SPD – 05. WP Fraktionssitzung: 30. 11./01. 12. 1966

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30. November/1. Dezember 1966: Fraktionssitzung

FP Legislaturperiode V/I. Fraktion. Protokolle u. Tgo I. 19. 10. 1965 – 27. 4. 1967, neu: AdsD, SPD-BT-Fraktion 5. WP, 44. Überschrift: »SPD-Bundestagsfraktion. Protokoll der Fraktionssitzung am 30. November 1966«. Anwesend: 187 Abgeordnete.1 Prot.: Winkler und Glückert. Zeit: 16.30 – 0.15 Uhr (1. 12. 1966).

Beginn: 16.30 Uhr Vorsitz: Tagesordnung: Die Bildung der neuen Bundesregierung Herbert Wehner gedenkt des verstorbenen Genossen .2 Er würdigt das Leben, Wirken und die Verdienste des Toten. Nach einleitenden Bemerkungen von Herbert Wehner ergreift das Wort. Willy Brandt nimmt zunächst Stellung zu einigen noch offenen Sachfragen. I. Offene Sachfragen: 1. Es sei nicht zweckmäßig, etwas über die Dauer der Zusammenarbeit zwischen SPD und CDU zu vereinbaren. Die CDU/CSU teile diese Auffassung.3 2. In der Frage der Soforthilfe für die Gemeinden und der Neuregelung des Bundesan- teils an der Einkommensteuer und Körperschaftssteuer sei in einer Sonderkommission Einigung erzielt worden. Darüber werde Alex Möller der Fraktion berichten.4 3. In der Verhandlungsdelegation habe man sich (für die Zeit nach 1969) für ein neues Wahlrecht ausgesprochen, das noch in dieser Legislaturperiode im Grundgesetz veran- kert werden soll.5 Die Verhandlungsführer der SPD hätten jedoch betont, daß damit

1 Die Angabe über die anwesenden Abgeordneten nach Bestandsaufnahme 1966, S. 42. 2 Wenzel Jacksch war am 27. 11. 1966 an den Folgen eines Verkehrsunfalles gestorben; zu seiner Wür- digung vgl. BT Sten. Ber. 62, S. 3521. 3 In der Regierungserklärung von Bundeskanzler Kiesinger vom 13. 12. 1966 wurde ausdrücklich betont, es sei »der feste Wille der Partner der Großen Koalition, diese nur auf Zeit, also bis zum En- de der Legislaturperiode zu vereinbaren«. BT Sten. Ber. 63, S. 3657. – Auch der Fraktionsvors. der CDU/CSU Barzel betonte in der Aussprache über die Regierungserklärung am 15. 12.: »Wir wollen diese Koalition auf Zeit.« Brandt äußerte sich demgegenüber in der »Parteiratssitzung 28. 11. 66« (AdsD, PV ab 12. 9. 66 bis 1. 4. 67) wesentlich offener. Er gehe davon aus, daß es »zumindest bis 1969 hält«, doch halte er es für falsch, »darüber etwas aufzuschreiben«. Er wolle »als theoretische Überle- gung« auch »gar nicht ausschließen, daß sich herausstellen könnte, es gibt da Aufgaben, die länger als drei Jahre in Anspruch nehmen«. Doch wolle er davon »keinerlei Diskussionen und Festlegungen ableiten«. Vgl. die Wiedergabe in Bestandsaufnahme 1966, S. 58. 4 Siehe weiter unten die Ausführungen Möllers. 5 Nach Bestandsaufnahme 1966, S. 88 stimmten »die Kommissionen von CDU/CSU und SPD« »in der Auffassung überein, daß ein neues Wahlrecht zu entwickeln sei, aus dem klare Mehrheiten im hervorgehen müßten«, womit ein »relatives Mehrheitswahlrecht« gemeint gewesen sei. »Man wurde sich einig, daß jeweils bevorstehende Wahlen stets nach dem geltenden Wahlrecht abge- halten werden müßten.« Für 1969 sei »eine Übergangsregelung ins Auge gefaßt worden«, »die aber noch nicht in Einzelheiten besprochen wurde. Ein neues Wahlrecht kann also erst bei den ersten Wahlen nach 1969 wirksam werden.« Brandt bat in seinem Bericht in der »Parteiratssitzung 28. 11. 1966«, S. 15 f. (vgl. Anm. 3) um eine »Bereitschaftserklärung, daß wir für 1969, aber für die Wahl nach 1969, ein Wahlrecht in Aussicht nehmen, das klare Mehrheiten schafft. Nicht ein manipuliertes Mehrheitswahlrecht, und vor allen Dingen auch – zumal auf 1969 bezogen – nichts, was wie ein Kar- tell von Zweien aussieht, die dem Dritten die Gurgel durchschneiden.« Wenn man sich auf ein ent-

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die Fraktion der SPD noch nicht gebunden sei.6 Vor allem der Parteitag werde sich zunächst mit diesem Problem beschäftigen müssen.7 Die CDU/CSU habe ebenfalls erklärt, daß sie sich in dieser Frage jetzt noch nicht binden könne.8 4. Eine Mitwirkung der Berliner Abgeordneten bei der Kanzlerwahl sei nicht sicher.9 Bundestagspräsident Gerstenmaier habe Bedenken.10 Der künftige Außenminister11

sprechendes Wahlrecht für die Zeit nach 1969 einige, dann müsse dieses »in der Verfassung verankert werden« und »durch Zweidrittel-Mehrheit, damit nicht immer mit dem Wahlrecht herumgemacht werden kann, jeweils vor einer Wahl«. Vgl. auch Kiesinger in der Regierungserklärung am 13. 12. 1966 (BT Sten. Ber. 63, S. 3657), während der Großen Koalition solle ein »neues Wahlrecht grundge- setzlich verankert werden, daß für künftige Wahlen zum Deutschen Bundestag nach 1969 klare Mehrheiten ermöglicht. […] Die Möglichkeit für ein Übergangswahlrecht für die Bundestagswahl 1969 wird von der Regierung geprüft.« Vgl. auch die Darstellung bei JESSE, Wahlrecht, S. 114 f. HIL- DEBRAND, Erhard, S. 255 betont, es sei Einigkeit »im Hinblick auf die Einführung eines Übergangs- wahlrecht für das Jahr 1969, das die Bundesrepublik von politischer Extremierung bewahren sollte, und die Schaffung eines Mehrheitswahlrechts für das Jahr 1973 erzielt worden«. Vgl. dagegen das folgende sowie Anm. 7 und 8. 6 In der Sitzung des Partei- und Fraktionsvorstandes am 28. 11. 1966, AdsD, PV ab 12. 9. 66 bis 1. 4. 67, betonte Brandt, daß es »keine feste Bindung zur Wahlrechtsänderung« gäbe und es »für 1969 noch keine Festlegung geben dürfe«. Vgl. auch Nr. 166, Anm. 29. – In der Aussprache zur Regierungser- klärung favorisierten zwar H. Schmidt und Schmitt-Vockenhausen für sich persönlich ein Mehr- heitswahlrecht; doch zur Haltung der SPD-Fraktion sagten sie nur, sie werde »auf einer sehr gründli- chen Prüfung dieser schwierigen Materie bestehen, ehe sie überhaupt zu einer Entschließung bereit ist«. BT Sten. Ber. 63, S. 3718, 3722, 3822-3824. 7 Gemeint war auf dem nächsten ordentlichen Parteitag der SPD; die Einberufung eines außerordentli- chen Parteitages lehnte der Parteivorstand in einer gemeinsamen Sitzung mit dem Fraktionsvorstand am 28. 11. (ebd.) ab und faßte gegen die Stimme von Wilhelm Conrad den Beschluß: »Der Parteivor- stand hält es für richtig, daß in die Vereinbarungen aufgenommen wird, daß für die erste Wahl nach 1969 ein Wahlrecht angestrebt wird, das klare Mehrheiten schafft, daran mitzuwirken, dafür die Grundlagen zu schaffen.« In seiner Plenarrede vom 15. 12. erklärte H. Schmidt noch für die SPD- Fraktion: »Meine Partei wird diese Frage auch auf einem Bundesparteitag behandeln.« BT Sten. Ber. 63, S. 3722. 8 In der Sondersitzung der CDU/CSU-Fraktion am 28. 11. 1966 war die geplante Wahlrechtsreform und das Verhalten ihrer Verhandlungskommission ausgiebig debattiert und vielfach heftig kritisiert worden. KNORR, S. 95 f. 9 Zur Vorgeschichte vgl. Nr. 162, Anm. 14, 163, bes. Anm. 15 und 166, bes. Anm. 26. Wie Brandt in der »Parteiratssitzung 28. 11. 1966«, S. 16 f. (vgl. Anm. 3) mitteilte, hatten am 27. 11. die »Experten« mit dem zuständigen Ministerialdirektor im BMI darüber beraten und man werde »hoffentlich jetzt noch in den nächsten zwei Tagen auf den Weg bringen, was eine Lösung in Stufen bedeuten würde. Ich hoffe, es wird dadurch möglich, bereits zur Kanzlerwahl eine Regelung zu erreichen, wie bei der Bundespräsidentenwahl 1954. Das heißt, das getrennte Abgeben der Stimmen, das gemeinsame Ver- künden des Ergebnisses. Eine entsprechende Regelung bei der Schlußabstimmung über Gesetze und eine entsprechende Regelung im Bundesrat ist auch jetzt aufgeschrieben und muß in die Erörterung der beiden die Regierung tragenden Parteien hinein.« 10 Zu Gerstenmaiers Bedenken vgl. Nr. 163, Anm. 15. – Bei der Wahl des Bundeskanzlers am 1. 12. 1966 erklärte Gerstenmaier als Bundestagspräsident: »Unsere Berliner Mitglieder sind weiterhin – was ich lebhaft bedaure – einem Sonderstatus unterworfen, der ihnen das volle Stimmrecht vorent- hält.« Dementsprechend können »auch bei dieser Bundeskanzlerwahl die Stimmen der Berliner Mit- glieder des Hauses nicht berücksichtigt werden« und nur »gesondert gezählt werden«. Bei der Ver- kündung des Wahlergebnisses gab Gerstenmaier zunächst getrennt die Zahlen der abgegebenen gül- tigen und ungültigen Stimmen sowie der Nein-Stimmen und weißen Stimmkarten bekannt, um dann fortzufahren: »Mithin sind für Herrn Dr. Kiesinger, wenn ich die Berliner Stimmen mitzähle, 356 Stimmkarten abgegeben worden. Auch wenn man die Berliner Stimmen wegläßt, ändert das an dem Ergebnis der Wahl insofern nichts, als die Zahl von 340 Stimmen das Quorum von 249 Stimmen weit übersteigt.« BT Sten. Ber. 62, S. 3539 f.

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werde sich jedoch der Frage des Stimmrechts der Berliner Abgeordneten in besonde- rem Maße annehmen. II. Organisatorische Struktur: Die Zahl der Minister in der neuen Bundesregierung soll um zwei vermindert werden: Bundesverteidigungsrat und Kanzleramt.12 Im Laufe der Legislaturperiode solle dann das Postministerium verschwinden.13 Ein weiterer Abbau der Ministerien sei leider nicht zu erreichen gewesen. Die Gründe hierfür liegen bei der anderen Fraktion, insbe- sondere bei der CSU, die sich nunmehr mit drei (statt bisher fünf) Ministerien begnü- gen müsse.14 Für einige Ministerien sollen sog. Parlamentarische Staatssekretäre ge- schaffen werden: Bundeskanzleramt, Innenministerium, Verteidigungsministerium, Finanzministerium, Auswärtiges Amt, Wirtschaftsministerium und Verkehrsministeri- um.15 Es sei ferner vereinbart worden, keine »Überkreuzbesetzung« (Proporzsystem) in den Ministerien vorzunehmen.16 Das Bundespresseamt erhalte eine neue Spitze. Der Stellvertreter werde von der SPD gestellt werden.17 III. Personelle Struktur: Willy Brandt gibt einen Überblick über die Besetzung der Ministerien (vgl. Anlage: Pressemitteilung vom 30. November 1966).18 und Ernst Schellen- berg

11 Nach KNORR, S. 97 f. war die Entscheidung für die Übernahme des BMAusw durch Brandt erst in einem Vier-Augen-Gespräch von Kiesinger und Brandt am Abend des 29. 11. 1966 gefallen und an- schließend von der Verhandlungskommission gebilligt worden. Vgl. auch Anm. 18. Dem steht die Aussage von H. Schmidt in: »Parteiratssitzung 28. 11. 1966«, S. V, 15 (vgl. Anm. 3) entgegen, daß die CDU/CSU bereit sei, Brandt als Vizekanzler und Außenminister zu akzeptieren. Vgl. auch Nr. 166, Anm. 97. Zu dem Gespräch Kiesinger-Brandt, »die sich zurückgezogen hatten, um unabhängig von ihren Kommissionen an der Kabinettsliste zu basteln«, vgl. MÖLLER, Genosse, S. 310 f. 12 Diese Abrede war in dem Brandt-Kiesinger-Gespräch – vgl. die vorige Anm. – getroffen worden. 13 Das BM für das Post- und Fernmeldewesen blieb bestehen. 14 Die CSU stellte im Kabinett Kiesinger den BMF Franz Josef Strauß, den BML Hermann Höcherl und den BM für das Post- und Fernmeldewesen . 15 Die rechtlichen Voraussetzungen für die Einsetzung der Parlamentarischen Staatssekretäre wurden mit dem Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre vom 6. 4. 1967 ge- schaffen; anschließend wurden sie für die genannten Ämter berufen. Vgl. Friedrich Karl FROMME; Die Parlamentarischen Staatssekretäre. Entwicklung in der 6. Wahlperiode. In: Zeitschrift für Parla- mentsfragen, Jg. 1, 1970, H. 1, S. 53-83. – Zur personellen Besetzung im April 1967 siehe DATEN- HANDBUCH 1949-1982, S. 324, 328, 330, 332, 334, 339 und 343. 16 Vgl. dazu Brandt in »Parteiratssitzung 28. 11. 1966« (dieser Teil in Bestandsaufnahme 1966, S. 58), wonach »die negativen Elemente der langjährigen österreichischen Koalition«, das schwarz-rote »Über-Kreuz-Besetzen« vermieden werden solle. 17 Chef des Presse- und Informationsamtes und Sprecher der BReg blieb bis zum 14. 11. 1967 Karl- Günther von Hase (CDU). Vgl. DATENHANDBUCH 1949-1982, S. 324. Am 15. 12. 1966 nahm der ehemalige stellv. Chefredakteur des »Spiegel« Conrad Ahlers (1922-1980) seine Tätigkeit im BPA auf. Bulletin Nr. 154 vom 7. 12. 1966, S. 1248, Nr. 159 vom 20. 12. 1966, S. 1292; AdG 1966, S. 12876. Erst am 9. Januar 1967 übernahm Ahlers das Amt des Stellv. Sprechers. Vgl. AdG 1967, S. 12917. 18 »Die SPD-Fraktion teilt mit« Nr. 521/66 vom 30. 11. 1966. Es hieß darin, Brandt habe »einen Über- blick über die von der SPD zu besetzenden Ministerien« gegeben und »die hierfür vorgesehenen Per- sonen« genannt. »Auswärtiges Amt: Willy Brandt; Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen: Herbert Wehner; Bundesministerium für Wirtschaft: Prof. Dr. ; Bundesministerium für Verkehr: ; Bundesministerium der Justiz: Dr. Dr. ; Bundesministeri- um für wirtschaftliche Zusammenarbeit: Hans-Jürgen Wischnewski; Bundesministerium für Woh- nungswesen und Städtebau: ; Bundesministerium für Angelegenheiten des Bundes- rates und der Länder: Prof. Dr. Carlo Schmid«. Nach MÖLLER, Genosse, S. 310 f. erfolgte nach dem Kiesinger-Brandt-Gespräch am 29. 11. über die Kabinettsliste eine »getrennte Berichterstattung« in den Verhandlungskommissionen und bei der SPD eine »Einigung über die von der SPD zu machen-

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werden der neuen Bundesregierung nicht angehören. Willy Brandt würde es jedoch sehr begrüßen, wenn Ernst Schellenberg zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt würde.19 Alex Möller habe auf ein Ministeramt verzichtet, weil er sich ganz der Fraktionsarbeit widmen wolle.20 Ob Strauß das ihm angebotene Finanzministerium übernehmen werde, sei zur Stunde noch ungewiß.21 Auch die Übernahme des Verteidi- gungsministeriums durch Schröder sei noch nicht endgültig entschieden.22 In das Bun- despresseamt solle für die SPD Conrad Ahlers einziehen.17 Willy Brandt geht kurz auf die Regierungsbildung in Düsseldorf ein und stellt klar, daß es zwischen den Regierungsbildungen in und Düsseldorf kein Junktim gebe.23 Abschließend stellt Willy Brandt fest, daß bei der Regierungsbildung folgende drei Punkte zu berücksichtigen seien: 1. Die großen Aufgaben der Sicherung der Arbeitsplätze und der Währung, der Sanie- rung der Staatsfinanzen, der Gewinnung außenpolitischer Handlungsfreiheit in der deutschen Frage usw. erfordern die Große Koalition.

den Vorschläge, die vorher nicht abgesprochen waren«. In der gemeinsamen Beratung der Verhand- lungskommissionen, die von 0.30-3.30 Uhr am 30. 11. in der Berliner Landesvertretung tagten, wurde dann versucht, »Einigkeit über die Kabinettsliste und andere wichtige Personalien zu erzielen«. Bei der CDU/CSU habe es erhebliche Probleme gegeben. Auf seiten der SPD habe man mit »einigen der Vorgeschlagenen«, so mit Carlo Schmid, erst am Vormittag des 30. 11. »Verbindung aufnehmen« können. »Georg Leber, der noch nichts von seinem Glück ahnte, war in Rom. Ihm mußten wir tele- fonisch auseinandersetzen, warum wir ihn als Verkehrsminister brauchten. So sehen also Entschei- dungen über Ministersessel in der Wirklichkeit aus.« Nach SCHMID, Erinnerungen, S. 395 »zögerte« er, kam aber doch »der Bitte nach«. Vgl. dazu auch den Bericht in »Der Spiegel« Nr. 50 vom 5. 12. 1966, S. 34 und 36. Danach war »die Hauptschwierigkeit bei der SPD […] der Fall Helmut Schmidt. Da die CDU das Verteidigungsministerium bekommen hatte, sollte er mit dem Verkehrsministerium abgefunden werden. Aber Schmidt lehnte ab. Er wollte lieber erster Mann der Bundestagsfraktion sein.« 19 In der Fraktionssitzung am 6. 12. übernahm H. Schmidt zunächst »das Amt des amtierenden Frakti- onsvorsitzenden« von Wehner. In der Sitzung vom 13. 12. 1966 wurde dann nach kontroverser De- batte mit Mehrheit beschlossen, die Zahl der stellv. Fraktionsvors. von vier auf fünf zu erhöhen; an- schließend wurden Schellenberg, Franke und M. Hirsch zugewählt; ausgeschieden waren Wehner und Schiller. Vgl. »Protokoll der Fraktionssitzung vom 6. 12. 1966«; »Fraktionsprotokoll über die Sitzung vom 13. Dezember 1966«; »Protokoll über die Fraktionssitzung am 14. Dezember 1966«; AdsD, FP V. Leg. Per. 14. 9. 66-14. 12. 66. 20 Auf Vorschlag des amtierenden Fraktionsvors. H. Schmidt wurde Möller »für die Zeit« von Erlers Krankheit »die Funktion eines ersten stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden übertragen«. »Frakti- onsprotokoll über die Sitzung vom 13. Dezember 1966«. 21 Strauß hatte seinen Kabinettseintritt von Bedingungen für eine rigorose Finanzpolitik abhängig gemacht. Vgl. KNORR, S. 98; »Der Spiegel« Nr. 50 vom 5. 12. 1966, S. 33. 22 Vgl. »Der Spiegel« ebd. S. 331. 23 Zum Stand der Koalitionsgespräche in Düsseldorf vgl. die Darstellung bei KÜHN, Aufbau, S. 200: »Je mehr erkennbar wurde, daß die Entwicklung in Bonn auf eine Große Koalition« mit Strauß »hin- führte, desto mehr verstärkte sich der Widerstand gegen eine Große Koalition in Düsseldorf«. Brandt sei in einer Sondersitzung der SPD-Landtagsfraktion mit »eisigem Schweigen« empfangen worden. Mit seiner kurzen Rede, in der er die Souveränität der Landtagsfraktion in ihrer Entschei- dung betonte und jeder Regierung unter Kühn ein gutes Gelingen wünschte, habe sich die Stimmung jedoch »fundamental« verändert. Am 1. 12. entschied sich die Landtagsfraktion definitiv mit 73 gegen 21 Stimmen für die Koalition mit der FDP. Vgl. auch BRANDT, Begegnungen und Einsichten, S. 173: »Wir arbeiteten nicht mit einer ›doppelten Strategie‹, aber ich hatte keine Möglichkeit – als ich wäh- rend der abschließenden Bonner Gespräche nach Düsseldorf fuhr – meine Freunde im Land für eine Große Koalition zu gewinnen.« – Zum Vorlauf der Koalitionsentscheidung in NRW vgl. Nr. 164, 165 und 166 (Ausführungen Figgen und Kühn).

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2. Die Bundestagswahlen können nicht nachträglich gewonnen werden. Also muß eine Lösung nach der Formel gesucht werden: weder Sieger noch Besiegte.24 3. Die SPD werde nicht die Politik der anderen betreiben, sondern sich von ihren Überzeugungen leiten lassen. Ernst Schellenberg: Bei der Verteilung der Ministerien sei kein Gleichgewicht zwi- schen SPD und CDU/CSU im gesellschaftspolitischen Bereich erreicht worden.25 Der enge finanzielle Spielraum in den nächsten Jahren sei nur ein schwacher Trost. Ernst Schellenberg bejaht dennoch die von Willy Brandt vorgetragene Lösung. Er hebt her- vor, daß das gesellschaftspolitische Sachprogramm der SPD verpflichtender Teil für die neue Bundesregierung sein müsse. Hermann Buschfort stellt den Antrag, die für den 1. Dezember 1966 vorgesehene Kanzlerwahl abzusetzen.26 Hermann Schmitt-Vockenhausen vertritt die Auffassung, daß die Entscheidung nicht länger zurückgestellt werden könne. Der Antrag von Hermann Buschfort wird mit 108 Nein-Stimmen bei 39 Ja-Stimmen abgelehnt. Franz Marx kritisiert, daß die Zahl der Ministerien nicht stärker verringert werden konnte. Er wendet sich außerdem dagegen, daß Franz Josef Strauß in das Kabinett einzieht. Fritz Sänger beanstandet, daß auf der Gegenseite ein Ministerium mehr vorhanden sei.27 Es sei ungewiß, ob das Postministerium in der nächsten Zeit wirklich abgeschafft werde. Der Führungsanspruch der CDU/CSU sei nicht berechtigt. Weitere Fragen: In welcher Hand wird der Konjunkturrat liegen?28 Durch welches Ministerium werden die Außenhandelsfragen wahrgenommen werden? Wie ist die Stellvertretung des Bun- deskanzlers geregelt (Vizekanzler, Staatssekretär)? schlägt vor, daß über die Ministerliste noch einmal ein Gespräch mit der CDU/CSU geführt werde. Die Besetzung des Verteidigungsministeriums und des In- nenministeriums durch die CDU gefährde das Gleichgewicht zwischen den Parteien. Gegen die personelle Zusammensetzung habe er jedoch keine Bedenken.

24 Willy Müller berichtete Erler dazu in einem Schreiben vom 5. 12. 1966 (AdsD, NL Erler 61), Brandt habe in dieser Sitzung »darauf aufmerksam gemacht, Du hättest ihn gebeten, wenn sich die Möglich- keit dazu ergäbe, auf die Schlacht von Königgrätz zu exemplifizieren, wo es Bismarck gelang, Wil- helm I. davon zu überzeugen, Kronprinz Friedrich müsse davon abgehalten werden, die siegreichen Preußentruppen in Wien einmarschieren zu lassen. Ich habe das als einen Hinweis darauf verstanden, die Forderung des Offenbarungseides sollte nicht bis zum letzten ausgekostet werden.« 25 An die CDU/CSU fielen das BM für Arbeit und Sozialordnung (Hans Katzer), Familie und Jugend (), Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsbeschädigte (von Hassel), an die SPD das BM für Gesundheitswesen (Käte Strobel) und das BM für Wohnungswesen und Städtebau (Lauritz Laurit- zen). 26 Kiesinger wurde am 1. 12. 1966 zum Bundeskanzler gewählt; vgl. oben Anm. 10. 27 Die CDU/CSU erhielt zehn, die SPD neun Ministerien. 28 Gemeint ist ein Konjunkturrat der öffentlichen Hand mit der Aufgabe, die Haushalts-, Finanzund Kreditpolitik zwischen Bund, Ländern und Gemeinden abzustimmen. Ein solches Gremium war bis zu diesem Zeitpunkt nur in den Änderungsanträgen vorgesehen, die von der SPD zu dem von der Regierung Erhard vorgelegten Gesetzentwurf zur Förderung der wirtschaftlichen Stabilität gestellt worden waren. Vgl. Nr. 154, TOP 1, Nr. 157, Anm. 6 und 159, TOP 1. Im Bundestag hatte Schiller für die SPD die Einsetzung eines Konjunkturrates am 14. 9. 1966 und zuvor schon am 29. 11. 1965 gefordert; BT Sten. Ber. 60, S. 127-136 und 62, S. 2665. Erst mit dem unter der Großen Koalition stark veränderten und erweiterten »Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft« vom 8. 6. 1967 (BGBl. I, S. 582) wurde der Konjunkturrat verbindlich. Er konstituierte sich am 13. 7. 1967. Vgl. auch die folgende Anm.

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Willy Brandt erklärt, es sei sichergestellt, daß das Wirtschaftsministerium unangetastet bleibe. Der Vorsitz im Konjunkturrat werde, wie im Stabilisierungsgesetz vorgesehen, der Wirtschaftsminister haben.29 Die Stellvertretung des Bundeskanzlers durch einen Staatssekretär der CDU/CSU entspreche dem Grundsatz des Nichtüberkreuzbeset- zens.30 Die Fraktion solle ihre Entscheidung unter der Voraussetzung treffen, daß Strauß und Schröder im Kabinett vertreten sein werden. Ulrich Lohmar beklagt, daß keine sachgemäße Zusammenfassung der Ministerien erreicht worden sei. Das 8-Punkte-Programm der SPD31 sei Voraussetzung der Zu- sammenarbeit zwischen CDU/CSU und der SPD gewesen. Von seiten der CDU/CSU werde jedoch erklärt, es bestehe kein Grund, die künftige Politik zu ändern.32 Darin liege ein Widerspruch. Hans Geiger kritisiert ebenfalls das ungünstige Verhältnis bei der Besetzung der Mini- sterien. Franz Stein wendet sich dagegen, daß Strauß in das Kabinett einzieht. erklärt, daß sie nicht für die neue Regierung stimmen werde. Im neuen Kabinett werde »Brutus« sitzen. Der neue Außenminister werde nicht in der Lage sein, die Welt zu ändern. Helene Wessel erinnert an das Schicksal der Regierung Brüning.33 Helmut Schmidt stellt sich hinter die Vorschläge Willy Brandts. Die aus der Fraktion vorgetragene Kritik an der Verteilung der Ministerien könnte als Ausdruck verminder- ten Vertrauens in unsere Leute aufgefaßt werden. Das 8-Punkte-Programm31 sei nicht geändert oder gar aufgegeben worden. Es könne also nicht davon die Rede sein, daß sich die CDU/CSU durchgesetzt habe. Eine Verlagerung von Funktionen aus dem Auwärtigen Amt sei nicht vereinbart worden.34 Es handle sich bei diesen Gerüchten um leicht durchschaubare Zweckgerüchte. Helmut Schmidt wendet sich gegen eine Verschiebung der Wahl des Bundeskanzlers. Strauß werde Heinemann und Ahlers als

29 In dem ursprünglichen Gesetzentwurf der Regierung Erhard war noch kein Konjunkturrat vorgese- hen, sondern nur in den dazu von der SPD gestellten Anträgen, die auch vorsahen, daß der BMW den Vorsitz hatte und der BMF sein Stellvertreter war. Siehe Anm. 28; vgl. auch Schiller in »Partei- ratssitzung 28. 11. 1966«, S. VIII/7, AdsD, PV ab 12. 9. 66 bis 1. 4. 67. 30 Als Stellvertreter des Bundeskanzlers Kiesinger nach Art. 69 GG, Abs. 1 fungierte BMAusw Brandt; Beamteter Staatssekretär und Chef des Bundeskanzleramtes wurde im Dezember 1966 Werner Knie- per. Brandt bezog sich allerdings wohl eher auf den neu zu schaffenden Posten eines Parlamentari- schen Staatssekretärs im Bundeskanzleramt, auf den am 14. 4. 1967 Karl Theodor Frhr. von und zu Guttenberg berufen wurde. Vgl. DATENHANDBUCH 1949-1982, S. 324. 31 Siehe Nr. 162, Anm. 7. 32 Vgl. KNORR, S. 97. 33 Die Anspielung von Helene Wessel bezog sich wahrscheinlich auf Hans Schlange-Schöningen, ein damals führendes Mitgl. der DNVP, Kommissar für Osthilfe und Reichsminister ohne Geschäftsbe- reich im zweiten Kabinett Brüning. Die Regierung Brüning demissionierte am 30. 6. 1932, nachdem Reichspräsident von Hindenburg, u. a. unter dem Einfluß großagrarischer Interessen, dem Kabinett die Unterstützung entzog. 34 In den Beratungen der Verhandlungskommission von CDU/CSU und SPD am 29. 11. hatte Schröder nach Presseberichten gefordert, die bisherigen Zuständigkeiten des AA für Verteidigungsfragen im Rahmen der NATO auf das Verteidigungsministerium zu übertragen. Kiesinger habe sich dafür ver- wandt, die Europa-Abteilung des AA auszugliedern und zusammen mit anderen Außenhandelskom- petenzen zu einem neuen Ministerium unter Schmücker zusammenzufassen. Vgl. »Süddeutsche Zei- tung« vom 1. 12. 1966; »Der Spiegel« Nr. 50 vom 5. 12. 1966, S. 34; vgl. KNORR, S. 97 und 284 (Anm. 193).

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Kontrahenten haben.35 Eine Selbstbeschuldigung von Strauß sei nicht zu erwarten. Niemand sei von der Großen Koalition begeistert. Die Kleine Koalition würde jedoch auf unüberwindbare Hindernisse stoßen. Zum Beispiel müßte der Tag des konstrukti- ven Mißtrauensvotums (im Falle einer Kleinen Koalition) hinausgeschoben werden (Tod von Wenzel Jaksch, ablehnende Haltung des FDP-Abgeordneten Ertl36). Hans Hörmann kann sich nicht für die Große Koalition entscheiden. Das Eingehen der CDU/CSU auf das 8-Punkte-Programm der SPD31 sei zu positiv dargestellt wor- den. Es sei kein guter Anfang, wenn die Große Koalition nicht in der Lage sei, die Zahl der Ministerien zu vermindern. Konrad Porzner meint, daß heute über die Grundzüge der Regierungspolitik gespro- chen werden müsse. Das 8-Punkte-Programm31 sollte noch stärker konkretisiert wer- den. Es sei bedenklich, daß es keinen SPD-Minister geben werde, der die Nachrichten- dienste kontrolliert.37 Nunmehr sei jedoch keine Umkehr mehr möglich und man solle daher der vorgeschlagenen Lösung zustimmen. Konrad Porzner fordert, daß die Ar- beitsmöglichkeiten in der Fraktion wesentlich verbessert werden müssen. Er werde dazu entsprechende Anträge stellen.38 Ludwig Fellermaier wendet sich gegen den Eintritt von Franz Josef Strauß in das Ka- binett. Nunmehr habe man sich auf Steuererhöhungen geeinigt39, obwohl Karl Schiller und Alex Möller Steuererhöhungen noch vor kurzer Zeit abgelehnt hätten. Fellermaier fragt, ob die Kontrolle des Reptilienfonds gewährleistet sei.40 Alex Möller berichtet über die Ergebnisse der Verhandlungskommission der SPD – CDU/CSU. Er habe in der Kommission erklärt, daß die Fraktion dem Verhandlungs- ergebnis noch zustimmen müsse. Über die finanziellen Auswirkungen der Beschlüsse zum Steueränderungsgesetz und zum Finanzplanungsgesetz werde das Finanzministe- rium in den nächsten Tagen neue Zahlen vorlegen.41 Das Beteiligungsverhältnis des

35 Heinemann wurde Justizminister; Ahlers, ab Januar 1967 stellv. Regierungssprecher – vgl. Anm. 17 -, galt als Opfer von Strauß bei der Spiegel-Affäre und deshalb als sein besonderer Kontrahent. Vgl. je- doch den Kommentar von in »Der Spiegel« Nr. 52, S. 25, »Ahlers sei nach eigenem Eingeständnis […] zwanzig Jahre lang für eine Große Koalition gewesen«, und Augsteins skeptische Bemerkung über die »Versöhnung« zwischen Ahlers und Strauß. 36 (im Or. versehentlich »Ertel«) (geb. 1925), MdB 1961-1983, stellv. Vorsitzender des FDP- Landesverbandes Bayern. – Ertl hatte in einem Telegramm an Mende diesem mitgeteilt, daß dessen Zusicherung, die FDP werde für Brandt als neuer Bundeskanzler stimmen, nicht auf ihn zutreffe. Vgl. Sitzung des Partei- und Fraktionsvorstandes am 28. 11. 1966 (Brandt), AdsD, PV ab 12. 9. 66 bis 1. 4. 67. – Vgl. auch Nr. 166, Anm. 12. Wie Brandt in der Parteiratssitzung 28. 11. 66, S. 7 f. ebd. – mitteilte, liege es inzwischen »schwarz auf weiß vor, daß der oberbayerische Bezirksverband sich hinter« diese Erklärung Ertls gestellt habe. Das sei am 27. 11. »im Telegramm an Mende und Kühl- mann-Stumm festgehalten worden.« 37 Die Zuständigkeit für den Bundesnachrichtendienst lag beim Kanzleramt, für den Militärischen Abschirmdienst beim BMVtdg, das Schröder (CDU) erhielt, und für den Verfassungsschutz beim BMI unter Lücke (CDU). 38 Die Prot. der Fraktionssitzungen vom 6. und 13. 12. 1966, die sich mit der Neuorganisation des Fraktionsvorstandes befaßten, erwähnen einen Antrag von Porzner, »den Vorschlag des Fraktions- vorstandes« (siehe Anm. 19 und 20) abzulehnen. Er begründete das damit, es sei »nicht gut, daß hin- sichtlich Fritz Erlers mit viel Emotionen argumentiert wird. Die Ausweitung des Fraktionsvorstan- des sei nicht gleichbedeutend mit den besonderen künftigen Aufgaben.« »Fraktionsprotokoll über die Sitzung vom 13. Dezember 1966«, AdsD, FP V. Leg. Per. 14. 9. 66-14. 12. 66. 39 Im Einzelnen siehe die nachfolgenden Ausführungen Möllers. 40 Entsprechende Abreden ließen sich nicht feststellen. 41 Öffentlich wurden keine neuen Zahlen vorgelegt. Das Finanzplanungs- und Steueränderungsgesetz, die am 8. 12. 1966 vom Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD verabschiedet wurden,

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Bundes an der Einkommen- und Körperschaftssteuer solle in Zukunft 37 v. H. betra- gen.42 Eine Entflechtung (Flurbereinigung), wie sie im SPD- Haushalt vorgesehen worden sei (700 Mio. DM)43, solle jedoch im nächsten Jahr noch nicht vorgenommen werden. Für eine solche Entflechtung im nächsten Jahr sei es inzwischen zu spät. Vor- gesehen sei eine Erhöhung der Mineralölsteuer um 3 Pfennig. Die daraus fließenden Mehreinnahmen (660 Millionen DM) sollen ganz an die Gemeinden fließen.44 Nach Meinung von Alex Möller müsse bei der 2. und 3. Beratung der Finanzgesetze ein An- trag gestellt werden, der eine Festsetzung des Anteils auf 37 v. H. vorsieht.45 Die von der Bundesregierung am 17. November herausgegebenen Zahlen46 hätten neue Tatsa- chen geschaffen. Die FDP habe jedoch trotzdem eine Erhöhung der Mineralölsteuer abgelehnt. Man habe versucht, der FDP eine Brücke zu bauen, indem man eine Steuer- erhöhung erst für 1968 vorgeschlagen habe. Aber auch dieser Vorschlag sei von der FDP abgelehnt worden.47 In der Verhandlungskommission habe man sich darauf geei- nigt, die Kilometerpauschale von 50 auf 36 Pfennig herabzusetzen.48 Eine Erhöhung

brachten Einnahmeverbesserungen von 1,3 Mrd. und Ausgabenkürzungen von ca. 1,7 Mrd. DM. Vgl. AdG 1966, S. 12878. Es verblieb noch eine Haushaltslücke von 2,5 Mrd. Nachdem zwischen CDU/CSU und SPD im Haushalts- und Finanzausschuß keine Verständigung erzielt worden war, wurde eine Kommission aus Barzel und Albert Leicht für die CDU/CSU und H. Schmidt und Her- msdorf für die SPD eingesetzt. Sie verständigte sich am 6. 12. 1966 auf folgenden Kompromiß: 1. Die Altershilfe für die Landwirtschaft wurde zunächst ausgeklammert. 2. Bei der landwirtschaftlichen Unfallversicherung akzeptierte die SPD das Modell der CDU/CSU. 3. Bei der Mutterschaftshilfe sagte die CDU/CSU zu, den SPD-Vorschlag einer status quo Regelung zu unterstützen. 4. Beim Wohnungsbau entsprechend einem SPD-Antrag die Beibehaltung des bisherigen Wohnungsgeldes, aber ergänzend eine »Anhebung der Zinssätze für die alten Sozialwohnungen«. 5. Beim Pennälerge- halt statt der von der SPD gewünschten Streichung eine Einschränkung gemäß der Regierungsvorla- ge. 6. Anhebung der Mineralölsteuer um 3 Pf. je Liter. »Protokoll über die Fraktionssitzung, d. 8. Dezember 1966«, AdsD, FP V. Leg. Per. 14. 9. 66-14. 12. 66. 42 Vgl. Möllers Ausführungen vom 18. 12. 1966 zur Regierungserklärung; BT Sten. Ber. 63, S. 3742, daß man sich in den Koalitionsgesprächen »auf die Linie eines Anteils von 37%« verständigt hätte; dabei sei man davon ausgegangen, »daß eine sogenannte Entflechtung stattfinden müsse, d. h. daß Länder- ausgaben, die im Bundeshaushalt etatisiert werden, wenigstens zum Teil auf die Länderhaushalte übertragen werden«. Vgl. MÖLLER, Genosse, S. 325. Am 21. 12. 1966 verständigte sich die BReg in einer Aussprache mit den Ministerpräsidenten der Länder auf einen Bundesanteil von 37% – ent- sprechend einem Länderanteil von 63% – für die Jahre 1967 und 1968. Der Bund verpflichtete sich dabei, »den finanzschwachen Ländern eine ihrer Lage und Finanzkraft des Bundes angemessene Er- gänzungszuweisung gemäß Art. 107 des Grundgesetzes« zu gewähren. Bulletin Nr. 161 vom 23. 11. 1966, S. 1302 f. 43 Möller bezog sich auf den von der SPD-Fraktion am 10. 1. 1966 vorgelegten »Kernhaushalt«, der Ausgabenkürzungen in Höhe von 700 Mio. durch »Übertragung von Aufgaben an die Länder« vor- sah. Siehe Nr. 162, Anm. 21. Vgl. auch die in der vorigen Anm. erwähnte Plenarrede Möllers. 44 Die vom Bundestag am 8. 12. 1966 beschlossene Mineralölsteuererhöhung sollte zweckgebunden für die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden verwandt werden. Durch einen vom Plenum angenommenen Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD wurde diese Zweckbindung noch näher präzisiert. BT Sten. Ber. 63, S. 3615-3617 und 3627 (Anl. 15). 45 Ein solcher Antrag wurde nicht gestellt; zu dem tatsächlich beschrittenen Weg vgl. Anm. 42. 46 Siehe Nr. 164, bes. Anm. 3; ferner auch Bestandsaufnahme 1966, S. 82. 47 In der Plenardebatte vom 8. 12. 1966 erklärte Starke für die FDP-Fraktion, daß diese sich in den Verhandlungen gegen eine Erhöhung der Mineralölsteuer gewandt habe und »man über Steuererhö- hungen im Jahre 1968 1966 um keinen Preis sprechen« könne. BT Sten. Ber. 63, S. 3612 f. 48 Einen entsprechenden Vorschlag machte dann der Finanzausschuß des Bundestages in seinem Be- richt vom 2. 12. 1966 zum »Steueränderungsgesetz 1966«; der Regierungsentwurf sah zunächst eine Herabsetzung auf 10 Pf. vor. Die Kilometerpauschale von 36 Pf. wurde dann vom Plenum am 6. 12. 1966 gegen die Stimmen der FDP beschlossen. BT Anl. 108, Drs. V/1187 und zu Drs. V/1187, BT Sten. Ber. 63, S. 3591 und 3614.

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des Umsatzsteuersatzes für Großbetriebe auf 4,25 v. H. sei nicht mehr beabsichtigt.49 Auch die Beseitigung des Organschaftsprivilegs50 komme zunächst nicht in Betracht. Die Aufhebung der Umsatzsteuerbefreiung im Siedlungs- und Heimstättenwesen wer- de aufgehoben werden.51 Bei der Sparförderung sei lediglich eine Verlängerung der Festlegungsfristen vorgesehen.52 Die Harmonisierung der Sparförderung solle erst im nächsten Jahr beraten werden. Die Tabaksteuer werde wahrscheinlich ab 1. Juli 1967 erhöht werden. Das Bundesfinanzministerium habe jedoch erklärt, daß eine Erhöhung aus technischen Gründen erst ab 1. Januar 1968 möglich sei.53 Alex Möller begrüßt das Verbleiben von Helmut Schmidt in der Fraktion und betont, daß die Kontrollfunktion des Parlaments in Zukunft besonders ernst genommen wer- den müsse. schlägt vor, eine einstündige Pause einzulegen und die Redezeit auf 10 Minuten zu begrenzen. Beginn der Pause: 19.37 Uhr Protokoll: Ernst-Günter Winkler Fortsetzung der Fraktionssitzung am 30.௔November 1966 Wiedereintritt in die Sitzung: 19.52 Uhr. Herbert Wehner eröffnet die unterbrochene Sitzung von neuem. Günter Jaschke meldet sich zur Geschäftsordnung und beantragt Schluß der Rednerlis- te oder sogar Schluß der Debatte, da noch 28 Redner auf der Liste stünden, andererseits jedoch alle Argumente schon gebracht worden seien. Gegen diesen Geschäftsordnungsantrag wendet sich Hermann Spillecke: die anstehende schwierige Frage müßte ausdiskutiert werden, jedoch wäre es zweckmäßig, wenn die folgenden Redner nicht alte Argumente wiederholen würden, sondern sich auf neue Argumente beschränkten. Herbert Wehner stellt fest, daß der von Günter Jaschke gestellte Geschäftsordnungsan- trag nicht klar gewesen sei, da er Schluß der Rednerliste oder Schluß der Debatte bean- tragt habe. Erwin Schoettle meldet sich erneut zur Geschäftsordnung und beantragt Schluß der Debatte, da jeder der Redner jetzt nur noch seine eigene Entscheidung begründen wol- le. Im übrigen dürfe die Mitwirkung der SPD in der Regierung jetzt nicht mehr zum Scheitern gebracht werden. Rudolf Hauck spricht sich gegen den Antrag Erwin Schoettles auf Schluß der Debatte aus.

49 Diesen Vorschlag enthielt der von der CDU/CSU-Fraktion am 8. 11. 1966 eingebrachte Entwurf für ein »Ergänzungsgesetz zum Steueränderungsgesetz«. Es sah einen von 4% auf 4,25% erhöhten Steu- ersatz für Umsätze vor, die den Betrag von 15 Mio. jährlich überstiegen. BT Anl. 108, Drs. V/1096. 50 Bei Organgesellschaften handelte es sich um zwar rechtlich selbständige, aber nur als »Organ« in andere beherrschende Unternehmen eingegliederte Gesellschaften. Sie galten steuerrechtlich nur als Betriebsstätte des beherrschenden Unternehmens; wobei nur das letztere von der Körperschaftssteu- er betroffen wurde. 51 Vgl. BT Anl. 108, Drs. V/1187, Beschlüsse des Finanzausschusses. BT Sten. Ber. 63, S. 3496 und 3614. 52 BT Anl. 108, Drs. V/1187 und BT Sten. Ber. 63, S. 3591, 3596 und 3614. 53 Der Bundestag verabschiedete am 16. 12. 1966 einen Ergänzungsentwurf zum Steueränderungsgesetz 1966, der die Tabaksteuer schon vom 1. 3. 1967 an erhöhte. Die Regierungsvorlage sah zunächst den 1. 7. 1967 vor. BT Sten. Ber. 63, S. 3800 f.

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Es wird über den Antrag Schoettles abgestimmt. Für Schluß der Debatte: 57 Stimmen. Gegen Schluß der Debatte: 78 Stimmen. Herbert Wehner stellt fest, daß der Antrag auf Schluß der Debatte abgelehnt sei. Günter Frede meldet sich zur Geschäftsordnung und beantragt, die Rednerzeit auf 5 Minuten zu begrenzen. Ein Gegenredner meldet sich nicht. Die Abstimmung ergibt eine Mehrheit für die Begrenzung der Redezeit auf 5 Minuten. Harri Bading meint, die Fraktion habe nun nur zu der vorgelegten Kabinettsliste zu sprechen, nicht über die künftige Fraktionsarbeit und auch nicht mehr über das »Ob« einer Großen Koalition. Er spricht sich gegen die vorgesehene Verteilung der Ministe- rien aus. kündigt an, daß er dem Vorschlag der Verhandlungskommis- sion zustimmen werde. Die Liste habe gewiß schwere Schönheitsfehler, jedoch könne durch neue Verhandlungen nichts erreicht werden, es werde im Gegenteil nur die Un- ruhe größer. Im übrigen sei zu begrüßen, daß Helmut Schmidt in der Fraktion bleiben wolle. Was Strauß betreffe, so sei es gut, wenn er in die »Zucht« des Kabinetts komme; außerhalb des Kabinetts sei Strauß viel gefährlicher. Begrüßenswert sei ferner, daß mit der CDU/CSU kein Koalitionspapier ausgehandelt werde, denn ein solches Papier sei doch wertlos. beklagt, daß im Bereich Gesellschaftspolitik die SPD im Kabinett nicht repräsentiert sei.54 Es sei sachlich falsch und politisch töricht, zu sagen, auf dem Bereich Sozialpolitik könnte in den nächsten Jahren nichts unternommen werden. In der nächs- ten Zeit seien im Gegenteil größere Anpassungen notwendig, auf dem Gebiet der Ar- beitspolitik müsse viel getan werden, Wissenschaft und Forschung müßten gefördert werden, ebenso der Bereich Familie und Jugend. Da die SPD ohne ministerielle Ein- flußmöglichkeiten arbeiten müsse, sei es erforderlich, dem Bereich Sozialpolitik bei der Neugestaltung der Fraktionsarbeit große Aufmerksamkeit zu widmen. Adolf Arndt hält an seiner Meinung fest, daß es im Augenblick keine andere Möglich- keit als eine Große Koalition gebe. Er hält jedoch das Ergebnis der Verhandlungen für unbefriedigend. Das Verhältnis 9 SPD-Minister zu 11 CDU/CSU-Ministern (einschl. des Kanzlers) sei ein Ausdruck dafür, daß die SPD nicht als gleichberechtigt angesehen werde. Er halte es für erforderlich, daß die Verhandlungskommission nochmals an die Gegenseite herantrete und hier Änderungen erreiche; für diese Verhandlungen müsse die Fraktion der Kommission den Rücken stärken. Es sei zwar richtig, daß die Wahl von 1965 nicht nachträglich gewonnen werden könne, inzwischen habe es aber doch einige große Veränderungen gegeben, vor allem die Wahl in Nordrhein-Westfalen. Was Strauß anbetreffe, so halte er die Argumentation von Helmut Schmidt (Heinemann, Ehmke55 und Ahlers neutralisieren Strauß) für schlecht. Strauß sei ein schlechter Ver- teidigungsminister gewesen, er werde ein noch schlechterer Finanzminister sein. Wenn Strauß schon als Verteidigungsminister die Unwahrheit gesagt habe, so sei es noch gefährlicher, wenn er nun als Finanzminister unwahre Zahlen präsentieren werde. Die Frage Strauß sei nicht nur ein »bayerischer Komplex«, sondern eine Frage der Grund- haltung. Er könne der vorgelegten Liste nicht zustimmen.

54 Vgl. Anm. 25. 55 (geb. 1927), SPD, Prof. für öffentliches Recht in Freiburg/Br., Vorstandsmitgl. der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, wurde am 1. 1. 1967 Staatssekretär im BMJ.

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Herbert Kriedemann meint, es sei vergeblich, nochmals mit der Gegenseite zu verhan- deln. Er könne dem Experiment »Große Koalition« nicht zustimmen, da es nicht ge- lungen sei, klarzumachen, worum es gehe. Hans Bardens bittet darum, daß die zukünftigen SPD-Minister die vorgetragenen Be- denken und Sorgen ernst nehmen. Außerdem regt Hans Bardens an, die Resolution vom 26./27.௔11. 196656 dahingehend zu ergänzen, daß die Zustimmung der Fraktion zur Großen Koalition keine Zustimmung für Franz Josef Strauß sei. Karl Herold betont, daß er die Große Koalition für richtig halte und deshalb zu ihr stehe. Von größter Bedeutung sei jedoch für die Öffentlichkeit die Frage, ob es gelinge, das Kabinett zu verkleinern. Nach dem Verhandlungsergebnis sehe es so aus, daß es praktisch beim status quo bleibe und dazu noch mindestens 6 Staatsminister kämen. Da von Kiesinger noch keine endgültige Liste der CDU/CSU-Minister vorgelegt worden sei57, müsse geprüft werden, ob man nicht doch eine Verringerung der Ministerzahl erreichen könne. Walter Schmidt (Braunschweig) schließt sich bezüglich der Ministerzahl den Ausfüh- rungen Karl Herolds an. An Willy Brandt richtet Walter Schmidt die Frage, ob in den Verhandlungen darauf hingewiesen worden sei, welche Belastung Strauß für die SPD bedeute. Helmut Schmidt berichtet, daß die SPD-Verhandlungskommission mit folgendem Programm in die Verhandlungen gegangen sei: Entweder Auswärtiges Amt oder Ver- teidigungsministerium, Wirtschafts- oder Finanzministerium, gesamtdeutsches Ministe- rium oder Innenministerium, Arbeit oder Justiz, Landwirtschaft oder Verkehr, Ent- wicklungshilfe oder Wohnungsbau, Forschung oder Schatzministerium, Vertriebenen- oder Bundesratsministerium und Gesundheits- oder Postministerium. Wenn man diese Ausgangsforderungen ansehe, dann müsse man feststellen, daß sehr viel erreicht wor- den sei. Die andere Seite habe sich lediglich damit durchgesetzt, daß das Familienminis- terium nicht – wie geplant – zum Gesundheitsministerium geschlagen werde.58 Selbstverständlich sei mit Kiesinger ausführlich über das Problem Strauß gesprochen worden. Außerdem habe er – Helmut Schmidt – etwa eineinhalb Stunden lang mit Strauß selbst gesprochen. In diesem Gespräch habe sich ergeben, daß Strauß seine Stel- lung in der »Spiegel«-Affäre subjektiv anders sehe, als sie sich dem Beobachter darstel- le. Außerdem sei sicher, daß nicht alle Einzelheiten der »Spiegel«-Affäre bekannt ge- worden seien. Im übrigen habe das Gespräch mit Strauß noch folgendes ergeben: 1. Strauß habe zugesagt, eine Gelegenheit zu suchen, in der er klarstellen kann, daß er die Dinge heute sehr viel anders beurteile als 1962. 2. Strauß meine selbst, er habe nicht gegen das Gesetz verstoßen. 3. Strauß empfinde sein Verhalten in der »Spiegel«-Affäre heute nicht als glücklich und er meint, er würde sich heute anders verhalten.59

56 Siehe Nr. 166, bes. Anm. 112. 57 Kiesinger weigerte sich auch in der Fraktionssitzung der CDU/CSU am 30. 11. 1966 trotz wiederhol- ter Bitten, die personelle Zusammensetzung der Regierung bekanntzugeben. KNORR, S. 98 f.; vgl. »Der Spiegel« Nr. 50 vom 5. 12. 1966, S. 37. 58 Beide blieben selbständig, das BM für Familie und Jugend unter Bruno Heck (CDU), das BM für Gesundheitswesen unter Käte Strobel (SPD). 59 In der »Parteiratssitzung 28. 11. 66«, S. 29 – vgl. Anm. 3 – hatte Brandt nur mitgeteilt, daß der »1962er Vorgang« in Strauß Gegenwart offen angesprochen worden sei. Vgl. zum Problem Strauß auch Nr. 166, bes. Anm. 35 und 69.

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Das sei, so führt Helmut Schmidt aus, selbstverständlich keine befriedigende General- entschuldigung. Jedoch sei er nach wie vor der Ansicht, daß man an der Person von Franz Josef Strauß nicht die Große Koalition scheitern lassen könne. Hermann Schmitt-Vockenhausen betont, daß er zu Willy Brandt und der von ihm geleiteten Verhandlungskommission stehe. Eine Ablehnung des Vorschlags bedeute auch eine Desavouierung von Willy Brandt. Im übrigen solle man sich nicht dadurch beunruhigen lassen, daß von CDU-Leuten wie Majonica nun in der Öffentlichkeit erklärt werde, an der CDU-Politik werde sich nicht das geringste ändern.60 Georg Kahn-Ackermann erklärt, daß die Frage Strauß für ihn – wie für Adolf Arndt – eine Frage der Grundhaltung sei. Er könne dem Ergebnis der Verhandlungen nicht zustimmen, weil dies eine Rehabilitierung für Strauß bedeute. Wilhelm Michels bittet um eine weite Auslegung des Grundsatzbeschlusses vom 27.௔11. 1966.56 Er könne dem Ergebnis der Verhandlungen nicht zustimmen. Edwin Zerbe legt dar, daß er am vergangenen Samstag61 anfänglich für eine Kleine Koalition gewesen sei, daß er aber dann gegen morgen für die Große Koalition ge- stimmt habe. Wie er selbst, so habe auch jeder andere gewußt, daß die SPD personelle Zugeständnisse machen müsse. Entscheidend sei für ihn, daß sich die Bundesregierung für die Einführung des relativen Mehrheitswahlrechts62 einsetzen wolle und daß eine Einigung über eine Soforthilfe für die Gemeinden erzielt worden sei. Die vorgelegte Liste habe gewiß den Schönheitsfehler Strauß, jedoch wäre Strauß als Fraktionsvorsit- zender gefährlicher, denn als Minister. Bedauerlich sei nur, daß eine Verringerung der Ministerzahl nicht möglich gewesen wäre. Trotzdem werde er jedoch der vorgelegten Liste zustimmen. Ernst Haar befürchtet eine Krise in der Partei und ein Anwachsen der NPD, wenn es zu der vorgeschlagenen CDU/CSU-SPD-Regierung komme. Gerade habe er aus Sin- delfingen ein Telegramm erhalten, in dem berichtet werde, daß bei einer NPD- Versammlung der tausend Personen fassende Saal schon 3/4 Stunde vor Beginn der Veranstaltung wegen Überfüllung habe geschlossen werden müssen.63 [Karl] Hofmann (Kronach)64 befürchtet, daß die SPD die CDU/CSU saniere. Was Strauß betreffe, so sei es ihm gleichgültig, ob Strauß ins Kabinett aufgenommen werde oder nicht; jedenfalls könne er einer Koalition mit der CDU/CSU nicht zustimmen. hat erhebliche Bedenken gegen die Personen Kiesinger und Strauß. Er befürchtet eine »Portugalisierung« der Bundesrepublik. Strauß sei derjenige gewesen, der in den fünfziger Jahren die infamsten Diffamierungen gegen Willy Brandt und die SPD verbreitet habe. Er halte Strauß für unfähig, sich zu ändern. Außerdem bittet Peter Nellen nochmals um die ausdrückliche Erklärung, daß eine Verkleinerung des Kabi- netts und eine bessere organisatorische Aufteilung der Ministerien nicht möglich gewe- sen sei. meldet sich zur Geschäftsordnung und bittet, darauf zu achten, daß auch jeder Redner nur 5 Minuten rede. Herbert Wehner entgegnet, er habe streng auf

60 Im Pressedienst der CDU ließ sich darüber nichts finden. 61 D. h. in der Fraktionssitzung am 26./27. 11. 1966; das Prot. erwähnt nur eine Frage Zerbes gegen Schluß der Sitzung. 62 Vgl. oben Punkt I, bes. Anm. 5-7. 63 Haar vertrat den Wahlkreis 165 (Stuttgart II, Allar). 64 Im Or. versehentlich – »Paul Hofmann (Kronach).«

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die Zeiteinhaltung geachtet; er habe lediglich Edwin Zerbe etwas mehr als 5 Minuten sprechen lassen, damit Zerbe seinen Satz hätte zu Ende führen können. Fritz Böhm hält es für notwendig, auch die positiven Seiten einer Großen Koalition hervorzuheben. Es gehe darum, die wirtschaftliche Stabilität und vor allem die Arbeits- plätze zu sichern. Er bittet Karl Schiller darum, nochmals darzulegen, wie er Stabilität und Wachstum zu sichern beabsichtige. Was Strauß betreffe, so müsse er nochmals ernsthaft auf die daraus entstehenden Belastungen für die SPD hinweisen. Gustav Heinemann führt aus, er habe Willy Brandt auf dessen Frage hin schweren Herzens erklärt, er sei bereit, das Justizministerium zu übernehmen.65 Er – Gustav Heinemann – habe in der Vergangenheit sehr viel getan, um den Weg der CDU/CSU zu hemmen; er habe auch Strauß mit allen Mitteln bekämpft. Der Erfolg sei allerdings nicht groß gewesen. Wenn er nun in ein Kabinett eintrete, in dem sowohl die CDU/CSU als auch ein Franz Josef Strauß sitze, so würden viele fragen, wo seine Grundsätze blieben. Er werde gefragt und müsse sich selbst fragen, ob er noch glaub- würdig sei. Der Kern aller Glaubwürdigkeit sei jedoch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Die dringenden Fragen der Zukunft würden nicht dadurch gelöst, daß man die Übernahme von Verantwortung ablehne. Er – Gustav Heinemann – nehme das Problem Strauß todernst; es sei wahrlich eine Frage der Grundhaltung. Nicht richtig sei es aber, in diesem Problem nur ein Problem der Person des Franz Josef Strauß zu se- hen. Es sei nicht damit getan, diese einzelne Person zu bekämpfen, sondern es gehe vor allem um die Personen im Umkreis von Franz Josef Strauß, um seine Partei und schließlich auch um seine Wählerschaft. Hier sei politisch anzusetzen, das sei aber nur so möglich, daß man selbst politische Verantwortung übernehme. Karl Haehser hebt hervor, daß das Kabinett Erhard nicht zuletzt daran gescheitert sei, daß zu starke Persönlichkeiten außerhalb dieser Regierung gestanden hätten. Deshalb sei es notwendig, Strauß und Schröder mit ins Kabinett aufzunehmen. Von größter Bedeutung sei die Tatsache, daß nun ein Zeitpunkt gekommen sei, in dem die CDU/CSU die SPD in die Regierung aufnehmen müsse, nachdem sie diese lange Jahre hindurch diffamiert habe. Werner Buchstaller erinnert daran, daß die Fraktion bereits am 27.௔11. 1966 beschlos- sen habe, eine Große Koalition zu bilden.56 Infolgedessen sei es sinnlos, jetzt nochmals die Grundsatzdiskussion aufzunehmen. Im übrigen dürfe nicht übersehen werden, daß auch für die andere Seite die Regierungsbildung zusammen mit der SPD eine schwierige Angelegenheit sei. Die SPD habe sehr viel erreicht. Elinor Hubert meint, die Verhandlungskommission habe das bestmögliche Ergebnis erreicht. Sie hält es für zweckmäßig, die geplanten parlamentarischen Staatssekretäre nicht Staatsminister zu nennen, da sonst in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehe, die Zahl der Minister sei nun sogar noch erhöht worden.66 Max Seidel stimmte ebenfalls dem Ergebnis der Verhandlungskommission zu. Wenn es für den Bereich Gesellschaftspolitik nicht gelungen sei, einen SPD-Mann ins Kabinett zu entsenden, dann dürfe nicht vergessen werden, daß Politik nicht allein von einem Minister gemacht werde. Max Seidel warnt außerdem davor, den Koalitionspartner von vornherein als »Feind« zu betrachten; man müsse sich zusammenraufen. führt aus, daß auch er ursprünglich für eine Kleine Koalition gewesen sei, dann aber ab Sonntag früh für die Große Koalition gestimmt habe. Er richtet an Willy

65 Vgl. Anm. 18 und 35. 66 Siehe oben Punkt II, bes. Anm. 15.

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Brandt die Frage, ob es möglich sei, wegen der Kabinettsliste eine neue Verhandlungs- runde zu eröffnen. Eine solche neue Verhandlungsrunde müsse es dann geben, wenn es zutreffe, daß die noch amtierenden CDU-Minister schnell noch organisatorische Ver- änderungen vornehmen würden, um die Kompetenzen der zukünftigen SPD- Ministerien zu schmälern. Von einem CDU-Abgeordneten sei gesagt worden, Vorsit- zender des Konjunkturbeirats werde der Finanzminister, nicht der Wirtschaftsminis- ter.67 Das könne auf keinen Fall hingenommen werden. Helmut Schlüter schließt sich den Ausführungen von Karl Ravens an. Martin Hirsch warnt vor dieser Großen Koalition. Er hat stärkste Bedenken gegen die voraussichtlichen CDU/CSU-Minister und hält eine neue Verhandlungsrunde für er- forderlich. Ein Staatsminister Zimmermann im Bundeskanzleramt sei ebenso unerträg- lich wie ein Vertriebenenminister von Hassel.68 Martin Hirsch hebt hervor, daß alle, Befürworter oder Gegner einer Großen Koalition, hinter Herbert Wehner und Willy Brandt stehen. Er befürchte nur, daß Herbert Wehner und Willy Brandt von der CDU/CSU in eine Falle gelockt worden seien. Kurt Mattick betont ebenfalls, daß niemand Mißtrauen gegen die Verhandlungskom- mission habe. Er wendet sich dagegen, die Debatte um Strauß nochmals in aller Breite zu führen. Im übrigen bedeute die Koalition nur, daß in der Regierung mit der CDU/CSU zusammengearbeitet werde. Die Koalition bedeute kein Freundschaftsver- hältnis mit der CDU/CSU. Günther Müller berichtet, daß im Münchener Landtagswahlkampf noch etwa 300 000 der vom Parteivorstand herausgegebenen Broschüre gegen Franz Josef Strauß verteilt worden seien.69 Die SPD verliere ihr Gesicht, wenn sie Franz Josef Strauß akzeptiere. Günther Müller fragt, ob es zutreffe, daß Zimmermann oder Guttenberg als Staatsmi- nister im Bundeskanzleramt vorgesehen seien und von Hassel Vertriebenenminister werde.68 Unbefriedigend sei, daß die SPD nur 9 Minister stellen werde und darüber hinaus so wenig populäre Ministerien wie das Ministerium für Entwicklungshilfe und das Ministerium für Wohnungsbau akzeptiert habe. Sodann fordert Günther Müller eine klare Antwort auf folgende Fragen: Trifft die Behauptung von Bundesfamilienmi- nister Heck zu, wonach die SPD-Verhandlungskommission mit keinem Wort eine Entschuldigung von Strauß verlangt habe? Trifft die Behauptung von Strauß zu (ge- genüber Günther Müller), daß die SPD sogar gefordert habe, er solle wieder ins Kabi- nett eintreten?70 Egon Franke stellt klar, daß er sich in keiner Weise gegen die Große Koalition habe aussprechen wollen. Er habe nur vorgeschlagen, wegen der Ministerliste nochmals ein Gespräch mit der CDU/CSU zu führen.

67 Vgl. Anm. 28 und 29; ferner Bestandsaufnahme 1966, S. 76. 68 von Hassel erhielt dieses Ministerium; vgl. Anm. 25. Parlamentarischer Staatssekretär im Bundes- kanzleramt wurde – ab 14. 4. 1967 – Karl Theodor Frhr. von und zu Guttenberg (CSU); vgl. Anm. 30. 69 In den bayerischen Landtagswahlen vom 20. 11. 1966 war noch eine alte SPD-Broschüre, die beson- ders Strauß Rolle in der Spiegel-Affäre aufgriff, verbreitet worden. In einem Schreiben an Erler vom 5. 12. 1966 berichtete Willy Müller (AdsD, NL Erler 61), als Günther Müller dies in der Fraktionssit- zung erwähnte, »hörte ich zu meiner Überraschung von Willy Brandt, daß er weder von der Vertei- lung der Broschüre Kenntnis hatte noch von ihrem Inhalt«. Vgl. auch die Darstellung bei STRAUSS, Erinnerungen, S. 431. 70 Vgl. dagegen die Ausführungen von H. Schmidt (mit der betreffenden Anm. 59); ferner unten die Antwort Wehners sowie Nr. 166, Anm. 35.

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Hugo Collet wendet sich dagegen, die Entscheidung über die Ministerliste nochmals zu vertagen. erinnert daran, daß Grundlage der politischen Tätigkeit die Parteitags- beschlüsse seien. Leider habe es die SPD nicht geschafft, von den Wählern eine klare Mehrheit zu erhalten. Nunmehr gebe die Entwicklung der SPD eine Chance, auf Teil- gebieten sozialdemokratische Vorstellungen zu verwirklichen. Diese Chance, etwas zu verwirklichen, sei wichtiger als die Abneigung gegen die CDU/CSU. Kurt Gescheidle befürchtet, daß viele von denen, die meinen, die SPD solle weiterhin in der Opposition bleiben, in Wahrheit die SPD überhaupt von der Regierung fernhalten wollten. Es gehe jedoch darum, nunmehr sozialdemokratische Vorstellungen in die Wirklichkeit umset- zen zu können. Der sehr große Bevölkerungsanteil der politisch nicht Interessierten wolle außerdem eine Beendigung der Bonner Krise. Wenn sich die SPD dafür einsetze, dann werde ihr das auch zugute kommen. Georg Leber meint, daß eine öffentliche Entschuldigung von Strauß auch Nachteile haben könnte, weil Strauß dadurch in der öffentlichen Meinung ein noch stärkeres Gewicht erhalten würde. Ändern würde er sich aber trotz einer Entschuldigung nicht. Es gehe darum, ihn genau zu beobachten und ihn »abzudecken«. Herbert Wehner nimmt zu einigen der aufgeworfenen Fragen Stellung: 1. Zu der Frage von Ernst Haar, ob Heinz Kühn in der Nacht von Samstag auf Sonn- tag71 gewußt habe, daß die Mehrheit seiner Fraktion für eine Koalition mit der FDP eintrete, könne er nichts sagen. Sicherlich habe Werner Figgen Heinz Kühn jedoch von der vorangegangenen geheimen Probeabstimmung in der SPD-Fraktion berichtet.72 2. Es sei sicher, daß es keine Schmälerung der Kompetenz der bisherigen Ministerien gebe. Falls die CDU/CSU entgegen ihrer bindenden Erklärung doch solche Versuche unternehmen würde, würde sich das bald herausstellen. Abgesprochen sei jedenfalls, die Ressorts so, wie sie jetzt bestünden, zu übertragen. 3. Der Bereich »Gesellschaftspolitik« werde im Kabinett nicht durch einen SPD- Minister repräsentiert. Der Minister für Arbeit und Sozialordnung sei jedoch nicht der einzige, der Politik mache. An dieser Frage dürfe die Regierungsbeteiligung der SPD nicht scheitern. Herbert Wehner erinnert daran, daß die SPD 1930 wegen einer gering- fügigen gesellschaftspolitischen Meinungsverschiedenheit das Kabinett verlassen ha- be73, und fragt, ob dies dem Begriff »Gesellschaftspolitik« adäquat gewesen sei. 4. Zur Frage Günther Müllers, ob die Behauptung von Bundesfamilienminister Heck richtig sei, die SPD-Verhandlungskommission habe sich zum Problem Strauß nicht geäußert, könne er – Herbert Wehner – nur feststellen, daß Heck nicht an den Verhand- lungen teilgenommen habe. Er – Herbert Wehner – habe selbst zweimal das Problem Strauß zur Debatte gestellt.74 Zum ersten Male stehe, so fährt Herbert Wehner fort, die SPD vor der Frage, ob sie sich an der Regierung beteiligen wolle und solle. Er sei dann für eine Oppositionsrolle

71 D. h. in der Fraktionssitzung vom 26./27. 11. 1966. 72 Gemeint ist die geheime Probeabstimmung in der NRW-Landtagsfraktion, die schon am 21. 11. (nach anderen Quellen am 22.) 1966 stattgefunden hatte. Kühn hatte das Ergebnis selbst ausgezählt. Siehe Nr. 165, bes. Anm. 8 und 9. 73 Gemeint ist der Bruch der Großen Koalition und der Rücktritt des Kabinetts Müller am 27. 3. 1930 im Konflikt über die Arbeitslosenversicherung. 74 Vgl. auch Wehners Bemerkung in »Sitzung des Partei- und Fraktionsvortandes am 28. 11. 1966«, AdsD, PV ab 12. 9. 66 bis 1. 4. 67, ferner Nr. 166, Anm. 35.

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der SPD, wenn sicher sei, daß auch eine wirksame Opposition möglich sei. Im Augen- blick sei die Situation jedoch durch große Probleme wie Geldwertstabilität, Sorge um den Arbeitsplatz usw. gekennzeichnet. Hier könne man als Opposition nicht sehr viel erreichen. Bei der CDU/CSU gebe es Kräfte, die an einem Scheitern des Kandidaten Kiesinger interessiert seien. Die Gründe dafür seien unterschiedlich, zum Teil lägen sie in Nord- rhein-Westfalen. Wenn Kiesinger scheitere, würde die Stunde Schröders schlagen, der gegen den schärfsten Widerspruch der SPD-Verhandlungskommission Verteidigungs- minister werden solle.75 Jedes Fraktionsmitglied sei in der Entscheidung über Kanzler- wahl und Kabinettsliste frei. Es müsse jedoch bedacht werden, daß ein Scheitern Kie- singers nur Schröder zugute komme, der dann versuchen werde, eine Regierung mit der FDP zu bilden. Karl Mommer erklärt (zur Abstimmung), daß er sich nunmehr der Stimme enthalten werde, morgen jedoch auf jeden Fall seine Stimme für Kiesinger abgeben werde. Erwin Schoettle führt aus, er habe sich von Anfang an wie Karl Mommer gegen die Große Koalition ausgesprochen, werde jedoch heute und bei der Kanzlerwahl für die Große Koalition stimmen. erklärt, daß er das Ergebnis der Verhandlungskommission nicht akzep- tieren könne. Um jedoch nicht in den Verdacht zu geraten, er sage nur deshalb nein, um sich später nach außenhin darauf berufen zu können, kündigt er bei der bevorstehenden Abstimmung in der Fraktion Stimmenthaltung an. Bei der morgigen Kanzlerwahl sei dann die erste Gelegenheit gegeben, den SPD-Ministern die notwendige Unterstützung zu geben, damit sie in der Regierung ihr Bestes leisten können. Klaus Dieter Arndt regt Änderungen im Text des vorliegenden Entschließungsent- wurfs an.76 Harry Tallert fragt, ob die FDP einen Antrag zur Stimmberechtigung der Berliner Abgeordneten stellen werde.77 Außerdem bittet er um eine Beantwortung der von Karl Ravens gestellten Fragen. Karl Schiller verweist wegen der an ihn gerichteten Fragen (wie beabsichtigt Karl Schil- ler Stabilität und Wachstum zu sichern?) auf seine schon gegebene ausführliche Darstel- lung. Zur Frage, wer den Vorsitz im Konjunkturrat haben solle, werde Willy Brandt noch Stellung nehmen. Im übrigen begrüßt Karl Schiller die zwischen den Experten der SPD und der CDU/CSU erzielte Einigung in den Steuerfragen. Willy Brandt bedauert, daß manche Kritiker des vorgelegten Verhandlungsergebnisses nicht sehen, daß der SPD durch eine Teilnahme an der Regierung die Möglichkeit ge-

75 Siehe oben Punkt III. sowie Anm. 34; ferner zu Wehners Vorbehalten gegen Schröder vgl. auch Nr. 161, TOP 1 und Nr. 166 (Kommentar Wehner zum Kommuniqué). 76 Der Entwurf der Entschließung ist weder im Bestand Fraktionsprotokolle 14. 9. 66-14. 12. 66 noch in dem Bestand Fraktion. Protokolle u. Tgo I 19. 10. 65 bis 27. 4. 67 aufzufinden. Für den Wortlaut der verabschiedeten Fassung siehe Anm. 81. Sie wich nur im Anfang des ersten Satzes vom Entwurf ab; siehe unten bei Eppler. 77 Zu den Initiativen in bezug auf das Stimmrecht der Berliner Abgeordneten vgl. oben Anm. 9 und 10 sowie Nr. 162, bes. Anm. 14, 163, bes. Anm. 15 und 18 und 166, Anm. 30. – Die FDP-Fraktion be- schloß in ihrer Sitzung am 8. 12. 1966 zwar einen Antrag, wonach den Berliner Abgeordneten ein Stimmrecht bei der Wahl des Bundeskanzlers, bei einer Vertrauensfrage und einem Mißtrauensvo- tum, nicht jedoch bei Schlußabstimmungen von Bundesgesetzen eingeräumt werden sollte. »Die SPD-Fraktion teilt mit« Nr. 533/66 vom 8. 12. 1966. Förmlich eingebracht wurde der FDP-Antrag jedoch nicht.

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boten wird, einige ihrer Vorstellungen durchzusetzen. Daß es nicht gelungen sei, die Zahl der Ministerien zu verringern, sei schade, jedoch solle man diese mehr optische Frage nicht überschätzen. Zählen werde, ob die Regierung arbeite. Er – Willy Brandt – könne noch nicht mit letzter Sicherheit sagen, welche CDU/CSU- Minister ernannt werden würden. Jedoch müsse man davon ausgehen, daß Kiesinger das Finanzministerium Strauß und das Verteidigungsministerium Schröder angeboten habe. Ob von Hassel das Vertriebenenministerium erhalte, könne er definitiv noch nicht sagen, weil er davon nicht unterrichtet worden sei.68 An den Zuständigkeiten der bestehenden Ministerien werde nichts geändert. Die Ver- handlungskommissionen hätten ausdrücklich festgestellt, daß das Wirtschaftsministeri- um ohne jede Veränderung an Karl Schiller gehe (Vorsitz des Konjunkturrats beim Wirtschaftsminister).29 Auch in Zukunft würden die SPD-Minister darauf achten, daß sich kein Ressortimperialismus entwickle, den es ja in allen Kabinetten gebe. Wenn Strauß zu Günther Müller gesagt habe, die SPD verlange seinen Eintritt ins Kabinett, so sei dies unwahr. Die Frage von Karl Ravens, ob eine neue Verhandlungsrunde möglich sei, müsse mit einem eindeutigen Nein beantwortet werden. Ein neuer Anlauf sei im jetzigen Zeit- punkt nicht mehr möglich. Zum Problem Strauß bemerkt Willy Brandt, daß die SPD nicht etwa Strauß wähle. Die Koalition sei keine Verbrüderung der SPD mit der CDU/CSU. Die CDU/CSU sei in Konkurs geraten und es bestehe die Gefahr, daß diese Krise auch auf die gesamte Bun- desrepublik übergreife. Dem könnten Sozialdemokraten nicht zusehen. Es sei nicht richtig, daß die SPD nur mit wenig populären Ministerien vorlieb genom- men habe. Im Gegensatz zu der Ansicht von Günther Müller sei auch heute noch das Wohnungsbauministerium ein wichtiges Ministerium, mit dem in den Augen der Öf- fentlichkeit etwas zu machen sei; mit dem Ministerium für wirtschaftliche Zusammen- arbeit könne ein wichtiges Stück Außenpolitik gemacht werden. Was den Inhalt der künftigen Politik betreffe, so werde der Parteivorstand eine Doku- mentation mit den von der SPD entwickelten 8 Punkten vorlegen.78 Außerdem seien die Grundlinien der künftigen Politik in der Regierungserklärung Bundeskanzlers Kie- singer niederzulegen.79 Das wirksamste Mittel, Radikalismus und NPD zu bekämpfen, sei eine tatkräftige Regierung. Auch der von Peter Nellen befürchteten »Portugalisierung« der Bundesre- publik ließe sich am besten durch eine Mitwirkung in der Regierung entgegentreten. Willy Brandt bittet abschließend darum, in die vorgelegte Entschließung keine Vorbe- halte mehr einzubauen, sondern sie so zu verabschieden. Günther Müller beantragt abschnittsweises Abstimmen über die Entschließung. Erhard Eppler regt an, die Eingangsworte der Entschließung wie folgt zu fassen: »Im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, ihrer Bürger und der Gesamtnation sind Aufgaben anzupacken, die ohne die Sozialdemokraten nicht mehr zu bewältigen sind.«80 Die Fraktion billigt diese Änderung.

78 Gemeint ist die »Bestandsaufnahme 1966«; vgl. Nr. 166, bes. Anm. 142. 79 Zur Regierungserklärung Kiesingers am 13. 12. 1966 siehe BT Sten. Ber. 63, S. 3656-3665. 80 Vgl. Anm. 76 und 81.

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Karl Herold spricht sich gegen den Antrag von Günther Müller auf abschnittsweise Abstimmung aus. Die Mehrheit der Fraktion lehnt den Antrag Günther Müllers ab. Sodann folgt die Abstimmung über die Entschließung. Für die Entschließung werden abgegeben 126 Stimmen, gegen die Entschließung 53 Stimmen, 8 Stimmenthaltungen.81 In einer Schlußbemerkung dankt Willy Brandt allen Fraktionsmitgliedern für die ge- leistete Arbeit. In einer persönlichen Erklärung betont Hans Hörmann, daß Abschnitt 2 der Ent- schließung selbstverständlich seine volle Zustimmung finde; auch er werde die sozial- demokratischen Mitglieder der neuen Bundesregierung unterstützen. Karl Mommer gibt folgende Termine bekannt: Donnerstag, 10.00 Uhr Wahl des Bundeskanzlers, 12.30 Uhr Vereidigung des Bundeskanzlers, 16.00 Uhr Vereidigung des Bundeskabinetts. Dem FDP-Antrag betr. Stimmrecht der Berliner Abgeordneten werde Präsident Gers- tenmaier nicht stattgeben.82 Herbert Wehner macht eine Mitteilung betr. die Beisetzung von Wenzel Jaksch. Ende der Sitzung 24.15 Uhr. Protokoll: Jürgen Glückert. Anlage Entschließungsentwurf und Pressemitteilungen.83

81 Das Stimmenergebnis und die Entschließung wurden in »Die SPD-Fraktion teilt mit« Nr. 522/66 vom 30. 11. 1966 veröffentlicht. Sie lautete: »1. Im Interesse der Bundesrepublik, ihrer Bürger und der gesamten Nation sind Aufgaben anzupacken, die ohne die Sozialdemokraten nicht mehr bewäl- tigt werden können. Daher billigt die Fraktion den Bericht der Verhandlungskommission über die vorgesehene Bildung der neuen Bundesregierung. Hierdurch wird nichts von dem abgeschwächt, was die SPD zur bisherigen Politik der CDU/CSU und zur Haltung führender Unionspolitiker gesagt hat. 2. Die sozialdemokratischen Mitglieder der neuen Bundesregierung werden sich in der Regie- rungsverantwortung für Deutschland auf das volle Vertrauen der Bundestagsfraktion stützen können und gemeinsam mit der Fraktion und der ganzen Sozialdemokratischen Partei ihren Beitrag zur Er- neuerung der deutschen Politik leisten. 3. Damit die Regierung jetzt auf breiter Basis und mit ent- scheidender sozialdemokratischer Beteiligung gebildet werden kann, werden die Mitglieder der SPD- Fraktion der Wahl von Ministerpräsident Kiesinger zum Bundeskanzler zustimmen.« Abgedr. auch in Bestandsaufnahme 1966, S. 41. 82 Vgl. Anm. 77. 83 Die SPD-Fraktion teilt mit Nr. 522/66 vom 30. 11. 1966 enthielt die Entschließung mit dem Ab- stimmungsergebnis (vgl. Anm. 81), die Nr. 521/66 referierte kurz die Eingangsausführungen Brandts, nannte die von der SPD vorgesehenen Minister (vgl. Anm. 18) und fuhr dann fort »Willy Brandt teil- te mit, daß Helmut Schmidt sich aus politischen Gründen entschlossen habe, in der Führungsspitze der Bundestagsfraktion zu verbleiben. Ebenso habe der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Dr. Alex Möller gebeten, ihn nicht als Person in die Regierungsbildung einzubeziehen. Besonders lebhaft bedauerte es der Parteivorsitzende, daß es nicht gelungen sei, das Ministerium für Arbeit und Sozial- ordnung Prof. Schellenberg übernehmen zu lassen, der sich in seiner langjährigen Arbeit in der Frak- tion unschätzbare Verdienste erworben habe. Der Parteivorsitzende ging kurz auf die Regierungsbil- dung in Düsseldorf ein und stellte klar, daß es zwischen den Regierungsbildungen in Bonn und Düs- seldorf kein Junktim gebe. Auch bei dem Wechsel des Ministerpräsidenten in Stuttgart sei ja nicht an einen Wechsel in der politischen Zusammenarbeit der dortigen Landesregierung gedacht. Die Regie- rungsbildung in Düsseldorf werde nach dem Grundsatz der eigenen politischen Verantwortung vor- genommen, müsse aber in sachlicher Hinsicht natürlich in Zusammenhang mit dem Inhalt der künf- tigen Bundespolitik gesehen werden. Abschließend faßte Willy Brandt das Ergebnis der Regierungsbildung in folgenden drei Punkten zusammen:

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AK VII/Gl/K.

1. Die großen Aufgaben der Sicherung der Arbeitsplätze, der Währung, Staatsfinanzen, der Abwehr der Gefahr außenpolitischer Isolierung, der Wiedergewinnung außenpolitischer Handlungsfähigkeit und wirklichkeitsnaher Aktivität in der deutschen Frage erforderten die maßgebliche Einschaltung der Sozialdemokraten in die Regierungsverantwortung. 2. Bei den Koalitionsverhandlungen mußte von dem bestehenden Kräfteverhältnis ausgegangen werden. Es mußte eine Lösung nach dem Grundsatz: weder Sieger noch Besiegte gefunden werden. 3. Die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder werden sich morgen wie gestern von ihren eige- nen Überzeugungen leiten lassen und werden ohne Verwischung oder Verschleierung eine gemein- sam zu verantwortende Politik entwickeln und durchsetzen helfen. Nach eingehender Diskussion billigte die Fraktion das Verhandlungsergebnis und erklärte ihre Zustimmung, zum Bundeskanzler zu wählen.«

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