SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 1): 28. 05. 1968

[52 a]

28. Mai 1968: Fraktionssitzung (Teil 1)

AdsD, SPD-BT-Fraktion 5. WP, 96 1 Überschrift: »Protokoll der Fraktionssitzung vom 28. Mai 1968« . Dauer: 10.10–13.45 Uhr. Anwesend: 199. Vorsitz: Möller (bis 10.35 Uhr), anschließend Schmidt. Bundesre- gierung: Brandt, Heinemann, Leber, Schmid, Strobel, Wehner, Wischnewski. PStS: Bör- ner, Jahn. Protokoll: Jens. Datum der Niederschrift: 31. 5. 1968.

Sitzungsverlauf: A. Informationen B. Vorbereitung der Plenarsitzungen a) Politisches Strafrecht b) Dritte Lesung Notstand c) Arbeitssicherstellungsgesetz d) Wirtschaftssicherstellungsgesetz e) Verkehrssicherstellungsgesetz f) Ernährungssicherstellungsgesetz h) Gesetz über Post- und Telefonkontrolle i) Katastrophenschutz

Zu Pkt. 1. der TO2: (Informationen) Martin Schmidt und Ludwig Fellermaier bitten um Bekanntgabe, mit welchen Voll- machten Minister Höcherl von der Bundesregierung für die anstehenden Verhandlun- gen in Brüssel über die Milchmarktordnung ausgestattet wurde.3 stellt klar, daß Höcherl keine Vollmacht hat, über einen bestimmten fi- nanziellen Plafond hinauszugehen. Er erinnert daran, daß er als Vorsitzender der SPD deutlich zum Ausdruck gebracht hat, daß die Sozialdemokratische Partei eine Besteue- rung der Margarine nicht mitmachen wird. An diese beiden Grenzen wird Höcherl in Brüssel sich halten müssen. Hermann Barche äußert die Bitte an den Fraktionsvorstand, daß er das Bundesratsmi- nisterium unter Leitung von Carlo Schmid bitte, zusammen mit anderen Ländern zu überlegen, welche Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschaftskraft hauptsächlich im Zonenrandgebiet eingeleitet werden könnten. weist darauf hin, daß bereits vor 14 Tagen im Bundeswirtschaftsmini- sterium über ein Modell für die Zonenrandförderung Gespräche geführt wurden. In diesem Modell sollen die Grundzüge der Förderungsmaßnahmen festgelegt werden. Es ist zu erwarten, daß in Kürze ein Gesetzentwurf zur Gesundung des Zonenrandgebietes eingebracht wird, ähnlich wie für die Bergbaugebiete.4

1 Handschriftlich ist in der Vorlage an dieser Stelle »I. Teil« eingefügt. 2 TO liegt dem Protokoll bei. 3 Vom 27. bis 29. Mai 1968 tagte der Rat der Europäischen Gemeinschaften, um eine Lösung für die Errichtung des Gemeinsamen Marktes für Milch, Milcherzeugnisse und Rindfleisch zu finden. Vgl. AdG 1968, S. 13938. 4 Vgl. BULLETIN, Nr. 72 vom 8. Juni 1968, S. 615.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 1 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 1): 28. 05. 1968

Hans Apel begrüßt, daß die Diskussion über die Wahlrechtsreform erneut aufgeflammt ist.5 Willy Brandt gibt bekannt, daß das Präsidium der Partei in Kürze mit dem Fraktions- vorstand über diese Fragen sprechen werde.

Zu Pkt. 2. der TO: (Politisches Strafrecht) Adolf Müller-Emmert erläutert seinen Bericht über die Reform des politischen Straf- rechts, der allen Fraktionsmitgliedern zur Einsichtnahme vorliegt (siehe Anlage)6. Er ist der Meinung, daß Änderungsanträge seitens der Koalitionsfraktionen nicht gestellt werden. 7 Friedrich Rau schlägt vor, hinter dem § 89 StGB einen § 89 a StGB anzuführen.

Paul Kübler und Martin Hirsch weisen darauf hin, daß mit einem § 89 a das Gegenteil von dem erreicht werden würde, was wir mit der Notstandsverfassung wollen: ein au- ßergesetzlicher Notstand soll damit ausgeschlossen werden. Abstimmung: Der Vorschlag von Friedrich Rau wird gegen 1 Stimme von der Fraktion abgelehnt. Sprecher: 1. Adolf Müller-Emmert 2. Die Fraktion hat gegen die Sprecher keine Bedenken.

Zu Pkt. 3. der TO: (Dritte Lesung Notstand)8 Dieser Punkt soll erst am Nachmittag in der Fraktionssitzung behandelt werden.9 Zu Pkt. 4 der TO: (Arbeitssicherstellungsgesetz) erläutert den Gesetzentwurf.10 Die Koalitionsfraktionen haben zur zweiten Lesung eines Arbeitssicherstellungsgesetzes noch einen gemeinsamen Ände- rungsantrag eingebracht (siehe Anlage)11. Er verweist insbesondere auf die Pressemit- teilung Nr. 268, die ebenfalls in der Anlage beigefügt ist. Mit diesem Änderungsantrag sind alle unsere Vorstellungen im großen und ganzen erreicht worden.

5 So hatte beispielsweise in einer Rede auf dem Parteitag des SPD-Bezirks Nieder- rhein am 26. Mai das Thema wieder aufgegriffen und eine neue, ernsthafte Diskussion darüber gefor- dert, »Schmidt deutet Wahlrechtsinitiative an«, FAZ vom 27. Mai 1968. 6 Liegt dem Protokoll bei. 2. und 3. Lesung des Achten Strafrechtsänderungsgesetzes (BT ANL. 106, Drs. V/898) fanden am 29. Mai 1968 statt, BT STEN. BER. 67, S. 9523–9550. Die 1. Lesung hatte am 14. September 1966 stattgefunden. Siehe auch schon die Diskussion zum politischen Strafrecht (SPD- Entwurf, BT ANL. 101, Drs. V/102) in der Plenarsitzung vom 13. Januar 1966, BT STEN. BER. 60, S. 573–588. 7 § 89 (1) StGB i. d. AF: »Wer auf Angehörige der Bundeswehr oder eines öffentlichen Sicherheitsor- gans planmäßig einwirkt, um deren pflichtmäßige Bereitschaft zum Schutze der Sicherheit der Bun- desrepublik Deutschland oder der verfassungsmäßigen Ordnung zu untergraben, und sich dadurch absichtlich für Bestrebungen gegen den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder gegen Verfassungsgrundsätze einsetzt, wird mit Gefängnis bestraft.« 8 Die 3. Lesung fand am 30. Mai statt, BT STEN. BER. 67, S. 9607–9656. 9 Vgl. SPD-Fraktionssitzung am 28. Mai 1968 (Teil 2). 10 »Gesetz zur Sicherstellung von Arbeitsleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung«, BT ANL. 117, Drs. V/2362. Zur 2. Beratung vgl. BT STEN. BER. 67, S. 9573–9589. 11 Entwurf liegt dem Protokoll bei. BT STEN. BER. 67, Umdruck 488, S. 9588. Vgl. auch INFORMATIO- NEN, Nr. 268 vom 29. Mai 1968.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 2 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 1): 28. 05. 1968

Horst Gerlach erläutert einen von ihm eingebrachten Änderungsantrag zum Arbeitssi- cherstellungsgesetz (siehe Anlage).12 Damit soll insbesondere erreicht werden, daß für die Maßnahmen aus diesem Gesetz nicht die Arbeitsverwaltung, sondern die Innere Verwaltung zuständig ist. Horst Gerlach, und Helmut Lenders befürchten, daß sonst den Arbeits- ämtern eine starke Macht zuwachsen würde und damit das Vertrauen der Arbeitneh- merschaft zu ihnen gefährdet wird.

Helmut Lenders macht darauf aufmerksam, daß aufgrund des § 49 des Soldatengesetzes noch Dienstverpflichtungen möglich sind.13 Damit könnten die Voraussetzungen des

Artikels 80 a Grundgesetz umgangen werden. Hans Matthöfer bemängelt, daß ihm keine Zeit blieb, den Gesetzestext genau zu stu- dieren. Er habe das Gesetz erst heute morgen auf den Tisch bekommen. Seiner Meinung nach solle im § 4 Abs. 1 nicht von Betriebsrat und Personalrat, sondern von Mitgliedern des Betriebsrates und Personalrates gesprochen werden. Er erhebt gegen eine Institutio- nalisierung dieses Gremiums Einwendungen. Ernst Schellenberg weist darauf hin, daß sich die Arbeitsgruppe und auch der Arbeits- kreis in der vergangenen Woche ausführlich mit diesem Gesetz befaßt haben. Seiner Meinung nach sei es sinnvoll, die Arbeitsverpflichtung von der Behörde auszusprechen, die möglichst gut mit dem Arbeitsverhältnis vertraut ist. Deshalb plädiert er dafür, die Arbeitsämter mit der Durchführung der Maßnahmen aufgrund dieses Gesetzes zu be- auftragen. Dieser Meinung schließen sich Martin Hirsch, Willy Könen und Erwin Folger an. Hans Matthöfer gibt zu bedenken, daß die Arbeitnehmer durch dieses Gesetz schlech- ter gestellt werden, da ihnen die Möglichkeit einer Kündigung unter bestimmten Vor- aussetzungen genommen wird. Deshalb müßte für die Arbeitnehmer ein Ausgleich geschaffen werden und zwar in der Form, daß den Betriebsräten in diesen Angelegen- heiten volles Mitbestimmungsrecht zuerkannt wird. Der Sprecher unserer Fraktion sollte auf diesen Umstand im Plenum aufmerksam machen. Walter Behrendt unterstützt noch einmal die Bedenken von Helmut Lenders, daß evtl. durch § 49 Soldatengesetz eine Ausweichmöglichkeit besteht. Deshalb müsse dieser § noch einmal genau überprüft werden. Er weist darauf hin, daß das Gesetz selbstver- ständlich nur Gültigkeit im Bereich der Bundesrepublik Deutschland habe. Helmut Schmidt ist der Meinung, auf Anfrage von Hermann Buschfort, daß Deutsche selbstverständlich nicht außerhalb von Deutschland dienstverpflichtet werden könnten. Diese Frage sollte jedoch noch einmal von den Juristen überprüft werden. Auch er spricht sich dafür aus, die Arbeitsverwaltung mit der Durchführung dieses Gesetzes zu betrauen. Abstimmung: 1. Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und SPD Die Fraktion stimmt einstimmig diesem Änderungsantrag zu. 2. Änderungsantrag von Horst Gerlach … [!] Pkt. 1 des Antrages wird auf den Nachmittag zurückgestellt Pkt. 2 des Antrages wird mit Mehrheit abgelehnt

12 Entwurf liegt dem Protokoll bei.

13 § 49 des Soldatengesetzes regelte »Folgen der Entlassung und des Verlustes der Rechtsstellung des Berufssoldaten«, BGBl. 1956 I S. 122.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 3 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 1): 28. 05. 1968

Pkt. 3 des Antrages wird mit Mehrheit abgelehnt. Damit ist der gesamte Antrag abgelehnt. 3. Arbeitssicherstellungsgesetz Die Fraktion wünscht, dem Gesetz zuzustimmen. 24 Gegenstimmen 5 Enthaltungen. Zu Pkt. 5, 6 und 7 der TO: (Wirtschaftssicherstellungsgesetz, Verkehrssicherstellungs- gesetz und Ernährungssicherstellungsgesetz)14 Georg Kurlbaum berichtet, daß sich der Arbeitskreis mit allen drei Gesetzen befaßt habe und ihnen grundsätzlich zustimme, da der Erlaß von Rechtsverordnungen jetzt

überall an die Eingriffsvoraussetzungen des Artikels 80 a GG gebunden ist. Er weist darauf hin, daß Helmut Lenders darauf aufmerksam gemacht habe, daß im Bundeslei- stungsgesetz noch Ausweichmöglichkeiten bestehen würden. Deshalb habe man einen Entschließungsantrag formuliert (siehe Anlage)15, in dem die Bundesregierung aufge- fordert wird, die Bestimmungen des Bundesleistungsgesetzes dem Artikel 80 a GG anzupassen. Helmut Lenders macht darauf aufmerksam, daß die Schwelle, die mit

Artikel 80 a Grundgesetz für den Erlaß der Rechtsverordnungen jetzt gelegt wird, je- derzeit durch einfache Mehrheit aus diesen Gesetzen wieder herausgeworfen werden könnte. Abstimmung: 1. Wirtschaftssicherstellungsgesetz mit Entschließungsantrag Die Fraktion stimmt dem Gesetz mit großer Mehrheit zu. 2. Ernährungssicherstellungsgesetz Die Fraktion stimmt dem Gesetz mit großer Mehrheit zu. Manfred Schulte macht darauf aufmerksam, daß im Verkehrssicherstellungsgesetz im

§ 1 Abs. 1 noch das Wörtchen »insbesondere« wieder eingeführt werden müsse. (vgl. Pressedienst Nr. 268, Rückseite).16 Abstimmung: Verkehrssicherstellungsgesetz Die Fraktion stimmt dem Gesetz mit großer Mehrheit zu. 17 Gegenstimmen 12 Enthaltungen. Sprecher der Fraktion zum Arbeitssicherstellungsgesetz: 1. Günter Jaschke 2. Heinrich Stephan 3. Walter Behrendt Verkehrssicherstellungsgesetz: Ludwig Fellermaier Ernährungssicherstellungsgesetz: Heinz Saxowski Wirtschaftssicherstellungsgesetz oder Georg Kurlbaum.

Zu Pkt. 8. der TO: (Gesetz über Post- und Telefonkontrolle)17 Der Tagesordnungs- punkt soll am Nachmittag behandelt werden.

14 BT ANL. 121, Drs. V/2931, BT ANL. 117, V/2388, ebd., V/2361. Für die 2. Beratung vgl. BT STEN. BER. 67, S. 9567–9570 u. 9585 f. 15 Liegt dem Protokoll bei. BT STEN. BER. 67, Umdruck 490, S. 9658. 16 INFORMATIONEN, Nr. 268 vom 29. Mai 1968 liegt dem Protokoll bei.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 4 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 1): 28. 05. 1968

Zu Pkt. 9. der TO: (Katastrophenschutz) Willy Müller erläutert das Gesetz zum Katastrophenschutz.18 Er weist darauf hin, daß die Anwendung dieses Gesetzes ebenfalls auf den Spannungsfall und Verteidigungsfall beschränkt ist. 19 Karl Bechert bemängelt, daß die Vorschrift des § 13 Abs. 1 große Beunruhigung in der Bevölkerung auslösen könnte. Horst Gerlach und Helmut Schmidt sind der Meinung, daß Bestimmungen in diesem

Gesetz zum Teil zu weit gehen. So müßten z. B. auch unabhängig vom Verteidigungs- und Spannungsfall zum Hochwasserschutz Eingriffsmöglichkeiten bestehen. Willy Müller und Martin Hirsch machen darauf aufmerksam, daß diese Bestimmung grundsätzlich nur für den Fall eines bewaffneten Angriffes Geltung haben. Helmut Schmidt wünscht deshalb, daß der Sprecher unserer Fraktion auf alle Fälle im Plenum auf zwei Tatbestände aufmerksam macht: 1. daß dieses Gesetz nur für den Kriegsfall gilt u. 2. daß beispielsweise der Bürgermeister von Passau im Falle einer Hochwasserkatastro- phe entsprechende Maßnahmen zum Schutze der Bevölkerung ergreifen kann.

Er spricht sich dafür aus, daß im Katastrophenschutzgesetz § 15 Abs. 1 Satz 2 ersatzlos gestrichen wird. Abstimmung:

1. Streichungsantrag § 15 Abs. 1 Satz 2 Die Fraktion stimmt mit Mehrheit zu. 2. Katastrophenschutzgesetz Die Fraktion stimmt mit Mehrheit zu. 14 Gegenstimmen 5 Enthaltungen. Als Sprecher der Fraktion wird Willy Müller benannt. Die Fraktionssitzung wird um 13.45 Uhr unterbrochen.

17 BT ANL. 113, Drs. V/1880; Zur Debatte in der Fraktion vgl. SPD-Fraktionssitzung am 28. Mai 1968 (Teil 2). 18 BT ANL. 118, Drs. V/2585. Zur 2. Lesung vgl. BT STEN. BER. 67, S. 9570–9573. 19 Danach sollte zum Schutz der Zivilbevölkerung angeordnet werden können, daß diese ihren Aufent- haltsort nur mit Erlaubnis verlassen dürfe. Bewohner bestimmter, besonders gefährdeter Gebiete durften vorübergehend in anderen Gebieten untergebracht werden.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 5 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 2): 28. 05. 1968

[52 b]

28. Mai 1968: Fraktionssitzung (Teil 2)

AdsD, SPD-BT-Fraktion 5. WP, 96 Überschrift: »Protokoll der Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion am 28. Mai 1968 II. Teil, 15.30 Uhr«. Dauer: 15.30–19.40 Uhr. Anwesend: nicht bekannt. Vorsitz: Schmidt. Bundesregierung: Brandt, Heinemann, Leber, Schmid, Strobel, Wehner, Wischnewski. PStS: Börner, Jahn. Protokoll: Heinrich. Datum der Niederschrift: 30. 5. 1968.

Sitzungsverlauf: 1. Vorbereitung der Plenarsitzung (Fortsetzung) a) Gesetz über Post- und Telefonkontrolle b) Dritte Lesung Notstandsgesetze

Helmut Schmidt eröffnet den zweiten Teil der Fraktionssitzung und ruft den Punkt 8 der Tagesordnung der Fraktionssitzung auf: Gesetz über Post- und Telefonkontrolle (Art. 10 GG, Bundestagsdrucksachen V/1880 und V/2930). Martin Hirsch erklärt als Berichterstatter, daß sich durch dieses Gesetz nicht allzu viel am bisherigen Zustand ändere; die Maßnahmen würden künftig von deutschen Stellen, nicht mehr von den Alliierten ausgeübt. Die in den §§ 2 und 3 vorgesehenen beschrän- kenden Maßnahmen würden sehr stark eingeschränkt. Dies steht in engem Zusammen- hang mit dem politischen Strafrecht. In § 9 habe man sich für ein parlamentarisches Gre- mium entschieden. Die Möglichkeit von Industriespionage werde künftig unterbunden.

Karl Bechert kritisiert, daß in der in § 9 Absatz 2 vorgesehenen Kontrollkommission keine Abgeordneten vertreten sein werden. Von einer wirksamen parlamentarischen Kontrolle könne daher nicht die Rede sein. Eine Kontrolle durch das Parlament sei nicht vorgesehen, ebenso gebe es keine Möglichkeit der Rehabilitierung. Martin Hirsch weist die Kritik von Karl Bechert als unberechtigt zurück. Die Mitglie- der der Kommission nach Artikel 9/3 könnten Parlamentarier sein, bzw. ein Vertrau- ensmann unserer Partei. Außerdem könne das Verfassungsgericht angerufen werden. Es gebe bereits einen Antrag unserer Fraktion, mit dem die Verfassungsbeschwerde in der Verfassung verankert werden soll.1 Man dürfe Richter nicht mit politischen Entschei- dungen betrauen. Karl Bechert bemängelt sodann, daß die Kommission dem Gremium nach Artikel 9/1 nicht Bericht erstatten muß; er hat auch Bedenken in bezug auf den Rechtsweg. Der Betroffene müßte von der Abhörung erfahren und dann rehabilitiert werden. An der weiteren Diskussion darüber beteiligen sich Helmut Schmidt und Werner Jacobi. Martin Hirsch verweist auf die Möglichkeit, bei wirtschaftlichem Schaden eine Scha- denersatzklage gegen den Fiskus einzureichen. Heute gebe es überhaupt keine Rechts- mittel gegen die Beschränkungsmaßnahmen. Gerhard Flämig stellt die Frage, ob eine völkerrechtliche vertragliche Regelung durch die Verbalnote der Alliierten2 außer Kraft gesetzt werden könne; er will wissen, ob die Alliierten später nicht wieder ihre Rechte an sich ziehen können.

1 Vgl. SPD-Fraktionssitzung am 12. März 1968, Anm. 36. 2 Zum Wortlaut der Verbalnote vom 27. Mai 1968 vgl. BT ANL. 121, Drs. V/2942.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 6 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 2): 28. 05. 1968

Helmut Schmidt bezeichnet diese Vorstellung als grotesk. Durch eine Verbalnote könnten die Alliierten keine Rechte erlangen, wenn die Bundesrepublik sie ihnen nicht anvertrauen wolle. Martin Hirsch ergänzt, die Klausel im Deutschlandvertrag sei juristisch eine auflösende Bedingung.3 Die deutsche Seite habe jetzt die Bedingung erfüllt. Nachträglich könne man nicht einseitig wieder etwas in Kraft setzen. erklärt, daß es völkerrechtlich nach Artikel 5/2 des Deutschlandvertrages auf einen besonderen Notenwechsel nicht mehr ankomme. Mit dem Inkrafttreten einer eigenen deutschen Notstandsverfassung werde dieser Artikel hinfällig. Die Noten dien- ten nur noch der Klarstellung. Selbst wenn es keinen Notenwechsel gäbe, existierten die Vorbehaltsrechte nicht mehr. Helmut Schmidt führt aus, daß diese Fragen in keiner Rechtsordnung der Welt so gere- gelt seien, daß sie einen deutschen Sozialdemokraten befriedigen würden. Es gebe viele westliche Demokratien, in denen täglich in vielen Fällen gegen das Post-, Brief- und Telefongeheimnis verstoßen werde, weil kein Staat darauf verzichten könne, sich gegen seine Gegner mit den adäquaten Mitteln zu sichern. Der Staat müsse mit den gleichen Waffen und Methoden wie die staatsgefährdenden Organisationen arbeiten dürfen. Eine Mitteilungspflicht an die inneren und äußeren Gegner sei abzulehnen, da sonst etwa die Umtriebe der NPD nicht mehr verfolgt werden könnten. Die im Rechtsausschuß ge- fundene mittlere Linie stelle eine gute Lösung dar. Man dürfe die Voraussetzung des Abhörens nicht zu eng und nicht zu weit fassen. Man habe sich für eine stetige parla- mentarische Kontrolle entschieden. Die Landesämter für Verfassungsschutz müßten ebensolche Kommissionen einrichten. Abstimmung zu Artikel 10 GG: Das Gesetz wird in der Fassung der Drucksache V/2930 mit großer Mehrheit bei 21 Gegenstimmen und 4 Enthaltungen angenommen.

Sprecher im Plenum: Gerhard Reischl, evtl. Adolf Müller-Emmert (nur zu § 2).

TO-Punkt 3: Dritte Lesung Notstandsgesetze Helmut Schmidt erklärt, daß nunmehr beide SPD-Forderungen für die Annahme der Notstandsgesetze erfüllt sind: 1. Die erneute Lesung der Sicherstellungsgesetze, 2. Die Ablösung der alliierten Vorbehaltsrechte. Gerhard Jahn erläutert die Erklärung und die Verbalnote der Drei Mächte zur Ablö- sung der Vorbehaltsrechte. Die Vorbehalte politischer Art für die Deutschland- und Berlinfrage bleiben bestehen, sie berühren nicht die Frage des Artikels 5/2 des Deutsch- landvertrages. Auf Fragen von Willy Könen sagt Gerhard Jahn, daß mit der Dritten

3 Art. 5 Abs. 2 Deutschlandvertrag: »Die von den Drei Mächten bisher innegehabten oder ausgeübten Rechte in bezug auf den Schutz der Sicherheit von in der Bundesrepublik stationierten Streitkräften, die zeitweilig von den Drei Mächten beibehalten werden, erlöschen, sobald die zuständigen deut- schen Behörden entsprechende Vollmachten durch die deutsche Gesetzgebung erhalten haben und dadurch in Stand gesetzt sind, wirksame Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit dieser Streitkräfte zu treffen, einschließlich der Fähigkeit, einer ernstlichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ord- nung zu begegnen. Soweit diese Rechte weiterhin ausgeübt werden können, werden sie nur nach Konsultation mit der Bundesregierung ausgeübt werden, soweit die militärische Lage eine solche Konsultation nicht ausschließt, und wenn die Bundesregierung darin übereinstimmt, daß die Um- stände die Ausübung derartiger Rechte erfordern. Im übrigen bestimmt sich der Schutz der Sicherheit dieser Streitkräfte nach den Vorschriften des Truppenvertrages und den Vorschriften des Vertrages, welcher den Truppenvertrag ersetzt, und nach deutschem Recht, soweit nicht in einem anwendbaren Vertrag etwas anderes bestimmt ist.« BGBl. 1955 II S. 308.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 7 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 2): 28. 05. 1968

Lesung 5/2 erloschen sei. Bei einer späteren Änderung der Notstandsgesetze ergebe sich zunächst keine geänderte Rechtssituation gegenüber den Alliierten. Diese müssten bei einer Änderung der Notstandsgesetze ggf. Verhandlungen mit der Bundesregierung aufnehmen. Bundesaußenminister Willy Brandt wird eine Erklärung im abgeben. An der weiteren Diskussion beteiligen sich Karl Bechert, Helmut Lenders und Gerhard Jahn.

Änderungswünsche zum Grundgesetz in Dritter Lesung Helmut Schmidt berichtet zunächst über die Beratungen im Fraktionsvorstand, der 4 sich mit dem Antrag Gscheidle/Matthöfer zu 80 a/3 GG befaßt hat. Fazit: 1. Es ist zweifelhaft, ob das, was man beschlossen hat, das Beste ist; 2. Der Antrag Gscheidle/Matthöfer würde eine Verschiebung nach einer anderen Seite darstellen. Es soll der CDU vorgeschlagen werden, das Kassationsrecht so wiederherzu- stellen, wie es vor der Zweiten Lesung bestand und es für den Bündnisfall von Absatz 2 in Absatz 3 zu nehmen. Als Ergebnis des Koalitionsgesprächs wird der Änderungsantrag der beiden Fraktionen zu 80 a/2 vorgelegt. Dieser entspricht den Vorstellungen des Fraktionsvorstandes. Die Abstimmung ergibt eine überwältigende Mehrheit für diesen Antrag bei 2 Gegen- stimmen und 4 Enthaltungen. Hans-Stefan Seifriz unterbreitet noch einmal den bereits für die Zweite Lesung ge- machten Antrag zu Artikel 80 a/2 GG, wonach eine vorherige Zustimmung des Bun- destages bei Maßnahmen aufgrund eines NATO-Beschlusses erforderlich sein soll. Helmut Schmidt erklärt dazu, daß es sich hier für die CDU um den Eckstein des Ge- setzes handele. Er erinnert an die Fraktionsabstimmung zur Zweiten Lesung.5

Abstimmung zum Antrag Seifriz zu 80 a/2 GG: 47 Ja-Stimmen, 91 Nein-Stimmen, 5 Enthaltungen. Der Antrag ist abgelehnt. Gegen den Vorschlag von Hans-Stefan Seifriz, den Antrag als Gruppenantrag einzu- bringen, äußert Helmut Schmidt große Bedenken.

Änderungsantrag Seifriz, Hansing, Tallert zu Artikel 12 a Absatz 4 GG. (s. Anlage) Dieser Antrag auf Streichung des Artikels 12/4 GG wird nach kurzer Diskussion mit 105 Nein-Stimmen, 40 Ja-Stimmen bei 10 Enthaltungen abgelehnt. 6 Antrag Horst Gerlach zu 12 a/4 GG (s. Anlage). Nach längerer Diskussion, an der sich Helmut Schmidt, Grete Berger-Heise, Karl Ravens, Grete Rudoll und Ludwig Metzger beteiligen, wird der Antrag Gerlach mit 93 Nein-Stimmen, 47 Ja-Stimmen bei 5 Enthaltungen abgelehnt. Antrag Seifriz, Hansing, Tallert zu Artikel 9/3 GG (s. Anlage)7: Durch diesen Antrag soll das Wort »Arbeitskämpfe« durch das Wort »Streiks« ersetzt werden. Die Abstimmung ergibt: 48 Ja-Stimmen, 96 Nein-Stimmen, 9 Enthaltungen. Der An- trag ist damit von der Fraktion abgelehnt.

4 Vgl. dazu das Protokoll der Fraktionsvorstandssitzung vom 27. Mai 1968, AdsD, SPD-BTF 5. WP, 224. 5 Vgl. SPD-Fraktionssitzung am 15. Mai 1968. 6 Liegt dem Protokoll bei. 7 Liegt dem Protokoll bei.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 8 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 2): 28. 05. 1968

Hans Matthöfer wiederholt mündlich seinen bereits für die Zweite Lesung gemachten

Antrag, wonach Artikel 11/2 in Artikel 9/3 vor dem dort genannten Artikel 12 a einge- fügt werden soll. Martin Hirsch erklärt, daß der Antrag Matthöfer im Zusammenhang mit Artikel 9 keinen Sinn habe. Auch nach Meinung von Willy Könen bringe Artikel 11/2 in 9/3 eine merkwürdige Situation. Hans Matthöfer hält trotzdem an seinem Antrag fest. Der Fraktionsvorstand schlägt Ablehnung des Antrags Matthöfer vor. Abstimmung: 30 Ja-Stimmen, 102 Nein-Stimmen, 5 Enthaltungen. Der Antrag ist damit abgelehnt.

Hans Matthöfer stellt sodann den Hilfsantrag in 11/2, nach » … oder eines Landes« Artikel 91 einzufügen. Auch dieser Antrag wird auf Empfehlung des Fraktionsvorstandes mit großer Mehrheit abgelehnt. 8 Antrag Seifriz, Hansing, Tallert zu 87 a Absatz 4 GG (s. Anlage). Nach kurzer Diskus- sion, an der sich Horst Gerlach, Arthur Killat und Detlef Haase beteiligen, ergibt die Abstimmung: 64 Ja-Stimmen, 94 Nein-Stimmen, 6 Enthaltungen. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.

Zum Ablauf der Plenarsitzung insgesamt: Wolfgang Schwabe erinnert daran, daß die Koalition in der Zweiten Lesung den Antrag der FDP auf namentliche Abstimmung abgelehnt habe.9 Er war daher überrascht, als Willy Brandt auf dem Landesparteitag der SPD in Berlin sagte, es solle in der Dritten Lesung namentlich abgestimmt werden.10 Helmut Schmidt erwähnt, daß vielen Fraktionsmitgliedern Vorwürfe wegen der Ab- lehnung der namentlichen Abstimmung gemacht würden. Der DGB selbst habe auf seinem Kongreß in Berlin11 in der Notstandsfrage aber ebenfalls geheim und nicht namentlich abgestimmt. Empfehlung des Fraktionsvorstandes: Namentliche Abstimmung in der Dritten Le- sung, aber nur für die Schlußabstimmung, nicht für die anderen Punkte und die einzel- nen Anträge. Der Fraktionsvorstand gehe dabei davon aus, daß niemand den Willen haben könne, seine Abstimmung zu verschleiern. Die Empfehlung des Fraktionsvorstandes für namentliche Abstimmung in der Dritten Lesung wird bei einer Stimmenthaltung (Franz Neumann) von der Fraktion einstimmig gebilligt. Franz Neumann bringt das Abstimmungsverhalten der Berliner Abgeordneten in der Dritten Lesung zur Sprache. Die Berliner SPD-Abgeordneten haben sich mit Mehrheit entschieden, an der namentlichen Abstimmung teilzunehmen, obwohl die Notstandsge- setze nicht für Berlin gelten.12

8 Liegt dem Protokoll bei. 9 Zur Diskussion um die namentliche Abstimmung im Plenum vgl. BT STEN. BER. 67, S. 9354–9361. 10 Zum Wortlaut der Rede Brandts vgl. SPD-PRESSEMITTEILUNGEN, Nr. 244/68 b vom 26. Mai 1968. 11 Der 7. Ordentliche DGB-Kongreß in Berlin vom 9. bis 14. Mai 1966 hatte in geheimer Abstimmung mit großer Mehrheit jede Notstandsgesetzgebung abgelehnt, die die demokratischen Grundrechte einschränkt und besonders das Versammlungs-, Koalitions- und Streikrecht der Arbeitnehmer und ihrer gewerkschaftlichen Organisationen bedroht, AdG 1966, S. 12519. 12 In Berlin lag aufgrund der Regelungen des Besatzungsstatuts (sog. Berlin-Vorbehalt) die Zuständig- keit für Notstandsmaßnahmen weiterhin ausschließlich bei den drei Besatzungsmächten.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 9 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 2): 28. 05. 1968

Herbert Wehner empfiehlt den Berliner Genossen, sich genau zu überlegen, was sie machen. Es wäre besser, wenn die Berliner aus politischen Gründen nicht mitstimmen würden. Hans Wellmann erklärt, die Berliner SPD-Abgeordneten seien einstimmig zu der Auf- fassung gekommen, sie sollten in Solidarität mit der Gesamtfraktion an der Abstim- mung teilnehmen. Karl Mommer weist darauf hin, daß für eine Zweidrittel-Mehrheit 331 Stimmen erfor- derlich seien; es komme also auf die Ja-Stimmen an, eine Enthaltung komme einer Nein-Stimme gleich. Willy Brandt führt aus, daß er keine vorbereitete Erklärung zur namentlichen Abstim- mung in der Dritten Lesung abgegeben habe, sondern sich dazu in der Diskussion auf dem Landesparteitag in Berlin geäußert habe. Mit den Notstandsgesetzen sollen zwei Dinge vom Tisch kommen: 1. Der Vorwurf, es sei nicht genug Zeit zur Beratung gewesen. Die Partei habe sich schon seit 10 Jahren auf 4 Parteitagen mit dieser Materie befaßt. 2. Es werde behauptet, diejenigen, die in der Dritten Lesung zustimmen wollten, wür- den gegen die Beschlüsse des Nürnberger Parteitages verstoßen. Dies treffe nicht zu. Das zuständige und entscheidende Organ für die Auslegung der Parteitagsbeschlüsse sei der Parteivorstand; niemand kann sich bei der Interpretation von Parteitagsbeschlüssen an seine Stelle setzen. Die in Frankfurt geäußerte Drohung, jeder, der den Notstandsgesetzen zustimme, solle nicht mehr gewählt werden, stellt einen illegalen Akt dar.13 Der SPD-Parteivorstand wird sich am Freitag damit befassen.14 Das Mißtrauen in Teilen der Bevölkerung beruht nicht nur auf Ignoranz und Böswilligkeit, sondern es gibt auch andere Gründe. Der Machtmißbrauch von früher wirke nach. Gemessen an dem Ausgangspunkt, so erklärt Willy Brandt weiter, steht ein völliges Umstülpen der Notstandsgesetze und eine fast perfektionistische Absicherung zur Vorbeugung gegen Willkür. Wenn die Partei jetzt zögere, dann mache sie das, was zur Zeit vor sich gehe, noch schlimmer. Man müsse den Genossen sagen, wie es wirklich ist. Man müsse die Hand freibekommen für eine Frie- denspolitik nach außen und für eine bessere Ordnung im Innern. Man kann eine Frak- tion nicht unter Druck setzen. In großen Entscheidungen könne es in der SPD- Fraktion keine andere Loyalität geben, als gegenüber der Partei und dem eigenen Ge- wissen. Willy Brandt schließt mit der Bitte an die Fraktion, möglichst geschlossen ab- zustimmen und in der Abstimmung den Beweis einer möglichst starken politischen Gemeinsamkeit zu liefern. Willy Brandt wird in der Debatte in seiner Eigenschaft als Minister reden. begründet, warum sie aus Gewissensgründen und nach reiflicher Über- legung gegen die Notstandsgesetze stimmen wird. Helmut Schmidt: Es komme nicht nur darauf an, wie man abstimme, sondern wie man miteinander umgehe und wie man sich im Plenum und in der öffentlichen Meinung in dieser Frage darstelle.

13 Der stellvertretende Vorsitzende des SPD-Unterbezirks Frankfurt Mitte, Fred Zander, hatte zu einer Unterschriftenaktion gegen jene Mandatsträger der Partei aufgerufen, die den Notstandsgesetzen in 3. Lesung zustimmten, und öffentlich erklärt, daß diese Sozialdemokraten nicht mehr dem Bundestag angehören dürften. 14 Der Vorstand setzte auf seiner Sitzung am 31. Mai eine aus , Klaus-Peter Schulz und Hermann Hansing bestehende Untersuchungskommission ein, die die Umstände der Unterschriften- aktion in Frankfurt ermitteln sollte. Vgl. SPD-PRESSEMITTEILUNGEN, Nr. 254/68 a vom 31. Mai 1968.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 10 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 2): 28. 05. 1968

Ludwig Metzger sagt, wer in den letzten Jahren dabei war und geschwiegen hat, habe die Verantwortung mitübernommen. Wer jetzt mit Nein stimme, versuche, seiner Ver- antwortung zu entgehen. Hugo Collet verweist auf die möglichen Folgen einer Ablehnung, die für die Partei und die Demokratie viel schlimmer wäre. Er hat sich daher zur Zustimmung entschieden. Helmut Schmidt trifft sodann folgende grundsätzliche Feststellungen: 1. Die Fraktion hat seit 1960 in der Opposition gesagt, daß sie grundsätzlich bereit sei, die Verfassung für den Notfall zu ergänzen; 2. Die Vorschrift einer Zweidrittel-Mehrheit hat den Sinn, daß sich eine große Mehrheit zur Verfassungsänderung zusammenfindet; 3. Der gegenwärtige Zeitpunkt ist für lange Zeit der letzte, in dem ein annehmbarer Kompromiß zustandegebracht werden kann; 4. Er ist überzeugt, daß jeder in Zukunft zwei Dinge tun wird: a) Die Haltung der Fraktion loyal vertreten; b) die Haltung der Minderheit loyal vertreten; 5. Er bedankt sich bei vielen Genossen für deren große Mühe und Sachlichkeit. Schlußabstimmung zur Dritten Lesung der Grundgesetzänderungen für den Notstand: Die Abstimmung hat folgendes Ergebnis: Ja-Stimmen 132 Nein-Stimmen 34 Enthaltungen 1 (Franz Neumann als Berliner Abgeordneter) 37 Fraktionsmitglieder haben unentschuldigt nicht an der Abstimmung teilgenommen, so daß sich in der Plenarsitzung noch eine gewisse Verschiebung des Stimmverhältnisses ergeben könnte.15 Stellungnahme der Fraktion im Plenum Der Fraktionsvorstand ist hierzu der Auffassung, daß der Fraktionsvorsitzende eine Erklärung für die Fraktion abgeben soll. Andere Sprecher seien wünschenswert. Es entwickelt sich sodann eine längere Diskussion, ob neben Helmut Schmidt noch andere Fraktionsmitglieder reden sollen, ob die Haltung der Minderheit gesondert dargestellt werden soll, oder ob die Haltung der Minderheit auch vom Fraktionsvorsit- zenden zum Ausdruck gebracht werden soll. An der Diskussion beteiligen sich Wil- helm Dröscher, Willy Könen, Helmut Schmidt, , Hans Matthöfer, Helene Wessel, Ludwig Metzger, , Max Seidel, , Karl Ravens, Adolf Arndt, . Hans Matthöfer besteht darauf, daß er in der Dritten Lesung die Gründe darlegen will, warum er dagegen stimmt; er wolle nicht für die Fraktion und nicht für eine Gruppe, sondern nur für seine Person sprechen. Georg Leber fürchtet, daß durch die Begründung des Nein die Gräben draußen noch tiefer werden könnten. Für jene, die wie er als einziger Frankfurter mit Ja stimmen wollten, werde die Lage umso schwieriger. Hans Apel beantragt, daß die Fraktion einen Sprecher haben soll, der beide Haltungen darstelle.

15 Bei der dritten Lesung am 30. Mai stimmten 144 SPD-Mitglieder mit Ja, 53 votierten mit Nein, zwei enthielten sich.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 11 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 2): 28. 05. 1968

Helmut Schmidt erklärt, der Fraktionsvorsitzende dürfe nicht nur die Meinung des einen Teils der Fraktion darlegen, sondern er sei der Sprecher der Gesamtfraktion. Es habe aber jeder Abgeordnete das Recht, im Plenum seine Meinung zu sagen. Je mehr Mitglieder ihre Meinung sagen, desto weniger sei der Partei genützt. Beschluß: Auf Vorschlag von Helmut Schmidt beschließt die Fraktion einstimmig, daß der Vorsitzende für die Gesamtfraktion in der Schlußabstimmung sprechen wird. Da- von sollen die Rechte der Abgeordneten nicht berührt werden. Peter Blachstein und Herbert Wehner äußern sich noch einmal zu dem Abstimmungs- verhalten der Berliner Abgeordneten. Nach Ansicht Peter Blachsteins geht es hier um eine entscheidende Frage in der jetzigen internationalen Situation. Er schlägt vor, man solle sich noch heute darüber Gedanken machen, und mit den anderen Fraktionen und dem Bundestagspräsidenten16 eine Lösung herbeiführen. Herbert Wehner betont, daß man der anderen Seite keine Vorwände liefern dürfe; deshalb sollten die Berliner Abge- ordneten bei den Notstandsgesetzen nicht mitstimmen.17 Helmut Schmidt beruft den Fraktionsvorstand zur Behandlung dieser Frage auf Mitt- woch, den 29. Mai 1968, 9.30 Uhr zu einer Sitzung ein. Es könne darüber dann auch eine Fraktionssitzung geben.18

16 . 17 Bis auf Franz Neumann, der angekündigt hatte, sich zu enthalten und die Gründe für diese Entschei- dung im Plenum darlegte (BT STEN. BER. 67, S. 9652), nahmen alle Berliner Abgeordneten der SPD- Fraktion an der Abstimmung teil und stimmten mit Ja. Die Berliner Abgeordneten der CDU verfuh- ren ebenso. 18 Weder für den Fraktionsvorstand noch für die Fraktion ist eine Sitzung an diesem Tag überliefert.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 12