SPD – 04. WP Fraktionssitzung: 02. 10. 1963

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2. Oktober 1963: Fraktionssitzung

AdsD, SPD-BT-Fraktion 4. WP, Ord. 7. 5. 63 – 10. 12. 63 (alt 1034, neu 11). Überschrift: »Protokoll der Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion vom 2. Oktober 1963«. Anwesend: 153 Abgeordnete. Prot.: 2. Teil: Selbmann. Zeit: Beginn: 14.40 Uhr.

Vorsitz: Beginn der Sitzung: 14.40 Uhr. Vor Eintritt in die Tagesordnung gibt Fritz Erler die Krankheitsfälle von Fraktions- mitgliedern bekannt: , Erwin Schoettle, Günter Klein, Peter Nellen und Werner Buchstaller. Fritz Erler gibt eine kurze Analyse der Wahl zur Bremer Bürgerschaft am vergangenen Sonntag (29.௔9. 1963).1 Punkt 1 der TO: Bericht zur außen- und innenpolitischen Lage. : Er macht die aus der Anlage ersichtlichen Ausführungen.2 Die Kernpunkte seiner Ausführungen sind: Zur Bilanz zwischen den Bundestagswahlen 1961 und 1965 gehören diese Feststellun- gen: 1. Das sachliche Ergebnis der Regierungstätigkeit dieser zwei Jahre ist überaus mager. 2. Das Schlagwort »Keine Experimente« ist aus der Mode gekommen. Vorausschau als wesentliches Element der Politik ist kaum noch umstritten. 3. Leistungen und Regierungsfähigkeit der Sozialdemokraten werden ernsthaft nicht mehr bestritten. 4. Eine fortschreitende Neuorientierung der deutschen Wähler ist bei den Landtags- wahlen 1962/63 eindrucksvoll in Erscheinung getreten.3 Die SPD hat in den Bundesländern heute einen Stimmenanteil, der im Schnitt bei rund 40 Prozent liegt. Das ist eine wesentlich andere Lage als vor vier Jahren. In der Bundes- versammlung 1964 wird der Abstand zwischen den beiden großen Parteien nur noch gering sein.4 Ein sachliches, dem Staatsganzen verpflichtetes Verhältnis zwischen den großen Partei- en bleibt von großer Bedeutung. Aber es gibt drei Parteien in Bund und Ländern, und

1 Bei der Bürgerschaftswahl in Bremen am 29. 9. 1963 erhielt die SPD 54,6% Stimmen (gegen 54,9% bei der Wahl 1959), die CDU 28,9% (gegen 14,8%), FDP 8,4% (gegen 7,2%), DP 5,2% (gegen 14,5%) und die DFU 2,7%. Vgl. AdG 1963, S. 10823. 2 In dieser ms. Anl. »Mitteilung für die Presse« vom »2. 10. 63«, Nr. 303/63 »Betr.: Halbzeitbilanz der Legislaturperiode« hieß es einleitend, der stellv. Parteivors. Brandt werde »heute« vor der SPD- Fraktion »ein Referat über die innen- und außenpolitische Situation halten und eine Bilanz der ersten Hälfte der Legislaturperiode ziehen«. 3 Vgl. die Aufstellung »Landtagswahlen 1962/64« in JAHRBUCH SPD 1962/63, S. 565. 4 In der Bundesversammlung vom 1. 7. 1964 stellten CDU/CSU zusammen 485 Mitglieder, die SPD 445. Bei den aus den Ländern entsandten Mitgliedern überrundete die SPD mit 232 Mandaten die CDU/CSU mit 230. Vgl. Die Bundesversammlungen 1949-1979. Eine Dokumentation aus Anlaß der Wahl des Bundespräsidenten am 23. Mai 1984. Hrsg. Deutscher . Presse- und Informati- onsamt, Bonn 1984, S. 132-142; ferner DATENHANDBUCH 1949-1982, S. 932.

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die Sozialdemokraten werden sich um jene Formen der Zusammenarbeit bemühen, die den jeweiligen Möglichkeiten und Notwendigkeiten am besten Rechnung tragen. Dies gilt auch für das sachliche Verhältnis zu den vorhandenen Strömungen innerhalb der gegenwärtigen Bonner Koalition. Wenn der Außenminister5 Recht hat, werden ihn die Sozialdemokraten unterstützen. Wenn die Sozialausschüsse der Union vernünftige Vorschläge machen, werden die Sozialdemokraten gern überlegen, wie solche Vorschläge in praktische Politik umge- münzt werden können. Wenn die Freien Demokraten Bundesgenossen im Ringen um Rechtsstaatlichkeit und Gewissensfreiheit suchen, dann können sie sie finden. Professor Erhard wird bei der Wahl zum Bundeskanzler selbstverständlich nicht mit den Stimmen der SPD rechnen können.6 Seine Regierung wird sich auf die alte Koaliti- on stützen, es wird im wesentlichen die alte Regierung sein. Ihr Auftrag bleibt auf den Übergang bis zum Herbst 1965 begrenzt. Als Bundeskanzler wird dem jetzigen Vizekanzler der Respekt zuteil werden, auf den er Anspruch hat. Er wird sich allerdings sagen lassen müssen, daß er die Verantwortung für die Versäumnisse und Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre in vollem Umfan- ge mitträgt. Seine Tätigkeit wird von den Sozialdemokraten nicht durch eine Parteibril- le beobachtet, sondern an den objektiven Erfordernissen gemessen werden. Die Bundesregierung wird klarmachen müssen, wie sie die Strategie des Friedens för- dern will und was unter der Politik der Bewegung zu verstehen ist, zu der sich der Außenminister in Amerika7 bekannt hat. Die Regierung wird klarmachen müssen, wie sie Fortschritte in der deutschen Frage mit den Versuchen einer militärischen Entschärfung in Einklang bringen will. Das heißt wie Verbesserungen für Berlin, Erleichterungen für unser gespaltenes Volk und Verände- rungen in der Zone angestrebt werden können, ohne daß unser Anspruch auf die deut- sche Einheit geschwächt wird.8 Die Regierung wird klarmachen müssen, wie sie einer Erstarrung und Rückentwick- lung im freien Europa entgegenwirken will. Wie sie abträglichen Separationen begeg- nen will und weiter, wie sie mithelfen will, die NATO wirksam weiterzuentwickeln.

5 Bundesminister des Auswärtigen war seit dem 14. 11. 1961 Gerhard Schröder (CDU), der als Expo- nent der »Atlantiker« galt. 6 Zu Erhards Wahl zum Bundeskanzler am 16. 10. 1963 vgl. Nr. 65, TOP 5. 7 Schröder hatte vom 20.-27. 9. 1963 New York und Washington besucht und dabei u. a. Gespräche mit Kennedy und Außenminister Rusk geführt. In Interviews mit AP, dpa und amerikanischen Fern- sehsendern äußerte er sich positiv zu Initiativen in der Berlin- und Deutschlandfrage und sprach sich für Abkommen über Handelsmissionen mit Ungarn, Rumänien, Tschechoslowakei und Bulgarien aus. Vgl. AdG 1963, S. 10823 f.; siehe ferner Schröders Interview mit dem Deutschlandfunk am 6. 10. 1963, abgedr. u. a. in Bulletin Nr. 178 vom 8. 10. 1963, S. 15431; DOKUMENTE ZUR DEUTSCHLAND- POLITIK IV, 9, 2. Hbd., S. 760-766; MEISSNER, Ostpolitik, S. 57-62, bes. S. 59 f. 8 Zu den von Brandt in dieser Zeit vertretenen Konzepten zur Berlin- und Deutschlandpolitik, die er u. a. in einer Rede am 15. 7. in Tutzing entwickelte, vgl. BRANDT, Begegnungen und Einsichten, S. 78-80; ders., Wille zum Frieden, S. 89-100. Am 14. 7. 1963 hatte Egon Bahr (SPD), der damalige Lei- ter des Presse- und Informationsamtes des Berliner Senats, auch seine Überlegungen zur Übertra- gung der »Strategie des Friedens« (Kennedy) auf die deutsche Frage vorgetragen, die er mit »Wandel durch Annäherung« über eine Politik der »Transformation« umschrieb. Wortlaut u. a. in: DOKU- MENTE ZUR DEUTSCHLANDPOLITIK IV, 9, 2. Hbd., S. 572-575; DEUTSCHLAND ARCHIV 6. Jg. 1963, S. 862 ff. Zum Zusammenhang KLOTZBACH, S. 567 f.; PROWE, S. 274 f.; SCHMITZ, Deutsche Einheit, S. 168-170; KOCH, Brandt, S. 253-256.

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Die Sozialdemokraten haben 1961 ihren Entwurf eines Regierungsprogramms9 vorge- legt und halten ihn in allen wesentlichen Punkten weiterhin für richtig. Dieser Entwurf wird jetzt im Licht der inzwischen gemachten Erfahrungen überarbeitet. Dabei wird die Tätigkeit in Bund, Ländern und Gemeinden noch besser aufeinander abgestimmt werden. Die vier deutschen Gemeinschaftsaufgaben müssen mit verstärkter Kraft angepackt werden: 1. Moderne Bildung und umfassende Förderung der Wissenschaften, 2. Energi- sche Maßnahmen zum Schutz der Volksgesundheit, 3. Gesicherter Lebensabend für die älteren Mitbürger, 4. Erneuerung der Städte und Gemeinden und unseres Verkehrswe- sens.10 Die Sozialdemokraten werden sich – wie die Essener Konferenz Ende dieser Woche zeigen wird11 – auf wirtschaftlichem Gebiet vor allem auf folgende Punkte konzentrie- ren: Vermögenspolitik zugunsten der breiten Schichten. Sicherung unserer Landwirt- schaft, strukturelle Verbesserungen für die benachteiligten Regionen. Für den verantwortungsvollen Ausbau der sozialen Sicherung werden die Sozialdemo- kraten im Frühjahr nächsten Jahres gründlich durchgearbeitete Vorschläge unterbrei- ten. Die Notwendigkeit einer ausgeglichenen, verantwortungsbewußten Finanzwirtschaft wird von der SPD in vollem Umfang erkannt. Sie verfügt über die geeigneten Vorschlä- ge, um zu der seit langem fälligen Finanzreform zu gelangen und die Interessen von Bund, Ländern und Gemeinden sinnvoll aufeinander abzustimmen.12 Die Sozialdemokraten nehmen ihre Verpflichtung zum Schutz unserer rechtsstaatlichen Ordnung sehr ernst. Sie wenden sich jedoch dagegen, daß die Bundesrepublik in ein falsches Licht gerät. Das demokratische Klima im freien Teil Deutschlands ist nicht schlecht, das demokratische Bewußtsein ist aber unterentwickelt. Alle verantwortlichen Kräfte wollen und müssen den Staat schützen. Gerade darum müssen Fehler aufgedeckt und abgestellt werden. Das schwächt nicht den Staat, sondern es stärkt unsere freiheitli- che Grundordnung. Fritz Erler: Er macht die aus der Anlage ersichtlichen Ausführungen.13 Es gelte heute die außen- und innenpolitische Lage des deutschen Volkes festzustellen und daraus Folgerungen für die künftige Politik zu ziehen. In der Außenpolitik nannte Erler drei Ziele: Sicherung der Freiheit, Bewahrung des Friedens und Wiedererlangung des Selbstbestimmungsrechts für das ganze deutsche Volk mit friedlichen Mitteln. Darüber hinaus müsse in öffentlichen Debatten und – wenn erforderlich – in vertraulichen Kon- sultationen zwischen Regierung und den drei Parteien des Bundestages erörtert wer- den, was gemeinsam getan werden könne, um den Landsleuten in der SBZ zu helfen. Erler befaßte sich dann mit den vier Gemeinschaftsaufgaben. In der Gesundheitspolitik gehe es nicht nur um die Heilung von Kranken, sondern um die Erhaltung der Ge-

9 Vgl. Nr. 7, Anm. 5. 10 Zu dem Katalog der Gemeinschaftsaufgaben vgl. Nr. 1, 2 und 7, bes. Anm. 5. 11 Zu dieser von der SPD veranstalteten Wirtschaftskonferenz siehe Stabilität und Aufstieg. Dokumen- tation der Wirtschaftspolitischen Tagung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 2. bis 5. Oktober 1963 im Städtischen Saalbau, Essen, Hannover 1963. Vgl. auch Nr. 64, TOP 1 und 65, TOP 2. 12 Zu dem Konzept einer Finanzreform vgl. MÖLLER, Genosse, S. 228-230. 13 »Die SPD-Faktion teilt mit«, Nr. 232/63 vom 2. 10. 1963 Betr.: Fraktionssitzung. Darin hieß es einleitend, in der »heutigen Sitzung« der Fraktion habe sich »Erler mit Überlegungen zur Halbzeit der Legislaturperiode und zum Kanzlerwechsel« befaßt.

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sundheit durch eine entsprechende Gestaltung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Das Problem des Alters bestehe nicht nur in der Rentenversicherung, sondern auch in der Überwindung der Einsamkeit, die viele alte Menschen fühlten. Bund, Länder und Gemeinden und die Fülle der lebendigen Kräfte unseres Volkes müssen auf diesem Gebiet zusammenwirken. Auch für die anderen beiden Gemeinschaftsaufgaben der Erziehungs- und Bildungspo- litik und der Raumordnung bedürfe es des Zusammenwirkens von Bund, Ländern und Gemeinden. Diese Gemeinschaftsaufgaben seien nicht lösbar ohne einen Neubau der Finanzverfassung, bei der die Bundesregierung nach Ablehnung der SPD-Vorschläge keinen Schritt vorwärts gekommen sei. In diesem Zusammenhang forderte Erler eine gerechte Verteilung der Steuerlast. Wenn die Gemeinschaftsaufgabe Straßenbau nicht bald angefaßt werde, so müsse der Einzelne angesichts der rapide steigenden Motorisierung bald auf den individuellen Genuß der Autobenutzung verzichten. Zu Ankündigungen des Kanzlerkandidaten der CDU/CSU, er werde sich mehr über das Fernsehen an das deutsche Volk als an das Parlament wenden14, erklärte Erler: Man könne die parlamentarische Diskussion nicht durch die Verkündung von Regierungs- meinungen im Fernsehen ersetzen. Die SPD werde mit parlamentarischen Mitteln dafür sorgen, daß die wichtigen Probleme der deutschen Politik nach wie vor im Bundestag zwischen Regierung und Parlament erörtert werden.15 Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen wies Fritz Erler auf die Konzeptionslosigkeit in der Landwirtschaftspolitik hin, während einzelne Länder wie Niedersachsen, Hessen und neuerdings auch Schleswig-Holstein sich bemühten, die Strukturprobleme in der Landwirtschaft auf regionaler Basis im möglichen Rahmen zu klären. Zur Telefonaffäre16 übte Erler scharfe Kritik an den leichtfertigen Äußerungen des Verfassungsministers über das Grundgesetz.17 Die SPD verlange volle Aufklärung über die Personen, die abgehört wurden. Die Verantwortung dürfe nicht auf die Beamten- schaft abgewälzt werden; verantwortlich sei in vollem Umfang der Bundesinnenmini- ster. Selbstverständlich müsse sich der freiheitlich-demokratische Staat gegen seine Feinde wehren können, ebenso selbstverständlich müsse der Staatsschutz an einem Mißbrauch zu innenpolitischen Zwecken gehindert werden.

14 Zu Erhards Ankündigung, sich als Bundeskanzler direkt über die Massenmedien Fernsehen an die Bevölkerung zu wenden, siehe HILDEBRAND, Erhard, S. 34. 15 Der Fraktionsvorstand hatte beschlossen, die Vereinbarung mit der ARD über Fernsehübertragun- gen »nur bis Ostern zu verlängern und den Zusatz zu fordern, daß der normale Ort für die Abgabe von Regierungserklärungen der Bundestag ist und daß nur in besonderen Fällen Erklärungen vor dem Fernsehen angebracht erscheinen«. »Protokoll der Vorstandssitzung vom 1. Oktober 1963«, AdsD, IV BT Protokolle Fraktionsvorstand A, B 1020. 16 »Die Zeit« hatte in ihrer Ausgabe Nr. 36 vom 6. 9. 1963 in einem Artikel »Sagte Höcherl die Wahr- heit« (S. 3) berichtet, das Bundesamt für Verfassungsschutz habe seit Jahren die Alliierten veranlaßt, in bestimmten Fällen eine Post- und Telefonüberwachung vorzunehmen und so das vom Grundge- setz verfügte Verbot unterlaufen. Zur Behandlung dieser Telefon- oder Abhöraffäre im Innenaus- schuß des Bundestages vgl. weiter unten den Bericht Schmitt-Vockenhausens. 17 BMI Höcherl hatte am 10. 9. 1963 in seinem Heimatort Brennberg am Telefon einem Reporter er- klärt, die ihm unterstellten Angehörigen des Bundesamtes für Verfassungsschutz könnten »nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen«. Vgl. Bulletin Nr. 165 vom 28. 9. 1963, S. 1433 u. »Stern« Nr. 38 vom 22. 9. 1963, S. 150. »Der Spiegel« Nr. 43 vom 23. 10. 1963 »Affä- ren«, »Panorama«, S. 37.

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Die SPD gehe ohne Selbstgefälligkeit, aber mit gesunder Zuversicht in die zweite Hälfte dieser Legislaturperiode. Punkt 2 der TO: Bericht aus dem Innenausschuß von Hermann Schmitt-Vockenhausen: Sein Bericht erstreckt sich auf die Vorwürfe gegen das Bundesamt für Verfassungs- schutz im Zusammenhang mit den Veröffentlichungen in den Zeitschriften »Stern« und »Zeit«18; die Vorwürfe würden sich auf drei Punkte erstrecken: 1. Die Abhörrechte der Alliierten. 2. Post- und Telefonzensuren durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, die sich dabei an die alliierten Rechte anhängen würden. 3. Abhöraktionen unter den Decknamen »Lux«, »Theo«, »Bravo«.19 Bei der Untersuchung dieser Vorwürfe wären Schwierigkeiten aufgetaucht; es komme darauf an, die Punkte von grundsätzlicher Bedeutung aufzuklären und sich nicht auf »Nebenkriegsschauplätze« (Panorama-Sendungen)20 ablenken zu lassen. Zum Zwecke der Aufklärung der Vorwürfe habe Innenminister Höcherl zunächst den Vertretern der Bundestagsfraktionen einen Bericht über die Vorwürfe gegeben.21 Acht Tage später sei es dann in der Sitzung des Innenausschusses des Bundestages zu dem Beschluß gekommen, wonach der Innenminister aufgefordert wird, dafür Sorge zu tragen, daß vom Bundesverfassungsschutzamt keine Briefzensur und kein Abhören von Telefongesprächen in Anlehnung an die alliierten Rechte vorgenommen werden.22 Der Innenminister habe aber abgelehnt, diesen Beschluß anzuerkennen und auszuführen.

18 Vgl. Anm. 16. – Über die Abhöraffäre waren zu diesem Zeitpunkt Artikel in »Die Zeit« Nr. 36 vom 6. 9. (S. 3), Nr. 37 vom 13. 9., S. 1 und Nr. 38 vom 20. 9. 196 (S. 1) und Nr. 39 vom 27. 9. 1966 (S. 1) und im »Stern« Nr. 38 vom 22. 9., S. 150 u. Nr. 40 vom 6. 10. 1963 erschienen. Der »Stern« erschien in Wirklichkeit jeweils vier Tage vor dem angegebenen Datum. Zur Behandlung dieser Fragen in der »Kommission« siehe Nr. 64, Anm. 13. 19 Die obigen Kürzel waren nach Aussagen von Werner Pätsch (Sachbearbeiter im Bundesamt für Verfassungsschutz) in einem Interview vom 21. 9. 1963 für die Fernsehsendung »Panorama« »Tarn- namen für die fortlaufenden Überwachungsaufträge an die Alliierten«. Auszug aus dem Interview, das nicht gesendet wurde, in »Der Spiegel« Nr. 40 vom 2. 10. 1963, S. 27; siehe ferner das Interview mit Pätsch in »Stern« Nr. 40 vom 6. 10. 1963, S. 172-178. Zur Beurteilung des Standes der sog. Tele- fonaffäre durch Schmitt-Vockenhausen vgl. seine Erklärung in »Die SPD-Fraktion teilt mit« Nr. 227/63 vom 25. 9. 1963, es stünden »immer noch folgende Behauptungen der ›Zeit‹ im Raum: 1. Das Verfassungsschutzamt beantragt Post- und Telefon-Überwachung ohne Begründung, die zuständigen ausländischen Stellen fordern ihrerseits eine solche Begründung nicht an. 2. Die Telefon-Überwachung wurde auch bei keineswegs spionageverdächtigen Personen beantragt. Eine Behauptung, wäre sie erweislich wahr, die in besonders gravierender Weise die Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses nach Artikel 10 des Grundgesetzes erhärten würde. 3. Es habe ganze Abhör-Aktionen unter den Decknamen ›Lux‹, ›Bravo‹ und ›Theo‹ gegeben. Der Bundesinnenminister hat in seinen zahlreichen Erklärungen gerade diese drei Fragen nicht eindeutig beantwortet.« 20 Bezog sich auf Sendungen des Fernsehmagazins »Panorama« vom 23. 9. 1963 über die Abhör-Affäre. Vgl. TOP 3 der Fraktionssitzung. 21 Diese erste Unterrichtung fand am 11. 9. 1963 statt; vgl. Bulletin Nr. 165 vom 18. 9. 1963, S. 1434; »Die SPD-Fraktion teilt mit« Nr. 213/63 vom 11. 9. 1963. 22 Vgl. die Darstellung in »Der Spiegel« Nr. 39 vom 25. 9. 1963 »Höcherl«, S. 28 f. über die Sitzung des Innenausschusses vom 17. 9. 1963. Danach war dieser Beschluß mit 14 Stimmen von SPD und FDP gegen 13 der CDU/CSU gefaßt worden.

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In der letzten Sitzung des Innenausschusses habe man sich dann geeinigt, eine Kommis- sion aus Vertretern der drei Fraktionen zu bilden, die die Vorwürfe gegen das Bundes- amt untersuchen und aufklären solle.23 Die Probleme, um die es sich bei den Vorwürfen gegen das Bundesamt für Verfassungs- schutz handle, seien, das Erfordernis der Rechtssicherheit mit den Erfordernissen des Staatsschutzes in Übereinstimmung zu bringen. Außerdem gehe es darum, die weiten alliierten Vorbehaltsrechte in Bezug auf Briefzensur und Telefonabhören durch deut- sches Recht abzulösen.24 Die Bemühungen der SPD seien daher darauf gerichtet, jede Lücke im Recht unter voller Wahrung der Rechtsstaatlichkeit auszufüllen. Die genannte Kommission wird sich schließlich auch mit Personalfragen des Bundes- verfassungsschutzes zu befassen haben. Es gehe hierbei um die Vorwürfe gegen gewisse Beamte im Verfassungsschutz, über deren Vergangenheit (Gestapo und SD- Mitgliedschaft).25 Die SPD werde hier eine personelle Veränderung anstreben, aber sich auch dabei auf [kein]26 Nebengleis abschieben lassen. Es komme nicht darauf an, wie die genannten Beamten in das Bundesamt hineingekommen seien, sondern vielmehr darauf, wie sie nunmehr wieder herauszubringen seien. In der Öffentlichkeit seien schließlich [auch]27 Vorwürfe gegen die Ausführungen des sogenannten Verbringungsgesetzes (Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote)28 durch die Bundespost und die Zollämter erhoben worden. Die Vorwürfe richten sich darauf, daß im großen Umfang Briefe aus der Zone geöffnet würden.29 Diese Briefzensur werde offenbar viel umfangreicher gehandhabt, als es seinerzeit dem Gesetzgeber bei Verabschiedung des Verbringungsgesetzes vor- schwebte. Auch diese Angelegenheit bedürfe einer Überprüfung. Alles in allem müsse hervorgehoben werden, daß für die SPD die Einhaltung der Grundrechte die Hauptsorge sei. Punkt 3 der TO: Erklärung von Fritz Schäfer

23 Bezieht sich auf die Sitzung des Innenausschusses vom 26. 9. 1963, in der diese »Kleine Abhörkom- mission« gebildet wurde. Vgl. »Die SPD-Fraktion teilt mit« Nr. 227/63 vom 25. 9. 1963. Dieser Kommission gehörten an Erler und Schmitt-Vockenhausen für die SPD, Brentano, Güde und Wag- ner für die CDU/CSU, Mende und Dorn für die FDP. Vgl. ebd. Nr. 240/63 vom 9. 10. 1963. 24 Zu den entsprechenden alliierten Vorbehaltsrechten nach dem Generalvertrag von 1955, Art. 5, II vgl. SCHÄFER, Notstandsgesetze, S. 21 und 127 f.; SCHNEIDER, Demokratie, S. 36-38. Ihre Ablösung stand im Zusammenhang mit einer gesetzlichen Regelung der Notstandsverfassung. Gesetzentwürfe zu Einschränkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses legte die BReg erst am 17. 10. 1964 vor. 25 Zu Presseberichten, daß in dem Bundesamt für Verfassungsschutz eine größere Zahl früherer SS-, SD- und Gestapo-Angehöriger tätig war, hatte das BMI am 28. 8. 1963 zunächst erklärt, diese träfen nicht zu. Insgesamt handele es sich um weniger als 2% des Gesamtpersonalbestandes dieses Amtes. Vgl. AdG 1963, S. 10769 sowie den kritischen Kommentar der »Frankfurter Allgemeine« vom 29. 8. 1963. – Eine am 30. 9. 1963 eingebrachte Kleine Anfrage der SPD-Fraktion »betr. Telefon- und Post- überwachung« bezog sich nur darauf, ob alliierte Stellen »ihre Rechte zur Abhörung von Telefonge- sprächen und zur Postüberwachung« an deutsche Stellen bzw. deutsche Bedienstete delegiert oder diese damit beauftragt hätten. BT Anl. 86, Drs. IV/1485. 26 Im Or. versehentlich »ein«. 27 Im Or. »auf«. 28 Das Gesetz »zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote« vom 24. 5. 1961 ermöglichte der BReg, durch Post- und Zollbehörden Sendungen aus der DDR anzuhalten, zu öff- nen und zu prüfen. Vgl. Nr. 65, TOP 1, bes. Anm. 7. 29 Zur Behandlung dieser Vorgänge im Parlament vgl. die Fragestunde vom 23. 10. 1963, BT Sten. Ber. 53, S. 4218-4221.

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Er geht auf die gegen seine Person von seiten der CDU/CSU erhobenen Vorwürfe im Zusammenhang mit der Panorama-Sendung des deutschen Fernsehens über eine angeb- liche Überwachung von Telefongesprächen im Deutschen Bundestag ein.30 Im Früh- jahr 1962 sei ihm gegenüber von einem kleineren Angestellten des Bundestages der Verdacht geäußert worden, daß dessen Telefongespräche im Bundeshaus abgehört würden. Wegen dieses Vorwurfes habe er sich an den Bundestagsbeamten Kalveram31 gewandt und um Aufklärung gebeten. Kalveram habe ihm (Schäfer) geantwortet, daß im Zusammenhang mit der Affäre des fraktionslosen Abgeordneten Ott eine Telefon- abhöranlage im Bundeshaus eingebaut sei32; diese Anlage wäre aber seither (1951) nicht mehr im Betrieb gewesen. Während der Spiegelaffäre im vergangenen November habe er, Schäfer, diese Angelegenheit Karl Mommer erzählt und dabei geäußert, daß diese Angelegenheit nunmehr Gott sei Dank erledigt sei. Vor der beanstandeten Panorama-Sendung sei er von Journalisten des Fernsehens auf- gesucht worden; diese Journalisten hätten ihn wegen der Abhöranlage im Bundeshaus alles so erzählt, wie er es eben dargelegt habe. Die Journalisten hätten ihm gegenüber aber nicht ihren Informanten genannt. Er (Schäfer) habe sich wegen der Informationen der Fernsehjournalisten gewundert und den Journalisten gesagt, sie seien ja sehr gut informiert; in diesem Zusammenhang hätte er ihre Darstellung (von einer Abhöranlage im Bundeshaus) bestätigt.33 Die Fernsehjournalisten wollten aber von ihm (Schäfer) weitere Informationen haben. Er habe aber Bedenken gehabt, solche Informationen an die Fernsehjournalisten weiterzugeben; er habe die Journalisten gebeten, am übernäch- sten Tag in seine Tübinger Wohnung zu kommen. Sogleich nach dem Besuch der Fern- sehjournalisten habe er Karl Mommer verständigt und mit ihm seine Bedenken erörtert. Kurz vor dem angekündigten Besuch der Fernsehjournalisten in seiner Tübinger Woh- nung habe er diesen mitgeteilt, sie brauchten nicht zu kommen. Die Journalisten seien dann aber doch in seine Tübinger Wohnung gekommen. Dort habe er ihnen nur gesagt, daß sie doch schon ihre Informationen hätten und daher ihn nicht benötigten. Weitere Informationen habe er auch hier (in seiner Tübinger Wohnung) den Fernsehjournali- sten nicht gegeben. Am Tage der Fernsehsendung – und zwar um 12.00 Uhr mittags – habe er über die eben geschilderten Vorfälle Bundestagspräsident Gerstenmaier verständigt. In einem Brief an Gerstenmaier habe er eingehend zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfe[n] Stellung genommen; (dieser Brief wird von Fritz Schäfer im Wortlaut vorgelesen). Er

30 In der Fernsehsendung »Panorama« vom 23. 9. 1963 über die »Abhör-Affäre« wurde fälschlich in Bild und Ton über eine angeblich in der Fernsprechzentrale des Bundeshauses installierte Abhöran- lage berichtet. Zu der sich daraus entwickelnden »Panorama«-Affäre vgl. »Der Spiegel« Nr. 40 vom 2. 10. 1963 »Bonn. Zensur-Affäre«, S. 23 f. und Nr. 43 vom 23. 10. 1963 »Affären. Panorama«, S. 37- 43. Schäfer wurde zunächst als Informant von »Panorama« vermutet. Vgl. Prot. der Sitzung des Älte- stenrates vom 26. 9. 1963, Parl. A., 4. WP, Ältestenrat, Bd. 1. Siehe weiter unten, bes. Anm. 34 sowie Nr. 64. 31 Kalveram, stellv. Direktor des Bundestags. 32 Franz Ott, MdB 1949-1953 (zunächst parteilos; ab 4. 5. 1950 Gast bei der WAV; ab 13. 10. 1950 BHE; seit 21. 3. 1952 fraktionslos; ab 26. 3. 1952 Gast bei DP; ab 26. 6. 1952 erneut fraktionslos); vgl. DATENHANDBUCH 1949-1982, S. 1140. Zur Affäre Ott vgl. »Der Spiegel« Nr. 43, vom 23. 10. 1963, S. 40 und 42; »Stern« Nr. 42 vom 20. 10. 1963, S. 179 f. 33 Die von Schäfer hier gegebene Darstellung stimmt weitgehend überein mit dem Bericht in »Der Spiegel«, Nr. 43, S. 40-43. – Bei dem Journalisten handelte es sich um Karl-Heinz Wocker, zu der Zeit »Panorama«-Redakteur, zuvor und anschließend wieder NDR-Korrespondent in London.

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(Schäfer) wollte diesen Brief veröffentlichen, Präsident Gerstenmaier habe ihm aber dringend von der Veröffentlichung abgeraten. Dem sei er auch nachgekommen.34 Fritz Schäfer betont wiederholt, daß er nicht der Informant der beanstandeten Panora- ma-Sendung des Deutschen Fernsehens gewesen ist.35 Außerhalb der gedruckten Tagesordnung gibt Ernst Schellenberg einen Bericht über die augenblicklich anstehenden wichtigen Aufgaben der Sozialpolitik: 1. Kindergeldneuregelungsgesetz. Dieses soll schnellstens auf die TO des Bundes- tagsplenums gesetzt werden; damit sei nunmehr auch ein großer Teil der CDU/CSU- Fraktion einverstanden, womit die SPD eine Aufschnürung des sogenannten Sozialpa- ketes erreicht hätte.36 2. Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle: Hierauf brauche er im einzelnen noch nicht einzugehen, weil sich die Angelegenheit erst in der ersten Phase der Beratungen befin- det.37 3. Krankenversicherungsneuregelungsgesetz: Bei der gestrigen Beratung dieser Materie im Bundestagsausschuß haben die Vertreter der SPD die Koalitionsmitglieder angehal- ten, endlich zu den sachlichen Fragen Stellung zu nehmen; die CDU/CSU-Vertreter

34 Schäfer hatte jedoch am 24. 9. eine Erklärung abgegeben, in der er sich auf die Panorama-Sendung vom 23. 9. und eine Verlautbarung von Präsident Gerstenmaier vom 24. 9. 1963 bezog. Darin hieß es u. a. »1. Die Information von ›Panorama‹ ist nicht von mir erfolgt. 2. Ich habe ›Panorama‹ gegenüber bestätigt, daß ich mich im Frühjahr 1962 um diese Frage bemüht habe. Damals wurde mir gegenüber der Verdacht geäußert, es werde das Telefon im Bundestag überwacht. Auf meine Veranlassung hin erfolgte die in der amtlichen Verlautbarung des Bundestags- präsidenten vom 24. September 1962, Nr. 6, erwähnte Sicherung gegen Überwachung. 3. Ich habe zu keinem Zeitpunkt und gegenüber niemandem den Verdacht geäußert, daß im Bundestag Gespräche abgehört würden.« Am nächsten Tag gab Schäfer noch eine ergänzende Erklärung ab: »1. Ich erkläre nochmals, daß die Information von ›Panorama‹ oder anderen Publikationsorganen nicht von mir erfolgt ist. 2. Im Frühjahr 1962 wurde mir gegenüber der Verdacht geäußert, daß Telefone im Bundeshaus abge- hört werden. Ich habe mich daraufhin sofort an den zuständigen hohen Beamten der Bundeshaus- verwaltung gewandt und um Aufklärung gebeten. Dabei habe ich von diesem Beamten die Darstel- lung erhalten, die ›Panorama‹ und andere veröffentlicht haben. Man hat mir auch mitgeteilt, daß ent- sprechende Anlagen auf Grund meiner Intervention außer Betrieb gesetzt worden sind. 3. Diesen Sachverhalt haben mir jetzt in genau der gleichen Weise anfragende Journalisten geschildert. Ich habe ihnen daraufhin bestätigt, daß ich 1962 eine gleiche Darstellung erhielt. Ich habe aber ge- genüber niemandem auch nur den Verdacht geäußert, daß Telefongespräche unzulässig abgehört worden sind. 4. Diesen Sachverhalt habe ich dem Herrn Bundestagspräsidenten schriftlich dargelegt. Er wird in der Sitzung des Ältestenrates am 26. September erörtert werden.« »Die SPD-Fraktion teilt mit« Nr. 222/63 und 226/63 vom 25. und 26. 9. 1963; vgl. auch Prot. der Sitzung des Ältestenrates vom 26. 9. und 8. 10. 1963, Parl. A., 4. WP, Ältestenrat, Bd. 1 sowie Nr. 64, bes. Anm. 9. – Zum Telefongespräch Schäfer-Gerstenmaier vgl. »Der Spiegel« Nr. 43, S. 31. 35 Vgl. Nr. 64. 36 Der Entwurf des Bundeskindergeldgesetzes (BT Anl. 81, Drs. IV/818) wurde im Bundestag erst am 4. 3. 1964 in 2. und am 6. 3. 1964 in 3. Beratung behandelt. BT Sten. Ber. 54, S. 5416-5434; S. 5586- 5595. 37 Der Gesetzentwurf der BReg »über die Fortzahlung des Arbeitsentgeltes im Krankheitsfall (Lohn- fortzahlungsgesetz)« war nach der 1. Lesung im Plenum am 23. 1. 1963 an die zuständigen Ausschüs- se überwiesen worden. BT Sten. Ber. 52, S. 2417-2465. Er wurde in der 4. WP nicht mehr verabschie- det.

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hätten darauf geantwortet, daß sie darüber noch keine Aussage machen könnten, da sie zunächst eine fraktionsinterne Entscheidung herbeiführen müßten. Die SPD-Vertreter hätten aber darauf bestanden, daß sich die Vertreter der Koalition dazu äußern müßten; wenn dies nicht möglich sei, müsse die ganze Angelegenheit zurückgestellt werden, da sonst die ganze Ausschußberatung keinen Sinn habe.38 Die Linie der SPD sei es nun- mehr, die Öffentlichkeit lebhaft an dieser Auseinandersetzung mit den Koalitionsver- tretern zu beteiligen und dabei deutlich zu machen, daß die Regierungskoalition nicht in der Lage sei, eine sinnvolle sozialpolitische Konzeption zu entwickeln. Fritz Erler eröffnet die Aussprache über die vorangegangenen Punkte der Tagesord- nung. An der Aussprache beteiligten sich: H. Ritzel: Er schlägt vor: 1. eine ganztägige Sitzung der Fraktion über außen- und militärpolitische Fragen, 2. eine Stellungnahme der Fraktion zu den Preiserhöhungen (insbesondere der Milchpreiserhöhung) der letzten Zeit39, 3. die Veröffentlichung des Briefes von Fritz Schäfer, den dieser vorhin vorgelesen hatte. U. Lohmar: Der »Telekratie« von Erhard (damit ist dessen beabsichtigtes regelmäßiges Auftreten im Fernsehen gemeint) könne damit begegnet werden, daß der Bundestag seinen Beschluß revidiere, wonach aus Plenarsitzungen keine Fernsehsendungen mehr übertragen werden dürften40; damit könne erreicht werden, daß sogleich auf Erklärun- gen der Regierung auch die Vertreter der Opposition im Fernsehen zu Wort kom- men.41 H. Hermsdorf: Er setzt sich dafür ein, daß die Fraktion endlich eine gemeinsame Agrarpolitik entwickelt und nicht mehr unterschiedliche Agrarpolitik von verschiede- nen Abgeordneten vertreten wird. Werner Jacobi: Er setzt sich dafür ein, daß an der zu erwartenden Regierungserklärung von Erhard eine konstruktive – d. h. konkrete – Kritik geübt werde; hierbei habe man sich vor Gemeinplätzen zu hüten. Hellmut Kalbitzer: Er nimmt zu dem Bericht von Schmitt-Vockenhausen Stellung. Zwei wesentliche Fragen seien in diesem Bericht offengeblieben: 1. werden außer den Spionageverdächtigen [weitere] Personen mit alliierter Hilfe ab- gehört? Wenn ja, so sei dies ein Skandal; 2. wird unsere Verfassung von ehemaligen SD-Leuten geschützt?42 Diese Fragen bedürften unbedingt einer eindeutigen Antwort. Protokollführung der Fraktionssitzung vom 2.௔10. 1963 ab 18.00 von Eugen Selbmann

38 Vgl. den Bericht über die Sitzung des Sozialpolitischen Ausschusses am 1. 10. 1963 in »Die SPD- Fraktion teilt mit« Nr. 231/63 vom 1. 10. 1963 mit dem Wortlaut der von Schellenberg abgegebenen Erklärung; vgl. ferner auch die Darstellung darüber in JAHRBUCH SPD 1962/63, S. 154. Über den an- schließenden Fortgang der Beratungen ebd., S. 154-162. 39 Vgl. Nr. 61, TOP 4 und Nr. 43, Anm. 83. 40 Seit dem 6. 10. 1953 hatte das Fernsehen mehrfach Direktübertragungen von Bundestagssitzungen gesendet; vgl. DATENHANDBUCH 1949-1982, S. 1034. Ein Beschluß, keine Übertragungen mehr zu- zulassen, wird dort nicht erwähnt. 41 Eine generelle Zulassung von Live-Sendungen aus den Plenarsitzungen erfolgte erst am 11. 1. 1966 durch den Ältestenrat; vgl. DATENHANDBUCH 1949-1982, S. 1034. 42 Vgl. die mündliche Anfrage von Kalbitzer gemäß § 111 GO unter Datum vom 4. 10., BT Anl. 86, Drs. IV/1500 (I, 2) und die schriftliche Antwort von Bundeskanzler Adenauer vom 8. 10. 1963, BT Sten. Ber. 53, S. 4145.

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Fritz Erler stellt zu den Ausführungen von Hellmut Kalbitzer fest, daß im Grunde keine Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen bestehen (bezieht sich auf Äußerun- gen von Hermann Schmitt-Vockenhausen, Fritz Erler, Hellmut Kalbitzer). Entscheidend ist, daß diese belasteten GESTAPO-Leute aus dem Amt herauskommen und nicht die Frage, wer sie eingestellt hat und wann sie eingestellt wurden. Hermann Schmitt-Vockenhausen weist auf die Schwierigkeiten hin, nachzuweisen, ob abgehört worden ist. Entscheidend sei die Frage, daß jetzt vom Innenminister Auskunft darüber gegeben werde, welche Personen bisher abgehört wurden. Fritz Erler weist darauf hin, daß er sich mit der Kommissionssitzung nicht zufrieden geben werde, wenn dabei nicht die Namensliste vorgelegt werde.43 Hellmut Kalbitzer bemängelt noch einmal die Ausführungen Hermann Schmitt- Vockenhausens, die seines Erachtens zu leger waren. Hermann Schmitt-Vockenhausen sagt aber zu, daß er den von Kalbitzer angeführten Fall von Rechtsanwalt Samuel44 nachprüfen wird. Fritz Sänger ist mit dem Bild, das Ulrich Lohmar über Erhard gegeben hat, nicht ein- verstanden. Seines Erachtens nach gibt der Infratest in der Zeitschrift Quick kein gülti- ges Bild der Bevölkerung in dem Befragungszeitraum wieder.45 Während dieser Zeit herrschte eine allgemeine Unsicherheit, die durch die Regierungspolitik hervorgerufen wurde, innerhalb der Bevölkerung. Holger Börner forderte im Hinblick auf die Durchführung des Verbringungsgesetzes, daß die Fraktion künftig solche politischen Gesetze genauer prüft. Dieses Gesetz sei politisch und juristisch skandalös.46 Er bittet, daß die Fraktion dieses vom Bundestag 1961 verabschiedete Gesetz einer neuerlichen Prüfung unterzieht. Auch hält er es für angebracht, daß die Genossen in den zuständigen Ausschüssen, ehe sie Erklärungen dort abgeben, vorher in der Fraktion darüber sprechen. Das sei unter keinen Umstän- den ein Mißtrauen, sondern solche wichtigen politischen Fragen müssen vorher in der Fraktion besprochen werden. Ludwig Metzger weist auf die starke Stimmungsmache der CDU gegen die SPD hin, doch warnt er davor, daß die SPD sich zu schnell von der Sache distanziert wie im Falle des Leiters der Panorama-Sendung Rüdiger Proske.47 Fritz Erler äußert die Zufriedenheit über die fruchtbare Aussprache und nimmt zu einzelnen Diskussionsthemen wie folgt Stellung:

43 Vgl. Anm. 23, Nr. 64, bes. Anm. 12 und Nr. 65, TOP 1. 44 Gemeint sein dürfte Rechtsanwalt Herbert Samuel (geb. 1901), Mitgl. der Hamburger Bürgerschaft (FDP) 1953-1966. 45 Die Illustrierte »Quick« berief sich in Nr. 40 vom 6. 10. 1963 in einem Artikel »Erhard, Erhard über alles!«, S. 8 f., 42, 44 und 46 f. auf eine von ihr in Auftrag gegebene Meinungsumfrage von »Infratest«. Danach glaubten 72%, »daß Erhard auch ein guter Politiker an der Regierungsspitze sei« und 48%, daß er »1965 wieder gewählt werde«. Erhard habe ferner »bei den Wählern der FDP und SPD mehr Anhänger als unter den eigenen Parteifreunden in der CDU/CSU«. Nur 9% hätten »Be- denken gegen einen Kanzler Erhard«. Insgesamt sei »noch nie in Deutschland ein demokratischer Politiker mit solchen Vorschußlorbeeren bedacht worden wie Erhard«. 46 Vgl. Anm. 28 und 29. 47 Rüdiger Proske (geb. 1916), Publizist, seit 1952 beim NWDR/NDR, ab 1960 als Hauptabteilungslei- ter, seit 1961 Leiter des Fernsehmagazins »Panorama« und Verantwortlicher für die »Panoramasen- dung« vom 23. 9. 1963 über die Abhöraffäre; er wurde im Oktober 1963 als »Panorama«-Chef abge- setzt. Vgl. Anm. 20 sowie »Der Spiegel« Nr. 43 vom 23. 10. 1963, S. 42 f.

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Zu den Ausführungen Ludwig Metzgers meint er, daß die SPD das engste Verhältnis zur Meinungsfreiheit hat und zitiert das Wort von Rosa Luxemburg: »Meinungsfreiheit ist immer die Meinungsfreiheit des anderen«.48 Daß die Meinungsfreiheit auch ihre Grenzen hat, darüber brauche er in diesem Kreise nicht zu reden. Man müsse aber heute die Bedeutung und die Wirkung der Massenmedien erkennen. Hier liegt eine Gefahr und dieser Gefahr kann man nur begegnen, wenn von den Journalisten größte Disziplin im Umgang mit der Wahrheit geübt wird. Zu den Ausführungen Ritzels er- klärt Erler, daß man sich mit den von ihm angeschnittenen außenpolitischen Fragen in der Fraktion befassen muß. Zur Frage der Preispolitik wird der Fraktionsvorstand prüfen, was noch ergänzend zu der dieser Tage in Essen stattfindenden großen Tagung der SPD getan werden kann. Die Frage des Telefonabhörens im Bundestag sollte intern geklärt werden. Es sei aber im Augenblick nicht angebracht, den Brief von Fritz Schäfer an den Bundestagspräsidenten zu veröffentlichen. Die Prüfung des Verbringungsgeset- zes sollte in die gegenwärtigen Besprechungen über die Telefon-Affäre einbezogen werden.49 Bei der Behandlung des Ministers Erhard als Bundeskanzler muß eine andere Position bezogen werden, als gegenüber dem alten Bundeskanzler. Auch in der Frage der Agrarpolitik sollte es möglichst bald zu einer klaren Abstim- mung innerhalb der Fraktion kommen, zumal in den letzten Jahren eine Angleichung der Meinungen innerhalb der Fraktion festzustellen seien. Zu Punkt 4 der Tagesordnung50 weist Karl Mommer auf die Vorlage über den Sit- zungsablauf in der nächsten Woche hin. Er bittet, daß der 25. Oktober von den Genos- sen für eine Plenarsitzung freigehalten wird, da an diesem Tage noch mit einer Aus- sprache über die Regierungserklärung zu rechnen ist.51 Punkt 5 der Tagesordnung: Vorlagen aus den Arbeitskreisen: Die Fraktion beschließt ohne Aussprache, daß der Antrag betreffend Forschungsgesetz und der Antrag des Gesetzes zur Änderung des Bundesbeamtengesetzes eingebracht werden.52 Die beiden anderen Vorlagen, Antrag betreffend internationale Polizeikonvention und Kleine Anfrage betreffend interministerieller Filmprüfungsausschuß werden zurückgestellt.53 Zu Punkt 6 der Tagesordnung: Karl Mommer gibt die nächsten Termine bekannt:

48 Das Wort von Rosa Luxemburg in: Die russische Revolution. Aus dem Nachlaß hrsg. und eingeleitet von Paul LEVI, Berlin 1922, S. 203 bezog sich generell auf »politische Freiheit« und lautete: »Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahl- reich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.« 49 Im Anschluß an eine Frage von Schmitt-Vockenhausen zur Handhabung des Gesetzes zur Überwa- chung strafrechtlicher Verbringungsverbote erläuterte BMF Dahlgrün am 23. 10. 1963 im Plenum die Ausführungsbestimmungen und die geltende Praxis. Auf Zusatzfragen erklärte er sich bereit, im In- nenausschuß ergänzende Auskünfte zu geben. – BT Anl. 86, Drs. IV/1541 (V/1 und VI 1) und BT Sten. Ber. 53, S. 4218-4221. 50 Die beiliegende TO sah unter »4. Vorschau auf die kommende Arbeit« vor. 51 In der Plenarsitzung am Freitag, dem 25. 10. wurden nur Fragen behandelt; die Aussprache über die Regierungserklärung fand am 24. 10. 1963 statt. Vgl. Nr. 67. 52 Die Anträge »betr. Vorlage des Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der wissenschaftlichen For- schung« und der mit dem »Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Bundesbeamtengesetzes«, der eine Weihnachtszuwendung vorsah, wurden am 4. 10. 1963 eingebracht. BT Anl. 86, Drs. IV/1494 und 1495. 53 Siehe Nr. 64, TOP 4, bes. Anm. 29.

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Dienstag, den 8.௔10. 1963 um 9.30 Uhr Vorstandssitzung, um 15.00 Uhr Fraktionssit- zung. Zu Punkt 7 der Tagesordnung Verschiedenes: Es erfolgten keine Wortmeldungen. Fritz Erler schließt die Fraktionssitzung. Bonn, den 3. Oktober 1963

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