missbrauch München war 1917 die päpstliche Frie- konkordat gegen Ermächtigungsgesetz? Kirche darauf? des Namens Christi Einhalt zu tun. Ist densinitiative zur Beendigung des Ers- Zur Historisierung der Scholder-Rep- Pacelli notierte an diesem Tag, nach- nicht die Vergötzung der Rasse und der ten Weltkriegs. Die Friedensinitiative gen-Kontroverse über das Verhältnis des dem er mit dem Papst gesprochen hatte: Staatsgewalt […] eine offene Häresie? scheiterte, sodass Benedikt XV. – und Vatikans zum Nationalsozialismus, in: „Es könnten Tage kommen, in denen Ist nicht der Vernichtungskampf gegen die Päpste nach ihm – auf Vermittlungs- Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 man sagen können muss, dass in dieser das jüdische Blut eine Schmähung der versuche verzichteten und sich der be- (2012), S. 169-200. Sache [der Juden] etwas gemacht wor- allerheiligsten Menschheit unseres Er- dingungslosen Unparteilichkeit ver- den ist.“ Und tatsächlich wies er seinen lösers, der allerseligsten Jungfrau und pflichtet fühlten. Außerdem war Pacelli Hubert Wolf/Klaus Unterburger, Papst Nuntius in Berlin an, er möge vorsichtig der Apostel? […] Wir alle, die wir treue immer wieder mit dem „Kulturkampf- Pius XII. und die Juden. Zum Stand sondieren, ob es Möglichkeiten gebe, Kinder der Kirche sind und die Verhält- trauma“ der deutschen Katholiken kon- der Forschung, in: Theologische Revue 4 „die antisemitischen Exzesse in Deutsch- nisse in Deutschland mit offenen Augen frontiert: In den 1870er-Jahren hatte (2009), S. 265-280. land einzugrenzen“, denn es liege „in betrachten, fürchten das Schlimmste sich die Kirche gegen Bismarck gestellt, der Tradition des Heiligen Stuhls, seine für das Ansehen der Kirche, wenn das einen politischen Konflikt aufgenom- Hubert Wolf/Klaus Unterburger (Hg.), universale Friedens- und Liebesmission Schweigen noch länger anhält.“ men – und einen Zusammenbruch in Eugenio Pacelli. Die Lage der Kirche in allen Menschen gegenüber auszuüben, Natürlich bekam nicht Edith Stein der Seelsorge erlitten: Tausende Pfarr- Deutschland 1929. Der Schlussbericht welchen sozialen Schichten oder selbst, sondern der Erzabt von Beuron eien waren nicht besetzt, und abertau- des Nuntius vom 18. November 1929 welcher Religion auch immer sie eine Antwort von Pacelli: „Ich stelle sende Menschen starben ohne die Trös- (Deutsch und Italienisch; Veröffentli- angehören“. Hier erscheint die Kirche anheim, die Einsenderin in geeigneter tungen der heiligen Sakramente. chungen der Kommission für Zeitge- als Anwältin der fundamentalen Weise wissen zu lassen, dass ihre Zu- Diese beiden Erfahrungen des Nun- schichte A 50), Paderborn 2006. Menschenrechte. schrift pflichtmäßig Seiner Heiligkeit tius schienen lange nachzuwirken. Aus Doch die Antwort Orsenigos ist des- vorgelegt worden ist. Mit Ihnen bete dem Zweiten Weltkrieg existieren eini- illusionierend: „Der antisemitische ich zu Gott, dass er in diesen schwieri- ge Briefe von Pius XII. an deutsche Kampf hat seit gestern gleichsam regie- gen Zeiten Seine heilige Kirche in Sei- Bischöfe. So schrieb er am 20. Februar rungsamtlichen Charakter angenom- nen besonderen Schutz nehme und al- 1941 an Matthias Ehrenfried in Würz- men. Eine Intervention des Vertreters len Kindern der Kirche die Gnade des burg: „In der gegenwärtigen Stunde

24 zur debatte 6/2013 und „notwendigerweise“ habe der Staat Die ist mir hier nicht möglich, da soll im Zentrum der Geschichtsbetrachtung ich nach der Tagungsregie ja aufhören. Viertes Karl Graf Spreti Symposium zu stehen, umspanne er doch „bis heute Aber es wäre ein einigermaßen plausib- ‚Bayerisch Land und Volk’“, verbürge ler Anfang, denn nach 1800 entsteht in eine „seit mehr als eineinhalb Jahrtau- der Staatsrealität tatsächlich etwas Neu- senden ungebrochene“ Kontinuität und es, das moderne Staatsbayern mit einer weise den „wesensgemäßen“ Weg einer Traditionslinie bis heute. Nun haben „sinnfälligen“ Staatsordnung. Haupt- freilich schon die Eingangszitate ge- Bayern in der sächlich die Stärkung des Staatsbe- zeigt, dass sich neben diese neuere wusstseins aus dem Geschichtsbewusst- Staatstradition Kontinuitätsschichten sein liege daher im Beruf des bayeri- anlagern (zumindest geschichtsideolo- deutschen und schen Landeshistorikers. Das zu be- gisch), die viel weiter zurückreichen. zweifeln oder zu relativieren, sei nichts Wir haben also noch ältere Anfänge. weniger als eine „ungeheuerliche Häre- Vor allem zwei solcher älterer Staats- sie“. Das waren jetzt alles wörtliche wurzeln sieht man gemeinhin: europäischen Zitate der beiden programmatisch wohl Erstens den Stamm. Es wird gesagt, einflussreichsten Vertreter der landes- der frühe bayerische Staat erwachse historischen Orthodoxie nach 1945, einem Volksstamm. Es ist zwar nicht so von Max Spindler und Andreas Kraus. ganz klar, was das genau sein soll und Geschichte Nun ist die Analyse der „langen woher der Stamm genau kommt, aber Dauer“ bayerischer Staatlichkeit in der irgendwann zwischen Spätantike und Tat ein wichtiges Anliegen. Sie gehört Frühmittelalter wird er als ethnische zu einem Wesenszug der politischen Einheit gefasst, die ein recht weitläufi- Was ist das Besondere an Bayern, ja, Veranstaltung vom 21. und 22. Juni Kultur Bayerns. Und man kann es ges Gebiet bewohnt, so ungefähr vom gibt es überhaupt etwas Besonderes 2013, die die Akademie zusammen durchaus auch als eine legitime gesell- Lech bis an den Rand der Puszta und an Bayern? Ausgehend von den An- mit der Karl Graf Spreti Stiftung und schaftspolitische Aufgabe bezeichnen, von Böhmen bis Bozen. Als staatliche fängen der bayerischen Geschichte bis dem Historischen Seminar der LMU Identitäten aus der Geschichte über- Form hat man daraus das frühe Stam- in die Gegenwart spannten Experten München ausrichtete. schaubarer Einheiten wie Einzelstaaten mesherzogtum konstruiert. Es wurde im 4. Karl Graf Spreti Symposium Einige der Referate sind auch zum zu schöpfen: Das war so unter den spe- regiert entweder von stammeseigenen mit dem Titel „Bayern in der deut- Nachhören in die Audiothek der zifischen Bedingungen einer um geistige Herrschergeschlechtern, von den Agilol- schen und europäischen Geschichte“ Akademie, http://mediathek.kath- Regeneration bemühten Nachkriegssitu- fingern und später, zu Anfang des 10. den Bogen, um Antworten auf diese akademie-bayern.de/audiobeitraege, ation, in der etwa der Verfassungstext Jahrhunderts, von den Luitpoldingern, Fragen zu finden. Im Anschluss finden eingestellt. formuliert wurde; es ist aber auch prin- oder es existierte als Provinz des Reichs, Sie die überarbeiteten Referate dieser zipieller so bis heute, nämlich um kom- z.B. unter den Karolingern oder den munitäres Verantwortungsbewusstsein Sachsen, – allerdings ohne dass jemals in einer zunehmend unübersichtlichen seine räumliche Grundexistenz in Frage Welt zu wecken. gestellt worden wäre. Insgesamt spre- Jenseits von Patriotismus und Heimat- Aber als Wissenschaftler könnte man chen wir hier von einer Zeit, die etwa selbstverständlich auch ganz andere vom 6. Jahrhundert bis ins hohe Mittel- tümelei. Die bayerische Staatlichkeit Zusammenhänge in den Mittelpunkt alter reicht, wobei diese „stammliche rücken, Bayern aus dem Blickwinkel Grundlage“ auch danach irgendwie der Lebenswelt eines Bauern oder eines fortwirke und ein „immerwährendes im Horizont der deutschen Geschichte Unternehmens, Bayern als Gewerbe- Band zwischen Stamm und Staat“ be- oder Kulturlandschaft gerade mit hybri- stehe, so die These. bis 1800* den Grenzen, die die staatlichen über- Allerdings kommt dazu dann noch wölben, usf. Die bayerische Staatstradi- ein zweites Staatsfundament, der zweite Bernhard Löffler tion ist dann keineswegs der einzige, Anfang: das Territorium. Wir befinden nicht einmal der wichtigste Rahmen uns jetzt in einer Zeit vom ausgehenden von „Bayerisch Land und Volk“. „Häre- 12. bis zum beginnenden 14. Jahrhun- tisch“ ist da überhaupt nichts. Einmal dert. Das sei die eigentlich formative ganz abgesehen davon, dass die Rück- Phase der künftigen Staatlichkeit. Den projektion bayerischer Staatlichkeit Staatstypus, der dabei entsteht, um- alles andere als ungebrochen funktio- schreibt man als Landesherrschaft oder Wenn man auf begrenztem Raum ein niert. Es gibt hier keine deterministische Thema wie das mir gestellte zu behan- Entwicklung, außer – und da komme deln hat, muss man sich von vorneher- ich jetzt zum Kern des Beitrags – man Geschichte beginnt nicht ein bescheiden. Von Garibald bis Karl will diese darstellen. Welche Perspekti- Theodor in 45 Minuten, und dann noch ven dabei eingenommen werden und einfach von selbst. Ursprün- im Horizont der deutschen Geschichte welche Bilder von bayerischer Staatlich- ge werden bewusst gesetzt und alles jenseits von patriotischer keit daraus erwachsen, das ist keine Heimattümelei und der handelsüblichen Frage von historischen Notwendigkei- und mit dieser bewussten Lederhosen-Folklore, also auch ohne ten, sondern von Vorentscheidungen Setzung sind Absichten und die Möglichkeit, eine einfache Erfolgs- des Betrachters. Bei Spindler und Kraus geschichte des bayerischen Wegs zum ist das nicht anders als bei Löffler. Aussagen verbunden. Glück zu erzählen – das kann nur In der Folge werden daher immer funktionieren, wenn man sich auf einige zwei Fragen miteinander verknüpft. Die pointierte strukturelle Thesen be- eine lautet: Welche Konstellationen der Territorialstaat. Dieser sei zwar deutlich schränkt und auf eine spezifische Entwicklungsgeschichte bayerischer kleinräumiger als das alte Stammesher- analytische Perspektive konzentriert. Staatlichkeit könnte man herauspicken, zogtum, ungefähr begrenzt auf Altbay- Hierfür gehen wir aus vom Zentral- um sich einigen ihrer zentralen Struk- ern, dafür aber wesentlich moderner. begriff des Beitrags, der „bayerischen turelementen anzunähern? Und die Kein loser Personenverbandsstaat, son- Staatlichkeit“. Die in einem langen zweite: Mit welchen Deutungsmustern dern ein „institutionalisierter Flächen- Zeitraum institutionalisierte, gewisser- wird das üblicherweise historiogra- staat“, der auch viel effizienter sei als maßen historisch geadelte Staatlichkeit, phisch verabreicht, und gibt es womög- das parallel wachsende, komplizierte ist bis heute eine ganz entscheidende, lich andere Interpretationsmöglichkei- Reichsgefüge. Max Spindler spricht von für nicht wenige sogar die Bezugsgröße ten? Ich will dabei exemplarisch drei einem geschlossenen, mit Grenzen um- bayerischer Selbstvergewisserung. So Aspekte behandeln. hegten Kerngebiet, „das auf Stammes- beschwört bereits die Präambel der Prof. Dr. Bernhard Löffler, Professor land erwachsen war“ und fortan als bayerischen Verfassung von 1946 die für Bayerische Landesgeschichte an I. „Bewahrer der Stammestradition“ fun- „mehr als tausendjährige Geschichte“ der Universität Regensburg gierte. Diese neue Staatsform beschreibt des bayerischen Volkes. Kein Minister- Der erste Punkt betrifft die innere also einerseits etwas qualitativ anderes präsident, der auf diesen Appell ver- Genese der bayerischen Staatlichkeit, als die vorhergehende, zugleich aber – zichtete, damit nicht einen entscheiden- genauer: die Frage nach ihren Wurzeln und das ist für die Staatsteleologie den Unterschied zu den anderen deut- Von diesem Grundtenor wird be- und konstitutiven Etappen. Für unser wichtig – transportiert sie zentrale Ele- schen Ländern markierte und daraus merkenswerterweise auch ein Großteil Anliegen ist das besonders aussagekräf- mente des Stämmischen weiter. nicht besondere Ansprüche bayerischer der neueren Landesgeschichtsschrei- tig, weil die Definition der Anfänge Es gibt bei alldem einen zentralen Eigenständigkeit herleitete. Selbst Ed- bung nach 1945 dominiert. Ja man immer ein Problem der Geschichtsbil- Moderator, der Stamm und Land zu- mund Stoiber, der in seinem Reform- kann sogar sagen, diese fungiert (in der ist, nicht der Geschichte. Geschich- sammenhält und der überhaupt als ent- eifer auch solche historisch gewachsene manchen Facetten bis heute) als zen- te beginnt nicht einfach von selbst. Ur- scheidender Motor dieser Staatswer- Institutionen beseitigte oder beschädig- traler geschichtspolitischer Ideengeber. sprünge werden bewusst gesetzt und dung erscheint: der Fürst und Landes- te, die sich bewährt haben, hat sich in Sie sieht nämlich ihren eigenen Wesens- mit dieser bewussten Setzung sind Ab- herr. Seit 1180 und bis 1918 entstammt seinen Sonntagsreden immer wieder auf kern explizit in einem staatspolitischen sichten und Aussagen verbunden. dieser den Wittelsbachern. Das ist für diese lange Staatsgeschichte berufen Auftrag. Die „Pflege der bayerischen Für die bayerische Staatlichkeit exis- sich genommen schon ein wuchtiges und die Kräfte historischer Identitäts- Geschichte“ heiße „Pflege der Ge- tieren mehrere Möglichkeiten anzu- Kontinuitätselement, zumal es sich um stiftung beschworen. schichte des bayerischen Staates“. Stets fangen. Eine ist die Zäsur um 1800. eine sehr alte Familie handelt, die selbst

zur debatte 6/2013 25 naturnotwendig und die Bewertung des Ergebnisses als Folge einer zielstrebigen Politik. In der jüngeren ländervergleichenden mediävistischen Forschung (etwa Ernst Schuberts, Christine Reinles oder Wer- ner Hechbergers) wird diese Vorstellung einer planvoll-logischen, linearen oder gar notwendigen Herstellung flächende- ckender Territorialität heftig angezwei- felt. Das allermeiste sei dem reinen bio- logischen Zufall geschuldet gewesen, dem Aussterben konkurrierender Adels- geschlechter oder den bloßen Zufällig- keiten einer Erbfolge. Situatives Glück, punktuelle persönliche Faktoren wie etwa die Königsnähe Otto von Wittels- bachs oder einfach das Verfügen über Geld, wo nötig, seien wichtiger gewesen als irgendwelche politischen Pläne. Überhaupt könne man in dieser Zeit für Fürsten nicht von rationaler Herr- schaftspolitik mit einer über längere Zeiträume verfolgten Umsetzung von Arrondierungsprogrammen sprechen. Weit mehr sei es um begrenzte, impro- visierte ad-hoc-Machterweiterungen gegangen, dort wo das eben durchsetz- bar erschien. Nirgendwo agierte jemand als „werdender Landesherr“. Nirgend- wo fand jemand eine genau definierte Herzogsgewalt vor, die er nur hätte auf- nehmen und ausbauen müssen. Nir- gendwo auch gab es wirklich völlig ge- schlossene Staatswesen mit eindeutig linearen Grenzziehungen. Kurzum: Foto: akg-images Gleich ob Territorial- oder Stammes- Er verkörpert die bayerische ,Urkata- Bayern abgesetzt. Hier ist Tassilo als ei- herzogtum, ob Personenverbands- oder strophe‘: Der Agilolfinger Tassilo III. ner der drei Stifter auf dem Brückentor Flächenstaat – es handelt sich dabei (ca. 741 – ca. 796) wurde im Jahr 788 des Benediktiner-Stiftes Kremsmünster immer um moderne „wissenschaftliche von Karl dem Großen als Herzog von in Oberösterreich dargestellt. Vereinbarungsbegriffe“ (W. Hechberger), die den retrospektiven Bedürfnissen nach Systematisierung entspringen und nicht den Quellen. Schließlich eine Ehrenrettung für die Niederbayern. Aus der Zeitperspektive waren wohl die Intentionen von Nie- eine lange Stammestradition verbürgen Und es folgt seit 1180 einem planvollen Pfalz-Niederbayern. Die übliche Wer- der- und Oberbayern gleichberechtigt. kann. Zudem zeigen sich seine ersten Programm der Landesfürsten, das nicht tung lautet hier: Albrecht ist der Gute, Die patrimoniale Vorstellung, das Land Träger, von Otto I. bis Kaiser Ludwig persönliche Machterweiterung, sondern der weise Fürst, der den „Fluch der diene der Sicherung des eigenen Fami- den Bayern, als äußerst geschickt im die Schaffung eines einheitlichen, be- Erbteilungen“ beendet und einem mo- lienzweigs, war absolut üblich und sie Sammeln von Herrschaftsrechten. Diese friedeten, modernen Staates bezweckte dernen gesamtaltbayerischen Staatsver- wirkte noch lange fort. Und die Idee, stammen aus ganz unterschiedlicher – gleitend zwar, aber doch „zielstrebig“ ständnis zum Durchbruch verhilft. Erst aus eigenen Interessen eigene Herr- Quelle: Eigenbesitz, Grundherrschaften, über Generationen hinweg und als „klar mit ihm werde die Einheit von Land schaftstraditionen zu bilden – also Grafschafts-, Lehens-, Vogteirechte. Sie gefaßte Aufgabe des Herrschers“. Das und Fürst zum wirklich staatstragenden pfälzisch-niederbayerische statt alt- werden auch unterschiedlich gewon- ist das Grundmuster. Prinzip, das „Haus zu Bayern“ zur bayerischer – ist nicht minderwertiger nen: durch Ehe, Erbschaft, Schenkung, Faktoren, die dem entgegenstehen, „höheren Realität“ jenseits privater, oder falscher als diejenige des Albertini- Kauf, Gewalt. Zuletzt aber scheint es werden als Fehlentwicklung beschrie- patrimonialer Herrschaftsauffassungen. schen Staates, der sich dann durchge- gelungen zu sein, sie zu bündeln, so ben, als missliche, falsche Seitenwege. Georg dagegen ist der bad guy, geizig, setzt hat. Letzten Endes entschied auch dass ein halbwegs geschlossenes Terri- Ein Beispiel dafür ist etwa die Bewer- altbacken und ohne Format, weil er den hier nicht die Modernität eines Staats- torium herauskam, jedenfalls geschlos- tung des welfischen Jahrhunderts in familiären Eigennutz über die Landesin- konzepts, sondern allein der genealo- sener als in anderen Teilen des Reichs. Bayern, also der Periode 1070 bis 1180. teressen stellte und dabei widerrechtlich gisch-biologische Zufall: Georg von Als tauglichstes Mittel, diesen staat- Von Aventin bis Andreas Kraus reicht die Familiensolidarität untergrub. Bayern-Landshut hatte schlicht keinen lichen Stabilisierungsprozess zu sichern, hier das gängige Verdikt: Die bösen männlichen Nachfahren und konnte die hat sich die Institutionalisierung nach stammesfremden Welfen und besonders pfälzisch-weibliche Erbfolge vor allem innen erwiesen. Das umfasst: die För- der letzte Welfe, Heinrich der Löwe, aus reichspolitischen Gründen nicht derung herzoglicher Städte und Resi- hätten in ihrer Aufgabe versagt, die in Die übliche Wertung lautet durchsetzen. Mit dem Zukunftsglück denzen; eine enge Kooperation von Bayern angelegte Herzogsstellung zu hier: Albrecht ist der Gute, Bayerns als Einheit hatte das erstmal Dynastie und Klöstern; vor allem je- einem geschlossenen Staat auszubauen, der weise Fürst, der den wenig zu tun. Nur wenn man den Weg doch die Ausbildung einer festen Amts- stattdessen Bayern zu einem bloßen deterministisch zum späteren Bayern hierarchie. Diese Form von institutiona- Nebenland herabgewürdigt. Vor diesem „Fluch der Erbteilungen“ legen und eine Geschichte der Sieger lisierter Staatlichkeit habe dann in meh- düsteren Hintergrund leuchtet dann die beendet und einem moder- schreiben will, ist das so. reren Etappen den Weg in die Zukunft Wittelsbacher-Dynastie umso heller, gewiesen: vom weiteren Ausbau der Be- weil sie kapiert hat, um was es geht. nen gesamtbayerischen II. hördenapparate unter den Vorzeichen Zum anderen gelten als besonders Staatsverständnis zum der Konfessionalisierung im 16. Jahr- verhängnisvoll für Bayern die diversen Mein zweites Themenfeld lautet: Bay- hundert über die Aufwertung durch die Landesteilungen vom 13. bis zum 15. Durchbruch verhilft. ern und das Reich. Man ist sich weit- Kurwürde im 17. Jahrhundert letztlich Jahrhundert. Sie widersprächen der gehend einig, dass Bayern stets ein be- bis hin zum modernisierten Königreich logischen Staatsentwicklung, schwäch- deutendes Herzogtum mit recht großer von 1806. ten tragisch die Kräfte Bayerns, mach- Es ist gar keine Frage, dass das Ge- Eigenständigkeit und auch reichsweiten Ein erstes Zwischenresümee: Die ten es zum Spielball auswärtiger Mäch- schichtsbild, das wir uns jetzt angesehen Einflüssen war, zumindest vom An- etablierte bayerische Staatsgeschichte te. Die Lösung findet dieses Teilungs- haben, in mancher Hinsicht überzeugen spruch her. Man könnte wohl eine Ge- hört auf den Dreiklang „Stamm, Terri- problem erst zu Beginn des 16. Jahr- kann, in substantiellen Punkten auch schichte schreiben, die sich an bayeri- torium, Dynastie“. Das ist die beruhi- hunderts, als Herzog Albrecht IV. gegen akzeptiert ist. Tatsächlich etwa haben schen Helden orientiert, die kraft eige- gende Grundmelodie, die das eingangs seinen niederbayerischen Vetter Georg wir im Südosten des Reiches die Her- ner Autorität von Bayern aus ins Reich skizzierte Geschichtsbild mit dem Staat im Landshuter Erbfolgekrieg 1506 die ausbildung signifikant flächiger Staaten. hinein wirkten. In die Galerie der Stars in der Mitte trägt und auch dessen Va- künftige Einheit mit Primogenitur Auch die zentrale Rolle der Fürsten gehörten dann vermutlich Tassilo III. riationen in der geschichtspolitischen durchsetzte. Georg dagegen hatte eine und ihrer Beamten in diesem Staatsbil- und Arnulf der Böse für die frühe Zeit; Propaganda bis heute. Wenn man das Erbfolge innerhalb seines Familienzwei- dungsprozess ist äußerst plausibel; die jedenfalls Ludwig der Bayer, der einzi- Arrangement überblickt, ist es gekenn- ges angestrebt, und das hieß, weil ihm frühen Wittelsbacher waren in diesem ge kraftvolle Wittelsbacher Kaiser mit zeichnet durch Logik, Linearität und der Sohn fehlte: einen Erbgang seiner Zusammenhang in der Tat leistungs- räumlich ausgreifenden Ambitionen, Kontinuität des Staatsaufbaus; durch Tochter, in Verbindung mit deren Gat- fähige Fürsten. Aber das Ganze besitzt und Kurfürst Maximilian für Spätmittel- Alter und Würde seiner Wurzeln und ten, dem Pfälzischen Wittelsbacher zugleich doch recht problematische Sei- alter und Frühe Neuzeit; wer einen Träger; durch Kohärenz und Homoge- Ruprecht. Das wäre hinausgelaufen auf ten: In erster Linie betrifft das die Schil- Schuss Tragik will, vielleicht noch Max nität der Staatsordnung im Ergebnis. die Etablierung eines neuen Reichs derung der Entwicklung als gleichsam Emanuel und Karl Albrecht, Symbol

26 zur debatte 6/2013 mehr für den Versuch, denn für den Er- sondern vom bayerischen „regnum“ der folg – und für die Selbstüberschätzung Karolinger im 9. Jahrhundert hergelei- der bayerischen Eigenkräfte; auch das tet. An dieses konnte offenbar noch der ist ja womöglich ein Kontinuitätsfaktor Luitpoldinger Arnulf (907 – 937) an- bis heute. knüpfen, der sich ebenfalls „rex Bava- Wie die Geschichte der inneren riae“ oder „teutonicorum“ nennt. Diese Staatsgenese besitzt auch dieser The- chronologische Differenzierung hat es menkomplex eine eminent geschichts- durchaus in sich, denn sie besagt ja: politische Dimension. Denn damit wer- Nicht die Kraft der autogenen urbayeri- den Aussagen getroffen über das grund- schen Agilolfinger-Fürsten legt die sätzliche Gewicht von Eigenstaatlich- Basis, sondern gerade die Zeit, in der keit in Deutschland, oder moderner: Bayern landfremd von den Karolingern über die Relevanz und Tradition des beherrscht war. Genauer: Die karolingi- Föderalismus. So akzentuiert es jeden- sche Herrschaft Ludwig des Deutschen falls oftmals die Landesgeschichts- im 9. Jahrhundert macht Bayern bedeut- schreibung: Als Gegenspieler Karls des sam, als es Königsland des übergreifen- Großen erschien etwa Tassilo manchen den ostfränkischen Reichs war und als „erster Bannerträger des deutschen Regensburg dessen Hauptstadt. In die- Föderalismus“. Seine Absetzung 788 gilt sem, einem mediaten Umfeld also bildet folglich vielen als „Katastrophe“, mit sich bayerisches Selbstbewusstsein aus, der in einer „welthistorischen Entschei- das sich dann in der Folge fortführen dung säkularen Ausmaßes“ (A. Kraus) lässt. das selbständige Stammesbayern als Schließlich ein dritte allgemeine Staat eigenen Rechts unterbunden und Beobachtung: Mir scheint, dass die Lan- eine abhängige landfremde Herrschaft desgeschichtsschreibung in Bayern oft- installiert worden sei. Auch Ludwig der mals von einer eigentümlichen Kombi- Bayer und Kurfürst Maximilian sind nation bestimmt wird. Einerseits hat ganz wichtige personale Referenzgrö- man ein ausgeprägtes, mitunter fast ßen bayerischer Eigenständigkeit, die staatstragendes Selbstbewusstsein, aber im staatlichen Denkmalskult zumal des das wird grundiert von einer gewissen 19. Jahrhunderts fast mythische Kraft Melancholie, einem defensiven Verlust- gewinnen. komplex des Zukurzgekommenen und Drei kritische Bemerkungen auch Nicht-Ganz-Ernstgenommenen. Viel- hierzu. Erstens prinzipiell: Es erübrigt leicht kann man darin eine Erklärung sich fast zu sagen, dass auch dies Re- dafür finden, dass das Verhältnis Bay- zeptions- und Wahrnehmungsgeschich- erns zum Reich tendenziell oft in den te ist und nachträgliche Instrumentali- Kategorien des Konflikts und der Ver- sierung, die sich überdies verändern lustgefahren beschrieben wird. Das be- konnte. Tassilo III. wird vom nationa- trifft Inhaltlich-Politisches: Bayern als len Sigmund Riezler deutlich kritischer Opfer antiföderaler Zentralisten und betrachtet als vom konservativen Föde- gewaltsamer Beschneidungen von ralisten Michael Doeberl. Ludwig der Eigenständigkeit. Es betrifft aber auch Bayer wurde von liberalen Aufklärern Methodisches, nämlich den forschungs- des 19. Jahrhunderts als antiösterreichi- politischen Umgang mit der Allgemei- scher und antipapistischer Heros ver- nen Nationalgeschichte, der man seit wertet, Maximilian war dafür der Held den Münchner „Nordlichtern“ im 19. der romantisch-katholischen Restaurati- Jahrhundert ebenfalls meist böse Usur- Der Babenberger Heinrich Jasomirgott der Ahnherr des Staates Österreich, on. Usw. Das ist ein Kampf um Deutun- pations- und Domestizierungsabsichten (1107 – 1177), erst Herzog von Bay- dargestellt in einem Denkmal auf dem gen, der seine Qualität aus der Eigen- unterstellt. ern und später Herzog von Österreich, Wiener Rathausplatz dynamik des Fortlebens von Geschichte In bestimmter Hinsicht hat das zieht, nicht aus deren bloßer Existenz. durchaus seine Berechtigung. Dennoch Zweitens inhaltlich: Soweit ich das könnte man sich auch eine andere In- überblicke, werden heute anders als frü- terpretationslinie denken: Es ist ein her die Grundlagen bayerischer Eigen- Kontinuum bayerischer Staatsgeschich- ständigkeit kaum mehr im alten agilol- te, dass sie zwischen Eigenständigkeits- fingischen Stammesherzogtum gesehen, ansprüchen und Abhängigkeiten pen- delt. Der Staat – und da sind sich ja alle III. einig – war immer verwoben mit und abhängig von größeren Herrschafts- Mein letzter Punkt zielt auf das Ver- gebilden, politisch, dynastisch, ökono- hältnis Bayerns zu Österreich. Auch da misch, kulturell. Aber darunter hat er gibt es natürlich Phasen enger Koopera- nicht unbedingt und automatisch ge- tion, beispielsweise in der Religions- litten. Die Abhängigkeiten konnten und Türkenpolitik des 17. Jahrhunderts. durchaus notwendig sein und förder- Und es gibt das, was man eine gemein- lich. Die Absetzung Tassilos durch Karl same „bayerisch-österreichische Kultur- den Großen mag ja für Tassilo eine Ka- einheit“ im Kontext der katholisch-ro- tastrophe gewesen sein, für Bayern war manischen Welt nennen könnte. Aber sie es sicher nicht. Pointiert gesagt: Man die übliche Meistererzählung betont muss sich nicht immer partikular auf- doch auch hier weit mehr wieder etwas regen, wenn Eigenständigkeit einge- anderes, nämlich den säkularen Gegen- schränkt oder moderiert wird. Mitunter satz zwischen Wittelsbach und Habs- kann man davon sogar profitieren. Dass burg vom Hochmittelalter bis zu den man jedenfalls damit umgehen kann, ist Erbfolgekriegen des 18. Jahrhunderts. eine der Lehren der Staatengeschichte Und sie schreibt abermals oft eine Ne- im Rahmen des Alten Reichs. Dieses gativ-, Konflikt- und Verlustgeschichte. war mindestens ebenso stark an Prin- Auch dieses Strukturelement bayeri- zipien des föderativ-korporativen Aus- scher Staatlichkeit ist freilich wieder kommens orientiert, denn an solchen einem spezifischen Geschichtsbild ein- des Konflikts, und es verlief weit mehr gepasst. Dazu nur ein kurzer Hinweis in den Bahnen eines komplementär- auf das berühmte Privilegium minus konsensualen Denkens als denen eines von 1156. konfrontativen. Vielleicht sollte man Dieses Dokument fixiert eine lehens- einfach eine liebe Gewohnheit hinter- rechtliche Vereinbarung, mit der Kaiser fragen, wenn man diese Form der Kom- Friedrich Barbarossa die Abtrennung plementärgeschichte fortschreiben woll- der Ostmark unter dem Babenberger te: Bayern wäre dann nicht weiter pri- Heinrich Jasomirgott vom Herzogtum mär etwas exzeptionell Besonderes und Bayern unter dem Welfen Heinrich dem Einzigartiges und Alleiniges – „ganz Löwen vollzog und dem Babenberger anders als alle anderen deutschen Län- dazu noch erhebliche dynastiesichernde der“ (A. Kraus). Es wäre durchgehend Privilegien zugestand. Es ist dies eine, und in erster Linie Exempel für etwas wenn nicht die Gründungsurkunde Prof. Dr. Hans-Michael Körner, Profes- Allgemeines, organisch-verantwort- österreichischer Staatlichkeit und mar- sor für Didaktik der Geschichte an der licher Teil eines Ganzen und weit grö- kiert zugleich eine, wenn nicht die Ver- LMU München, ist Vorstandsmitglied ßeren Zusammenhangs und damit Fak- luststory bayerischer Geschichte. Auch der Karl Graf Spreti Stiftung und wirkte tor vornehmlich einer Beziehungs- und dafür gibt es ein gängiges Interpreta- an beiden Tagen als Moderator. Verflechtungsgeschichte. tionsmuster, das sich fast ungebrochen

zur debatte 6/2013 27 Foto: akg-images Albrecht IV. von Bayern erließ 1506 das finden ist, stammt aus den 20er Jahren die Albrechts Werk erst ermöglichten, Primogeniturgesetz, das Bayern für die des 19. Jahrhunderts und stilisiert werden in vielen historischen Betrach- Zukunft unteilbar machen sollte. Diese Herzog Albrecht zu der Figur, die Bay- tungen dagegen ausgelassen. historisierende Darstellung, wie sie in ern den Weg in seine jetzige Staatlich- den Hofgarten-Arkaden in München zu keit weist. Historische Zufälligkeiten,

hält von Hermann von Niederaltaich Heinrich dem Löwen, der wieder für die gar nicht in Abrede stellen, dass die onen simpler Erfolgs- wie Verlustge- bis in unsere Zeit. Es betont zwei Welfen 1156 in das bayerische Herzog- Ergebnisse einer solchen staatspoliti- schichten. Das ist nicht so einfach, wie staatliche Negativfaktoren: Die Abtren- tum (ohne Ostmark) eingesetzt wurde, schen Landesgeschichtsschreibung nicht es klingt, denn es bedeutet, sich immer nung sprenge auf Kosten Bayerns die habe zu einem Auseinanderklaffen ge- in vielem nachvollziehbar und in man- auch selbst unter Ideologieverdacht zu einheitliche Stammesgeschichte und führt. Die organische Entwicklung chem überzeugend wären. stellen. Und es heißt konkret, „Ge- lege den Grund für einen „bruder- spräche also eher für Bayern als Teil Aber: Es könnte eben auch etwas schichte“ immer vor allem als Ge- mörderischen“ Dualismus im Süden Österreichs und nicht andersherum. anders gewesen sein. Geschichte ist schichtserzählung aufzufassen und stets (Sigmund Riezler). Und sie unterbinde Kein Zuviel an Beschneidung Bayerns, komplizierter, und ich frage mich, ob es zu kombinieren mit „Begriffs-, Tradi- eine zentrale, quasi natürliche bayeri- sondern ein Zuwenig an Integration wirklich die primäre Aufgabe des Histo- tions- und Modellkritik“ (Peter Moraw). sche Staatsaufgabe, nämlich die Kolo- unter Babenberger, Wiener Hand. – All- rikers ist, Entwicklungslinien eine Logik, Das scheint mir der einzige gangbare nisation und die Ausdehnung der Herr- gemeine Folgerung: Die Kanonisierung Stringenz und Kohärenz zu verleihen, Weg zu sein in ein Terrain jenseits von schaft im Osten. von Geschichtsbildern läuft nicht über die vielleicht staatspolitisch geboten Heimattümelei und bavaristischer Eine Position – und darauf will ich schwere Handbücher, sondern eher sein mögen, die aber doch eine recht Selbstüberschätzung. Denn historische jetzt hinaus – hat sich dagegen nicht über die leichteren. nachträgliche Form der Ordnung und Staatlichkeit in Bayern und andernorts durchgesetzt, und das ist umso bemer- Vereinfachung darstellen. Ich würde ist nicht einfach eine objektive Naturge- kenswerter, weil sie sich eigentlich am Damit bin ich bei einem knappen dagegen halten: Die eigentlich politi- gebenheit, sie ist immer (auch) eine be- kanonischen Ort findet, auf den sich Fazit. Drei exemplarische Themen- und sche Aufgabe des Historikers, auch des wusste „Konstruktion, mit deren Hilfe zumeist alle ehrfurchtsvoll berufen: Die Interpretationsfelder wurden vorgestellt. Landeshistorikers, ist es, die Uneindeu- Menschen der Vergangenheit einen Rede ist von der Interpretation Kurt Gebündelt gibt es für sie alle ein klassi- tigkeiten zu behandeln und dort, wo es historischen Sinn zuschreiben“ wollen Reindels im Handbuch der bayerischen sches Deutungsmuster: die bayerische sein muss, die subversiven Widersprü- (W. Hechberger). „ Geschichte. Auch Reindel betont den Geschichte als kohärente Geschichte che anzumelden. Also die Laus im Pelz Verlust der Ostmark. Aber für ihn lag starker bayerischer Eigen-Staatlichkeit zu sein und nicht den Pelz fortwährend *) Eine ältere und etwas ausführlichere der Fehler darin, dass der seit 1143 mit und diese verstanden als patriotisch- zu striegeln und auf Reihe zu bürsten. Fassung des Vortrags findet sich unter dem Gesamtherzogtum Bayern (incl. staatspolitische Aufgabe! Das haben Thomas Nipperdey und dem Titel „Geschichte und Geschichts- Ostmark) belehnte Heinrich Jasomirgott Man kann das machen. Es gibt plau- Heinz Gollwitzer, die nun wahrlich politik“ in: Blick in die Wissenschaft. sein Werk eines Staatsaufbaus und jetzt sible Gründe und Motive dafür. Ge- keine linken Staats-Umstürzler waren, Forschungsmagazin der Universität nota bene: unter östlich-byzantinischen schichtspolitik ist ein legitimes Mittel gemeint, als sie forderten, Reichtum und Regensburg, 21. Jg., Heft 26, 2012, S. Vorzeichen von der Residenz Wien aus staatlicher Identitätsstiftung, vielleicht Unverfügbarkeit der Vergangenheit zu 28-34; dort auch einige Hinweise zu nicht hat fortsetzen können. Erst die sogar ein notwendiges, jedenfalls eines sichern und gegen die Linearität der einschlägiger Literatur. Nachgiebigkeit des Kaisers gegenüber mit eigener Bedeutung. Ich will auch Deutungen zu schützen, gegen die Opti-

28 zur debatte 6/2013 Beschlüsse in Bayern mit dem Zusatz geeinten Deutschland konfrontiert Von den Befreiungskriegen bis zu den verkündet wurden, man würde sie nur wurde. Dazu kam es dreizehn Jah- anwenden, „sofern sie der Souveränität, re nachdem er sich gegen die uneinge- Schützengräben des Ersten Weltkriegs: der Verfassung und den bestehenden schränkte Anwendung der Karlsbader Gesetzen nicht entgegenstünden.“ Beschlüsse eingesetzt, sieben Jahre Bayern in der deutschen Geschichte des Diese Episode zeigt bereits, dass die nachdem er selbst den Thron bestiegen Maßnahmen zur Sicherung der baye- hatte: Am 26. Mai 1832 sollten an den 19. Jahrhunderts rischen Einzelstaatlichkeit immer in verschiedensten Orten in Bayern Volks- zwei Richtungen zielten, zielen muss- feste stattfinden, mit denen man die ten. Zum einen galt es, Agitationen und Verfassung des Jahres 1818 feiern woll- Katharina Weigand revolutionäre Umtriebe, die auf einen te. Doch nach der französischen Juli- deutschen Nationalstaat hinarbeiteten, revolution von 1830 und einigen, wenn- im Innern zu unterdrücken. Anderer- gleich recht harmlosen, studentischen seits war man in München gewillt, Ver- Ausschreitungen Ende des Jahres 1830 suche der deutschen Großmächte in München, wollte der bayerische Kö- Österreich und Preußen, nach Bayern nig die Zügel seiner Herrschaft stärker hineinzuregieren, unbedingt abzuweh- anziehen, um allen revolutionären Um- I. ren, wobei derartige Versuche in der trieben von vornherein den Wind aus ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor den Segeln zu nehmen. Manifest wurde Im Mittelpunkt steht im folgenden allem von Österreich ausgingen. Die dieser Vorsatz während des Landtags jene Frage, die seit dem Beginn des 19. Forderungen der Nationalbegeisterten von 1831. Aufgeheizt von einer dem Jahrhunderts peu à peu immer mehr bedrohten die bayerische Souveränität, Landtag vom König vorgelegten schar- Deutsche umtrieb, die Frage nämlich, ein solches Hineinregieren der deut- fen Zensurverordnung, belastet von ob Deutschland weiterhin aus einer schen Großmächte bzw. des Deutschen weiteren kontroversen Themen, bei Vielzahl souveräner Einzelstaaten be- Bundes nach Bayern hinein jedoch denen sich der Monarch und die baye- stehen oder ob Deutschland fortan als nicht minder. rischen Abgeordneten nicht einigen geeinter und somit wesentlich mächtige- konnten, endete dieser Landtag mit tie- rer Block in der Mitte Europas auftreten II. fen Verletzungen auf Seiten Ludwigs I. solle. Thema ist also der Konflikt um und einer geradezu antimonarchischen den Nationalstaatsgedanken, vor allem Mit Kronprinz Ludwig, seit 1825 Stimmung in Teilen der bayerischen mit Blick auf die unterschiedlichen Ein- König Ludwig I., begegnet uns eine Öffentlichkeit, vor allem in der Pfalz. schätzungen und Strategien der einzel- Persönlichkeit, die ganz anders als sein Obwohl der Landtag seine Zustimmung nen bayerischen Monarchen, wie man Vater mit der deutschen Problematik zur erwähnten Zensurverordnung denn der Idee eines geeinten Deutsch- umging. War Max I. Joseph ein Mann verweigert hatte, ließ der König in die- land bzw. den konkreten Versuchen, ein des Ancien régime, der besser franzö- sen Jahren die liberale Opposition in vereinigtes Deutsches Reich zu grün- sisch als deutsch sprach, dem zwar die Bayern scharf überwachen, es kam zu den, begegnen solle. Souveränität seines Königreichs am Verhaftungen, missliebige Professoren Bei Thomas Nipperdey, in seiner viel Herzen lag, dem aber Deutschland wurden entlassen, akademische Ver- zitierten dreibändigen „Deutschen Ge- weder im positiven noch im negativen bindungen verboten usw. In dieser schichte“ heißt es zu Beginn: „Am An- Sinne viel bedeutete, so brannte in ohnehin schon aufgeregten Stimmung fang war Napoleon.“ Dieses Diktum Ludwig ein gnadenloser lebenslängli- gelang es dann Philipp Jakob Sieben- lässt sich mit aller Berechtigung auch Dr. Katharina Weigand, Akademische cher Hass gegen Napoleon und über- pfeiffer, Landkommissär zu Homburg, auf Bayern, seine Bewohner und seinen Oberrätin am Lehrstuhl für Didaktik haupt gegen alles Französische. Vor nach der Verhaftung des liberalen Jour- ersten König, Max I. Joseph, anwenden. der Geschichte an der LMU München allem die frühe Erfahrung von Angst nalisten Johann Georg August Wirth, Denn Napoleon schuf, indem er das und Unsicherheit im Kindesalter auf der die in der Pfalz, beim Hambacher Heilige Römische Reich zerstörte, über- Flucht vor den französischen Revoluti- Schloss, für den 26. Mai 1832 geplante haupt erst die machtpolitischen Voraus- onstruppen verhalfen Ludwig zu diesem Verfassungsfeier auf den 27. Mai zu ver- setzungen dafür, dass Bayern einerseits man solche Äußerungen inzwischen Hass. Frankreich prägte sich ihm ein als schieben. Außerdem sollte diese neue, die volle staatliche Souveränität erlan- überaus ernst, bewertete sie als greif- Hort der Unruhe, der Revolution und gen und dass sich andererseits der bis- bare Bedrohung der politischen Ord- des Umsturzes der gesamten gottgewoll- herige Kurfürst Max IV. Joseph zum nung; man fürchtete aber wesentlich ten Ordnung! Frankreich prägte sich ihm König proklamieren konnte. Und selbst stärker die demokratischen als die na- Die Kehrseite dieses Hasses war eine als sich dann 1813 das Blatt wendete, tionalen Tendenzen, die sich hier zeig- glühende Verehrung für Deutschland, ein als Hort der Unruhe, der als sich die deutschen Staaten – mit ten. Wenig ist freilich darüber bekannt, bzw. für das, was er, Ludwig, darunter Revolution und des Um- wenigen Ausnahmen – gemeinsam mit wie man die Ereignisse auf der Wart- verstand. Denn Ludwig schwärmte den anderen europäischen Mächten burg in München einschätzte, das The- zwar für Deutschland, er hätte am liebs- sturzes der gesamten gott- gegen den Korsen erhoben, kam diese ma Wartburgfest taucht etwa in der ten selbst an den Befreiungskriegen ge- gewollten Ordnung! Aktion der Bewahrung der bayerischen Edition der Berichte des preußischen gen Napoleon teilgenommen, und spä- Souveränität entgegen. Denn Bayern Gesandten am bayerischen Hof über- ter errichtete er diesem seinem Deutsch- hatte sich für die Seite der nachmaligen haupt nicht auf. land sogar gewaltige Denkmäler, etwa andere Feier dem „Kampf für Abschüt- Sieger entschieden. Im zuvor mit Öster- Die dringlichsten Warnungen, die die Walhalla bei Regensburg und die telung innerer und äußerer Gewalt, für reich ausgehandelten Vertrag von Ried Signale, die vom Wartburgfest ausgin- Kelheimer Befreiungshalle. Doch das die Erstrebung gesetzlicher Freiheit und vom 8. Oktober 1813 wurde Bayern die gen, ernst zu nehmen, kamen aus Wien, von Ludwig so verehrte Deutschland deutscher Nationalwürde“ gewidmet staatliche Souveränität sowie die terri- von Metternich. Der Mord an dem rus- war kein politisch vereintes Deutsch- sein. Während dieses Festes am Ham- toriale Integrität als Preis für den Bünd- sischen Staatsrat und Dichter August land, kein deutscher Nationalstaat. Die- bacher Schloss, bei dem einige tausend niswechsel garantiert. von Kotzebue, der immer wieder gegen ser bayerische Monarch schwärmte viel- Teilnehmer gezählt wurden, wehte nicht Die zu dieser Zeit vor allem unter die Burschenschaften gehetzt hatte, mehr für Deutschland im Sinne einer nur die schwarz-rot-goldene Fahne der den Studenten und den Freiwilligen der schien Metternichs schlimmste Befürch- Kulturnation, vielleicht noch für ein Burschenschaften, von verschiedenen Befreiungskriege zu beobachtende na- tungen im März 1819 zu bestätigen, vor Deutschland im Sinne einer Schicksals- Rednern wurde außerdem ganz explizit tionale Begeisterung für Deutschland allem deswegen, weil der Mörder, der gemeinschaft, für ein Deutschland, das der republikanische deutsche Einheits- gefährdete gleichwohl die Existenz der Theologiestudent Karl Ludwig Sand, am im Angesicht der Gefahr zusammenhal- staat gefordert! Doch nicht nur in der Einzelstaaten noch nicht. Die Grün- Wartburgfest teilgenommen hatte und ten, das aber dauerhaft aus souveränen ohnehin als revolutionsanfällig gelten- dung der ersten Burschenschaft in Jena dem radikalen Flügel der Burschen- Einzelstaaten bestehen sollte. Die poli- den Pfalz, sondern auch in Franken, in 1815 – fast gleichzeitig trat mit der Wie- schaften angehörte. Die Antwort Met- tische Organisationsform des von ihm Gaibach, kam es zu einer derartig um- ner Bundesakte der Deutsche Bund ins ternichs und der deutschen Staaten so geliebten und verehrten Deutsch- funktionierten Feier, zu einer Veranstal- Leben – dürfte den österreichischen, waren die Karlsbader Beschlüsse vom land, die Ludwig I. dauerhaft erhalten tung der oppositionellen Kräfte. Met- preußischen, württembergischen und 20. September 1819, die die strenge wissen wollte, war der Deutsche Bund ternich sah daraufhin seine ständigen eben auch bayerischen Politikern und Überwachung der Universitäten und von 1815, dem der König im südlichen Warnungen vor einer drohenden Revo- ihren Herrschern noch nicht als ein eine verschärfte Pressezensur nach sich Giebelfeld der Walhalla gar ein eigenes lution bestätigt, Ludwig I. wiederum bedrohliches Ereignis erschienen sein, zogen. Auf diese Weise sollte den revo- kleines Denkmal setzte. Denn der war offensichtlich derart geschockt, selbst wenn die Studenten in Jena u. a. lutionären Umtrieben, die auf liberale Deutsche Bund sicherte die schwäche- dass er allen zuvor praktizierten Wider- bereits die nationale Einigung Deutsch- und nationale Veränderungen in Deut- ren deutschen Staaten gegen militäri- stand gegen von Wien diktierte Unter- lands als Ziel auf ihre Fahnen geschrie- schland zielten, der Boden entzogen, sche Angriffe von Außen sowie gegen drückungsmaßnahmen aufgab. ben hatten. konkret sollten die Burschenschaften revolutionäre Aufstände im Innern ab, Der bayerische König hatte freilich Für mehr Aufmerksamkeit sorgte zumindest domestiziert werden. garantierte aber gleichzeitig die Souve- schon als Kronprinz erkannt, dass es dann, nur zwei Jahre später, das Wart- Während sich der bayerische Außen- ränität der Mitgliedsstaaten, konkret galt, nicht nur Unterdrückungsmaßnah- burgfest, als man einerseits an die Re- minister Rechberg hinter die Karlsbader der regierenden Dynastien, was ihm – men zu praktizieren, sondern dass man formation, andererseits aber an die Be- Beschlüsse stellte und Max I. Joseph Ludwig – ein nicht weniger hohes die Integration der neu- und altbayeri- freiungskriege gegen Napoleon erinner- sogar bereit war, Metternich auch dann Gut war. schen Teile des Königreichs vorantrei- te. Bei dieser Zusammenkunft von etwa entgegenzukommen, wenn jener Ein- Wenn also das Deutschland des Deut- ben musste, um von innen heraus die 500 Burschenschaftlern, das waren da- griffe in die bayerische Verfassung von schen Bundes der für Ludwig bereits staatliche Souveränität zu festigen. mals ca. fünf Prozent der deutschen 1818 fordern würde, war es vor allem erreichte Idealzustand war, dann muss- Eines der Mittel, derer er sich dabei Studenten, wurde nun explizit die Ein- dem Einsatz des Kronprinzen Ludwig te er umso verstörter reagieren, wenn er bediente, war die Veränderung des heit und Freiheit Deutschlands be- sowie des Finanzministers Lerchenfeld mit anderslautenden Artikulationen, mit bayerischen Wappens, ein anderes das schworen. In Berlin und Wien nahm zu verdanken, dass die Karlsbader Forderungen nach einem politisch der Gründung der Historischen Vereine.

zur debatte 6/2013 29 Niederbayern wie die Mittelfranken, die Pfälzer und die Oberpfälzer in ihrer regionalen historischen Erinnerungs- kultur wohl aufgehoben fühlen sollten im bayerischen Gesamtstaat. Außerdem sollten sie auf diese Weise – und das ist vielleicht der allerwichtigste Punkt – gleichsam immunisiert werden gegen die Idee eines deutschen Nationalstaa- tes.

III.

Die Revolution von 1848 dürfte Lud- wig I. gleichwohl ein weiteres Mal schmerzhaft damit konfrontiert haben, dass immer größere Bevölkerungskreise einen deutschen Einheitsstaat als ihren Traum, als ihr politisches Ziel ansahen. Da sich der König jedoch, als die Krise in München ihren Höhepunkt erreichte, entschloss, auf den Thron zu verzichten, fiel seit Mitte März 1848 seinem ältes- ten Sohn, Max, die Aufgabe zu, mit den Forderungen nach einem deutschen Nationalstaat fertig zu werden. Den diesbezüglichen Beschlüssen der Frank- furter Nationalversammlung musste der neue bayerische König freilich nicht mehr selbst aktiv entgegentreten, einer- seits, weil es der preußische König, Friedrich Wilhelm IV., kategorisch ab- gelehnt hatte, eine deutsche Kaiserkro- ne aus den Händen von Parlamentari- ern entgegenzunehmen, andererseits, weil das Paulskirchenparlament – nach dem Abzug bzw. der Abberufung vor allem der österreichischen und preußi- schen Abgeordneten im Mai 1849 – rasch an sein Ende kam. Dass der Wunsch, die deutschen Ein- zelstaaten in einem geeinten starken Deutschland aufgehen zu lassen, mit dem Ende und trotz des Scheiterns der Frankfurter Nationalversammlung nicht aus der Welt war, darüber war sich Max II. freilich im Klaren. Doch wel- che Strategien entwickelte er, um die Souveränität des Königreichs Bayern zu retten? Max II. setzte vor allem darauf, bei seinen bayerischen Untertanen ein genuin bayerisches Nationalgefühl zu fördern bzw. überhaupt erst ins Leben zu rufen, ein bayerisches Nationalge- fühl, das stärker und wirksamer sein sollte als jegliches deutsches National- gefühl. Für die während der Revolution von 1848 in Teilen Neubayerns laut

Ludwig I. setzte auf die Dankbarkeit der Neubay- ern, die gerne Bayern sein und bleiben würden, wenn man sie nicht zwang, ihre vorbayerische Vergangenheit zu vergessen.

Foto: akg-images „Am Anfang war Napoleon“. Er er- Fahrwasser konnte sich Maximilian I. gewordenen anti-bayerischen Bekun- möglichte die Gründung des modernen Joseph (hier im Krönungsornat) zum dungen machte Max II. nun gerade die bayerischen Staates und in seinem König proklamieren. Aktivitäten jener Historischen Vereine mit verantwortlich, die sein Vater ge- gründet hatte, um die Integration der alt- und neubayerischen Teile voranzu- treiben. Nach der Einschätzung Max’ II. förderten sie jedoch nicht eine gesamt- Versuchen, den neubayerischen tiefen. Ludwig I. setzte also auf die Franken, und der Löwe als Sinnbild der bayerische Identität, nicht ein gesamt- Untertanen eine bayerische Identität Dankbarkeit der Neubayern, die gerne Pfalz vertreten waren. bayerisches Nationalbewusstsein, wie gleichsam überzustülpen – Max Joseph Bayern sein und bleiben würden, wenn Ganz besonders aber förderte Lud- das in der Logik des ludovizianischen hatte, als er etwa das ehemalige Hoch- man sie nicht zwang, ihre vorbayerische wig I. eine Institution, die wie geschaf- Optimismus gelegen war, sondern sie stift Würzburg in Besitz nahm, zuerst Vergangenheit zu vergessen; wenn man fen dafür schien, das Wissen der neu- stärkten angeblich viel mehr eine Iden- einmal alle alten hochstiftischen Wap- es ihnen ermöglichte, mit Stolz auf die bayerischen wie der altbayerischen Ge- tität, die sich weiterhin an den alten pen abschlagen lassen –, stand Ludwig vorbayerische Zeit zurückzublicken. biete über ihre jeweilige ganz spezifi- vorbayerischen Herrschaftsstrukturen I. kritisch gegenüber. Er glaubte fest Daher ließ Ludwig I. – wie bereits er- sche Vergangenheit wach zu halten und orientierte. Die Bewahrung der Sou- daran, dass die Integration der Neubay- wähnt – das bayerische Wappen ver- zu erweitern: Dies waren die Histori- veränität seines Königreichs glaubte ern in den bayerischen Staat, ins König- ändern. Am 18. Oktober 1835 ordnete schen Kreisvereine, die von ihm selbst Max II. aber nur mit Hilfe eines gesamt- reich, viel besser gelingen könne, wenn er an, ab jetzt ein neues Wappen zu in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhun- bayerischen Nationalbewusstseins und man diesen Neubayern gleichsam ihre verwenden, das nicht mehr allein von derts ins Leben gerufen wurden. Zweck auf der Grundlage von Treue und eigene Vergangenheit belassen, ja ihnen den weiß-blauen Rauten dominiert wur- dieser Gründungen war, dass sich die Anhänglichkeit an die regierende wit- sogar helfen würde, die Kenntnisse über de, sondern in dem u. a. auch der soge- Oberbayern wie die Unterfranken, die telsbachische Dynastie in allen Teilen ihre vorbayerische Zeit noch zu ver- nannte fränkische Rechen, eben für Schwaben wie die Oberfranken, die Bayerns sichern zu können. Auf welche

30 zur debatte 6/2013 Foto: akg-images Ludwig III. betonte verbal bayerische Ersten Weltkriegs durch seine Reichs- Eigenständigkeit – in der Realität war treue offensichtlich wurde. Dieses Foto seine Politik stark auf Berlin ausge- zeigt ihn 1917 bei einem Truppenbesuch richtet, was vor allem in den Jahren des in Rumänien.

Weise er dies zu erreichen suchte, soll die traditionelle Kleidung fest in den nicht nur dokumentieren, sie sollten bei IV. anhand von zwei Beispielen knapp Köpfen der bayerischen Untertanen zu den nachmaligen Museumsbesuchern erläutert werden. verankern. Dazu gehörten die Anbrin- vor allem den Stolz auf die bayerische Die Ereignisse von 1848/49 hatten Hierzu gehört u. a. die vom neuen gung von Abbildungen der Landestracht Vergangenheit hervorrufen. Max II. nicht nur die nationalpolitische bayerischen König ins Leben gerufene an den Gemeinde- und Rathäusern, der Sogar die Bezeichnung „Bayerisches Gefährdung Bayerns, sondern gleicher- Trachtenförderung. Im Jahr 1842, an- Appell an Geistliche und Lehrer, die National-Museum“, anstelle des zuerst maßen die machtpolitischen und mili- lässlich der Vermählung des damaligen Jugend zum Tragen der Tracht zu be- vorgeschlagenen Namens „Wittelsba- tärischen Defizite seines Königreichs Kronprinzen Max mit der preußischen wegen, die Abgabe von Trachtenstoffen cher-Museum“, stammt aus der Feder drastisch und schmerzhaft vor Augen Prinzessin Marie, hatten 35 Paare aus an die ärmere Bevölkerung usw. Da Max’ II. Der schließlich 1867, also drei geführt. Den revolutionären Aufständen dem Königreich die Möglichkeit er- Max II. aber überzeugt war, dass vor Jahre nach seinem Tod in der Maximili- in der Pfalz hatte die bayerische Regie- halten, sich gleichfalls in München allem das Beispiel der höheren Ge- anstraße in München eröffnete Bau rung nur mit Hilfe preußischer Truppen trauen zu lassen – auf Staatskosten. Auf sellschaftsschichten Einfluss auf das – das heutige Völkerkundemuseum – Herr werden können. Und dennoch: diese Weise hoffte man, die Verbunden- Verhalten seiner Untertanen ausüben trug, gemäß den Zielsetzungen des Bayern war – nach Österreich und heit des Thronfolgers mit seinen nach- würde, ließ er sich selbst immer wieder Königs, die er mit der Errichtung eines Preußen – der drittgrößte Staat des maligen Untertanen besonders deutlich in Tracht abbilden. Der Umstand, dass bayerischen Nationalmuseums verbun- Deutschen Bundes, und an diese Tat- machen zu können. Allerdings mussten er dabei eine Art von oberbayerischer den hatte, an der Eingangsfront die sache knüpfte der neue König gewisse die ausgewählten Paare einer Bedin- Gewandung bevorzugte, dürfte nicht Aufschrift „Meinem Volk zu Ehr und Ansprüche und Hoffnungen hinsicht- gung genügen: Sie selbst und ihr ganzer unerheblich dazu beigetragen haben, Vorbild“. Denn die im Museum ver- lich der außenpolitischen Rolle, die er Hochzeitszug durften nur in der je- dass bis heute eine Mixtur aus Dirndl, sammelten Stücke – Zimelien der baye- Bayern zuordnete. Während die Inte- weiligen ortsüblichen Tracht erscheinen, Lederhose, Janker u. ä. vielfach – aber rischen Geschichte – sollten ja gerade ressen und gleichermaßen die Stärken was grundsätzlich noch als Ausdruck eben fälschlicher Weise – als eine Art als „Vorbild“ für das Volk dienen, als seines Vaters besonders auf innenpoli- des ludovizianischen Regionalismus von traditioneller gesamtbayerischer Vorbilder, die beim Besucher keinen tische Fragen ausgerichtet gewesen wa- verstanden werden kann. Seit diesem Nationalkleidung angesehen wird. Zweifel mehr daran ließen, dass es ren, wollte Max II. ganz gezielt außen- Tag und vor allem seit seinem Regie- Die Gründung des Bayerischen Na- mehr als gerechtfertigt war, stolz zu sein politisch aktiv werden. Da der Dualis- rungsantritt widmete Max II. den baye- tionalmuseums ist ein weiteres Beispiel auf Bayern und seine Geschichte. Das mus zwischen Österreich und Preußen rischen Trachten seine besondere Für- für die von Max II. betriebene Identi- für den König daraus geradezu zwangs- seit 1848 immer schärfer geworden war, sorge, er praktizierte nun aber eine tätspolitik zur Rettung der bayerischen läufig erwachsende und optimistisch da aber der König davon überzeugt typische Wendung hin zur Förderung Eigenstaatlichkeit. Dessen Gründungs- herbeigesehnte genuin bayerische Na- blieb, dass Bayern nur im und mit dem eines gesamtstaatlichen Nationalge- geschichte ist hier nicht im Detail zu tionalbewusstsein und die daraus er- Deutschen Bund seine Souveränität fühls. In den folgenden Jahren wurden erzählen, gleichwohl ist auf deren Mo- wachsende national-bayerische Iden- würde bewahren können, versuchten die bayerischen Behörden und Ministe- tivzusammenhänge einzugehen. Max II. tität sollten wiederum dazu beitragen, er und sein Außenminister von der rien dann vom König immer wieder und schwebte kein Museum für die Kunst, die der bayerischen Eigenstaatlichkeit Pfordten, den Deutschen Bund mit dem gegen deren z. T. zähen Widerstand dar- sondern ein Geschichtsmuseum vor. gefährlich werdenden Tendenzen der Mittel der Triaspolitik zu retten. Da- auf verpflichtet, alle denkbaren Maß- Die dort auszustellenden Gegenstände Zeit erfolgreich abzuwehren. nach war es die Aufgabe Bayerns, an nahmen zu ergreifen, um den Stolz auf sollten die Geschichte Bayerns freilich die Spitze der deutschen Mittel- und

zur debatte 6/2013 31 Bühnendramen begeistert war, deren Abgesehen davon, dass Prinz Ludwig Aufführungen der König dann am nach dieser Replik vor Wilhelm II. er- liebsten in Separatvorstellungen, ohne scheinen musste, um sich zu entschuldi- weiteres Publikum, genoss. Und die gen und Abbitte zu leisten, hat dieser heute so berühmten Schlossbauten Wittelsbacher diverse in ihn gesetzte Linderhof, Neuschwanstein und Her- Hoffnungen dann doch nicht erfüllt. So renchiemsee ließ der König zur Lin- war er, dem man in Bayern den Spitz- derung seiner rein persönlichen Seelen- namen „Millibauer“ verliehen hatte, qualen errichten. Man sollte sich in offensichtlich zu volksnah, als dass er diesem Zusammenhang immer wieder auch nur einen Schimmer monarchi- vor Augen führen, dass diese Schlösser schen Glanzes hätte verbreitet können. – hätte man sich an Ludwigs Befehle Übel nahmen ihm breite Bevölkerungs- gehalten – nach seinem Tod zerstört kreise, dass er sofort nach der Übernah- worden wären. me der Regentschaft im Dezember 1912 versuchte, sich selbst zum König zu V. proklamieren, obwohl der rechtmäßige, wenngleich kranke und regierungsunfä- Nach Ludwigs Tod 1886 bemühte hige Monarch, König Otto, noch lebte. sich Prinzregent Luitpold zwar nach Ludwig ließ in dieser Angelegenheit Kräften und sicherlich auch erfolgreich, gleichwohl nicht locker, bis er sich ein dem bayerischen Volk zu zeigen, dass Jahr später tatsächlich Ludwig III. nen- es eine monarchische Staatsspitze in nen konnte – König Otto starb freilich Bayern zumindest noch gab. Aber dem erst 1916. Hineinwachsen Bayerns ins Kaiserreich Und als 1914 der Erste Weltkrieg aus- Professor Hans-Michael Körner mit den konnte er kaum etwas entgegensetzen. brach, da zeigte sich Ludwig III. von Referentinnen Katharina Weigand (Mi.) Dennoch sahen viele Bayern in ihm den nun an erstaunlich reichstreu. Er glaub- und Edeltraud Böhm-Amtmann. energischen Verteidiger der bayerischen te – was seinen Sohn Rupprecht regel- Sonderstellung im Verfassungsgefüge recht befremdete – bis fast zum bitteren des Reiches. Schaut man jedoch ge- Ende des Krieges an einen deutschen nauer hin, so wird klar, dass der Prinz- Sieg, vielleicht auch deshalb, weil er regent die fortschreitende Integration von einer Angliederung Elsass-Loth- Bayerns ins Kaiserreich durchaus tole- ringens an Bayern träumte. Ludwigs rierte, vielleicht sogar akzeptierte, und bayerische Untertanen fühlten sich Kleinstaaten zu treten, um – mit diesen stehen, sollte es angegriffen werden. Die nur gewissen Zentralisierungstendenzen dagegen von ihrem König allein gelas- gleichsam im Schlepptau – einen dritten französische Kriegserklärung des Jahres im militärischen Bereich verschiedent- sen angesichts der vielen Einberufungen ernstzunehmenden Machtfaktor in 1870 führte schließlich genau jene lich Widerstand entgegensetzte. Als es an die Front, angesichts der Requirie- Deutschland zu bilden. Dieses Dritte Situation herbei: eine Situation, in der 1896 etwa um die Vereinheitlichung der rung der in der Landwirtschaft eigent- Deutschland sollte Österreich und Preu- sich selbst in Bayern immer größere Militärgerichtsbarkeit ging, die von der lich so dringend benötigten Pferde, an- ßen soweit Paroli bieten können, dass Teile der Bevölkerung als von Frank- bayerischen Regierung und auch von gesichts der steigenden Lebensmittel- diese von ihrem Machtkampf, der den reich zu Unrecht angegriffene Deutsche Luitpold persönlich aus verschiedenen Ablieferungsquoten, aber ebenso an- Deutschen Bund zu sprengen und zu fühlten, eine Situation, in der bayeri- Gründen abgelehnt wurde, musste Bay- gesichts von preußischen Urlaubern, vernichten drohte, Abstand nehmen sche Soldaten nicht nur an der Seite ern gleichwohl eine Niederlage hin- die selbst während des Krieges Zeit und würden. ihrer preußischen Kameraden ins Feld nehmen. Luitpold war also, wenn über- Muße hatten, ins bayerische Oberland Max II. lebte freilich nicht lange ge- zogen, sondern auch noch siegten, eine haupt, zumindest kein allzu erfolgrei- zu fahren. Zuletzt unterstellte man Lud- nug, um das gänzliche Scheitern dieser Situation, in der der Siegestaumel zu- cher Kämpfer für Bayerns Sonderstel- wig III. sogar, wenn auch fälschlicher- Pläne noch miterleben zu müssen. letzt in eine akute Reichseuphorie um- lung im Reich. weise, auf seinem Mustergut Leutstetten Frühzeitig hatten die anderen Mittel- schlug. Nach Luitpolds Tod im Jahre 1912 produzierte Waren, etwa Milch und und Kleinstaaten zwar schon kundge- Die von Max II. nach innen wie nach folgte ihm sein ältester Sohn, Ludwig, Butter, nicht der hungernden Münchner tan, dass sie sich nicht ohne weiteres außen angewandten Strategien zur Ret- in der Position des Reichsverwesers für Bevölkerung zur Verfügung zu stellen, einer bayerischen Führung unterwerfen tung der bayerischen Souveränität wa- den kranken König Otto, den Bruder sondern gegen hartes Geld nach Nord- würden. Dann aber zeigte der deutsch- ren zumindest engagiert, wenngleich Ludwigs II., nach. Dem neuen Regenten deutschland zu verkaufen. Niemand dänische Krieg von 1863/64, dass Wien wenig erfolgreich gewesen. Seinem traute dem König da noch zu, sich für und Berlin – trotz aller sonstigen Aus- Sohn, Ludwig II., muss man freilich ab- Bayern und seine Belange in Berlin einandersetzungen – zu einer gewissen sprechen, überhaupt Strategien zur Ret- Und als 1914 der Erste einzusetzen. Eisner und die Revolutio- Zusammenarbeit bereit waren, wenn es tung der bayerischen Eigenstaatlichkeit näre des Jahres 1918 dürften auch von machtpolitisch angebracht schien. Auf entwickelt zu haben. Sowohl 1866 als Weltkrieg ausbrach, da dieser Stimmungslage erheblich profi- die Wünsche und Vorstellungen der auch 1870 überließ er die Außenpolitik zeigte sich Ludwig III. von tiert haben. anderen deutschen Staaten nahm man gänzlich seinen Ministern, denen man Dass man in ganz Bayern freilich be- dabei keine Rücksicht. Und als es Bis- – ohne sie zu schmähen – z. T. durchaus nun an erstaunlich reichs- reits kurze Zeit später, angesichts des marck schließlich 1866 gelang, einen nationalliberale Sympathien zuordnen treu. Zentralismus der Weimarer Republik, Krieg zwischen Österreich und Preußen darf und deren Position in den jeweili- mit Wehmut an die Jahre zurückdachte, gen Friedensverhandlungen, ohne eine als Bayern zum Kaiserreich gehört kräftige Rückendeckung ihres Monar- traute man in Bayern anfänglich durch- hatte, das mutet – wieder einmal – wie Die Folgen des Krieges von chen, zwangsläufig schwach sein musste. aus zu, den zentralistischen Ambitionen eine böse Ironie der Geschichte an. Das Ergebnis war, dass Bayern 1871 eines Wilhelm II. entgegentreten zu Und obwohl zuvor Bayerns Stellung in 1866 waren dramatisch: Der zu einem Teil des Deutschen Reiches können. Nicht umsonst urteilte der Deutschland während des 20. Jahrhun- Deutsche Bund wurde wurde und dass seitdem für immer wei- preußische Gesandte in München, dass derts thematisiert werden müsste, soll tere Kreise der bayerischen Untertanen in Prinz Ludwig „der ganze Stolz und abschließend gefragt werden: Ist all das, liquidiert; Österreich schied der deutsche Kaiser über Ludwig II. Trotz des Hauses Wittelsbach“ lebe. was wir heute, zu Beginn des 21. Jahr- aus Deutschland aus. positioniert war. Tatsächlich waren seit Und noch eine andere Episode mag hunderts, als – vorsichtig formuliert – 1871 dem bayerischen König so gut wie verdeutlichen, mit welchem Widerwil- bayerische Eigenarten, Eigentümlich- alle außenpolitischen Befugnisse, gemäß len dieser wittelsbachische Prinz, der keiten, Besonderheiten wahrnehmen, zu provozieren, war einer bayerischen der Reichsverfassung, aus der Hand ge- zudem seit 1866 eine preußische Kugel wirklich noch Ausdruck eines auch Triaspolitik ohnehin jeder Boden ent- nommen; gleichzeitig muss man aber im Oberschenkel stecken hatte, nach politisch unterfütterten Willens zu einer, zogen. Die Folgen des Krieges von 1866 konstatieren, dass er nichts, aber auch Berlin geblickt haben mag. 1896 reiste wie auch immer dimensionierten, baye- waren dramatisch: Der Deutsche Bund gar nichts unternommen hat, um den Ludwig nach Moskau anlässlich der rischen Eigenstaatlichkeit – das fol- wurde liquidiert; Österreich schied inneren Zusammenhalt des Königreichs Krönungsfeierlichkeiten des Zaren gende Paradoxon ist freilich nicht zu aus Deutschland aus. Das verbliebene zu stärken, dass er nichts, aber auch gar Nikolaus II. Bei einem dort von Deut- vermeiden – innerhalb des Verfassungs- Deutschland bestand nun – für wenige nichts unternommen hat, um die Loya- schen organisierten Festabend musste gefüges der Bundesrepublik Deutsch- Jahre – aus dem von Preußen dominier- lität gerade der protestantischen Neu- sich Ludwig anhören, dass der Gastge- land? Oder sind wir inzwischen längst, ten Norddeutschen Bund und vier bayern gegenüber dem bayerischen Kö- ber seine Begrüßungsworte an den weil es die Entwicklung Europas, die regelrecht übriggebliebenen souveränen nigshaus – statt gegenüber dem preu- gleichfalls anwesenden Prinzen Hein- Entwicklung der Welt insgesamt gar deutschen Staaten, nämlich aus Hessen, ßisch-deutschen Kaiser – zu fördern. rich von Preußen, der in Vertretung des nicht mehr anders zulässt, nur noch mit Baden, Württemberg und Bayern. Die An dieser Stelle könnte nun ein Ein- deutschen Kaisers nach Russland ge- einem staatspolitisch verbrämten baye- staatliche Souveränität dieser Staaten wand lauten, dass Ludwig II. viel für die kommen war, und an „die in dessen rischen Folklorismus konfrontiert? „ war indes mehr als gefährdet. Daran Kultur getan habe, dass man bis heute Gefolgschaft hier erschienenen deut- änderten auch die geheimen Schutz- seine prächtigen Schlossbauten und schen Fürstlichkeiten“ richtete. Die und Trutzbündnisse, die Bismarck 1867 selbst die Musik Richard Wagners mit Reaktion des bayerischen Prinzen war mit diesen vier süddeutschen Staaten Bayern verbinde, dass dies alles wieder- unwirsch und barsch, indem er alle abschloss, nichts. Ja, man muss es wahr- um zur Bedeutung Bayerns bis heute Anwesenden darauf hinwies, dass die scheinlich sogar umgekehrt sehen: Diese erheblich beitrage. Doch solchen Argu- besagten „deutsche[n] Fürstlichkeiten“ Bündnisse sicherten nicht nur die süd- menten ist entgegenzuhalten, dass der nicht als „Vasallen, sondern als Verbün- deutschen Staaten ab, besagte Bündnis- König den Komponisten Richard Wag- dete des deutschen Kaisers“, gemäß der se zwangen wiederum die süddeutschen ner nur deshalb förderte, weil er, Lud- Verfassung des Deutschen Reiches, an- Staaten, Preußen militärisch beizu- wig II., ganz persönlich von Wagners zusehen seien.

32 zur debatte 6/2013 mit Fragen der innerbayerischen Politik galt seitdem als Anwärter auf die Kaiser- Das Haus Wittelsbach als europäische zu tun hatte: 1204 vermählte sich Her- krone und war damit endgültig in die zog Ludwig I. mit Ludmilla von Böh- Reihe der großen europäischen Dynas- Dynastie men. Sie war die Witwe des im nörd- tien aufgestiegen. lichen Niederbayern mächtigen Grafen Gerhard Immler Albert von Bogen und es ging dabei um Internationale Heiratsverbindungen territorialpolitische Ziele. Tatsächlich und ein skandinavischer „Erzkönig“ wurden schon in der nächsten Genera- tion die Wittelsbacher die Erben der Ein eindeutiger Beleg dafür sind die Bogener, wodurch unter anderem deren Heiraten der Söhne und Töchter des Wappenbild, die weiß-blauen Rauten, Kaisers. Sechs von ihnen waren mit an den Herzog fielen. Erst die vierte Ehegatten außerhalb des deutschen Als nach dem Sturz Heinrichs des Generation griff über den Rahmen des Sprachraums verheiratet, aus Däne- Löwen, des mächtigen Herzogs von Reiches hinaus, als Herzog Heinrich mark, Sizilien, Polen, Verona, aus dem Sachsen und Bayern, Kaiser Friedrich XIII. die ungarische Prinzessin Elisa- Hause Lancaster und aus Böhmen. In Barbarossa am 16. September 1180 zu beth heimführte. Vorausgegangen war der Enkelgeneration kam es zu Ehen Altenburg in Thüringen den Grafen die erste der vielen Erbteilungen, die es mit den Königshäusern von Schweden, Otto von Wittelsbach mit dem Herzog- im Hause Wittelsbach im Spätmittelal- Zypern und Böhmen sowie mit den tum Bayern belehnte, war dies, wie sich ter gab. Heinrich herrschte seit 1255 Herzögen von Mailand und von Bur- aus der Rückschau sagen lässt, einer der über Niederbayern, während sein älte- gund, und das, obwohl in dieser Gene- denkwürdigsten Tage der Geschichte rer Bruder Ludwig II. Oberbayern und ration das Land Bayern weiter geteilt Bayerns. Dementsprechend war es die 1213 den Wittelsbachern zugefal- wurde, so dass es schließlich vier regie- durchaus angemessen, dieses Ereignis lene Pfalz übernahm. Dies führte zu rende Linien gab, in München, Lands- 1980 als Anlass zu nehmen für eine unterschiedlichen Schwerpunksetzun- hut, Straubing und Ingolstadt. Die dreiteilige große Landesausstellung zum gen: Während Ludwig sich intensiv in letztere, so unbedeutend ihr Ländchen Thema „Wittelsbach und Bayern“. Die- der Reichspolitik engagierte, wandte auch war, spielte sogar besonders aktiv ser Tag im Spätsommer des Jahres 1180 Heinrich seinen Blick nach Südosten. in der großen Politik mit. Die aus der führte zu einer Verbindung von Land Die ungarische Heirat sollte schon in Geschichte der heiligen Johanna von und Dynastie, die über 738 Jahre im der nächsten Generation ungeahnte Orléans bekannte französische Königin Staatsrecht Bayerns gültig blieb und Konsequenzen haben: Nach dem Aus- Isabeau war eine Tochter Herzog selbst nach der Revolution von 1918 sterben der Arpaden beanspruchte auch Stephans III. von Bayern-Ingolstadt, doch im kulturellen Gedächtnis der Herzog Otto III. von Niederbayern die während ihr Bruder Ludwig VII. Bayern wie im Selbstverständnis der Krone des heiligen Stephan für sich. zweimal Damen des französischen Angehörigen des Hauses Wittelsbach 1305 wurde er in Stuhlweißenburg Hochadels heiratete und in den wirren präsent blieb wie nirgends sonst in (Székesfehérvár) gekrönt, aber behaup- inneren Verhältnissen dieses Landes Deutschland. Anderswo in Europa wur- ten konnte er die Herrschaft nicht. kräftig mitmischte. den Dynastien in Länder verpflanzt, mit Dr. Gerhard Immler, Leiter des Gehei- Der Weg nach Italien war den Wit- denen sie ursprünglich nichts zu tun men Hausarchivs München und stv. Ludwig der Bayer und der Aufstieg zu telsbachern zwar seit dem Verlust Tirols hatten, etwa zuerst die Habsburger und Direktor des Bayerischen Hauptstaats- einer der ersten Dynastien Europas an die Habsburger im Jahre 1363 dann die Bourbonen nach Spanien oder archivs machtpolitisch verschlossen, aber auch die hannoveranischen Welfen nach Hatte der Ausflug der niederbayeri- hier sorgten dynastische Verbindungen Großbritannien. Im späten 19. Jahrhun- schen Wittelsbacher in die große euro- für einen gewissen Ersatz. Dreimal kam dert wurden Angehörige deutscher päische Politik schließlich mit einem es im 14. Jahrhundert zu Eheschließun- kleinstaatlicher Häuser Fürsten und Für den Zusammenhalt des bayeri- großen Misserfolg geendet, so begann gen zwischen den Wittelsbachern und Könige in den neu unabhängig gewor- schen Stammes war es ein Glücksfall, nur wenige Jahre später eine Entwick- den Visconti von Mailand. In der pfäl- denen Balkanstaaten und begründeten dass die Welfen, deren Schwerpunkt im lung, die das Haus Wittelsbach endgül- zischen Linie, die 1329 durch den dort meist kurzlebige Dynastien. Dem- heutigen Niedersachen lag und für die tig in den Kreis der großen europäi- Hausvertrag von Pavia von den Neffen gegenüber bewiesen die Wittelsbacher Bayern nur eine Art Nebenland ge- schen Dynastien einführen sollte. Im Ludwigs des Bayern begründet worden eine erstaunliche Bodenständigkeit. Das wesen war, als Herzöge abgelöst wur- Jahr 1314 kam es zu einer Doppelwahl war, zeigt sich bei Eheschließungen ist als Grundvoraussetzung festzuhal- den, und dass gerade die Wittelsbacher um die deutsche Königswürde. Wegen außerhalb des Reiches eine Tendenz zur ten, wenn im Folgenden vom Hause die Nachfolge antraten, nicht etwa die Minderjährigkeit des eigenen Ober- Orientierung entlang der Linie Rhone Bayern als europäischer Dynastie die Andechser, deren Besitztümer eine Art haupts wählten die Anhänger des Hau- – Rhein – Themse. Immer wieder be- Rede sein soll. dynastisches Konglomerat ohne Zen- ses Luxemburg Herzog Ludwig IV. von gegnen Ehepartnerinnen aus dem Hau- trum waren. Die Zeit der staufischen Oberbayern. Er hatte sich durch seinen se Savoyen und aus dem englischen Die Wittelsbacher und ihre Kaiser war ja die eines bedeutenden Sieg über die mit den Luxemburgern Königshaus, außerdem aus Lothringen Konkurrenten in Bayern 1180 und Umbruchs in der deutschen Geschichte: rivalisierenden Habsburger in der und aus den Herzogtümern im nieder- der Aufstieg zur Herzogsdynastie Die alten Stammesherzogtümer, ge- Schlacht bei Gammelsdorf im Vorjahr ländisch-wallonischen Raum. Letztlich meinsam getragen von Herzog und empfohlen; der Gegenkandidat war waren so beide Linien der Wittelsba- Dass anstelle der 1180 im Macht- Adel, einst mächtige Konkurrenten der Friedrich der Schöne von Österreich. cher offen für kulturelle Einflüsse aus kampf mit Friedrich Barbarossa unter- königlichen Zentralgewalt, lösten sich Den folgenden Kampf entschied Ludwig Süd- und Westeuropa, wobei – von der legenen Welfen gerade die Wittels- auf in Territorialfürstentümer, deren 1322 in der Schlacht von Ampfing für Geographie her naheliegend – in Bay- bacher zu bayerischen Herzögen wur- Landesherren sich aber den Adel inner- sich. Er fand daraufhin im Deutschen ern vor allem Italien, in der Pfalz West- den, war keineswegs selbstverständlich. halb der neuen engeren Grenzen viel Reich allgemeine Anerkennung, ver- europa besonders im Focus standen. Betrachtet man die damalige Machtver- stärker unterordnen konnten als vorher wickelte sich aber in einen erbitterten Es ist natürlich etwas gewagt, hier teilung in Bayern, so hätte es zumindest die Stammesherzöge. Wäre 1180 ein Streit mit dem in Avignon residierenden Zusammenhänge herzustellen, aber es zwei Häuser gegeben, die ebenso gut anderer der Großen des Landes Herzog Papst. Das lag einerseits an dessen An- war wohl doch nicht ganz zufällig, Anspruch auf die Herzogswürde hätten geworden, hätte wohl auch Bayern sich spruch, den Thronstreit zu entscheiden, dass in der Zeit der Reformation beide erheben können: Da waren im Osten in mehrere Fürstentümer aufgelöst. Die andererseits daran, dass Ludwig die Linien der Wittelsbacher, gemessen am des Herzogtums die Grafen von Orten- Wittelsbacher aber hatten ihre Macht- Italienpolitik der Staufer wiederaufge- Normalfall der deutschen Fürstenhäu- burg, die seit 1122 auch die Herzöge basis nur in Bayern, dort aber mitten im nommen und dabei auf die papstfeindli- ser, nämlich dem Anschluss an Luther, von Kärnten stellen, und da waren vor Land. So sonderten sich zwar nach chen Visconti von Mailand gesetzt hat- Sonderwege gingen: Die bayerische allem die Grafen von Andechs. Bert- 1180 noch Tirol und Salzburg ab, aber te. Der mit großer Erbitterung ausgetra- Linie blieb katholisch, während die hold III. von Andechs, der Zeitgenosse sonst gelang es Herzog Otto I., seinem gene Kampf zwischen Ludwig dem Pfälzer sich dem aus Genf stammenden Ottos von Wittelsbach, war mit der Sohn Ludwig I. und seinem Enkel Otto Bayern und den Päpsten von Avignon und dann vor allem in den Niederlan- dänischen Prinzessin Luitgarde ver- II., das Herzogtum beieinander zu hal- ist das letzte Kapitel in dem damals den und teilweise in Frankreich und mählt gewesen, seine Enkelinnen wur- ten und zu einem straff organisierten schon 250 Jahre alten Konflikt zwischen auf den britischen Inseln Fuß fassenden den Königinnen von Frankreich und Staatswesen umzubauen. Die Identität Kaisertum und Papsttum. Calvinismus zuwandten. von Ungarn sowie – die heilige Hedwig des spätmittelalterlichen und frühneu- Vom Standpunkt der Dynastie ist an- Eine nur kurzlebige Kuriosität am – Herzogin von Schlesien. Die familiä- zeitlichen Bayern mit dem früh- und deres bedeutsam: Ludwig verstand es, Rande stellt dagegen ein Prinz aus einer ren Beziehungen des neuen Herzogs hochmittelalterlichen Stammesherzog- durch die rechtlichen Möglichkeiten pfälzischen Nebenlinie dar, Pfalzgraf Otto I. von Bayern waren weniger ein- tum blieb gewahrt und noch das neue und das Prestige, die der Besitz der Christoph von Neumarkt. Er wurde drucksvoll, seine Gemahlin Agnes größere Bayern, wie es aus den Um- Königs- und Kaiserkrone ihm gaben, 1440 zum König von Dänemark, stammte aus dem niederrheinischen brüchen der napoleonischen Zeit her- seine Hausmacht allenthalben zu meh- Schweden und Norwegen gekrönt. Grafenhaus deren von Loon. Mächtig vorging, gruppiert sich um diesen Kern ren. Er erwarb für sich oder seine Söh- Natürlich hatte auch dies mit einer war Otto allerdings in Bayern schon mit seiner inzwischen fast 1500-jähri- ne die Mark Brandenburg, die Graf- dynastischen Verwandtschaft zu tun: vor 1180 gewesen. Sein Besitz zog sich gen Kontinuität. schaften Holland, Seeland und Henne- Die Mutter Christophs war eine däni- in einem breiten Streifen von München gau sowie Tirol hinzu. Zwar blieb kei- sche Prinzessin gewesen. Wegen der bis nach Regensburg hin, er übte das Innere Kräftigung und ein erster nes dieser Territorien den Wittelsba- schon unter seinen Vorgängern begrün- Amt des Pfalzgrafen in Bayern aus und Ausflug in die europäische Politik: chern länger als bis zur Generation der deten Verbindung der Kronen aller – er stand in der Gunst des Kaisers, Von Herzog Otto I. zu Herzog Otto III., Enkel des Kaisers, denn die Erbteilung skandinavischen Königreiche auf sei- denn Otto von Wittelsbach war es ge- König von Ungarn unter seinen sechs Söhnen schwächte nem Haupt wurde er auch als „archi- wesen, der durch eine kriegerische Hel- das Haus, so dass nach knapp hundert rex“ (Erzkönig) bezeichnet. Da Chris- dentat Friedrich 1155 an der Veroneser Geradezu symptomatisch für wittels- Jahren wiederum nur Bayern und die toph aber keine Kinder hatte und jung Klause aus gefährlicher Lage gerettet bachische Bodenständigkeit ist, dass Pfalz übrig blieben. Aber eines hatte starb, währte das Wittelsbacher König- hatte. auch die erste „internationale“ Heirat Ludwig der Bayer bewirkt: Sein Haus tum in Kopenhagen nur acht Jahre lang.

zur debatte 6/2013 33 Foto: wikipedia Ludwig der Bayer (hier eine Abbildung verschaffen, geriet als Kaiser allerdings seines Grabmals in der Münchner in einen sehr heftig geführten Macht- Frauenkirche) schaffte es, dem Hause kampf mit dem Papsttum. Wittelsbach im Reich große Macht zu

Bayern und Pfalz als Protagonisten im Kurfürstentümer. Wegen persönlicher wundbar und gab der pfälzischen Poli- Wenige Jahre später aber kam es zur Kampf der Konfessionen in Europa Probleme mit dem Zölibat war der dor- tik einen Zug ins Risikoreiche, ja Aben- Eskalation und unter den Hautprotago- tige Erzbischof zum Protestantismus teuerliche. Verschiedentlich griffen Pfäl- nisten waren zwei Wittelsbacher: Die Mit dem Beginn der Neuzeit änderte übergetreten – mit der Folge, dass der zer Wittelsbacher auf der Seite der Hu- Kurpfalz war 1608 – unter Übergehung sich das Umfeld der auswärtigen Politik Papst ihn absetzte. Zum Nachfolger genotten in die inneren Konflikte in Kursachsens, das einem Anheizen des der Wittelsbacher: Das Heilige Römi- wählte das Kölner Domkapitel Ernst Frankreich ein, was letztlich weder den konfessionellen Gegensatzes wider- sche Reich des Spätmittelalters mit sei- von Bayern, einen jüngeren Bruder des Pfälzern noch den Hugenotten etwas strebte – an die Spitze der Union, eines nen zahlreichen Abstufungen der Hin- regierenden Herzogs Wilhelm V., denn nützte, aber in Paris dafür sorgte, dass Bündnisses protestantischer Reichsstän- ordnung zum Kaiser verwandelte sich es war klar, dass man Truppen brau- man die Kurpfalz trotz des gemeinsa- de, getreten. Wie zu erwarten, erfolgte in ein engeres Heiliges Römisches Reich chen würde, um den abtrünnigen Vor- men Gegensatzes zu Habsburg mit 1609 die katholische Gegengründung, Deutscher Nation, in dessen Verfassung gänger zu vertreiben. Weil von dem Misstrauen betrachtete. die Liga. Ihre Führung übernahm Maxi- monarchisch-zentralistische und födera- exzentrischen Kaiser Rudolf II. nichts Eine Zusammenarbeit der beiden milian von Bayern. Als 1618 der pro- listisch-fürstenbündische Elemente zu erwarten war, setzte die Kurie auf Linien des Hauses Wittelsbach, wie der testantische böhmische Adel sich gegen lange im Wettstreit lagen, bis im West- Bayern als aktives Element im deut- Hausvertrag von Pavia sie eigentlich die Habsburger erhob, konnte Kurfürst fälischen Frieden von 1648 im Wesent- schen Katholizismus – und dasselbe tat vorgesehen hatte, war unter diesen Um- Friedrich V. der Versuchung nicht wi- lichen die letzteren obsiegten. Geför- König Philipp II. in Madrid, denn der ständen natürlich unmöglich. Ebenso derstehen, sich von den Aufständischen dert wurde dies durch die konfessionel- Besitz Kölns und des Rheins als Nach- klar war, dass seit der Mitte des 16. zum König von Böhmen wählen zu le Spaltung Europas und vor allem schublinie war von eminenter Bedeu- Jahrhunderts die Ehepartnerinnen nur lassen. Calvinistischer Glaubenseifer Deutschlands im Gefolge der Reforma- tung im Kampf Spaniens gegen die auf- mehr aus dem eigenen religiösen Lager mischte sich mit Ehrgeiz, der sich vom tion. Die bayerische Linie des Hauses ständischen Niederländer. Der Sieg in stammten. Unter den Kurfürstinnen von Glanz einer Königskrone blenden ließ. stand aus katholischer Solidarität an diesem Krieg sicherte dem Hause Bay- der Pfalz waren dabei auch eine Ora- der Seite der Habsburger, allerdings ern für fast zwei Jahrhunderte den Köl- nierin und eine englische Prinzessin, unter dem Vorbehalt, dass dies nicht ner Erzbischofsstuhl als bequeme und unter den Frauen der bayerischen Herr- Calvinistischer Glaubensei- zu einem kaiserlichen Absolutismus im politisch lukrative Möglichkeit zur Ver- scher neben mehreren Habsburgerinnen Reich führen dürfe. Die Mittel bei die- sorgung nachgeborener Prinzen und auch Prinzessinnen aus Lothringen, fer mischte sich mit Ehrgeiz, sem Balanceakt waren sehr bewusst entschied darüber, dass das Nieder- Savoyen und Polen. der sich vom Glanz einer gepflegte enge Beziehungen zur päpst- rheingebiet und Westfalen überwiegend Zu Beginn des 17. Jahrhunderts stei- lichen Kurie, Bündnisse mit anderen katholisch blieben. gerten sich die konfessionellen Span- Königskrone blenden ließ. katholischen Reichsfürsten, von denen Die Pfälzer Wittelsbacher samt ihrer nungen. Auch Streitpunkte, die ur- jedoch fast nur noch die Fürstbischöfe Nebenlinien entschieden sich bis zur sprünglich mit der Religion nichts zu übrig geblieben waren, und immer wie- Mitte des 16. Jahrhunderts alle für die tun hatten, gerieten in den Sog des Der Herzog von Bayern war nicht weni- der auch Versuche, die Freundschaft mit Reformation, aber die Kurlinie wandte katholisch-protestantischen Antagonis- ger glaubenseifrig, aber im Gegensatz Frankreich zu pflegen. Damit wurde vor sich, wie schon angedeutet, alsbald vom mus. Im Zuge der auch den spanisch- zum Pfälzer auch ein nüchtern kalkulie- allem eines erreicht: Bayern durfte da- Luthertum wieder ab und dem Calvinis- niederländischen Konflikt berührenden render Politiker. Die Königswahl Fried- mit rechnen, dass Frankreich an seiner mus zu. Für diesen galt der Augsburger Erbauseinandersetzungen um die Her- richs V. eröffnete die Aussicht auf eine Erhaltung und Stärkung interessiert Religionsfriede von 1555 nicht, der nur zogtümer Jülich, Kleve und Berg kon- protestantische Mehrheit im Kurkolleg war. den Anhängern der Confessio Augus- vertierte der Pfalzgraf von Neuburg, der und damit unabsehbare Gefahren für Einen großen Schritt in die interna- tana Duldung garantiert hatte. Dies einer der Anwärter war, zur katholi- die katholische Kirche und die ihr zuge- tionale Politik taten die bayerischen machte die wegen ihrer exponierten schen Kirche und heiratete die Schwes- hörigen Fürsten im Reich. So sagte Wittelsbacher mit dem Kölnischen strategischen Lage am Schnittpunkt ter Herzog Maximilians von Bayern. Maximilian dem Kaiser seine Hilfe zu, Krieg von 1583. Es ging dabei um das spanischer und französischer Interessen Der Streit konnte lokalisiert werden der zudem im Falle des Sieges ebenfalls Erzstift Köln, eines der drei geistlichen ohnehin bedrohte Pfalz zusätzlich ver- und endete mit einer Teilung des Erbes. eine Rangerhöhung versprach, nämlich

34 zur debatte 6/2013 die Übertragung der pfälzischen Kur- würde. Die Schlacht am Weißen Berg vor Prag 1620 brachte diesen Sieg und entschied über den Vorrang im Hause Wittelsbach: Friedrich V. wurde in die Reichacht erklärt und verbrachte den Rest seines Lebens im niederländischen Exil, Maximilian erhielt die Kurwürde und die Oberpfalz, Errungenschaften, die er von nun an über alle Wechselfälle des Dreißigjährigen Kriegs hinweg zäh verteidigte, bis er 1648 im Westfälischen Frieden ihre internationale völkerrecht- liche Anerkennung erreichte. Bei den vorangehenden jahrelangen Friedensverhandlungen hatte Bayern eine wichtige Rolle gespielt, insbesonde- re beim Zustandekommen des kaiserlich- französischen Friedens, wo Maximilian, obwohl an der Seite des Kaisers gegen Frankreich Krieg führend, diplomatisch eine Vermittlerrolle übernommen hatte – ganz in der Tradition bayerischer Frankreichpolitik. Die Pfalzgrafen da- gegen traten in Westfalen als machtlose Bittsteller auf; nur schwedische Unter- stützung sicherte ihnen am Ende die Rückgabe der Rheinpfalz und die Zuer- kennung einer neuen achten Kurwürde. Im Ergebnis war Bayern jetzt eine euro- päische Mittelmacht, die Kurpfalz dage- gen hatte um so mehr ausgespielt, als die Führungsrolle unter den Protestan- ten im Reich an Brandenburg-Preußen überging.

Der vergebliche Kampf um den „Platz an der Sonne“ im Zeitalter des Absolutismus

Einer ganz kleinen pfälzischen Ne- benlinie gelang durch eine Verkettung von Zufällen, was der Kurlinie versagt geblieben war: Der Aufstieg in die erste Reihe der europäischen Mächte. Als Königin Christine von Schweden 1654

Ein Wittelsbacher auf dem Thron in Madrid hätte das europäische Gleichgewicht gewahrt und damit Spanien und Europa einen Krieg erspart. abdankte, wählte der schwedische Reichstag den Pfalzgrafen Karl Gustav von Kleeburg zum Nachfolger. Abgese- hen von dem Umstand, dass er Nach- komme einer schwedischen Prinzessin war, hatte dies vor allem damit zu tun, dass er wie manch anderer protestanti- sche deutsche Kleinfürst im Dreißig- jährigen Krieg als schwedischer General gedient hatte. Als König Karl X. führte er Schweden auf den Höhepunkt seiner Machtstellung, die es allerdings unter Foto: Wittelsbacher Ausgleichsfonds seinem Enkel Karl XII. wieder verlieren Maximilian I. (1573 – 1651) führte sollte. Ohne Kinder zu hinterlassen, fiel die katholische Seite im Dreißigjähri- dieser 1718 im 2. Nordischen Krieg und gen Krieg und sicherte Bayern die damit war das schwedische Königtum Kurwürde. der Wittelsbacher beendet. Ruhm durch kriegerische Taten und der Kampf um eine Königskrone be- stimmten auch das Schicksal Max Emanuels, des dritten Kurfürsten von Bayern. Nachdem er sich als kaiserli- cher Oberkommandierender im Türken- Thron in Madrid hätte das europäische Schlacht von Höchstädt sein Land. und hoffte auf die Kaiserkrone. Ein er- krieg ausgezeichnet hatte, eröffnete ihm Gleichgewicht gewahrt und damit Spa- Dass er wenigstens dieses am Ende des neutes Bündnis mit Frankreich brachte seine Heirat mit einer Nichte König nien und Europa einen Krieg erspart. Krieges 1714 zurückbekam, hatte er nur ihm beides, aber natürlich nur um den Karls II. von Spanien glänzende Aus- Der frühe Tod des Prinzen 1699 machte Frankreich zu verdanken, das auf das Preis eines erneuten Kriegs gegen eine sichten. Aufgrund der Kinderlosigkeit alle Hoffnungen zunichte und den Krieg bayerische Gegengewicht gegen Habs- habsburgisch-britische Allianz. Zeitwei- des Königs kam Max Emanuels Sohn unvermeidlich. Max Emanuel wollte, da burg nicht verzichten wollte. se war Karl VII. ein Kaiser ohne Land Joseph Ferdinand als Erbe des Spani- er ohnehin schwerlich neutral beiseite Ein noch höheres Ziels setzte sich und als er schon 1745 starb, nutzte sein schen Weltreichs in Frage. Zwar gab es stehen konnte, dabei wenigstens noch Max Emanuels Sohn Karl Albrecht, als junger Nachfolger Max III. Joseph eine weitere Anwärter, aber gerade der Um- eine Krone für sich gewinnen und ent- 1740 auch die Wiener Habsburger im Erholungspause, während derer die stand, dass der bayerische Prinz zwi- schied sich für die Seite, die diese ver- Mannesstamme erloschen. Aufgrund Österreicher Bayern wieder hatten räu- schen der Wiener Linie der Habsburger sprach, damit freilich auch für das grö- der zahlreichen wittelsbachisch-habs- men müssen, zum Friedensschluss. Dar- und den Bourbonen sozusagen den ßere Risiko: gegen ein Bündnis mit burgischen Heiraten beanspruchte er in verzichtete er auf alle Ansprüche an dritten Weg darstellte, erhöhte seine den Habsburgern und England und gegen die habsburgische Erbtochter Habsburg wie auf eine eigene Bewer- Chance: Ein Wittelsbacher auf dem für Frankreich. 1704 verlor er in der Maria Theresia die deutschen Erblande bung um die Kaiserkrone.

zur debatte 6/2013 35 Wiedervereinigung von Bayern und wäre es nun gewesen, auf die Außen- Pfalz (1777) und Konsolidierung auf politik des Reiches ein wachsames Auge Regensburg, Nürnberg, Augsburg – heimischem Boden zu haben, aber Ludwig II. und seine auf die bayerische Innenpolitik fixierten Bayerische Metropolen in europäischen Damit waren alle wittelsbachischen Minister hatten dafür kein Verständnis. Versuche fehlgeschlagen, im Rahmen Unter Bismarck, der eine vernünftige Netzwerken des Europa des Ancien Regime zu einer Außenpolitik betrieb und den bundes- Großmachtrolle aufzusteigen. Was staatlichen Charakter des Reiches ach- blieb, war die Konsolidierung der eige- tete, schadete das nicht, aber unter dem Mark Häberlein nen Position in Deutschland. Diese ge- auftrumpfenden und zentralisierenden lang, vorbereitet durch mehrere baye- Regiment Wilhelms II. und vor allem im risch-pfälzische Hausunionen seit 1724, Ersten Weltkrieg wäre mehr nötig ge- umso besser, als 1777 die bayerische wesen als die in Bayern weitverbreitete Linie und dann 1799 die zunächst das grummelnde Unzufriedenheit über Erbe antretende pfälzische Linie Neu- preußische Arroganz. Am Ende ereilte burg ausstarben. Der glückliche Erbe das Schicksal der Revolution Ludwig Wenn man über Regensburg, Nürn- war Herzog Max Joseph aus der unbe- III. in München sogar einen Tag früher berg und Augsburg als Metropolen in deutenden und erst eine Generation als die Hohenzollern in Berlin, was europäischen Netzwerken spricht, so zuvor wieder katholisch gewordene allerdings reiner Zufall war. denkt man vorrangig an das Mittelalter Nebenlinie Pfalz-Zweibrücken-Birken- Die nach bayerischer Auffassung viel und die frühe Neuzeit, als diese Städte feld. In Folge der Umwälzungen, die die zu zentralistische Weimarer Reichsver- über weiträumige Handelsbeziehungen Französische Revolution und die Napo- fassung machte dann freilich manche verfügten und in einem intensiven kul- leonischen Kriege auslösten, fiel ihm von denen, die die Revolution resigniert turellen Austausch mit zahlreichen 1806 in den Schoß, worum seine Vor- hingenommen hatten, wieder zu über- europäischen Städten und Regionen gänger vergeblich gekämpft hatten: die zeugten Monarchisten, und unter ande- standen. Doch damals waren Regens- Königskrone. Im Gegensatz zu manch rem damit hat es zu tun, dass, wie ein- burg, Nürnberg und Augsburg noch anderen Satellitenstaaten Napoleons, gangs gesagt, das Haus Wittelsbach bis keine bayerischen Städte, sondern freie die wieder in sich zusammenfielen, heute in der bayerischen Öffentlichkeit Reichsstädte, die sich nur dem Kaiser nachdem ihr Herr und Meister den eine ganz andere Rolle spielt als etwa untertan fühlten und ein ausgeprägtes Bogen überspannt hatte, war im Falle die Hohenzollern in Berlin oder Bran- Bewusstsein ihrer Eigenständigkeit Bayerns der stabile Kern des Staates denburg. Auch dass mehrere Wittelsba- pflegten. Alle drei waren wichtige Zen- stark genug und die Legitimität des neu- cher im Dritten Reich ins Exil gehen tren des Heiligen Römischen Reiches en Königs im Kreise der europäischen mussten oder Verfolgung erlitten, hat Deutscher Nation: Hier fanden zahl- Dynastien etabliert genug, um dem außer mit bewusst demonstrierter Dis- reiche Reichstage und Reichsversamm- neuen größeren Bayern Dauer zu ver- tanz zum Regime auch mit der von den lungen statt. Regensburg wurde in der leihen. Machthabern gefürchteten Nachwir- zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Sitz kung der Funktion des Hauses als Sym- des Immerwährenden Reichstags, in bol bayerischer Eigenstaatlichkeit zu Nürnberg wurden die Reichskleinodien Nach dem Zweiten Welt- tun. verwahrt, und Augsburg war Sitz des Ebenfalls nicht erloschen sind nach Reichspfennigmeisters, der die vom Prof. Dr. Mark Häberlein, Professor für krieg ernannte Konrad 1918 die europäischen Verbindungen Reichstag bewilligten Türkensteuern Neuere Geschichte an der Universität Adenauer den Prinzen und punktuell blieben sie sogar von einnahm und vorfinanzierte. Das Ver- Bamberg politischer Relevanz. Dass nur drei Jah- hältnis dieser selbstbewussten Städte, Adalbert von Bayern, Sohn re nach dem Ende des Ersten Welt- die seit der Reformation ganz oder und Enkel einer spanischen kriegs ein Wittelsbacher mit einer Prin- mehrheitlich protestantisch waren, zum zessin von Italien und somit quer über katholischen Herzogtum Bayern war Regensburg verfügte durch die Donau Infantin, zum ersten Bot- die einstigen Fronten hinweg die Ehe alles andere als konfliktfrei: Vor allem über eine günstige Anbindung an den schafter in Madrid. schließen konnte, kontrastiert auffällig Regensburg und Augsburg lebten mit Südosten Europas, während der Inn mit der Verhaltensweise der republika- den Bayernherzögen in einer span- eine Verbindung zu den Alpen herstell- nischen Politiker in Berlin und Paris, nungsreichen Nachbarschaft. te. Augsburg war bereits in der Römer- Von dieser Basis aus ließ sich durch- die noch mindestens bis 1924 – um ein Wenngleich es also anachronistisch zeit über die Via Claudia mit Italien aus noch europäische Politik betreiben. bekanntes Diktum von Clausewitz um- ist, von Regensburg, Nürnberg und verbunden, und bis in die Frühe Neu- Schon bei den Eheschließungen der zukehren – Politik als Fortsetzung des Augsburg als bayerischen Metropolen zeit hinein folgte ein Großteil des trans- Kinder Max Josephs griff auch die Linie Kriegs mit anderen Mitteln begriffen. zu sprechen, so ist dieser Anachronis- alpinen Handelsverkehrs dieser Trasse. Zweibrücken-Birkenfeld ganz selbstver- Nach dem Zweiten Weltkrieg er- mus doch produktiv. Denn zum einen Daneben war der Verkehrsweg über ständlich über den ihr bisher ange- nannte Konrad Adenauer den Prinzen kommen damit drei Städte vergleichend Nürnberg und Frankfurt ins Rheinland stammten Rahmen südwestdeutscher Adalbert von Bayern, Sohn und Enkel in den Blick, die neben vielen Gemein- und in die Niederlande von zentraler Kleinfürsten hinaus. Die Ehepartner einer spanischen Infantin, zum ersten samkeiten auch erhebliche Unterschie- Bedeutung. Nürnberg schließlich lag im bayerischer Prinzen und Prinzessinnen Botschafter der Bundesrepublik in Mad- de aufwiesen. Zum anderen waren die Schnittpunkt mehrerer großer Fernhan- waren unter anderem Habsburger, Wet- rid. Dieser außergewöhnlichen Beset- Reichsstädte nicht nur Nachbarn und delsstraßen, die die fränkische Reichs- tiner und Bourbonen. Mit dem preußi- zung eines damals besonders heiklen Konkurrenten des Herzogtums Bayern, stadt mit Polen, Böhmen, Italien und schen Königshaus kam es nur einmal Postens verdankt es München, dass es sondern wirtschaftlich, politisch und Westeuropa verbanden. Darüber hinaus zu einer Eheverbindung, und das be- bis heute ein Spanisches Kulturinstitut kulturell auch eng mit diesem verfloch- war es allen drei Städten im Verlauf des zeichnenderweise vor 1870: Danach und damit ein Stück Europa gleich ne- ten. Reichsstädtische Kaufleute führten Mittelalters gelungen, ihre kommunale verhinderte dies die erneute Abgren- ben der ehemaligen Königlichen Resi- ihre Güter durch bayerisches Territori- Selbständigkeit auszubauen. Regens- zung der Konfessionen im Zuge des denz hat. „ um, belieferten den Münchener Hof mit burg und Augsburg hatten sich von Kulturkampfs ebenso wie der Missmut Waren, stellten den Herzögen Kredite ihren bischöflichen Stadtherren eman- Ludwigs II. über den Aufstieg der von zur Verfügung, und zahlreiche reichs- zipieren können, und ebenso wie Nürn- ihm, gemessen an der eigenen Dynastie, städtische Bürger traten seit dem 16. berg gelang es ihnen, sich gegen mäch- als Parvenus empfundenen Hohenzol- Jahrhundert in bayerische Hof- und tige fürstliche Nachbarn zu behaupten. lern zum Deutschen Kaisertum. Verwaltungsdienste. Die Rezeption der Als freie Reichsstädte wurden sie von italienischen Renaissance in München Ratsgremien regiert, deren Wirtschafts- Das griechische Intermezzo und die wurde entscheidend durch die Augsbur- politik den städtischen Fernhandel deutsche Frage als Herausforderung ger Fugger gefördert, die Künstler aus förderte und die sich in Konfliktfällen und Verhängnis Florenz kommen ließen, um ihre Paläs- für die Interessen der Kaufleute ein- te auszuschmücken, und sie anschlie- setzten. Der 1832 unternommene letzte Ver- ßend an die Bayernherzöge weiterver- Eine wesentliche Voraussetzung für such der Begründung eines wittelsba- mittelten. die Ausbildung europäischer Netzwerke chischen Königtums im außerdeutschen Im Folgenden gehe ich zunächst kurz war schließlich die Existenz leistungsfä- Ausland war eine Nachwirkung des auf die Grundlagen ein, die den Auf- higer Exportgewerbe als Rückgrat des idealistischen Engagements des antiken- stieg Regensburgs, Augsburgs und reichsstädtischen Fernhandels. Hier begeisterten Ludwig I. für den Befrei- Nürnbergs zu Metropolen mit überregi- bestand allerdings ein Unterschied zwi- ungskampf der Griechen, aber auch onaler Ausstrahlung ermöglichten und schen Regensburg auf der einen, Nürn- Folge der Gleichgewichtsüberlegungen begünstigten. Daran anschließend gebe berg und Augsburg auf der anderen der Großmächte England, Frankreich ich einen Überblick über ihre europäi- Seite, denn Regensburger Kaufleute und Russland. Ludwigs zweiter Sohn schen Beziehungen. Dabei wird der exportierten zwar in der Stadt gefertigte Otto konnte sich immerhin dreißig Handel im Mittelpunkt stehen, doch Tuche ins Rheinland und in die Nieder- Jahre lang in dem schon damals recht gehe ich auch auf Migrationen und kul- lande, doch betrieben sie vor allem unerquicklichen innenpolitischen turelle Austauschprozesse ein. Transithandel mit Gütern, die anderswo Klima Griechenlands halten, ehe ein gefertigt wurden. Als seit dem 14. Jahr- Militärputsch ihn zur Rückkehr nach I. hundert die Nürnberger Konkurrenz Bayern zwang. zunehmend stärker wurde, erwies sich Die Reichsgründung von 1870 nahm Eine wesentliche Voraussetzung für das Fehlen einer breiten gewerblichen Bayern weitestgehend die Möglichkeit den wirtschaftlichen Aufstieg der drei Basis als wesentlicher Standortnachteil einer eigenen Außenpolitik. Wichtiger Städte war ihre geographische Lage: Regensburgs. Nürnberg hingegen ver-

36 zur debatte 6/2013 fügte dank des Zugangs zu den Eisen- und Kupfervorkommen der Oberpfalz und Mitteldeutschlands sowie dank der Leistungs- und Innovationsfähigkeit seiner Handwerker über ein differen- ziertes Metallgewerbe, und Augsburgs Exportwirtschaft basierte maßgeblich auf einem um 1370 entwickelten Textil- produkt, dem aus Baumwolle und Lei- nen hergestellte Mischgewebe Barchent, das sich zu einem Exportschlager ent- wickelte. In der schwäbischen Metropo- le stellten um 1600 rund 2.000 Weber- meister etwa eine halbe Million Bar- chenttuche im Jahr her. Darüber hinaus gelang es fränkischen und schwäbischen Kaufleuten, in den wichtigsten euro- päischen Montanrevieren Fuß zu fas- sen. Im 16. Jahrhundert kontrollierten Nürnberger Gesellschaften den Vertrieb des in Thüringen und Sachsen produ- zierten Kupfers und Silbers, während die alpenländische und ungarische Mon- tanproduktion eine Domäne Augsbur- ger Firmen war. Um 1600 waren Nürn- berg und Augsburg mit jeweils rund 40.000 bis 50.000 Einwohnern die größ- ten Städte Süddeutschlands. Regens- burg, dessen Kaufleute ihren Reichtum im 13. und 14. Jahrhundert durch die Errichtung imposanter Wohntürme nach italienischem Vorbild demonstriert hatten, war hingegen mehr und mehr ins Hintertreffen geraten. Beim folgen- den Überblick über die europäischen Netzwerke in der Blütezeit des reichs- städtischen Fernhandels, dem 15. und 16. Jahrhundert stehen daher Nürnberg und Augsburg im Mittelpunkt. Der Handel über die Alpen bildete traditionell die Hauptachse des süd- deutschen Fernhandels; seit etwa 1300 sind Regensburger, Nürnberger und Augsburger Kaufleute in Venedig belegt. In der Lagunenstadt wurden Baumwol- le aus dem östlichen Mittelmeerraum, Südfrüchte, Arzneien und asiatische Luxuswaren (Gewürze, Edelsteine, Seide) eingekauft. Daneben lockte die hochwertige Luxusgüterproduktion süddeutsche Kaufleute an den Rialto, die dort ihrerseits Metalle und Metall- waren sowie in Nordwest- und Osteuro- pa erworbene Güter wie flämische Tu- che, Pelze, Leder, Wachs und Bernstein absetzten. Das hohe Niveau der Buch- haltung und Handelstechnik machte die Stadt auch zu einem beliebten Ausbil- dungsort für Kaufmannssöhne. Reichsstädtische Händler in Venedig waren verpflichtet, ihre Wohnungen und Warenlager im Haus der deutschen Kaufleute, dem Fondaco dei Tedeschi, zu unterhalten und dort ihre Geschäfte in Gegenwart eines vereidigten städti- schen Maklers zu tätigen. Vertreter der venezianischen Obrigkeit beaufsichtig- Foto: akg-images ten den Warenverkehr im Fondaco und Der berühmteste unter den großen Augs- Wirtschaftsgrößen der Stadt am Lech nahmen die darauf erhobenen Zölle ein. burger Handelsherrn und Bankiers: bauten europaweite Handels- und Dies bedeutete auf der einen Seite, dass Jakob Fugger der Reiche (1459 – 1525). Finanzbeziehungen auf. Das Werk die Handelsaktivitäten der Deutschen Er, seine Nachkommen und andere stammt von Albrecht Dürer. starker Kontrolle unterlagen; auf der anderen Seite entwickelte sich der Fon- daco zum Zentrum des gesellschaftli- chen und kulturellen Lebens der deut- schen Gemeinde, und die Kaufleute ge- nossen große innere Autonomie. Da Venedig seinen eigenen Untertanen ver- den Spanienhandel als auch für den Ab- 1600 existierte in Nürnberg eine finanz- sowie durch die Zuwanderung flämi- boten hatte, Handel mit dem Heiligen satz mitteleuropäischer Barchent- und starke Gruppe von Kaufleuten aus der scher Künstler, griechischer Gelehrter Römischen Reich zu treiben, lag der Leinenstoffe eine bedeutende Rolle. Die Toskana, dem Herzogtum Mailand und und sephardischer Flüchtlinge von der Handelsverkehr zudem weitgehend in schwäbischen Kaufleute Christoph Rem der italienischsprachigen Schweiz. Die Iberischen Halbinsel zu einer deutscher Hand. Auch wenn die Pflicht, und Christoph Furtenbach ließen sich italienischen Handelshäuser an der Peg- „dynamische[n] Relaisstation der im Fondaco zu wohnen, und das trans- um 1600 dort nieder und nahmen die nitz handelten mit Samt, Seide, Gewür- europäischen Kultur“ (Bernd Roeck) alpine Handelsverbot für Venezianer Interessen reichsstädtischer Firmen zen und Südfrüchten, stiegen jedoch entwickelt. Durch Vermittlung eines später gelockert wurden, blieb der Fon- wahr. In Florenz konnten süddeutsche auch in den Metall- und Textilhandel Kaufmanns konnte die Reichsstadt daco dei Tedeschi die wichtigste Insti- Kaufleute Metalle und Metallwaren ab- sowie in das Kredit- und Wechselge- Augsburg hier im Jahre 1545 kostbare tution des deutschen Venedighandels. setzen und hochwertige Seidenwaren schäft ein. griechische Handschriften für ihre Nach einem verheerenden Brand 1505 erwerben. Anders als ihre veneziani- Stadtbibliothek erwerben. Die kosmo- wurde er im Renaissancestil neu er- schen Kollegen gingen toskanische und II. graphischen und kartographischen richtet und prachtvoll ausgestattet. lombardische Kaufleute frühzeitig auch Arbeiten des Nürnberger Humanisten- Eine weitere zentrale Anlaufstelle der nach Norden. In der ersten Hälfte des Die Aufenthalte süddeutscher Kauf- kreises waren stark von italienischen süddeutschen Kaufleute in Italien war 16. Jahrhunderts exportierten die Torri- leute in Italien initiierten vielfältige kul- Vorbildern beeinflusst. Reichsstädtische Mailand als Produktions- und Handels- giani und Olivieri aus Florenz Seiden- turelle Transferprozesse. Venedig hatte Patrizier und Kaufleute erwarben in zentrum hochwertiger Textilien und stoffe über ihre Nürnberger Niederlas- sich durch seine Einbindung in die Italien Kunstwerke, antike Skulpturen, Luxuswaren. Genua spielte sowohl für sung nach Mittel- und Osteuropa. Um Netzwerke der europäischen Wirtschaft Handschriften, Bücher und Luxusgüter

zur debatte 6/2013 37 Fugger und Welser allerdings ihre römischen Faktoreien auf.

III.

Blicken wir anschließend auf die Iberische Halbinsel, so richtete sich das kommerzielle Interesse süddeutscher Kaufleute im Spätmittelalter zunächst auf Katalonien und Aragon als Produk- tions- und Exportregionen für Safran. Aber auch die Sehnsucht nach dem Heil führte süddeutsche Patrizier und Kaufleute nach Spanien, denn Santiago de Compostela war im Mittelalter neben Rom und Jerusalem der wichtigste Wall- fahrtsort der abendländischen Christen- heit. Nachdem die Kunde von der Ent- deckung des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama 1499 Süddeutschland erreicht hatte, rückte Lissabon in den Fokus des Interesses reichsstädtischer Kaufleute und Gelehrter. Die Augsbur- ger Welser, Fugger und Hoechstetter sowie die Nürnberger Imhoff und Hirschvogel gründeten eigene Nieder- lassungen am Tejo und beteiligten sich 1505 an einer portugiesischen Indien- fahrt. Konflikte mit der Krone, die Un- wägbarkeiten des Indienhandels und die ungesunden Lebensbedingungen in Lissabon ließen das Interesse der Nürn- berger und Augsburger an der Stadt allerdings bald wieder erlahmen, zumal nach den spanischen Eroberungen in Mittel- und Südamerika seit den 1520er Jahren ein Engagement in Sevilla, dem spanischen Monopolhafen für den Amerikahandel, lukrativer erschien. Zudem gehörten die Fugger- und Wel- ser-Gesellschaften zu den wichtigsten Bankiers des spanischen Königs und deutschen Kaisers Karl V., dessen Kai- serwahl 1519 sie maßgeblich finanziert hatten. Für ihre Kredite sicherten sich die Augsburger Firmen Ansprüche auf Steuer- und Renteneinnahmen Karls V. in Kastilien, die dieser an seine Gläu- biger weiterverpachtete, sowie Edelme- talle aus der Neuen Welt. Ihre Bankiers- tätigkeit für die spanische Krone ebne- te der Welser-Firma den Weg zu einem direkten Engagement in der Neuen Welt: Nachdem Karl V. den Amerika- handel 1525 für ausländische Kaufleute freigegeben hatte, reisten Welser-Vertre- ter nach Santo Domingo und errichte- ten dort eine Niederlassung. Von 1528 bis 1546 hatten die Welser die Statthal- terschaft über die Provinz Venezuela inne, die sich allerdings binnen weniger Jahre zu einem reinen Feldzugs- und Beuteunternehmen entwickelte, wäh- rend längerfristige wirtschaftliche Ziele vernachlässigt wurden. In Frankreich stand die Handelsme- Foto: akg-images tropole Lyon im Zentrum des Interesses Das berühmte Selbstbildnis des jungen italienischen Städten und stellte in der süddeutscher Kaufleute. Ihre Bedeutung Albrecht Dürer entstand um 1498. Malerei wichtige Beziehungen zwischen basierte auf den vier jährlichen Messen, Der Nürnberger Maler, er lebte von seiner Heimatstadt und dem damaligen die von den französischen Königen 1471 bis 1528, lernte mehrere Jahre in Zentrum der bildenden Kunst her. planmäßig gefördert wurden und die traditionsreichen Genfer Messen um 1500 überflügelt hatten. Ein Kristallisa- tionspunkt des sozialen Lebens der deutschen Nation war die 1491 gegrün- dete Bruderschaft am Lyoner Domini- kanerkonvent. Neben Kaufleuten spiel- aller Art. Einige vergaben zudem Auf- Musikern schloss, war sein Verhältnis begleiten. Angehörige von Kaufmanns- ten deutsche Buchdrucker in Lyon eine träge an italienische Künstler – insbe- zu den dortigen Malern von einer familien machten Karriere an der Kurie wichtige Rolle; sie zeigten eine hohe sondere für Porträts, die dem Bedürfnis Mischung aus Konkurrenz und gegen- und sammelten kirchliche Pfründen. Integrationsbereitschaft, die sich in Hei- der Auftraggeber nach Selbstdarstellung seitigem Respekt geprägt. Waren Italien- Zeitweilig spielten die Augsburger raten mit Französinnen und der Roma- und repräsentativer Inszenierung nach- aufenthalte süddeutscher Künstler zur Fugger und Welser auch im kirchlichen nisierung ihrer Namen widerspiegelt. kamen. Zeit Dürers noch keineswegs üblich, so Finanzwesen eine bedeutende Rolle. Der erfolgreichste Nürnberger Buchdru- Obwohl einzelne süddeutsche Künst- gehörten sie hundert Jahre später zum Seit 1495 waren die Fugger an der cker um 1500, Anton Koberger, unter- ler bereits im 15. Jahrhundert in Vene- Standardprogramm der Ausbildung. Überweisung kirchlicher Abgaben aus hielt Handelskontore in Lyon und Paris. dig nachweisbar sind, gelten Albrecht Rom, das Zentrum der abendländi- mittel-, nord- und osteuropäischen Bis- Kaufleute aus Augsburg und Nürnberg Dürers Venedigaufenthalte in den Jah- schen Christenheit, war für die süddeut- tümern an die Kurie befasst. Um 1500 kauften in Lyon feine Stoffe, Wolle, ren 1494/95 und 1505–1507 als Meilen- schen Reichsstädte im Spätmittelalter bauten sie eine eigene Niederlassung in Lederwaren sowie Safran und Pastell stein des transalpinen Kulturtransfers. weniger in wirtschaftlicher denn in reli- Rom auf, die päpstliche Gesandtschaf- aus Südfrankreich, Aragon und Kata- Sie dienten sowohl dem intensiveren giöser und politischer Hinsicht von Be- ten und Söldnerwerbungen finanzierte, lonien ein. Eine wichtige Vermittlerrolle Studium der italienischen Malerei, ins- deutung: Die Ewige Stadt war Ziel von sich in das Ablassgeschäft einschaltete spielten Deutsche, die sich dauerhaft in besondere der Proportion und Perspek- Pilgerreisen, und der Nürnberger Bür- und zeitweilig die päpstliche Münze Frankreich niedergelassen hatten. Ein tive, als auch der Akquisition von Auf- germeister Nikolaus Muffel reiste 1452 pachtete. Nach dem Sacco di Roma, herausragender Vertreter dieser Gruppe trägen. Während Dürer Freundschaft dorthin, um die Reichskleinodien zur der Plünderung der Ewigen Stadt durch war der aus Nürnberg stammende und mit venezianischen Gelehrten und Krönung Kaiser Friedrichs III. zu kaiserliche Söldner 1527, gaben die seit 1511 in Lyon nachweisbare Hans

38 zur debatte 6/2013 Kleeberger. Durch den Erwerb des niederländische Städte und Provinzen Bürgerrechts, den Kauf von Immobilien auf dem Antwerpener Geldmarkt auf- und seine Heirat mit der Witwe eines nahmen. Wie in Lyon, Sevilla und französischen Großkaufmanns integ- Lissabon ließen sich auch hier einige rierte sich Kleeberger in die Lyoner Ge- Oberdeutsche dauerhaft nieder und sellschaft; zugleich hielt er engen Kon- fungierten als Vermittler zwischen ihren takt zur deutschen Gemeinde, in deren Landsleuten, der internationalen Kapelle er sich bestatten ließ. Er vermit- Kaufmannschaft und der Obrigkeit. Der telte Darlehen süddeutscher Firmen an bedeutendste von ihnen war um die die französische Krone, und seine groß- Mitte des 16. Jahrhunderts der Nürn- zügige Unterstützung des städtischen berger Lazarus Tucher, der mit einer Spitals trug ihm den Beinamen „le bon Frau aus der Antwerpener Kaufmanns- allemand“ ein. Nach Kleebergers Tod familie Cocquiel verheiratet war und 1546 setzten süddeutsche Firmen die sich auch an Finanz- und Immobilien- Anleihegeschäfte mit der französischen geschäften beteiligte. Krone fort. In der zweiten Hälfte des 16. Jahr- Nach 1560 beeinträchtigten allerdings hunderts geriet Antwerpen allerdings in die französischen Religionskriege den eine schwere Krise. Nachdem bereits Handel empfindlich, zumal die meisten die Zahlungseinstellung der spanischen süddeutschen Kaufmannsfamilien pro- Krone von 1557 zu heftigen Erschütte- testantisch geworden waren. Viele von rungen auf dem Finanzmarkt geführt ihnen verließen nun die Stadt. Daneben hatte, bedeutete der in den 1560er belasteten konjunkturelle Krisen sowie einsetzende Bürgerkrieg in den Nieder- Zollerhöhungen und Zwangsanleihen landen das Ende für Antwerpens Be- die deutsch-französischen Handelsbe- deutung als Handelsmetropole: 1576 Der Historiker Dr. Jörg Zedler (re.) und ziehungen. Dennoch suchten weiterhin wurde die Stadt von spanischen Trup- Werner-Hans Böhm, ehemaliger Re- pen geplündert und 1585 von der gierungspräsident von Oberbayern und Armee des Herzogs von Parma einge- Vorstandsmitglied der Karl Graf Spreti Neben Italien, Frankreich nommen. Daraufhin flohen Zehntau- Stiftung, im Gespräch. sende protestantische Kaufleute und und der Iberischen Halbin- Gewerbetreibende aus der Stadt und sel standen die Niederlande gingen in die nördlichen Niederlande, nach England und Deutschland. Han- im Zentrum der kommerzi- delsstädte wie Emden, Köln, Hamburg ellen Interessen süddeut- und Frankfurt, vor allem aber Amster- dam profitierten vom Zustrom der verfrachtet bzw. über Wiener Neustadt erreicht worden wäre. Obwohl der scher Kaufleute. Glaubensflüchtlinge. Auch in Nürnberg sowie über die Adriahäfen Triest und Handel Nürnbergs durch die Verlage- siedelten sich Kaufmannsfamilien aus Zengg nach Venedig transportiert. Die rung der Handelswege nach Westeuro- den Niederlanden an. Um 1620 waren Fugger-Thurzo investierten riesige Sum- pa, die protektionistische Wirtschafts- zahlreiche Oberdeutsche die Messen der 32 niederländische Firmen in der frän- men in das Unternehmen und erzielten politik der Territorialstaaten, die Ab- französischen Metropole auf. Um 1620 kischen Reichsstadt ansässig. bis in die 1520er Jahre hinein hohe Ge- wanderung von Kaufleuten und Gewer- war der aus Augsburg stammende winne. Eine schwere Krise in den Jahren betreibenden in benachbarte Städte so- Daniel Herwart der führende deutsche V. 1525/26, als in den slowakischen Berg- wie die Ansiedlung von Hugenotten in Kaufmann an der Saône, und seine Söh- städten Aufstände ausbrachen und die Schwabach und Erlangen geschwächt ne Bartholomäus und Hans Heinrich Während die Beziehungen Nürnbergs ungarische Krone die Fugger zeitweilig wurde, war die Stadt im 18. Jahrhundert dehnten den Aktionsradius der Firma und Augsburgs nach England zumeist enteignete, konnte die Firma erfolgreich „noch immer einer der Hauptstapelplät- weiter aus. Sie fungierten im Dreißigjäh- über Antwerpen liefen und Kontakte meistern, doch in den folgenden Jahren ze und ein wichtiges Handelszentrum rigen Krieg als Finanziers des Söldner- nach Skandinavien sporadischer Natur schmälerten die Auseinandersetzungen im Reich“ (Rudolf Endres). Auf der führers Bernhard von Sachsen-Weimar waren, waren die Beziehungen nach zwischen den Habsburgern und den Os- Grundlage der hoch entwickelten Gold- und liehen der französischen Krone ho- Ostmittel- und Osteuropa ungleich in- manen in Ungarn sowie sinkende Berg- und Silberschmiedekunst, der Innova- he Summen. Bartholomäus Herwart war tensiver. Nürnberger Kaufleute genos- werkserträge die Gewinne. Im Jahre tionen auf dem Textilsektor (Kattun- der führende Bankier Kardinal Mazarins sen in den Königreichen Böhmen und 1546 entschloss sich der Firmenleiter druck) sowie des Bank- und Wechsel- und bekleidete um 1660 den Posten des Polen Handelsprivilegien und knüpften Anton Fugger daher, den Pachtvertrag geschäfts erholte sich auch der Augs- contrôleur général des finances. kommerzielle Kontakte nach Krakau nicht mehr zu verlängern. Die Pacht der burger Handel wieder, und im 18. Jahr- und Posen an. Nürnberger Kaufleute Neusohler Bergwerke wurde von den hundert gehörte die Stadt erneut zu den IV. importierten Felle, Pelze, Leder, Farb- Augsburger Manlich übernommen und wichtigsten süddeutschen Handels- und stoffe und Wachs aus Polen und führten blieb bis 1623 in der Hand Augsburger Finanzplätzen. Vor allem die Beziehun- Neben Italien, Frankreich und der hochwertige Textilien, Metalle und Me- Firmen. gen nach Italien und Frankreich waren Iberischen Halbinsel standen die Nie- tallwaren sowie Wein und Safran dort- zwischen 1650 und 1800 sehr intensiv, derlande im Zentrum der kommerziel- hin aus. Als östlichster Punkt des Nürn- VI. doch zeigt ein abschließendes Beispiel, len Interessen süddeutscher Kaufleute. berger Handels im Spätmittelalter gilt dass die Kontakte im Einzelfall weit Ihr wichtigster Stützpunkt war zunächst Lemberg, wo Gewürze und andere In diesen Ausführungen war wieder- darüber hinaus reichen konnten. Brügge, das seit dem ausgehenden 15. Luxuswaren aus dem Schwarzmeer- holt von Beeinträchtigungen des Han- Die Brüder Joseph Anton und Peter Jahrhundert jedoch von Antwerpen gebiet eingekauft wurden. Auch in dels die Rede, die seit der zweiten Hälf- Paul Obwexer, Söhne eines aus Südtirol überflügelt wurde. Die brabantische Nürnberg gedruckte Bücher fanden Ab- te des 16. Jahrhunderts auftraten: die nach Augsburg ausgewanderten Kauf- Stadt hatte sich zunächst zu einem Dis- satz im Osten: Der Verleger Anton Ko- französischen Religionskriege und der manns und Bankiers, exportierten seit tributionszentrum für englische Woll- berger hatte Niederlassungen in Ofen Bürgerkrieg in den Niederlanden unter- 1778 Augsburger Kattune und schlesi- tuche entwickelt. Der Wolltuchhandel (Budapest), Krakau und Posen. Für die brachen etablierte Handelswege. In die- sches Leinen über Amsterdam und die sowie der Transithandel mit holländi- Fleischversorgung der süddeutschen ser Zeit gingen zahlreiche Augsburger niederländische Karibikinsel Curaçao schen Waren lockten zahlreiche italie- Reichsstädte spielte der Import pol- Firmen bankrott, und das Nürnberger nach den spanischen und französischen nische, spanische und deutsche Kauf- nischer und ungarischer Ochsen eine Patriziat zog sich weitgehend aus dem Kolonien in Südamerika und der Kari- leute nach Antwerpen. Der eigentliche große Rolle. Die regen Handelsbezie- aktiven Geschäft zurück. Von einem bik. Als Rückfrachten nahmen sie dort Boom begann, als sich die portugiesi- hungen Nürnbergs nach Polen zogen generellen Niedergang des süddeut- Kolonialwaren wie Zucker, Kaffee, Ka- sche Krone entschloss, den aus Asien auch Migrationsströme nach sich: In schen Fernhandels kann jedoch nicht kao und Indigo entgegen. Der Karibik- importierten Pfeffer über Antwerpen Krakau wurden zwischen 1392 und gesprochen werden, denn die Lücken, handel der Obwexer erlitt während des zu vermarkten. Da die Portugiesen für 1611 44 Neubürger aus der fränkischen die die alteingesessenen Firmen hinter- Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs ihren Afrika- und Asienhandel Silber Reichsstadt registriert. Der Bildhauer ließen, wurden von kaufmännischen und insbesondere während der Franzö- und Kupfer benötigten, wurden die und Bildschnitzer Veit Stoß lebte von Aufsteigern und Zuwanderern geschlos- sischen Revolutionskriege seit 1792 süddeutschen Kaufleute ihre wichtigs- 1477 bis 1496 in Krakau und schuf dort sen, so dass der Fernhandel beider schwere Verluste und mündete schließ- ten Handelspartner. Augsburger und einige seiner Hauptwerke. Reichsstädte bis in die Zeit des Dreißig- lich in den Konkurs der Firma; gleich- Nürnberger Firmen, die Silber und Kup- Die Augsburger Fugger schlossen sich jährigen Krieges hinein eine hohe Leis- wohl zeigt er, wie weit der Aktionsradi- fer nach Antwerpen lieferten, konnten 1494 mit der Krakauer Familie Thurzo tungsfähigkeit und Dynamik aufwies. In us süddeutscher Firmen auch am Ende sich dort ihrerseits mit Gewürzen und zu einem Montangroßunternehmen zu- Nürnberg waren es vor allem Zuwande- der reichsstädtischen Zeit noch sein englischen Tuchen eindecken, so dass sammen, um die Produktion des Berg- rer aus Italien, den Niederlanden und konnte. „ Antwerpen zum zentralen Umschlag- baureviers von Neusohl (Banská Bys- Österreich, die den Fernhandel um 1600 platz Nordwesteuropas avancierte. Zur trica) in der heutigen Slowakei zu ver- prägten, in Augsburg hingegen einhei- Attraktivität der Stadt trug auch eine markten. Der „Gemeine Ungarische mische Handelsfirmen, denen der Bank- blühende Luxuswarenproduktion bei. Handel“ der Fugger und Thurzo er- rott oder Rückzug etablierter Gesell- Neben seiner Funktion als Warenum- richtete Schmelzhütten und Hammer- schaften neue Spielräume eröffnete. schlagplatz entwickelte sich Antwerpen werke in Kärnten, Thüringen und der Der Dreißigjährige Krieg bedeutete auch zu einem wichtigen Finanzplatz: Slowakei, baute Passstraßen und zwar für den Fernhandel der Reichs- 1531 wurde die Börse gegründet, und gründete Niederlassungen in Breslau, städte eine Zäsur, doch gelang Nürn- süddeutsche Kaufleute beteiligten sich Krakau und Ofen. Über die Ostseehäfen berg wie Augsburg danach ein ökono- am Wechselgeschäft sowie an Anleihen, Danzig, Stettin und Lübeck wurde mischer Wiederaufstieg – ohne dass die die Habsburgerherrscher sowie ungarisches Kupfer nach Antwerpen allerdings das Vorkriegsniveau wieder

zur debatte 6/2013 39 nach dem Modell einer Bayern AG im argumentieren. Gerade in Ostdeutsch- Rolle und Gewicht Bayerns im Bund – Bund zu vermitteln und wenn das nicht land versuchte Stoiber, der Furcht vor gelang, wenigstens die schlimmsten einer „Bavarisierung“ Deutschlands Reflexionen zu den beiden letzten Modernisierungsblockaden von Bayern entgegen zu treten. Bei seinen Auftrit- fernzuhalten. ten dort betonte er regelmäßig seine Jahrzehnten Es war deshalb im Sinne bayerischer Lernbereitschaft und sagte gar, „Bayern Interessenvertretung nur konsequent, ist kein Modell für Deutschland“. Ob er dass sich das Interesse von Ministerprä- dies angesichts der bayerischen Wirt- Roland Sturm sident Stoiber auf die Bundesebene ver- schaftserfolge tatsächlich glaubte, sei lagerte, nachdem 1998 mit der Wahlnie- dahin gestellt. Sein Medienberater derlage der Regierung Kohl die Ära der Michael Spreng war zumindest über- Doppelspitze zu Ende gegangen war. zeugt, dass in Deutschland die Leute Eine direkte Einflussnahme auf die nicht wollten, dass Deutschland Bayern Bundespolitik wurde zunächst – obwohl wird. dies paradox klingt – durch die Oppo- I. sitionsrolle der Unionsparteien erleich- III. tert. Bayerische Positionen konnten nun Bayern hatte in den beiden letzten ungefiltert als CSU-Positionen bundes- Auch nach der Wahlniederlage der Jahrzehnten vier Ministerpräsidenten: politisch vermittelt werden. Die Rück- Union 2002, die mit den Augen der Max Streibl, Edmund Stoiber, Günther sichtnahme auf Koalitionspartner ent- CSU gesehen eine Niederlage der Beckstein und Horst Seehofer. Für de- fiel. Das politische Lagerdenken wurde „Nord“-Union war, behielt Ministerprä- ren Machtposition in der Bundespolitik neu belebt nachdem Bündnis 90/Die sident Stoiber sein bundespolitisches und ihre politische Ausrichtung stellten Grünen 1998 bis 2005 ihre eindeutige Engagement bei. Ziel war, auf Augen- sich immer zwei Fragen: Wer war der Koalitionspräferenz für die SPD im höhe mit der CDU weiterhin bundespo- Parteivorsitzende und saß der Partei- Bund verwirklichen konnten. Für die litisch zu agieren und nach dem erwar- vorsitzende in München oder im Bund? CSU war ihr Ministerpräsident nicht teten Scheitern von Rot-Grün, einen In letzterem Falle wurde die bundespo- einer der Wahlverlierer 1998, sondern neuen Anlauf zur Kanzlerschaft zu litische Rolle Bayerns auch teilweise der Hoffnungsträger für die Union im machen. Selbst die 2003 anstehende durch den Landesgruppenvorsitzenden Bund. „Stoiber [selbst] betonte bereits Landtagswahl wurde mit bundespoliti- in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion kurz nach der Rücktrittsankündigung schen Themen vorbereitet. Andreas wahrgenommen. Dieser war allerdings Waigels, dass er sich nun verstärkt der Kießling bemerkte: „Wie wenig der weniger einflussreich, wenn der Minis- Bundespolitik widmen werde und der CSU-Führung an der Programmarbeit terpräsident Bayerns gleichzeitig Partei- CSU mehr denn je die Rolle einer für Bayern lag, wurde durch die Tat- vorsitzender war. eigenständigen Partei mit bundespoliti- sache augenscheinlich, dass das Regie- 1988, nach dem überraschenden Tod schem Anspruch zukomme.“ Stoiber rungsprogramm der CSU auf dem Par- von Franz Josef Strauß, wurde Max besetzte rasch Themen wie Staatsbür- teitag schlicht von Stoiber verkündet Streibl bayerischer Ministerpräsident. gerschaftsrecht (gegen den „Doppel- wurde. Nicht die Delegierten stimmten Der neue Parteivorsitzende Theo Waigel pass“) oder Erscheinungsbild der rot- darüber ab, sondern das Programm vertrat die Partei in der Bundespolitik grünen Regierung nach dem Rücktritt wurde im Nachhinein auf einer Vor- und wurde Finanzminister im Kabinett Prof. Dr. Roland Sturm, Professor für Lafontaines. Zudem half es dem Minis- standssitzung gebilligt. [...] Die Beto- Kohl. Vor allem dieser Funktion war es Politische Wissenschaft an der Univer- terpräsidenten quasi zum Sprachrohr nung der Bundespolitik wurde ferner zu verdanken, dass er die Bundespolitik sität Erlangen-Nürnberg der Union in der Bundespolitik zu wer- beim Wahlkampf-Höhepunkt in der entscheidend mitgestalten konnte, man den, dass die CDU 2000 mit Angela Münchner Olympiahalle deutlich: Die denke nur an den Maastrichter Vertrag Merkel eine neue Parteivorsitzende ersten sieben Seiten von Stoibers Rede- zur Einführung des Euro. Mit der Dop- erhielt, der zudem mit Friedrich Merz manuskript galten allein Angriffen auf pelspitze Streibl-Waigel verbanden sich musste, war auch die Lösung in der ein starker Fraktionsvorsitzender gegen- Ende der 1980er Jahre aber auch zwei Diskussion, Theo Waigel zum Minister- über stand. Erfahrung, Amtsbonus, Be- strategische Optionen. Während für präsidenten zu machen. Was das für kanntheitsgrad in der Öffentlichkeit – Für die CSU war ihr Minis- Max Streibl die Konsolidierung der den bundespolitischen Einfluss Bayerns all dies trug dazu bei, dass an dem baye- CSU in Bayern im Vordergrund stand, bedeutet hätte, wissen wir nicht. Ange- rischen Ministerpräsidenten in der Bun- terpräsident nicht einer der wofür er sogar erwogen haben soll, die sichts des Gewichts Theo Waigels als despolitik zumindest auf Unionsseite Wahlverlierer 1998, sondern CSU aus der Bundesregierung heraus- Finanzminister einerseits und seiner kein Weg vorbei führte. Beim bislang zuführen, um nicht von der Krise der Loyalität gegenüber Helmut Kohl ande- berühmtesten Frühstück der bundes- der Hoffnungsträger für die Kohl-Regierung erfasst zu werden, setz- rerseits, wäre aber nicht zu erwarten ge- deutschen Politik in Wolfratshausen, am Union im Bund. te sich Waigel ganz offensiv für das bun- wesen, dass spezifisch landespolitische 11. Januar 2002, vereinbarten die bei- despolitische Gewicht der Landesgrup- Erwägungen in der Bundespolitik stär- den Vorsitzenden der Unionsparteien pe ein und trat schließlich selbst in das ker in den Vordergrund getreten wären. die bayerische Kandidatur für das Amt den Bundeskanzler, der als ‚Show- Kabinett Kohl ein. Damit war der Par- Neuer Ministerpräsident wurde Edmund des Bundeskanzlers. Dass Ministerprä- Kanzler‘, als ‚Master of Desaster‘ und teivorsitzende der CSU in die Kabi- Stoiber, dessen Elan und Machtwille sidenten sich als geeignete Kandidaten als ‚das Problem‘ bezeichnet wurde.“ nettsdisziplin eingebunden. Dies erwei- möglicherweise von der Landesgruppe für das Amt des Regierungschefs sehen, Das herausragende Landtagswahlergeb- terte den bundespolitischen Einfluss der unterschätzt wurde. Mit Edmund Stoi- ist nicht ungewöhnlich. Dass diese Kan- nis, die Zwei-Drittel-Mehrheit für die CSU, verhinderte aber auch eine spezi- ber erneuerte sich die Konkurrenz von didatur mit Erfolgsaussichten auch für CSU, schien die Schwerpunktsetzung fisch bayerische Profilierung in Abgren- Ministerpräsident und Parteivorsitzen- einen Ministerpräsidenten möglich war, auf die bundespolitische Rolle der CSU zung zur Bundesregierung, die durchaus der in der Bundespolitik. dessen Partei gar nicht bundesweit kan- als Erfolgsrezept zu bestätigen. zu den Wahlerfolgen in Bayern in der didiert, zeigt deutlich, wie sehr der bun- Diese Schlussfolgerung übersah aber Vergangenheit beigetragen hatte. Max II. despolitische Anspruch der CSU in der drei wesentliche Faktoren: Erstens war Streibl versuchte zwar in der Tradition Wählerschaft akzeptiert wurde. es unwahrscheinlich, dass sich die CDU, von Franz Josef Strauß Briefe nach Dies war nicht nur eine Konkurrenz Der erreichte Gleichklang von Lan- auch hinsichtlich der Rolle des Spre- Bonn zu schicken, um bundespolitische um die Parteiführung. Es gab auch bun- desinteressen und Bundespolitik im chers für die Union in der Bundespoli- Positionen zu markieren, er konnte sei- despolitische Themen, die von Mün- Zusammenhang mit der Kandidatur tik, längerfristig mit der Rolle des Junior- ne bundespolitischen Ambitionen aber chen aus anders gesehen wurden als Edmund Stoibers für das Kanzleramt partners zufrieden geben würde. Angela nicht durchsetzen. Wolfgang Bötsch, von der Bundesebene. Vor allem die zeigte sich auch an der einhelligen Zu- Merkel hatte inzwischen ausreichend der damalige stellvertretende Landes- Europapolitik und die Beschlüsse zum stimmung im Unionslager, sowohl im Zeit, innerparteilich und thematisch gruppenvorsitzende, berichtete aus der Euro waren umstritten. Für Stoiber war Bund als auch in Bayern. Allerdings lag sich eine eigenständige Position zu er- Landesgruppe, er habe Theo Waigel die Ministerpräsidentenrolle mit der Stoiber bis zur Wahl in den Umfragen arbeiten. Zweitens konnte eine einseitig einmal gefragt: „Was machen wir jetzt Überzeugung verbunden, Bayern müsse hinsichtlich der Kanzlerpräferenz im- bundespolitische Ausrichtung der CSU, mit diesen Briefen aus München?“ das führende Bundesland in Deutsch- mer hinter Gerhard Schröder zurück, eine München-Ferne, nicht mit der Waigel habe geantwortet: „Nichts, die land sein und bleiben. Bundespolitik anfangs nur um wenige Punkte, am bayerischen Identität der Partei und legen wir ab.“ sollte nicht in allererster Linie bayeri- Ende sehr deutlich. Die TV-Duelle der dem Anspruch, bayerische Interessen zu Andreas Kießling hat die These ver- schen Vorgaben folgen. Sie sollte vor beiden Kandidaten hatten keinen merk- vertreten, kompatibel sein. Und drittens treten, dass der bundespolitische Ein- allem den Erfolg Bayerns und die Zu- lichen Einfluss auf die Kanzlerpräferen- schließlich hatte sich der bayerische Mi- fluss der CSU bzw. Bayerns dann am stimmung zur CSU nicht untergraben. zen. Nur in Bayern sah die Situation nisterpräsident durch sein über Bayern größten war, wenn sich bei einer Dop- Die gescheiterte Steuerreform 1998 anders aus. Selten zuvor hat man in der hinausweisendes Rollenverständnis pelspitze ein konfliktfreudiger Bundes- und die von Bundesgesundheitsminis- deutschen Politik so deutlich das aus selbst in Zugzwang gebracht. Das wur- politiker (Franz Josef Strauß) mit einem ter Horst Seehofer verantworteten un- der amerikanischen Wahlforschung de spätestens 2005 deutlich, als es er- Landesvatertyp als bayerischem Minis- populären Reformen des Gesundheits- zu Präsidentschaftswahlen bekannte neut nicht gelang, die SPD aus der Re- terpräsident zusammenfand. Das erhöh- wesens stehen beispielhaft für die aus „native son“-Phänomen beobachten gierung zu drängen, aber mit der zwei- te auch die Wahlchancen der CSU, die Sicht der damaligen Staatsregierung können: Die Kanzlerpräferenz in ten Großen Koalition sich Minister- wiederum die Voraussetzung für eine um sich greifende Art bundespolitischer Bayern war eindeutig zugunsten ämter für die CSU öffneten. starke parlamentarische Vertretung im Desorientierung, der Wahlerfolgen in Edmund Stoibers ausgerichtet. Der Dies waren zwangsläufig weniger Bund waren. Diesem Modell entsprach Bayern nicht zuträglich sein konnte. bayerische Ministerpräsident konnte als Ämter als in einer kleinen christlich- die Doppelspitze Waigel (als konsens- Der bundespolitische Einflussversuch, Kanzlerkandidat weder als Verfechter liberalen Koalition, und zudem redu- orientierter Politiker)/ Streibl (Landes- der sich als bayerische Reaktion darauf bayerischer Interessen auftreten, noch zierte die Große Koalition die politische vater) nicht. Als Max Streibl 1993 we- ergab, war das Bemühen, die Logik der unter Verwendung programmatischer Bedeutung des Stimmgewichts der CSU- gen der Amigo-Affäre zurücktreten bayerischen Modernisierungspolitik Aussagen der CSU konfliktorientiert Landesgruppe im Bundestag. Aber für

40 zur debatte 6/2013 Fotos (4): Bayerische Staatskanzlei Franz Josef Strauß war von 1978 bis 1988 bayerischer Minister- Für Max Streibl, Ministerpräsident von 1988 bis 1993, stand präsident und griff sehr aktiv in die Bundespolitik ein. die Konsolidierung der CSU in Bayern im Vordergrund. Er soll sogar überlegt haben, die CSU aus der Bundesregierung heraus- zuführen.

Ministerpräsident Stoiber schien sich bayerischen Nachfolger von Innen- Edmund Stoiber erarbeitete noch ein- figur Stoiber in der Bundespolitik für die Gelegenheit des Rollenwechsels zu minister de Maizière zu beobachten. mal ein Regierungsprogramm für die die bayerische Landesregierung auf kur- bieten. Das Wirtschaftsministerium, an- Und Gerhard Schröder berichtet in Zukunft Bayerns, so als wolle er mög- ze Distanz gesehen wenig zu erreichen. gereichert um die Europakompetenzen seinen Memoiren von einem Abendes- liche Nachfolger binden. Ähnliches hat Erwin Huber verbuchte zwar als steuer- des Finanzministeriums, war für seine sen am 10. Oktober 2003 in Erlangen übrigens Tony Blair in Großbritannien politischen Erfolg, dass die Mehrwert- Qualifikation und seine Interessen be- im Privathaus der Pierers und dessen mit seinem Nachfolger Gordon Brown steuer auf Tickets für Bergbahnen hal- sonders geeignet, wiewohl machtpoli- Konsequenzen folgendes: „Wir waren versucht. Auch – wie zu erwarten – er- biert wurde, eine bayerische Hand- tisch das Finanzministerium die bessere zu dritt. Bei einem guten Rotwein, den folglos und Tony Blair, wie Edmund schrift in der Regierung der zweiten Alternative gewesen wäre. Nach einem von Pierer ungeachtet fränkischer Großen Koalition war nicht zu erken- quälenden Selbstfindungsprozess lehnte Sparsamkeit kredenzte und Stoiber nen. Angela Merkel hatte ihre früheren Edmund Stoiber die Mitwirkung in der entgegen seinem offiziellen Image nicht Günther Beckstein, der Defizite gegenüber Edmund Stoiber Regierung Merkel ab. Mitwirkung hieß verschmähte, besprachen wir die Lage. mehr als wettgemacht und verweigerte Nachordnung (so sieht es schon das Ich schlug Stoiber vor, Präsident der neue bayerische Minister- der CSU vor der Landtagswahl 2008 Grundgesetz vor, das dem Kanzler die EU-Kommission zu werden, und präsident, hatte unter durch ihre Ablehnung der Rückkehr zur Richtlinienkompetenz gibt) – eine Tat- erklärte ihm, Chirac sei einverstanden Pendlerpauschale und des CSU-Steuer- sache, die auch der mächtigste Minister und das Übrige würde ja angesichts der Stoibers Unzufriedenheit konzepts eine helfende Hand des Bun- nicht ignorieren konnte. Der Versuch konservativen Mehrheit im Rat kein zu leiden. des. In der Güterabwägung zwischen Stoibers, eine herausgehobene Stellung Problem sein. Da ich wusste, dass Solidarität mit der neuen CSU-Spitze im Kabinett zu erlangen, wurde von Stoiber mir gegenüber sehr misstrauisch und dem Erhalt des Friedens mit dem Gerhard Schröder, der trotz seiner Nie- war, empfahl ich ihm – im Einverneh- Stoiber, war dann auch folgerichtig der Koalitionspartner SPD zog sie letzteren derlage noch an den Koalitionsverhand- men mit Jacques Chirac –, sich persönlich Ansicht, der Nachfolger mache die vor. Angela Merkel wurde aber, ebenso lungen teilnahm, als sehr hilfreich emp- beim französischen Präsidenten von der Sache nicht richtig. Günther Beckstein, wie die CSU in Bayern, überrascht von funden, weil er es der SPD erleichterte, Ernsthaftigkeit unserer gemeinsamen der neue bayerische Ministerpräsident, dem kometenhaften Aufstieg Karl Theo- im Gegenzug ihr genehme inhaltliche Verabredung zu überzeugen. Zu diesem hatte unter Stoibers Unzufriedenheit zu dor zu Guttenbergs, der 2009 das Amt Festlegungen zu fordern und durchzu- Gespräch kamen wir dann im Novem- leiden. Die Regierungserklärung von des Wirtschaftsministers von dem glück- setzen. ber 2003 bei Jacques Chirac zusammen, Ministerpräsident Beckstein war eine losen und amtsmüden Stoiber-Ersatz- Nachdem der bayerische Minister- der Stoiber unsere Überlegungen be- sehr auf Bayern bezogene unter dem mann Michael Glos übernommen hatte. präsident sich in so hohem Maße bei stätigte. Beide erklärten wir ihm, dass er Motto: „Gemeinsam für Bayern“. Weder Zu Guttenbergs Rolle als CSU-Ich-AG der Regierungsbildung engagiert hatte sich rasch zu entscheiden habe, damit Europa noch der Bund galten als Be- in Berlin trug noch weiter zu der Ent- und deshalb in Bayern schon die Dis- im Falle seiner Zustimmung die Kandi- zugspunkt. Sie kamen in der Regie- koppelung der Münchner und der Ber- kussion um seine Nachfolge im Amt des datur optimal vorbereitet werden könn- rungserklärung nicht vor. Beckstein liner politischen Bühne bei. Ministerpräsidenten entbrannt war, te. Monatelang hörte ich nichts von brach eine Lanze für die Länder als kam sein „Amtsverzicht“ am 1. Novem- Edmund Stoiber, obwohl er mir zuge- eigenständigem politischem Raum. Er IV. ber 2005 überraschend. Mit dem Rück- sagt hatte, mich alsbald über seine Ent- plädierte für die Eigenverantwortung zug der Person Stoiber nach Bayern scheidung zu unterrichten. Anfang März der Länder, für mehr Wettbewerbsföde- In München war Ministerpräsident verlor zum einen die bundespolitische 2004 rief ich ihn in München an. [...] ralismus und ein Ende der bayerischen Günter Beckstein nach Verlusten der Strategie der CSU an Glaubwürdigkeit Das war an einem Freitag, und er ver- Finanzierung eines „Rundum-Sorglos- CSU bei der Landtagswahl 2008 ebenso und zum anderen musste eine rasche sprach, mir am Montag Bescheid zu Pakets“ für die anderen Länder. Auch wie der Parteivorsitzende Erwin Huber Re-Orientierung an bayerischen Prio- geben. Was er auch tat. In diesem Tele- bei der Besetzung des Amtes des Partei- zurückgetreten. Die bayerische Regie- ritäten erfolgen, um dem Amt des Mi- fongespräch lehnte er es ab, Kommis- vorsitzenden der CSU wurde mit Erwin rung wurde erstmals seit 1962 wieder nisterpräsidenten eine überzeugende sionspräsident zu werden, und begrün- Huber eine bayerische Lösung gefun- zu einer Koalitionsregierung. Die Ab- Ausrichtung zu geben. Edmund Stoiber dete dies mit dem Hinweis darauf, die den, also ein Landtagsabgeordneter. Die wendung von der bundespolitischen hätte sicherlich auch andere Ämter oder CSU sei ohne ihn so gut wie verloren. bayerische Interessenvertretung in Ber- Orientierung der CSU unter Stoiber Aufgaben anstreben können. Es zeigte Er könne aus Verantwortung für seine lin sollte Huber durch seine Präsenz hatte korrigierend gewirkt, aber die sich aber, dass ohne die bayerische Er- Partei und für Bayern nicht nach Brüs- in den Koalitionsgremien garantieren. Proteststimung gegen die CSU, die noch dung manchen bayerischen Spitzen- sel gehen.“ Chef der Landesgruppe wurde Peter sehr viel mit der Stoiberschen Reform- politikern eine politische Rolle außer- Zurück in Bayern zögerte sich der Ramsauer. Realistisch gesehen war nach politik zu tun hatte, konnte durch eine halb Bayerns schwer fällt. Zuletzt war Rücktritt von Ministerpräsident Stoiber dem Verlust des Prestiges und des Ein- eher bayerische politische Linie der dies 2011 bei der Suche nach einem noch bis Ende September 2007 hinaus. flusses der bundespolitischen Führungs- CSU nicht vollständig kompensiert

zur debatte 6/2013 41 Edmund Stoiber, im Amt von 1993 bis 2007, schreckte nach Die kürzeste Amtszeit (2007 – 2008) der vier Ministerpräsiden- seiner knappen Niederlage gegen Gerhard Schröder 2002 im ten hatte Günther Beckstein. Auch er richtete sein Hauptau- Endeffekt davor zurück, Verantwortung in Berlin oder Brüssel genmerk auf die bayerische Politik. zu übernehmen, obwohl ihm Führungspositionen angeboten wurden.

werden. Der neue Ministerpräsident CSU in Bayern einen bedeutenden verkörpert wird, bietet die Gefahr der verluste im Bund sekundär sind – und und Parteivorsitzende der CSU, Horst Identitätsfaktor ausmachte.“ bundespolitischen Einseitigkeit, die mit nur auf Bayern kommt es inzwischen Seehofer, zog daraus die Lehre, un- Nach der Regierungsbildung setzte dem Verlust der Machtbasis in Bayern an – eine Lehre, die Horst Seehofer aus populäre Reformen möglichst zu ver- sich die fordernde Rolle der CSU in einher gehen kann. Allerdings hat sich Edmund Stoibers erzwungenem Rück- meiden. Noch nie waren Umfragen so Berlin fort. Horst Seehofer machte im- im Laufe der Zeit die Akzeptanz der tritt gezogen hat. wichtig für politische Weichenstellun- mer wieder deutlich, dass er nicht jede Strauß/Goppel-Strategie in der bundes- Es ist nicht überraschend, dass die gen in der CSU wie heute. Bei seinem Idee des Kanzleramtes mit trägt. Er politischen Öffentlichkeit verringert. Rolle Bayerns im Bund nicht von der- Amtsantritt konnte sich Seehofer schon formulierte u.a. eigenständige Positio- Bernd Ulrich bemerkte in der Zeit: „Die jenigen der CSU im Bund zu trennen aus biographischen Gründen an der nen zur Gesundheitsreform, zur Steuer- alte Rechnung, nach der die CSU gegen ist; dennoch ist die bundes- und die bundes- und landespolitischen Doppel- reform oder zur Rente mit 67. Die CSU Berlin und gegen die CDU ein bisschen landespolitische Sicht nicht spannungs- rolle Edmund Stoibers orientieren. Er erklärte sich selbst zur treibenden Kraft Rabatz machen darf, um dafür in Bay- frei. Bayerische Interessenvertretung er- war erfahrener in der Bundespolitik als beim Ausstieg aus der Kernkraft. In der ern umso mehr Stimmen einzubringen, fordert die Bereitschaft zum Konflikt es Stoiber zunächst war – und er ver- Entscheidungsphase zur Zukunft der geht nicht mehr auf. Die CSUler kosten mit dem Bund, der EU und – denken einigte wie Stoiber das strategische Kernkraft war in der Presse zu lesen: die Union mittlerweile mehr an Glaub- wir an den Finanzausgleich – mit den Potential der CSU in einem Amt. Zu- „In der bayerischen Staatskanzlei gibt würdigkeit und an Wählern, als sie da- anderen Ländern. Jede bayerische nächst schien es aber, als würde die es schon Planspiele, die schwarz-gelbe heim zusätzlich eintreiben. Das war Landesregierung sucht den Interessen- Popularität zu Guttenbergs ihm den Koalition in Berlin vorzeitig platzen zu schon in der letzten Phase Stoibers so. ausgleich. Wer in Berlin mitspielt, wird bundespolitischen Alleinvertretungsan- lassen, sollte der Energiekonsens schei- auf Regeln verpflichtet – seien es die spruch streitig machen. Nach dessen tern. Offen kokettierte der CSU-Chef des Bundesrates, seien es die einer Amtsverzicht 2011 wurde die Berliner in Moskau mit der Möglichkeit einer Koalitionsregierung. Die CSU ist sicher Bühne jedoch wieder unumstritten die- schwarz-grünen Koalition.“ Solche Ge- Es ist nicht überraschend, gut darin, die Grenzen solcher Regeln jenige Seehofers. Schon bei den Koa- rüchte sind nicht für die Berliner Bühne dass die Rolle Bayerns im auszutesten, insbesondere wenn die litionsverhandlungen 2009 hat die CSU bestimmt. Vielmehr geht es darum, in Bund nicht von derjenigen Berliner Politik ihr wahlpolitisch in so agiert, als handele es sich um eine Bayern die absolute Mehrheit zurückzu- Bayern schadet. Dabei sein und doch echte Dreierkoalition in Berlin, obwohl erobern. Dafür scheint der CSU kein der CSU im Bund zu tren- sich selbst treu bleiben ist dabei weniger die CSU ihr schlechtestes Wahlergebnis Berliner Preis zu hoch. nen ist; dennoch ist die ein philosophisches Problem als viel- bei Bundestagswahlen seit 1949 er- mehr ein politisches. Wie die Unter- zielte. V. bundes- und die landespoli- suchungen unserer Erlangen-Heidel- Dies ist nicht bedeutungslos. Zwar tische Sicht nicht span- berger Föderalismus-Forschergruppe hat sich Ministerpräsident Seehofer als Lässt man die vergangenen beiden gezeigt haben, hat die bayerische Be- geschickter und äußerst flexibler The- Jahrzehnte im Hinblick auf die bundes- nungsfrei. völkerung kein Problem mit bundes- menmanager auf der Berliner Bühne politische Rolle bayerischer Minister- deutscher Mehrebenenpolitik. Sie erwiesen, er weiß aber auch, dass die präsidenten Revue passieren, wird deut- identifiziert sich nicht ausschließlich CSU nur in Bayern gewählt werden lich, dass für das Gewicht Bayerns im […] Schuld ist der schmächtige Anteil mit Bayern, sondern hat ein ebenen- kann. Oder, wie Gerhard Hirscher dies Bund die Kombination der Rollen, Bayerns an der gesamtdeutschen Bevöl- übergreifendes staatsbürgerliches formuliert hat: „Der Erhalt der absolu- wie sie Franz Josef Strauß und Alfons kerung: schuld ist der gewachsene Ein- Verständnis entwickelt. Damit kann ten Mehrheit in Bayern war und ist die Goppel verkörperten, am effizientesten fluss der EU; schuld ist die Veraußenpo- sich aber weder die CSU noch die zentrale Machtressource der CSU. Ein ist. Eine München-Strategie ohne einen litisierung aller Politik; schuld ist, kurz- bayerische Staatsregierung zufrieden Verlust der Regierungsbeteiligung im populären konfliktgeneigten Berliner um, die Welt, wie sie nun einmal ge- geben, will sie nicht profil- und ziellos Bund war weitaus leichter zu verkraften Interessenvertreter würde Bayern zu worden ist. Weil sich der bayerische scheinen. Unser unitarischer Föderalis- als in Bayern, da die Machtansprüche einem Bundesland wie jedes andere Faktor nicht mehr so auszahlt, dürfte mus ist ebenso wie eine Berliner Regie- für die Bundespolitik nur auf der Basis machen, trotz CSU. Die zweitbeste auch der Versuch fehlschlagen, mit rungsbeteiligung eine Art Käfig, an des- der unbestrittenen Alleinregierung in Alternative der Ämterkumulation von einem neuen, aggressiveren CSU-Chef sen Gitterstäben sich zu rütteln lohnt Bayern möglich waren. Daraus speist Ministerpräsident und Parteivorsitzen- Horst Seehofer das alte Spiel wieder zu und der auch den Blick auf größere sich der spezielle Nimbus, der für die den in einer Person mit starken bundes- beginnen.“ Freiheit erlaubt, den aber keiner ver- Außenwirkung der CSU immer wieder politischen Neigungen, wie sie von Was Ulrich übersieht, ist, dass für den lassen will. „ bemüht wurde und für die Anhänger der Edmund Stoiber und Horst Seehofer Wahlerfolg der CSU in Bayern Unions-

42 zur debatte 6/2013 wird, vollständig irrelevant nicht nur liegt das Novum – in der Staatskanzlei Bayern im Prozess der europäischen schien, sondern tatsächlich war. „Her- an – eine Personal- und Sachunion so- ren der Verträge“, das sind unbeschadet wie Platzierung, die als bayerisches Integration aller Mutationen bis zum heutigen Tag Modell bekannt geworden ist, und die die Nationalstaaten. später Bundeskanzlerin Angela Merkel Edeltraud Böhm-Amtmann Gleichwohl: Von etwa 1980 an bis für ihr eigenes Haus, das Bundeskanz- heute erfolgten, was die geschriebenen leramt, übernahm, unter Bruch der europäischen Verträge anlangt, also was Tradition der Europa-Schlüsselkompe- deren redaktionelle Fassung betrifft, tenz aus großen Zeiten der FDP und Quantensprünge für die Konnotation des Auswärtigen Amts. Der bayerische zugunsten der föderativen Struktur der „Doppelhut Bundes- und Europaange- Bundesrepublik Deutschland. Der Weg legenheiten“ gilt bis heute bis zu Staats- Kennen Sie Schloss Neuwahnstein dorthin, aber auch das Resultat von ministerin Emilia Müller, mit ihren – nein, kein Versprecher, nicht Schloss heute: es kann nur von einer geradezu Dienstsitzen Staatskanzlei München, Neuschwanstein, sondern: Kennen Sie atemberaubenden Komplexität und Vertretung des Freistaates Bayern beim Schloss Neuwahnstein, waren Sie viel- Kompliziertheit gesprochen werden Bund Berlin und Vertretung des Frei- leicht schon dort? Und ist Ihnen, in – weit entfernt von den einfachen Bot- staates Bayern bei der EU Brüssel, letz- unseren Tagen der Probleme um die schaften der Politik vom „Erfolg“ oder teres ein von der Bundesregierung igno- Währung des Euro vielleicht der Aus- vom „Scheitern“, von „Durchbruch“ rierter Titel. druck „Esperanto-Geld“ gegenwärtig? oder „Stillstand“. Widersprüchlichkeit, In Brüssel gehört das Wort von der Widerspruch in sich, das ist leider der „Personalintervention“ zum unverzicht- I. Eindruck, der beim Bürger ankommt, baren Instrumentarium. Lassen Sie sofern dieser Bürger sich nicht Europa mich zwei nur scheinbar kleine Szena- Erlauben Sie diesen Eröffnungszug. ohnehin bereits vollständig verschließt. rien unterschiedlicher protokollarischer Es war ein Staatssekretär im Auswärti- Prof. Hermann Lübbe hat mir vor vie- Ebenen schildern, die tatsächlich aber gen Amt, der im November 2004, nach len Jahren folgenden Leitsatz aus der erhebliche politische Achsenverschie- Eröffnung der Verhandlungen der Föde- vergleichenden Wahlforschung erläu- bungen markieren: Der Ministerpräsi- ralismusreformkommission unter Lei- tert: „In doubt vote no“. Und Zyniker dent des Freistaates Bayern Franz Josef tung von Ministerpräsident Dr. Edmund sprechen von praktiziertem Voluntaris- Strauß empfing laut Frankfurter Allge- Stoiber für CDU/CSU und von Franz mus, d.h. man wolle um jeden Preis ein meine Zeitung vom 10. Juni 1980, also Müntefering für die SPD diesen ver- bestimmtes Ziel erreichen, die Vernunft vor über 30 Jahren, den damaligen fran- balen Pfeil in Richtung Bayern schleu- aber gerate in Gefahr, auf der Strecke zösischen Staatspräsidenten Giscard derte. „Neuwahnstein, Untertitel: Klein- zu bleiben. d‘Estaing im Würzburger Schloss bei karierter Größenwahn“ schob der Das war der erste Versuch eines Ein- dessen als solchem definierten Staatsbe- SPIEGEL hinterher. Die damalige stiegs in das Thema „Bayern im Prozess such in Deutschland. Der bayerische Bundesregierung wollte im Jahr 2004 der Europäischen Integration“ im Hin- Ministerpräsident entwickelte in seiner nicht weniger als den sog. Europartikel Edeltraud Böhm-Amtmann, Ministe- blick auf die maximale Schwierigkeit, Rede vor dem Gast ein weltpolitisches 23 des Grundgesetzes kassieren, soweit rialdirigentin a. D., ehem. Leiterin der Ihnen ein abgerundetes, ein einheitli- Szenarium, während Giscard sich, er den Ländern Beteiligungsrechte in Vertretung des Freistaats Bayern bei der ches, ein statisches, ein einfaches for- die bundesdeutschen Zuständigkeiten Europangelegenheiten einräumte, zu Europäischen Union in Brüssel melhaftes Ergebnis des Themas zu prä- beachtend, auf kulturelle Fragen be- weitgehende Rechte aus Sicht von Bun- sentieren. Das vielbeschworene „Europa schränkte. Es habe sich, so die FAZ deskanzler Gerhard Schröder. Als der Regionen“ – das ist ein Postulat, das damals, um eine eindeutige Kompetenz- „monströs“ bezeichnete Heribert Prantl ist kein Befund. Der Befund zu Europa, überschreitung durch den bayerischen von der Süddeutschen Zeitung damals Wiedervereinigung, bei der Ratifizie- Bund und Bayern heute lautet vielmehr: Regierungschef gehandelt. diesen Art. 23 GG, er „zelebriere den rung des Maastrichter Vertrags – ein- die Widersprüchlichkeit ist manifest. Szenenwechsel: Am 23. April 2002, deutschen Föderalismus auf EU-Ebene schließlich der Einführung der neuen Diese Widersprüchlichkeit folgt aus den nur wenig mehr als 20 Jahre später, flog nach liturgischen Vorschriften, er er- Währung des Euro – auf die Stimmen ausdifferenzierten Eigenpositionierun- der nunmehrige bayerische Ministerprä- schwere der Bundesregierung, in Brüs- eben der Länder im Verfassungsorgan gen der Akteure der verschiedenen sident Dr. Edmund Stoiber nach Brüs- sel Bündnispartner zu finden und mit Bundesrat angewiesen war. Die SPD- Ebenen, teils nicht erkannt, teils nicht sel. Gespräch mit Kommissionspräsi- ihnen Kompromisse und Paketlösungen regierten Länder waren aus der Oppo- benannt, paradoxerweise in politischen dent Romano Prodi, Gespräch mit Par- auszuhandeln. Wegen dieser schwer- sition heraus ihrerseits interessiert, mit Debatten sogar erbittert verfochten, lamentspräsident Jean Cox. Und dann fälligen deutschen Länder-Mitbestim- institutionellen Mitteln gegen die Regie- nach Findung von Formelkompromis- – Gespräch mit eben Valéry Giscard mungsmaschinerie müsse Deutschland rung Kohl europäisch agieren zu kön- sen, weil „Europa nicht scheitern“ dür- d´Estaing, nun aber in der Rolle des sich oft, zu oft, in die Stimmenthaltung, nen, die unionsgeführten Länder von fe, in den offiziellen Dokumenten je- Präsidenten des 2001 installierten Euro- the German vote, flüchten“. Und als CDU und CSU, an der Spitze der Frei- doch verunklart. Vollends scheitert eine päischen Verfassungskonvents. Es bleibt Negativsymbol schlechthin für diese staat Bayern, nahmen ihre gefährdete Analyse logisch unvereinbarer Positio- angebliche Präponderanz der deutschen verfassungsmäßige Eigenständigkeit als nen daran, dass allein schon die Be- Länder in Brüssel diente jenem Staats- Maß ihrer Forderungen, auch um anti- zeichnung als logisch unvereinbar als Von etwa 1980 bis heute sekretär im Auswärtigen Amt das justa- europäische Stimmungen, nicht zuletzt Verstoß gegen die political correctness, ment ebenfalls 2004 offiziell eingeweih- in Hinblick auf die Einführung des als „europafeindliche“ Haltung gilt. erfolgten, was die geschrie- te Gebäude der Vertretung des Freistaa- Euro, steuern zu können. benen europäischen Verträ- tes Bayern bei der EU in Brüssel im „Europäische Politik ist Innenpoli- II. ehemaligen Institut Pasteur, einem sehr tik.“ Dieser Satz aus den frühen Zeiten ge anlangt, Quantensprünge stattlichen Anwesen, genau gegenüber der europäischen Bewegung sollte in Unternehmen wir einen zweiten Ver- für die Konnotation zuguns- dem Europäischen Parlament gelegen. idealer Weise den notwendigen Paradig- such einer Annäherung an „Bayern im Von daher also dieses politische Wurf- menwechsel deutlich machen, weg von Prozess der europäischen Integration“. ten der föderativen Struktur geschoss „Neuwahnstein“ nach Bayern. den rein bilateralen Beziehungen der Betrachten wir nun nicht die Denkkate- der Bundesrepublik Und „Esperanto-Geld“? Diesen nom de europäischen Staaten untereinander im gorien der Landes-, der Bundes- und guerre hatte seinerseits der damalige Sinne des klassischen Völkerrechts, die, der Europaebene, sondern deren ver- Deutschland. Bayerische Staatsminister Dr. Peter besser bekannt als „Außenpolitik“, zu schiedene Akteure. In den Jahren nach Gauweiler, heute Dauerkläger beim Krieg und Katastrophe geführt hatten. den Gründungsverträgen, den sog. Rö- Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe „Europäische Politik ist Innenpolitik.“ mischen Verträgen der 50er Jahre, bis in unvergesslich, mit welchem Mienenspiel genannt, bereits 1992 gegen die Ein- Dieser Satz intendierte den Paradig- die Zeit der Kabinette I – IV von Minis- der Konventspräsident, nach den Aus- führung des Euro in Stellung gebracht menwechsel hin zu einem friedenstif- terpräsident Alfons Goppel und des führungen des Ministerpräsidenten und – „Esperanto-Geld“, das habe einge- tenden und friedenerhaltenden Gebilde, Kabinetts III von Ministerpräsident von Europaminister Bocklet auch noch schlagen und das habe geschmerzt, so das vom deutschen Bundesverfassungs- Franz-Josef Strauß war im Freistaat die engagierte, fast zornige Argumenta- die mündliche Überlieferung durch gericht in der Entscheidung auf die Kla- Bayern ein Staatsminister für Bundes- tion eines sowohl verantwortlichen Beamte der Ständigen Vertretung der ge gegen den Maastricht-Vertrag 1994 angelegenheiten, nicht aber ein Ressort- wie hoch engagierten Kollegen aus der Bundesrepublik Deutschland bei der als „Staatenverbund“ qualifiziert wor- chef für Europa installiert; als erster mit Staatskanzlei quittierte, in der es um EU in Brüssel noch Jahre danach, und den ist. Dass und wie der Satz „Europä- dem Portefeuille „Bundes- und Europa- Zuständigkeiten ging, die der europäi- es habe der diplomatischen Retour- ische Politik ist Innenpolitik“ jedoch angelegenheiten“ war Georg Freiherr schen Ebene, weil Länderkompetenzen, kutsche „Neuwahnstein“ bedurft. einen Bedeutungswandel, wenn nicht von Waldenfels bestellt. Ihm folgte im verschlossen bleiben müssten. Mag eine Der Europa-Artikel 23 GG mit sei- eine Bedeutungsumkehr erfahren hat, Kabinett Streibl II 1990 Staatsminister solche oral history die Anmutung nur nen heute acht Absätzen war damals, wird noch zu erläutern sein. Dr. Thomas Goppel. Ab 25.02.1994 einer Anekdote erzeugen – tatsächlich 1992, aus Sicht der deutschen Länder „Europäische Politik ist länderblind“ fungierte aus Gründen einer Kabinetts- belegen Ereignis 1 und Ereignis 2 ein ein notwendiger und ein gelungener – so lautet ein weiterer Satz von sugges- umbildung Ministerpräsident Edmund politisch-historisches Phänomen und Kompensationsakt dafür, dass ihnen tiver Aussagekraft aus den Anfängen Stoiber selbst in Europaangelegenheiten zum anderen einen politisch-systemati- durch lange Jahre hindurch eigene der Europäischen Verträge, damals – in dieser Zeit geriet also das Dossier schen Quantensprung. Kompetenzen sowohl vom Bund als noch Europäische Wirtschaftsgemein- Europa in Bayern im Wortsinn zur auch von „Europa“ zentripetal wegge- schaft genannt. Dieser Satz diagnosti- Chefsache, war angesiedelt beim Inha- III. nommen worden waren. Die Länder zierte zum einen, dass die innerstaatli- ber der Richtlinienkompetenz in eigener vermochten 1992 diesen Art. 23 GG che föderative Verfasstheit Deutsch- Person. Erst dem Kabinett Stoiber III Der dritte Versuch einer Annäherung neu nur deshalb durchzusetzen, weil lands, also die verfassungsmäßig garan- ab Oktober 1998 gehörte Staatsminister an das Thema soll anhand ausgewählter Bundeskanzler Helmut Kohl, noch da- tierte Existenz der Länder, auf der Ebe- Reinhold Bocklet, zuständig für Bundes- Schlüsselpassagen aus den geltenden zu in der historischen Situation der ne „Brüssel“, wie kürzelhaft formuliert und Europaangelegenheiten – und hier Dokumenten selbst, der Rechtslage also

zur debatte 6/2013 43 Die Referenten diskutierten im An- lein, Ministerialdirigentin Edeltraud schluss an ihre Vorträge unter der Böhm-Amtmann und Professor Roland Leitung von Professor Hans-Michael Sturm (v.l.n.r.). Körner (2.v.r.): Professor Mark Häber-

in Land, Bund und Europäischer Union aussetzungen. Europa, „das föderativen Angelegenheiten der Europäischen Dr. Theo Waigel, ebenfalls CSU. Lassen vonstatten gehen. Grundsätzen und dem Grundsatz der Union wirken der Bundestag und durch Sie mich hinzufügen, mehr als Quelle Subsidiarität verpflichtet ist“, „die den Bundesrat die Länder mit“. denn als Zeitzeugin, dass das erste III-1 Verfassung des Freistaates Eigenständigkeit wahrend“ und „deren Sie hören und lesen richtig, der Euro- Modellkonstrukt für die Absätze 4 bis 7 Bayern Mitwirkung an europäischen Entschei- pa-Artikel 23 weist eine doppelte Ziel- des Art. 23 längst vorher im Auftrag der dungen sichernd“. Kurz: Das nach den marke auf, im Kontrast zum Europa- unionsregierten Länder in der Bayeri- Am 8. Februar 1998 votierten auf der politischen Selbstbekundungen gewoll- Artikel der Bayerischen Verfassung, schen Staatskanzlei konzipiert worden Basis dreier Volksentscheide 75 % der te eigentliche Staatsziel stipuliert nicht nämlich die „Verwirklichung“ eines war, nämlich im Rahmen einer „Verein- Wähler für den von CSU, SPD und der Hauptsatz, sondern der Neben- Vereinten Europa und die „Entwick- barung zwischen Bundesregierung und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam satz. lung“ der Europäischen Union, letztere Regierungen der Länder über die Be- getragenen Gesetzentwurf des Bayeri- Dieser Nebensatz ist geradezu der wiederum, insoweit der Bayerischen teiligung des Bundesrates und der schen Landtags. Auf dieser Grundlage Code für das Thema „Bayern im Pro- Verfassung ähnlich, qualitativ konditio- Länder in Ausführung von Art. 2 des wurde folgender Art. 3a in die Bayeri- zess der europäischen Integration“: das niert. Die verfassungsrechtliche Lite- Gesetzes vom 19. Dezember 1986 zur sche Verfassung eingefügt: Bewusstsein der Eigenstaatlichkeit, der ratur zu dieser „der Weg ist das Ziel- Einheitlichen Europäischen Akte vom „Bayern bekennt sich zu einem ge- historische Rang eines europäischen Konstruktion“ ist, nennen wir es, um- 28.02.1986“. einten Europa, das demokratischen, Akteurs, das moderne Selbstverständnis fangreich und kontrovers. Aus der Nach Art. 23 Abs. 2 des Grundge- rechtsstaatlichen, sozialen und föderati- eines global player – und eben die Ver- Ihnen geschilderten Interessen- und setzes wirken in Angelegenheiten der ven Grundsätzen sowie dem Grundsatz lustangst. Nicht als eine Ironie der Ge- Drucksituation um 1992 war die poli- Europäischen Union also zum einen der der Subsidiarität verpflichtet ist, die schichte, sondern als Schwund des ge- tische und war die redaktionelle Leis- Bundestag und durch den Bundesrat die Eigenständigkeit der Regionen wahrt schichtlichen Gedächtnisses wird in tung bis zur Entstehung des Art. 23 GG Länder mit. Der Bundesrat besteht ge- und deren Mitwirkung an europäischen Bayern gesehen, dass nach der Kapitu- neu und bis hin zur Findung der ver- mäß Art. 51 Abs. 1 GG aus Mitgliedern Entscheidungen sichert. Bayern arbeitet lation Deutschlands ja nicht zuletzt die fassungsändernden Mehrheiten ge- der Regierungen der Länder, keines- mit anderen europäischen Regionen alliierten Siegermächte auf eine föde- waltig. Aber bereits damals gab es, jen- wegs also sind die Länderparlamente zusammen“. rative Neuordnung Deutschlands dräng- seits der einleitend erwähnten maliziö- zur Mitwirkung berufen. Wir sprechen Ein Impetus, in die Bayerische Ver- ten, um eine Wiederholung des Desas- sen Pressekommentare, verfassungs- also von einem rein exekutivischen fassung eine sog. Europa-Klausel auf- ters Drittes Reich auszuschließen, die rechtlich wie verfassungspolitisch ernst- Modell und, hier liegt wohl die Wurzel zunehmen, war bereits Mitte der neun- europäischen Signatare aber das „Euro- hafte und bedenkenvolle Stimmen, ob für die angesprochene Mutation, das ziger Jahre des vergangenen Jahrhun- päische Haus“ dessen ungeachtet wie- nicht Art. 23 neu eines Tages in einer groß angelegte Missverständnis, das der derts laut geworden. Die Initiative ging derum ausschließlich als aus den Natio- Sackgasse enden werde. Ich zitiere Prof. Satz „Europapolitik ist Innenpolitik“ im prioritär von der SPD-Fraktion im nalstaaten gefügt betrachten. Rüdiger Breuer in der „Neue(n) Zeit- Laufe der Jahre erfahren hat. Das parla- Bayerischen Landtag aus und richtete schrift für Verwaltungsrecht“ vom mentarische System der Mitwirkungs- sich auf eine Förderung der europäi- III-2 Grundgesetz für die 16. Mai 1994: „Mit dem neuen Europa- rechte des Deutschen Bundestags und schen Einigung als bayerisches Staats- Bundesrepublik Deutschland Artikel scheinen die Weichen auch für das System der Exekutiven auf Länder- ziel und als bayerische Daueraufgabe. die Zukunft gestellt zu sein. In Wahr- ebene treffen in hoch komplexen, zeit- War Art. 3a BV neu also schon gar kei- Der in anderem Zusammenhang heit vermag diese Verfassungsnorm das lich nur mit Mühe steuerbaren, mit ne solitär gezielte Initiative, sondern bereits vorgestellte Art. 23 GG weist in staatsrechtliche Dilemma einer ebenso den Abläufen auf europäischer Ebene Bestandteil eines ganzen Pakets von seinem Abs. 1 einen signifikant anderen offenen wie offensiven Europapolitik schwer synchronisierbaren Verfahren Staatszielen, so fällt doch auf, dass die Duktus auf: nicht zu lösen“. aufeinander und geraten so in die sog. ser Wortlaut des Art. 3a auf das Be- „Zur Verwirklichung eines vereinten Konstruktive wissenschaftliche Kritik „Politikfalle“. kenntnis zu einem „geeinten“ Europa Europas wirkt die Bundesrepublik war damals, in der denkbar angespann- abstellt, so als läge ein solches Europa Deutschland bei der Entwicklung der testen politischen Situation aber nicht III-3 Vertrag über die Europäische als fait accompli, als bereits vollendet Europäischen Union mit“. Nun folgen erwünscht, am wenigsten natürlich von Union vor. Von einer reservatio mentalis, von wiederum Konditionierungen: Beamtenseite. Es kam hinzu, dass einer- einem gedanklichen Vorbehalt gegen- „(…) die demokratischen, rechts- seits als maßgebliches Mitglied in der Vielleicht ist der Ihnen vorliegende über einem Staatsziel ohne klare Ziel- staatlichen, sozialen und föderativen Verfassungsreformkommission der da- Auszug Ihre erste Begegnung mit dem marke könnte demnach die Rede sein. Grundsätzen und dem Grundsatz der malige Staatsminister des Innern und geltenden „Vertrag über die Europäische Dieses qua Verfassungspathos also Subsidiarität verpflichtet ist. Der Bund damit zuständige Verfassungsminister Union“, populär genannt Vertrag von bereits „geeinte Europa“ scheint dann kann hierzu durch Gesetz mit Zustim- Dr. Stoiber, CSU, wirkte und, um die Lissabon, in der offiziellen Fassung des geradezu weiter konditioniert durch mung des Bundesrats Hoheitsrechte Gemengelage vollends zu komplizieren, Amtsblattes der Europäischen Union. einen enumerativen Katalog von Vor- übertragen“. Abs. 2 Satz 1 lautet: „In als Bundesfinanzminister der Bayer Auch kritische, politikbewusste Bürger,

44 zur debatte 6/2013 ja selbst verantwortliche Mandatsträger neigen dazu, Präambeltexte als verzicht- baren „hohen Ton“ vor der eigentlichen Regelungsmaterie zu überblättern. Eine begnadet spitze Zunge hat sie einmal mit der Wortschöpfung „präambulös“, also dem Nebulösen nahe, belegt. Für europäische Dokumente kann sich ein derartig lässiger Umgang mit der Lek- türe der Präambel als verhängnisvoll herausstellen: Europäische Präambeln fabulieren nicht (nur), sie stipulieren (auch). Erhöhte Aufmerksamkeit, ja Vorsicht ist geboten bei Begriffen, die mit der heimischen, der nationalstaatli- chen Nomenklatur identisch zu sein scheinen. Der erste Leitsatz der in diesem Sinne ernst genommenen Präambel des Ver- trags bekundet die Entschlossenheit der Signatare, den „Prozess der europäi- schen Integration auf eine neue Stufe zu heben“. Eben diesen zentralen Schlüs- selbegriff „Prozess der europäischen Integration“ habe ich als Titel dieses Vortrags gewählt: „Bayern im Prozess der europäischen Integration“. Vom „Vorantreiben“ der europäischen Inte- gration ist zu lesen. Der Vertrag stelle eine „neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar“. Die europarechtliche Literatur spricht insoweit von den Evolutiv- oder Dyna- misierungsklauseln, kurz von der Fina- lität in den Dokumenten zur Europäi- schen Einigung, die begleitend ständig neue Kompetenzen der Union generie- ren. Methodische Verwandtschaft weist die durchlaufende Programmatik der „gemeinsamen Ziele“ der EU auf. Die- ser Terminus findet sich auf jeder Seite mindestens einmal, wenn auch jeweils konterkariert vom „Grundsatz der Ein- zelermächtigung“. Demgegenüber scheint der Text ge- radezu durchdrungen zu sein vom Grundsatz der Subsidiarität (in vier Absätzen viermal seine Benennung). Legaldefinitionen, wie der deutsche Jurist das nennt. Die Begriffe sowohl der Subsidiarität als auch der Integra- tion dagegen fehlen vollständig. In Summe: Das wording des Textes weist an sich in beruhigender Dichte Begriffe auf, die Kern der politischen Postulate der deutschen Länder, allen voran mit Sicherheit des Freistaates Bayern, von jeher – und immer noch – gewesen waren und sind. Das Alphawort schlechthin ist „Sub- sidiarität“. Die Passage in Art. 4 Abs.2, die Union achte die „jeweilige nationale Foto: Bayerische Staatskanzlei Identität der Mitgliedstaaten, die in Die Bayerische Vertretung in Brüssel, ihren grundlegenden politischen und das „Institut Pasteur“, liegt im Herzen verfassungsmäßigen Strukturen ein- der belgischen Hauptstadt und somit schließlich der regionalen und loka- im Zentrum der dortigen europäischen len Selbstverwaltung zum Ausdruck Institutionen. kommt“, scheint die Magna Charta für die deutschen Länder zu sein, nach langen, hartnäckig, von Bayern gerade- zu paradigmatisch verfolgten Attacken „in Brüssel“ direkt und unter weitest- möglicher Auslotung geeigneter Druck- situationen gegenüber der jeweiligen Erwartung dahin geht, dass Begriffe und eines Europäers“, erschienen 2004, aus: Stärke eben dieses Kommissionspräsi- Bundesregierung. Fakten einigermaßen kongruent sind. „Was bedeutet Subsidiarität? Sie besteht denten das beherrschende war, fasste Wird sich die Referentin nun, vor Es wurde bereits darauf hingewiesen, aus zwei Prinzipien, deren erstes häufig der Europäische Rat in Edinburgh im einem Resumée, an dieser Stelle in dass der im Vertrag über die Europäi- allein erwähnt wird und sicherlich das Dezember 1992 im sog. Subsidiaritäts- einen Widerspruch hineinmanövrieren: sche Union iterativ bemühte Begriff der wichtigste ist: Über die Probleme, die protokoll wie folgt zusammen: die Präambel einerseits als verbindliche „Integration“ nicht erläutert ist. Aus- die Bürger betreffen, so nah wie mög- „Die Subsidiarität ist ein dynami- Willensbekundung zu vermitteln, ande- gerechnet er, ich weiß nicht welcher lich an den Bürgern selbst die Entschei- scher Grundsatz, der im Lichte der rerseits aber deren Verlässlichkeit im Terminus öfter gebraucht wird, ist nicht dungen fällen“. Und dann gelangt Vertragsziele (sic) angewandt werden Interesse der sog. dritten Ebene, der dem Europa- oder Völkerrecht entlehnt, Delors übergangslos zum entscheiden- sollte. Sie gestattet eine Ausweitung der Länder, in Frage zu stellen? sondern entstammt der Soziologie und den Januskopf des Subsidiaritätsprin- Tätigkeit der Gemeinschaft, wenn die Das wird nicht der Fall sein. Wer wurde vor langer Zeit von dem Schwei- zips seines Verständnisses. Umstände der Gemeinschaft es ver- noch erzogen wurde in den Disziplinen zer Staatsrechtler Rudolf Smend in die Wieder im Wortlaut: „Umgekehrt je- langen, und umgekehrt auch deren der Rechtsvergleichung und der Kompa- Allgemeine Staatslehre eingebracht. des mal (sic), wenn eine gemeinschaft- Beschränkung, wenn sie nicht mehr ratistik der Regierungssysteme, dessen Zum Begriff „Subsidiarität“ führt un- liche Handlungsweise unverzichtbar gerechtfertigt ist“. Anliegen und dessen Pflicht ist es, auf nachahmlich Jacques Delors, Präsident erscheint (sic) und einen Mehrwert im Das ist das Gegenteil zur Haltung wesensmäßig unterschiedliche, ja unver- der Europäischen Kommission von Vergleich zu den nationalen Handlungs- Bayerns mit seinem statisch kompetenz- einbare, unversöhnliche Methodiken 1985 bis 1995, vom deutschen Außen- weisen mit sich bringt, wird das Subsidi- beschränkenden Verständnis von Sub- hinzuweisen. Begrifflichkeiten, Synony- minister Dietrich Genscher „Präsident aritätsprinzip in umgekehrter Richtung sidiarität. men ausschließlich die eigene Deutung der Präsidenten“ genannt, im Kapitel angewandt“. Dieses Delors’sche Kon- In dieser Beleuchtung relativiert und Instrumentierbarkeit zuzuschreiben, „Die Offensive zugunsten der Sub- zept, Effektivitätsklausel genannt, das sich freilich auch der politische Terrain- rächt sich, zumal ja strukturkonservative sidiarität“ in seinen „Erinnerungen bei der intellektuellen und politischen gewinn der Subsidiaritätsklage gem.

zur debatte 6/2013 45 Art. 23 Abs. 1a GG, seinerzeit innen- Zu bauen ist, um es konstruktiv zu politisch gefeiert als europa- wie formulieren, nun unabweisbar an der Gibt es eine bayerische Kunst? unionspolitischer Erfolg par excellence, Fortentwicklung, an einer Innovation vor allem von und an Bayern gerühmt. des methodischen Selbstverständnisses Reflexionen zwischen Skepsis und Stolz Und was, schlussendlich, hat es mit des Freistaates Bayern als Akteur im dem Konzept der Zieledynamik auf europäischen Mehrebenensystem. Das Reinhold Baumstark sich, das der Freistaat Bayern durch die hat eine Bewegung aus eigener Kraft langen Jahre hindurch mit der Forde- zur Voraussetzung, heraus aus einem rung von Kompetenzkatalogen und System, das Analytiker längst als dem Grundsatz der Einzelermächtigung „Gefangenendilemma“ erkannt haben. zu „zähmen“ versuchte? Das Wort, der Die Europäische Union lässt heute Begriff „Einzelermächtigung“ kommt Regeln des Völkerrechts wie die clau- u. a. in der Präambel vor, wir haben uns sula rebus sic stantibus außer Betracht Ein doppelter Widerspruch: Eine überzeugt – aber nun die Magna Charta und erklärt stattdessen die Unumkehr- Frage kontrastiert mit Reflexionen, der sog. Finalität der Europäischen Ver- barkeit ihrer Beschlüsse, die europäi- Stolz steht unvermittelt neben Skepsis, träge, und zwar aus dem Gedankenge- schen Mitgliedstaaten greifen auf Ins- und eine dritte Polarität zieht unweiger- bäude des Deutschen , trumente des Privatrechts und des völ- lich herauf: ein staatliches Gebilde und des ersten Präsidenten der Europäi- kerrechtlichen Vertragsrechts zurück, die Früchte der Genialität, Bayern und schen Kommission, der sich als Hege- um etwa eine europäische Finanzstabili- die Kunst. Es gibt neben bohrenden lianer verstand: als Fundstelle zitiere sierungsfazilität EFSF und einen euro- Wissensfragen natürlich auch Fragen, ich nicht seine Memoiren, sondern päischen Stabilisierungsmechanismus die man höflicherweise nicht stellt, einen Sonderbeitrag in einer Jubiläums- ESM zu installieren. Die Rolle des dann gibt es rhetorische Fragen, schließ- ausgabe von Meyers Enzyklopädischem Deutschen Bundestages und des Euro- lich, was Historiker feinsinnig zu um- Lexikon: „Das Originelle an den Be- päischen Parlaments schwächen die schreiben wissen: des questions mal mühungen seit dem Ende des Zweiten Akteure dadurch wesentlich, von der posée. Weltkriegs, Europa zu einigen, ist nicht Rolle des Bundesrates, aktuell ohne Aber warum ist die Frage nach der das Ziel, einen europäischen Staat zu Regierungsmehrheit, ganz zu schwei- bayerischen Kunst schlecht gestellt? errichten, vielmehr war es der Ent- gen. Das Bundesverfassungsgericht wird War nicht seit der Aufklärung der Ge- schluss, dies nicht auf einmal zu tun. aus institutionellen, aus verfassungs- danke des Nationalcharakters aufge- (…) Man musste das eigene Tun so rechtlichen wie aus verfassungspoliti- kommen, dann weitergereicht und sub- einrichten, dass man ein Gefälle auf die schen Gründen an die Grenzen des ihm limiert worden, von der natura delle politische Einheit hin schuf und stän- Möglichen gebracht. Ein System, das in nazioni des Giambattista Vico 1725, dig vermehrte. Die europäische Politik seinen Wurzeln dem Ende des 19. Jahr- über Montesquieus L’esprit des lois musste in Bewegung, sie musste dyna- hunderts entstammt, hat sich offensicht- 1748, und die National Characters des misch angelegt sein. Der Prozess selbst lich erschöpft. Im Wortsinn um des David Hume aus dem gleichen Jahr bis ist eine einzigartige Verbindung von Friedens willen wird man das Europä- zum L’esprit des nations von Voltaire Außen- und Innenpolitik. Und: Letzt- ische Haus ertüchtigen müssen. 1756. Im Deutschen hatte Hegel 1793 Prof. Dr. Reinhold Baumstark, General- lich kommt in diesem pragmatisch- Und eine neue Rolle Bayerns im Pro- erstmals das Wort vom „Volksgeist“ ge- direktor a. D. der Bayerischen Staats- dynamischen System alles darauf an, die zess der Europäischen Integration? braucht, hatte Schiller in der Schaubüh- gemäldesammlungen, Honorarprofes- unaufhörlichen objektiven Herausforde- Wenig wegweisend ist wohl die Frage ne den „Nationalgeist eines Volkes“ ge- sor für Kunstgeschichte an der LMU rungen so zu organisieren, dass die Ant- des Generalsekretärs der CSU Alexan- feiert, und es war vor allem Herder, der München worten i. S. eines ununterbrochenen der Dobrindt: „Wann endet die Finali- Wesen und Charakter eines Volkes als europäischen Fortschritts ausfallen. Die tät?“ Pläne der Fraktionen im Bayeri- den Gleichklang innerer Werte bezeich- schöpferischste organisatorische Leis- schen Landtag, die Staatsregierung in net hatte, und die Vorstellung von den tung des Integrationskonzepts ist die Europaangelegenheiten im Wege der Seelen der Völker in den Begriff vom auf dem Territorium des heutigen Bay- Europäische Kommission: sie ist der Gesetzgebung an Beschlüsse eben des „Nationalcharakter“ transplantierte. Auf ern entstand. Er war Nürnberger und Motor der europäischen Einigung, bei Landtags zurückzubinden, dürften, von diesen Fundamenten konnte dann das empfand sich damit kaum als fränkisch, ihr liegt das Initiativrecht“. Fragen ihrer Verfassungsmäßigkeit 19. Jahrhundert ganze Gebäude des war vielmehr kaiserlich reichsfrei. Spät abgesehen, den gordischen Knoten Nationalstolzes, auch der Überheblich- in seinem Leben wird er sich dann einer vollends verdichten, aber keinesfalls keit errichten, zum Teil mit fatalen Fol- ganz anders zu definierenden Heimat Die europäische Politik lösen. gen. Während der schwärzesten zwölf zugehörig gefühlt haben, dem lutheri- Der große alte Herr von gleicher- Jahre deutscher Geschichte mutierte der schen Bekenntnis, schließlich hat er musste in Bewegung, sie maßen bayerischem wie europäischem Gedanke des „Völkischen“, des „deut- sich zeit seines Lebens wohl immer als musste dynamisch angelegt Rang, der schon genannte frühere schen Blutes und Bodens“ dann zu alp- ein Europäer verstanden, gleich ange- Kommissar und Staatsminister Peter traumhafter Perversion. sehen in Venedig und Antwerpen eben- sein. Schmidhuber, hat erst kürzlich in einem Die Kunstgeschichte hat seit dem 19. so wie in Wien und Nürnberg. Ähnli- Oberseminar des Instituts für Bayeri- Jahrhundert die Vorstellung von den ches wäre über einen Tilman Riemen- sche Geschichte an der LMU fast bei- nationalen Idealen auf ihr eigenes Feld schneider und einen Veit Stoß zu sagen, Wiederum: Das ist nicht systemkom- läufig das Modell eines europäischen übertragen, nationale Identitäten einzel- dann über einen Elias Holl und einen patibel mit der offensiven Haltung des Mehrebenensystems, eines Global ner Schulen von einander zu sezieren Balthasar Neumann. Wohin führt also Freistaats Bayern und seinem Mantra Governance System, erwähnt, als mög- gewusst, den Kunstlandschaften ihre diese question mal posée? Im Folgen- der Einzelermächtigung. Den Erfolg lichen Ansatz, die Selbstblockade zu Aufmerksamkeit geschenkt. Und sie tut den werden auf dem Weg hin zur Frage jahrelanger politischer Intervention lösen. Das Modell, in einem leider nicht dies auch heute noch, wenn auch be- nach der bayerischen Kunst drei Vig- Bayerns sieht man wohl – die europäi- besonders gelungenen Weißbuch der scheidener geworden, nicht nur geläu- netten gezeichnet, wobei Objekte aus schen Vertragstexte sind semantisch Europäischen Kommission bereits vor- tert nach den nationalsozialistischen München gewählt wurden, um nicht in gesäumt vom wording „Einzelermächti- gestellt, ist vor Jahren von der Bayeri- Exzessen, sondern angesichts der Tat- Gefahr zu geraten, Schwaben oder gung“. Dem Grunde nach aber zählt das schen Vertretung in Brüssel in einem sache, dass kaum ein Bereich der Franken dann doch in weiß-blauen perpetuum mobile „Finalität“ zu den Pilotprojekt getestet worden. Es würde menschlichen Tätigkeit derart grenz- Farben gekleidet erscheinen zu lassen. alternativlos unumkehrbaren Modellen in der Tat, in Ergänzung zum nachfol- übergreifende, völkerverbindende, gera- auch dieser Gegenwart. genden innerstaatlich legitimierenden dezu supranationale Kräfte entwickelt Das Antiquarium Bundesratsverfahren, einen vorgelager- hat, wie die Kunst. Ist daher die Frage IV. ten, inhaltgestaltenden Part für die Ver- nach der bayerischen Kunst dann doch Das Geviert der Münchner Residenz tretung des Freistaates Bayern bei der nicht falsch gestellt? umspannt ein gewaltiges Areal, einen Natürlich wären Ausführungen zum EU ermöglichen. Für eine solche Rolle Ein derartiger Vorstoß scheint vor der größten Schlosskomplexe Europas. Ausschuss der Regionen und zur Baye- ist das vom damaligen Europaminister allem deshalb kaum sinnstiftend, weil Inmitten der Mauern von Trakten, Flü- rischen Vertretung in Brüssel im Kon- Bocklet durchgesetzte Haus samt pro- sich der topographische Begriff „Bay- geln und Gängen, umstellt von Höfen, text der Subsidiaritätsdoktrin veranlasst. fessionalisiertem Personal geradezu ern“ in eine kunsthistorische Analyse eingebunden in die sich ineinander ver- Beide Institute sind wesentlich Hervor- prädestiniert. kaum integrieren lässt. Meint man das schlingende Nachbarschaft von Kapel- bringungen bayerischer Subsidiaritäts- Damit bin ich zum Ausgangspunkt heutige Territorium des Freistaats, der len, einer Kirche, von zwei Theatern, politik, wenngleich unterschiedlich zurückgekehrt: Man hat schon einmal sich – wie seine Verfassung eigens ver- darüber hinaus am Ort wichtigster Ent- glückhaft. ein Projekt vergeblich „Neuwahnstein“ merkt – als. Kulturstaat versteht, so scheidung der Politik wie des kulturel- Die Installation des ersten Bayern- genannt. Zum „Großen Welttheater“ vermengen sich unterschiedliche Kul- len Lebens im Herzogtum, dann Kur- Büros in Brüssel gegen den schon er- „Der Seidene Schuh“ von Paul Claudel turlandschaften mit deren jeweils eigen- fürstentum, schließlich des Königreiches bitterten Widerstand auf Bundesebene, in der Inszenierung von Fritz Kortner ständigen historischen Verläufen. Bayern – also von 1508 bis 1918, an hier ist der nachmalige Kommissar in vor mehr als einem halben Jahrhundert Schwaben und Franken beharren stolz diesem für die Geschichte Bayerns ein- drei Kabinetten Delors, der vormalige – genauso alt sind die Europäischen auf ihrer jeweiligen Tradition, klar un- zigartigen Erinnerungsort ist der frühes- Staatsminister Peter Schmidhuber, zu Verträge, gerechnet ab Rom – schrieb terschieden von der des alten Bayern. te, bis heute erhaltene Baukörper nur nennen sowie der Ankauf und die Regie der Kritiker der SZ: „Man müsste über Erst mit dem frühen 19. Jahrhundert mehr schwer aufzuspüren. Sein Äußeres des Anwesens Institut Pasteur, als Be- dieses Werk alles sagen oder man müss- kann von einer gesamtbayerischen verheißt inmitten der übrigen Bauten standteil des Brüsseler patrimoine von te schweigen“. Kunst gesprochen werden, wie sinnvoll nichts ungewöhnliches, und erst dem hohem Prestige, durch Staatsminister Sehen sie mir bitte nach, dass ich zu das auch immer sein mag. Zuvor er- Eintretenden erschließt sich ein gewal- Reinhold Bocklet – beides waren Bayern und Europa weder das eine weist sich ein solcher Begriff als nutzlos. tiges, kaum je zu vergessendes Bild. Das Geniestreiche, die Konstruktion des noch das andere getan und damit gegen Ist Dürer ein bayerischer Künstler? Antiquarium ruht in sich, es ist der In- Ausschusses der Regionen nicht unbe- die Regeln (jedenfalls dieses Kritikers) Dies zu behaupten wäre absurd, auch begriff gebauter Würde und Wucht. dingt in gleicher Weise. verstoßen habe. „ wenn nahezu das gesamte Werk Dürers Eine mächtige Tonne wölbt sich über

46 zur debatte 6/2013 Foto: akg-images Das Antiquarium der Münchner Resi- bauen, um dort seine Kunstsammlung denz: Herzog Albrecht V. ließ den gro- unterzubringen. ßen Saal in den Jahren 1569 bis 1571

dem Raum und zieht Blicke wie Schrit- Antiquarium begonnen und während die Sammlung bergenden Gebäudes. gebändigten Linienspiel verspannen te des Besuchers in die Tiefe. Dass es nur dreier Jahre fertig gestellt, damals Angesichts der technischen wie künst- und versteifen seine aus den Wandpfei- sich hierbei um eine kühne Gewölbe- als ein völlig freistehender, langge- lerischen Leistung dieses Bauwerks lern aufsteigenden Rippen das sphäri- konstruktion handelt, die Spannweite streckter Bau auf weitem, unbebauten wird man nach den Wurzeln einer sol- sche Gebilde der Decke. Anders und Traglast bis an die Grenzen des Grund vor der Neuveste gelegen, der chen Raumgestalt, nach den Vorbildern dagegen der Bau in München: In Ruhe technisch Vertretbaren stoßen lässt, damaligen Residenz. Im Obergeschoss der für Herzog Albrecht V. gefundenen und Gleichmaß, mit der Schlüssigkeit wird unmittelbar erfahrbar. Die Tonne nahm der Bau die kostbare Bibliothek Lösung fragen. Und staunend wird man einer ungekünstelten Bauform erhebt ruht auf kräftigen Wandpfeilern, deren des Herzogs auf, und mit diesem Ins- feststellen, dass es keine derartige Vor- sich die Tonne über dem Raum und Stützfunktion durch das zwischen trumentarium des Wissens und der lage gab, dass keine Leitbilder existier- umschließt ihn mit geradezu römischer ihnen einbrechende Licht scharf model- Gelehrsamkeit korrespondierte der ten, aus denen Bauherr, Berater wie aus- Wucht. liert wird. Das Bild von Tragen und Inhalt des monumentalen, tonnenge- führende Architekten hätten schöpfen Lasten, der unerhörte Zug zur Tiefen- wölbte Saales im Erdgeschoss. Dort war können. Das Antiquarium in München staffelung und die geradezu majestäti- ein ungewöhnlich umfangreicher Be- erweist sich als Pioniertat der Architek- Das Antiquarium in Mün- sche Weiträumigkeit des Antiquarium, stand an antiken Skulpturen aufgestellt turgeschichte, als bahnbrechender Wurf, all dies trägt zum Erlebnis der wohl und der damals größten Antikensamm- als architektonischer Geniestreich, wie chen erweist sich als Pio- erstaunlichsten Gipfelleistung der deut- lung nördlich der Alpen ein Schatzhaus dies selten so voraussetzungslos gelingt. niertat der Architekturge- schen Renaissance-Architektur bei. bereitet. Albrecht V. hatte das für ihn Vergleicht man die Münchner Lösung Bauherr des Antiquariums war Her- neue Sammelgebiet mit Leidenschaft, mit dem einzigen ihr zur Erbauungszeit schichte, als bahnbrechender zog Albrecht V. von Bayern, ab 1550 großer Geste und in kürzester Zeit er- von den Dimensionen her ebenbürtigen Wurf, als architektonischer der erste, allein und souverän von Mün- schlossen, mehr als 600 Skulpturen Bauwerk, dem Wladislaw-Saal der Pra- chen aus regierende Landesherr Bayerns. konnte er sein eigen nennen, darunter ger Burg, so steht die Besonderheit der Geniestreich, wie dies sel- Zugleich ist er auch der Erste seines vor allem römische Büsten, aber auch für Herzog Albrecht entwickelten ten so voraussetzungslos Hauses, der die Tradition des Sam- Statuen, Reliefs und nicht weniger als Raumgestalt deutlich vor Augen. Der melns, der Kunstpflege, des Bauens um 140 Bronzen. Alles dies hatte den Her- von 1493 bis 1502 – und damit nahezu gelingt. der Repräsentation willen, des Ausspie- zog die exorbitante Summe von 27.000 siebzig Jahre vor dem Antiquarium – für lens emotionaler Kräfte der Musik als Gulden gekostet, doch der eigentliche den böhmischen König Wladislaw II. das eigentliche Feld der Reputation Preis für ein so schnelles Wachstum lag auf dem Hradschin errichtete Saal ver- Damit ist das Stichwort gefallen zum erkannt hatte und nutzte. Noch vor nicht in der zu entrichtenden Kaufsum- fügt nahezu über die gleichen Abmes- tieferen Verständnis der Baugestalt des dem Antiquarium hatte Albrecht V. im me: Hauptwerke der antiken Bildhauer- sungen, die Innenhöhe beider Räume ist Antiquariums: Denn vor allem in Rom, Jahr 1563 mit der Errichtung eines eige- kunst blieben in Italien, und keine der identisch. Doch die Vergleichbarkeit in der antiken Baukunst finden sich nen Gebäudes für seine Kunstkammer auch heute noch berühmten Statuen endet bei der Herausforderung, die sich Parallelen zur Wölbeform der raum- begonnen und damit den Künsten einen der Alten gelangte damals nach Mün- durch das Wagnis des Überspannens überspannenden Tonne. Die Ruinen der von der Hofhaltung seiner Residenz chen. Was der Herzog in so großen einer derartigen Raumbreite ergab. Der Konstantins-Basilika auf dem Forum herausgelösten Ort geschaffen, einen Mengen erwarb, war – zumindest nach Architekt in Prag, der wohl aus Passau Romanum atmen trotz Fragmentierung architektonischen Schrein für die Kost- heutigem Begriff – von meist mittel- stammende Benedikt Ried, sicherte und Zerfall noch immer die Größe barkeiten seiner Sammlung. mäßiger Qualität. das Unterfangen durch den Rückgriff Roms. Künstler aller Zeiten haben stau- Drei Jahre nach Vollendung des Umso großartiger erweisen sich da- auf die Statik gotischer Rippenwöl- nend vor diesem Riesenbau gestanden. Kunstkammergebäudes wurde 1568 das gegen Planung und Verwirklichung des bung: In verschlungenem, rhythmisch Und diese staunende Bewunderung mag

zur debatte 6/2013 47 in München zur Entscheidung beigetra- damit sich und sein Werk für immer in kammer, schließlich der Retirade für Form, selbst die Schönheit unterstellt gen haben, die Stätte des Bewahrens die Geschichte einschrieb. den Leibstuhl der Kurfürstin. Damit ist sich der Vernunft. In München entsteht antiker Spolien mit einer Wölbung zu eine Scheidelinie gezogen zwischen aus diesem aufgeklärten Vokabular eine umfangen, die römischen Geist und Die Amalienburg dienendem Nutzen und der Forderung wuchernde, überbordende Sinnlichkeit, imperiales Wesen wie kaum eine andere nach Zweckmäßigkeit auf der einen zwar auch hier getragen von einer un- Bauform auszudrücken versteht. Die Derjenige, der von Nymphenburg Seite und der architektonischen terlegten Ordnung, doch diese immer Entscheidung für die architektonische kommend den Pfaden durch den Fassung des höfischen Lebens in wieder übertanzend, die Freiheit mit Gestalt des Antiquariums – so voraus- Schlosspark folgt, wird bald vor ein Unbeschwertheit und Ungestörtheit auf dem Spiel der Fantasie auskostend. Der setzungslos sie innerhalb der zeitge- kleines Bauwerk von delikater Schön- der anderen. Und so löste Cuvilliés ein damit bewirkte Zauber der Amalien- nössischen Baukunst auch war – diese heit und ungewöhnlicher Noblesse der weiteres Ideal der neuen französischen burg – so wie Cuvilliés das Ornament Entscheidung barg in sich die Erkennt- Architektur treten, die Amalienburg. Architekturlehre ein, die Forderung ins Werk gesetzt hat – ist in Frankreich nis, dass den überkommenen antiken Dieses Wunderwerk im Park von Nym- nach der commodité, nach der Bewohn- kaum gesucht, nirgendwo verwirklicht Skulpturen einzig angemessen die phenburg wurde von 1734 bis 1739 im barkeit und Bequemlichkeit eines Baus. worden, ja dort tatsächlich auch kaum Architektur ihrer Entstehungszeit sei. Auftrag des Kurfürsten Karl Albrecht als Ein drittes Leitbild spannt sich dann denkbar. Vergleicht man ein Interieur Die mit so viel Enthusiasmus erworbe- ein Präsent an seine Gemahlin Maria über die gesamte Amalienburg, das der der Amalienburg mit dem im gleichen ne Antikensammlung Albrechts V., die Antonia, eine Kaisertochter aus Wien, convenance, des Zusammenklingens Jahr entstandenen Cabinet intérieur du erste ihrer Art nördlich der Alpen, er- errichtet und hatte ursprünglich den aller praktischen und ästhetischen Roi in Versailles, gibt sich zudem eine hielt damit ein römisch gesinntes Kleid: Freuden der Jagd und der damit ver- Qualitäten zu sich umschlingender, weitere Eigenart des Münchner Werks Es ist dies eine Leistung – nicht in bundenen höfischen Geselligkeit zu organisch wachsender Harmonie. Jedes zu erkennen: sein die Augen betörendes Italien, nicht an den Zentren in Wien, dienen. Bauteil, jede Baufunktion nimmt einen Kolorit. Gegenüber dem Klang von Paris oder Prag verwirklicht –, die dem Doch wir dürfen mit der Amalien- ihm originär zukommenden Platz ein, Gold auf Weiß, kanonisch für das ge- Hof in München und damit dem Kunst- burg nicht allein die Kulisse einer uns selbst Dekor und Baugestalt verschmel- samte 18. Jahrhundert in Frankreich, patronat der Wittelsbacher ein heute fern gewordenen Lustbarkeit aufsuchen. zen ineinander. wirkt schon das Silber in München noch hoch zu bewunderndes Zeugnis Vielmehr gilt es, das Kunstwerk dieses Ein Blick in das Innerste der Ama- unerwartet und kühn – es verdankt sich ausstellt. kleinen Baus in seinen wahrhaft großen lienburg mag dies belegen. Der kreis- der bayerischen Jagduniform in Silber- Noch verehrungswürdiger tritt uns Dimensionen zu erfassen, und hierfür runde, auf die Abfolge von sechzehn Blau. Erst recht gilt dies für die Fassung allerdings der Bau entgegen, wenn wir ist der Blick auf die Feinheit der Archi- Takteinheiten hin nuancierte Saal über- der Wände in Strohgelb, Zartblau und tektur zu schärfen. Tritt der Besucher wältigt das Vermögen eines jeden Besu- Zitronenfarbe. Damit stoßen wir auf von Schloss Nymphenburg und damit chers, inmitten des Kreisens und Unterschiede grundsätzlicherer Art, Der Bautypus wie die ge- von Westen kommend vor den einge- Schwingens den Standort zu fixieren. lässt sich eine Scheidelinie ziehen zwi- schossigen, breit gelagerten, Pavillon- Zugleich bewirkt die dargebotene Ins- schen der französischen Raison des stalterische Feinheit dieses artigen Bau, so empfängt ihn die An- zenierung eine ungemeine Lust des Gestaltens und einer süddeutschen kleinen Lusthauses verwei- deutung einer Cour d’honneur, vermit- Schauens. Durch vier Wandsegmente Leichtigkeit im Gebrauch von Orna- telt durch das konkave Einschwingen tritt Tageslicht in den Raum, gerät zu- ment und Farbe. sen unmittelbar auf Frank- der Fassade, und diese Geste des Will- dem mit der Außenwelt der Jagdbezirk Dass wir mit der Amalienburg und reich. kommens steigert sich mit der nun ge- in den Blick, zehn Achsen weisen mit ihr im gesamten Werk des Cuvilliés genläufigen Vorwölbung des massiv wandhohe Verspiegelungen auf, die einen Sonderweg Bayerns betreten, er- ausgebildeten, von vier jonischen Pilas- das Außenlicht reflektieren, um so den fährt Bestätigung durch eine literarische seine Funktion ins Auge fassen, das Be- tern nobilitierten Portalkörpers. Derart Raum mit Helligkeit zu überfluten, aber Quelle. François Cuvilliés der Jüngere, wahren und Präsentieren antiker Kunst- geleitet, tritt der Besucher, ohne ein auch imaginäre Unendlichkeiten des der Sohn, Mitarbeiter, dann auch Nach- werke. Man muss sich vergegenwärti- Vestibül oder einen anderen Vorraum Blicks schaffen, in die sich bei nächt- folger im Amt des älteren Cuvilliés, hat- gen, dass zum Zeitpunkt der Entste- zu durchschreiten, direkt ein in das licher Kerzenbeleuchtung ein myriaden- te Entwürfe und Ornamentzeichnungen hung des Antiquariums die berühmten Herzstück der Amalienburg, den ver- haftes Funkeln mischt. Zwei weitere des Vaters zu Ende des 18. Jahrhunderts Antikensammlungen Italiens – mit spiegelten Grand Salon. Und durch Achsen werden durch die Türen der in einem Stichwerk veröffentlicht, und denen Albrecht V. keinesfalls konkur- diesen hindurch führt auch wiederum Enfilade eingenommen, auch hier mit diesem den für unsere Fragestellung rieren konnte – noch immer in Gärten der Ausgang in die Weite des Parks, Durchblicken hin zu fernen Fenstern. höchst bezeichnenden Titel Ecole Bava- und Höfen und damit unter freiem zunächst aber vor die Ostfassade der Was Cuvilliés mit diesem Festsaal ge- roise de l’Architecture verliehen. Baye- Himmel bewahrt wurden. Natürlich Amalienburg. schaffen hat, ist von feenhafter Wir- rische Architektur also, das Werk eines begünstigte die mediterrane Witterung Der Bautypus wie die gestalterische kung, weckt eine Schönheit, wie sie an Vitruve Bavarois. Haben wir damit ein eine derartige Praxis, die für München Feinheit dieses kleinen Lusthauses die verwunschene Pracht von Traum- bayerisches Kunstwerk vor uns? von vornherein auszuschließen war. verweisen unmittelbar auf Frankreich. räumen der Märchen gemahnt. Hier Und dennoch ist festzuhalten, dass erst Dort hatte nach dem Ende des lang- nun stellt sich, sobald der Blick nüch- ab den sechziger Jahren des 16. Jahr- währenden Regiments Ludwigs XIV. ein tern wird, erneut die Frage nach der Jedes Bauteil, jede Bau- hunderts auch in Italien damit begon- Umdenken stattgefunden: Statt Pracht Einlösung des französischen Ideals der funktion nimmt einen ihm nen wurde, antike Skulpturen nun der und Repräsentationsbedürfnis war für convenance: Inwieweit wurzelt auch Obhut einer schützenden Architektur die Architektur ein neues Ideal der der Dekor der Amalienburg als ein Ab- originär zukommenden anzuvertrauen. Das Antiquarium in Intimität, der Wohnlichkeit entwickelt leger im Patrimonium Frankreichs? Platz ein, selbst Dekor und München steht damit am Beginn dieser worden, und darauf bezieht sich auch Ein glücklicher Umstand vermag Entwicklung und ist zugleich deren der Architekt der Amalienburg, François diese Frage zu beantworten, denn in Baugestalt verschmelzen überwältigender Auftakt. Cuvilliés. 1720 im Alter von 24 Jahren Paris hat sich zeitgleich mit der Ama- ineinander. Und dies gilt auch für die allgemeiner als Stipendiat nach Paris geschickt, hat- lienburg ein Saal von vergleichbarer zu fassende Gestaltung eines Samm- te er dort während knapp vier Jahren Größe wie übereinstimmender Funkti- lungsraumes, für den sich der Begriff im Austausch mit älteren Meistern und on erhalten, zudem nach Entwürfen Wir müssen die Antwort vorerst noch der Galerie eingeprägt hat. Bemerkens- den angehenden bedeutenden Architek- gefertigt, von denen Cuvilliés in Mün- offen lassen, jedoch festhalten, dass es wert ist, dass der Bautypus der Galerie ten seiner Generation seine eigentliche chen Kenntnis erhalten haben dürfte. sich um ein Werk handelt, das sich auf erst von Frankreich kommend in Italien, Prägung erfahren. Es ist der ovale Salon de la Princesse, dem Fundament französischer Anregun- dem Kernland des Kunstsammelns, Fuß Die durch und durch französisch 1736 bis 1739 für das Hôtel de Soubise gen entfalten konnte, das ein Fremder, fassen konnte. Dabei sind jedoch alle geprägte Handschrift des Architekten von Germain Boffrand entworfen, dem aus Wallonien kommend, nach Mün- bekannten frühen Beispiele von Gale- Cuvilliés erweist sich nicht nur im damals in Paris führenden Architekten. chen getragen hatte. So wie im Antiqua- rien innerhalb der italienischen Palast- Außenbau der Amalienburg, sondern Wie bei der Amalienburg werden auch rium benötigte das in Bayern geschaffe- architektur später als die Pioniertat in ebenso auch in der Disposition des in Paris die Wandflächen durch eine ne Werk Geburtshelfer weit über bayeri- München. Dies gilt etwa für die „Galle- Grundrisses. Das in Frankreich als ent- Abfolge von Bogensegmenten geglie- sche Grenzen hinaus. Doch einmal ver- ria dei Mesi“ im Herzoglichen Palast scheidende Qualität geforderte Merk- dert, von Spiegeln optisch erweitert, wurzelt, generiert es reiche Frucht. von Mantua, dann die berühmten, um mal der distribution, das planvoll-um- von Fenstern durchbrochen. Zwar ver- 1590 angelegten Korridore der Uffizien sichtige Aufteilen der Abfolge wie der zichtet der Saal Boffrands auf eine feen- Das Olympiastadion in Florenz, auch das Galeriegebäude im Anordnung von Räumen, erfüllt sich haft zauberische Wirkung, doch er ver- kleinen Musterstädtchen Sabbonieta hier in geradezu vollkommener Weise. mittelt Schönheit und Harmonie durch Von den politisch Verantwortlichen nahe Mantua um 1583. Das Zentrum bildet – darauf verwies maßvolle Gelassenheit, wobei der Ein- in Freistaat und Landeshauptstadt nicht Nach diesem kurzen Überblick ist schon die Ausformung beider Fassaden druck des in sich Ruhens vor allem sonderlich geliebt, schlummert auf dem festzuhalten, dass das Antiquarium – der Grand Salon, an den sich auf der durch die geschlossenen Wandpaneele Oberwiesenfeld am Rand der Innen- Albrechts V. zu den Gründungsbauten einen Seite ein Ruheraum, gefolgt von hervorgerufen wird, die den Raumein- stadt Münchens ein architektonisches der modernen Architekturaufgabe des einem Kabinett, auf der anderen Seite druck festigen, die Grenzen der Wände Wunderwerk, es hatte den XX. Olym- Sammlungsgebäudes zählt. Mit ihm das Jagdzimmer, wiederum von einem klar definieren. Gegenüber dem Spiel pischen Sommerspielen 1972 als Haupt- nimmt eine Entwicklung ihren Beginn, Kabinett begleitet, anschließen. Eine mit der Illusion, das Cuvilliés in der austragungsort gedient, das Olympia- die bis zum modernen Museum reicht. zentrale Enfilade leitet den Blick durch Amalienburg genial vor Augen führt, stadion. Auch dieser Bau ist ein Ge- Zwar erweist sich – so das Resümee der die mittigen Türen der fünf Räume und hat Boffrand seinem Pariser Werk eine dächtnisort, nun für die Heiterkeit, auch ersten Vignette – das Antiquarium reiht diese wie entlang einer Perlen- weit rationalere Sicht abgewonnen. die Trauer jenes Jahres, er bietet zu- getragen und durchströmt von Einflüs- schnur auf. Noch aufschlussreicher geben sich gleich eine der wenigen Leistungen sen aus der Fremde. Aber zugleich Diesem der höfischen Geselligkeit die Unterschiede der jeweils in Paris unserer Zeit an wahrhaft großer Archi- bietet dieser Bau ein Paradebeispiel für gewidmete Trakt antwortet auf der und München gefundenen Lösungen tektur. 1967 hatte das Stuttgarter Büro Weltoffenheit und Wagemut, mit denen Westseite eine kleinteilige, der komple- beim Blick auf die Einzelformen zu Behnisch & Partner den Wettbewerb sich ein bayerischer Herzog herausfor- xen Anforderung des Grundrisses genial erkennen. In Paris besetzt das Orna- für das künftige Olympiastadion mit dern ließ, um eine neue, kühne Bau- abgewonnene Suite von Nutzräumen, ment die Ränder, dringt selten in Zen- einer alles in der Sportarchitektur bis aufgabe, eine bis dahin unbekannte bestehend aus Küche, Treppen zur tren vor, ist vor allem gebändigt zu re- dahin Übliche weit übersteigenden, ge- Nutzungsweise so zu meistern, dass er Dachplattform, Garderobe, Hunde- flektierter, verstandesmäßig geordneter radezu berückenden Vision gewonnen.

48 zur debatte 6/2013 Foto: akg-images Die Amalienburg im Park von Schloss Nymphenburg. François Cuvilliés er- baute sie zwischen 1734 und 1739.

Visionen sind gemeinhin schwer Zwanglosigkeit und Transparenz. Gün- wickelte Olympiadach ist ein Wunder Ummantelung des Tribünenrings ge- umzusetzen – so auch hier. Es bedurfte ther Behnisch hat mehrfach davon be- an Transparenz und Leichtigkeit. Es fertigt. Es sind Einzelgebäude in starrer der Koalition unterschiedlichster richtet, wie er und seine Mitarbeiter steigt an vielen Stellen direkt vom Bo- Geometrie, deren sichtbarer Material- Experten – Professor Frei Otto wurde daran gingen, ein derart idealistisches den auf, setzt die Bodenbewegung fort aufwand den Eindruck der Mächtigkeit hinzugezogen, das Ingenieurbüro Konzept in die Sprache von Architektur und ist somit dem Menschen direkt und schieren Größe steigert. Damit sind Leonhardt & Andrä verpflichtet, der zu übersetzen. Am Anfang stand ein begreifbar, wird dann von Pylonen an sie zunächst einmal Monumente ihrer Landschaftsgestalter Günther Grzimek Modell des zu bebauenden Terrains aus Stahlseilen emporgehoben und schwingt selbst. In den München vorausgehen- ins Team geholt –, um das Phantasiege- Sand. Es erlaubte das Eingreifen der wie in sphärischer Spannung gehalten den Spielen 1968 in Mexiko und 1964 bilde aus Planung und Wettbewerb in Architekten mit leichter Hand, das For- im Äther. Auch hier werden Grenzen in Japan waren ältere Stadien wiederbe- die Machbarkeit und Durchsetzbarkeit men und Positionieren in der Gewich- zwischen umgebender Wandung und nutzt worden, aber das Stadio Olympi- einer rauere Wirklichkeit zu übertragen. tung von Schwerpunkten, das Ziehen schirmender Bedeckung überspielt, wie co in Rom – Schauplatz der XVII. Gegenüber dem Zeitdruck und der von Achsen und Bewegungsrichtungen wir das an anderer Stelle gesehen haben. Sommerolympiade von 1960 – vertritt politischen Einflussnahme bot die in Schwüngen, die Verteilung von Was- Frei Otto hatte zuvor mit seinem Dach den Typus der bis dahin üblichen enorme Kostensteigerung eher eine ser und Land, von Wegen und Wiesen, über dem Deutschen Pavillon in Mont- Architektur, und zwar im Sinne eines geringere der zu bewältigenden Hürden. von Bauten und Freiflächen, all das zu- real einen ersten Schritt in diese archi- Gefäßes zur Aufnahme vonSportereig- Das Ergebnis der beispiellosen Kraftan- nächst mit den Händen im Sand ge- tektonische Richtung unternommen, nissen für Massen. Rom bot einen strengung allerdings begeisterte damals formt wie ein inspirierender Schöp- doch dieses Vorbild war nur als ein modernistischen, kühl und prägnant und hinterlässt noch heute einen ganz fungsakt. Der daraus entstandene Lage- temporäres Bauwerk ausgeführt. Nun geformten Solitär, ohne alle Anmaßung und gar unvergesslichen Eindruck. plan hätte dann auch von Cuvilliés mussten technische Vorkehrungen bis- der Sprache totalitärer Regime, wie sie Während dreier Wochen im Sommer stammen können. Und ebenso unge- her ungekannter Art getroffen werden, sich 1936 am Stadion von Berlin und 1972 bot das Werk von Behnisch & wöhnlich, ja fast bizarr, war dann auch um die aerodynamische Stabilität zu 1980 – acht Jahre nach München – am Partner für die Jugend der Welt den das Ergebnis: Es galt einer Olympischen gewährleisten, der wagemutigen Statik Stadion von Moskau demaskierte. Rahmen für ein Fest sportlichen Landschaft. Sport sollte nun nicht mehr und Konstruktionstechnik zu genügen, Für München waren jedoch gänzlich Kräftemessens, und für die Augen rund in Häusern stattfinden, sondern in der das eigens entwickelte Acrylglas als anders geartete Ausgangspositionen um den Globus, die dank der Medien zu Ästhetik wie Nutzen neu geordneten lichtdurchlässige, durchsichtige Folie gestellt: Heitere Spiele waren gefordert, auf das Stadion gerichtet waren, die Natur. Landschaft war zum tragenden einzusetzen. ein Olympia im Grünen war gewünscht, wohl überzeugendste Verkörperung des Element des Entwurfs geworden, und es Das schließlich erreichte Ergebnis beides eher unpräzise Vorgaben, fast in Anspruchs von München auf den waren nun Mulden, nicht hoch errich- galt der Kühnheit einer gänzlichen neu- der Diktion blumiger Sonntagsreden. auszeichnenden Titel einer Weltstadt tete Gebäude, in denen die Sportstätten en Position innerhalb der Sportarchi- Und doch barg dieser Ansatz den Fun- mit Herz. Platz finden sollten. tektur, und diese lässt sich ermessen, ken, aus dem heraus das Meisterwerk Das Olympische Komitee hatte den Was aber dieses kühne Konzept erst sobald man den bis dahin und seither von Günther Behnisch und dessen Rahmen für die XX. Olympiade mit da- zu seiner eigentlichen Größe reifen ließ, immer noch in Gebrauch befindlichen Partnern sein Feuer bezog. An einem mals ungewöhnlichen Forderungen ver- war die Lösung der Aufgabe, den Sport- Bautypus des Stadions in den Blick Ort, der den Höchstleistungen im Sport bunden: Es sollten heitere Spiele sein, ereignissen, auch den vorgesehenen nimmt. Nahezu alle Stadien, die für zu dienen hatte, stellt das Münchner Spiele im Grünen, weltoffene Spiele, 80.000 Besuchern Schutz vor Wind und Olympische Spiele errichtet wurden, Olympiastadion den Rekord einer auch Spiele der kurzen Wege, der Wetter zu gewähren. Das hierfür ent- sind als Schalenkonstruktionen zur technischen Leistung, erkämpft Gold in

zur debatte 6/2013 49 Foto: akg-images Das Münchner Olympiastadion in einer Aufnahme aus dem Jahr 1990.

den Kategorien der Vollendung ästhe- wage zu behaupten, dass es keine kostbaren Patrimonium, über das dieses messlich vermehrt. Der Freistaat konnte tischer wie funktionaler Ansprüche, sonderliche Mühe bereiten würde, auf Land verfügt, und zwar in einem rei- nach 1918 ein grandioses Erbe antreten erringt eine Gipfelstellung auf dem Feld eine Fülle vergleichbarer künstlerischer cheren, erstaunlich umfassenderen Aus- und hat es – wie es die Verfassung von einander bedingender, einander Innovationsleistungen in Bayern hinzu- maß als in vielen anderen Regionen. fordert – als ein Kulturstaat weiterge- kongenial ergänzender Landschaft und weisen. Um nur im Bereich der Archi- Aber könnte nun im Gegenzug nicht führt. Lange Zeit galt Bayern als Vorbild Architektur – damals so unangefochten tektur zu bleiben, können Bögen ge- gerade die Innovationslust, der Drang in Fragen der Denkmalpflege, des wie heute. schlagen werden: von St. Martin in und das Geschick, Fremdes und Neues Museumsausbaus, der Errichtung neuer Landshut bis zum Passauer Dom, von zu adaptieren, um es dann auf einen Stätten für Kunstpflege und Kultur. *** St. Lorenz in Nürnberg zur Asamkirche Höhenweg von Gestaltung und Nut- Doch seit geraumer Zeit schwächt sich in München, vom Augsburger Rathaus zung zu entsenden, als eine bayerische der staatliche Einsatz, Denkmalpflege Nach dieser dritten Vignette drängt des Elias Holl zu Klenzes Walhalla bei Eigenart gefeiert werden, ganz im Sinne wird als ein die Wirtschaft hemmender sich das deutlich sperriger gewordene Regensburg, von der Würzburger Resi- der berüchtigten Diktion, nach der Lap- Störfaktor massiv beschnitten. Museen Thema erneut in den Vordergrund, die denz mit Balthasar Neumann und top und Lederhose zueinander finden? und Kultureinrichtungen haben zwar Frage nach dem Bayerischen in der Giambattista Tiepolo zur Münchner spektakuläre Räumlichkeiten erhalten, Kunst. Bayerisch – nicht als topographi- Alten Pinakothek, und um weitere aber es mangelt an den Mitteln, diese scher Begriff verstanden sondern als ein Exempel des Kunstpatronats Ludwigs I. Wir sollten somit nicht von dann auch adäquat zu bespielen. Das Provenienzattribut der Ästhetik – ist aufzurufen, von der städtebaulichen Wort vom „monstrare“, der Begriff des allerdings weder das Olympiastadion Leistungen eines Königsplatzes zur bayerischer Kunst reden, Herzeigens, trifft die Situation auf den noch das römisch gesinnte Antiquarium Ludwigsstraße in München. sondern von einer Kunst in Punkt, denn Vieles in der heutigen wie die französisch inspirierte Amalien- Natürlich sprechen Volksmund, Poli- Kulturpolitik Bayerns dient dem rasch burg. Doch es gibt verbindende Cha- tik, zuweilen auch eine nicht allzu ge- Bayern. umsetzbaren Schau- und Spiegelungs- rakteristika, die die drei hier betrachte- nau reflektierende Wissenschaft von all bedürfnis. Und so verschiebt sich die ten Beispiele auszeichnen, so der unbe- dem Genannten als von bayerischer Skepsis, von der wir ausgegangen dingte Wille zu Innovation, die gerade- Kunst. Ein gerütteltes Maß an Selbstbe- Eine redliche Argumentation wird waren, von der Frage nach der bayeri- zu traumwandlerische Sicherheit im wusstsein spielt dabei mit, auch Über- das Lob der Innovationsfreude selbst- schen Kunst – die tatsächlich eine Aufspüren wie im Beherrschen des heblichkeit, denn diesen Werken wird verständlich auf kein Identitätsmerkmal Kunst in Bayern ist – auf das Feld des Neuen, die Offenheit, Fremdes einzube- zur Feier eines freistaatlichen Patriotis- eines Stammes, eines Staatswesens, kulturpolitischen Handelns. Bayern ziehen, ein Werk grenzüberwindend zu mus eine Identität vorgeschrieben, die einer Nation, und damit auf einen der- misst sich zu Recht nicht nur mit den konzipieren, nicht zuletzt die Autor- sie keinesfalls einzulösen vermögen. art zu definierenden Markenkern baye- Ländern der Bundesrepublik, sondern schaft durch Nichtbayern. Eigenständigkeit im Sinne einer heimi- rischer Kunst und Kultur beziehen den Regionen Europas. Damit weitet Man mag nun einwenden, dass dies schen Verwurzelung wird von keinem können. Vielmehr findet sich darin die sich dann allerdings auch das Feld, auf alles nicht als Antwort ausreiche, – dieser Exempla verkörpert, zu sehr sind Haltung Einzelner bewahrt, die es auf dem der Stolz Kräfte entwickeln kann selbst auf eine question mal posée nicht sie geprägt von einer Sicht weit über sich genommen haben, Kühnes auch und muss, Kräfte zur Belebung und – denn eine Versuchsanordnung mit der Grenzen hinaus, beziehen sie Triebkräf- gegen Widerstände zu wagen, dem weiteren Entfaltung des bayerischen Zahl von nur drei Probanden müsse un- te ihrer Entstehung aus dem Geflecht Außergewöhnlichen zum Durchbruch Patrimoniums. „ weigerlich zu Fehleinschätzungen füh- einer europäischen Tradition. zu verhelfen. Während über siebenhun- ren. Das ist richtig, auch dann, wenn Wir sollten somit nicht von bayeri- dert Jahren haben Mitglieder des mangelnde Zeit davon abhält, weitere scher Kunst reden, sondern von einer Hauses Wittelsbach das Patrimonium Testreihen durchzuführen. Doch ich Kunst in Bayern; von dem ungemein Bayerns gestaltet, gepflegt und uner-

50 zur debatte 6/2013 Altschwabinger Sommerausklang 2013

Trotz des empfindlich kalten Wetters kamen gut 700 Menschen am Nachmit- tag und am Abend des 20. September 2013 zum traditionellen „Altschwabin- ger Sommerausklang“ in den Park der Katholischen Akademie. Mit großem Einsatz hatten vor allem die Mitarbeite- rinnen und Mitarbeiter der Küche und der Hauswirtschaft das Fest trotz der unsicheren Wetterprognosen vorbereitet – in weiser Voraussicht aber draußen und drinnen schön gedeckt. Dieses Fest für Nachbarn und Freun- de der Akademie findet – jetzt schon seit Jahrzehnten und meist bei schöne- rem Wetter – traditionell immer am Freitag vor dem Beginn des Oktoberfes- tes statt. Neben den gewohnten Ange- boten für die Kinder wie Ponyreiten, Streichelzoo, Hüpfburg, Kasperltheater und diversen Bastelaktionen gab es diesmal auch für die Größeren etwas. Ein sechs Meter hoher Kletterturm zog die Wagemutigen und Schwindelfreien an, die sich – mit Gurten gut gesichert – nach oben wagten. Pausenlos erklang die Glocke an der Spitze des Turms, durch deren Läuten jeder anzeigen konnte, dass man den Gipfel erreicht hatte. Für die Musik sorgten im Park dies- mal die „Münchner Oktoberfest Musi- kanten“ unter der Leitung von Wolf- gang Grünbauer, die bereits im Mai letzten Jahres beim Aufstellen des Aka- demie-Maibaums für gute Stimmung Die „Münchner Oktoberfest Musikan- gesorgt hatten. Die Kapelle ist eine der- ten“ unter der Leitung von Wolfgang jenigen, die bei der „Traditionswiesn“ Grünbauer spielten im Park auf. auf dem Oktoberfest einen Stammplatz haben. Im Schloss Suresnes, wo Kaffee, Kuchen und Nachspeisen serviert wur- den, erklang standesgemäß echte k. u. k. Kaffeehausmusik: gespielt von Ernst- August Quelle (Piano) und Eric Stevens – am Nachmittag in zwei Aufführungen zu entnehmen ist, handelte es sich bei gen, welch hohen Stand das Nachhal- (Bass). Partnerakrobatik auf höchstem Niveau. der Aufführung der vier geschickten tigkeits- und Umweltkonzept des Beim Auftritt der Akrobatikgruppe Und auch „Die Stelzer“ waren gekom- jungen Leute um Theater auf Stelzen. Hauses mittlerweile erreicht hat. Und „Memeza“ unter der Leitung von men und führten zwei Stücke auf: Inhaltliches wurde auch geboten. an einem Informationsstand konnten Christian Maier zeigten die jungen „Pulcinelli“ und „Haute Couture“. Christian Sachs, der Umweltbeauftragte sich die Besucher über das Tagungspro- Frauen – assistiert von zwei Männern Wie dem Namen der Gruppe leicht der Akademie, zeigte in zwei Führun- gramm der Katholischen Akademie und

Akademiedirektor Dr. Florian Schuller Bayerns Kultusminister Dr. Ludwig bing, wird von Prof. Dr. Willibald (re.) im Gespräch mit dem scheidenden Spaenle (re.), frisch wiedergewählter Folz, dem Vorsitzenden des Vereins der Landtags-Vizepräsidenten Franz Maget. Stimmkreisabgeordneter aus Schwa- Freunde und Gönner, begrüßt.

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Die Kletterwand – da musste man sich schon strecken, um hinaufzukommen.

Die Hauptpersonen von „Kasperls Spuikastl“: der Seppel, Traudl Schröder, die Fee, der Teufel (in der Akademie ein die Aktivitäten des die Arbeit der eher seltener Gast), Peter Schröder und Akademie nachhaltig unterstützenden der Kasperl höchstselbst (v.l.n.r.). „Vereins der Freunde und Gönner“ schlau machen. Warmes und kaltes Essen von aus- gezeichneter Qualität und zu modera- ten Preisen sorgten ebenfalls wie guter Wein und süffiges Bischofshofer Fass- bier dafür, dass die Kälte beim Ratschen und Musikhören als nicht so schlimm wahrgenommen wurde. Als es dunkel geworden war, traten die sportlichen Frauen von „Memeza“ noch einmal auf und zauberten eine bestens choreographierte Fackelshow vor der Fassade von Schloss Suresnes. Zum Abschluss wieder die Tradition: „Der Mond ist aufgegangen“ von Jo- hann Abraham Peter Schulz mit dem berühmten Text von Matthias Claudius beendete gegen 21 Uhr das Nachbar- schaftsfest, begleitet von der Hoffnung, dass es 2014 bei etwas wärmerem Wet- ter wieder stattfindet und noch mehr Ponyreiten – eine der Attraktionen für Die Gruppe „Memeza“ zauberte ihre Besucher anlockt. „ die Kinder. Fackelshow vor dem Schloss Suresnes.

Kommende Akademieveranstaltungen Diese Terminvorschau ist vorläufig. Sie entspricht dem Stand unserer Planungen. zur debatte Zu allen Veranstaltungen werden rechtzeitig jeweils gesonderte Einladungen Themen der Katholischen Akademie ergehen. Dort finden Sie dann das verbindliche Datum und den endgültigen Titel. in Bayern

Tagung in Zusammenarbeit mit der Tagung in Bayreuth in Zusammenar- Jahrgang 43 Internationalen Gesellschaft für beit mit der Katholischen Erwachse- Herausgeber, Inhaber und Verleger: Gesundheit und Spiritualität nenbildung Bayreuth Katholische Akademie in Bayern, München 18. und 19. Oktober 2013 25. und 26. Oktober 2013 Direktor: Dr. Florian Schuller Spiritual Care interreligiös Die Bühne als Altar? Verantwortlicher Redakteur: Dr. Robert Walser Richard Wagner und die Religion Fotos: Akademie Anschrift von Verlag u. Redaktion: Abendveranstaltung in Zusammenar- Katho lische Akademie in Bayern, beit mit dem Internationalen Katholi- Abendvortrag Mandlstraße 23, 80802 München schen Missionswerk missio München Montag, 28. Oktober 2013 Postanschrift: Postfach 401008, Dienstag, 22. Oktober 2013 November 1938. Die Katastrophe 80710 München, Telefon 0 89/38 10 20, Telefax 0 89/38 10 21 03, Ägypten im Umbruch vor der Katastrophe E-Mail: [email protected] Referenten Peter Scholl-Latour und Druck: Kastner AG – Das Medienhaus, Bischof Kyrillos William von Assiut Schloßhof 2 – 6, 85283 Wolnzach. Reihe: Autoren zu Gast zur debatte erscheint zweimonatlich. bei Albert von Schirnding Kostenbeitrag: jährlich E 35,– (freiwillig). Junge Akademie in Zusammenarbeit 29. Oktober 2013 Überweisungen auf das Konto der Katholischen mit der Katholischen Hochschul- Heinrich Detering Akademie in Bayern, bei der LIGA Bank: gemeinde der Technischen Universität Kto.-Nr. 2355000, BLZ 75090300. Nachdruck und Vervielfältigungen jeder Art sind München Junge Akademie nur mit Einwilligung des Herausgebers zulässig. Donnerstag, 24. Oktober 2013 Dienstag, 29. Oktober 2013 7 christliche Updates. Reihe: WortReich – das 1. Mit welchen Augen sehen monatliche interaktive Gespräch wir die Welt? Junge Schwestern der Ein ganz junger Künstler: Lässt er sich Benediktinerinnenabtei Venio von der Pracht des Rokoko-Schlosses Suresnes inspirieren?

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