Deutscher

199. Sitzung

Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Inhalt:

Amtliche Mitteilungen ...... 11725 A Frage des Abg. Ott (CDU/CSU) : Erklärungen des früheren Bundeswirt- Fragestunde (Drucksachen VI/3783, VI/3812) schaftsministers Schiller über die Preis- steigerungsrate Frage des .Abg. Rollmann (CDU/CSU) : Offergeld, Parlamentarischer Rechtsstellung der Parlamentarischen Staatssekretär 11730 A, B, C, D Staatssekretäre nach Auflösung des Bundestages Ott (CDU/CSU) 11730 A, C Jahn, Bundesminister . 11725 C, 11726 B, C, Fellermaier (SPD) 11730 B 11727 A, B, D, 11728 A, B, C, D, Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU) 11730 D 11729 A, B, C, D Rollmann (CDU/CSU) 11726 B Fragen des Abg. Lemmrich (CDU/CSU): Ott (CDU/CSU) 11726 C Übernahme des Fehlbetrags der Deut- Fellermaier (SPD) 11726 D schen Bundesbahn durch den Bund — Zinskosten der Bundesbahn für nicht Dr. Mikat (CDU/CSU) . . . . . 11727 A, C erstattete Fehlbeträge Dr. Schmid, Vizepräsident . . . . 11727 D Offergeld, Parlamentarischer Dr. Haack (SPD) ...... 11728 A Staatssekretär 11730 D, 11731 A, B , C, D, 11732 A Vogel (CDU/CSU) ...... 11728 B Dr. Schäfer (Tübingen) (SPD) . . . 11728 C Lemmrich (CDU/CSU) 11731 A, B , C, 11732 A Lemmrich (CDU/CSU) ...... 11728 C Dr. Jobst (CDU/CSU) 11731 D Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) 11728 D Frage des Abg. Dr. Dübber (SPD) : Dr. Kempfler (CDU/CSU) . . . . 11729 A Erbschaftsteuerpflicht für betriebliche Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU) . 11729 B Hinterbliebenenrenten Dr. Lenz (Bergstraße) (CDU/CSU) . 11729 C Offergeld, Parlamentarischer Kunz (CDU/CSU) ...... 11729 D Staatssekretär ...... 11732 B II Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Frage des Abg. Dr. Czaja (CDU/CSU) : Sozialistischen Sowjetrepubliken über den Luftverkehr (Drucksache VI/3559); dpa-Meldung über eine Äußerung des Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Bundesaußenministers zur Ausreise Verkehr und für das Post- und Fern- „polnischer Staatsangehöriger deut- meldewesen (Drucksache V1/3819) scher Abstammung" Zweite Beratung und Schlußabstim- Moersch, Parlamentarischer mung — Staatssekretär . . 11732 C, D, 11733 A, B Horten (CDU/CSU) 11738 A Dr. Czaja (CDU/CSU) . . . 11732 D, 11733 A Dr. Hupka (CDU/CSU) . . . . . 11733 B Entwurf eines Gesetzes zu dem Ü berein- kommen vom 20. August 1971 über die Frage des Abg. Dr. Hupka (CDU/CSU) : Internationale Fernmeldesatellitenorgani- sation „INTELSAT" (Drucksache V1/3451) Vertrauliche Erläuterungen zur „Infor- — Absetzung von der Tagesordnung — 11738 B mation der Volksrepublik Polen" über die Aussiedlung von Deutschen Entwurf eines Gesetzes zu dem Ü berein- Moersch, Parlamentarischer kommen vom 16. Dezember 1970 zur Be- Staatssekretär . 11733 C, 11734 A, B, C, D kämpfung der widerrechtlichen Inbesitz- Dr. Hupka (CDU/CSU) . . . . 11734 A, B nahme von Luftfahrzeugen (Drucksache V1/3272); Schriftlicher Bericht des Rechts- Dr. Arndt (Hamburg) (SPD) . . . 11734 B ausschusses (Drucksache VI/3820) — Dr. Czaja (CDU/CSU) 11734 C Zweite Beratung und Schlußabstim- Dr. Jahn (Braunschweig) (CDU/CSU) 11734 D mung — 11738 B

Frage des Abg. Dr. Hupka (CDU/CSU) : Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag Möglichkeiten der Bundesregierung vom 26. Mai 1972 zwischen der Bundes- bezüglich der Behandlung der Anträge republik Deutschland und der Deutschen von Aussiedlern durch polnische Be- Demokratischen Republik über Fragen hörden des Verkehrs (Drucksache V1/3770) ; Mündlicher Bericht des Ausschusses für Moersch, Parlamentarischer innerdeutsche Beziehungen (Drucksache Staatssekretär . 11734 D, 11735 A, B, C, D V1/3811) -- Zweite Beratung und Schluß- Dr. Hupka (CDU/CSU) 11735 A abstimmung — Dr. Giulini (CDU/CSU) 11735 B Dr. von Bismarck (CDU/CSU) . . . 11738 D Dr. Czaja (CDU/CSU) 11735 C Dr. Geßner (SPD) ...... 11739 B Freiherr von Fircks (CDU/CSU) . 11735 C Antrag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 des Grundgesetzes — Fortsetzung der Fragen des Abg. Kunz (CDU/CSU) : Aussprache — Reise einer Professoren-Kommission Scheel, Bundesminister . . . . . 11740 D der Freien Universität Berlin nach Brüssel als Umgehung des gegen Ernest Dr. Schröder (CDU/CSU) . . . . . 11743 D Mandel verhängten Einreiseverbots Dr. Schulz (Berlin) (CDU/CSU) . . 11744 C Genscher, Bundesminister . . . . 11735 D, Dr. Haack (SPD) 11748 B 11736 A, B, C, D Dr. Müller (München) (CDU/CSU) . 1 1750 A Kunz (CDU/CSU) 11736 A, C Dr. Mende (CDU/CSU) . . . . . 11752 B Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU) . 11736 C Ertl, Bundesminister . . 11754 D; 11755 B Fragen des Abg. Hansen (SPD) : Dr. Starke (Franken) (CDU/CSU) . . 11755 A Gemeingefährliches Ablagern von gif- Kleinert (FDP) ...... 11755 C tigen Abfallstoffen, Einrichtung von Wehner (SPD) ...... 11757 B Sonderdezernaten der Staatsanwalt- schaften für Umweltschutzdelikte und Brandt, Bundeskanzler . . . . . 11763 C Schaffung besonderer Strafvorschriften Strauß (CDU/CSU) ...... 11773 D Genscher, Bundesminister . . . . 11736 D, Kirst (FDP) ...... 11783 B 11737 A, B, D Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller (SPD) 11786 A Hansen (SPD) 11737 A, C Dr. Barzel (CDU/CSU) . . . . . 1 1786 C Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen Mischnick (FDP) ...... 11795 D vom 11. November 1971 zwischen der Schmidt, Bundesminister . . . . 11798 C Regierung der Bundesrepublik Deutsch- land und der Regierung der Union der Katzer (CDU/CSU) ...... 11809 C Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 III

Erklärungen nach § 35 bzw. § 36 GO Anlage 7 Dr. Mende (CDU/CSU) . . . . . 11811 D Schriftliche Antwort auf die Mündliche Schmidt (München) (SPD) . . . . 11812 A Frage des Abg. Riedel (Frankfurt) (CDU/ CSU) betr. §§ 2 und 3 der Ersten Ver- Strauß (CDU/CSU) . . . 11813 B, 11814 A ordnung über die Auszahlung von zu- Schmidt, Bundesminister . . . 11813 D sätzlichen Eingliederungshilfen und Aus- gleichsleistungen nach dem Häftlings- Namentliche Abstimmung 11814 D hilfegesetz ...... 11821 D

Ansprache des Präsidenten von Hassel Anlage 8 zum Abschluß der 6. Wahlperiode des Schriftliche Antwort auf die Mündliche Bundestages und zur Würdigung des Frage des Abg. Dr. Schulz (Berlin) (CDU/ Wirkens des Vizepräsidenten Dr. Schmid 11816 C CSU) betr. Unterbindung sämtlicher Ak- tivitäten palästinensischer Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland . . . 11822 B Anlagen Anlage 9

Anlage 1 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Dr. Schneider (Nürnberg) Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 11819 A (CDU/CSU) betr. Maßnahmen der Bun- desregierung gegen die im Bundesgebiet Analge 2 bestehenden, zu terroristischen Betäti- gungen neigenden Ausländergruppen . 11822 C Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Engelsberger (CDU/CSU) Anlage 10 betr. Verantwortung für die Ermordung des israelischen Sportler 11819 A Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) betr. Maßnahmen gegen die Anlage 3 im Bundesgebiet tätigen palästinensi- Schriftliche Antwort auf die Mündlichen schen Organisationen ...... 11823 A Fragen des Abg. Reddemann (CDU/CSU) betr. Vorwurf des Parlamentarischen Anlage 11 Staatssekretärs im Auswärtigen Amt ge- gen Bonner Journalisten in bezug auf Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Agententätigkeit ...... 11819 B Fragen des Abg. Dr. Miltner (CDU/CSU) betr. Terrororganisation „Schwarzer Sep- tember" als Unterorganisation der „AL Anlage 4 FATAH" und Zusammenarbeit mit deut- Schriftliche Antwort auf die Mündliche schen linksradikalen Organisationen . . 11823 B Frage des Abg. Löffler (SPD) betr. Maß- nahmen der Bundesregierung zur Ab- Anlage 12 wendung der der Bundesrepublik Deutsch- land von palästinensischen Terroristen Schriftliche Antwort auf die Mündliche drohenden Gefahr ...... 11819 C Frage des Abg. Dr. Jobst (CDU/CSU) betr. Beziehungen linksextremistischer Gruppen zu palästinensischen Gruppen 11823 C Anlage 5

Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Anlage 13 Fragen des Abg. Dr. Slotta (SPD) betr. Pressemeldung über die Kürzung der Schriftliche Antwort auf die Mündliche bisherigen finanziellen Unterstützung des Frage des Abg. Dr. Arndt (Hamburg) Bundes für den Suchdienst des Deutschen (SPD) betr. Rückzahlung der Beamten, Roten Kreuzes ...... 11820 D Richtern und Soldaten gewährten Vor- schußzahlungen 11823 D Anlage 6 Anlage 14 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Riedel (Frankfurt) (CDU/ Schriftliche Antwort auf die Mündliche CSU) betr. Gleichstellung des durch das Frage des Abg. Weigl (CDU/CSU) betr. Häftlingshilfegesetz erfaßten Personen- Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für kreises, insbesondere der 9b-Häftlinge, verheiratete Ausländer, die als Touristen mit den Opfern der nationalsozialisti- ihren Ehepartner in der Bundesrepublik schen Verfolgung ...... 11821 B Deutschland besuchen ...... 11823 D IV Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Anlage 15 Anlage 23 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Frage des Abg. Engelsberger (CDU/ Fragen des Abg. von Bockelberg (CDU/ CSU) betr. Erklärungen des Bundeskanz- CSU) betr. Zahl der Studierenden aus lers und des Bundesinnenministers über den arabischen Ländern an den wissen- die Beteiligung des Bundesinnenministe- schaftlichen Hochschulen und an Fach- riums an den Beratungen über das Vor- bereichen mit Numerus clausus . . . . 11827 C gehen gegen die palästinensischen Ter- roristen in München und Fürstenfeld- Anlage 24 bruck 11824 B Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Fragen des Abg. Corterier (SPD) betr. Anlage 16 Katastrophenschutzplan für das Kernfor- Schriftliche Antwort auf die Mündliche schungszentrum Karlsruhe und Gefahren Frage des Abg Giulini (CDU/CSU) betr. für die Umwelt durch das von den Pfalz- Wahlrecht von Auslandsdeutschen . . 11824 C werken Ludwigshafen geplante Groß- kraftwerk in Wörth ...... 11828 A Anlage 17 Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Anlage 25 Fragen des Abg. Schulhoff (CDU/CSU) Schriftliche Antwort auf die Mündlichen betr. Versand einer Erklärung der Bun- Fragen des Abg. Dr. Kotowski (CDU/ desregierung zur Inneren Sicherheit an CSU) betr. Gründe für die Streichung des mittelständische Adressaten . . . . . 11825 A finanziellen Beitrags der Bundesregie- rung für INTERDOC 11828 D Anlage 18 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Anlage 26 Frage des Abg. Wohlrabe (CDU/CSU) Schriftliche Antwort auf die Schriftliche betr. Zusammenarbeit linksradikaler Frage des Abg. Dr. Wittmann (München) deutscher Studenten und Jugendorgani- (CDU/CSU) betr. Veröffentlichung des sationen mit militanten palästinensischen Rücktrittsschreibens des ehemaligen Bun- Gruppen 11825 C desfinanzministers Dr. Möller . . . . 11829 B

Anlage 19 Anlage 27 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen Frage des Abg. Dr. Dübber (SPD) betr. Fragen des Abg. Berger (CDU/CSU) betr. Erbschaftsteuerpflicht für betriebliche Vorlage des Entwurfs einer Novelle zum Hinterbliebenenrenten ...... 11825 D Personalvertretungsgesetz und Verlänge- rung der Amtszeit der Personalräte im Anlage 20 Bundesdienst 11829 C Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Neemann (SPD) betr. Anlage 28 Verlängerung der in den §§ 25 und 26 Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen des Umwandlungs-Steuergesetzes ent- Fragen des Abg. Wagner (Günzburg) haltenen Fristen 11826 B (CDU/CSU) betr. politisch motivierte Ter- ror- und Gewaltakte von Ausländern in Anlage 21 der Bundesrepublik Deutschland und Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Möglichkeiten zu ihrer Verhinderung . . 11830 A Fragen des Abg. Lenzer (CDU/CSU) betr. Zahl der vom Bundesministerium für Bil- Anlage 29 dung und Wissenschaft vergebenen Gut- Schriftliche Antwort auf die Schriftliche achten und Studien — Gründe für die Frage des Abg. Dr. Wittmann (München) Vergabe und Auswertung der Gutachten 11826 C (CDU/CSU) betr. „Negativkatalog der zivilen Verteidigung" des Deutschen Anlage 22 Städtetages 11830 D Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Fragen des Abg. Pfeifer (CDU/CSU) betr. Anlage 30 Verschlechterung der Zulassungschancen Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen der Studienbewerber für in das zentrale Fragen des Abg. Weber (Heidelberg) Registrierverfahren einbezogene Fächer (CDU/CSU) betr. Arbeitsgruppen zur Be- — Erklärungen der Bundesregierung be- ratung der Reform der Struktur von Bun- züglich der Beteiligung des Numerus desregierung und Bundesverwaltung — clausus 11826 D Ergebnisse der Projektgruppe . . . . 11831 A Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 V

Anlage 31 Anlage 39 Schriftliche Antwort auf die Schriftliche Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen Frage des Abg. Biechele (CDU/CSU) betr. Fragen des Abg. Seefeld (SPD) betr. Ver- Pressemeldungen über den Abbau der nichtung gebrauchsfähiger Bundeswehr- beim Grenzübergang Konstanz-Kreuzlin- kleidung und Verwertbarkeit für karita- ger Tor erstellten Anlage zum Absaugen tive Zwecke 11835 C von Autoabgasen — Versuche mit einem neuen Absaugegerät 11832 C Anlage 40

Anlage 32 Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen Fragen des Abg. Wohlrabe (CDU/CSU) Schriftliche Antwort auf die Schriftliche betr. Aufhebung der Selbständigkeit des Frage des Abg. Biechele (CDU/CSU) betr. Deutschen Zentralinstituts für soziale Klärung von Abwässern durch Binsen- Fragen und Einbeziehung in eine ge- einheiten 11832 D meinsame elektronische Dokumentation 11836 A

Anlage 33 Anlage 41 Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen Schriftliche Antwort auf die Schriftliche Fragen des Abg. Mick (CDU/CSU) betr. Frage des Abg. Katzer (CDU/CSU) betr. Genehmigungspflicht für den Abbruch Ersatz der den PH-Studenten in Nieder- von Wohnhäusern und Modernisierung sachsen durch das Praktikum entstehen- des Altbaubestands ...... 11833 B den Kosten nach dem Bundesausbil- dungsförderungsgesetz 11836 B Anlage 34 Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen Anlage 42 Fragen des Abg. Riedl (München) (CDU/ CSU) betr. Nachteile des Gesetzes über Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen die Veranlagung von Brennereien zum Fragen des Abg. Weber (Heidelberg) Brennrecht im Betriebsjahr 1972/1973 für (CDU/CSU) betr. Einrichtung der Ge- die bayerischen Kartoffelbrennereien und bäude des Deutschen Krebsforschungs- Wettbewerbssituation der deutschen Kar- zentrums, Situation der deutschen Krebs- toffelbrennereien nach Inkrafttreten der forschung im internationalen Vergleich EWG-Alkoholmarktordnung . . . . . 11833 D und Verabschiedung eines umfassenden Forschungsprogramms 11836 D Anlage 35 Anlage 43 Schriftliche Antwort auf die Schriftliche Frage des Abg. Looft (CDU/CSU) betr. Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen Einbeziehung des Kindergarten- und Fragen des Abg. Löffler (SPD) betr. Ein- Schulbaus in die Gemeinschaftsaufgabe fuhr von mit Phosphat behandeltem ge- „Verbesserung der regionalen Wirt- kochtem Schinken aus Dänemark, Bel- schaftsstruktur" 11834 C gien und den Niederlanden — Maßnah- men zum Schutz der Verbraucher und der Anlage 36 einheimischen Erzeuger 11837 B Schriftliche Antwort auf die Schriftliche Frage des Abg. Weigl (CDU/CSU) betr. Anlage 44 überregionale Schwerpunktorte (Doppel- Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen orte) im Zonenrandgebiet 11834 D Fragen des Abg. Rollmann (CDU/CSU) betr. einheitliche Handhabung des Aus- Anlage 37 bildungsförderungsgesetzes in bezug auf Unterbringungs- und Fahrtkosten bei Schriftliche Antwort auf die Schriftliche auswärtigen Schulpraktika von Studen- Frage des Abg. Dr. Arnold (CDU/CSU) betr. Vereinbarkeit einer Zweitwoh- ten 11837 D nungssteuer mit den Vorschriften des Grundgesetzes 11835 A Anlage 45 Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen Anlage 38 Fragen des Abg. Kater (SPD) betr. Ent- Schriftliche Antwort auf die Schriftliche wicklung der Tuberkuloseerkrankungen Frage des Abg. Niegel (CDU/CSU) betr. in der Bundesrepublik Deutschland und Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes in den benachbarten Staaten — Röntgen- zur Unterbindung mißbräuchlicher Aus- reihenuntersuchungen zur rechtzeitigen nützung ...... 11835 B Erkennung tuberkulöser Infektionen . . 11838 B VI Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Anlage 46 bach) (CDU/CSU) betr. Beförderung eines Beamten des höheren Postdienstes und Schriftliche Antwort auf die Schriftliche gemeinnützige Stiftung „Postwaisenhort" 11839 D Frage des Abg. Dr. Schmitt-Vockenhau- sen (SPD) betr. Beschleunigung des Aus- baues der alten B 44 von Biebesheim bis Anlage 50 zum Ortsanfang Stockstadt 11839 A Schriftliche Antwort auf die Schriftliche Frage des Abg. Niegel (CDU/CSU) betr. Anlage 47 Verwendung der Bezeichnung „DBP" auf Wagen der Deutschen Bundespost . . . 11840 B Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen Fragen des Abg. Maucher (CDU/CSU) betr. Aufhebung der Stückgutabfertigung Anlage 51 bei verschiedenen Bahnhöfen der Deut- Schriftliche Antwort auf die Schriftliche schen Bundesbahn ...... 11839 B Frage des Abg. Slotta (SPD) betr. Kün- digung der Mietverträge über werks- eigene Wohnungen von Bergleuten der Anlage 48 Saarbergwerke AG nach Eintritt in den Schriftliche Antwort auf die Schriftliche Ruhestand 11840 D Frage des Abg. Weigl (CDU/CSU) betr. den vorzeitigen Ausbau der B 299 Erben- dorf—Reuth 11839 C Anlage 52 Schriftliche Antwort auf die Schriftliche Anlage 49 Frage der Abg. Frau Dr. Walz (CDU/ CSU) betr. Auswirkungen des Graduier- Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen tenförderungsgesetzes auf die Steigerung Fragen des Abg. Erhard (Bad Schwal des Hochschullehrernachwuchses . . . 11841 A

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Bonn, den 22. September 1972

Stenographischer Bericht Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Fragestunde Beginn: 9.01 Uhr Drucksachen VI/3783, VI/3812

Vizepräsident Dr. Schmid: Die Sitzung ist Zuerst kommen wir zu der Dringlichen Münd- lichen Frage des Abgeordneten Rollmann: eröffnet. Auf welche Rechtsvorschrift stützt die Bundesregierung ihre Entscheidung, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre ihr Amt Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden auch nach Auflösung des Bundestages behalten sollen, und wie ist insbesondere diese Entscheidung mit § 1 des Gesetzes über die ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre zu ver- aufgenommen: einbaren, wonach diese Mitglieder des Deutschen Bundestages sein müssen? Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen hat mit Schreiben vom 13. September 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Strauß, Leicht, Dr. Alt- Das Wort zur Beantwortung hat Herr Bundes- hammer, Höcherl und Genossen betr. Korrektur und Fortschrei- minister Jahn. bung der mittelfristigen Finanzplanung und Haushaltsentwurf 1973 — Drucksache VI/3745 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3813 verteilt. Jahn, Bundesminister der Justiz: Die Auflösung Der Parlamentarische Staatssekretär heim Bundesminister für des Deutschen Bundestages und die damit verbun- Wirtschaft und Finanzen hat mit Schreiben vom 18. September 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Wurbs, Graaff, dene parlamentslose Zeit werfen eine Reihe von Mertes, Opitz, Geldner, Schmidt (Kempten), Spitzmüller, Koenig, Junghans, Kater, Dr. Schachtschabel, Scheu, Wüster und der Fragen auf, die nicht geregelt sind. Auch das Ge- Fraktionen der FDP, SPD betr. Förderung der kleinen und mittle- setz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentari- ren Unternehmen — Drucksache VI/3617 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3814 verteilt. schen Staatssekretäre äußert sich nicht dazu, ob die Parlamentarischen Staatssekretäre in diesem Fall im Der Bundesminister der Justiz hat mit Schreiben vom 21. Sep- tember 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Erhard (Bad Amt bleiben oder nicht. Schwalbach), Vogel und der Fraktion der CDU/CSU betr. Ver- einheitlichung der Reditspflegerausbildung — Drucksache VI/3753 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3817 ver- Die Bundesregierung hat diese Frage eingehend teilt. geprüft. Sie ist dabei zu dem Ergebnis gelangt, daß Die Mündlichen Anfragen für den Monat August werden mit die Parlamentarischen Staatssekretäre so lange im den dazu erteilten schriftlichen Antworten als Drucksache VI/3816 verteilt. Amt bleiben wie die Minister. Diese Rechtsauffas- sung stützt sich auf § 6 des Gesetzes über die Der Bundesminister des Innern hat mit Schreiben vom 19. Sep- tember 1972 die Kleine Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staats- betr. Verwaltungsvereinfachung — Drucksache VI/3738 — be- antwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3821 verteilt. sekretäre. Der Vorsitzende des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Die Bestimmung, auf die Sie verweisen, Herr schaft und Forsten hat mit Schreiben vom 21. September 1972 mit- geteilt, daß der Ausschuß gegen folgende verkündete Vorlagen Kollege Rollmann, gibt für den vorliegenden Fall keine Bedenken erhoben habe: nichts her. Sie betrifft die Ernennung zum Parla- Verordnung (EWG) Nr. 1098/72 des Rates vom 30. Mai 1972 zur Verlängerung der Frist für die Destillation von Tafel- mentarischen Staatssekretär, während es hier um wein bis zum 31. Jull 1972 die Entlassung geht, die in § 6 speziell geregelt ist. Verordnung (EWG) Nr. 1099/72 des Rates vom 30. Mai 1972 zur Festsetzung des Grundpreises und des Ankaufspreises für Apfel für den Monat Juni 1972 Der in § 6 des Gesetzes über die Rechtsverhält- nisse der Parlamentarischen Staatssekretäre ver- Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat am 21. September 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. wendete Begriff „Ausscheiden aus dem Deutschen Meinecke (Hamburg), Frau von Bothmer, Engholm, Flämig, Han- Bundestag" erweckt — isoliert betrachtet — in der sen, Dr. Hauff, Dr. Lohmar, Dr. Slotta, Dr. Sperling, Walkhoff, Dr. Wichert, Grüner, Jung, Graaff und der Fraktion der SPD, Tat zunächst den Eindruck, als ob damit jede Form FDP betr. Forschungspolitik — Drucksache VI/3798 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3827 — verteilt, des Mandatsverlusts gemeint sei. Indessen muß der Sinngehalt dieser Bestimmung, der nach der Recht- Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat am 22. September 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. sprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Meinecke (Hamburg), Grüner und der Fraktionen der SPD, FDP Gesetzesauslegung besonders zu berücksichtigen ist, betr. Bildungspolitik — Drucksache VI/3785 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3828 verteilt. zu folgender Schlußfolgerung führen: Ausscheiden

Der Bundesminister des Innern hat mit Schreiben vom 7. Sep- im Sinne dieser Vorschrift erfaßt nur den Mandats- tember 1972 die Kleine Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP verlust eines einzelnen Abgeordneten im Verlauf betr. Schutz der Privatsphäre — Drucksache VI/3711 — beant- wortet. Sein Schreiben wird als Drudcsache VI/3826 verteilt. der Wahlperiode. 11726 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Bundesminister Jahn Nach § 1 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse Die Parlamentarischen Staatssekretäre scheiden der Parlamentarischen Staatssekretäre wird der wie alle anderen Abgeordneten mit dem Ende Parlamentarische Staatssekretär dem zuständigen der Wahlperiode aus dem Bundestag aus. Sie Minister zur Unterstützung beigegeben. Er ist damit verlieren damit die Voraussetzung für ihr Amt. Ministergehilfe. Zwischen ihm und seinem Minister Sie sind damit entlassen, ohne daß es noch eines besteht eine funktionale Akzessorietät, die besonders Entlassungsvorschlags des Bundeskanzlers be- stark ist, wenn ihm der Minister Sachaufgaben dürfte. überträgt. § 14 a der Geschäftsordnung der Bun- desregierung sieht diese Möglichkeit vor. Von ihr Jahn, Bundesminister der Justiz: Diese Auffas- ist in großem Umfang Gebrauch gemacht worden. sung, die in dem von Ihnen genannten Gutachten vertreten wird, das eine unter sehr vielen Äuße- Hinzu kommt die personale Akzessorietät, die in rungen zu diesem Thema aus den letzten Wochen § 6 Abs. 3 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse ist, ist der Bundesregierung bekannt. der Parlamentarischen Staatssekretäre ihren Aus- druck gefunden hat. Dort ist bestimmt, daß das Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs mit dem des Vizepräsident Dr. Schmid: Abgeordneter Ott. zuständigen Ministers endet. Ott (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, da die Das Gesetz bietet also das Bild einer engen Ver- Regierungsarbeit bereits gut funktioniert hat, ehe knüpfung des Parlamentarischen Staatssekretärs mit wir die Parlamentarischen Staatssekretäre hatten, seinem Minister in dessen Person und Arbeit. Da und da meines Wissens Parlamentarische Staats- der Minister nach Art. 69 GG bis zum Zusammen- sekretäre seinerzeit bei der Großen Koalition zu tritt eines neuen Bundestages im Amt bleibt, ergibt dem Zweck eingerichtet worden sind, die Verbin- sich aus der Akzessorietät der Stellung des Parla- dung mit dem Parlament aufrechtzuerhalten, frage mentarischen Staatssekretärs, daß auch sein Amt ich Sie: Womit würden sich die Parlamentarischen nicht vorher endet. Dagegen läßt sich nicht etwa Staatssekretäre dann beschäftigen, wenn statt 496 einwenden, eine Unterstützung des Ministers sei Abgeordneten in diesem Haus nur noch der Stän- nach der Auflösung des Parlaments nicht mehr nötig. dige Ausschuß tätig ist? Oder werden diese Parla- Auch nach der Auflösung des Parlaments bestehen mentarischen Staatssekretäre die Gehilfen der Bun- die Aufgaben der Regierung weiter, die dem ein- desminister und der Bundesregierung für den Wahl- zelnen Bundesminister übertragen worden sind. kampf sein? Außerdem ist der Kontakt zu den auch zwischen den Wahlperioden arbeitenden parlamentarischen Gremien — insbesondere dem Ständigen Aus- Jahn, Bundesminister der Justiz: Ich bin Ihnen schuß — sowie dem Bundesrat zu pflegen. Das Aus- sehr dankbar, Herr Kollege Ott, daß Sie auf die scheiden des Parlamentarischen Staatssekretärs Entstehungsgeschichte der Parlamentarischen Staats- würde für die einzelnen Häuser eine Störung in sekretäre zurückverweisen. Wir waren uns damals ihrer Funktionsfähigkeit bedeuten. bei der Bildung der Großen Koalition in beiden großen Fraktionen darüber einig, daß hier verfas- (Lachen bei der CDU/CSU.) sungs- und staatsrechtliches Neuland betreten wird, Dies wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, Neuland, das in einem unerläßlichen Mindestbereich in welchem Umfang die Parlamentarischen Staats- fixiert und geregelt werden sollte, für das aber im sekretäre in ihren Ressorts mit der Wahrnehmung Laufe der Zeit eine weitere Staatspraxis entwickelt von Sachaufgaben betraut sind. werden müsse und das der Weiterentwicklung auch in der gesetzlichen Begründung bedürfe.

Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage des Im übrigen habe ich schon in meiner ersten Ant- Abgeordneten Rollmann. wort deutlich zu machen versucht: Die Tätigkeit der Parlamentarischen Staatssekretäre beschränkt sich keineswegs auf die Verbindung zum Parlament oder Rollmann (CDU/CSU): Herr Minister, darf ich seinen Gremien, sondern sie haben darüber hinaus fragen, auf welche Rechtsgutachten sich diese Auf- auch andere Aufgaben zur Entlastung der Bundes- fassung der Bundesregierung bezieht. minister wahrzunehmen. Das ist in der Geschäfts- ordnung der Bundesregierung ausdrücklich geregelt. Jahn, Bundesminister der Justiz: Dieser Auffas- Dementsprechend sind ihnen Sachaufgaben auch im sung liegen verschiedene Rechtsgutachten zugrunde, Bereich der Exekutive übertragen worden. Das die zum Teil in meinem Hause, zum Teil aber auch wissen Sie im übrigen ja auch selber. Darüber hinaus in der Wissenschaft erarbeitet worden sind. ist eine Aufgabe, die natürlich bleibt — dies war eine der Überlegungen, die seinerzeit mit zur Ein- Vizepräsident Dr. Schmid: Zweite Zusatz- richtung dieser Institution geführt haben —, auch die frage. Entlastung im repräsentativen Bereich nach außen.

Rollmann (CDU/CSU) : Darf ich fragen, Herr Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeordne- Bundesjustizminister, ob der Bundesregierung das ter Fellermaier. Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deut- schen Bundestages vom 21. August 1972 bekannt war, Fellermaier (SPD) : Herr Minister, nachdem der wo es auf Seite 24 heißt: Kollege Rollmann ein Rechtsgutachten eingeführt Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11727

Fellermaier hat, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen die grundlegen- men. Dort sind unstreitig und klar die Vorausset- de Studie von Professor Laufer über die Rechtsstel- zungen für das Ins-Amt-Berufen des Parlamentari- lung der Parlamentarischen Staatssekretäre bekannt schen Staatssekretärs geregelt. Sie können ernst- ist und ob Sie die Auffassung von Herrn Professor haft nicht bestreiten, Herr Kollege Mikat, daß eben- Laufer teilen, die in dieser Studie zum Ausdruck so wie auch in anderen Bereichen der Fall der vor- kommt, daß die Parlamentarischen Staatssekretäre zeitigen Auflösung des Bundestages in diesem Ge- in ihrer Funktion so zu sehen sind, daß ihr Aus- setz überhaupt nicht geregelt ist. Sie wissen, daß ich scheiden sich nur nach dem § 46 des Bundeswahl- seinerzeit mit dem Kollegen Benda an der Ent- gesetzes richtet und anders nicht. stehung dieses Gesetzes gelegentlich ein wenig mitgewirkt habe. Ich stehe nicht an, zu sagen: das war einer der vielen Fälle, die damals als nicht Jahn, Bundesminister der Justiz: Vielen Dank regelungsbedürftig angesehen wurden, nicht etwa, für diesen Hinweis. Meines Wissens ist die Arbeit weil wir diesen Fall nicht regeln wollten — ich bin von Herrn Professor Laufer die einzige umfassende nicht einmal sicher, ob wir ihn im einzelnen be- Arbeit dieser Art; in ihr wird zu diesem Thema die dacht haben —, sondern weil wir von vornherein Auffassung vertreten, die Sie soeben zitiert haben, an die Regelung dieses Gebietes in der Absicht her- Herr Kollege Fellermaier. angegangen sind, zunächst einmal ein Minimum zu regeln, um die weitere Entwicklung nicht zu behin- Vizepräsident Dr. Schmid: Professor Mikat! dern. Tatsächlich haben wir uns heute mit der Situa- tion auseinanderzusetzen: Wie soll eigentlich die Staatspraxis in dieser Frage geregelt werden? Ich Dr. Mikat (CDU/CSU) : Herr Minister, sind Sie würde Ihre Auffassung teilen, wenn es im Gesetz nicht doch der Auffassung, daß unbeschadet der Um- zu der von Ihnen aufgeworfenen Frage eine klare schreibung des Tätigkeitsbereichs der Parlamenta- Aussage gäbe. Aber die gibt es nicht. rischen Staatssekretäre, gleichgültig, wie hoch man ihren parlamentarischen Anteil und ihren nichtpar- lamentarischen Anteil bestimmen mag, grundlegend Vizepräsident Dr. Schmid: Noch eine Zusatz- frage. die klare Folgerung aus § 6 Satz 3 des Gesetzes über die Parlamentarischen Staatssekretäre bleibt, wo- (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Es gibt keine nach das Ende der Tätigkeit eines Parlamentarischen zwei Zusatzfragen!) Staatssekretärs auch mit der Auflösung des Deut- schen Bundestages gegeben ist und sind Sie nicht Dr. Mikat (CDU/CSU) : Gestatten Sie mir noch ferner der Auffassung, daß sich aus dem Wortlaut eine Zusatzfrage, Herr Minister. Wenn Sie schon des § 1 des Gesetzes klar ergibt, daß das Parlamen- meine Rechtsauffassung positivistisch nennen, ich tariersein konstitutiv für die Existenz von Parla- mir aber andererseits nicht vorstellen kann, wie mentarischen Staatssekretären ist man diesen Fall — vielleicht hätten Sie es gerne (Beifall bei der CDU/CSU) — etwa naturrechtlich — anders lösen kann, und es selbstverständlich auch im Fall der Auflö- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) sung des Deutschen Bundestages ein zwingendes so bleibt doch die Frage, ob nicht eine klare Rechts- Recht ist, daß in dem Moment, wo sich der Deutsche grundlage in § 6 insofern gegeben ist, als § 6 etwas Bundestag auflöst, auch das Amt der Parlamenta- über das Ausscheiden der Parlamentarischen Staats- rischen Staatssekretäre kraft Gesetzes zum Erlöschen sekretäre sagt. Wenn Sie sagen, Herr Minister, das kommt? Gesetz kenne expressis verbis nicht den Fall der (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Auflösung des Deutschen Bundestages, so kennt es aber doch den Fall des Auslaufens der Legis- Jahn, Bundesminister der Justiz: Herr Kollege laturperiode. Das ist in jedem Fall doch wohl der Mikat, ich bin nicht dieser Auffassung, sonst hätte allgemeinere Begriff, unter dem wir in allen anderen ich nicht das vertreten, was ich zunächst gesagt Fällen und auch Sie ohne weiteres die Auflösung habe. Ich muß Ihnen aber offen gestehen, daß ich des Deutschen Bundestages subsumieren. Wenn über diese sehr positivistische schon eine Analogie, warum, Herr Minister, nicht hier? § 1 und § 6 bieten Ihnen eine einmalige — (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] : Sehr richtig! wiewohl für die Regierung nicht gerade erfreuliche, — Lachen bei der CDU/CSU) aber verfassungsrechtlich saubere — Gelegenheit und nicht einmal an einem vollkommenen Gesetzes- dazu. wortlaut festhakende Interpretation ein wenig ent- (Beifall bei der CDU/CSU.) täuscht bin.

Ich habe vorhin auf die Auffassung des Bundes- Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und verfassungsgerichts hingewiesen, die an sich gar Herren! Die Debatte ist, glaube ich, schon ein nicht zu zitieren gewesen wäre, weil es allgemeiner wenig ausgeufert. Wir sind von der Fragestunde in Rechtspraxis entspricht, daß Gesetze eben nicht nur ein Kolleg geraten. nach ihrem Wortlaut, sondern auch nach ihrem Sinngehalt ausgelegt werden müssen. Sie haben (Zuruf von der SPD: Genau!) auf § 1 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Das ist nicht der Sinn der Fragestunde. Stellen Sie Parlamentarischen Staatssekretäre Bezug genom- also bitte Fragen, aber machen Sie keine Rechts- 11728 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 ausführungen, die über das hinausgehen, was not- Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeordne- wendig ist, um die Frage zu erörtern. ter Schäfer! (Abg. Vogel: Meine Frage ist, glaube ich, Jahn, Bundesminister der Justiz: Herr Kollege nicht beantwortet!) Mikat, dies ist eine Auffassung. Ich habe Ihnen dar- gelegt, weshalb die Bundesregierung zu dem Ergeb- nis kommt, daß § 6 des Gesetzes über die Parla- Dr. Schäfer (Tübingen) (SPD) : Herr Bundes- mentarischen Staatssekretäre nicht das Ausscheiden minister, ist es richtig, daß in der letzten Legislatur- schlechthin meint, sondern nach unserer Überzeu- periode in der Ernennungsurkunde der Parlamen- gung lediglich das Ausscheiden im Einzelfalle. Das tarischen Staatssekretäre ausdrücklich aufgeführt ist die Grundlage für die Interpretation des Geset- war, daß ihr Amt mit dem Amt des Ministers endet, zes und für seine Anwendung in der Praxis. und kann man, da das Gesetz in der Zwischenzeit ja nicht geändert wurde, insoweit von einer Staats- praxis sprechen, wenn sich die Bundesregierung Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Kollege jetzt im gleichen Sinne entschieden hat? Haack!

Dr. Haack (SPD) : Herr Minister, können Sie mir Jahn, Bundesminister der Justiz: Herr Kollege bestätigen, daß in der vorhin genannten Grundsatz- Professor Schäfer, dies entspricht der Interpretation, studie über die Parlamentarischen Staatssekretäre die die Bundesregierung vorgenommen hat, daß es von Herrn Professor Laufer ausdrücklich — ebenso nämlich auch auf Grund der Staatspraxis eine enge wie von der Bundesregierung die Auffassung Verbindung zwischen dem Amt des Parlamentari- vertreten wird, daß das Amt des Parlamentarischen schen Staatssekretärs und dem des Bundesministers, Staatssekretärs, abgesehen von individuellen Aus- dem er zugeordnet ist, gibt. scheidensgründen, wegen seiner engen Verbindung mit dem Amt des Ministers nur mit der Erledigung Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeordne- des Amtes des Ressortministers enden kann? ter Lemmrich.

Jahn, Bundesminister der Justiz: Diese- Auffas- sung, Herr Kollege Haack, trifft zu. Das hat Herr Lemmrich (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, Professor Laufer in seiner umfassenden Studie sehr nachdem Sie erklärt haben, daß die Parlamentari- ausführlich dargelegt. schen Staatssekretäre für die Funktionsfähigkeit der Ministerien notwendig sind, möchte ich an Sie die Frage stellen, ob dies bedeutet, daß das Innenmini- Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeordne- ter Vogel! sterium und das Wissenschaftsministerium nicht mehr funktionsfähig sind, nachdem dort vor kurzem die Parlamentarischen Staatssekretäre ausgeschie- Vogel (CDU/CSU) : Herr Minister, da ich Sie den sind? persönlich nicht befragen kann, wie störend das (Beifall bei der CDU/CSU.) Ausscheiden eines Parlamentarischen Staatssekre- tärs von dem jeweiligen Minister empfunden wird, darf ich Sie fragen, ob Sie dann, wenn Sie eine so, Jahn, Bundesminister der Justiz: Dieses sind, wie wie ich meine, willkürliche Auslegung zugrunde Sie genau wissen, Herr Kollege Lemmrich, zwei legen, wie sie dem Beschluß des Bundeskabinetts zu- völlig verschiedene Dinge, nämlich die Frage, ob grunde liegt, nicht darüber nachdenken müssen, daß der Inhaber eines Amtes und Auftrages diesen es unter Umständen, wenn sich nämlich die Auffas- fortführen soll oder ob etwa, wie in den beiden sung der Bundesregierung als falsch herausstellen von Ihnen genannten Fällen, aus anderen Gründen sollte, Verpflichtungen gibt. ein Ausscheiden notwendig geworden ist, das nun nicht dazu führen muß nach dem Willen und der Jahn, Bundesminister der Justiz: Herr Kollege Überzeugung der beiden betroffenen Herren Kolle- Vogel, das ist zunächst einmal nicht eine Frage von gen —, daß ein Nachfolger für eine kurze Zeit ein- „störend" oder „nicht störend", sondern es ist die geführt wird. Frage, zu welcher möglichen und zutreffenden Inter- (Abg. Lemmrich: Das war doch Ihr Argu pretation und Anwendung wir in diesem Bereich ment, Herr Minister!) kommen. Zum zweiten hat die Bundesregierung in dieser Frage das Für und Wider aller damit zusammen- Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage, Herr hängenden Tatbestände abgewogen. Sie ist zu die- Abgeordneter Schneider. sem Ergebnis gekommen und kann sich damit ent- gegen Ihrer Auffassung, es handle sich um eine will- Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) : Herr kürliche Interpretation, auch, wie nun mitlerweile Justizminister, sind Sie nicht mit mir der Meinung, hier in der Fragestunde, so meine ich, mehrfach daß hier der Artikel der Verfassung anzuwenden ist, deutlich geworden ist, auf angesehene Vertreter der daß die Bundesregierung aus dem Bundeskanzler Rechtswissenschaft stützen. und den Bundesministern besteht und nur die Bun- (Abg. Vogel: Auf einen halben!) desregierung weiterhin im Amt bleibt? Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11729

Jahn, Bundesminister der Justiz: Diese Bestim- — Es liegt im Ermessen des Präsidenten. Hier ist mung des Grundgesetzes ist mir bekannt, Herr soviel gefragt worden, daß ich glaube, daß das Kollege Schneider. Problem geklärt ist. (Abg. Dr. Schneider [Nürnberg]:: Und wel (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Das ist eine che Konsequenzen ziehen Sie daraus?) Frage, Herr Präsident, das hängt zusam Nur ist die Frage der Rechtsstellung der Parlamen- men!) tarischen Staatssekretäre im Grundgesetz bisher Herr Abgeordneter Lenz! nicht geregelt. (Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Schneider Dr. Lenz (Bergstraße) (CDU/CSU) : Herr Bundes- [Nürnberg].) minister, wann endet nach der von Ihnen vertre- — Entschuldigen Sie, es findet also insofern keine tenen Rechtsauffassung dann eigentlich das Amt des Bestimmung des Grundgesetzes auf die Regelung Parlamentarischen Staatssekretärs, wenn die Mit- dieses Sachverhaltes Anwendung. gliedschaft im Parlament für die Parlamentarischen Staatssekretäre nicht erforderlich ist? Ist es mög- (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Genau richtig!) lich, daß das Amt auch noch weitergeht, nachdem die Bundesregierung in Neuwahlen ihre Mehrheit Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage, Herr verloren hat? Abgeordneter Kempfler. Jahn, Bundesminister der Justiz: Herr Kollege Lenz, ich habe mehrfach versucht, hier deutlich Dr. Kempfler (CDU/CSU) : Herr Minister, wäre zu machen, daß es spätestens mit dem Amte des es nicht zweckmäßig, zur Klärung der doch sehr um- Bundesministers, dem der Parlamentarische Staats- strittenen Frage eine völlig neutrale Stelle einzu- sekretär zugeordnet ist, endet. schalten, nämlich den Herrn Präsidenten des Bun- desrechnungshofes, der zugleich Beauftragter für die Wirtschaftlichkeit der Verwaltung ist? Vizepräsident Dr. Schmid: Die Frage ist be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.) antwortet. Weitere Zusatzfragen? — Ich bitte, - meine Herren, sich zu melden und nicht verschämt in der Ecke zu sitzen. Bundesminister der Justiz: Sicher wird es Jahn, (Heiterkeit. — Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : nützlich sein, mancherlei Rat einzuholen, Herr Kol- Das ist doch keine Ecke hier!) lege Kempfler. Die Entscheidung kann der Bundes- regierung aber niemand abnehmen. (Beifall bei Abgeordneten der Regierungs Kunz (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, sind Sie parteien.) nicht der Auffassung, daß sich schon aus der Funk- tion der Parlamentarischen Staatssekretäre, Ver- bindung zu diesem Hause zu halten, die Beendigung Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage,. Herr dieses Amtes aus der Auflösung dieses Hauses Abgeordneter Stark. ergeben muß?

Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU) : Herr Mini- Jahn, Bundesminister der Justiz: Auch hier kann ster, ist es richtig, daß die Eigenschaft „Abgeord- ich mich auf das beziehen, was ich nun bereits neter" konstitutiv für die Ernennung zum Parla- mehrfach hier gesagt habe, Herr Kollege. Die Tätig- mentarischen Staatssekretär ist? keit der Parlamentarischen Staatssekretäre be- schränkt sich keineswegs darauf, Verbindung zu diesem Hause zu halten, sondern erstreckt sich auch Jahn, Bundesminister der Justiz: Das ist eine auf andere Körperschaften, z. B. auch auf den Bun- der vertretenen Auffassungen. desrat, der bekanntlich seine Tätigkeit ausübt. (Abg. Dr. Schneider [Nürnberg]:: Das ist Darüber hinaus haben die meisten Parlamentari doch unbestritten!) schen Staatssekretäre — ich bin jetzt im Moment — Lassen Sie mich meinen Satz doch zu Ende füh- nicht ganz sicher, ob nicht alle — nach der Geschäfts ren, Herr Kollege Schneider. Für die Ernennung ordnung der Bundesregierung zusätzliche Aufgaben zum Parlamentarischen Staatssekretär ist es Voraus- im Bereiche der einzelnen Ministerien erhalten. Und setzung; dieses ist unbestritten. wenn man es überhaupt umschreiben soll, kommt ein dritter Bereich hinzu: ihre Unterstützung bei (Zuruf des Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]. — den, wie Sie selber wissen, vielfältigen Anforde- Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Der Präsident rungen hinsichtlich der Repräsentation. entscheidet doch, nicht Sie!) Dies sind nur drei Aufgabenbereiche, mit denen in etwa umrissen werden kann, in welche verschie- Vizepräsident Dr. Schmid: Ich lasse keine zweite denartigen Richtungen die Tätigkeit der Parlamen- Zusatzfrage mehr zu. tarischen Staatssekretäre geht. Daran wird auch (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Der Herr Schä deutlich, in wie starkem Maße sie der Exekutive, fer muß das bestimmen!) dem Bundesminister, zugeordnet sind. 11730 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Vizepräsident Dr. Schmid: Wir kommen zum Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: und Finanzen. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Kollege Fellermaier, dies ist richtig. Die Bun- der Parlamentarische Staatssekretär Offergeld zur desregierung hat mehrfach betont, daß die Bekämp- Verfügung. fung der Preissteigerung ein internationales Pro- blem ist. Ich rufe die Frage 54 des Herrn Abgeordneten Ott auf: Vizepräsident Dr. Schmid: Die letzte Zusatz- Steht die Bundesregierung noch zu den Erklärungen ihres satzfrage des Herrn Abgeordneten Ott. früheren Bundeswirtschaftsministers, der als Endziel 3 %, 2 % bzw. 1 % Preiserhöhung nannte? Ott (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, sind Sie Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß angesichts beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: früherer Erklärungen der Bundesregierung, des Bun- Herr Kollege Ott, es ist selbstverständliche Pflicht deswirtschaftsministers und des Herrn Bundeskanz- einer jeden Bundesregierung, auf ein stabiles Preis- lers der Eindruck entstehen muß, daß die Bundes- niveau hinzuwirken. Dies muß in der Weise gesche- regierung mit Absicht Parlament und Offentlichkeit hen, daß die Preisraten Schritt für Schritt zurückge- getäuscht hat, weil sie damals behauptet hat, sie , führt werden. Auf welche Rate der Preisanstieg be- könne 4 %, 3 % 2 %, 1 % Preissteigerung herbei- grenzt werden kann, wird nicht zuletzt auch von führen, man sich jedoch jetzt darauf beruft, daß dem Erfolg der von den Mitgliedstaaten der Euro- angeblich internationale Einrichtungen dafür die päischen Gemeinschaft gemeinsam zu ergreifenden Verantwortung trügen? Maßnahmen abhängen. Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage. Herr Kollege Ott, ich bin der Ansicht, daß für einen objektiven Betrachter nicht der Eindruck entstehen Ott (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, sind Sie kann, daß die Bundesregierung die Offentlichkeit zu bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß diese Ihre Ant- täuschen versucht. Äußerungen über Möglichkeiten wort unbefriedigend ist, und zwar deshalb, weil der Reduzierung des Preisanstiegs sind auf eine kon- Ihre Ausrede, daß die Organisationen der Gemein- krete gegebene wirtschaftspolitische Situation abge- schaft einen entscheidenden Einfluß auf die inner- stellt. Es gilt nicht zu jeder Zeit das gleiche. Dar- deutsche Preisbildung ausüben, dadurch widerlegt über hinaus sind das Äußerungen, die weit zurück- wird, liegen; das wissen auch Sie. (Zurufe von der SPD: Fragen!) daß sowohl die Bundesbank als auch der Herr Bun- Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage desbankpräsident wiederholt erklärt haben, daß ein des Herrn Abgeordneten Stark. Teil der Inflation hausgemacht sei? Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU) : Herr Staats- sekretär, können Sie mir bestätigen, daß wir in- Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär zwischen unter den Industriestaaten, was die Preis- beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: steigerungsrate betrifft, von der neunzehnten auf Nein, Herr Kollege, ich bin nicht bereit, dies zur die dritte Stelle vorgerückt sind? Kenntnis zu nehmen. Im übrigen sind die von Ihnen hier angesprochenen Fragen viel zu komplex, als daß ich das in drei Sätzen beantworten könnte. Wir Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: haben hier in diesem Hause schon mehrfach über diese Fragen diskutiert. Nein, das kann ich Ihnen nicht bestätigen.

(Beifall bei der SPD.) Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU) : Herr Staats- sekretär, können Sie mir dann die Länder in der Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage EWG nennen, — — des Herrn Abgeordneten Fellermaier. Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeordne- ter, Sie haben nur eine Frage. Fellermaier (SPD) : Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß in Ländern in Europa, die von Ich rufe die Frage 55 des Herrn Abgeordneten konservativen und christ-demokratischen Parteien Lemmrich auf: geführt werden, die Preissteigerungsraten weit über In welchem Zeitablauf gedenkt die Bundesregierung der Deut- der Rate in der Bundesrepublik Deutschland liegen? schen Bundesbahn den Fehlbetrag abzunehmen, den der Bund der Deutschen Bundesbahn bisher nicht bezahlt hat und den die Würden Sie daraus die Auffassung mitteilen, daß Deutsche Bundesbahn zur Zeit selbst finanzieren muß und der bis zum 31. Dezember 1971 2,2 Milliarden DM und Jahresende 1972 die Preissteigerungen nicht nur ein europäisches, 3 Milliarden DM beträgt? sondern ein Weltphänomen sind, und daß deshalb der EWG-Ministerrat aufgerufen ist, hier etwas zu Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär tun und auch bereit ist, etwas zu tun? beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: (Zuruf von der CDU/CSU: Die alte Platte!) Herr Kollege Lemmrich, was Ihre erste Frage anbe- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22, September 1972 11731 Parlamentarischer Staatssekretär Offergeld trifft, möchte ich auf die Antwort verweisen, die Bundesbahn vorfinanziert, weil der Bund seinen mein Kollege Hermsdorf dem Abgeordneten Dr. Verpflichtungen gegenüber der Bahn nicht nach- Jobst in der letzten Fragestunde vor den Sommer- kommt, in Ihren mittelfristigen Finanzplanungen ferien auf eine inhaltlich gleiche Frage gegeben hat. abzudecken gedenken? Herr Kollege Hermsdorf hat damals gesagt, daß der Deutschen Bundesbahn in diesem Jahr rund Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär 6 Milliarden an vermögens- und erfolgswirksamen beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Leistungen gewährt werden, daß höhere Zuweisun- Herr Kollege Lemmrich, jetzt ist das eine Frage ge- gen an die Bundesbahn wegen der angespannten worden. Haushaltslage des Bundes zur Zeit nicht möglich Das kann ich Ihnen aber in Einzelheiten noch sind, daß die Bundesregierung der wi rtschaftlichen nicht sagen. Ich kann Ihnen dazu nur mitteilen, daß Entwicklung der Bundesbahn bei der Fortschreibung in der mittelfristigen Finanzplanung erhebliche des mehrjährigen Finanzplans jedoch besondere Auf- Mehrbeträge für die Bundesbahn eingestellt sind. merksamkeit widmen wird. Herr Kollege Hermsdorf hatte darauf hingewiesen, daß sichergestellt sei, daß Vizepräsident Dr. Schmid: Letzte Zusatzfrage. die Kapitalrechnung der Bundesbahn ausgeglichen und damit die Liquidität des Unternehmens erhalten bleibt. Daran hat sich seither nichts geändert. Lemmrich (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wie gedenken Sie die 3 Milliarden DM abzudecken, nachdem die Finanzbedürfnisse, die die Deutsche Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage. Bundesbahn für den Haushalt 1973 angemeldet hat, im Einzelplan 12 und im Einzelplan 32 bereits 9 Mil- Lemmrich (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ist liarden ausmachen? Ihnen nicht deutlich geworden, daß Sie meine Frage damit nicht beantwortet haben? Ich möchte nämlich wissen, wie Sie die 3 Milliarden DM, die die Bun- Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär desbahn vorfinanziert, in nächster Zeit abdecken beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: wollen; denn das ist ein ganz brisantes Problem. Herr Kollege Lemmrich, ich kann Ihnen sagen, daß wir in der mittelfristigen Finanzplanung gegenüber dem jetzt geltenden Finanzplan die Zuweisungen Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär um jährlich mehr als 2 Milliarden DM erhöhen wer- beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: den. Im Rahmen dieser Zuweisung wird die Ab- Das betrifft wohl die zweite Frage. deckung möglich sein.

Lemmrich (CDU/CSU) : Nein, das ist noch die erste Frage. Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage.

Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Jobst (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wie beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: vereinbart sich Ihre heutige Erklärung, daß der Bun- Das ist doch beantwortet. Ihre erste Frage habe desbahn im Rahmen der mittelfristigen Finanzpla- ich beantwortet. nung künftig höhere Zuweisungen zugeteilt werden sollen, mit den Zahlen in der mittelfristigen Finanz- Lemmrich (CDU/CSU) : Sie haben meine Frage planung, wonach die Zuweisungen an die Bundes- nicht beantwortet. Ich möchte wissen, in welchem bahn bis 1975 degressiv und nicht steigend sind? Zeitablauf die 3 Milliarden DM bezahlt werden. Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Herr Kollege, ich darf Sie darauf hinweisen, daß die Herr Kollege Lemmrich, es ist vielleicht Ihre Mei- Regierung neue Beschlüsse für den Rahmen des Bun- nung, daß Ihre Frage nicht beantwortet sei. Aber deshaushalts 1973 und für den Finanzplan gefaßt Ihr Beitrag ist keine Zusatzfrage. hat. Im Rahmen dieser Beschlüsse ist von den Zah- len, die ich eben genannt habe, ausgegangen, d. h. Lemmrich (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, von einer Erhöhung der Zuweisungen um jährlich wenn Sie keine Antwort geben, dann muß ich Ihnen mehr als 2 Milliarden DM. dieselbe Frage eben noch einmal stellen. (Zurufe von der SPD.) Vizepräsident Dr. Schmid: Ich rufe die Frage 56 des Abgeordneten Lemmrich auf: Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär Wie hoch belaufen sich die Zinskosten im Jahr 1972, die die Deutsche Bundesbahn für die ihr nicht erstatteten Fehlbeträge beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: bezahlen muß? Fragen Sie doch noch einmal. (Heiterkeit.) Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Lemmrich (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ich Auf Ihre zweite Frage, Herr Kollege Lemmrich, teile habe Sie gefragt: In welchem Zeitablauf und in ich Ihnen mit, daß die Zinsbelastung aus der Finan- welchen Beträgen Sie die 3 Milliarden DM, die die zierung der Fehlbeträge der Bundesbahn im lau- 11732 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Parlamentarischer Staatssekretär Offergeld fenden Wirtschaftsjahr hei etwa 230 Millionen DM Die Fragen 58 und 59 des Abgeordneten Neemann liegen wird. werden schriftlich beantwortet. Die Antworten wer- den als Anlagen abgedruckt.

Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. Wir kommen dann zu den Fragen aus dem Ge- schäftsbereich des Auswärtigen Amts. Ich rufe die Lemmrich (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ist Frage 7 des Abgeordneten Dr. Czaja auf: Ihnen bekannt, daß die Deutsche Bundesbahn kei- Ist die dpa-Meldung vom 28. August 1972 zutreffend, wonach der Bundesaußenminister sich bei „seinem polnischen Kollegen" nen Antrag hätte stellen müssen, die Personen- für die Ausreise „polnischer Staatsangehöriger deutscher Ab- stammung" verwenden wolle, und worauf gründet sich ge- tarife zu erhöhen — was ungefähr 218 Millionen DM gebenenfalls der in dem Wortlaut der dpa-Meldung zum Aus- ausmacht —, wenn der Bund gegenüber der Bahn druck kommende Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit für seinen finanziellen Verpflichtungen nachgekommen eine große Zahl von Deutschen? wäre? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordne- Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär ter, diese dpa-Meldung beruht auf dem Interview, beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: das der Herr Bundesminister des Auswärtigen am Sie wissen, daß sich der Bund in einer angespann- 27. August 1972 dem Hessischen Rundfunk im Rah- ten Haushaltslage befindet und daß es darum nicht men der Sendereihe „Frankfurter Gespräch" gege- möglich ist, allen Wünschen nachzukommen. ben hat. Der vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung veröffentlichte Interviewtext liegt Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. mir vor. Hiernach hautete die Frage — ich zitiere sie —: Herr Minister, haben Sie die Hoffnung, daß es Lemmrich (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ist mit der Umsiedlung von polnischen Staatsange- Ihnen bekannt, daß noch keine Bundesregierung hörigen deutscher Abstammung in nächster Zeit vorher die Bundesbahn hinsichtlich der Abdeckung wieder besser wird? ihrer Verluste in einem so unzureichenden Maße bedient hat, wie das Ihre Regierung tut? Der Bundesaußenminister hat sich in seiner Ant- - wort zur Staatsangehörigkeit der Umsiedler über- haupt nicht geäußert, und er hat auch nicht die vom Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär Fragesteller verwendete Formulierung gebraucht. beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: In der Sache selbst hat die Bundesregierung stets, Herr Kollege Lemmrich, ich kann die Ihrer Frage auch vor diesem Hause, die Auffassung vertreten, zugrunde liegende Feststellung nicht akzeptieren. daß durch den Abschluß des deutsch-polnischen Ver- (Abg. Lemmrich: Dann empfehle ich Ihnen, trages keiner Person Rechte verlorengehen, die ihr einmal die Zahlen nachzulesen!) nach den in der Bundesrepublik Deutschland gelten- den Gesetzen zustehen. Dies gilt selbstverständlich — Ich nehme diese Empfehlung dankend entgegen. auch hinsichtlich der Staatsangehörigkeit. Ich möchte (Heiterkeit bei der SPD.) in diesem Zusammenhang auf meine Erklärung in der Bundestagssitzung vom 23. Juni 1972 — Steno- graphischer Bericht, Seite 11557 — hinweisen; da- Ich rufe die Frage Vizepräsident Dr. Schmid: mals habe ich erklärt, daß die Bundesregierung nicht 57 des Abgeordneten Dr. Dübber auf: beabsichtige, die Vorschriften des deutschen Staats- Hält die Bundesregierung die fortdauernde Belegung betrieb angehörigkeitsrechts im Zusammenhang mit dem ticher Hinterbliebenenrenten mit Erbschaftsteuer noch für zeit- gemäß und sozial gerecht, oder warum hat sie dieses Problem Inkrafttreten des Warschauer Vertrages zu ändern. nicht in ihrem Sozialbericht 1972 erwähnt? Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. Offergeld, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Dr. Czaja (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, war- Herr Kollege Dr. Dübber, wie mein Kollege Herms- um hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen, dorf in der Antwort auf die Mündliche Anfrage des wenn dies so klar war, auf die ebenso klare Frage Kollegen Luda am 3. März dieses Jahres erklärt hat, in dem Interview nicht sofort eine Klarstellung vor- hält die Bundesregierung den gegenwärtigen Rechts- genommen, in einer Angelegenheit, die Zehntau- zustand, nach dem vertragliche Hinterbliebenenbe- sende, ja Hunderttausende von Menschen angeht züge, also auch betriebliche Hinterbliebenenrenten und die sehr diffizil und umstritten ist? Warum ist erbschaftsteuerpflichtig sind, Versorgungsbezüge auf er dann direkt auf die Frage eingegangen und hat Grund eigenen Rechtsanspruchs der Erbschaftsteuer dagegen nicht unterliegen, für unbefriedigend. geantwortet: Ich habe den Wunsch, daß es besser wird? Herr Präsident, der Herr Abgeordnete Dr. Dübber ist wohl nicht im Saal. Kann die Frage dann schrift- Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim lich beantwortet werden? Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeord- neter, ich glaube, daß der Bundesminister keinen Vizepräsident Dr. Schmid: Ja, dann wird die Anlaß hatte, diese in Frageform gekleidete An- Frage schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als sicht des Interviewers in diesem Gremium sozusa- Anlage abgedruckt. gen noch einmal zu interpretieren. Es handelte sich Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11733

Parlamentarischer Staatssekretär Moersch um ein Diskussionsgespräch. Ich glaube, daß die ab- sungen anderer dem entgegenstehen. Das ist die solut klaren Feststellungen, die hier im Deutschen eigentlich politische Aufgabe, die nur dann gelöst Bundestag getroffen worden sind — ich habe eben werden kann, wenn man zu normalen und am Ende einiges daraus zitiert; ich könnte noch mehr dar- zu freundschaftlichen Beziehungen kommt und die aus zitieren — und die auch Ihnen bekannt sind, den Gegensätze abbaut. Ich glaube, daß diese Aufgabe dokumentarischen Beleg für die Rechtsauffassung von dieser Bundesregierung durch den deutsch- der Bundesregierung darstellen. Mir war bisher nicht polnischen Vertrag erfolgreich angepackt worden ist. bekannt, daß Diskussionen mit Journalisten die (Beifall bei den Regierungsparteien.) Bundesregierung verpflichten, die Journalisten stets dokumentarisch zu unterlaufen. Wenn das so wäre, wäre keine Diskussion im Rundfunk mehr möglich. Vizepräsident Dr. Schmid: Die Frage 8 wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird in der An- lage abgedruckt. Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. Frage 9 des Abgeordneten Dr. Hupka: Dr. Czaja (CDU/CSU) : Es ist aber so, daß diese Warum hat die Bundesregierung den Deutschen Bundestag und die deutsche Offentlichkeit nicht darüber informiert, daß in einer Fragen und Antworten im Pressespiegel des Bundes- sogenannten vertraulichen Erläuterung zur „Information der Volksrepublik Polen" sowohl der zeitliche Ablauf der Aus- presse- und Informationsamtes, also in einem amt- siedlung beschränkt als auch der Personenkreis ganz eng be- lichen Dokument veröffentlicht worden sind. Kann grenzt worden ist, offenbar unter Ausschluß der Deutschen „auf Grund ihrer unbestreitbaren deutschen Volkszugehörigkeit", wie ich dovon ausgehen, daß die Bundesrepublik es noch in der „Information" steht? Deutschland gemäß dem Grundgesetz deutschen Staatsangehörigen nicht generell, von vornherein Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim und ohne Verlust der deutschen Staatsangehörig- Bundesminister des Auswärtigen: Die Bundesre- keit den Schutz für ihre Grund- und Menschenrechte gierung hat den Bundestag und die Öffentlichkeit versagen oder entziehen wird? Gilt dies für Deutsch- nicht in dem von Ihnen, Herr Abgeordneter, darge- land und im internationalen Bereich? legten Sinne unterrichtet, weil eine solche Interpre- tation der vertraulichen Erläuterungen unzutreffend Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim wäre. Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordne-- Die vertraulichen Erläuterungen, die im Zusam- ter, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich menhang mit der veröffentlichten „Information der die Rechtsauffassung der Bundesregierung, die die- Regierung der Volksrepublik Polen" gelesen werden sem Hohen Hause verbindlich vorgetragen worden müssen, bedeuten keine Einschränkung der veröf- ist, in nichts geändert hat. Ich habe den hier abge- fentlichten „Information" und der in ihr genannten gebenen Erklärungen auch im Zusammenhang mit Kriterien. Dies ergibt sich bereits aus dem einleiten- unserer Verfassung nichts hinzuzufügen. den Absatz der vertraulichen Erläuterungen, der Ich möchte aber noch einen Hinweis geben, der generell auf Personen abstellt, die wegen ihres Zu- vielleicht künftig solche Fragen etwas leichter klä- gehörigkeitsgefühls zu Deutschland aus Polen aus- ren läßt. Das Bundespresse- und Informationsamt zureisen wünschen. identifiziert sich nicht mit dem Inhalt dessen, was Die vertraulichen Erläuterungen präzisieren im als Rundfunk- und Nachrichtenspiegel veröffentlicht übrigen einzelne Punkte der veröffentlichten „Infor- wird. Das geht schon daraus hervor, daß ja auch mation". Dabei geht es insbesondere um die Klar- ausländische Zeitungen, und zwar aller Couleur, stellung, daß für die Familienzusammenführung die vom Presse- und Informationsamt Ihnen zur Kennt- gleichen Kriterien zugrunde gelegt werden sollen, nis gebracht werden, ohne daß das deswegen Äuße- die in den internationalen Rot-Kreuz-Vereinbarun- rungen der Bundesregierung würden, was eigentlich gen enthalten sind, d. h. nicht etwa nur die Zusam- in der ganzen Welt selbstverständlich ist. menführung von Eltern und Kindern. (Abg. Dr. Czaja: Es war ein Interview des Die polnische Regierung erläutert ferner unter Ministers!) Bezugnahme auf ihre auch in der veröffentlichten „Information" genannten bisherigen Berechnungen Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage, Herr ihre zeitlichen Vorstellungen zum Ablauf der „Ak- Dr. Hupka. tion". Gleichzeitig wird jedoch ausdrücklich klarge- stellt, daß keine zeitliche Begrenzung für die Aus- Dr. Hupka (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, reise von Personen vorgesehen ist, die die Ausreise wenn ich Sie recht verstanden habe, haben Sie wünschen und die die in der „Information" angege- soeben gesagt, daß die Rechte der Deutschen — und benen Kriterien erfüllen. darauf lege die Bundesregierung Wert — nicht ver- Zusammenfassend darf ich daher noch einmal lorengehen. Meine Frage: Wie gedenkt die Bun- feststellen, Herr Abgeordneter, daß die vertraulichen desregierung, diese Rechte der Deutschen zu wah Erläuterungen die „Information der Regierung der ren? Volksrepublik Polen" in einzelnen Punkten ergän- zen und präzisieren. Sie beinhalten jedoch keine Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Änderung oder Einengung der Aussagen, die in der Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordne- veröffentlichten „Information" enthalten sind. ter Hupka, genauso, wie sie es bisher versucht hat: mit zähen Gesprächen, wenn nämlich Rechtsauffas- Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. 11734 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Dr. Hupka (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wie Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim erklären Sie es sich, daß in diesen vertraulichen Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordne- Erläuterungen, die wir ja erst einige Monate nach ter, der Zusammenhang mit dem deutsch-polnischen der „Information" durch Zufall erhalten haben, kein Vertrag ist unverkennbar. Daß es sich nicht um eine Wort über die Deutschen enthalten ist, die auf vertragliche Vereinbarung über die Umsiedlung Grund unbestreitbar deutscher Volkszugehörigkeit handelt, ist ebenfalls bekannt. Das hat politische den Antrag auf Aussiedlung stellen können? Gründe, die wir nicht ändern konnten.

Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Dr. Czaja! Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordne- ter, ich muß mit Entschiedenheit zurückweisen, daß Dr. Czaja (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, be- Sie dies durch Zufall erfahren hätten. Ich habe im steht in der grundgesetzlich verankerten Schutz- Protokoll des Auswärtigen Ausschusses nachge- pflicht für deutsche Staatsangehörige ein Unterschied sehen und festgestellt, daß Sie sich zweimal einge- zwischen denen, die unter das Rot-Kreuz-Abkom- tragen hatten, als diese vertraulichen Erläuterungen men fallen, und denen, die nicht darunter fallen? vorgetragen worden sind, und zwar war das am 3. und 10. Dezember des Jahres 1970. Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim (Hört! Hört! bei der SPD. — Abg. Dr. Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeord- Czaja: Niemals ist das im Ausschuß gesagt neter, es ist überhaupt keine Frage, daß das Grund- worden!) gesetz uns in jeder Form bindet. Es ist lediglich die Frage, wie wir unsere Auffassungen im zwischen- Vizepräsident Dr. Schmid: Zweite Zusatz- staatlichen Verkehr politisch realisieren können, frage. und diese Frage steht im Vordergrund. Die Stand- punkte sind, wie Sie wissen, verschieden, und das Dr. Hupka (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ich hat ja 20 Jahre lang zu solchen Verhärtungen ge- muß Ihnen leider widersprechen. Diese Erläuterun- führt. gen sind nie im ganzen Wortlaut vorgetragen wor- (Beifall bei der SPD.) den. Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Doch, das ist in- Dr. Jahn (Braunschweig) (CDU/CSU) : Herr haltlich geschehen. Staatssekretär, sind Sie nicht der Meinung, daß zur Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen Dr. Hupka (CDU/CSU) : Es steht Aussage gegen in erster Linie die vertragliche Regelung der men- Aussage. schenrechtlichen Beziehungen der Deutschen ge- (Zurufe von der SPD: Frage!) hörte, bevor die Beziehungen diplomatisch normali- Inwieweit ist diese Erläuterung dahin gehend zu siert wurden? interpretieren, daß hier tatsächlich von einer zeit- lichen Begrenzung die Rede ist? Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeord- neter, hier steht Meinung gegen Meinung. Ich kann Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim mich nur an die Realitäten halten. Wenn wir der- Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordne- artige Regelungen für deutsche Staatsangehörige ter, ich muß hier feststellen, daß wir ja im Gespräch hätten treffen wollen, hätten wir einen Friedensver- mit der polnischen Seite einige Fragen in unserem trag abschließen müssen. Wenn ich Sie recht ver- Sinne weiter klären wollen, und ich glaube nicht, stehe, wären Sie nicht bereit gewesen, in dieser daß es diesen bereits jetzt in Warschau laufenden Form einem Friedensvertrag zuzustimmen. Gesprächen besonders dienlich wäre und im Inter- esse der Betroffenen läge, wenn ich hier auf wei- tere Einzelheiten eingehen müßte. Vizepräsident Dr. Schmid: Ich rufe die Frage 10 des Herrn Abgeordneten Dr. Hupka auf: (Beifall bei den Regierungsparteien.) In welcher Weise kann die Bundesregierung nach den Ge- sprächen mit dem polnischen Außenminister in Bonn dafür Sorge tragen, daß die Anträge von Aussiedlern nicht unter fadenschei- Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage, Herr nigen Vorwänden abgelehnt und daß die Ablehnungsgründe auch den Vertretern der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere Abgeordneter Dr. Arndt. dem Deutschen Roten Kreuz bekanntgegeben werden, damit ent- sprechend dem Text und Inhalt der „Information" dagegen Ein- spruch erhoben werden kann? Dr. Arndt (Hamburg) (SPD) : Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Erteilung der „In- Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim formation" und damit die Ausreise von Zehntau- Bundesminister des Auswärtigen: Neben den Ge- senden von Deutschen aus Polen überhaupt erst sprächen zwischen den Rot-Kreuz-Gesellschaften, die dadurch möglich wurde, daß die Bundesregierung in diesen Tagen in Warschau geführt werden — sie den deutsch-polnischen Vertrag abgeschlossen hat, beginnen heute —, sind anläßlich des Besuchs des den der Herr Fragesteller abgelehnt hat? polnischen Außenministers Regierungsgespräche (Beifall bei den Regierungsparteien.) über Fragen der Umsiedlung in Aussicht genommen Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11735 Parlamentarischer Staatssekretär Moersch worden. Dabei sollen die Fragen erörtert werden, Ich darf hinzufügen, meine Damen und Herren, daß Herr Abgeordneter, die im Hinblick auf die Infor- die ursprünglichen Optionen, wie immer sie zu- mation der Regierung der Volksrepublik Polen bis- standegekommen sind, natürlich ebenfalls vorhan- her offengeblieben sind. den sind.

Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Dr. Czaja!

Dr. Hupka (CDU/CSU: Herr Staatssekretär, hat Dr. Czaja (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, wird seit der Sommerpause und der letzten Frage in im Sinne der eben von Ihnen bestätigten Schutz- dieser Richtung die Bundesregierung irgendwelche pflicht und der „Information" die Auslandsver- Schritte unternommen, damit endlich die Schikanen tretung der Bundesrepublik Deutschland als Paß- gegenüber den Aussiedlern abgebaut werden und behörde im Sinne des § 10 Abs. 2 des Paßgesetzes die Aussiedlung in ihrer ganzen Prozedur voran- gegenüber deutschen Staatsangehörigen tätig wer- kommt? den? § 10 Abs. 2 besagt, daß die Paßbehörden im Ausland die vom Auswärtigen Amt ermächtigten Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Auslandsvertretungen sind. Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeord- neter, die Bundesregierung war in regelmäßigem Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Kontakt mit der polnischen Seite und hat — das Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeord- wissen Sie aus den Ausschußberatungen — nach- neter, es wird hier wie überall nach völkerrecht- drücklich auf diese Zusammenhänge hingewiesen, licher Praxis verfahren. Ich verweise auf das Kom- und sie hat bei der Vorbereitung des Besuchs des muniqué über die deutsch-polnischen Gespräche polnischen Außenministers — das beantwortet Ihre und im übrigen auf die Praxis mit den Staaten, mit Frage umfassend — großen Wert darauf gelegt, daß denen wir diplomatische Beziehungen haben. diese Frage zu einem ausführlichen Erörterungs- gegenstand wurde. Sie hat ja auch erreicht, daß dar- Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zusatzfrage, über weiter verhandelt wird. Herr von Fircks.

Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. Freiherr von Fircks (CDU/CSU) : Herr Staats- sekretär, hat die Bundesregierung bei ihren Ver- Dr. Hupka (CDU/CSU) : Sind Sie mit mir der handlungen mit Polen zu erreichen versucht, daß Meinung, daß ein besonderes Gravamen bei der Vertreter der bisherigen Handelsmission — der Aussiedlung darin besteht, daß die Aussiedlungs- jetzigen Botschaft — die Möglichkeit haben, an Ort willigen, deren Anträge abgelehnt werden, nie die und Stelle die Ausreisewilligen zu beraten und wahren Gründe der Ablehnung erfahren und da- ihnen Hilfestellung zu geben, wie das ja in vielen durch immer wieder gezwungen werden, gleich- anderen Fällen möglich ist? gültig, ob sie überhaupt angenommen werden oder nicht, neue Anträge zu stellen? Das ist auch eine Art Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim neuer Unmenschlichkeit. Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordne- ter, die Praxis unserer Betätigung ist in den Aus- schüssen des Deutschen Bundestages ausführlich Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim dargelegt worden. Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordne- ter, es gibt eine ganze Reihe von schwierigen Fra- (Sehr gut! bei der SPD.) gen, die wir zur Zeit erörtern und erörtert haben, deren Erörterung aber vertraulich ist. Jedes ein- Vizepräsident Dr. Schmid: Geschäftsbereich zelne Problem, das Sie hier eben genannt haben, des Bundesminister des Innern. ist von uns beachtet worden. Die Fragen 11 und 12 des Abgeordneten Redde- mann werden auf Wunsch des Fragestellers schrift- Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. lich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Dr. Giulini (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß die Polen als Mitglied Frage 13 des Herrn Abgeordneten Kunz: der UNO eigentlich verpflichtet wären, Minder- Sieht die Bundesregierung in der Reise einer Professoren-Kom- mission der Freien Universität Berlin aus öffentlichen Mitteln heiten auswandern zu lassen? nach Brüssel eine Umgehung des vom Bundesminister des Innern gegen Ernest Mandel verhängten Einreiseverbots?

Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- Bundesminister des Auswärtigen: Herr Abgeordne- geordneter, Ziel der gegen den belgischen Staats- ter, die Frage der UNO-Charta ist sicher eine um- angehörigen Mandel verhängten Maßnahmen war fassende Frage. Die UNO-Charta verpflichtet jedes es, ihn daran zu hindern, in der Bundesrepublik Mitglied. Die strittige Frage aber ist, wer von wem Deutschland im Sinne seiner revolutionären Ziele als Minderheit angesehen wird. tätig zu sein und dadurch die freiheitlich-demokra- (Zurufe von der CDU/CSU.) tische Grundordnung zu gefährden. Die Reise der 11736 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Bundesminister Genscher Professoren-Kommission der Freien Universität Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. Berlin nach Brüssel konnte diese Zielsetzung nicht beeinträchtigen. Die Bundesregierung sieht daher in Kunz (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, würden dieser Reise keine Umgehung ihrer Maßnahmen. Sie nicht doch der Auffassung sein, daß der Freien (Sehr gut! bei der SPD.) Universität Berlin mitgeteilt werden sollte, um wen es sich bei Ernest Mandel handelt, nämlich um den Cheftheoretiker der trotzkistisch-kommunistischen Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. IV. Internationale? Kunz (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, sind Sie Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- nicht doch der Auffassung, daß durch diese Reise geordneter, ich gehe davon aus, daß der Freien einer Professoren-Kommission der Freien Universi- Universität alle Eigenschaften des Herrn Mandel tät die Unterstützung für jemanden demonstriert bekannt sind, das um so mehr, als diese Angelegen- werden sollte, der nicht die Anforderungen, die das heit schon häufig Gegenstand der Erörterungen im Grundgesetz an uns alle stellt, erfüllt? Deutschen Bundestag war. Sie wissen, daß die Freie Universität offenbar eine bestimmte Affinität zu Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- Mandel hat, die sich daraus ergibt, daß wir den in geordneter, es ist nicht meine Aufgabe, das Verhal- der deutschen Hochschulgeschichte, glaube ich, selte- ten dieser Professoren-Kommission zu bewerten. nen Fall erlebt haben, daß jemand bei einer Uni- Aber ich glaube, daß man bei der Durchführung versität gleichzeitig ein Promotionsverfahren und eines Promotionsverfahrens nicht sagen kann, daß ein Verfahren zur Berufung als ordentlicher Profes- sich diejenigen, die einen Bewerber promovieren, sor hatte. in jedem Fall mit seinen politischen Auffassungen identifizieren. Ich möchte das den Mitgliedern dieser (Heiterkeit bei den Regierungsparteien. — Kommission jedenfalls nicht unterstellen. Abg. Wohlrabe: Das ist SPD- und FDP- Politik! Das ist die Kulturpolitik Ihrer Parteifreunde!) Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. Kunz (CDU/CSU) : Herr Bundesminister,- würden Sie es für zulässig halten, daß alle Körperschaften des öffentlichen Rechts gegebenenfalls eine Mei- Dr. Stark (Nürtingen) (CDU/CSU) : Herr Bundes- nung dokumentieren, die in krassem Gegensatz zu minister, wenn man Ihnen in dieser Beurteilung zu- einer Meinung steht, die von Ihnen in der Frage des stimmt, wie beurteilen Sie dann die Tatsache, daß Bekenntnisses zur demokratischen Grundordnung der Kultusminister von Niedersachsen, von Oertzen, eingenommen wird? Ihr Einreiseverbot für Herrn Mandel als „Schwei- nerei" bezeichnet hat? Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Hat das mit geordneter, erstens halte ich es für das legitime dieser Frage etwas zu tun? — Weitere Zu Recht jedes Bürgers dieses Staates und jeder Insti- rufe von der SPD.) tution, eine andere Meinung als der Bundesinnen- minister zu haben. Vizepräsident Dr. Schmid: Ich lasse diese (Beifall bei den Regierungsparteien.) Frage nicht zu. Daß es mir natürlich lieber wäre, sie wären alle meiner Meinung, ist auch verständlich. Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Prä- sident, darf ich die Frage beantworten oder nicht? (Heiterkeit.) Zweitens, Herr Abgeordneter, möchte ich erklä- Vizepräsident Dr. Schmid: Sie können. ren, daß ich kein Verständnis dafür hätte, wenn irgendeine öffentliche Institution dieses Staates daran mitwirkte, die Einreisesperre der Bundes- Genscher, Bundesminister des Innern: Ich möchte gern hier wiederholen, was ich bei anderer regierung zu umgehen. Daß das hier nicht der Fall Gelegenheit gesagt habe: Ich halte diese Auffassung war, habe ich in meiner ersten Antwort dargelegt. des Kultusministers von Niedersachsen für abwegig und teile sie nicht. Vizepräsident Dr. Schmid: Frage 14 des Herrn Abgeordneten Kunz: (Beifall bei der CDU/CSU.) Was wird die Bundesregierung tun, um sicherzustellen, daß die Freie Universität Berlin, die vom Bund in großzügigster Weise Frage 15 des Herrn gefördert wird, das gegen Ernest Mandel vom Bundesminister Vizepräsident Dr. Schmid: des Innern verhängte Einreiseverbot nicht erneut umgeht, bei- Abgeordneten Hansen: spielsweise zur Durchführung eines Habilitationsverfahrens zu- gunsten von Mandel? Treffen die von der DKP gegenüber einigen Unternehmen öffentlich erhobenen schweren Vorwürfe über gesetzwidriges und gemeingefährliches wildes Ablagern von giftigen Abfallstoffen Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- zu? geordneter, ich darf zur Beantwortung Ihrer Frage auf meine Antwort zu der vorhergehenden Frage Genscher, Bundesminister des Innern: Die Län- verweisen. der haben in den von der DKP angegebenen Fällen Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11737 Bundesminister Genscher unsachgemäßer Ablagerung giftiger Härtesalzrück- Zu cien Zielen der Bundesregierung gehört auch stände sorgfältige Untersuchungen eingeleitet. die Schaffung von Strafvorschriften, mit denen um- Schon nach ersten Überprüfungen teilten sie mit, weltschädigende und umweltgefährdende Handlun- daß eine Reihe von Angaben unzutreffend sind. gen strafrechtlich angemessen geahndet werden Andere von der DKP genannte Ablagerungen sind können. Ob für besonders gravierende, insbeson- den Behörden bereits bekannt.. Noch unbekannte dere gemeingefährliche Handlungen auch Strafvor- Ablagerungen wurden dabei nicht festgestellt. Soll- schriften im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches ten bei den Untersuchungen an Ort und Stelle wei- vorzusehen sind, wird im Bundesministerium der tere Ablagerungen giftiger Abfälle entdeckt wer- Justiz geprüft. Die Problematik bei der Formulie- den, ist Vorsorge getroffen, daß die für die un- rung solcher Strafvorschriften liegt darin, sie ohne schädliche Beseitigung erforderlichen Maßnahmen Bezugnahme auf Regelungen in speziellen Geset- unverzüglich eingeleitet werden können. zen zum Schutz der Umwelt so zu präzisieren, daß sie den Erfordernissen der Bestimmtheit von Straf- Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. vorschriften Art. 103 Abs. 2 GG entsprechen. Ich möchte ganz allgemein hinzufügen, Herr Ab- Hansen (SPD) : Herr Minister, darf ich Sie fragen, geordneter, daß die Bundesregierung in allen von ob auch die Vorwürfe nicht zutreffen, daß seit 1970 ihr vorgelegten Umweltschutzgesetzen erhöhte in der Bundesrepublik Deutschland keine Einrich- Strafdrohungen, zum Teil bis zu 10 Jahren Freiheits- tungen zur Entgiftung solcher Härtesalze mehr be- strafe, vorgesehen hat, weil sie damit deutlich stehen? machen will, daß sie Verstöße gegen Umweltschutz- vorschriften nicht als Kavaliersdelikte, sondern als schweres kriminelles Unrecht betrachtet. Genscher, Bundesminister des Innern: Das ist unzutreffend, Herr Abgeordneter. (Zustimmung bei der SPD.)

Vizepräsident Dr. Schmid: Frage 16 des Herrn Vizepräsident Dr. Schmid: Zusatzfrage. Abgeordneten Hansen: Hält die Bundesregierung es für angezeigt, zur schnelleren und Hansen (SPD) : Herr Minister, da in bezug auf wirkungsvolleren Strafverfolgung derart skrupelloser Gesetzes- brecher spezialisierte Umweltschutz-Staatsanwaltschaften einzu- Umweltschutzdelikte der Vorbeugung eine ganz richten und über die Strafbestimmungen des Abfallbeseitigungs- besondere Rolle zuzumessen ist, darf ich Sie fragen, gesetzes hinaus besondere Strafvorschriften zum Schutz der Umwelt in den Abschnitt „Gemeingefährliche Verbrechen und welche Maßnahmen zur vorbeugenden Kontrolle Vergehen" des Strafgesetzbuches aufzunehmen? und Überwachung die Bundesregierung einzuleiten Bitte, Herr Minister! bzw. den Ländern vorzuschlagen gedenkt.

Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- geordneter, die Bundesregierung hat schon bei der geordneter, Sie werden zum Beispiel gehört haben, Beantwortung der Frage des Herrn Abgeordneten daß die nordrhein-westfälische Polizei durch Be- Wolfram am 10. November 1971 erklärt, daß sie der reitstellung besonderer Hubschrauber dafür Sorge Einrichtung von Sonderdezernaten der Staatsan- trägt, daß durch eine frühzeitige Überwachung das waltschaften zur Verfolgung von Delikten gegen Ablassen von 01 in den Rhein verhindert wird. Es den Umweltschutz besondere Bedeutung beimißt. gibt eine ganze Fülle von derartigen Maßnahmen, Die Organisation der Staatsanwaltschaften, insbe- und die Bundesregierung begrüßt und unterstützt sondere die Bildung von Sonderdezernaten für be- alle Bemühungen der Länder, die in diese Richtung stimmte Deliktsbereiche, ist allerdings Sache der gehen, weil gerade in diesem Bereich, wie Sie mit Länder. Der Bundesminister der Justiz hat jedoch Recht betont haben, der vorbeugende Schutz von auf die Frage der Einrichtung von Sonderdezer- entscheidender Bedeutung ist, fast bedeutungsvoller naten der Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von als die nachfolgende Bestrafung. Umweltschutzdelikten schon bei der Sonderkonfe- renz der Justizminister und -senatoren am 14. und Vizepräsident 'Dr. .Schmid: Meine Damen und 15. Juni 1971 in Hamburg hingewiesen und damit Herren, die für die Fragestunde vorgesehene Zeit ist die Bedeutung dieser Angelegenheit unterstrichen. abgelaufen. Die nicht beantworteten Fragen werden Alle Länder haben inzwischen Maßnahmen zur schriftlich beantwortet und als Anlagen abgedruckt. verstärkten Strafverfolgung von Umweltschutz- Wir gehen zum nächsten Punkt der Tagesordnung delikten getroffen oder eingeleitet. In den Ländern über. Ist das Haus über die drei Zusatzpunkte unter- Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, richtet, die eingeschoben sind? — Ja. Dann rufe ich Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saar- zunächst auf: land und Schleswig-Holstein sind bei den Staatsan- waltschaften Sonderdezernate für Umweltschutz- Zweite Beratung und Schlußabstimmung des delikte eingerichtet worden. In Rheinland-Pfalz hat von der Bundesregierung eingebrachten Ent- die Landesjustizverwaltung die Leiter der Staats- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom anwaltschaften darum gebeten, der Verfolgung von 11. November 1971 zwischen der Regierung Delikten gegen den Umweltschutz besondere Auf- der Bundesrepublik Deutschland und der Re- merksamkeit zu widmen. Die Frage der Einrichtung gierung der Union der Sozialistischen Sowjet- von Sonderdezernaten wird dort gegenwärtig ge- republiken über den Luftverkehr prüft. — Drucksache VI/3559 — 11738 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Vizepräsident Dr. Schmid Mündlicher Bericht des Ausschusses für Ver- Mündlicher Bericht des Rechtsausschusses kehr und für das Post- und Fernmeldewesen (5. Ausschuß) (13. Ausschuß) — Drucksache VI/3820 — — Drucksache VI/3819 — Berichterstatter: Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Arndt (Hamburg), Abgeordneter Schmidt (Niederselters) Erhard (Bad Schwalbach) Das Wort hat Herr Abgeordneter Horten. Die Herren Berichterstatter verzichten aufs Wort. Ich rufe Art. 1, 2, 2 a, 3 sowie Einleitung und Horten (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Da- Überschrift auf. — Wer zustimmen will, möge sich men und Herren! Der Ihnen vorliegende Bericht des erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ich Verkehrsausschusses zeigt, daß infolge der Knapp- stelle einstimmige Annahme fest. heit der Zeit keine Möglichkeit mehr bestand, hier- bei das Votum des innerdeutschen Ausschusses zu Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: berücksichtigen. Für den innerdeutschen Ausschuß Zweite Beratung und Schlußabstimmung des erkläre ich deshalb im Einvernehmen mit dem Mit- von der Bundesregierung eingebrachten Ent- berichterstatter, dem Herrn Abgeordneten Rolf wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom Heyen aus Berlin, folgendes: 26. Mai 1972 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokrati Wir haben keine Bedenken gegen das oben- schen Republik über Fragen des Verkehrs genannte Abkommen, halten es aber für notwendig, — Drucksache VI/3770 — daß der in dem Abkommen vereinbarte Vorbehalt der Bundesregierung, den Fluglinienplan durch die Mündlicher Bericht des Ausschusses für inner- Benennung eines weiteren Punktes zu ergänzen, deutsche Beziehungen (15. Ausschuß) verdeutlicht wird, d. h. also, daß auch hier bei der — Drucksache VI/3811 — Beratung im Plenum ebenso wie in der Denkschrift Berichterstatter: der Bundesregierung, die der Drucksache VI/3559 Abgeordneter Dr. von Bismarck, beigefügt ist, darauf hingewiesen wird, daß die Dr. Deßner Bundesregierung als diesen zusätzlichen Punkt- im Fluglinienplan Berlin-Tegel benennt. Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. von Bismarck als Berichterstatter.

Ich danke dem Vizepräsident Dr. Schmid: Dr. von Bismarck (CDU/CSU) : Herr Präsident! Herrn Berichterstatter. Wird das Wort zur Aus- Meine Damen und Herren! Als Berichterstatter des sprache gewünscht? Das ist nicht der Fall. innerdeutschen Ausschusses habe ich Ihnen folgen- Ich rufe Art. 1, Art. 2 sowie Einleitung und des vorzutragen. Überschrift auf. Wer diesen Bestimmungen zustim- Der dem Hohen Hause vorliegende Gesetzentwurf men will, möge sich erheben. — Gegenprobe! — zu dem Vertrag vom 26. Mai 1972 zwischen der Bun- Enthaltungen? — Ich stelle einstimmige Annahme desrepublik Deutschland und der Deutschen Demo- fest. kratischen Republik über Fragen des Verkehrs ist der Entwurf des ersten Gesetzes dieser Art. Es ist Ich rufe den zweiten Zusatzpunkt auf: dazu bestimmt, im Interesse der Menschen die ihnen Zweite Beratung und Schlußabstimmung des dienende Verkehrswirtschaft den praktischen Erfor- von der Bundesregierung eingebrachten Ent- dernissen entsprechend zu regeln, Hindernisse zu wurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen beseitigen und Erleichterungen zu schaffen. Es ist vom 20. August 1971 über die Internationale nicht dazu bestimmt oder geeignet, Aussagen über Fernmeldesatellitenorganisation „INTELSAT" den Status der Vertragspartner oder ihr grundsätz- -Drucksache VI/3451 — liches Verhältnis zueinander zu machen oder zu be- gründen. Insbesondere ist mit diesem Vertrag keine Der Ausschuß, an den die Vorlage verwiesen wor- völkerrechtliche Anerkennung der DDR verbunden, den ist, hat nicht getagt, uns liegt kein Bericht vor, und es entstehen für die Bundesrepublik Deutsch- und wir können darüber nicht entscheiden. Wir müs- land daher im Rahmen dieses Vertrages keine völ- sen daher diesen Punkt von der Tagesordnung ab- kerrechtlichen Beziehungen zur DDR. setzen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich Der Entwurf des Gesetzes, über den das Hohe höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen. Haus heute zu beschließen hat, soll in Art. 1 die Wir kommen zum dritten Zusatzpunkt: Bundesregierung ermächtigen, der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik mitzuteilen, Zweite Beratung und Schlußabstimmung des daß die innerstaatlichen Voraussetzungen für das von der Bundesregierung eingebrachten Ent Inkrafttreten des am 26. Mai 1972 unterzeichneten wurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Vertrages erfüllt sind. Er regelt des weiteren in vom 16. Dezember 1970 zur Bekämpfung der Art. 2 die Zuständigkeit des Bundesministers für widerrechtlichen Inbesitznahme von Luftfahr- Verkehr innerhalb der Bundesregierung. Schließlich zeugen bestimmt der Vertrag in Art. 3, daß dieses Gesetz — Drucksache VI/3272 — zu dem Vertrag zwischen den beiden Staaten in Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11739 Dr. von Bismarck Deutschland auch im Lande Berlin nach Maßgabe hungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland des dafür in Frage kommenden Verfahrens gilt. und der DDR außer jedem Zweifel. Zum erstenmal Bedeutsam für das Hohe Haus ist dabei vor allem wird durch einen Vertrag eine umfassende und ge- zweierlei. In Art. 1 wird für diesen besonderen Typ sicherte Rechtsgrundlage für den Verkehr auf Stra- von Vertragsbeziehungen zwischen zwei Staaten, ßen, Schienen- und Wasserwegen zwischen den bei- die für einander nicht Ausland sind, eine angemes- den Staaten in Deutschland gelegt. Damit wird für sene, von bisherigen Verfahrensweisen abweichende Verkehrsträger und Reisende die Rechtssicherheit Regelung getroffen. geschaffen, die es bisher in einer großen Zahl von Verkehrs- und Transportfragen nicht gab. In Art. 3, in dem die Einbeziehung Berlins ge- regelt wird, ist zum Ausdruck gebracht, daß es sich Dieses Mehr an Rechtssicherheit ist geeignet, zur bei den Vertragspartnern um die beiden Staaten in Entkrampfung des Verhältnisses zwischen den bei- Deutschland handelt, mit anderen Worten: um das den Staaten zum Wohle der Menschen in Deutsch- hier gegebene besondere Verhältnis. Die Rechte und land beizutragen. Deshalb ist der Verkehrsvertrag Verantwortung der Vier Mächte für Deutschland als ein wichtiger Baustein für die Verwirklichung der Ganzes und Berlin bleiben dabei gewahrt. programmatischen Absicht, wie sie in der Präambel zum Ausdruck kommt, nämlich „normale gutnach- Besondere Bedeutung kommt selbstverständlich barliche Beziehungen beider Staaten zueinander den menschlichen Erleichterungen zu, deren Inkraft- zu entwickeln, wie sie zwischen voneinander un- setzung der Staatssekretär beim Ministerrat der abhängigen Staaten üblich sind". Beide Seiten haben Deutschen Demokratischen Republik, Dr. Michael auf diese Weise den Wunsch bekundet, daß ein ge- Kohl, in seinem bestätigten Brief vom 26. Mai 1972 regeltes Nebeneinander und schließlich ein Mitein- aufgeführt und in seinem Interview vom 27. Mai ander der beiden Staaten erreicht werden soll. Doch 1972 in bezug auf ost-westliche Reisen inhaltlich nicht nur dies: Die Präambel offenbart auch das beschrieben hat. „Bestreben, einen Beitrag zur Entspannung in Europa Der Deutsche Bundestag erwartet von der Bun- zu leisten". Der Verkehrsvertrag ist folglich Teil desregierung, daß sie dafür Sorge trägt, daß die der weltweiten Entspannungsbemühungen. für alle Beteiligten dringliche Konkretisierung und Der Ausschuß stellte fest, daß die Bestimmungen Bekanntgabe der im einzelnen tatsächlich gewähr- des Verkehrsvertrages auf West-Berlin angewendet ten Leistungen bei Abschluß der zur Inkraftsetzung werden. Das Transitabkommen vom 17. Dezember des Vertrages erforderlichen Rechtsakte beider Ver- 1971 wird durch den Verkehrsvertrag nicht berührt. tragspartner erfolgen. Der Verkehr zwischen Berlin (West) und dem Bun- Die beiden mitberatenden Ausschüsse, der Ver- desgebiet fällt unter die Bestimmungen des Transit- kehrsausschuß und der Rechtsausschuß, haben dem abkommens, und zwar unabhängig davon, ob er innerdeutschen Ausschuß mitgeteilt, daß keine Be- im Bundesgebiet endet oder darüber hinaus in das denken gegen den von der Regierung vorgelegten Ausland weitergeführt wird. Umgekehrt gilt das- Entwurf für das Feststellungsgesetz bestehen. selbe. Ihnen liegt die Drucksache VI/3811 vor, in der der Gegenstand des Vertrages ist nach Art. 1 „der Beschluß des Ausschusses wiedergegeben ist und in gegenseitige Wechsel- und Transitverkehr auf Stra- der der Ausschuß eine andere Fassung des Art. 3 ßen, Schienen- und Wasserwegen". Gemäß einem beantragt. Der Ausschuß schlägt dem Hohen Haus Protokollvermerk zu Art. 1 bleibt der Personen- vor, dieser Vorlage zuzustimmen und der Regierung verkehr mit Seepassagier- und Binnenschiffen zu- die erbetene Ermächtigung gemäß § 1 zu erteilen. nächst ungeregelt; jedoch soll über ihn verhandelt werden, wenn die entsprechenden Voraussetzungen (Beifall.) vorhanden sind. Auch Regelungen über den Luft- verkehr sind wegen der besonderen Rechtsverhält- Vizepräsident Dr. Schmid: Ich erteile das nisse im Vertrag noch nicht enthalten. Beide Seiten Wort dem Abgeordneten Geßner als zweitem Be- haben jedoch in einem Protokollvermerk hervor- richterstatter. gehoben, zu gegebener Zeit in Verhandlungen über ein Luftverkehrsabkommen einzutreten. Art. 2 enthält die Dr. Geßner (SPD): Herr Präsident! Meine Da- Grundnorm des Vertrages, näm- men und Herren! Der federführende Ausschuß für lich die Anknüpfung an die übliche internationale innerdeutsche Beziehungen hat am 20. September Praxis. Überall dort, wo der international übliche den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutsch- Standard im Vergleich zur Verkehrspraxis zwischen land und der Deutschen Demokratischen Republik den beiden deutschen Verkehrsgebieten höher ist, ergibt sich die Notwendigkeit für materielle Ver- überbehandelt Fragen des Verkehrs und die einzel- kehrsverbesserungen. Der Vertrag beinhaltet auch nen Bestimmungen geprüft. Die beiden Bericht- das Prinzip der Gegenseitigkeit und der Nichtdis- erstatter sind übereingekommen, die Berichterstat- kriminierung. Die Konsequenz daraus sind das Ge- tung über das Zustimmungsgesetz und den Ver- bot der Gleichbehandlung und die Forderung nach kehrsvertrag aufzuteilen. Ich möchte mich daher Gegenmaßnahmen für den Fall, daß ein Vertrags- ausschließlich mit dem Vertrag selbst befassen. partner im bilateralen Verhältnis nicht vergleich- Obwohl er seiner Natur entsprechend vorwie- bare Bedingungen gewährt oder Verkehrsteilneh- gend verkehrstechnische Fragen enthält, so steht mer dritter Staaten unter vergleichbaren Umständen seine Bedeutung für die Verbesserung der Bezie- besser behandelt. 11740 Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Dr. Geßner Der Ausschuß begrüßte das materielle Ziel des Viertens. Touristenreisen in die DDR werden Vertrages, den Verkehr in größtmöglichem Umfang ebenfalls ermöglicht. zu gewähren, zu erleichtern und möglichst zweck- (Zuruf von der CDU/CSU: Hoffentlich!) mäßig zu gestalten. Fünftens. In größerem Umfange als bisher dürfen In bezug auf Art. 1 bleibt noch übrig, darauf hin- bei Reisen in die DDR Personenkraftwagen benutzt zuweisen, daß der Binnenschiffahrt beider Staaten werden. zum erstenmal seit 1945 die Möglichkeit des Transit- Sechstens. Die Freigrenze für mitgeführte Ge- verkehrs in dritte Staaten eröffnet wird. schenke wird erhöht. Der Ausschuß befaßte sich auch mit dem Problem Siebtens. In dringenden Fällen — Familienange- zusätzlicher Grenzübergangsstellen. Die Regierung legenheiten — wird Bürgern der DDR die Reise in wurde gebeten, sich für die Öffnung weiterer Über- die Bundesrepublik ermöglicht. gangsstellen einzusetzen, zumal Art. 4 Satz 2 des Meine Damen und Herren, besonders der zuletzt Vertrages diese Möglichkeit einräumt. aufgeführte Punkt zeigt, daß bei gutem Willen Bar- Auch was Art. 8 betrifft, also die Verpflichtung rieren des Anomalen abgebaut werden können. Der zur gegenseitigen Information über den Zustand Ausschuß sprach die Erwartung aus, daß die ge- der Verkehrswege sowie zur Übermittlung von machten Zusicherungen unmittebar nach Inkraft- Nachrichten über den Verkehrsablauf, bat der Aus- treten des Vertrages in die Tat umgesetzt werden, schuß die Bundesregierung, darauf hinzuwirken, daß und zwar im Interesse der Menschen in Deutsch- Berlin (West) und die Bundesrepublik durch die zu- land. ständigen Behörden der DDR nicht unterschiedlich (Beifall bei den Regierungsparteien und behandelt werden. bei Abgeordneten der CDU/CSU.) Verbesserungen im Verkehr werden auch durch den beabsichtigten Beitritt der beiden Staaten zu Vizepräsident Dr. Schmid: Ich danke dem den Internationalen Übereinkommen über den Eisen- Herrn Berichterstatter und eröffne die allgemeine bahn—Personen- und -Gepäckverkehr (CIV) und Aussprache. Wird das Wort gewünscht? — Keine über den Eisenbahnfrachtverkehr (CIM) die Folge Wortmeldungen. Dann kommen wir zur Abstim- mung. Ich rufe Art. 1, Art. 2, Art. 3, Art. 4, Einlei- sein, beispielsweise dadurch, daß nunmehr- durch- gehende Tarife im Personen- und Güterverkehr mög- tung und Überschrift auf. Wer zustimmen will, möge lich sein werden. sich erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ich stelle einstimmige Annahme — — Einmütig herrschte im Ausschuß die Auffassung. (Zurufe von der SPD.) daß durch den Beitritt zu CIM und CIV die Hoheits- rechte der Westalliierten im Hinblick auf die Reichs- — Ich kann nicht feststellen, ob sich Mitglieder des bahn in West-Berlin nicht berührt werden. Hauses der Stimme enthalten wollen. In Art. 14 und Art. 16 gründen beide Staaten die (Weitere Zurufe von der SPD.) staatsvertragliche Basis für die Benutzung von kur- — Neun Enthaltungen bei der CDU/CSU. Das Ge- zen Durchgangsstrecken im Gebiet der anderen setz ist angenommen. Eisenbahnverwaltung, wobei die materiellen Bedin- (Abg. Wohlrabe: Hier wird Volkskammer gungen für die verschiedenen Strecken gleich sind. stil praktiziert!) Für den Fall, daß Meinungsverschiedenheiten über Wir kommen zurück zu Punkt 4 der Tagesord- Anwendung und Auslegung des Vertrages beste- nung: hen, wurde die Einsetzung einer gemischten Kom- Antrag des Bundeskanzlers gemäß Artikel 68 mission rechtlich verankert. Wird eine Einigung des Grundgesetzes. nicht erzielt, so ist vorgesehen, daß die Regierungen der beiden Staaten die strittigen Fragen auf dem Das Wort hat Herr Bundesminister Scheel. Verhandlungswege klären. Bundesminister des Auswärtigen: Herr Herr Präsident, meine Damen und Herren! Zum Scheel, Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vertrag gehört auch das Schreiben des Staatssekre- steht vor seiner Auf- tärs beim Ministerrat der DDR vom 26. Mai 1972. Der 6. Deutsche Bundestag Zum erstenmal, seit dem es die Bundes- Darin werden u. a. folgende Zusicherungen gege- lösung. ben, die ich wegen ihrer Bedeutung abschließend republik Deutschland gibt, wird damit unser Parla- ment vor dem normalen Ende einer Legislatur- besonders hervorheben möchte. periode seine Arbeit beenden. Erstens. Es werden Reiseerleichterungen zwischen (Abg. Wohlrabe: Durch das Scheitern der den beiden Staaten über das übliche Maß hinaus Regierung!) gewährt. So außergewöhnlich dies erscheinen mag, so not- Zweitens. Auf Antrag von Bürgern der DDR wird wendig ist es. Dieser Bundestag ist nicht arbeits- der Besuch von Verwandten und Bekannten aus der fähig. Parteiwechsel einzelner Abgeordneter haben Bundesrepublik jährlich mehrmals erlaubt. die Mehrheitsverhältnisse ohne Zustimmung der Drittens. Auf Einladung können Bundesbürger Wähler verändert. auch aus kommerziellen, kulturellen, sportlichen (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu oder religiösen Gründen in die DDR reisen. rufe von der CDU/CSU.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11741

Bundesminister Scheel Damit wir uns nicht mißverstehen, meine Damen Ich kann das nicht glauben. und Herren: ich bin kein Anhänger des impera- (Zuruf von der CDU/CSU: Warum zitie tiven Mandats . ren Sie es dann, wenn Sie es selber nicht (Aha! bei der CDU/CSU.) glauben?) Die FDP hat das Recht auf Gewissensfreiheit in Wir haben manche verschiedene Ansichten, ihren eigenen Reihen immer respektiert. (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Mehrere!) (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Das hat Ihre Rede damals gezeigt!) aber einen derartigen Mangel an Patriotismus traue ich Ihnen nicht zu, Herr Dr. Barzel. Sie hat nie die Peitsche der Fraktionsdisziplin ge- schwungen. Wir wollen keine Abgeordneten, die (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu von ihren Fraktionsvorständen oder Parteibürokra- rufe von CDU/CSU.) tien abhängig sind. — Warum ich es zitiere, Herr Kollege? Ich möchte Herrn Dr. Barzel bitten, diese Nachricht aus der Wir sind aber auch gegen das elitäre Mandat. Welt zu schaffen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Zustimmung bei den Regierungsparteien.) Wir sind keine Auserwählten, meine Damen und Unser Land darf in seinem internationalen An- Herren, die ohne Rücksicht auf den Willen des sehen nicht als Provinz dastehen, in der man die Wählers ihren Interessen, ihren Geschäften nach- selbstverständlichen Spielregeln der Demokratie gehen können. Wenn eine Veränderung der Mehr- und die Gebote nationaler Solidarität in Wahl- heitsverhältnisse ohne Wählerentscheidung möglich kampfzeiten nicht kennt. wird, ist die parlamentarische Demokratie am Ende. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Dieser Bundestag, meine Damen und Herren, hat, Und ich meine: Wehe dem, dem dann das Gewissen wie andere vor ihm, fleißig gearbeitet. Doch in un- nicht schlägt! serem Volk wird an ihm harte Kritik geübt. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Zurufe von der CDU/CSU: An der Re In einer solchen Lage kann die Glaubwürdigkeit- gierung!) der parlamentarischen Demokratie nur erhalten Eine Reihe von Vorkommnissen haben Schatten auf bleiben, wenn man die Bürger entscheiden läßt. sein Ansehen geworfen, (Erneuter Beifall bei den Regierungspar (Zuruf von der CDU/CSU: Immer die an teien.) deren!) Die Bundesregierung wird ihre Arbeit bis zur nicht zuletzt auch die Mitnahme von Mandaten beim Wahl fortsetzen. Sie ist durch ihren Eid dazu ver- bertrittÜdie sich gegenübervon Abgeordneten, pflichtet. ihren Wählern auf das Programm dieser Regie- (Abg. Dr. Barzel: Ohne Parlamentarische rung verpflichtet hatten. Staatssekretäre!) (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Dr. Barzel: Auf das Programm einer Unsere Aufgabe ist es, den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren und Schaden von ihm zu wen- Regierung?) den. Dies rührt an den Lebensnerv unserer parlamenta- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Iro rischen Demokratie. nischer Beifall, Lachen und Zurufe von Ab (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu geordneten der CDU/CSU.) rufe von der CDU/CSU.) Das gilt für die Regierungstätigkeit im Innern und Die Bürger haben mit Recht einen scharfen Blick nach außen. Wer die Verhandlungsfähigkeit seiner für diese Dinge entwickelt. Regierung gerade in der nunmehr folgenden schwie- rigen Situation beeinträchtigt, wer unseren Part- (Zuruf von der CDU/CSU: Für diese Re nern zu suggerieren versucht, sie sollten sich auf gierung! — Weitere Zurufe von der CDU/ keine Gespräche mit der Bundesrepublik Deutsch- CSU.) land mehr einlassen, Sie haben auch eine klare Einstellung zum Problem (Abg. Dr. Barzel: Das tut ja keiner!) des Parteiwechsels und wissen wohl zwischen den Motiven zu unterscheiden. Der Ruf nach jener der hat den Sinn des Grundgesetzes nicht verstan- Würde des Parlaments, die ihm als oberstem Ver- den. fassungsorgan ansteht, darf nicht ungehört verhal- (Beifall bei den Regierungsparteien.) len. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Nach Presseberichten sollen Sie, Herr Dr. Barzel, in Neuß die Staaten der Welt aufgefordert haben, Doch, meine Damen und Herren, lassen wir uns mit dieser Bundesregierung keine Abmachungen von diesen Schatten nicht die Leistungen dieses Par- mehr zu treffen. laments verdunkeln. In dieser Legislaturperiode (Hört Hört! bei den Regierungsparteien. — sind Entscheidungen gefallen, die sich nur mit der Zurufe von der CDU/CSU.) Zustimmung eines früheren Bundestags zum Ein- 11742 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Bundesminister Scheel bau der Bundesrepublik Deutschland in den freien Unser Volk hat in seiner schwierigen Lage, gespal- Westen vergleichen lassen. ten von der Grenze zwischen Ost und West, voll er- (Zuruf von der CDU/CSU: Da stockt der kannt, Atem!) (Zuruf von der CDU/CSU) Dieser Bundestag hat die Verträge von Moskau welche Verantwortung für den Frieden in Europa und Warschau ratifiziert und damit nach 25 Jahren ihm auferlegt ist. Es hat überholte Tabus und Spannungszustand die Berlin-Regelung möglich ge- Wunschvorstellungen überwunden. Es ist sich des- macht. sen bewußt, daß unsere Einheit nur im europäischen (Beifall bei den Regierungsparteien.) Rahmen möglich ist. Unser Volk hat erkannt, daß nicht Rhetorik die Grenzen in unserem Vaterland Dieser Bundestag hat die Erweiterung der Euro- überwindet, sondern nur beharrliche Bemühungen päischen Wirtschaftsgemeinschaft in Kraft gesetzt, um ein vertraglich geregeltes Verhältnis in Deutsch- und wenn einmal die Geschichte dieser Jahrzehnte land. geschrieben wird, so wird niemand daran vorbei (Beifall bei den Regierungsparteien.) können, daß dies historische Einschnitte gewesen sind. Es spricht für die Reife der deutschen Demokra- tie, daß sie diese Herausforderung an ihre mora- Auch in der Innen- und Gesellschaftspolitik ist lische Substanz ohne innere Krise überwunden hat. Wesentliches für die soziale Entwicklung, für die Jetzt ist der bleibende Beweis erbracht, daß Bonn Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölke- nicht Weimar ist. rung geleistet worden. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Einmalige Preissteigerungen!) Unser Volk hat es vermocht, sich den gebotenen Ich nenne nur einige Stichworte: die Erhöhung und Einsichten in schmerzhafte historische Notwendig- Dynamisierung der Kriegsopferrenten, keiten zu öffnen. Es ist ihm gelungen, sich dabei ein kraftvolles Selbstbewußtsein zu erhalten und (Zuruf des Abg. Rösing) seine Selbstachtung zu entfalten. Wir haben endlich die Erhöhung der Alters- und Unfallrenten sowie den Teufelskreis durchbrochen, in dem auf Gewalt- des Kindergeldes, kostenlose Vorsorgeuntersuchun- drohung Gegendrohung folgt. Wir haben einen ent- - gen, Wegfall des Krankenversicherungsbeitrags für scheidenden Beitrag zur europäischen Stabilität und Rentner, auch die gestern in diesem Bundestag be- damit zum Frieden und zur Sicherheit auf der Welt schlossene Rentenreform, meine Damen und Herren, geleistet. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Lachen, Bravorufe und weitere Zurufe von Dem deutschen Volk gebührt Dank und Respekt der CDU/CSU) dafür. ein soziales Mietrecht, die Reform der Betriebsver- Unsere Bürger haben auch verstanden, daß es fassung, das Städtebauförderungsgesetz, das Kran- nicht nur darauf ankommt, in Frieden mit unseren kenhausfinanzierungsgesetz, Nachbarn zu leben, sondern daß es entscheidend ist, ob wir im Frieden mit uns selbst zu leben ver- (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Preissteigerun stehen. Auch diese Belastungsprobe ist bestanden gen!) worden. Unser Land lebt in sozialer Eintracht, die Verkürzung der Wehrdienstzeit, das Hochschul- (Beifall bei den Regierungsparteien) baugesetz, die Umweltschutzmaßnahmen, und dieses wertvollste aller Güter müssen wir uns (Zuruf von der CDU/CSU: Die höchsten gemeinsam erhalten. Bodenpreise!) Jetzt liegt es an uns, den politischen Parteien, die Verbesserung der Sozialfürsorge für Landwirte. einen Wahlkampf zu führen, der nicht nur Leiden- (Abg. Rösing: Arbeitnehmerfreibeträge!) schaften aufwühlt — das kommt im Wahlkampf auch vor —, der nicht Bürger gegen Bürger hetzt. Dies nur als einige Beispiele für vieles. (Zuruf von der CDU/CSU: Siehe Bundes (Beifall bei den Regierungsparteien.) kanzler!) Ich meine daher, daß die Bundesregierung eine Eh- Auch in der härtesten Auseinandersetzung darf die renpflicht versäumte, wenn sie diesem Bundestag Vernunft im Wahlkampf nicht außer Kraft gesetzt nicht für seine Arbeit dankte. werden. Am meisten Dank schulden wir jedoch unseren (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu Bürgern. ruf von der CDU/CSU: Caligula! — Wei (Zuruf von der CDU/CSU: Siehe Landtags tere Zurufe von der CDU/CSU.) wahlen!) — Wenn ich sage „darf die Vernunft im Wahl- Sie haben in den vergangenen Jahren den entschei- kampf nicht außer Kraft gesetzt werden", will ich denden, den befreienden Schritt von der Illusion zur damit nicht sagen, daß auch Heiterkeit und Humor Wirklichkeit getan. Wir sind endlich zu einem ge- vielen im Wahlkampf fehlen müßten. Das darf es läuterten nationalen Selbstverständnis gekommen. im Wahlkampf geben. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Zuruf von der CDU/CSU: Leichtsinn!) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11743

Bundesminister Scheel Auch in den härtesten Auseinandersetzungen darf Ich meine, wir sollten alle daran interessiert sein, die Vernunft nicht außer Kraft gesetzt werden, wie- daß das Markenschild „Made in " von derhole ich. Durch die Form unserer Debatte müs- Krisenflecken — und seien sie auch nur verbaler sen wir Politiker nämlich beweisen, daß wir unse- Natur — freibleibt. Unser „Made in Germany" darf rer Bürger, die sehr vernünftig denken, würdig sind. nicht kaputtgemacht werden. Es dürfen auch nicht neue Illusionen geschaffen (Beifall bei den Regierungsparteien.) werden, Ich wiederhole: Niemand darf dem deutschen Volk (Beifall bei den Regierungsparteien. — De Krisen herbeireden, die es nicht gibt, die das monstrativer Beifall bei der CDU/CSU) deutsche Volk nicht braucht, die es nicht will und die das Erreichte wieder in Frage stellen und uns nicht verdient. Belastungen im Verhältnis zu unseren Nachbarn in (Beifall bei den Regierungsparteien.) West und Ost und im Inneren unseres Landes aus- setzen. Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolle- gen, in diesem Augenblick noch ein Wort. Die Poli- In diesem Zusammenhang darf ich wohl sagen: tik dieser letzten Jahre war nur möglich, weil an Am allerwenigsten haben wir eine Wirtschaftskrise der Spitze dieser Regierung ein Mann gestanden in diesem Land. Sie alle wissen das. Die Zahlen, hat, der in einem hohen Maße Verantwortungs- die Fakten sind Ihnen bekannt. gefühl, Gerechtigkeitssinn und Fairneß miteinander (Abg. Leicht: Aber Ihnen nicht!) verbindet. Auch die Industrie selbst glaubt an keine Krise. (Anhaltender lebhafter Beifall bei den Re- gierungsparteien. — Abg. Leicht: „Holzen"!) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Die Nachfrage nach Investitionsgütern stieg im Meine Damen und Herren, ich meine, daß der zweiten Quartal dieses Jahres stärker als die all- Bundeskanzler, daß durch die Lauter- gemeine Nachfrage, ein Vorgang, der in Krisen- keit seines Wollens, durch seine politische und zeiten wohl gänzlich unüblich ist. moralische Integrität entscheidend zum Frieden im Innern beigetragen und unser Ansehen im Ausland Die Industrie hat also Vertrauen in unsere- wirt- vermehrt hat. Dafür möchte ich ihm heute danken. schaftliche Entwicklung. Warum aber soll das Ver- (Anhaltender lebhafter Beifall bei den trauen des deutschen Bürgers, des Auslandes in Regierungsparteien.) unserer Wirtschaft gefährdet werden? Wer hat ein Interesse daran? Der Bürger sicher nicht. Die Wirt- Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundes- schaft sicher nicht. Diese Regierung sicher auch tag gibt sein Mandat an das deutsche Volk zurück. nicht. Bisher glaubt besonders im Ausland niemand Die Entscheidung über die nächste Bundesregierung an dieses Krisengerede. Aber wie leicht könnte es liegt jetzt wieder dort, wo sie in einer Demokratie negative Folgen haben! Für unser Land ist auch hingehört, nämlich beim Wähler. wichtig, was das Ausland von ihm denkt, (Anhaltender lebhafter Beifall bei den (Sehr richtig! bei der SPD) Regierungsparteien.) was man dort von seiner Währungslage, seiner Produktionskraft, seiner sozialen Lage hält. Auch Das Wort hat der in der Wirtschaft hängt viel von dem Vertrauen ab, Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeordnete Schröder. das andere uns entgegenbringen. Wir sollten daher, meine ich, nüchtern bleiben. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Dr. Schröder (Düsseldorf) (CDU/CSU) : Herr Prä- sident! Meine Damen und Herren! Die Regierung Bleiben wir auf dem Boden der Tatsachen! Dies kommt ihrem wohlverdienten Ende näher und nä- sind die Tatsachen: Die Konjunktur nimmt einen her. maßvollen Aufschwung. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Dr. Stark [Nürtingen]: 2 % Wachs Ich möchte aus der Rede meines Vorredners tum!) (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Rede?) Die industrielle Produktion ist im ersten Halbjahr um 4 % gewachsen. Der Außenhandel erbrachte — Herr Kollege Marx, seien Sie bitte großzügig — trotz zweifacher Aufwertung 1970 und 1971 jeweils (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Überschüsse von mehr als 15 Milliarden DM. Allein nur eine Sache aufgreifen. Er hat den Kollegen in den ersten sieben Monaten dieses Jahres be- trugen die Überschüsse bereits 10 Milliarden DM. Barzel zitiert nach seiner Neußer Rede vom ver- gangenen Sonnabend, wenn ich mich nicht irre. All das ist Leistung, vor allem Leistung unserer Herr Kollege Scheel, für uns alle ist klar — für Sie Bürger, Leistung, die hier im Lande und draußen wohl auch —, daß die Regierung natürlich bis zur in der Welt Vertrauen verdient. Betrügt man die Berufung einer neuen Regierung im Amt ist. Aber Bürger nicht um die Früchte ihrer Arbeit, wenn man diese Regierung sollte sich hüten, irgendwelche ihnen dieses Vertrauen der Welt zerredet? neuen Verpflichtungen zu übernehmen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) 11744 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Dr. Schröder (Düsseldorf) Ich habe hier vor ein paar Monaten gesagt, Schlimmer als das aber ist, daß damit die vorauf- 30 Monate dieser Regierung seien genug, über- gegangenen Regierungen diskreditiert wurden. genug. Aber vielleicht war es notwendig, sicher war (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) es lehrreich, noch sechs Monate mehr davon zu er- leben. Sie haben aber Frieden, Sicherheit und Freiheit (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) möglich gemacht. Meine Damen und Herren, ich gehöre zu denen, (Beifall bei der CDU/CSU.) die der gesetzlich zustande gekommenen Regie- Ich will über die Regierungspolitik in diesem rung den schuldigen Respekt nie versagt haben. Augenblick nicht härter sprechen, aber Ihre Ver- Das aber befreit mich nicht von der Pflicht, den tragskunst als Leistung für Deutschland auszu- Maßstab unbarmherzig-sachlich anzulegen, den un- geben, war und ist ein starkes Stück! ser Land mit Recht verlangen kann. Ich will heute morgen hier nur drei Punkte anführen, die nach (Beifall bei der CDU/CSU.) meiner Meinung aber die Essenz darstellen. Ich tue Nur eine einzige Schlußbemerkung: Deutschland das ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Vielleicht braucht eine bessere Regierung. noch heute, aber sicher im Laufe des Wahlkampfes, (Beifall bei der CDU/CSU.) wird die Rechnung Punkt für Punkt aufgemacht werden. Deshalb appellieren wir an das Land: Gebt Deutsch- Mein erster Punkt ist der Verfall des Führungs- land, was es braucht: eine bessere Regierung! kreises. Herr Kollege Barzel hat vorgestern die (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) „Namenstafel" verlesen. Meine Damen und Herren, wir haben seit 1949 nichts Vergleichbares erlebt. Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der (Beifall bei der CDU/CSU.) Abgeordnete Dr. Schulz. Eine Regierung, die in zwei Jahren zwei Finanz- minister verbraucht, und zwar so, wie es geschehen Dr. Schulz (Berlin) (CDU/CSU) : Herr Präsident! ist, richtet sich selbst. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Wahlkampf, der jetzt beginnt, soll von den Koali- - tionsparteien von vornherein in das Zeichen einer Das hat nichts damit zu tun, daß die Regierungs falschen, verhängnisvollen, ja geradezu verfas- mehrheit von Anfang an halsbrecherisch schmal war. sungswidrigen Legende gestellt werden: der (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) Legende von den Überläufern. Daß sie so heterogen sein würde, daß sie so wenig (Beifall bei der CDU/CSU.) inneren Zusammenhalt aufgebracht hat, ist viel- Der Volksmund hat diese Legende sehr rasch als das leicht der schwerste Schaden, den sie unserem Land bezeichnet, was sie ist: als eine neue Dolchstoß zugefügt hat. legende. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU. — Unruhe bei Der zweite Punkt ist die vielbeklagte Sucht des der SPD.) Reformismus. Die Regierung hat sich als ein Kabi- nett der inneren Reformen vorgestellt. Aber nie- Es trifft zu: Diese neue Dolchstoßlegende ist sub- mand, meine Damen und Herren, vermag etwas jektiv genauso verlogen und objektiv genauso un- Ernsthaftes zu nennen, was diesem Anspruch auch haltbar wie die erste. Es handelt sich um den wohl nur von fern genügen könnte. groteskesten, aber auch dreistesten Versuch in der jüngsten Zeitgeschichte, die Gesetze von Ursache (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) und Wirkung auf den Kopf zu stellen. Sogar — und das war vor einigen Tagen hoch- (Beifall bei der CDU/CSU.) interessant zu sehen — Freunden der Regierung kommt plötzlich der Ausdruck „Reformismus" ge- Es erscheint darum notwendig, meine sehr ver- läufig von den Lippen. Sie meinen — und ich ehrten Damen und Herren, vor der großen Offent- glaube, mit Recht —, daß es des Redens über Re- lichkeit, die dieser Bundestagsdebatte beiwohnt, und formen zuviel war. In der Tat: Eine Regierung, die speziell vor jener großen Mehrheit, die sich den sich hier ohne einen Haushalt verabschieden muß, Grundsätzen der Demokratie und ihrem Fundament, hat das Recht verwirkt, von der Realität ihrer Re- dem Grundgesetz, verpflichtet weiß, der Regierung formen zu sprechen. und den sie stützenden Parteien diese scheinbare (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Trumpfkarte mit dem Überläufertum hier und heute aus der Hand zu schlagen. Der dritte Punkt ist wahrscheinlich der schlimmste. Die Regierung hat sich viel auf ihre (Beifall bei der CDU/CSU.) Friedenspolitik zugute getan. Sie hat sich dafür von Der Herr Bundeskanzler hat ja, offenbar in Wah- Deutschlands Gegnern und von manchen wirklichen rung eines besseren parlamentarischen Protokolls, oder vermeintlichen Freunden loben lassen. Mich hat vorgestern den Begriff „Mandatsüberträger" — immer gewundert, daß sie diese Art von Beifall nicht „Überläufer" — gebraucht. Aber wir haben nicht gründlich geprüft, sondern offenbar ungeprüft schon in den letzten Tagen gesehen, daß das keine geschlürft hat. Schule gemacht hat, sondern daß der Begriff „Über- (Beifall bei der CDU/CSU.) läufer" von der linken Seite dieses Hauses immer Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11745

Dr. Schulz (Berlin) wieder auftauchte. Darum werde ich mir gestatten, Linke mit ihrer früher problematischen Staatsgesin- ihn zu analysieren. nung davon betroffen war, konnte man annehmen, daß durch das Godesberger Programm und durch „Überläufer" — das ist ein Begriff, der aus dem die Rede, die Herr Wehner hier an dieser Stelle Krieg stammt, der sich auf Männer bezieht, die, aus am 30. Juni 1960 gehalten hat, das Freund-Feind- welchen Gründen auch immer, bei Nacht und Nebel, Verhältnis in dieser neuen Demokratie für immer zu klamm und heimlich, die eigene Truppe verlassen Grabe getragen worden sei. Jetzt ist es durch die und zum Feind überlaufen. Polarisierungstendenz der Politik dieser Regierung (Abg. Dr. Apel: Genauso war es!) und der sie stützenden Parteien in optima forma Davon ist niemand der acht Kollegen, die in dieser wieder eingeführt. Das ist ein Versagen dieser Re- Legislaturperiode die Partei gewechselt haben, be- gierung und der Koalition, über das wir in den troffen. nächsten Wochen sehr laut und deutlich mit dem (Beifall bei der CDU/CSU.) Wähler reden werden. Jeder hat um seine Entscheidung gerungen, er (Beifall bei der CDU/CSU.) hat sie der Öffentlichkeit mitgeteilt und vor der Es wird weiter behauptet, diese sogenannten Öffentlichkeit begründet. Man muß schon eine sehr Überläufer hätten den Wählerwillen verfälscht. verblendete Perspektive haben, meine Damen und (Sehr richtig! bei der SPD.) Herren, wenn man sich einbildet, in meinem Falle hätte es nicht einer ungeheuren Anstrengung be- Nun, meine Damen und Herren, mit dem nötigen durft, eine Partei zu verlassen, die einem mehr war Humor, der zur Demokratie gehört, werden alle Par- als Heimat, die einem politischer Mutterboden war, teien dieses Hauses, meine eigene nicht ausgenom- der man mehr als 40 Jahre angehört hat. men, zugeben, daß man manchmal aus taktischen Gründen an den Wählerwillen appelliert, auch wenn Das ist aus anderen Gründen geschehen, als sie das statistisch im jeweiligen Augenblick nicht so eben der Herr Kollege Scheel ebenso unschön wie ganz genau nachprüfbar ist. Aber es gibt eine zynisch formuliert hat. statistische und damit historische Nachweisbarkeit (Beifall bei der CDU/CSU.) des Wählerwillens, etwa Ergebnis einer Wahl. Inso- fern hat die Verfälschung des Wählerwillens am Er hat von der Wahrnehmung von Interessen oder - 28. September 1969 begonnen. der Ausübung von Geschäften gesprochen, wenn ich ihn richtig verstanden habe. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Zuruf von der CDU/CSU: Er hat es noch Der Gewinner von damals, eindeutig die Sozial- zynischer gesagt!) demokratie, hat mit dem Verlierer von damals eine Koalition gemacht, praktisch gegen jeden zweiten Die Lage ist wesentlich ernster gewesen. Ich kann Wähler und jede zweite Wählerin in diesem Lande. außerdem nachweisen, daß ich seit Januar 1970, in dem Moment, als im „Spiegel" ein Interview er- (Beifall bei der CDU/CSU.) schien, in dem Herr Wehner ostpolitische Perspek- Ich stehe nicht an, auch heute noch den früheren tiven entwickelte, die bis dahin noch gar nicht de- 50 Kollegen von den Freien Demokraten meinen battiert worden waren, und gleichzeitig sagte, er Respekt zu bekunden, die in der Zeit der Großen brauche dafür nicht die Opposition, meine wach- Koalition mit großem Fleiß und großem Engagement senden Bedenken in der Öffentlichkeit kundgetan die undankbare Oppositionsrolle in diesem Hause habe. Ich könnte zwei stattliche Ordner zum Beweis dargestellt, haben. Aber am 28. September 1969 dessen auf den Tisch des Hauses legen. wurde doch offenkundig, daß die Wähler diese An- Man mag trotz alledem die Entscheidung, die ich strengungen nicht belohnt, sondern daß über 90 % getroffen habe und die einige meiner Kollegen ge- für die Parteien der Großen Koalition und damit für troffen haben, für falsch halten, und ich kann ver- eine Fortsetzung dieser Politik gestimmt haben. stehen, wenn Kollegen von früher mir und anderen (Lachen bei den Regierungsparteien.) deswegen gram sind. Das ist alles menschlich ver- — Ich weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt. ständlich. Aber die kollektive persönliche Diffamie- rung als Überläufer, das blieb Ihnen, meine Damen (Anhaltendes Lachen und Zurufe von den und Herren von der Koalition, überlassen. Regierungsparteien.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Die damals getroffene Entscheidung ist in meinen Augen politisch nicht einwandfrei. Sie war aber Es steckt in diesem Begriff aber auch eine ebenso arithmetisch einwandfrei, denn die Regierung Brandt verräterische wie enthüllende Selbstentlarvung. wurde am 21. Oktober mit einer knappen, aber „Der Überläufer", das bedeutet die Reaktualisierung klaren Mehrheit in den Sattel gesetzt. Aber dann des Freund-Feind-Verhältnisses in der Demokratie. hätte die Bundesregierung, dann hätte insbesondere (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der der Herr Bundeskanzler, der die Richtlinien der CDU/CSU: So ist es!) Politik zu bestimmen hat, etwas sorgfältiger um die Erhaltung dieser Mehrheit bemüht sein müssen. Dieses Freund-Feind-Verhältnis hat die Weimarer (Beifall bei der CDU/CSU.) Republik belastet und sie scheitern lassen. Es hat auch in die ersten Jahre der Konsolidierung der Daßm er das offenbar nicht war, beweist sein Ko Bundesrepublik hineingespielt. Soweit die deutsche mentar, den eine Zeitung am 14. Oktober 1971 ver- 11746 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Dr. Schulz (Berlin)

öffentlichte — dem Datum meines Parteiwechsels —, und das als eine Art Meinungstest betrachtete, dann daß eben dieser Entschluß eines jahrzehntelangen müßte die CDU/CSU am 19. November 75 % der Mitstreiters und früheren Freundes nicht der Rede Wählerstimmen bekommen. wert war. Gut, man kann diesen Standpunkt ja be- (Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU.) ziehen. Aber das bedeutet doch, daß der Herr Bun- deskanzler, daß die Mitglieder der Bundesregierung Wenn man die Überläufertheorie vom Kopf auf von vornherein die Männer nicht im Auge gehabt die Füße stellt, dann muß auch an die einsamen Ent- haben — sowohl in der SPD-Fraktion wie in der schlüsse des Herrn Bundeskanzlers gedacht werden, FDP-Fraktion —, für die die Demokratie etwas Ver- beispielsweise in seiner Regierungserklärung. pflichtenderes ist als eine bloße Organisation, die es (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Schmitt für notwendiger halten, sich ihren eigenen Kopf zu Vockenhausen) zerbrechen, als eine gehorsame Anpassung an die nicht vorhandene, nur immer wieder unterstellte Als ich vor siebeneinhalb Jahren in diesen Bundes- Kollektivintelligenz vorzunehmen, die das Gewissen tag kam, hat der damalige Fraktionsvorsitzende der über die Parteiräson stellen. SPD, , ausdrücklich alle Kollegen, die al- ten und die neuen, um sorgfältige Mitwirkung an (Beifall bei der CDU/CSU.) seiner Erklärung als damaliger Oppositionsführer Der Herr Bundeskanzler hätte diese Männer ernster ersucht. Das war ein Beispiel für Demokratie in je- nehmen und hätte versuchen müssen, Politik mit der Beziehung, nach außen wie nach innen. ihnen zu machen. Dann hätte es keine Vertrauens- Wer hat denn aber an der Regierungserklärung frage am 20. September 1972 geben müssen. Dann vom 28. Oktober 1969 mit der Anerkennung des hätte es aber auch ganz gewiß die Ostverträge in zweiten deutschen Staates mitgewirkt? Meines Wis- dieser Form nicht gegeben, sens hat darüber niemals eine Diskussion in der (Sehr richtig! bei der CDU/CSU) SPD-Fraktion stattgefunden. weil die Männer, um die es sich handelte — ich (Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört!) komme in einem anderen Zusammenhang noch dar Wenn ich sage „meines Wissens", dann nur darum, rauf , wußten, daß man Außenpolitik nicht ohne weil ich an den fraglichen Tagen in Wahrnehmung eine so große und machtvolle Opposition -machen eines Ausschußmandats der WEU-Versammlung kann, wie sie hier in diesem Hause anwesend ist. abwesend war. Aber ich habe nie etwas von einer (Beifall bei der CDU/CSU.) solchen Diskussion gehört. Ein solch ernstes Pro- blem hätte ja doch wohl mindestens das Motiv und Ich muß auch persönlich die Legende von der Ver- die Tagesordnung für eine Klausurtagung der SPD- fälschung des Wählerwillens zurückweisen. Ich habe und der FDP-Fraktion abgeben müssen. Sie hat am Bundestagswahlkampf 1969 — damals noch als nicht stattgefunden. Und dann spricht man heute überzeugter Sozialdemokrat, aber auch als überzeug- vom Verrat der Überläufer an einem Regierungs- ter Anhänger der Großen Koalition — teilgenom- programm, von dem ihnen wie allen anderen vorher men. Natürlich wurde aber in den Debatten jeder kein Wort gesagt wurde. Wahlversammlung auch über die Alte rnative ge- Der Herr Bundeskanzler hat sich mit der Anerken- sprochen, und fast immer tauchte dann die Frage nung eines zweiten deutschen Staats von der Grund- auf: Wird nicht, wenn es eine Kleine Koalition zwi- lage entfernt, die die überwältigende Mehrheit die- schen SPD und FDP gibt, unsere Außenpolitik auf ses Hauses durch die Entschließung vom September ein abenteuerliches Gleis geraten? Ich habe damals 1968 geschaffen hatte. Er wird seine Gründe für subjektiv völlig überzeugt gesagt: Das ist unmög- seine Politik haben. Sie stehen heute in der Debatte lich; nach den Erfahrungen dieses Landes wird man der Zeitgenossen, sie stehen morgen in der Debatte keine Außenpolitik gegen die Hälfte der Nation be- der Geschichte. treiben. — Aber schon nach Abgabe der Regierungs- Aber wenn ich auch persönlich diese Politik für erklärung am 28. Oktober 1969 hatte ich persönlich falsch und verhängnisvoll halte, würde ich doch nie das Gefühl: Habe ich nicht meine Wähler, die Wäh- auf die Idee kommen, dem Herrn Bundeskanzler für ler, die ich damals ansprach und denen ich solches den Vollzug seiner Politik ehrenrührige Motive zu gesagt habe, belogen? War nicht insofern mein Ent- unterstellen. Kann ich dann nicht, können dann nicht schluß vom Oktober 1971 eine Art Wiedergutma- meine mitbetroffenen Kollegen verlangen, daß man chung auch an die Adresse dieser Wähler? Verständnis dafür hat, wenn einige frühere Mit- (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von streiter des Herrn Bundeskanzlers die geschlossene, der SPD.) aufrichtige und eindeutige Konzeption, wie sie in der Bundestagsresolution vom September 1968 zum Der Herr Kollege Scheel meinte vorhin — ich Ausdruck kam, nicht so schnell aufgeben, wie er es glaube, es war ein bißchen leichtsinnig —, der Wäh- getan hat und mit ihm der größte Teil der SPD ler habe ein deutliches Gefühl für die Bedenklich- und der FDP? keit von Parteiwechseln. Herr Kollege Scheel, wenn (Beifall bei der CDU/CSU.) ich Ihnen die Zuschriften vorlegte, die mich damals Meine sehr verehrten Damen und Herren, in erreicht haben, als ich meinen Entschluß faßte, zur diesen Themen werden sich noch eingehend kompe- CDU überzutreten, tentere Sprecher als ich mit dem Versagen dieser (Zurufe von der SPD) Regierung in der Reformpolitik, mit der Preisgabe Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11747 Dr. Schulz (Berlin) der Stabilität, mit der inflationären Entwicklung und Fortschritt, Gesetz und Ordnung untereinander und vor allen Dingen mit der falschen demagogi- in einem unauflösbaren Verhältnis stehen. schen Alternative befassen, daß 5 % weitere Infla- (Beifall bei der CDU/CSU.) tion, die nun wirklich kein Mensch mehr vertragen kann, besser sei als 5 % Arbeitslosigkeit; das ist Die moralische und geistige Polarisierung, die auf ein Preis, den auch um die Stabilität kein vernünf- diesem Gebiet eingetreten ist, hat ebenfalls die Bun- tiger Mensch zu zahlen bereit ist und der auch desregierung zu verantworten. Sie hat jedenfalls gar nicht gezahlt werden muß, um dieses Ziel zu nichts Glaubwürdiges dazu getan, sie zu verhindern. erreichen. In diesem Zusammenhang ein sehr nüchternes, (Beifall bei der CDU/CSU.) aber auch sehr ernstes Wort. Wir alle haben in den Ich möchte lediglich noch zu zwei Zitaten aus der letzten Jahren eine erschreckende Eskalation der Regierungserklärung Stellung nehmen. Der Herr Gewalt erlebt. Wenn vor diesem Hintergrund fort- Bundeskanzler hat damals versprochen, er werde gefahren wird mit einer planmäßigen und konse- mehr Demokratie wagen. Aus diesem Wagnis sind, quenten Verleumdung und Verteufelung von Grup- wie wir alle wissen, nicht mehr Demokratie, son- pen, noch dazu von Gruppen, deren Namen bekannt dern mehr Anarchie und eine ernste Gefährdung sind, dann können Konsequenzen eintreten, meine unserer inneren Sicherheit erwachsen. Damen und Herren, die den Urhebern solcher Ver- teufelungen für die Dauer ihres Lebens das ruhige (Beifall bei der CDU/CSU.) Gewissen rauben würden. Ich denke an viele unserer Hochschulen und Uni- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Haeh versitäten, in denen tagtäglich am Art. 5 GG vorbei ser: Laß mal den Müller reden! — Große gesündigt wird, in dem die Freiheit von Lehre und Heiterkeit bei der SPD.) Forschung ausdrücklich an die Treue zur Verfas- sung geknüpft wird. Was an diesen Universitäten — Auch mein Kollege Müller, verehrter Herr Kol- vor sich geht, ist eine bedenkliche Einbuße an Lei- lege, wird Ihnen nichts ersparen. stungsfähigkeit, die Hand in Hand geht mit elitärer Ich darf Sie aber noch darauf hinweisen, daß sich Arroganz und der Entwicklung antidemokratischer, das Selbstbewußtsein dieser Regierung als Toleranz totalitärer Keimzellen mitten in unserer demokra- zu erkennen geben sollte und daß diese Toleranz tischen Gesellschaft, von denen aus planmäßig- die nicht einmal gegenüber dem Grundgesetz, dem Eroberung unserer Schulen, unserer Justiz, ja, sogar Art. 38 des Grundgesetzes gegenüber, aufgebracht der Polizei und der Bundeswehr betrieben wird. wurde. Dieser Artikel war Ihnen lieb und wert, (Beifall bei der CDU/CSU.) als Parteiwechsel — um mich eines althergebrachten Begriffes zu bedienen — in Rechts-links-Richtung er- Bei „mehr Demokratie" denke ich an die er- folgten. Aber in dem Augenblick, als sich die Ten- schreckende Uniformität — Gott sei Dank gibt es denz in den letzten Jahren umkehrte, aus Gründen, noch immer eine ganze Reihe rühmlicher Ausnah- die ich hier darzustellen versucht habe, sprach man men — eines erheblichen Teils unserer Presse ein- von Überläufertum, von Korruption und von Verrat. schließlich Rundfunk und Fernsehen. Ich danke für Aber die Toleranz, das gegenseitige Vertrauen, ist dieses Mehr an Demokratie. Ich spreche dabei ja nicht einmal im eigenen Haus, nicht einmal in nicht wie ein Blinder von der Farbe. Fast 20 Jahre Ihren Reihen am Werke. Ich werde in jeder Wahl- lang bin ich Rundfunkkommentator gewesen und veranstaltung an den 27. April 1972 erinnern, an den weiß, wie sich die damalige Generation der politi- gespenstischen Augenblick, als die SPD-Fraktion tischen Publizistik an ihrem Platz aufrichtig darum auf ihr Recht, ich möchte sagen: ihre Pflicht ver- bemüht hat, die immer noch unpopuläre Demokra- zichtete, an einer geheimen Abstimmung in einer tie in Herz und Hirn dieses deutschen Volkes an- lebenswichtigen Frage teilzunehmen. zusiedeln. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der CDU/CSU: Verzichtet wurde!) Ihre Nachfolger von heute, die professionellen Besserwisser, gefährden das Fundament, das damals Das war damals, meine Damen und Herren von der geschaffen worden ist. SPD, kein Männerstolz vor Königsthronen, oder etwas abgewandelt: kein Männerstolz vor dem (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Wehnerthron, sondern es war ein schwarzer Tag Sie sind auch mitschuldig an dem aberwitzigen für die Toleranz und ein schwarzer Tag für die Kontrast, der heute die öffentliche Diskussion be- Zivilcourage von 230 Parlamentariern. zwi- herrscht, nämlich dem scheinbaren Kontrast (Beifall bei der CDU/CSU.) schen Freiheit und Fortschritt auf der einen und Gesetz und Ordnung auf der anderen Seite, wobei Als der Herr Kollege Barzel vorgestern die Mo- man vorsichtshalber nicht von Gesetz und Ordnung, tive des Parteiwechsels einiger Kollegen bekannt- sondern von „law and order" spricht, weil sich bei gab, haben Sie über die europäische Motivation diesem angelsächsischen Terminus unklare Emotio- meiner Entscheidung gelacht. Sie hätten das nicht nen und Ressentiments in Richtung Vietnam mobi- tun sollen. Denn wenn beispielsweise Herr Helmut lisieren lassen. Jeder Einsichtige in diesem Lande, Schmidt ausgerechnet der Opposition in den letz- der sowohl auf Utopismus wie auf reaktionäre Ge- ten drei Jahren mangelnde Initiativen vorwirft, sinnung verzichtet hat, sollte wissen, daß eine leben- dann darf ich die Gegenfrage stellen: Warum haben dige Demokratie nur existieren kann, wenn Freiheit Sie denn den Initiativgesetzentwurf für die Direkt- 11348 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Dr. Schulz (Berlin) wahl der deutschen Abgeordneten ins Europäische wissensfreiheit des Abgeordneten wird aber meiner I Parlament Ihrerseits sabotiert? Ansicht nach ausgehöhlt, wenn mit diesem Ver- (Beifall bei der CDU/CSU.) fassungsgrundsatz Mißbrauch getrieben wird. Die SPD wird zu erklären haben, warum sie auch Meine Damen und Herren, nach unserem Grund- auf diesem für die Zukunft einer freiheitlich-demo- gesetz leben wir in einer parteienstaatlichen Demo- kratischen europäischen und Weltordnung lebens- kratie, d. h. der Abgeordnete ist Vertreter der Par- entscheidenden Gebiet eine Schwenkung um 180 teien und Vertreter der Wähler. Grad vollzogen und ihren eigenen Entwurf, den Mommer-Entwurf von 1964/65, verbrannt hat. (Abg. Leicht: Nicht der Parteien!) Der Abgeordnete darf nicht in der Lage sein, den Der Parteiwechsel einzelner Kollegen war also Wählerwillen zu verfälschen. ganz eindeutig Wirkung, nicht Ursache. Es ist auch nicht wahr, daß die Entscheidung des 19. November, (Abg. Leicht: Steht das im Grundgesetz?) wie der Herr Bundeskanzler, ich glaube, in Ober- hausen behauptet hat, ein Plebiszit für oder gegen Meine Damen und Herren, wahrscheinlich werden die sogenannten Überläufer sei, für die acht Män- heute noch eine Reihe von Kollegen sprechen wol- ner, die die Partei gewechselt haben. So wichtig len. Ich darf Ihnen sagen, wie etwa der Kollege sind wir wahrhaftig nicht. Müller im November des Jahres 1970, also vor noch nicht ganz zwei Jahren, den damaligen Partei- (Demonstrativer Beifall bei den Regie wechsel von Abgeordneten kritisiert hat. Er hat ihn rungsparteien.) als „schändliches Vorgehen" von Abgeordneten, die — Wie schön, daß Sie mir in dieser Frage Beifall sich nicht an den Wählerwillen hielten, bezeichnet. spenden und damit ihren eigenen Parteivorsitzen- Wörtlich hat er ausgeführt: Es geht nun darum, den und Bundeskanzler desavouieren. Dann sind daß die Regierung in Bonn vier Jahre lang zeigen wir uns ja einig. kann, was sie zu leisten imstande ist. Dann habe der Wähler wieder die Entscheidung; durch ein (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Einkaufen von Abgeordneten dürfe es keinen Re- Eines aber möchte ich noch sagen. Ich persönlich gierungswechsel geben. — Das hat ein Kollege ge- bin stolz darauf, als radikaler, kompromißloser- De- sagt, dessen Name von Herrn Kollegen Barzel in mokrat eine Ehrentafel für Gewissenstäter eingemeißelt (Lachen bei der SPD) wird. mein winziges Teil dazu beigetragen zu haben, die Lassen Sie mich etwas zu dem sagen, was Kol- Lebensdauer dieser Regierung vorzeitig abzukür- lege Schulz von der Verfälschung des Wählerwillens zen. 1969 durch die Bildung der Kleinen Koalition gesagt (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. hat. Er meinte, 90 % hätten sich für die Große Schäfer [Tübingen] : Irrtum!) Koalition ausgesprochen. Jeder, der sich an die Ich bin stolz darauf, als sozialer Demokrat, der ich Situation vor der Bundestagswahl 1969 erinnert, bis zum Ende meines Lebens bleiben werde, der weiß, daß die Entscheidung für den Wähler deut- einzigen noch intakten demokratischen Partei in lich war: Kleine Koalition SPD/FDP — Regierung diesem Lande anzugehören und für sie in den näch- CDU/CSU. Das war die Alternative vor der Bundes- sten Wochen zu kämpfen. tagswahl 1969 genauso wie vor der bevorstehenden Bundestagswahl 1972. Damals hat sich eine Mehr- (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU. — La chen bei der SPD.) heit für die Alternative der Kleinen Koalition aus- gesprochen. Und ein Abgeordneter, der entgegen Ich hoffe auf einen Sieg der CDU/CSU am 19. No- dem Wählerwillen von 1969 sein Mandat einer vember und bin davon überzeugt. Das wird eine neuen Partei, in diesem Falle der Oppositions- Sternstunde unserer bedrohten Freiheit sein, hier partei, überträgt, müßte meiner Ansicht nach ge- in diesem Lande, in Westeuropa und in der gesam- rade hier vor der Offentlichkeit nachweisen, was ten westlichen Welt. sich denn entscheidend geändert hat (Anhaltender lebhafter Beifall bei der (Abg. Leicht: Hat er doch! — Weitere Zu CDU/CSU.) rufe von der CDU/CSU) zwischen der Wahlaussage dieser Koalitionsregie- Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: rung von SPD und FDP 1969 und der praktischen Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Haack. Politik. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Dr. Haack (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen Meine Damen und Herren, wenn hier von mei- und Herren! Die soeben gemachten Ausführungen Außenpolitik kritisiert können nicht widerspruchslos hingenommen werden, nem Vorredner auch die worden ist, dann sage ich, an die Opposition ge- wenn dieses Parlament und das parlamentarische richtet: es ist kümmerlich und erbärmlich, wenn Sie System in der Bundesrepublik Deutschland noch immer noch diese Außenpolitik kritisieren, sich aber, glaubwürdig bleiben wollen. Ich sage das als ein wenn es dann um die Entscheidung im Parlament Abgeordneter, der ein entschiedener Anhänger des Art. 38 GG, der ein entschiedener Anhänger der geht, der Stimme enthalten. Gewissensfreiheit des Abgeordneten ist. Diese Ge- (Erneut Beifall bei den Regierungsparteien.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11749 Dr. Haack Und wenn Sie hier in großen Worten von Freiheit den diese Regierung und diese Politik angeblich und Toleranz sprechen, dann blicken Sie doch nach bekämpfen muß. München, um zu sehen, was mit der Jungen Union (Zuruf von der SPD: Aus „Gewissensgrün geschieht, die sich erlaubte, die Entscheidung des den" !) großen Vorsitzenden Strauß, den Herrn Müller in die CSU aufzunehmen, zu kritisieren. Wo ist dort Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen ganz Freiheit, wo Toleranz? Ein Ausschlußverfahren ge- ernsthaft — und ich darf noch einmal betonen, daß gen diese Sprecher der Jungen Union! ich persönlich ein entschiedener Anhänger des (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ausgerechnet! Art. 38 des Grundgesetzes bin —: wenn Sie diesen Abg. Leicht: Denken Sie einmal an die Artikel auf diese Weise zu mißbrauchen glauben, Jungsozialisten! — Weitere Zurufe von der dann gefährden Sie in Wirklichkeit die Glaubwür- CDU/CSU: Ihr habt es nötig! — Ausgerech digkeit dieser parlamentarischen Demokratie. net!) (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Und es ist direkt makaber, der FDP.) (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ja! — Weitere Wenn Herr Kollege Schulz gerade die Außenpoli- Zurufe von der CDU/CSU) tik als Gewissensgrund hier glaubt vortragen zu meine Damen und Herren, wenn man heute die müssen, dann ist es vielleicht auch ganz zweckmä- zweite Seite des Münchener Lokalteils der „Süd- ßig, eine Äußerung von ihm — sie stammt von deutschen Zeitung" aufschlägt und die große Schlag- einem Landesparteitag der SPD vor einigen Jah- zeile liest: „Für Müller kein Platz in der CSU". Ein ren — in Erinnerung zu rufen. Er sagte: genaues Nachlesen kann einen dann davon überzeu- Für mich ist die deutsche Politik seit einigen gen, daß aber das Mitglied der Jungen Union Mül- Jahren seit der letzten unrühmlichen Ara ler gemeint ist. Das ist Freiheit, das ist Toleranz, Adenauer und während der jetzt hoffentlich zu wenn in der eigenen Partei nicht kritisiert werden Ende gehenden noch unrühmlicheren Ara darf? Sie entwickeln hier große Vorstellungen, Sie Erhard nicht mehr existent. Ich vermag nicht zu machen große Worte, und Ihre eigenen Parteimit- definieren, was in dem Chaos der Gegenwart glieder wollen Sie ausschließen, nur weil sie Kritik - deutsche Politik sein soll. am Vorsitzenden üben? Und er sagte weiter, daß es darauf ankomme, eine (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu neue Politik zu machen, die nur möglich ist unter rufe von der CDU/CSU.) sozialdemokratischer Führung. Hier kommt es darauf an, daß endlich die Gewichte (Heiterkeit bei der SPD.) wieder richtig verteilt werden! Meine Damen und Herren, sicher werden Sie (Abg. Kiep: Sehr wahr! — Weitere Zurufe heute noch versuchen, weitere Redner aufzubieten, von der CDU/CSU: Das kann man wohl die hier ihre Gewissensnot ausbreiten wollen. Ich sagen! — Die Gewichte nach links, meinen glaube, diese Taktik, die Sie hier anwenden wollen, Sie?) ist ein weiterer Grund dafür, daß es höchste Zeit Wenn der Herr Kollege Schulz und künftige Spre- ist, daß dieser Bundestag endlich aufgelöst wird. cher — auch der Kollege Müller, der ja hier sicher (Zustimmung bei Abgeordneten der Regie noch auftreten wird — rungsparteien. — Lachen bei der CDU/ (Zuruf von der SPD: Hoffentlich!) CSU.) von Linksradikalismus und von den Sorgen, die Sie Ich bedaure nur, daß der Wähler nicht unmittelbar bezüglich des Fortbestehens unserer Demokratie mitentscheiden kann, daß der Wähler nicht mit- haben, sprechen, dann sage ich, gerade auch zur entscheiden kann über die politische Integrität von bayerischen Gruppe der CDU/CSU gewandt: Der Abgeordneten und Kandidaten, verbale Radikalismus, wie er uns jede Woche etwa (Sehr wahr! bei der CDU/CSU) im „Bayern-Kurier" gegenübertritt, ist für unsere sondern daß es die Möglichkeit gibt, solche Kan- Demokratie ebenso gefährlich wie andere extreme didaten über Landeslisten abzusichern Richtungen. Das müssen Sie doch endlich einmal zur Kenntnis nehmen! (Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei den Regierungsparteien.) und ohne direktes Wählervotum in das Parlament zu schicken. Wer, meine Damen und Herren, an die Vergeß- (Beifall bei den Regierungsparteien.) lichkeit der Bürger, der Wähler glaubt appellieren zu müssen, dem muß doch — nur an einem Beispiel Ich glaube, daß auch die Rede des Herrn Dr. Bar- — gesagt werden, daß es ein untragbarer Zustand zel vom Mittwoch ein deutliches Schlaglicht auf die ist, daß ein Abgeordneter, der jetzt der CSU ange- politisch-moralischen Wertvorstellungen der CDU/ hört, sich noch im Mai 1972, noch vor vier Monaten, CSU geworfen hat, so daß der Wähler bei dieser als er ein Wählervotum bei einer Kommunalwahl Wahlentscheidung im November dieses Jahres nicht in München haben wollte, für die Fortsetzung der nur über die Sachfragen deutscher Politik zu ent- Regierung Brandt und für die Friedenspolitik aus- scheiden hat, sondern auch über die Frage, welchen sprach und nach vier Monaten aus Gewissensgrün- Stellenwert er der politischen und moralischen Inte- 11750 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Dr. Haack grität von Abgeordneten in diesem Parlament zu- Stimmen mehr als die Partei, und zwar mit dieser erkennt. Haltung, die von mir bekannt war, Herr Kollege (Sehr wahr! und weitere Zurufe von der Schmidt. Sie sind ein Opportunist, der sich immer in CDU/CSU.) München angepaßt hat. Das wissen wir. Wir, die Sozialdemokraten, stellen uns diesem (Beifall bei der CDU/CSU.) Wählervotum, und wir sind davon überzeugt, daß der Wähler richtig zu urteilen weiß, daß er weiß, Ich habe im Mai 1968 da wurde ein Parteiver wo es um Gewissen geht, und daß er weiß, wo es fahren eingeleitet; Sie waren doch Kreisvorsitzender um andere, um vordergründige persönliche oder — ein Plakat gegen die Maiunruhen in Frankreich parteitaktische Ziele geht. in München angeschlagen. Ich wurde von Herrn Teufel und Herrn Jendis vom SDS im August 1968 (Beifall bei den Regierungsparteien.) auf der gemeinsamen Kundgebung mit der Jungen Union gegen den Einmarsch der Sowjets in die

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Tschechoslowakei tätlich angegriffen. Als ich im Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Müller. Jahre 1970 auf einem Unterbezirksparteitag — jetzt reden wir über Demokratie, meine Damen und Her- (Lachen bei der SPD.) ren erklärte, es gebe in der Münchener SPD Leute, die mit Kommunisten zusammenarbeiteten, als ich Dr. Müller (München) (CDU/CSU) : Herr Präsi- nachwies, daß ein Sektionsvorsitzender am Grün- dent! Meine Damen und Herren! Die Diskussion um dungsparteitag der DKP teilgenommen hatte, die Rolle des Parlaments, um die Bedeutung des (Hört! Hört! bei der CDU/CSU) Artikels 38 ist neu entfacht. Es geht um die Frage, ob jemand einem Druck auszuweichen bereit sein nachwies, daß es gemeinsame Flugblätter darf und seinem Gewissen folgen darf oder ob er als (Zuruf des Abg. Leicht) Ausdruck tiefer Gewissensnot und starken politi- schen Willens den Parteiwechsel vollziehen kann. von Jungsozialisten und Kommunisten gab, wurde Vor solchen Leuten, meine Damen und Herren, muß endlich ein Parteiverfahren eingeleitet, aber nicht man den Hut ziehen, gegen diese Leute, die gemeinsam mit Kommunisten etwas machen, sondern gegen mich wegen „Ehrlosig- (Lachen bei der SPD) - keit". denn sie sind Träger wahrhaft humanistischer Gesin- (Beifall bei der CDU/CSU.) nung. (Lachen bei der SPD.) Meine Damen und Herren, ich habe dem Herrn Bundeskanzler in seiner Eigenschaft als Parteivor- Ich finde die Heiterkeit der SPD-Fraktion über die sitzendem das Material gegeben. Ich kann die Briefe Äußerung des SPD-Pressedienstes vom 8. November mit Datum vorlegen. Ich habe keinerlei Unterstüt- 1960 beim Übertritt des CDU-Abgeordneten Nellen zung gefunden, weil es ihm offensichtlich darum zur SPD heute sehr interessant und blamabel. ging, den bequemen Weg der Anpassung gegenüber (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) den linken Kräften in der SPD zu gehen. Wer heute so über Gewissensentscheidungen urteilt, (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) war damals oder heute ein Heuchler und ist nicht Meine Damen und Herren, ich hatte am 14. April bereit, ein Gewissen anzuerkennen. dieses Jahres ein Gespräch mit dem Bundeskanzler. (Beifall bei der CDU/CSU.) Er ließ mich in das Kanzleramt kommen und fragte Entweder ging es ihm damals darum, durch Heuche- mich — es stand die baden-württembergische Wahl lei nach außen einen Eindruck zu erwecken, oder er vor der Tür —, ob ich die Partei verlassen wolle. Ich will heute durch Heuchelei einen anderen Eindruck sagte ihm, daß ich das nicht vor der baden-württem- wieder verwischen, denn konsequent ist die Haltung bergischen Wahl tun werde, weil das eine vielleicht nicht. unfaire Beeinflussung der Wahl sei. Aber ich sagte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.) ihm klar und deutlich, daß ich gegenüber den links- radikalen Tendenzen — nicht nur in München, son- Meine Damen und Herren, es wird immer davon dern in der gesamten SPD — nicht schweigen und gesprochen, daß diejenigen, die ihrem Gewissen daraus die Konsequenzen ziehen werde. folgen, vielleicht ihre Wähler oder den Wähler- (Zuruf von der CDU/CSU.) willen verraten hätten. Meine Damen und Herren, ich wurde in München gegen einen Beschluß der Be- Das hat ihn anscheinend nicht besonders interessiert, zirkskonferenz der Jungsozialisten als Kandidat auf- sondern es ging ihm nur um meine Stimme und nicht gestellt, weil ich diesen Bundeskanzler damals in um den Inhalt der Politik, die hier in Bonn in der der Frage der Notstandsgesetzgebung, als er noch SPD betrieben wurde. Außenminister in der Großen Koalition war, ver- (Beifall bei der CDU/CSU.) teidigt habe. Ich hatte einen Gegenkandidaten, der eine scharfe linke Politik forderte. Er unterlag; ich Meine Damen und Herren, was halten Sie von wurde aufgestellt. Ich wurde mit 27 000 Stimmen einem Unterbezirksvorsitzenden, der zur Eröffnung Mehrheit gewählt, dem höchsten Ergebnis vom Vor- eines Bürger-Forums ein Buch überreicht, in dem sprung her für einen sozialdemokratischen Abge- , Friedrich Ebert und Kurt Schuma- ordneten in Bayern, und ich hatte 4000 persönliche cher als Arbeiterverräter bezeichnet werden, ein Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11351 Dr. Müller (München) Buch, das vom Zentralkomitee der SED herausgege- endlich ein sozialistisches Deutschland errichten zu ben wurde?! Was halten Sie von einem solchen können. Mann?! Er wird wahrscheinlich mein Nachfolger in (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) dem Wahlkreis München-Süd sein, und Sie werden Und Herr Klaus Peter Kisker erklärte dort, daß ihn dann in diesem Bundestag erleben. der Verrat der deutschen Arbeiterklasse in ihren (Hört! Hört! bei der CDU/CSU. — Zuruf Idealen mit dem ersten Reichspräsidenten Friedrich von der CDU/CSU: Und der Kanzler lacht! Ebert begann — auch ein ehemaliges Mitglied Ihrer — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Partei in Berlin, und zwar ein führendes Mitglied. (Zuruf von der CDU/CSU.) Was halten Sie davon, meine Damen und Herren, wenn in der zweiten Januarwoche, wie das in einer Ich könnte diese Litanei hier stundenlang fortsetzen. Gerichtsverhandlung vor 14 Tagen bestätigt wurde, Wer will da nicht glauben, daß der Wählerwille ver- der heutige Landesvorsitzende der SPD, Dr. Vogel, fälscht wird: Unter dem Namen Sozialdemokratie sagte: Wenn die linke Mehrheit in der Münchener treten Leute auf, für die ein Ernst Reuter SPD die Mehrheit in der deutschen SPD bilde, dann kämpfte, für die ein kämpfte. werde er, Vogel, und ich, Müller, in einem Um- Heute wird der Ernst-Reuter-Preis des innerdeut- erziehungslager sitzen. schen Ministeriums, mit 5000 DM dotiert, an ein Mitglied der DKP vergeben. (Hört! Hört! bei der CDU//CSU. — Wieder holte Zurufe des Abg. Strauß zum Bundes (Hört! Hört! bei der CDU/CSU. — Weitere kanzler.) Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Strauß: Erika Runge hat ihn bekommen!) Das ist keine Äußerung des „Bayernkurier", Herr Ernst Reuter würde sich im Grabe umdrehen, wenn Kollege Haack, sondern Ihres Landesvorsitzenden. er das wüßte. Dieser Preis von 5000 DM — jetzt Mich wundert nur die Opportunität dieses Mannes, kommt es noch schöner — wurde dieser Erika Runge der heute bereit ist, sich als Gallionsfigur für Herrn gestiftet für die demokratische Aktion in München, Schöfberger auf die erste Position dieser SPD-Lan- desliste setzen zu lassen. die dann Flugblätter und Presseerklärungen mit der Unterschrift einer langen Reihe von verehrten Kol- (Beifall bei der CDU/CSU.) - legen der Sozialdemokratischen Partei — Slotta, Diesen Leuten geht es doch nicht um eine politische Hansen und Kompanie — herausbrachte, in denen Entscheidung! Diesen Leuten geht es allein um gefordert wurde: Abschaffung von Radio Free Macht und Einfluß! Europe, der Sender müsse endlich verboten werden, obwohl jetzt zur gleichen Stunde der Europarat for- (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) dert, daß diese Sendestationen im Interesse einer Denn sonst wären sie konsequent und würden nicht, wirklich objektiven Information erhalten bleiben. nachdem sie in München gekämpft und die Leute Ich könnte Ihnen hier noch mehr erzählen. Im mobilisiert haben, diese im Schützengraben liegen Wahlkampf wird dazu genügend Gelegenheit gege- lassen und sich glorreich in die Generalstabsarbeit ben sein, und dann bitte, meine Herren — auch hier des Landespräsidiums zurückziehen. in der ersten Reihe —, nicht verleumden! Ich habe (Beifall bei der CDU/CSU.) da noch einiges in petto, was ich im Interesse des Parlaments hier nicht sagen möchte. Was halten Sie davon, Herr Bundeskanzler, daß (Lachen bei der SPD.) auf einem Kongreß, der Ende April in Berlin statt- fand, Ihr Mitglied in der SPD, Professor Klaus Peter — Ihnen würde dann das Lachen ganz gehörig Kisker, und das Bundesvorstands-Mitglied der vergehen. Jungsozialisten, Johano Strasser, auftraten? Auf die- (Beifall bei der CDU/CSU.) sem Kongreß gegen politische Unterdrückung gab Dann bitte nicht verleumden, sondern mit sach- es ein Plakat: in der Mitte eine Eierhandgranate, lichen Argumenten auseinandersetzen! Dann sagen rund herum, wie in einer Monstranz, Patronen, und Sie den Wählern, warum Sie die Jungsozialisten, darunter stand dann: Befreit die politischen Ge- die außerparlamentarische Maßnahmen zur Macht- fangenen! Und dann waren sie aufgezählt: El Fatah, ergreifung vorschlagen — es gibt Zitate, es gibt die Tupamaros, RAF — Rote Armee-Fraktion/Bader- Beschlüsse der Bundeskongresse, die eine sozia- Meinhof. Und dieser Herr Strasser, Bundesvor- listische Gesellschaftsordnung wollen —, nicht aus stands-Mitglied der Jungsozialisten, sprach dort — der SPD ausschließen! Das müssen Sie ja den Wäh- ich stelle ihnen gern das veröffentlichte Protokoll lern erklären: entweder Führungsunfähigkeit — wie zur Verfügung — und zitierte Ihr Wort, Herr Bun- im Kabinett vielleicht — deskanzler, (Beifall bei der CDU/CSU) (Abg. Strauß: Das ist in Buchform erschie nen!) oder einfach gewisse Sympathien mit diesen Leu- ten. Anders kann ich mir das nicht erklären. daß man notfalls die Betriebe mobilisieren müsse. Dieses Wort müsse aber kritisiert werden: denn im (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. van Kern sei es zwar richtig, aber statt „notfalls" müsse Delden: Und Herr Scheel hilft denen noch!) dort „ „notwendigerweise" stehen; denn man müsse Als 1960 von der CDU zur Sozial- notwendigerweise die Betriebe mobilisieren, um hier demokratischen Partei stieß, sagte er, heute könne 11252 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Dr. Müller (München) man als Christ zur SPD kommen, weil diese Partei xime neu formiert worden, die Freiheit der Persön- durch das Godesberger Programm wählbar gewor- lichkeit gegen kollektivistische Gleichmacherei und den sei. Wenn heute das ehemalige Bundesvor- gegen dogmatischen Zwang zu schützen und zu wah- standsmitglied des SDS, der damals schon wegen ren. Im Mittelpunkt aller Überlegungen eines Libe- Ulrike Meinhoff und jener Erika Runge aus dem ralen sollten die Grund- und Freiheitsrechte, die SDS ausschied und dann Mitbegründer des SHB Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht des war, wenn derjenige, der fünf Jahre Bundesvor- deutschen Volkes stehen, seine eigenen Angelegen- sitzender der Jungsozialisten war ,. wenn derjenige, heiten frei zu regeln. Es waren doch gerade die Libe- der 18 Jahre in einer Partei für seine Überzeugung ralen, die nicht nur im Saarkampf, sondern durch- gekämpft hat, heute sagt: ich bin nicht bereit, die gehend von Pfleiderer über bis Umfunktionierung dieses Staates von linksradikalen zu — Elementen auf scheinbar demokratischem Wege (Lachen bei der SPD) hinzunehmen, dann muß man sagen, daß ich heute die SPD verlassen habe ähnlich wie Peter Nellen, hier in diesem Hohen Haus mehrfach darauf hin- nicht weil sie wählbar geworden ist durch das Go- wiesen, daß auf deutschem Boden ein System nicht desberger Programm, sondern weil sie sich von die- sei, das nicht dem frei geäußerten Wil- sem Godesberger Programm wieder abgewandt hat. len der Bevölkerung entspreche und das die Men- schenrechte verleugne. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Der Herr Bundeskanzler hat vom Veto gesprochen, das einige Abgeordnete ausgeübt hätten. Ich glaube, Der Herr Bundeskanzler spricht von einer Verfäl- dieses Veto war notwendig, damit dem Volke drau- schung des Wählerwillens durch Mandatsüberträger. ßen jetzt — fünf Minuten vor zwölf — die Augen Der Wählerwille hat sich am 28. September 1969 geöffnet werden können vor einer Entwicklung, eindeutig manifestiert. Die Christlich Demokratische die uns wieder eine neue totalitäre Schlagseite der Union/Christlich Soziale Union erhielt mit 242 Stim- deutschen Geschichte brächte. men einen großen Vertrauensbeweis. Nur sieben (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU. — Na! Mandate trennten diese größte Fraktion des Hohen Na! bei der SPD.) Hauses von der absoluten Mehrheit. Die Sozialde- - mokraten hatten einen Erfolg, aber sie lagen mit der CDU/CSU nicht Kopf an Kopf, sondern 18 Man- Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: date zurück. Die Freie Demokratische Partei erlitt Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr ihre bisher schwerste Niederlage. Die Zahl ihrer Abgeordnete Dr. Mende. Abgeordneten wurde halbiert, und ihr Stimmenan- (Oh-Rufe von der SPD. — Beifall bei der teil lag bei 5,8 %. CDU/CSU.) Die Fernsehzuschauer werden noch in Erinnerung haben, daß in der Wahlnacht im Hauptquartier der Dr. Mende (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Liberalen am Bonner Talweg zunächst tiefe Nieder- Damen und Herren! Ich habe nicht die Absicht, in geschlagenheit zu verzeichnen war. Doch dann wan- eigener Sache zu sprechen. delte sich das Bild, als noch in der gleichen Nacht, (Zurufe von der SPD.) in der Nacht vom Sonntag zum Montag, im Hand- Aber ich halte es für meine Pflicht, als Mitbegrün- streich eine Koalition gegen den Wählerwillen und der der Freien Demokratischen Partei vor 27 Jah- gegen die stärkste Fraktion dieses Hauses beschlos- ren, als langjähriger Vorsitzender, der die Ehre sen wurde. hatte, acht Jahre an der Spitze dieser Partei zu ste- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Jung hen, und der auch die Ehre hatte, sechs Jahre als meldet sich zu einer Zwischenfrage.) Fraktionsvorsitzender in diesem Hohen Haus diese Partei zu repräsentieren, Ihnen eine Antwort zu Es gibt kein einziges Plakat der früheren Freien geben auf jene Veränderungen grundsätzlicher Art Demokratischen Partei und keine einzige Rede eines in der Freien Demokratischen Partei, die zum Aus- führenden Mannes dieser Partei, worin diese Koali- tritt von genau einem Fünftel der Abgeordneten der tion vor dem Wahltag in Aussicht gestellt wurde. Bundestagsfraktion der FPD seit 1969 geführt ha- (Abg. Gallus: Das stimmt nicht! — Weitere ben und zu einer Halbierung der Wählerstimmen in lebhafte Zurufe von der FDP.) den Landtagswahlen von 1970 bis 1972 geführt ha- ben, desgleichen auf die Frage, warum langjährige Es hieß vielmehr: Wir sind nach beiden Seiten hin Landesvorsitzende dieser Partei wie Heinrich Schnei- offen. der an der Saar, wie Helmut Qualen in Schleswig- (Abg. Strauß: Herr Präsident, hier ist das Holstein, wie in Baye rn diese Par- Wort „Lügner" gefallen! — Anhaltende Un tei verlassen haben. Es muß doch einen tieferen ruhe. — Glocke des Präsidenten.) Grund für jene Veränderungen einer demokrati- Lediglich wenige Tage vor der Wahl hat Walter schen Partei in unserem Land geben, die zu den Er- Scheel in einem Fernsehgespräch mit Kurt Georg schütterungen geführt haben, unter denen auch diese Kiesinger und Willy Brandt erklärt, daß sich Kiesin- Regierung zusammenbricht. ger möglicherweise auf der Oppositionsbank wie- Meine Damen und Herren, der politische Liberalis- derfinden werde. Das hat zu sofortigen Protesten mus ist nach dem zweiten Weltkrieg unter der Ma- und Telegrammen geführt. Noch in der Wahlnacht Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11753 Dr. Mende hat aus München den Rücktritt des Partei- Der Chefredakteur der Linkspostille „Konkret" vorsitzenden Scheel öffentlich gefordert. schrieb es, und viele andere Publizisten von Rang (Hört, hört! und Beifall bei der CDU/CSU.) wiederholten es — ich zitiere —: Noch in der Wahlnacht habe ich mich öffentlich gegen Sozialdemokraten und Kommunisten, Parteilose diese Handstreichkoalition verwahrt und bin mit an- und Gewerkschaftler müssen FDP und nichts deren Kollegen öffentlich dieser undemokratischen als FDP wählen. 1 % zusätzlicher Stimmen Methode entgegengetreten, am Parteivorstand vor- genügen vielleicht, Jungwähler, Gewerkschaft- bei Vorentscheidungen zu treffen. ler und Kommunisten, um die FDP über die Runden zu bringen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Denn es galt, die Verträge zu retten. Vielleicht war Noch am Montagabend fanden sich zehn Bundes- das auch ein Grund, weswegen der Herr Außen- tagsabgeordneten der alten und neuen Fraktion in minister Gromyko, von der üblichen Form ab- Bad Godesberg zusammen und bezeichneten es als weichend, sich in Hessen mit dem Außenminister ausgeschlossen, auf der Basis von 254 Mandaten Scheel traf: um die große „Friedens- und Vertrags- eine Regierung gegen die stärkste Fraktion zu bil- politik" sichtbar für den hessischen Wähler zu doku- den. Ich habe damals öffentlich eine Allparteien- mentieren. regierung vorgeschlagen, weil bezüglich der auf uns (Beifall bei der CDU/CSU.) zukommenden schwerwiegenden Entscheidungen und der notwendigen Reformen, die ja eine Zwei- Besonders schwerwiegend war die Abkehr der drittelmehrheit nötig machten, eine so schwache Freien Demokratischen Partei von der 20 Jahre Mehrheit nicht ausreichen würde. Und ich habe lang unumstrittenen Berlin- und Deutschlandpolitik. mich, , auf Sie berufen, der Sie 1961, Meine Damen und Herren, ich werde nicht frühere nach der Errichtung der Mauer, ebenfalls eine All- Reden, ich werde Programme zitieren. Das Deutsch- parteienregierung forderten. land-Programm, in Berlin 1957 einstimmig beschlos- sen, hat folgenden Wortlaut in bezug auf das Pro- Diese neue Regierung, Herr Bundeskanzler Brandt, blem Deutschland: hatte genau die gleiche knappe Mehrheit, derent- Die friedliche Wiedervereinigung mit Mittel- wegen Sie 1966 nicht bereit waren, sich nach den deutschland und den ostdeutschen Gebieten in Koalitionsverhandlungen mit der FDP dem Wagnis einem Deutschen Reich mit freiheitlicher Ord- einer SPD/FDP-Regierung auszusetzen. nung ist unser oberstes Ziel. Alle innen- und Nun, 254 Mandate gegen 242, diese Rechnung außenpolitischen Anstrengungen müssen in stimmte ja nicht mehr. Wir wissen, daß in den erster Linie der Erreichung dieses Zieles dienen. Koalitionsverhandlungen vier Kollegen entschieden Und dann wird geradezu emphatisch das deutsche vor dieser Regierung gewarnt haben. Allerdings Volk aufgerufen: kam eine Großzügigkeit des Koalitionspartners Wir rufen das deutsche Volk auf, die bisher SPD der FDP entgegen, die in keinem Verhältnis ergebnislosen Bemühungen der Großmächte um stand zu dem erreichten Wahlerfolg der Liberalen, die Überwindung der Spaltung Deutschlands als nämlich drei klassische Ministerien — Innen, durch klare und unermüdliche Willensbekun- Außen und Landwirtschaft — angeboten wurden, dungen für die uns geschuldete staatliche Ein- fünf Staatssekretäre und ein EWG-Kommissar. Da heit zu ergänzen und anzuspornen. stimmten natürlich auch manche zu, die noch in der Wahlnacht entschieden nein gesagt hatten. Die Heimkehr der Saar beweist, daß eine aus- weglos erscheinende außenpolitische Lage durch (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) eindrucksvolle Äußerungen des Volkswillens eine Wende erfahren kann. Wir widersetzen Dann kamen die Landtagswahlen. Ich frage Sie: uns allen Versuchen, der Bundesrepublik den Ist es denn Zufall, daß die Ergebnisse der Landtags- Anschein der Endgültigkeit zu geben. wahlen der Jahre 1970/72 in Nordrhein-Westfalen bei 5,4 '0/0, in Schleswig-Holstein, im Saarland und in Zehn Jahre später im Hannoverschen Aktions- Niedersachsen unter 5 % lagen, so daß die Freien programm, das eine Erweiterung dieses Berliner Demokraten erstmalig seit zwanzig Jahren aus den Programms der Freien Demokratischen Partei be- Landtagen Schleswig-Holsteins, Niedersachsens und deutete, hieß es wiederum zu diesem Punkt: des Saarlandes verschwanden, und daß die FDP in Oberstes Ziel deutscher Politik war und ist die einigen anderen Landtagen nur noch knapp über friedliche Vereinigung der Deutschen in frei- 5 % liegt, daß sie selbst im Stammland Baden- heitlicher demokratischer Ordnung. Dabei sind Württemberg auf die Hälfte ihres Bestandes redu- zu berücksichtigen: die Grundsätze für natio- ziert wurde? nale Selbstbestimmung, freiheitliche Menschen- rechte und das Recht auf Heimat. Die verstärkt Nun wird man sicherlich den Zwischenruf machen: ablehnende Haltung Moskaus und Ost-Berlins Aber Hessen! Die Hessen-Wahl war eine atypische gegenüber der Lösung der deutschen Frage darf Entscheidung, weil sich damals Bundesgenossen uns nicht zur Aufgabe unseres Ziels, sondern fanden aus einer Richtung, die eine liberale Partei nur zur Verstärkung unserer Bemühungen und früher niemals als Bundesgenossen akzeptiert hätte. zur ständigen Anpassung unseres Handelns (Beifall bei der CDU/CSU.) veranlassen. 11754 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Dr. Mende Es heißt dann weiter: Schließlich heißt es dann: Einseitige Vorleistungen sind politisch schäd- Durch die Verbindung mit sozialistischen Par- lich und widersprechen den Interessen aller teien und die Übernahme des Gedankenguts Deutschen. und der Ideologien des Sozialismus sind die (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Liberalen auf eine Bahn geraten, die immer weiter von den Grundsätzen des Liberalismus Noch einmal ist in Hannover 1967 der von Hans- fortgeführt und sie zu Befürwortern und Vor- Dietrich Genscher, dem damaligen Fraktionsge- kämpfern ausgesprochen antiliberaler Zielset- schäftsführer und heutigen Bundesinnenminister, zungen gemacht hat. formulierte Satz bestätigt worden: Es wird doch kaum noch als erregend empfunden, Auf deutschem Boden ist ein System nicht an- wenn Jungdemokraten und Jungdelegierte dieser erkennbar, das nicht dem Volkswillen entspricht neuen FDP erklären, der Marxismus-Leninismus sei und das die Menschenrechte mißachtet. die optimale Erscheinungsform eines fortschritt- lichen Liberalismus, wenn Delegierte auf dem (Beifall bei der CDU/CSU.) Kreisparteitag der FDP in Marburg mit der Lenin- Plakette erscheinen, wenn der Vorsitzende der Vergleichen Sie, meine Damen und Herren, diese Jungdemokraten in Stuttgart eine Rede hält, mit Grundsätze mit dem, was im Moskauer und im dem Zitat Rosa Luxemburgs endend „Die Reformen Warschauer Vertrag beinhaltet ist, und Sie werden sind das Mittel, das Ziel ist die Revolution", und ermessen, wer sich hier von liberalen Grundsätzen wenn ein anderer Jungdemokrat in Freiburg erklärt, entfernt hat! ein Vietkong sei ihm tausendmal lieber als ein (Beifall bei der CDU/CSU.) General der Bundeswehr. Der erste, der die Fraktion verließ — allerdings, Meine Damen und Herren, die Freie Demokra- um nach Brüssel zu gehen —, war jener, früher bei tische Partei, 20 Jahre als Partei der Mitte hand- der Sozialdemokratischen Partei in Hamburg, nun- lungsfähig sowohl mit der CDU wie mit der SPD, mehr bei der FDP senkrecht startende Professor hat diese Mitte preisgegeben. Sie ist zu einer neuen . Als er sein Mandat niederlegte, Linkspartei umfunktioniert worden, die sich schon was für einen Parlamentarischen Staatssekretär — jetzt auf eine Fortsetzung der Koalition festlegt und zumal einen Parlamentarischen Staatssekretär im damit keine Eigenständigkeit und Handlungsfreiheit Auswärtigen Amt — ein außergewöhnlicher Vor- mehr besitzt. gang war, erklärte Professor Ralf Dahrendorf, er mißbillige diese Ostpolitik, sie sei im Ansatz falsch, Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: der Moskauer Vertrag führe zur Anerkennung Herr Abgeordneter Mende, entschuldigen Sie, aber sowjetischer Hegemonieansprüche auf ganz Deutsch- Ihre Redezeit ist abgelaufen. land und Europa. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Dr. Mende (CDU/CSU) : Ich schließe mit einem Diese Politik wolle er mit seinem Namen nicht Satz, Herr Präsident. Als ich die nicht einfache Ent- verantworten. scheidung traf — ich wußte, was auf mich wartet und wie ich einigen publizistischen Sadisten ausgeliefert Meine Damen und Herren, das und vieles andere sein würde wie mancher andere, der in Deutschland ist die wahre Ursache für die Krise, die zunächst nicht nach links geht —, unid Dr. Reinhold Maier in bei den Liberalen, dann im Kabinett und nunmehr in Stuttgart anrief, erklärte mir Dr. Reinhold Maier am der ganzen Bundesregierung zu verzeichnen ist. Abend des 8. Oktober 1970 und später schriftlich: Schließlich möchte ich als letzten aus dem Kreis Ich bedaure Ihren Schritt, aber ich habe volles vieler Journalisten, die dieselbe Überzeugung Verständnis für Ihren Entschluß. Diese FDP ist haben, Heinz Pentzlin zitieren, der in der „Welt" nicht mehr unsere Partei. Was haben die ande- schrieb: ren daraus gemacht? Wäre ich so alt wie Sie, Herr Mende, ich würde genauso handeln wie Zwiespältig klingen die Aussagen der FDP. Auf Sie. Aber ich bin über 80 Jahre alt. Da ist es zu der einen Seite erklären die Männer an der spät, um noch zu kämpfen. Wir bleiben wie Spitze dieser Partei, daß sie der alten liberalen bisher gute liberale Freunde. Tradition entsprechend für eine freie Wirt- schaftsordnung eintreten und in der Koalition Das ist die Einschätzung der heutigen Freien Demo- mit der SPD den Sozialisierungsabsichten ihres kratischen Partei und auch die Einschätzung meines Partners entgegenwirken. Auf der anderen damaligen Schrittes. Seite fordern sie eine Reform des Kapitalismus (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU.) und haben dafür in ihrem Programm, den Frei- burger Thesen, Maßnahmen vorgesehen, die, den systemüberwindenden Zielsetzungen der Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Jungdemokraten entsprechend, zu eingreifen- Meine Damen und Herren, das Wort hat der Bundes- den Veränderungen unserer Wirtschaft und minister Ertl. zum Ende der auf Privateigentum und Unter- nehmerinitiative beruhenden Marktwirtschaft Ertl, Bundesminister für Ernährung, Landwirt- führen müssen. schaft und Forsten: Herr Präsident! Meine Damen Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11755 Bundesminister Ertl und Herren! Ich höre zu jenen, die wegen Erich dann müßte Herr Scheel ja ein Telegramm bekom- Mende einmal zu den Freien Demokraten gegangen men haben. sind, und muß bitter zur Kenntnis nehmen, daß er (Zurufe von der CDU/CSU.) mit unwahren Angaben in dieser Stunde erneut be- Nachdem Herr Scheel aber in der Nacht — das ist weist, wie sehr ich mich bei ihm getäuscht habe. Ich auch festgehalten — niemals von mir ein Tele- stelle hier fest: Herr Mende hat wahrheitswidrig gramm bekommen hat, sondern von Herrn Werner, behauptet, es habe ein Telegramm von mir gegeben. kann ich nur nochmals sagen: beide behaupten die Richtig ist: Es kam ein Telegramm von Herrn Unwahrheit. Werner, möglicherweise auf Absprache und Vor- Übrigens: Ich könnte noch einiges dazu ergänzend rede, und es gab kein Telegramm von Ertl. Daß Herr sagen. Vielleicht kann ich das noch im Wahlkampf Werner später — wie Herr Mende — zur CSU ge- tun. Das läßt sich gern tun. gangen ist, sollte die Logik deutlich machen. Richtig ist weiter, daß Herr Mende mich veranlassen wollte (Beifall bei den Regierungsparteien. — und veranlaßt hat, mein Wort zu geben, nicht eine Lachen bei der CDU/CSU.) Koalition mit den Sozialdemokraten im Jahre 1966

einzugehen, und er selber dann hinter meinem Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Rücken um das Amt des Außenministers verhandelt Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Kleinert. hat. Es tut mir furchtbar leid, ich hätte Herrn Erich Mende diese Blamage erspart. Aber es trifft mich, Kleinert (FDP) : Meine sehr verehrten Damen! daß ein Mann wie Erich Mende in diesem Hause zu Meine Herren! Wir haben es hier mit der pein- Unwahrheiten greift. lichsten Wahlkampferöffnung zu tun, die dieses (Beifall bei den Regierungsparteien.) Land je gesehen hat. (Beifall bei den Regierungsparteien.)

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie, im Besitze einer Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Starke zu ganzen Reihe vernünftiger politischer, sachlicher einer Bemerkung dazu. Vorstellungen — wie wir überhaupt nicht bestrei- ten —, darauf verzichten, heute diese Vorstellun- - gen dem Volke in dieser Republik vorzutragen, son- Dr. Starke (Franken) (CDU/CSU) : Herr Präsi- dern daß Sie es statt dessen für richtig halten, hier dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich ein Konglomerat von Männern auftreten zu lassen, habe nur ganz wenige Sätze zu sagen. Ich hatte nicht die aus den unterschiedlichsten, zum Teil auch aus die Absicht, heute zu sprechen. respektablen Gründen einen Schritt getan haben, der immerhin und Gott sei Dank im ganzen Lande, ge- linde gesagt, mit sehr viel Bedenken gesehen wird, Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Herr Abgeordneter Starke, mir ist gesagt worden, mit sehr viel Bedenken, Sie wollten nur zur Bemerkung von Herrn Ertl Stel- (Beifall bei den Regierungsparteien) lung nehmen. wie in früheren Zeiten insbesondere Herr Dr. Mende nicht müde geworden ist, dasselbe zu betonen. Die Dr. Starke (Franken) (CDU/CSU) : Ich will nur Worte, mit denen Herr Dr. Mende seinerzeit den Herrn Ertl sagen, daß ich neben ihm gestanden habe, Schritt von Herrn Stammberger, als er die FDP ver- als er dieses Telegramm guthieß, das Herr Mende lassen hat, gegeißelt hat, die möge er sich doch hier zitiert hat. liebenswürdigerweise noch einmal nachlesen. (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von Nun einiges mehr Grundsätzliches. Ich bin aus der FDP.) Gründen des Lebensalters kein Gründungsmitglied der FDP. Ich bin aber seit 1953 Mitglied des Libe- ralen Studentenbundes gewesen und seit 1957 im- -Vockenhausen: Vizepräsident Dr. Schmitt merhin auch Mitglied dieser Partei. Denn wir, un- Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr sere Generation, waren der Meinung, daß es sehr Bundesminister Ertl. wohl zwischen konservativen und sozialen bzw. (Abg. Rösing: Gehen Sie lieber weg! Er sozialistischen Kräften hier eine liberale Gruppie- sparen Sie dem Hause das!) rung braucht, die sich auch politisch, nämlich durch — Herr Abgeordneter Rösing, der Herr Minister hat eine Partei, artikuliert. In dieser Situation haben wir interveniert, und ich habe dem Kollegen Dr. Starke uns der FDP angeschlossen mit sehr klaren, sehr die Möglichkeit gegeben, darauf zu antworten. Ich sachlichen Vorstellungen. Wir waren nur gelegent- finde es nicht fair, wenn Sie den Herrn Bundesmini- lich etwas deprimiert darüber, daß einige der Älte- ster hier nicht mit Respekt anhören. ren im Gegensatz zu unserer Auffassung reichlich viel Emotionales in das parteipolitische Geschäft (Abg. Rösing: Das tun wir ja auch!) hineingebracht haben, insbesondere aus der Rich- tung eines nun einmal nicht mehr zeitgemäßen na- tionalen Engagements, Ertl, Bundesminister für Ernährung, Landwirt- schaft und Forsten: Wenn dem so wäre, wie Herr (Oh-Rufe von der CDU/CSU — Abg. Win Starke und Herr Mende falscherweise behaupten delen: Fragen Sie mal Herrn Bahr! — — sie müssen offensichtlich ihr Soll erfüllen —, Weitere Zurufe von der CDU/CSU) 11756 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Kleinert das in dieser Form unsere vernünftigen Bemühun- Sie haben viel darüber gesprochen. Es ist in dem gen gerade für unser Volk nur zu belasten in der Zusammenhang, über den wir uns gerade unterhal- Lage war. ten, nicht gut, daß Sie so tun, als wären Sie nicht Nun eine Erinnerung, die bei uns allen Narben Vorsitzender gewesen und als hätte ein Vorsitzen- hinterlassen hat, dicke Narben, die heute noch oft der einer Partei nicht eine Verantwortung für das, schmerzen, weil nämlich in diesem Lande viele was ein solches Gremium am Ende beschließt. Das nicht müde werden, daran zu rühren. Wir haben hat doch gar nichts miteinander zu tun. 1961 dann einen Wahlkampf geführt mit höchstem (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Einsatz, mit viel Begeisterung. Wir haben die Stun- CDU/CSU.) den nicht gezählt, und wir haben keinen Unter- Wir wissen doch, wie politische Willensbildung zu- schied zwischen Tag und Nacht gemacht, um damals stande kommt. — 1961 — der FDP zu einem Wahlsieg zu verhel- fen, zu einem Wahlerfolg gegen eine im ganzen Volk als verderblich angesehene Politik der CDU/ Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: CSU unter . Herr Abgeordneter Kleinert, gestatten Sie eine Zwi- schenfrage des Abgeordneten Erhard (Bad Schwal- (Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. van bach)? Delden: Jetzt macht ihr denselben Fehler mit der SPD, und ihr fliegt wieder rein!) Erhard (Bad Schwalbach) (CDU/CSU) : Herr Kol- — Herr van Delden, wir haben damals das beste lege Kleinert, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu Wahlergebnis erzielt, das diese Partei je hatte. Wir nehmen, daß der von Ihnen eben zitierte frühere waren bei 13 %. Dann ist Herr Dr. Erich Mende her- Abgeordnete und frühere Fraktionsvorsitzende der gegangen und hat das getan, was er heute anderen FDP, Herr Kühlmann-Stumm, inzwischen Mitglied völlig zu Unrecht vorwerfen will, und hat diesen der CDU geworden ist. Erfolg aus Mangel an Führungsqualität verspielt und hat die Partei in der Stunde, in der sie sich (FDP) : Er ist, Herr Erhard, Mitglied im wirklich zu einer breit tragfähigen dritten Kraft Kleinert hätte entwickeln können, mit dem Odium des Um- Landesverband Hessen geworden, wo sich inzwi- falls belastet, das ihr bis heute anhaftet. Das war schen ohne Rücksicht auf seinen Wohnort auch Herr kein liberaler Umfall, sondern das war präzise ein Mende angesiedelt hat. Das möchte ich ausdrück- Mende-Umfall. lich als eine besondere Ironie des Schicksals hervor- heben; ich hätte es wahrscheinlich auch ohne Ihre (Beifall bei den Regierungsparteien.) Frage noch getan. Ich habe hierüber in den letzten Tagen inter- (Beifall bei den Regierungsparteien.) essanterweise die intimsten Äußerungen und die Äußerungen mit der größten Sachnähe von Herrn Im Jahre 1966 waren Sie, Herr Dr. Mende — Sie von Kühlmann-Stumm gehört. Herr von Kühlmann- haben es vorhin selbst durchblicken lassen —, be- Stumm hat nämlich nicht einmal, sondern zu ver- reit, mit der Sozialdemokratie zu koalieren. Heute schiedenen Malen geschildert, wie erbittert er mit ziehen Sie aus dem gleichen Vorgang einen anderen Ihnen, Herr Dr. Mende, seinerzeit gerungen hat, um Schluß. Das finde ich von der Argumentation her zu erreichen, daß die FDP den seinerzeitigen Erfolg einfach unredlich. nicht verspielt. Nun muß hier leider auch noch das ganz Entschei- dende gesagt werden. Es ist wohl im Jahre 1969 Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: gewesen, als ich während meines Urlaubs auf Sylt Herr Abgeordneter Kleinert, gestatten Sie eine Zwi- in der Tenne zu Kampen hörte, wie Sie in der Art schenfrage des Herrn Abgeordneten Mende? eines Conférenciers versucht haben, der dort ver- sammelten Gesellschaft IOS-Papiere zu verkaufen. Kleinert (FDP) : Auch das. (Unruhe in der Mitte.) Ich hätte mich — nach meinem hoffentlich möglichst Dr. Mende (CDU/CSU) : Herr Kollege Kleinert, späten Tod — im Grab umgedreht, und ich hätte es würden Sie zugeben können — spätestens auf einfach nicht ausgehalten, wenn ich gewußt hätte: Grund der Archive des Bonner Talwegs —, daß nach Der Mann, der da während der Urlaubszeit der einer zwölfstündigen Debatte der Hauptausschuß — , Schickeria mit losen Sprüchen Papiere zu verkaufen das zweitstärkste und zweithöchste Gremium der sucht, von denen andere schon vorher wußten, daß Freien Demokratischen Partei, die damalige Koali- sie nichts taugen, ist Vorsitzender der Freien Demo- tionsvereinbarung mit der CDU/CSU mit Zweidrit- kratischen Partei. telmehrheit gebilligt und die Kompromißlösung mit Bundeskanzler Adenauer bestätigt hat, nämlich die (Beifall bei den Regierungsparteien.) Entscheidung, die Sie jetzt einen persönlichen Um- fall meinerseits nennen? Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Herr Abgeordneter Kleinert, gestatten Sie eine Zwi- Kleinert (FDP) : Sie haben immer sehr viel von schenfrage des Herrn Abgeordneten Ott? Offiziersehre gehalten, Sie haben sehr viel von Führungsqualitäten gehalten. Ott (CDU/CSU) : Herr Kollege Kleinert, sind Sie (Zurufe von der Mitte.) mit mir der Meinung, daß die Beraterverträge, die Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11757 Ott sogar Staatssekretäre dieser Bundesregierung abge- solche Mitglieder des Deutschen Bundestages, die schlossen haben, etwas viel Miserableres sind, als mit ihrem Mandat zur Gegenseite, in diesem Fall wenn jemand draußen im Wirtschaftsleben sein zur CDU/CSU, gegangen sind. Ich habe das Gefühl Geschäft betreibt? — entschuldigen Sie —, daß Sie, die Sie sich hier sozusagen vorgestellt haben, weder eine Trumpf- karte der Union noch eine Trumpfkarte der Koali- Kleinert (FDP) : Herr Ott, über diese Frage müß- ten Sie sich einmal mit 400 000 Menschen unter- tion sein werden. halten, darunter Kleinrentner und viele Angehö- (Beifall bei den Regierungsparteien.) rige des Mittelstands, die ihre Altersversorgung Im übrigen werden sich die Wählerinnen und Wäh- sichern wollten, die Opfer dieser, gelinde gesagt, ler ihr Urteil bilden. Mich hat jemand darauf auf- grobfahrlässigen Politik gewesen sind, dieses Ein- merksam gemacht, wie es dem früheren, inzwischen satzes eines Namens, der unter anderen Umständen verstorbenen Kollegen Herrn Rehs gegangen ist, als erworben worden ist, für eine Sache, von der kluge er einen bombensicheren Wahlkreis bekam und die Leute vorher gewußt haben, daß sie schlecht war, Wähler zu entscheiden hatten. Ich rede nicht gern von der Herr Mende vielleicht nicht gewußt hat, daß über Verstorbene, auch wenn sie zu denen gehören, sie schlecht war, die sich aber jedenfalls zum Schluß die politisch enttäuscht haben. Andere wiederum ganz eindeutig und unbestreitbar als schlecht er- haben sie natürlich erfreut. Nur „Trumpfkarten" wiesen hat. Das war der einzige Grund, der dazu sind alle diese nicht, so ehrenwert ihre Motive in geführt hat, Herr Dr. Mende, daß Ihnen in den Füh- ihren eigenen Augen und Urteilen sein mögen; das rungsgremien unserer Partei erklärt worden ist, will ich gar nicht abstreiten. diese beiden Tätigkeiten ließen sich nicht verein- baren. Damit und mit sonst gar nichts begann ein (Beifall bei der SPD.) Wandel in der Meinung, den Sie heute mit vielen Das sind — das muß man freimütig sagen — Be- schönen Worten und sehr wenig sachlich-konkretem gleiterscheinungen einer schwierigen Legislatur- Gehalt in einer ganz anderen Weise darzustellen periode, dieser 6. Legislaturperiode, die vorzeitig, versuchen. Wenn Sie geschwiegen hätten, hätten nach noch nicht vollen vier Jahren, abgeschlossen auch wir ganz bestimmt geschwiegen. Es ist uns werden muß, einer Legislaturperiode, in der erst- höchst peinlich, daß Sie so viele Jahre unser Vor- mals ein sozialdemokratischer Bundeskanzler und sitzender waren. Aber es wird doch noch erlaubt eine Koalition der Sozialdemokraten und der Freien sein, die wahren Gründe hier einmal ganz klar und Demokraten gearbeitet haben. Sicher, das stimmt trocken auf den Tisch zu legen. Das habe ich hiermit nachdenklich, mich auch, verehrte Herren. Es hat getan. früher oft von draußen und auch in eigenen Diskus- (Beifall bei den Regierungsparteien.) sionen Fragen gegeben, ob denn dieses unser Land, die Bundesrepublik Deutschland, schon die eigent- liche Prüfung in bezug auf Demokratie bestanden Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Das Wort hat der Abgeordnete Wehner. habe. Man sah diese im Wechsel, in einem wirkli- chen Wechsel. Wir haben in dieser Periode erlebt, wie furchtbar schwer für alle Beteiligten ein wirk- (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen Wehner licher Wechsel ist, Sie, meine Damen und Herren und Herren! Der Herr Kollege Dr. Schröder hat seine von der CDU/CSU aus Ihren Gründen und wir auch. Diskussionsrede mit der Erklärung abgeschlossen, Da muß man wohl noch eine ganze Menge dazu- Deutschland brauche eine besere Regierung. Was lernen. Hoffentlich gibt Ihnen und uns die 7. Legis- inzwischen vorgestellt worden ist, laturperiode dazu konkrete Gelegenheit. (Zurufe von der CDU/CSU: Von Herrn (Beifall bei den Regierungsparteien.) Kleinert!) Diese von Bundeskanzler Willy Brandt geführte ist eine CDU und eine Opposition, von der ich, weil Regierung und die sie tragende Koalition der Sozial- ich andere Auffassungen über solche Art von Wün- demokraten und der Freien Demokraten standen schen habe, sagen könnte: wir brauchten eigentlich der Aufgabe gegenüber, nach 20 Jahren CDU-Regie- insgesamt eine bessere CDU. Aber das ist Ihre rungsführung die Bundesrepublik im Innern und Sache. nach außen zu befähigen, den Notwendigkeiten und (Beifall bei den Regierungsparteien.) den Bedürfnissen der Menschen unserer Zeit gerecht Ich wollte mich hier bei Herrn aus- zu werden, dabei die Kontinuität unserer Staatlich- drücklich bedanken für das, was er hier zur Politik, keit als Bundesrepublik Deutschland, ihrer Verflech- zur politischen Entwicklung und auch zu gewissen tung in den Europäischen Gemeinschaften des We- kritischen Seiten gesagt hat. stens und ihrer westlichen Bündnispartner zu wah- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ren. Dies alles zusammen war nach so viel Gewöh- nung — dies gilt auch für den Staatsapparat, wenn Ich schließe mich voll seinen Bemerkungen z. B ich das sehr zurückhaltend sagen darf; die Gewöh- darüber an — wenn ich auch die Meinung habe, sie nung an diesen Apparat ist nun einmal ganz natür- wären, an die Opposition gerichtet, vergeblich —, lich — an 20 Jahre CDU-Regierungsführung an und daß man Krisen nicht herbeireden dürfe. Das war für sich schon eine Aufgabe. Darüber hinaus mußte politisch und staatsmännisch richtig. vieles aufgeholt werden, was in 20 Jahre CDU-Re- Heute morgen ist hier von einem der Sprecher das gierungsführung nicht oder noch nicht angefaßt wor- Wort „Trumpfkarte" gesagt worden in bezug auf den war — das ist zunächst gar kein Werturteil —, 11758 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Wehner darunter auch vieles, das nach unserem Urteil ver- darüber nicht mehr zu ereifern, denn die Sache ist nachlässigt oder in Richtungen entwickelt worden bei den Akten, weil im Ringen darum, überhaupt war, die nach unserer Meinung nicht mehr stimmen ein Rentenreformgesetz zustande zu bringen, dieser oder mit denen wir uns nicht abfinden konnten und Grundbetrag eben von den Koalitionsfraktionen zu- abfinden werden, weil wir in wesentlichen Fragen rückgezogen worden ist. Aber es muß doch wohl eine andere politische Auffassung haben, was ja erlaubt sein, und es ist vielleicht sogar sinnvoll, wohl legitim ist, genauso wie es legitim ist, daß Sie die Motive zu würdigen. Und das tat z. B. Herr eine andere haben. Schellenberg. Nur, wir hören nicht mehr aufeinan- der. Ich bringe das nur in eine Beziehung zu dem, Die Debatte, die in den vergangenen 48 Stunden was der von mir zitierte Herr aus Ihren Reihen z. B. über die Rentenreform geführt worden ist — gesagt hat. Schellenberg sagte: haben Sie keine Angst, ich will sie nicht wieder- beleben —, gab mir Im Jahreszeitraum vom 1. Juli 1972 bis zum 30. Juni 1973 wäre dieser laufende Grundbetrag (Abg. Windelen: Dazu haben Sie auch kei für alle Rentner und Witwen mit einer Rente nen Anlaß!) von bis zu 421 DM vorteilhafter gewesen. Das — Sie sind so finster, Herr Windelen; es wird sich wäre für 6,7 Millionen der insgesamt 10 Millio- alles noch aufheitern, nehme ich an — nen Rentner, darunter 90 % der berufs- und (Heiterkeit bei der SPD) erwerbsunfähigen Frauen und 77 % aller Wit- wen, günstiger gewesen, als die vorgezogene manche Gelegenheit zur Nachdenklichkeit. Herr Anpassung. Geisenhofer z. B. sagte am Mittwoch bei dem an und für sich lobenswerten Versuch, zu begründen, wes- Sie teilen diese Meinung nicht. Es gibt überhaupt unterschiedliche Meinungen darüber. halb bei der Rentenreform etwas für die Frauen mit kleinen Renten getan werden müsse: Der große An- (Abg. Katzer: Wir haben es belegt!) teil der Frauen, die begünstigt werden, erklärt sich — Nur die Motive, Herr Katzer, sind ja wohl nicht daraus, daß die Lohndiskriminierung der Frauen einfach zu mißachten. Sie haben das nicht gewollt. früher ganz besonders groß war; das soll nun berei- Und als man uns dann hier fragte — das geschah nigt werden. Ich habe einmal im Protokoll nachge- in der Debatte durch den Herrn Kollegen Ruf —, - sehen und habe dort einen meiner, wie Sie in die- warum wir denn, wenn das so wichtig und auch so sem Fall bemerkt haben werden, wenigen Zwischen- gut wirksam gewesen wäre, diesen Grundbetrag auf- rufe gefunden. Ich habe, als er diesen wichtigen gegeben hätten, habe ich gesagt: unter dem Druck Satz sagte, nämlich daß die Lohndiskriminierung einer Erpressung. Herr Schellenberg hat es sachlich der Frauen früher ganz besonders groß gewesen sei gesagt, daß nämlich Sie nicht nur als Fraktion die- und das nun bereinigt werden solle, sozusagen fra- sen Plan abgelehnt hatten, sondern daß auch schon gend eingeschoben: „Das haben auch die Sozialde- von vornherein im Bundesrat die 21 : 20-Mehrheit mokraten zu verantworten, nicht wahr?" So ist Ihre der CDU/CSU-geführten Länder das zunichte ma- Art, alles, was geschieht, zu kommentieren und zu chen würde. Das ist so; mit solchen Realitäten müs- analysieren. Das macht es natürlich schwierig. Ich sen wir rechnen und haben wir rechnen müssen. An kann mir vorstellen, daß es schwer ist, von dem der Situation dort im Bundesrat ist ja auch so bald Roß herunterzukommen, auf dem Sie sitzen; das ist nichts zu ändern. sicherlich schwierig. Ich sage noch einmal — werden Sie bitte nicht un- Oder nehmen wir eine andere Sache dieser Pe- geduldig; ich will die Debatte nicht wiederholen —, riode, das neue Betriebsverfassungsgesetz, das ein worauf es mir ankommt, ist, einiges aus diesen zwanzig Jahre in Geltung gewesenes Gesetz abzu- jungen Erörterungen in eine Beziehung zu nicht un- lösen hatte. Auch einer aus Ihren Reihen — wenn wesentlichen Erfahrungen in dieser Periode des auch jetzt noch nicht Mitglied dieses Hauses —, Herr Bundestages zu bringen. Da ist einmal die Erfah- Dr. Blüm von den Sozialausschüssen, hat ja damals rung mit unserem Versuch, denjenigen, die sich gemeint, nach zwanzig Jahren müsse tatsächlich ein unten am Fuße unserer sozialen Pyramide befin- neues Betriebsverfassungsgesetz in Kraft treten, und den, etwas mehr zukommen zu lassen, als ihnen zu- dieses, das wir zustande gebracht haben, sei unbe- käme, wenn lediglich lineare Erhöhungen oder Zu- streitbar besser. schläge gegeben würden. Nun, sehen Sie, meine Damen und Herren, wenn (Beifall bei der SPD.) man sich im politischen Streit so ineinander ver- Man mag darüber streiten, ob das richtig ist, ob das beißt, wie wir es hier erlebt haben — ich denke da sinnvoll ist, ob das, wie manche sagen, systemge- an die Debatten der letzten Tage, aber nicht nur recht ist. Nur, Sie sollen unsere Absicht kennen! an sie —, dann wird leicht Ursache mit Wirkung Sie teilen sie nicht; wir werden sie auf andere verwechselt. Das ist menschlich. Mein Freund Schel- Weise immer wieder an- und durchzubringen versu- lenberg hat in der Debatte, auf die ich noch ein- chen, weil wir sie für eine Absicht halten, die legi- mal zurückblende, z. B. versucht, Ihnen die sozia- tim ist und die unserer Auffassung entspricht. len Wirkungen dessen, was man mit einem Fach- begriff den „Grundbetrag" nennt, darzustellen, die Das haben wir z. B. mit dem ersten Gesetz, das sozialen Wirkungen eines Versuches, den die Koali- diese Regierung nach 1969 vorgelegt hat, dem tionsfraktionen in ihre Vorlage für die Rentenge- Gesetz über die Versorgung der Kriegsopfer und setze eingearbeitet hatten. Wir brauchen uns jetzt Hinterbliebenen, bezüglich der Witwen gemacht. Es Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11759 Wehner geschah genau mit dem Blick darauf, den Abstand wie man es in Ihren Publikationen, Reden und derer, die am Fuß der Pyramide sind, zu denen, die Verlautbarungen in bezug auf Hochschulreform und weiter oben sind, verringern zu wollen. Das heißt, Bildungsplan lesen kann, machen Sie es sich zu wir gehen auf Veränderungen in der Struktur zu- leicht. Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie mei- gunsten der am meisten Benachteiligten. nen, Langsamkeiten und auch stockende Schritte bei (Beifall bei den Regierungsparteien.) uns könnten Sie allein dieser Bundesregierung an- lasten. Sie wissen selbst ganz genau, daß liegt auch Das leugnen wir nicht, und das steht für uns im in dem schwierigen Bund-Länder- und Länder-Bund- Einklang mit dem, was sich aus Rentenversicherung Verhältnis, mit dem alle zu tun haben werden. und Leistungsprinzip ergibt. Dieser Absicht, meine Damen und Herren, sind wir auch bei dem Versuch (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu ruf des Abg. Dr. Wörner.) treu geblieben, der nun „Grundbetrag" genannt wurde. Nichts Nachträgliches dazu. Wir sind in die- — Sicher, Herr Sprecher für Verteidigungsfragen, sem Falle unterlegen, Sie haben mit Ihrem Vor- da ist es ja einfacher. Aber in den anderen Fragen, schlag obsiegt. Ich wollte nur noch einmal sagen, von denen ich jetzt gerade spreche, ist es so, und welche Gründe unsere Vorschläge und unsere Vor- das wird jeder merken. stöße in dieser Hinsicht, die sich immer wiederholen Ich will Ihnen gar nicht vorwerfen, Sie seien extra werden, haben. allesamt gegen sozialstrukturelle Veränderungen Zum anderen ist da die Tatsache, daß die CDU/ zum Wohle der sozial Benachteiligten. Aber ich CSU-Länderregierungen im Bundesrat gerade dieses kann nicht umhin, Ihnen aus den Erfahrungen die- Gesetz, von dem ich eben als dem ersten Gesetz ser Periode des Ringens vorzuwerfen oder — we- sprach, das wir hier eingebracht und entschieden niger pathetisch gesagt — zu attestieren, daß Ihre haben, in den Vermittlungsausschuß verbannten. Feindschaft gegen die Sozialdemokratie so weit Sie von der CDU/CSU hatten in nicht wenigen geht, selbst augenfällige Versuche, zu sozialstruk- Fällen die Unterstützung der 21 zu 20 Stimmen im turellen Verbesserungen zu kommen, zunichte ma- Bundesrat, wo man ja die vier Stimmen des chen zu wollen, wenn sie etwa von Sozialdemokra- Senats von Berlin auch nicht rechnet. Ich werfe ten unternommen werden; das ist die Situation, in Ihnen nicht vor, daß die CDU/CSU-Länderregierun- der wir noch miteinander ringen. gen von ihren Möglichkeiten Gebrauch machen,- (Beifall bei den Regierungsparteien.) Gesetze, die von einer Mehrheit des Deutschen Bundestages beschlossen worden sind, vom Bundes- Das haben wir am Monster-Beispiel Rentenreform rat aus aufzuhalten, auch dann, wenn Länderinteres- gesehen. Dabei ist mir übrigens eingefallen, was sen — man kann sie mit der Lupe suchen — nicht Fürst Bismarck, der Kanzler, seinerzeit gesagt hat: berührt waren. Es geschah eben aus Gründen der Wenn es keine Sozialdemokraten gäbe, und Unionsräson. So ist es geschehen mit dem erwähn- wenn nicht eine Menge Leute sich vor der So- ten Gesetz über die Versorgung der Kriegsopfer zialdemokratie fürchteten, dann würden die und Hinterbliebenen; so ist es zum Beispiel mit mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt in der einem Gesetz ganz anderer Art geschehen, nämlich Sozialreform bisher gemacht haben, auch noch dem zum Ausgleich der Einbußen der Landwirte aus nicht existieren. der Kursdifferenz zwischen D-Mark und Grünem Dollar in der EWG; so ist es mit dem Betriebs- (Beifall bei den Regierungsparteien. — verfassungsgesetz geschehen. Da wollte man es Abg. Katzer: Das ist alles so rührend!) sogar zweimal machen, wie Sie es mit anderen Dies aus unserer geschichtlichen Wirklichkeit und Gesetzen auch gemacht haben. Das ist geschehen mit Entwicklung. Sie werden das nie, nie brauchen, und den Gesetzen zum Mieterschutz und für eine bessere ich möchte auch Sie in diesem Zusammenhang außer Regelung des Verhältnisses zwischen Mietern und acht lassen. Vermietern. So ist es auch mit dem Städtebauförde- (Abg. Katzer: Das glaube ich!) rungsgesetz und mit vielen anderen Gesetzen ge- schehen. Ich glaube, daß wir verschiedene Vorstellungen Sicher, Sie freuen sich über diese unsere schwache von der Arbeiterbewegung haben und wir uns nur Stelle • der sozialdemokratisch-freidemokratischen in manchen Worten einander angleichen. An der Gesetzgebungsarbeit, die wir nicht leugnen. Das Tatsache, daß wir miteinander im politischen Wett- war von Anfang an ein Handikap. Aber erinnern bewerb stehen, kommen Sie, meine Damen und Sie sich nicht — einige vielleicht, ich will aber nicht Herren von der CDU, ebensowenig vorbei wie wir. Bekenntnisse herausfordern — Ihrer Versuche und Worauf es ankommt, das ist die Erkenntnis, daß Sie unserer Versuche, der gemeinsamen Versuche in und wir in unserem Gegeneinander dennoch mit- der vorhergegangenen Legislaturperiode von 1966 einander leben müssen, d. h. wir sind — damit bis 1969, mit den Bundesländern einen der Sache meine ich beide Seiten — genötigt, die Formeln zu nach notwendigen Katalog von, wie man es damals finden, die es uns erlauben, miteinander in unseren nannte, Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Län- Gegensätzen auszukommen. Sie haben es nicht ver- dern zustande zu bringen und nicht auf den leider wunden, in die parlamentarische Opposition ge- lediglich zwei Gemeinschaftsaufgaben sitzenzublei- drängt worden zu sein. Sie fühlen sich nun in Ihrer ben, die die Länder damals zuzugestehen bereit Führungsrolle durch solche Zeugen, die Sie heute waren? Wenn Sie höhnen und spotten, etwa über hier aufmarschieren lassen, bestätigt. nicht erreichte Ziele der Regierung Brandt/Scheel, (Beifall bei den Regierungsparteien.) 11760 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 19Z Wehner Einer Ihrer Wortführer hat damals den Regie- Sie gehen und sind gegangen bis zu wieder- rungswechsel von 1969 so charakterisiert, daß er holten Versuchen der Störung so schwieriger und schrieb und dabei blieb: das sei gar kein normaler so delikater Bemühungen der Regierung des eige- demokratischer Wechsel gewesen, sondern der Be- nen Landes, europäische und international wirk- ginn des Umsturzes unserer Gesellschaft. Er ging same Schritte und Maßnahmen zur Eindämmung sogar so weit — ich habe ihm von diesem Platze aus der Preissteigerungen, der inflatorischen Auf- dazu direkt geantwortet; er hat sich dazu nicht ge- blähungen und zur Überwindung der Krise des äußert, was auch sein Recht ist; das wirkt so auch Weltwährungssystems in Gang zu bringen und da- viel besser weiter — und sagte: die Ratifikation mit Stabilität in übereinstimmenden Schritten und des Moskauer Vertrages sei der Versuch eines kal- Maßnahmen von Partnern in der industriellen Welt ten Staatsstreichs der Bundesregierung Brandt. Das zustande zu bringen. Sie haben selbst diese auf sind sicher nicht nur Worte, entstanden aus der Ihre Weise wiederholt zu stören versucht. Freude am Deftigen. Nein, mit solchen Behauptun- Und dennoch ist diese Koalition der Sozialdemo- gen und Beschuldigungen wollen diejenigen, die sie kraten und der Freien Demokraten nicht gescheitert ausstreuen, sich selbst ein Alibi für alles verschaf- oder zerbrochen. Aber seit dem Scheitern des Ver- fen, was sie selbt unternehmen, um die von ihnen suchs am 27. April 1972, Herrn Dr. Barzel an Stelle so denunzierte Bundesregierung — koste es, was es von Bundeskanzler Willy Brandt zum Bundeskanzler wolle — zu Fall zu bringen. Mit dieser Ihrer Grund- zu wählen, ist dieser Bundestag nicht mehr zu einer haltung hatten wir es während dieser Zeit zu tun. kontinuierlichen, sachlichen, normalen Gesetz- (Beifall bei der SPD.) gebungsarbeit gekommen. Darüber ist nicht zu jammern. Nur, wir brauchen (Zurufe von der CDU/CSU.) wahrscheinlich Zeit, bis wir uns aufeinander ein- Einige — sicher, sicher — aus unseren Reihen, de- stellen: Sie sich auf uns, wir uns auf Sie! Von der nen die ganze Richtung nicht paßt oder gepaßt hat, Abwerbung ist es bei Ihnen über das Operieren mit haben Sie als Zugänge erworben. Das ist Ihre Sache, gewissen zusammengestellten Materialien bis zu das ist die innere Zahlenverschiebung im Bundes- Schlimmerem gegangen. Ich halte das für Propa- tag. Diesen Knoten können nur die Wählerinnen ganda mit der Angst, die Sie treiben. Es ist dabei und Wähler lösen. Sie sagen ja selbst, daß Sie die- nur ein relativer Trost, daß der Versuch,- mit der ser Meinung auch seien, wenngleich Sie aus einer Angst zu wirken — diese „Roten" und die so mit anderen Ecke zu dieser Meinung kommen. ihnen laufen, die Freien Demokraten, die schon Wir haben es hier viele Wochen lang mit Ihren längst den Umsturz begonnen haben, müsse man Versuchen zutun gehabt, das, was die Ostverträge wegkriegen —, ist aus eigener Angst bei Ihnen Berlin-Abkommen geboren, nun — abseits der Schalthebel der Regie- genannt wurde, und damit das zu Fall zu bringen. Viele Wochen! Sie möchten rung — längere Zeit die Rolle der parlamentarischen gerne, daß das nicht so besonders frisch in Erinne- Opposition ausüben zu müssen. Das ist für Sie na- rung bleibt. Aber wenn man sich fragt: wie kom- türlich schwierig. men Sie eigentlich dazu, daß damals so gemacht zu (Beifall bei den Regierungsparteien.) haben — ein prominenter Politiker aus Ihren Rei- Das ist ja wohl auch — nehme ich an — die Wurzel hen hat in einer CDU-Wahlversammlung in Nord- jener hanebüchenden Behauptung, daß die kom- deutschland zu den Ostverträgen betont, die CDU! mende Bundestagswahl die letzte freie Wahl in der CSU habe diese nur mit ihrer Stimmenthaltung Bundesrepublik gewesen sein würde, wenn SPD durchgehen lassen, weil während der Abstimmung und FDP diese Wahl gewinnen. Das ist Propaganda rings um das Bundeshaus in Bonn bereits bürger- mit der Angst, wenn auch aus eigener Angst vor kriegsähnliche Zustände geherrscht hätten; sachlicher Wählerentscheidung. (Hört! Hört! und Heiterkeit bei der SPD) (Beifall bei den Regierungsparteien.) die CDU/CSU habe diese nicht noch verschärfen und womöglich eine Neuwahl bei einem Bürgerkrieg Auf dem Felde der auswärtigen Politik und der riskieren wollen. internationalen Politik geschieht das und geht das bis zum Versuch, die Regierung des eigenen Landes (Erneute Heiterkeit bei den Regierungs unglaubwürdig zu machen. Ich habe dazu nicht mehr parteien.) als das zu sagen und mir zu eigen zu machen, was Sie erinnern sich mit Recht, Herr von Hassel. Das heute hier der Herr Kollege und Bundesminister haben Sie ja dort gesagt. Scheel zu den sogenannten Neußer Äußerungen (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs des Herrn Oppositionsführers Barzel gesagt oder parteien.) vielleicht auch gefragt hat. Ich habe gestern abend in Rundfunkmeldungen wiederholt vernommen, daß So unterschiedlich sind unsere Brillengläser und das ähnlich wohl gestern wieder im französischen Antennen. Fernsehen von ihm gesagt worden sein muß. Das Wochenlang erging man sich hier in Beschuldi- ist seine Sache. Nur, da haben wir unterschiedliche, gungen wegen angeblicher Versäumnisse, angeb- gegensätzliche Stilauffassungen. lichen Versagens der Bundesregierung in der Be- (Bravo-Rufe und Beifall bei den Regie kämpfung von Gewaltakten. Ich muß Ihnen sagen rungsparteien. — Zurufe von der CDU/ angesichts der Operationen terroristischer Gruppen, CSU.) mit denen wir es zu tun haben, hatten und wieder Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11761 Wehner haben, darf man doch nicht auch noch den eigenen im Zusammenhang damit durch die Vier Mächte Staat zerklüften. erstmalig auch die Unantastbarkeit und Entwick- lungsfähigkeit Berlins garantiert wurde. Das halte (Beifall bei den Regierungsparteien.) ich für ein historisches Verdienst. Meine Damen und Herren, in welche schreckliche (Beifall bei den Regierungsparteien.) Zwangslage sowohl Sie als auch wir kommen kön- nen, haben, denke ich, die grauenhaften Ereignisse Daß Sie anderer Meinung waren, ist Ihre Sache. vom 5. und 6. September in München und Fürsten- Meine Damen und Herren, ich habe gewisse Ent- feldbruck gezeigt. Sie von der CDU/CSU und wir scheidungen unter Ihrem Bundeskanzler Konrad von der SPD sind gewiß politische Gegner und Adenauer auch für historische Verdienste gehalten, werden es bleiben. Aber Sie als Opposition und wir, selbst wenn ich aus Gründen, die wir dargelegt die Sozialdemokraten in Koalition mit den Freien haben, aus Gründen des Zeitpunktes und des Aus- Demokraten, haben unsere politischen Gegensätze maßes, gegen solche Entscheidungen zu gewissen so auszutragen, daß dabei unser Staat, die Bun- Zeiten opponiert habe. Das war aber, so sage ich desrepublik Deutschland, nicht handlungsunfähig heute, eine beiderseitig redliche Auseinanderset- wird. Leider nehmen Sie darauf keine Rücksicht. zung. (Lebhafter Beifall bei den Regierungs (Oho-Rufe von der CDU/CSU. — Abg. Kat parteien.) zer: „Kanzler der Alliierten", so war das damals!) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, denken Sie gelegentlich bitte auch daran — ich Sie führen eine solche mit uns und unserer Regie- sage das zur Erklärung; manchmal vergißt man das, rung leider nicht. und zwar sowohl bei Ihnen als auch bei uns; ich werfe Ihnen das ja gar nicht vor —, welches die Ein Zweites. Die Ostverträge sind ein reales Wurzel dieser Koalition von Sozialdemokraten und Unterpfand für normale Beziehungen mit der Freien Demokraten ist. Meine Damen und Herren, Sowjetunion. Siebzehn Jahre hat es doch gedauert, das war die Entscheidung vom 5. März 1969, durch meine verehrten Herren, ehe man aus Konrad die es verhindert und uns allen erspart worden ist, Adenauers Entschluß, der dann hier in diesem daß mit den Stimmen der NPD ein Bundespräsident Hause gebilligt worden ist, diplomatische Beziehun- gewählt worden wäre, der heute noch im Amt- wäre, gen zur Sowjetunion aufzunehmen — im Jahre auch bei den Olympischen Spielen. 1955 —, und aus den aufgenommenen Beziehungen übergehen konnte und übergegangen ist zu dem, (Lebhafter Beifall bei den Regierungs was man mit einem etwas technisch klingenden parteien.) Wort „Normalisierung" nennt, und dabei auf das, Herr Mende, da war gar kein Kunststück in der was im Zusammenhang mit diesem Vertragswerk Wahlnacht notwendig. Gestern schrieb ein Publizist, Polen und normale Beziehungen zum übrigen Ost- dessen Ausführungen ich sonst mit einigem Inter- europa betrifft. esse verfolge, ich hätte liebend gern eine Fort- setzung der Großen Koalition gehabt. Die war Diejenigen, die diese Verträge sozusagen nur das wissen Ihre Herren doch ganz genau — nach haben durchgehen lassen — ich habe ja vorhin ge- Ihrer Entscheidung in dieser Frage überhaupt nicht sagt, aus welchen Gründen manche das nachträglich mehr diskutabel. Wir hatten mit Anstand ausein- so erläutern —, sind noch nicht fähig, Treuhänder anderzugehen. So war das! Auch unter Ihnen gibt für diese Verträge zu sein. es doch manchen, der sich durch diese Entscheidung (Lebhafter Beifall bei den Regierungs vom 5. März 1969, daß es uns allen erspart geblie- parteien.) ben ist, einen mit den Stimmen der NPD gewählten Bundespräsidenten zu haben, erleichtert fühlte. Ich habe zwar gehört, daß Herr Barzel kürzlich ge- sagt hat: Abmachungen und Verträge werden gehal- (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der ten. Aber ich halte das für sehr fraglich angesichts CDU/CSU.) der Tatsächlichkeiten. Ich will das ja gar nicht groß plakatiert bekommen. (Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört! — Wir wollen gar keine Wählerinitiative aus Ihren Pfui! — Eine Unterstellung!) Kreisen zu unseren Gunsten. Wenn die Verträge Realität sind, so bedeutet das Diese Koalition von SPD und FDP hat sich der noch nicht, daß man sie sich selbst oder solchen unvermeidlich gewordenen Notwendigkeit gestellt, überlassen kann, die sie nur haben durchgehen las- das Verhältnis der beiden so unterschiedlich und sen — aus Gründen, die ich heute hier aus einem gegensätzlich verfaßten Teile des getrennten deut- Zitat erkennbar gemacht habe. schen Vaterlandes zueinander zu einem schließlich erträglich werdenden Nebeneinander zu gestalten. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Sie hat die Voraussetzung dafür durch die Ost- verträge geschaffen. Ich halte es erstens für ein Der Bundeskanzler Willy Brandt hat sein Wort historisches Verdienst der Bundesregierung Brandt/ gehalten, mehr Demokratie zu wagen, Scheel, das nicht verschenkt, nicht verschleudert (Lachen bei der CDU/CSU) und nicht zerredet werden sollte, daß im Zusammen- den Frieden sicherer zu machen. hang mit den Ostverträgen die Bundesrepublik im westlichen Bündnis eine neue Stellung erhielt und (Beifall bei den Regierungsparteien.) 11762 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Wehner Ich weiß, daß die Auffassungsunterschiede über das, den Trümmern standen wie wir. Ich denke z. B. an was Demokratie ist, unbestreitbar sind. jene Sätze: (Beifall bei den Regierungsparteien. — Nach dem furchtbaren politisch-wirtschaftlichen Betonter Beifall bei der CDU/CSU.) und sozialen Zusammenbruch als Folge einer — Sicher, wenn Sie nicht die erste Geige oder Trom- verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine pete spielen können, Neuordnung von Grund auf erfolgen ... Das deutsche Volk soll eine Wirtschafts- und Sozial- (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU) verfassung erhalten, die dem Recht und der dann behaupten Sie, es sei gar keine Demokratie. Würde des Menschen entspricht, dem geistigen Das ist Ihre Auffassung. und materiellen Aufbau unseres Volkes dient, (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar den inneren und äußeren Frieden sichert. teien. — Zurufe von der CDU/CSU.) Man könnte das Ahlener Programm weiterlesen. Sie können doch wohl nicht vor aller Augen — Ich würde dann immer mißverstanden werden. Sie bildlich gesprochen — behaupten, daß nicht auch meinen, das, was dort über Kapitalismus und das Sie im Grunde froh sein dürfen darüber, daß Willy Einseitige steht, sei so spezifisch sozialdemokratisch, Brandt am 10. Dezember 1971 in seinem Dank für daß man darauf immer laut reagieren müsse, wenn die Verleihung des Friedensnobelpreises solche Worte fielen. Aber wissen Sie: Die Bundes- (Zuruf von der CDU/CSU: Auch das noch!) republik hat nach unserem Grundgesetz ein demo- kratischer und sozialer Bundesstaat zu sein. Wir sagen konnte — ich zitiere wörtlich —: und Sie, alle drei Fraktionen, stehen zum Grund- ... wieviel es mir bedeutet, daß auf meine gesetz und stehen in der Pflicht des Grundgesetzes. Arbeit „im Namen des deutschen Volkes" abge- In der Bundesrepublik ist das Eigentum geschützt, hoben wurde, daß es mir also vergönnt war, aber es soll sozialpflichtig sein — es soll sich sozial- nach den unauslöschlichen Schrecken der Ver- pflichtig fühlen, wenn ich das so sagen darf —. Der gangenheit den Namen meines Landes und den Anteil der Arbeitnehmer am Produktionsvermögen Willen zum Frieden in Übereinstimmung ge- wird und muß gesetzlich geregelt werden. Ebenso bracht zu sehen. wird bei uns das Bürgerrecht auf Bildung, ein- schließlich der Berufsbildung, für jede Frau und (Beifall bei den Regierungsparteien.)- jeden Mann ganz groß geschrieben. Es muß reali- Das ist bescheiden und richtig gesagt worden. siert und nicht nur auf dem Papier programmiert Ich denke oft daran, daß der — uns auf dieser werden. Seite des Hauses jedenfalls — unvergeßliche Kurt (Zurufe von der CDU/CSU.) Schumacher, der Wiederbegründer der Sozialdemo- Die gleichen Rechte — das ist der entscheidende kratischen Partei nach dem Zweiten Weltkrieg, in Punkt —, die unser Grundgesetz jeder Frau und einer seiner letzten Niederschriften, in der er sich jedem Mann als Staatsbürger ohne Unterschied von bitter mit denen auseinandersetzte, die bestimmen Rasse, Klasse, Herkunft und Konfession gewähr- möchten in Deutschland, wer Christ und wer Mar- leistet, müssen — darauf haben die Staatsbürger ein xist zu nennen sei, doch daran festhielt, Recht — in gleiche soziale Chancen umgewandelt (Zuruf von der CDU/CSU) werden. Darum ringen wir, und aus diesem Grunde — Sie werden doch wenigstens Schumacher anhören wird dieser Wahlkampf ein so harter Wahlkampf können —, daß die Sozialdemokratische Partei werden. Wir sind nämlich der Überzeugung, daß bei Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg von der ihm darum gerungen wird, daß der Weg zum sozia- Idee ausgegangen ist, ein Deutschland zu schaffen, len Ausbau unseres Staates, zur Stärkung seiner das die Wiederholung der Schrecken der Vergan- sozialen Komponente beschritten wird, oder wie wir genheit ausschließt. es in unserem Grundsatzprogramm nennen, daß die Sozialstaatlichkeit unserer Bundesrepublik nicht Sicher werden Sie, auch wenn Sie sich nicht im wieder in die Ferne gerückt, sondern zielbewußt Kielwasser Schumachers sehen oder in dieses Kiel- auf sie zugegangen wird. Darüber wird man vor wasser gebracht sehen wollen, sagen, das wollten den Wählern und mit den Wählern diskutieren. Sie ja auch. Ich streite auch gar nicht darüber. Wo- gegen ich mich immer wieder wenden muß, ist, daß Sie werden dieses denunzieren, weil Sie Schreck- daß Sie alles für sich in Anspruch nehmen und fak- gespenster brauchen. Sie brauchen bestimmte Be- tisch niemanden neben sich, geschweige denn mehr- griffe, von denen Sie meinen, daß man sie nur zu heitlich vor sich dulden wollen. nennen braucht, daß man sie jemandem nur anzu- (Beifall bei den Regierungsparteien. — heften braucht, damit dieser schon erledigt und nicht Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.) mehr satisfaktionsfähig ist. Natürlich haben Sie ein anderes Verhältnis zu die- (Abg. Dr. Wörner: „Großkapitalist" !) sen Fragen. — Sagen Sie ruhig laut, was Sie glau- ben, hier anbringen zu müssen wie eine Made! — Herr Wörner, wenn Sie noch einige zehn oder zwanzig Jahre leben, werden Sie das entweder (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.) überwunden haben oder komplett fähig auf diesem Ich lese mir manchmal durch, von wo Sie aus- Gebiet werden. Das ist einer der wunden Punkte gegangen sind, als Sie nach dem Kriege ebenso vor Ihrer Art — ich meine nicht Sie persönlich —, poli- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11763

Wehner tisch zu streiten: den anderen zu diffamieren und Sie haben öffentlicht erklärt, sowohl die CDU als ihm keine Gelegenheit zu geben; das ist Ihre Art! auch die CSU, daß Ihnen Neuwahlen die sympa- tischste Lösung seien. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Leb hafte Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört! (Beifall bei der CDU/CSU.) Pfui!) Dazu müssen wir über eine Schwelle gehen, von der Sie alle und wir wissen, wie das Grundgesetz sie zusammengefügt hat. Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Herr Abgeordneter Wehner, gestatten Sie eine (Zurufe von der CDU/CSU: Rücktritt!) Zwischenfragle des Herrn Abgeordneter Dr. Wör- Sie haben noch • das falsche Stichwort, Herr ner? Schulhoff. Ich glaube, das nächstemal kommen Sie sowieso nicht wieder. Da werden Sie sehen, daß das ein Irrtum war. Wissen Sie, Sprechchöre imponieren (SPD) : Nein. Wehner mir gar nicht, von welcher Seite sie auch geübt und (Zurufe von der CDU/CSU.) geprobt werden. Davon habe ich mich noch nie be- Unsere Fraktion hat sich nach gründlicher Diskus- eindruckt gezeigt. sion einstimmig entschlossen, in namentlicher Ab- Schönen Dank für Ihre dennoch bemerkenswerte stimmung im Plenum des Bundestages dem Bundes- Geduld. kanzler Willy Brandt das Vertrauen auszusprechen. (Anhaltender Beifall bei den Regierungs (Beifall bei den Regierungsparteien.) parteien.)

Sie geht dabei davon aus, daß sich Bundeskanzler, Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Vizekanzler und die übrigen Mitglieder des Kabi- Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr netts bei dieser Abstimmung der Stimme enthalten Bundeskanzler. werden. (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.) Brandt, Bundeskanzler (von den Koalitionspar- — Das ist ja ihr Recht, hören Sie! Warum sind Sie teien mit Beifall begrüßt) : Herr Präsident! Meine denn so laut in dieser Frage? Das wird ja gar keiner Damen und Herren! Als man heute vormittag Herrn - verstehen, nachdem Sie hier mit solcher Spannung Kollegen Schröders kurzer, markiger Rede zuhörte, jene ganze Garnitur angehört haben, von der Sie da hätte man den Eindruck gewinnen können, als meinten — ich meine: schlechte Regie bei Ihnen —, wollte er, als wollten Sie, verehrte Kollegen von das wird toll wirken; sie sind sozusagen Zeugen. der Union, hier Stimmen gewinnen, um zu verhin- der, daß der Antrag nach Art. 68 angenommen wird. Wir sind als Fraktion — ich habe das hier aus- drücklich zu sagen — den Kabinettsmitgliedern (Widerspruch, Lachen und Zurufe von der dankbar dafür, daß sie das tun. CDU/CSU.) (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.) Solcher Anstrengungen bedurfte und bedarf es nicht. Ich habe den Antrag gestellt — und erklärt, und ich — Das ist doch bei uns nicht so, daß man den ande- wiederhole es hier —, um zur Auflösung des Bun- ren einfach in dieser Weise hängen oder sitzen läßt. destages und Neuwahlen zu kommen. Wir sind ihnen dankbar, weil nach den Bestimmun- (Beifall bei der SPD.) gen des Grundgesetzes nur so der Weg geöffnet werden kann, damit Wählerinnen und Wähler in der Ich habe nicht erwartet, daß hier heute, ausgerechnet Bundesrepublik Deutschland in allgemeinen Neu- an diesem Tage, noch nennenswerte sachliche An- wahlen zum Bundestag entscheiden und eine sichere näherungen zu erzielen sein würden. Persönlich Mehrheit für eine Regierung Willy Brandt und Wal- meine ich, daß dem Parlament und dem Parlamen- ter Scheel im Bundestag schaffen können. tarismus nicht eigentlich ein Dienst damit erwiesen wurde, daß Sie heute früh aus der Reihe Ihrer Zu- (Zuruf von der CDU/CSU.) wanderer hier — verstehen Sie den Ausdruck nicht falsch — Müll abladen ließen. — Wenn Sie hier Ihre beliebte andere Vokabel dazwischenrufen, ich habe ja und vor mir sitzt (Zuruf von der CDU/CSU: Pfui!) ein verehrter innenpolitischer Gegner und Kollege Ich glaube, das war aus der Sicht des Parlaments aus Ihren Reihen — an dem 8. November hier ein- nicht gut. Aber politisch nützlich war es wohl. mal das zu machen gehabt, was einen Bundeskanzler in eine Situation bringt, der er sich zu stellen hat. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Zuruf von der CDU/CSU: Der ist doch zu Denn Sie haben durch diese Art aufzutreten meine rückgetreten!) These von Mittwoch bestätigt, warum es zu dieser Lage gekommen ist — Nein, nein. Sie brauchen nur in den Protokollen (Sehr richtig! bei der SPD) nachzulesen — ich schicke Ihnen das gern, bringen und daß die Wähler für die Zuwanderer zu Ihnen Sie es mir wieder zurück —, wie das damals wirk- oder gegen sie entscheiden müssen. Darum geht es. lich gewesen ist. So einfach, wie Sie es jetzt im nachhinein sehen möchten, war das nicht. Ich will (Beifall bei den Regierungsparteien, — Zu nicht in alten Wunden herumrühren. rufe von der CDU/CSU.) 11764 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Bundeskanzler Brandt Das einzige, worüber wir uns in dieser Debatte trotz innert — mit der Wahl des Bundespräsidenten, an- allem einig sind, ist die Konsequenz aus dem An- schließend in der Bundestagswahl und der Regie- trag, den ich vorgestern gestellt habe, d. h. nie- rungsbildung vom Herbst 1969 ihren sinnfälligen mand ist mehr gegen Neuwahlen. Und darauf Ausdruck gefunden. Der verehrte Kollege, der heute kommt es heute an. morgen eine andere Deutung der Bundestagswahl gegeben hat, hat vergessen — aber Millionen Fern- Aber, meine verehrten Damen und Herren, was sehzuschauer haben es nicht vergessen —, wie wir wir hier diskutieren — und wenn ich dies sage, zwei Tage vor der Wahl zu Viert am Tisch geses- knüpfe ich gerne an meinen Vorredner an —, ist sen haben: Herr Dr. Kiesinger und Herr Strauß, mit der Elle der Tagespolitik nicht, jedenfalls nicht Herr Kollege Scheel und ich. Niemand, der zuge- allein zu messen. Hier geht es darum, wie unser hört und zugeschaut hat, konnte im Zweifel dar- demokratischer Staat mit den Schwierigkeiten fer- über sein, welche beiden jeweils zusammengehör- tig wird, die sich aus dem parlamentarischen Remis ten. So sah es aus vor dem Wahltag. ergeben haben. Mit einer „Staatskrise", wie man es hier und da draußen hat lesen können, hat das (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar überhaupt nichts zu tun. teien.) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu Daß sich beide Vorgänge, Präsidentenwahl und Re- rufe von der CDU/CSU.) gierungsbildung nur mit knappen Mehrheiten voll- zogen, ist wiederum leicht einzusehen: weil seit 1949 Wohl aber hat es etwas zu tun mit unserer Fähig- beide Hauptströmungen in unserem Land kräfte- keit, Situationen zu meistern, die in keinem Lehr- mäßig nie extrem auseinander waren, einerseits die buch beschrieben sind. Kräfte des konservativen Beharrens, wie ich es sehe, In der umstrittenen Außenpolitik geht es nicht überwiegend in der Union versammelt, und anderer- nur um diesen oder jenen Vertrag, um diese oder seits die Kräfte von mehr Erneuerung für Staat und jene Konferenz. Gesellschaft, überwiegend in den Koalitionsparteien vereinigt. (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr richtig!) Übersehen wir bitte dies nicht, meine Damen und Es geht um Fragen, die wir bis zu einem gewissen Herren: Alle Industriegesellschaften des Westens Grade in den ersten Nachkriegsjahren verdrängt stehen in diesen Jahren vor großen Problemen. Sie haben, oder sogar um solche, die bis ins- Kaiser- müssen diese Probleme lösen, ohne die persönliche reich zurückreichen. Freiheit einzuschränken; denn dann wären sie nicht Für die Gesellschaft in der Bundesrepublik geht es mehr demokratische Staaten des Westens. Diese Lö- nicht nur um dieses oder jenes Gesetz, um diese sung wird durch die Tatsache kompliziert, daß sich oder jene noch so wichtige Teilreform. Es geht in besonders bei der jüngeren Generation eine ge- Wirklichkeit, so meine ich, um den Ort, um den wisse Wandlung der Wertvorstellungen vollzieht, herum sich das Zusammenspiel der gesellschaftlichen durchaus nicht nur, wie es mancher darstellen wollte Kräfte einpendelt. — auch heute früh —, in Richtung auf unfruchtbaren, auf unsinnigen und deshalb zu verurteilenden Radi- Zwei mögliche Punkte rechts und links von der kalismus, sondern bei sehr vielen und von viel Idea- Mitte brauchen gar nicht so schrecklich weit aus- einander zu sein, und doch kann es, wie wir er- lismus getragen in Richtung auf eine höhere Quali- tät des Lebens. leben, ein sehr hartes, zuweilen sogar schmerz- haftes Ringen darum geben, ob es zur Kristalli- (Beifall bei den Regierungsparteien.) sation um den einen oder um den anderen Punkt Es ist politisch entscheidend, wie wir auf diese Ver- herum kommt. Die CDU/CSU hat aus meiner Sicht änderungen reagieren. stärker an die bei uns in Deutschland lange vor- 1969 hat unsere Gesellschaft aus meiner Sicht posi- herrschende Tradition konservativer Prägung ange- tiv geantwortet durch die Verlagerung der politi- knüpft, schen Mehrheit von der rechten zur linken Mitte. (Sehr wahr! bei der SPD) Die Antwort der CDU/CSU darauf war, wie ich es in gelegentlich in beeindruckender Form der perso- diesen Jahren gesehen habe, in einigen wesent- nellen Kontinuität wie in der Person Konrad Ade- lichen Punkten ein weiterer Ruck nach rechts. Einige nauers. Man muß sich ja immer noch einmal klar Abgeordnete der Koalitionsparteien haben sich die- machen, daß dieser Mann und der erste Bundes- ser Bewegung angeschlossen. Ich bin davon über- kanzler 1917, noch eben zur Zeit des Kaiserreiches, zeugt, daß jetzt nur das Lager der linken Mitte mit Oberbürgermeister von Köln geworden war. Die den Problemen der Zukunft fertig werden kann. Sozialdemokraten und — auf ihre eigene Weise — (Beifall bei den Regierungsparteien.) die Freien Demokraten vertreten, wie ich es sehe, stärker die Kräfte, die schon im Kaiserreich aus der Diesem Lager die eindeutige Mehrheit zu verschaf- Opposition heraus auf mehr Demokratie und poli- fen, darin sehe ich das Ziel der Neuwahlen. Ein tische Freiheit drängten, anderer Wahlausgang würde dazu führen, so meine ich, so befürchte ich, daß die Schwierigkeiten wach- (Beifall bei den Regierungsparteien) sen. Wenn die Bundesrepublik nicht hinter den Er- auf einen Staat drängten, den die Vielen in diesem fordernissen der Zeit zurückbleiben soll, müssen die Lande als ihren eigenen Staat begreifen können. Kräfte des Fortschritts und der Erneuerung gestärkt Die politische Schwerpunktverlagerung hat 1969 werden. — Herr Kollege Wehner hat uns eben daran er- (Beifall bei den Regierungsparteien.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11765

Bundeskanzler Brandt Nun war es überaus bemerkenswert, daß Herr naten keine Vereinbarung zu treffen. Ich halte dies Kollege Barzel in seiner Antwort auf meine Erklä- für einen unerhörten Vorgang. rung vorgestern früh kein einziges Wort zur (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar Außenpolitik gefunden hat, und das nach all den teien.) starken Worten der hinter uns liegenden Jahre. (Sehr wahr! bei der SPD.) Wenn es noch einen Sinn für Staatsräson gibt, dann muß das hier heute in Ordnung gebracht werden. Die außenpolitische Enthaltsamkeit der CDU/CSU (Beifall bei den Regierungsparteien.) bisher in dieser Debatte — auch bei Herrn Schröder heute früh waren es nur ein paar sehr allgemeine Auch vor einer Wahl darf niemand, der Verantwor- Sätze — verdient festgehalten zu werden. tung trägt, die Geschäftsfähigkeit des eigenen Staa- tes in Frage stellen. Die Bundesregierung läßt sich Nur in einem Punkt hat Herr Barzel vorgestern jedenfalls nicht dazu veranlassen, ihre Pflicht nach ein außenpolitisches Moment anklingen lassen. Ein Verfassung und Amtseid zu vernachlässigen. Berliner Abgeordneter, der sich ja hier auch zu Wort gemeldet hat, habe seine Fraktion verlassen, (Beifall bei den Regierungsparteien.) so sagte Herr Barzel, weil die Regierung an der Im übrigen muß ich sagen: Das sind mir schöne politischen Vereinigung Westeuropas nicht hinrei- Europäer, die meinen, Wahlzeiten hätten Zeiten des chend interessiert gewesen sei. Nun weiß doch aber europäischen Stillstands zu sein. jedermann, der es wissen will: Walter Scheel und ich in enger kameradschaftlicher Zusammenarbeit (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. und die Regierung mit uns haben die westeuro- Dr. Barzel: Das habe ich nicht gesagt!) päische Zusammenarbeit und Einigung doch nicht behindert, sondern vorangebracht, meine Damen Keine neuen Verpflichtungen übernehmen wollen und Herren, heißt, die Gipfelkonferenz in Paris kaputtmachen wollen, Herr Kollege Schröder. Mit Vertagungen ist (lebhafter Beifall bei den Regierungspar die europäische Einigung, über die sich so schön teien) reden läßt, nicht voranzubringen. nicht durch Luftschlösser, sondern im Rahmen- des (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu Möglichen energisch und realistisch. So sind wir mit rufe von der CDU/CSU.) Erfolg tätig gewesen von der Haager Gipfelkonfe- renz im Dezember 1969 bis zur sorgfältigen Vorbe Wer Vorwahlzeiten im europäischen Termin- reitung der neuen Gipfelkonferenz, die jetzt vermut- kalender ausklammern will, der bringt kaum noch lich im erweiterten Kreis von nicht nur acht, sondern etwas zustande. In diesem Herbst wählen wir und zehn im nächsten Monat in Paris stattfinden wird. die Niederländer, im nächsten Frühjahr die Fran- Hier geht es für unser Volk nicht um europäische zosen und im nächsten Herbst die Norweger. In Phraseologie, sondern um europäische Realpolitik, einer Gemeinschaft von zehn demokratischen Staa- meine Damen und Herren. ten werden fast immer irgendwo Wahlen bevor- stehen. Das kann man sich leicht ausrechnen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Zurufe von der CDU/CSU: Mehrheit! — Wir haben in der Schlußphase dieses Bundestages Sie haben keine!) einen besonders abwegigen Versuch erlebt — da Jetzt sage ich: Wer der eigenen Regierung außen- muß ich das, was Herr Kollege Scheel schon ausge- politische Untätigkeit zumutet und den Regierun- führt hat, aus meiner Sicht noch etwas ergänzen gen anderer Länder empfiehlt, über Monate hinweg dürfen —, auf die deutsche Europapolitik Einfluß zu auf Vereinbarungen mit der Bundesrepublik nehmen. Am Montag voriger Woche wurde aus Deutschland zu verzichten, der läßt gewichtige na- München gemeldet, Herr Strauß habe unter Hinweis tionale Interessen außer acht und setzt sich dem auf die Bundestagswahl für eine Verschiebung der Vorwurf aus, parteipolitische Erwägungen höher zu Gipfelkonferenz plädiert. stellen als die Belange des Staates. (Hört! Hört! bei der SPD.) (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Das ist sein gutes Recht. Am folgenden Tag haben Im übrigen möchte die CDU/CSU, was ich ver- dann freilich die Außen- und die Finanzminister der stehen kann, nicht gern an ihre zunächst fanatisch Zehn in Rom festgestellt, daß die sachlichen Voraus- negative Haltung zu unserer Ost-West-Politik er- setzungen gegeben sind, die Gipfelkonferenz zum innert werden, die wir in Übereinstimmung mit un- vorgesehenen Zeitpunkt, also im Oktober, durchzu- seren westlichen Verbündeten entwickelt haben. führen. Dann hat Herr Barzel das gesagt, worauf er Man möchte nicht erneut mit den — das weiß doch sicher noch zu sprechen kommen wird und was der jeder — schwelenden Widersprüchen, die es zu die- Leser nur als die Aufforderung zur außenpolitischen sen Fragen in der Union gibt, konfrontiert werden. Untätigkeit bis nach den Wahlen auffassen konnte. Das kann ich gut verstehen, aber ersparen kann ich Andere Regierungen, sofern sie es zur Kenntnis ge- es Ihnen nicht. Herr Barzel, Sie sind nicht nur am nommen haben, haben es nur so verstehen können, 27. April mit dem Mißtrauensvotum gescheitert; als sollte ihnen der Rat gegeben werden, mit der Sie sind — und ich bedaure das im Interesse des Bundesrepublik Deutschland in den nächsten Mo Ganzen außerordentlich — im Mai auch mit dem 11766 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Bundeskanzler Brandt Versuch gescheitert, die Außenpolitik Ihrer Fraktion Dr. Henry Kissinger hat, als er von seinem Mos- auf eine realistischere Grundlage zu stellen. kau-Besuch zurückkehrte, den nachdenkenswerten Satz gesprochen, wir befänden uns jetzt am Ende (Beifall bei den Regierungsparteien.) einer Periode, in der allein die militärische Sicher- Ich sage: realistische Grundlage, denn was wir brau- heit das Verhältnis zwischen den westlichen Natio- chen, ist Realismus. Das hieß und heißt, auf der nen zementiere. Das ist problematisch; ich weiß, Grundlage des atlantischen Bündnisses der Freund- was darin alles steckt. Aber es hat sich eben als schaft mit den Völkern des Westens und der fort- richtig herausgestellt, daß wir uns in Deutschland schreitenden europäischen Einigung der deutschen von dieser Entwicklung nicht haben überrollen oder Außenpolitik, wie es Herr Kollege Scheel heute überraschen lassen. Indem die beiden Staaten in morgen noch einmal klar gesagt hat, etwas Wesent- Deutschland Fortschritte bei der Regelung ihres liches hinzuzufügen, und zwar nicht nur den allge- Verhältnisses machen, entsprechen sie nicht nur meinen Wunsch nach Versöhnung mit den Völkern ihren eigenen Interessen, sondern tragen zu dieser des Ostens, sondern die konkrete Normalisierung insgesamt positiven Entwicklung bei. des Verhältnisses zu ihren Staaten. Realismus be- Wie Sie wissen, habe ich kürzlich mit Präsident deutete, zu einer Berlin-Vereinbarung zu gelangen. Pompidou und mit Premierminister Heath über die Was dies besagen will, meine Damen und Herren, bevorstehende Gipfelkonferenz gesprochen, und kann nur ermessen, wer die Berlin-Krisen der ver- gleichzeitig hat der Präsident der Vereinigten Staa- gangenen Jahre noch nicht vergessen hat. Ich habe ten mir mitteilen lassen, daß er meine Vorstellun- sie nicht vergessen. gen über eine längerfristige Zusammenarbeit zwi- Das, was man Ostpolitik genannt hat, ist bei wei- schen der Europäischen Gemeinschaft und den USA tern nicht abgeschlossen. Diese Politik muß ziel- positiv aufgreifen wird. Dem Hohen Hause sind strebig fortgeführt werden, und zwar ohne Illusio- diese Vorstellungen in etwa bekannt. Sie beruhen nen und ohne Scheuklappen. Dabei geht es nicht darauf, daß ein zunehmend geeintes und stärker nur, wie mancher meint, darum, bilaterale Bezie- werdendes Europa für eine nicht absehbare Zeit hungen auszugestalten: mit der Tschechoslowakei seine Sicherheit nur zusammen mit den Vereinigten und dann mit Ungarn und Bulgarien. Das ist alles Staaten findet und daß man der erforderlichen Part- wichtig, aber es geht um mehr. nerschaft von Gleichberechtigten auch eine entspre- chende Form geben sollte. Auf der bevorstehenden - Wir befinden uns in einer Phase, in der in den Gipfelkonferenz wird auch dieses Thema zu be- Ost-West-Beziehungen Entscheidungen und damit sprechen sein. auch Fortschritte möglich sind. Nach unserem Ver- Nun ergibt sich die Frage — mehr für die Men- trag hat sich die Sowjetunion bereit erklärt, auch schen draußen als für uns im Saal —, wer auf die- das von unserer Allianz vorgeschlagene Thema sen wichtigen Gebieten die Interessen der Bundes- einer ausgewogenen beiderseitigen Truppenredu- republik Deutschland jetzt am besten wahrnehmen zierung zu behandeln. Das wird viel Zeit brauchen, kann. Etwa diejenigen, die 1969 nicht einmal dafür das ist klar; aber es ist lebenswichtig. Nachdem waren, daß wir den Vertrag über die Nichtweiter- das Berlin-Abkommen der Vier Mächte in Kraft verbreitung von Atomwaffen unterzeichneten? gesetzt worden war, haben wir zusammen mit un- (Beifall bei den Regierungsparteien.) seren Bündnispartnern darangehen können, eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Etwa diejenigen, die die Vertragspolitik in der ganz Europa vorzubereiten. Unsere guten Kontakte hinter uns liegenden Zeit erst wütend bekämpft mit den Vereinigten Staaten bestätigen folgendes. und dann mit Stimmenthaltung begleitet haben? Was Nixon und Breschnew vereinbart haben, liegt Nein, ich meine, die mit unseren Verbündeten ab- auf der Linie der von uns selbst mit beiden Welt- gestimmte Politik kann wirksam von denen weiter- mächten und ihren führenden Männern geführten geführt werden, die diese Politik gegen harten Besprechungen. Wir sind uns darin einig, daß die Widerstand entwickelt und durchgesetzt haben. Entspannung im Interesse des Friedens durch kon- (Lebhafter Beifall bei den Regierungs krete Vereinbarungen vorangebracht werden kann. parteien.) Unsere Anregung vom vorigen Jahr, mit einer Vor- Darüber wird in den vor uns liegenden Wochen konferenz Ende November 1972 in Helsinki zu be- im großen Gespräch mit den Bürgern unseres Staa- ginnen, ist aufgegriffen worden, und ich freue mich tes ausführlich und nachdrücklich die Rede sein. auch darüber, daß Anfang des kommenden Jahres eine entsprechende Vorbereitung für Verhandlungen Wenn von der westlichen Welt die Rede ist, über den beiderseitigen Abbau von Truppenstärken meine Damen und Herren, muß auch von den Wäh- — ein schwieriger Vorgang, der natürlich nicht zum rungsfragen, muß auch über die Preise gesprochen Nachteil einer Seite voranzubringen sein wird — werden. Herr Barzel hat vorgestern erneut mit be- beginnen kann. wegten Worten die steigenden Preise beklagt. Ich stimme ihm insofern zu. Daß die Konfrontation zwischen Ost und West (Abg. Katzer: Erstmals!) zunehmend durch Verhandlungen und Vereinbarun- gen abgelöst wird, entspricht einer Politik, die be- Das insgesamt günstige Bild der wirtschaftlichen reits auf Erfolge verweisen kann und die zu Recht Lage in der Bundesrepublik Deutschland wird durch von Hoffnungen auf weiteren Erfolg begleitet wird. die steigenden Preise erheblich getrübt, und dies Ich erinnere an das erste Abkommen zur Begren- muß jedem, der hier Verantwortung trägt, auch zung strategischer Waffen. wenn es nicht die des Bundeskanzlers wäre, viel Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11767 Bundeskanzler Brandt Sorge bereiten. Die meisten von Ihnen wissen je- Ich freue mich über die Rentenreform, und ich doch sehr wohl oder spüren es, daß die Opposition habe ihr zugestimmt. unter den gegebenen europäischen und internatio- (Oh-Rufe bei der CDU/CSU.) nalen Bedingungen dieses Problem genauso auf den Hals bekommen hätte, wie wir es auf den Hals be- Ich bin aber traurig über diejenigen, die Sie draußen kommen haben, so interpretieren, als stecke hinter der Einstimmig- keit der CDU/CSU für manche von Ihnen bereits (Beifall bei den Regierungsparteien — der Gedanke an ein neues Haushaltssicherungs- Zurufe von der CDU/CSU) gesetz. falls Sie in diesen Jahren die Regierungsverant- (Beifall bei den Regierungsparteien.) wortung zu tragen gehabt hätten, es sei denn, Sie Sie dürfen sich bitte nicht wundern, daß wir nicht hätten es mit Rezession und Arbeitslosigkeit zu be- in die offenen Messer Ihrer Demagogie gelaufen kämpfen versucht, was wir ablehnen. sind. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu (Pfui-Rufe von der CDU/CSU. — Abg. rufe von der CDU/CSU. — Abg. Rawe: Rawe: Wer ist hier eigentlich der Dema Jetzt fängt er schon wieder an zu ver goge?) leumden!) Trotz der Unebenheiten und der von Ihnen her- Wie der Blick auf andere Länder zeigt, werden sta- untergespielten indirekten Auswirkungen auf den bile Preise nicht einmal durch Unterbeschäftigung Bundeshaushalt kommender Jahre garantiert. (Abg. Rawe: Sie haben doch gar keinen!) (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Das Geschäft mit der Angst!) werden wir dafür sorgen, daß die Rentenreform ein Erfolg bleibt. Ist es ehrlich und ist es veratnwortlich, wenn man das Gespenst der Inflation durch die Lande trägt? (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Das Gepsenst Zu den Preisen, meine Damen und Herren: Ich der Arbeitslosigkeit tragen Sie durch die meine, da sollten sich zunächst einmal diejenigen Lande! Angstmacher! — Weitere Zurufe zurückhalten, von denen bekannt ist, daß ihnen von der CDU/CSU.) - die Interessen gewisser Teile der Großindustrie in den vergangenen Jahren stets mehr am Herzen Zunächst muß man doch ehrlicherweise zugeben, gelegen haben daß bei uns in Deutschland dieser Begriff gleich- gesetzt wird -- jedenfalls für die Älteren — mit (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu der galoppierenden Inflation nach dem ersten rufe von der CDU/CSU) Weltkrieg bis hin zu dem schwindelnden Höhe- als Preisstabilität und die Interessen der Ver- punkt vom Herbst 1923, als man sich für Milliarden braucher. von Reichsmark knapp noch ein Brötchen kaufen (Zuruf von der CDU/CSU: Unverschämt konnte, und daß dieser Begriff gleichgesetzt wird heit!) mit dem erneuten totalen Geldverfall nach dem letzten Krieg. Ich appelliere — nicht jetzt an Sie — Und auch dies: Wer 1969 die Aufwertung und an alle Beteiligten, ich appelliere an die intellek- 1971 die außenwirtschaftliche Absicherung bis aufs tuelle Redlichkeit und politische Disziplin aller Be- Messer bekämpft hat, sollte heute lieber schweigen, teiligten, wenn von Stabilität die Rede ist. (Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu sich nicht der Versuchung hinzugeben, durch den rufe von der CDU/CSU.) falschen Gebrauch dieses in unserem Land be- Tatsache ist übrigens, daß es den Bürgern in un- sonders explosiven Wortes „Inflation" partei- serem Lande heute besser und nicht schlechter geht politisches Kapital aus einem spezifisch deutschen als vor drei Jahren. Trauma schlagen zu wollen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Die Nettolöhne und -gehälter der Arbeitnehmer Rösing: Das gilt aber auch für die Sicher sind in dieser Zeit um reichlich 40 %, real um ein heit der Arbeitsplätze! — Weitere Zurufe Viertel, gestiegen, meine Damen und Herren; so von der CDU/CSU.) sieht's aus! Im übrigen wundere ich mich, woher Sie, Herr (Beifall bei den Regierungsparteien.) Strauß, und Sie, Herr Barzel, eigentlich den Mut nehmen, landauf, landab von Stabilität und Solidität Eine vergleichbare reale Einkommenssteigerung hat zu reden, nachdem Sie es in den letzten beiden es in der gesamten Nachkriegszeit nur ein einziges Tagen in diesem Hause einzig und allein darauf Mal zuvor — zu Beginn der 60er Jahre — gegeben. angelegt hatten, die Koalition bei der Rentenreform Tatsache ist ferner, daß sich die Wirtschaft der nicht nur verbal, sondern auch finanziell zu über- Bundesrepublik nicht in der von Herrn Strauß und trumpfen. anderen immer wieder beschworenen Rezession oder (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Stagflation, sondern in einer neuen Aufschwung- Katzer: Was nicht wahr ist, wie Sie wissen! phase befindet. Aufträge, Produktion, Investitionen, — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Exporte, Gewinne — welchen Nennwert man auch 11768 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Bundeskanzler Brandt zugrunde legt: niemand kann bestreiten, daß es mit In diesem Punkt unterscheiden wir uns ganz deut- der deutschen Wirtschaft wieder und weiter bergauf lich von solchen Kräften in der CDU/CSU, die diese geht; darüber sollten wir uns freuen und es nicht Sache anders sehen. vermiesen wollen! (Zuruf von der CDU/CSU: Schiller!) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Bewußt herbeigeführte Arbeitslosigkeit ist für Tatsache ist vor allem, daß der Preisanstieg in uns kein Mittel der Wirtschaftspolitik und kein der Bundesrepublik Knüppel aus dem Sack zur Disziplinierung der Wirt- (Zuruf des Abg. Rawe) schaft. (Beifall bei den Regierungsparteien.) — so besorgniserregend er ist — in den letzten drei Jahren geringer als in fast allen anderen westlichen Ich halte auch nichts davon, wenn dies neuerdings Industriestaaten war; das muß man auch sagen. auf CDU-Veranstaltungen mit dem Ausdruck „Repri- vatisierung des Beschäftigungsrisikos" verschämt (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu umschrieben wird. Das klingt zwar sehr gelehrt, rufe von der CDU/CSU.) aber ich meine, mit der Existenzgrundlage von Mil- Niemand kann bestreiten, daß die D-Mark, gemes- lionen Arbeitnehmern sollte man nicht spielen, nicht sen am Dollar, am englischen Pfund, am französi- einmal in der Theorie. schen Franc und den meisten anderen Auslands- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu währungen, heute nicht weniger, sondern um rund ruf von der CDU/CSU: Tun wir das?) ein Viertel mehr wert ist als vor drei Jahren. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Vizepräsident . Frau Funcke: Herr Bundes- Aber gerade weil die D-Mark als eine der härtesten kanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Währungen weltweites Vertrauen genießt, war un- Abgeordneten Barzel? ser Land in den letzten Jahren immer wieder das Ziel spekulativer Geld- und Kapitalzuflüsse. Dies Brandt, Bundeskanzler: Bitte! findet seinen Ausdruck unter anderem darin, daß die Devisenreserven der Deutschen Bundesbank in den Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Bundeskanzler, ist letzten zwei Jahren um mehr als 50 Milliarden- DM Ihnen bekannt, daß das auf dieser Tagung ein Pro- angestiegen sind. Gegen die weltweite Geldvermeh- fessor gesagt hat, daß das aber einstimmig von allen rung sind nationale Maßnahmen — an denen es in anwesenden Kollegen und Nichtkollegen der Christ- der Bundesrepublik im übrigen auch nicht gefehlt lich-Demokratischen und Christlich-Sozialen-Union hat — nur in Grenzen wirksam. abgelehnt worden ist, weil für uns der gesicherte Wir haben uns für die Europäische Wirtschafts- Arbeitsplatz in der Wertskala obenan steht? und Währungsunion entschieden, für die es nach (Beifall bei der CDU/CSU.) meiner Auffassung keine Alternative gibt. Ich bin deshalb davon ausgegangen, dies sei auch die Auf- Bundeskanzler: Ich nehme das gern zur fassung der Opposition. Wenn dem so ist, dann soll- Brandt, Kenntnis und hoffe, daß es dabei bleibt. ten Herr Strauß und Herr Barzel aber auch endlich aufhören, so zu tun, als könne man gleichzeitig für (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. eine zunehmende westeuropäische Integration und Seiters: Bielefeld! — Abg. Rawe: Das ist für eine völlig unabhängige Konjunkturpolitik zu doch Ihre Bielefelder Art!) Hause eintreten. Gewiß, Vollbeschäftigung, die Sicherheit auf einen (Beifall bei den Regierungsparteien.) Arbeitsplatz muß täglich neu errungen werden. Wir Wir können nur dies in Europa: Mit möglichst gu- leben in einer Leistungsgesellschaft, so sagen wir. tem Beispiel vorangehen und unser Gewicht in die So reden auch die Vollbeschäftigungsgegner von Waagschale werfen, daß aus dieser Wirtschafts- und rechts. Wo liegt der Unterschied? Er liegt darin, Währungsunion eine Stabilitätsgemeinschaft wird. daß wir es jedem Bürger auch ermöglichen, zu lei- Darum haben wir uns bisher bemüht. Darum bemüht sten und zu arbeiten. Denn er muß arbeiten kön- sich in diesen Wochen mit seiner nen, um leisten zu können. Das ist doch der Sinn, bekannten Energi e. der hinter dem Ganzen steckt. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Die Gegner unseres Vollbeschäftigungszieles wol- len genau dies nicht, halten, wie sie sagen, ein ge- Auf der Gipfelkonferenz im nächsten Monat wer- wisses Maß von Arbeitslosigkeit für notwendig — den wir das mit Nachdruck vorbringen, uns für ein nicht auf Ihrer Tagung, aber Sie kennen diese De- europäisches Stabilitätskonzept einsetzen. batten, die es dazu bis in diese Tage gibt. Das Bekämpfen der Preissteigerungen war und (Abg. Rawe: Fangen Sie nicht wieder an zu ist für die Bundesregierung die wichtigste Aufgabe verleumden!) der Wirtschaftspolitik. Das will ich hier sagen. Die so argumentieren, sind für eine gewollte Rezes- (Beifall bei den Regierungsparteien.) sion, sie sind für eine Leistungsgesellschaft mit Ar- Sie muß jedoch ihre Grenze finden, wenn es um die beitslosigkeit. Arbeitsplätze geht. (Abg. Rawe: Jetzt verleumdet er schon (Beifall bei den Regierungsparteien.) wieder!) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11769 Bundeskanzler Brandt Sie verwehren damit einem Teil des Volkes — Ar- Wir haben auch die quafilizierte Sparförderung und beitnehmern wie Selbständigen — die Möglichkeit damit die Vermögensbildung vorangebracht, denn zum Leisten. Das ist der falsche Weg, und den lehnen wir ab. (Lachen bei der CDU/CSU. — Zuruf von (Beifall bei den Regierungsparteien.) der CDU/CSU: Negativ!)

Nun zu den Reformen. Wer wollte heute noch — Hören Sie doch einmal zu! leugnen, daß es der Reformen bedurfte und bedarf. (Abg. Katzer: Weshalb ist Herr Rosenthal Der Lebensstandard der allermeisten unserer Mit- zurückgetreten?) bürger ist kräftig angestiegen. Wer wollte das be- — Wir sprechen ja jetzt nicht von Reden, die Sie streiten? Aber das ungezügelte Wachstum bei kras- draußen halten, sondern ich rede vom Geld, das sen Vorrechten und krasser Benachteiligung ließ die Arbeitnehmer bekommen. seine — des ungezügelten Wachstums — Grenzen erkennen. Die Zahl derer nahm zu, die sich auf die (Abg. Katzer: Warum ist er denn zurück Qualität des Lebens besinnen. Ich weiß besser als getreten?) jeder andere, daß dieser Regierung im Bemühen um — Hören Sie doch einmal zu, Herr Katzer. innere Reformen Zeitverluste, ja, ich sage es in aller Offenheit: auch Fehler und Pannen unterlaufen sind. (Abg. Dr. Wörner meldet sich zu einer Zwi schenfrage.) (Abg. Vogel: Großzügig, dieses Eingeständnis!) — Nein, jetzt rede ich. Und trotzdem sage ich: Unsere Bilanz kann sich (Beifall bei der SPD. — Lachen und Zurufe sehen lassen, und wir werden sie offensiv gegen Sie von der CDU/CSU: Mehr Demokratie!) im Lande vertreten. Im Jahre 1968, also im Jahr, bevor diese Regierung (Beifall bei den Regierungsparteien.) gebildet wurde, legten nur 4,5 Millionen Arbeit- nehmer 1,2 Milliarden DM an. Die Opposition sollte sich, wenn es dazu nicht zu spät ist, endlich darüber klar werden, was sie will. (Abg. Haase [Kassel] : Warum denn?) 1969 hat sie gesagt, wir hätten uns zuviel vorge- In diesem Jahr, 1972, werden immerhin 17 Mil- nommen, und heute sagt sie, wir seien noch nicht- lionen Arbeitnehmer 8 Milliarden DM angelegt weit genug vorangekommen. haben. Ich nenn das einen Fortschritt. (Abg. Dr. Wörner: Gescheitert! — Abg. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Strauß: Stimmt ja beides!) In der Gesundheitssicherung haben wir 26 Mil- In den allgemeinen Haushaltsberatungen kritisierte lionen Kindern, Frauen und Männern die Möglich- sie, daß zuviel Mittel für dies und jenes angesetzt keit zur Voruntersuchung gegeben. Der Kampf ge- seien; im einzelnen aber schlug sie immer wieder gen den Krebs und andere heimtückische Krankhei- vor, mehr Geld auszugeben. Im allgemeinen meinte ten ist dadurch intensiviert worden. die Opposition, unsere Reformansätze reichten nicht aus; im ganzen war man dann andererseits geneigt, (Beifall bei den Regierungsparteien. — unserer Politik den Mantel der beginnenden Revolu- Abg. Katzer: Das haben wir doch vorge tion umzuhängen. Das halte ich für widersprüchlich schlagen! Er hat die falsche Vorlage!) und auch nicht für seriös. Viele Bürger draußen wis- Unsere Programme zur beruflichen Bildung und zur sen, daß diese Koalition aus Sozialdemokraten und Rehabilitation helfen heute und weisen zugleich in Freien Demokraten in der Lage war und ist, die Zukunft. (Abg. Windelen: Ist?) Für die Arbeiter, die Angestellten und besonders mehr Gerechtigkeit, mehr Gemeinschaftsgüter, einen die jungen Menschen haben wir die Stellung im leistungsfähigeren Staat zu verwirklichen. Dr. Barzel Betrieb durch das neugestaltete Betriebsverfas- hat am Mittwoch zugegeben, daß diese Regierung sungsgesetz gesichert und ausgebaut. Die große nicht faul gewesen sei. Das stimmt. Mehrheit der Opposition war allerdings nicht da- (Abg. Rawe: Das ist ja das Traurige!) für, sondern dagegen, wie sie auch gegen den Mie- terschutz gewesen ist und gegen die Begrenzung Herr Barzel, die Bürger, die Angestellten, die Be- des Mietanstiegs. amten und die Politiker, die an diesem eingeleiteten (Zuruf von der CDU/CSU: Primitiv!) Reformwerk mitgearbeitet haben, werden aber mit Recht hinzufügen: Wir waren fleißig, und wir wa- Weitere Beispiele sind die Gemeinde-Verkehrs- ren gegen alle Widerstände erfolgreich. — Das ist finanzgesetze und das Städtebauförderungsgesetz. die Wahrheit! (Abg. Haase [Kassel] : Der „ehrliche Kanz (Beifall bei den Regierungsparteien.) ler"!)

Die CDU/CSU hatte die strukturelle Anhebung Ich sage noch einmal: Wir haben nicht alles ver- und die dynamische Anpassung der Kriegsopferren- wirklichen können, was wir uns vorgenommen hat- ten jahrelang nicht zustande gebracht. Wir haben ten. das erreicht. (Zuruf von der CDU/CSU: Das kann man (Beifall bei den Regierungsparteien.) wohl sagen!) 11770 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Bundeskanzler Brandt Steuerreform, Reform der Vermögensbildung und reformieren und die Chancengleichheit für alle zu Bodenrechtsreform — ob es einigen Spekulanten verwirklichen. paßt oder nicht — (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. (Beifall bei den Regierungsparteien) Rawe: Deswegen muß diese Regierung müssen in der nächsten Legislaturperiode fortge- weg!) führt werden. Die Steigerung der Bundesausgaben für Bildung, Wer es wie die Unionsparteien jahrelang ver- Wissenschaft und Forschung auf weit mehr als das säumt hat, dringend Notwendiges möglich zu ma- Doppelte, chen, wer in dieser Legislaturperiode die Regie- (Abg. Haase [Kassel] : Und Herr Leussink? rung lauthals kritisierte, aber selten brauchbare Wo ist er denn?) Alternativen entwickelt hat, die mühsame, aber immerhin nicht erfolglose Arbeit (Zurufe von der CDU/CSU: Erst gestern am Bildungsgesamtplan, das neue Betriebsverfas- noch!) sungsgesetz, der sollte hier nicht so tun, als könnte er uns was (Abg. Haase [Kassel] : Das hatten Sie schon!) vormachen. (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar das Städtebauförderungsgesetz — — teien.) (Zurufe von der CDU/CSU: Das hatten Sie Empörend finde ich es, wenn draußen verbreitet auch schon!) wird, wir wollten Häuser und Geschäfte enteignen, — Das kann gar nicht oft genug gesagt werden. (Abg. Wehner: Sehr wahr!) (Heiterkeit und Beifall bei der Regierungs wir wollten dem privaten Eigentum zu nahe treten. parteien.) Die dies wider besseres Wissen behaupten, sind Lügner. Also noch einmal: Das Betriebsverfassungsgesetz, das Städtebauförderungsgesetz, (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar (Zurufe von der CDU/CSU: Wo haben Sie teien.) - das Geld dafür? — Weitere Zurufe von der Es sind nicht radikale Gruppen, die die Politik mei- CDU/CSU.) ner Partei und dieser Regierung bestimmen. (Erneuter Beifall bei den Regierungspar die ersten Umweltschutzgesetze, auch das Kranken- hausfinanzierungsgesetz sind Schritte auf diesem teien.) Es ist unanständig, Weg. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Zurufe von der CDU/CSU: Holzen! — Abg. Strauß: Streit zu provozieren!) Dieser Weg muß fortgesetzt werden. Er muß fort- gesetzt werden durch mehr und bessere Gemein- wenn man vor einem erfundenen Buh-Mann Angst schaftseinrichtungen, durch mehr Menschlichkeit in erzeugen will. unseren Städten, auch durch ein besseres — ich (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU.) sagte es ischon — Bodenrecht, durch mehr Schutz für unsere Umwelt und durch mehr Sicherheit für unsere Ich frage mich manchmal, wie einige, die so un- Bürger und für unseren Staat. wahrhaftig argumentieren, (Zuruf von der CDU/CSU: Das tun Sie (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu doch!) rufe von der CDU/CSU.) dies mit ihrem christlichen Selbstverständnis verein- Die Unionsparteien sind jedenfalls in ihrem ge- baren wollen. genwärtigen Zustand, (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar (Abg. Rawe: Unwahrscheinlich stark!) teien. — Pfui-Rufe und weitere Zurufe von zur Fortsetzung der Reformpolitik ebensowenig in der CDU/CSU.) der Lage wie zur Fortsetzung unserer Friedens- Selbstverständlich, meine Damen und Herren, politik. dürfen wir uns nicht damit begnügen, (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Rawe: Er kann nichts als verleumden; Darum sagen wir den Wählern, daß sie bei uns das ist sein Niveau!) besser aufgehoben sind. das Bestehende zu sichern und ein wenig zu ver- (Abg. Haase [Kassel] : Auch mit ihren Er bessern. Die Qualität des Lebens muß gerade für die sparnissen?) breiten Schichten unseres Volkes wesentlich verbes- sert werden. Auch auf dem Gebiet der inneren Sicherheit — ich (Abg. Dr. Wörner: Das müssen Sie machen, ließ es eben schon anklingen — muß man das tun, nicht immer wieder davon reden!) was möglich ist und darf sachliche Erörterungen nicht durch unsachliche Emotionen ersetzen wollen. Deshalb und nicht einem Dogma zuliebe ist es er forderlich, unsere Gesellschaftsordnung weiterhin zu (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11771

Bundeskanzler Brandt Ich wiederhole hier: Wir sind ein friedfertiges Volk, die innere Sicherheit sei allein eine Frage von Poli- aber unsere Friedensliebe hört beim Terror auf. zei und Justiz. Wir haben statt dessen zu sagen: sie ist in hohem Maße auch eine Frage des Ausbaus (Beifall bei den Regierungsparteien.) unserer Rechtsordnung, der Verwirklichung unseres Die Erfahrung hat gezeigt, daß es einen totalen Grundgesetzes dort, wo es uns über Rechtsnormen Schutz nicht gibt. Aber den möglichen Schutz müs- hinaus Ziele setzt. sen wir aufbieten. Nicht durch hysterisches Geschrei, sondern durch nüchternen Einsatz der staatlichen Die CDU/CSU, Herr Kollege Barzel, hat nicht ver- Mittel ist beispielsweise die Baader-Meinhof-Gruppe winden können, daß sie Opposition wurde. zerschlagen worden. (Abg. Dr. Barzel: Ist ja gar nicht wahr!) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Sie hat deshalb weithin in diesen drei Jahren auf Dieselbe CDU/CSU, die sich heute als Hüter der Kriegsfuß mit den üblichen demokratischen Spiel- inneren Sicherheit aufspielen möchte, muß sich regeln gestanden, übrigens sagen lassen, daß sie in den zurückliegen- (Beifall bei den Regierungsparteien — den Jahren den Ausbau des Bundeskriminalamtes Widerspruch bei der CDU/CSU — Zuruf sträflich vernachlässigt hat. von der CDU/CSU: „Holzen"!) (Beifall bei den Regierungsparteien.) seit sie in der ersten Debatte beim Zusammentritt dieses Bundestages durch ihren Sprecher verkünden Wir sind dabei, es mit den erforderlichen Mitteln zu ließ: Dieser Regierung keine Minute Schonzeit. einem voll wirksamen Instrument zu machen. Eben- so ist diese Bundesregierung unter der Federfüh- (Sehr gut! bei der CDU/CSU.) rung von Herrn Kollegen Genscher darangegangen, Wir haben das zur Kenntnis genommen und gleich- Bund und Länder zusammen vor den Karren der ge- wohl gehandelt, so, daß man vielleicht auch selbst- meinsamen Sicherheit zu spannen. Wir brauchen kritisch sagen könnte: Diese Regierung hat viel jetzt bewegliche Spezialeinheiten, die gegen Terro- gearbeitet und manchmal zu wenig darüber gespro- risten und gegen Gewaltverbrecher besonderer Art chen. eingesetzt werden können. Ich bin zufrieden, daß (Beifall bei den Regierungsparteien. — hierüber ein Einvernehmen mit den Innenministern- Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Rawe: der Länder erzielt werden konnte. Auch noch ein bißchen wehleidig!) Wir brauchen auch eine schärfere Handhabung Wir bekamen dann — regen Sie sich ab, dann der Gesetze gegen extreme Ausländergruppen. Ich rede ich weiter — die lange Periode des permanen- bin gegen Verallgemeinerungen und gegen Auslän- ten Neinsagens, verbunden mit zahlreichen Ankün- derfeindlichkeit. Ich sage aber in aller Klarheit: digungen, die Regierung stürzen zu wollen, bis hin Unsere Bundesrepublik ist nicht der Platz und darf zum gescheiterten Mißtrauensvotum. Die Oppo- nicht der Platz sein, auf dem fremde Konflikte und sition wurde innen- und außenpolitisch weithin zu Spannungen ausgetragen werden. einer Größe, die den Eindruck erweckte, als sei ihr (Beifall bei den Regierungsparteien und bei das Wohl der eigenen Partei noch wichtiger als das Abgeordneten der CDU/CSU.) Wohl des Staates. Wir haben Schritte eingeleitet, um die europäischen (Beifall bei den Regierungsparteien. — Staaten zu gemeinsamem Handeln zu veranlassen Pfui-Ruf von der CDU/CSU.) und um zu einer internationalen Konvention ge- gen Terrorismus zu gelangen. Die Opposition hat sich in die Rolle des ewigen Neinsagers hineinmanöveriert. Aber das Thema der inneren Sicherheit darf auch (Beifall bei den Regierungsparteien. — in der gegenwärtigen Lage nicht allzusehr einge- Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.) engt werden. Stabilität unserer Gesellschaft kann nicht allein durch Polizei und Justiz erreicht werden. Wenn sie allein ihren Äußerungen treugeblieben Schon diese sind angewiesen auf die Unterstützung wäre, hätte das z. B. zur Ablehnung der Verträge durch die Bürger, auf ihr Eintreten für ihren, für von Moskau und Warschau führen können. Sie hat unseren demokratischen Staat. Unser Staat muß sich zu spät gesehen, daß das nicht ging, und sie hat es nicht nur behaupten, er muß auch seine wohlver- nicht mehr geschafft — sie blickte wohl auch nicht standene Würde verteidigen. Wer eine korrekte mehr ganz durch, jedenfalls nicht rechtzeitig —, sich parlamentarische Entscheidung als „kalten Staats- von dem Odium zu befreien, gegen den Osten und streich" bezeichnet, Herr CSU-Vorsitzender, und den Rat der Verbündeten im Westen zu gleicher wer ohne jeden vernünftigen Grund von den „letz- Zeit zu sein. ten freien Wahlen" spricht, der verstößt gleicher- (Beifall bei den Regierungsparteien.) maßen gegen die Würde des Staates und gegen die gemeinsamen Interessen an der Demokratie. Wer in einer Schicksalsfrage der Nation in die Enthaltsamkeit flüchtet, insoweit in einer Schicksals- (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar frage der Nation vor dem Gewissen flieht, der sollte teien.) nicht vom Gewissen reden, wenn von Mandats- Niemand von uns darf glauben, überträgern die Rede ist. (Abg. Rawe: Buhmann aufbauen!) (Beifall bei den Regierungsparteien.) 11772 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Bundeskanzler Brandt Zur Bilanz unseres Widerparts in diesen drei wenn sonst nichts geschehen wäre als das Berlin- Jahren gehört die Tatsache, daß sie vom Protest Abkommen — und dies alles gegen den erbitterten gegen die Erklärung, die DDR sei ein Staat, heute Widerstand der Opposition —, zu einem Ja zum ersten Staatsvertrag mit der DDR (Sehr wahr! bei der SPD) gekommen ist. Die Opposition spürt wohl, daß sie nicht mehr gegen den weltpolitischen Strom schwim- wenn nichts anderes passiert wäre, dann wäre diese men kann, aber sie möchte, daß es niemand merkt. Bilanz gut und klar und überzeugend. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Der Opposition, die die Regierung übernehmen Es wäre gut zu wissen für dieses Haus und für will, muß mit den Worten von Herrn Dr. Barzel ge- die deutsche Öffentlichkeit, ob der Fraktionsvorsit- sagt werden: So nicht und jetzt nicht. zende der CDU/CSU bereit ist, auch hier im Bundes- tag zu sagen, daß seine Partei sich frei von sterilem (Beifall bei den Regierungsparteien.) Antisowjetismus früherer Jahre halten will, ob er Herr Kollege Barzel, Sie sind nicht nur gescheitert, die Konferenz für Zusammenarbeit und Sicherheit (Lachen bei der CDU/CSU) in Europa unterstützt, ob er für ausgewogene Trup- penverminderung ist, ob er eine Politik der Ver- als Kollegen Ihrer eigenen Fraktion Ihnen in ge nunft und nicht der Ideologie machen will, heimer Abstimmung die Gefolgschaft versagt haben. (Beifall bei den Regierungsparteien — Zu (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu rufe und Lachen bei der CDU/CSU) rufe von der CDU/CSU.) Sie sind nicht nur gescheitert, als Sie in Ihrer Frak- und ich frage Herrn Dr. Barzel, ob er garantieren tion eine halbwegs realistische Haltung zu den kann, daß sich auch Herr Strauß, Herr Marx und Ostverträgen durchsetzen wollten. Sie sind auch ge- andere seiner Kollegen daran halten. scheitert mit Ihrem dreijährigen Bemühen, die Ar- (Beifall bei den Regierungsparteien.) beit der Regierung zu stören und lahmzulegen. Denn gelungen ist Ihnen letzten Endes nur die Läh- Die Opposition hat es auch schwer gehabt, weil mung dieses Parlaments; die ist Ihnen gelungen. sie eben mit Emotionen geweckt hat, derer- sie nur schwer Herr wurde. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat die Ich nenne dies ein trauriges Ergebnis dreijähriger betrieben?!) Arbeit einer zahlenmäßig so starken Opposition. (Zustimmung bei der SPD.) Sie hat mit vielen Zungen gesprochen, — eigentlich nur in dem verständlichen Wunsch, die Regierung Ich sage Ihnen voraus, Herr Barzel: vor den Männern zu stürzen. Sie hat sich weithin in der Tages- und Frauen in der Bundesrepublik werden Sie er- taktik erschöpft, ohne in diesen drei Jahren — für neut, und zwar völlig zu Recht, scheitern mit Ihrem mich erkennbar — auch nur einen großen tragenden unseriösen Gerede zur Wirtschafts- und zur Finanz- politischen Gedanken zustande gebracht zu haben. politik. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu Haase [Kassel] : Das liegt doch an Ihnen!) ruf von der CDU/CSU: Er verketzert alles!) Das Patt im Bundestag ist entstanden, weil eine Jetzt sagt sie, sie möchte künftig alles besser Reihe von Abgeordneten Fraktion und Partei ge- machen, obgleich sie vorher 20 Jahre Zeit dazu wechselt haben. gehabt hat. (Zuruf von der CDU/CSU: Warum wohl? (Beifall bei den Regierungsparteien.) — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Versäumnisse von 20 Jahren haben wir nicht in In diesem Zusammenhang ist es in der Tat überaus drei Jahren aufarbeiten können; das stimmt. interessant zu lesen, was hierzu Dr: Erich Mende am (Zuruf von der CDU/CSU.) 11. März 1956 erklärte Er erhob damals die Forde- rung, daß Abgeordnete, die aus ihrer Partei austre- Die Opposition rühmt sich, dies nach Kräften ten, ihr Mandat niederlegen sollten, verhindert zu haben. Ich bin sicher, unser Volk wird (Hört! Hört! bei der SPD) sein unabhängiges Urteil zu fällen wissen. und er kündigte an, daß er eine entsprechende Er- Wenn in diesen drei Jahren nichts anderes pas- gänzung des Grundgesetzes beantragen wolle. siert wäre als die eine Tatsache, daß nach einer (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.) 20jährigen Entwicklung des Auseinanderlebens die Denn — so Herr Mende damals — der Wähler könne Menschen in Deutschland ein Stück einander näher- kein Vertrauen mehr zu einem Kandidaten haben, gerückt sind, wenn er damit rechnen müsse, daß Abgeordnete (Sehr wahr! bei der SPD) nach der Wahl von einer Partei zur anderen wech- wenn nichts sonst geschehen wäre, als daß wir den selten. Frieden etwas sicherer gemacht haben, (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Wie denn?) parteien.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11773

Bundeskanzler Brandt Wie wahr! Aber wenn wir uns fragen, warum die uns z. B. klar, wenn wir den Vorwurf hören, die betreffenden Mitglieder des Hauses uns diesen Wan- Politik sei gescheitert, und wenn man gleichzeitig derungsverlust zugefügt haben, so lautet meine auf die Feststellung Wert legt, man sei dabei ge- Antwort: nicht weil wir sie überrascht hätten, son- wesen — „me too", wie man bei den Angelsachsen dern weil sie — einige von Anfang an, andere spä- sagt —, die Opposition hätte, was ja stimmt, bei ter — nicht zu dem stehen wollten, was wir in un- zahlreichen, ja, bei den meisten der hier verab- serer Regierungserklärung vom Oktober 1969 nie- schiedeten Gesetze mitgewirkt. dergelegt hatten. (Abg. Katzer: Ich denke, wir hätten immer (Zurufe von der CDU/CSU: Aha! — Herr Schil nein gesagt!) ler auch, gelt?!) Dabei ist allerdings gleich hinzuzufügen, daß die Bei uns ist 1969 niemand mit Aussagen in den meisten dieser Reformwerke gar nicht auf den Tisch Wahlkampf gezogen, die heute nicht mehr gelten. dieses Plenums gekommen wären, wenn wir sie (Oh-Rufe von der CDU/CSU.) nicht eingebracht hätten. Getäuscht worden ist keiner von denen, die ihre (Beifall bei den Regierungsparteien.) Abwanderung mit Gewissensgründen motivieren. Wir haben weder zuviel versprochen noch zuwenig Getäuscht haben sie allenfalls sich selbst und an- gehalten. Wir haben in diesen drei Jahren mehr dere. geschafft, als wir uns vorgenommen hatten. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Auch Herr Katzer hat gestern von den Gewissens- Lachen bei der CDU/CSU.) gründen seiner neuen Parteifreunde gesprochen. Vielleicht weiß er nicht so genau, wie grotesk es Und wir werden das, was liegengeblieben ist, weil auf uns wirken muß, wenn man uns weismachen die Zeit nicht reichte oder nicht das Geld oder weil will, jemand müsse zu Strauß gehen, um Sozialdemo- sich die Opposition oder der Bundesrat querlegte, krat zu bleiben. (Abg. Rawe: Und Sie den Mund zu voll (Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — genommen haben!) Zurufe von der CDU/CSU.) in den nächsten vier Jahren vollenden. Wie dem auch sei, hätten wir einigen Wankel-- mütigen zuliebe auf das verzichten sollen, was wir (Beifall bei den Regierungsparteien.) den Wählern gesagt hatten und worauf wir uns in In diesem Bundestag ist viel gestritten, aber der Regierungserklärung verpflichtet hatten? Nein! auch viel gearbeitet worden. Es wäre ungerecht, Hätten wir auf die Verträge von Moskau und War- wenn dies nicht über allen Parteienstreit hinweg schau und die damit verknüpfte Berlin-Vereinbarung anerkannt würde. Ich hoffe dabei, daß hier auch verzichten sollen? Nein! Hätten wir auf die so not- viele von uns die Sorge teilen, die sich auf die wendigen innenpolitischen Vorhaben verzichten Verhärtung der Fronten im ganzen bezieht. sollen? Ein solcher Verzicht wäre schlimmer ge- wesen als der Verlust der ohnehin knappen Mehr- Die Regierung wird jedenfalls weiter ihre Pflicht heit in diesem Hause. tun, wie es sich gehört. Gleichzeitig werden wir (Beifall bei den Regierungsparteien.) Rechenschaft geben und uns um neues Vertrauen bemühen, um dieses Vertrauen werben, um auf der nächsten Wegstrecke das Menschenmögliche für Vizepräsident Frau Funcke: Herr Bundes- unser Volk zu erreichen. kanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn (Langanhaltender Beifall bei den Abgeordneten Müller? Regierungsparteien.)

Brandt, Bundeskanzler: Nein, ich will jetzt zu Ende kommen. Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Strauß. Für ihn ist eine ver- (Zurufe von der CDU/CSU.) längerte Redezeit beantragt. Es war richtig, die neuen Initiativen zu ergrei- (Abg. Gallus: Jetzt sieht man, wer Herr im fen, wie es auch richtig war, die Große Koalition Hause ist!) nicht fortzusetzen. Andernfalls wäre die politische Entwicklung zum Stillstand gekommen. Diese Re- gierungskoalition mußte gebildet werden, weil nur Strauß (CDU/CSU) : Frau Präsidentin! Meine sehr sie den Anstoß zu neuer vernünftiger Bewegung verehrten Damen und Herren! Bei dem Genuß, geben konnte. Wie recht wir damit gehabt haben, die Rede des Bundeskanzlers anhören zu dürfen, hat ja bei allem Schwanken das Verhalten der mußten einen zwiespältige Überlegungen und Ge- Opposition bei der Ratifizierung der Ostverträge fühle erfüllen. Wenn jemals ein Bundeskanzler dann doch bewiesen. Dasselbe zeigt sich bei dem, einer CDU/CSU-geführten Regierung so gesprochen wenn auch nur zögernd wachsenden Reformbewußt- hätte, wäre ihm mit Sicherheit von der damaligen sein im Bereich der Christlichen Demokraten. Opposition, der SPD, in Rede und Zuruf das Wort „Demagoge" entgegengeklungen. Aber immer noch ist das Verhalten der Union ge- rade auf diesem Gebiet widersprüchlich. Das wird (Beifall bei der CDU/CSU.) 11774 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Strauß Aber am Ende der Rede muß ich, versöhnlicher ge- nis von 1969 wurde durch einige Mandatsüber- stimmt und heiterer veranlagt, sagen: er bemüht träger zugunsten der Opposition verschoben. sich offensichtlich, in der Reihe der Humoristen Doch nicht ein paar Überläufer dürfen, sondern wider Willen einen Platz in der Führungsloge ein- das ganze Volk soll entscheiden, wem es sein zunehmen; als er nämlich davon sprach, daß diese Vertrauen gibt. Daher halte ich Neuwahlen für Regierung noch mehr gehalten habe, als sie sich vor- unumgänglich. genommen habe. Schon in diesen beiden Absätzen steckt eine ganze (Beifall bei der CDU/CSU.) Fülle von Unwahrheiten und unzutreffenden Schluß- Herr Bundeskanzler, dieser Satz verdiente es, als folgerungen. kabarettreif in die Parlamentsgeschichte einzugehen. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Rawe: Heute ist schon mehrmals von dem schwer deut- Aber in einem Punkt stimmt es: bei der baren Begriff des Wählerwillens gesprochen wor- Preissteigerung!) den. Aber die Tatsache, daß sich die Mehrheitsver- — Das war die einzige echte Reform! hältnisse in diesem Hause verschoben haben, be- weist, daß eine ganze Reihe von Abgeordneten, die (Zuruf von der CDU/CSU: Da ging es für eine ganz bestimmte Politik im Wahlkampf ein- aufwärts!) getreten waren, es vor dem Wähler nicht mehr ver- antworten konnten, den Verrat an dieser Politik mit Der Bundeskanzler hat hier eine Rede gehalten, ihrer Zugehörigkeit und ihrem Verbleib bei ihrer an deren Ende ich nach den neuen plebiszitären bisherigen Partei zu decken. Darum haben Sie die Anklängen, daß die Vertrauensfrage nicht dem Par- Mehrheit verloren. lament, sondern dem Volk zu stellen sei, einen Appell an das deutsche Volk erwartet, die Oppo- (Beifall bei der CDU/CSU.) sition zu stürzen. Im übrigen lassen Sie mich Ihnen, Herr Wehner, (Heiterkeit bei der CDU/CSU.) weil ich Sie gerade sehe, Diese Rede konnte man nur so verstehen, daß die (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Opposition gescheitert sei und daß man sie wegen folgendes sagen. Sie haben sich heute, was Ihnen ihrer jahrelang bewiesenen Unfähigkeit endlich ja nicht schwerfällt, furchtbar über den „Alptraum" abschaffen solle, damit die Regierung ihre Kräfte, erregt, daß wir beinahe einen Bundespräsidenten Vorzüge und Tugenden sozusagen ungebremst auf namens Gerhard Schröder bekommen hätten, der die Achse bringen könne. mit den Stimmen der NPD gewählt worden wäre. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) Dazu darf ich zunächst folgendes sagen. In der Großen Koalition hat sich der SPD-Partner immer Aber, Herr Bundeskanzler, wir sind heute nicht für einen Verbotsantrag gegen die NPD ausgespro- hier, um über die Opposition zu reden, was Ihr chen. Ich war, wie die meisten meiner CDU/CSU- gutes Recht ist. Wir sind heute hier, um die Frage Kollegen im Kabinett, aus politischen Gründen an- zu entscheiden, ob Sie noch eine parlamentarische derer Meinung. Ich war dafür, den Kampf der politi- Vertrauensbasis haben und regierungsfähig sind. schen Ebene zu führen. Nichts hätte, wenn schon das Das ist die Frage, um die es hier geht. Thema NPD anklingt, diese Regierung daran gehin- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — dert, den Verbotsantrag zu stellen. Sie hat ihn aber Abg. Müller [München] : Und wie es dazu nicht gestellt, weil sie sonst hätte rot werden müs- gekommen ist!) sen, wenn sie einen solchen Antrag nicht auch gegen die DKP gestellt hätte. Darum ist er unterblieben. — Sie können sich darauf verlassen, daß ich dazu Stellung nehmen werde. (Beifall bei der CDU/CSU.)

Herr Bundeskanzler, ein Blick auf das Impressum Wir wissen, auf welch eigenartigem Wege die DKP einer in diesen Tagen allen deutschen Haushaltun- ihre Wiederzulassung zum politischen Leben gefun- gen — wenn auch zum Teil mit Verzögerung — zu- den hat. Ich will mich auf diese Bemerkung be- gehenden Postwurfsendung hat mich beruhigt. Es ist schränken. der Vorstand der SPD, der diese Postwurfsendung Aber, Herr Wehner, da Sie schon so gut im Zu- herausgibt; es ist ausnahmsweise nicht das Bundes- sammenrechnen sind: Haben Sie sich eigentlich presse- und Informationsamt. Das ist ein Aufruf: einmal überlegt, wie viele Mandate die jetzige Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger! Unterschrie- Regierungskoalition durch die Aufteilung der NPD- ben: Mit besten Grüßen, Ihr Willy Brandt, Bundes- Stimmen bei der Zurechnung der Mandate nach dem kanzler und Vorsitzender der SPD. In diesem Appell d'Hondtschen Verfahren bekommen hat? Wenn Sie an die Mitbürgerinnen und Mitbürger heißt es: das nachrechnen, können Sie, solange noch die nor- Ich möchte, daß Sie alle wissen, warum es in malen Gesetze der Arithmetik gelten, nicht bestrei- diesem Jahr Wahlen geben soll. ten, daß Sie mit einer Reihe von umgerechneten 1969 entschied sich die Mehrheit der Wähler NPD-Stimmen Ihre künstliche und vom ersten Tag für die SPD/FDP-Koalition. Meine Regierung an knappe Mehrheit überhaupt erreicht haben. erhielt einen klaren Wählerauftrag für ihre (Beifall bei der CDU/CSU.— Widerspruch Reform- und Friedenspolitik. Dieses Wahlergeb- bei der SPD.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11775

Strauß — Ich habe dieses Thema nicht angeschnitten. Aber bund, ein Mann, der von uns wahrlich nichts ge- wir bleiben Ihnen, Herr Wehner, darauf bestimmt wollt hat, eines Tages nach vielen Warnungen ge- die Antwort nicht schuldig. sagt hat: Ich kann nicht mehr, dann sind seine Mo- (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Sie sind viel tive mindestens genauso ehrenwert wie die derer, leicht ein Rechner!) die von Friedenspolitik reden, um damit in hämi- scher Weise uns eine gegenteilige Gesinnung unter- — Im Gegensatz zu Ihnen, ja. schieben zu wollen. (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Sie sind ein (Beifall bei der CDU/CSU.) hervorragender Rechner!) Herr Bundeskanzler, Sie haben auch heute, als — Im Gegensatz zu Ihnen, ja. der Abgeordnete Günther Müller sprach, gesagt: Hier ist das Wort von den „Mandatsüberträgern" Das ist doch ein Lügner. gefallen, und dann war von den „Überläufern" die (Pfui! bei der CDU/CSU.) Rede. (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Aus gutem Sie haben das gesagt, als Günther Müller davon Grund!) sprach, daß der jetzige SPD-Unterbezirksvorsitzende von München, der Nachfolger des ruhmlos von die- Ich kann mit Stolz vermerken, daß wir uns in sem Posten verschwundenen Hans-Jochen Vogel, unseren Reihen in stetiger Weiterentwicklung un- der von ihm vorher so heftig bekämpfte Schöfberger, serer Politik, aber auch unter stetiger Beibehaltung den in diesem Bundestag als Nachfolger Günther unserer Grundsätze und Zielorientierungen mit die- Müllers im gleichen Wahlkreise demnächst zu erle- sem Thema so gut wie nie zu beschäftigen brauch- ben wir möglicherweise die Ehre haben werden, bei ten, und zwar aus gutem Grunde, was nicht heißt, der Einweihung eines Bürgerforums in München daß es nicht auch bei uns Meinungsverschieden- eben diesem Dr. Müller und einem anderen aus der heiten und Gegensätze gibt. Aber diese sind immer SPD ausgetretenen Kreisvorsitzenden in München auf dem Boden der gemeinsamen Grundsätze und als Geschenk eine vom Zentralkomitee der SED her- der gemeinsamen Zielorientierungen in allen Fragen ausgegebene Geschichte der deutschen Arbeiterbe- ausgetragen worden. wegung mitgebracht hat, in der Ebert, Schumacher Ich war vorgestern — ich sage das nicht, um hier und Ollenhauer als Arbeiterfeinde und Arbeiterver- - Gefühle anzusprechen räter bezeichnet werden. (Abg. Schmidt [München] : Das liegt Ihnen (Abg. Schmidt [München] : Die hat Schöf nicht!) berger von Müller geschenkt bekommen! — Weitere Zurufe.) — nein, das liegt mir auch nicht; das wissen Sie —, gelinde gesagt, erstaunt darüber, Herr Bundeskanz- Daß so etwas möglich ist — und nicht nur das; es ler, daß Sie sich vor Lachen kaum halten konnten, gibt ja noch andere Beispiele —, daran sind Sie, als der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Herr Bundeskanzler, in Ihrer Eigenschaft als Bun- , von den ehrenwerten Motiven z. B. desvorsitzender der SPD schuld, weil Sie sich, um der Kollegen Klaus-Peter Schulz, Hupka und an- die künstliche Einheit in Ihrer Partei nach außen derer sprach. Das verrät wenig Toleranz, wenig aufrechterhalten zu können, um diese Auseinander- Achtung vor der Gewissensfreiheit und wenig Ach- setzung so lange herumgedrückt haben, bis Sie Ge- tung vor der Freiheit des Abgeordneten nach dem fangener Ihrer eigenen Untätigkeit und Ihrer eige- Grundgesetz. nen Versäumnisse geworden sind. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Matt Lassen Sie mich von den vielen Fällen, über die höfer: Auf diesem Niveau geht es bis zum hier zu reden wäre, nur den einen herausgreifen, 19. November weiter! — Gegenrufe von der mit dem ich persönlich am allerwenigsten zu tun CDU/CSU.) hatte, weil ich den Betreffenden, von einigen Auf- Herr Bundeskanzler, dies ist auch die Stunde, in sätzen abgesehen, in meinem politischen Dasein der die Opposition mit der Regierung Abrechnung kaum jemals näher kennengelernt hatte und keinen hält. Meine Kollege Dr. Barzel, Herr Bundeskanzler, Kontakt mit ihm hatte. Ich meine - Klaus Peter wird sich als letzter Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Schulz. Aber ich weiß noch etwas über diesen Mann heute noch mit dem, was Sie zur Europapolitik und aus der Zeit, als wir in der deutschen Politik nach zur Ostpolitik an richtigen und an falschen Dingen dem Zweiten Weltkriege anfingen und als es einige vorgetragen haben, eingehend beschäftigen. Wenn Entscheidungen gab, wo es in unserem Lande auf ich darauf verzichte, dann nicht deshalb, weil ich Spitze und Knopf ging. Es ging nämlich darum, in wegen Ihrer Angriffe dazu nichts zu sagen hätte, Berlin eine Volksabstimmung zu organisieren, um sondern deshalb, weil das Herrn Dr. Barzel über- den von den Westmächten besetzten Teil Berlins lassen bleibt, der es nicht auch dem Gleichschaltungsprozeß SPD/SED auszuliefern. Das war damals die Aktion, die von (Zuruf von der SPD: Besser kann! — Hei Dr. Schumacher unternommen wurde und deren terkeit bei der SPD) Initiator und Organisator Klaus-Peter Schulz war. Ihnen schon so sagen wird, wie es die gemeinsame (Beifall bei der CDU/CSU.) Haltung der Fraktion der CDU/CSU ist. Und wenn dieser Mann nach 40jähriger Zugehörig (Beifall bei der CDU/CSU. — Lachen bei keit zur SPD und zum Deutschen Gewerkschafts der SPD.) 11776 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Strauß Ich brauche jetzt noch so eine kleine humoristische Strauß (CDU/CSU) : Herr Wehner hat vorhin Einlage, um zu etwas Stellung zu nehmen, was in auch keine beantwortet. Darum verzichte auch ich Ihrem Wahlaufruf mit Ihrer Unterschrift steht. Da vorerst darauf. heißt es: „So ungewöhnlich das auch sein mag", so heißt es Neuwahlen kann es jedoch nur geben, wenn hier weiter, „so ist das der einzig gangbare Weg." zuvor der Bundestag aufgelöst wird. Ein Bundeskanzler hat keine Mehrheit mehr, er (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Das ist doch ordnet aber an, daß er die Vertrauensabstimmung klar!) verliert, weil das der einzig mögliche Weg ist, um Das ist eine allgemeine staatspolitische Belehrung. zu Bundestagswahlen zu kommen. Er braucht Bun- destagswahlen, um im Falle eines Sieges Weiter- Um das möglich zu machen, mußte mir daran regierung zu können. Herr Bundeskanzler, was ist liegen, die Vertrauensfrage unter dem Strich das für eine ganz grobe Irreführung der deutschen nicht zustimmend beantwortet zu bekommen. Offentlichkeit?! (Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Schä (Beifall bei der CDU/CSU.) fer [Tübingen] : Stimmt's oder stimmt's Dann kommt etwas, was, wenn jemand das nicht? — Weitere Zurufe von der SPD: Ge Grundgesetz kennt, eine bewußte Unwahrheit ist, nau! — Sehr richtig!) nämlich die Behauptung: „So ungewöhnlich das auch Das ist eine völlig neue Deutung dieses Vorgangs. sein mag, das ist der einzig gangbare Weg." Das ist Sie haben am 28. April in diesem Hause, als Ihr nicht wahr. Es hätte neben dem Weg, die Ver- Haushalt abgelehnt wurde, erlebt, daß Sie keine trauensfrage in der Hoffnung zu stellen, daß man parlamentarische Mehrheit mehr haben. Zu dem eine Mehrheit bekommt, auch den Weg des Rück- Thema müßte man noch eingehender reden, wie tritts gegeben. Nach diesem Rücktritt hätte das Par- demokratisch und rechtsstaatlich der Verbleib einer lament Zeit gehabt oder es auch ablehnen können, Regierung ist, die mit finanziellen Notstandsmaß- den Versuch einer neuen Regierungsbildung zu nahmen arbeitet, bloß weil sie die fällige Entschei- unternehmen. Die Behauptung aber, daß Sie die Ver- dung, die heute fällt, ein halbes Jahr lang hinaus- trauensfrage haben wollten, stimmt doch gar nicht. geschoben hat. Sie haben sie doch so lange wie möglich hinausge- (Beifall bei der CDU/CSU.) - schoben, bis in unserem Lande die Verhältnisse un- Ihnen mußte aber daran liegen, daß die Vertrauens- tragbar geworden waren. Daran sind doch nicht wir frage „unter dem Strich nicht zustimmend beant- schuld, sondern Sie allein sind schuld daran. wortet" wird. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Sonst kann Es gibt Stimmen in Ihrem eigenen Lager — wenn man doch nicht auflösen!) ich Sie so anschaue, Herr Wehner — — Herr Bundeskanzler, das ist eine völlig neue Deu- (Abg. Wehner: Sie waren schon besser, tung. Sie haben keine Mehrheit mehr, und jetzt Herr Strauß! — Heiterkeit bei der SPD.) tun Sie so, als ob es Ihr Wille und Ihre Absicht Be- weisen sei, bei dieser Vertrauensabstimmung gar — Ja, das ist so die übliche Redensart, keine Mehrheit zu bekommen. (Abg. Wehner: Mit den Jahren ist das so!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/ wenn einer möglicherweise seine letzte Rede als CSU. — Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Sonst Fraktionvorsitzender gehalten hat. könnten wir doch gar nicht auflösen!) (Abg. Wehner: Sicher! Warum denn nicht?) „Um das möglich zu machen, muß mir daran liegen, — Ja, warum denn nicht. Darum enthalte ich mich die Vertrauensfrage unter dem Strich nicht zu- einer Wertung. stimmend beantwortet zu bekommen." (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] : Das wissen Aber dieser Bundeskanzler mußte doch die Ver- Sie doch!) trauensfrage stellen, weil er in diesem Parlament Dann können die Mitglieder der Bundesregierung, keine Mehrheit mehr hatte, also im parlamentari- die Mitglieder des Parlaments sind — und das sind schen Sinne nicht mehr regierungsfähig war. Wir doch wohl alle —, doch heute abstimmen. Sprechen haben in den letzten Monaten immer gehört, die Sie sich selbst das Vertrauen aus, und dann wird Regierung sei handlungsfähig, aber das Parlament sich herausstellen, ob Sie eine Mehrheit bekommen sei nicht handlungsfähig. Die Handlungsfähigkeit oder nicht. Sie wollen doch die Auflösung, weil Sie einer demokratischen Regierung beruht doch darauf, kein Vertrauen mehr haben, und Sie haben doch daß sie ihre Auffassungen im Parlament mit ihrer nicht deshalb kein Vertrauen mehr, weil Sie die Mehrheit durchsetzen kann. Auflösung wollen. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von Was sind denn das für Vorstellungen: „Die Regie- der SPD.) rung ist handlungsfähig"? Jede Regierung ist hand- lungsfähig, der man den Staatsapparat in die Hand Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege gibt und der man absolute Vollmachten verleiht, Strauß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn ohne Parlament regieren zu können. Das Wesen der Abgeordneten Mattick? parlamentarischen Regierung ist, daß zu ihrer Hand- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11777

Strauß lungsfähigkeit eine wenn auch noch so knappe jetzigen Regierung aufgehoben. Nicht nur das. Mehrheit gehört, mit der sie nicht zuletzt und in Die einbehaltenen Beträge wurden uns auch erster Linie auch ihren Haushalt genehmigt erhal- wieder zurückgezahlt. Das zählt. ten kann. Was hier in den letzten Monaten gesche- Das ist schäbig, und zwar deshalb, weil diese Maß- hen ist, daß mit den Artikeln 111 und 112 regiert nahme zur Ordnung der öffentlichen Finanzen nach wurde, Herr Bundeskanzler, muß noch gründlich Prüfung vieler Maßnahmen, zu denen ursprünglich überprüft werden. Hier ist die Frage, ob eine Ver- härtere gezählt haben, auch solche, die von SPD- fassungsklage angebracht wäre, angesichts der Aus- Ministern vorgeschlagen waren, im Finanzkabinett gaben, die in diesem Jahr geleistet wurden, ernst- einstimmig von den Mitgliedern der CDU/CSU und haft zu prüfen. der SPD vorgeschlagen und im Kabinett einstimmig (Beifall bei der CDU/CSU.) gebilligt worden sind. Wir gehen in das Jahresende hinein, ohne daß — (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik — eine Regierung für das laufende Haushaltsjahr Aber hier so zu tun, als ob die Regierung Kie- singer diesen Rentnerbeitrag eingeführt hätte, d. h. einen parlamentarisch genehmigten Haushalt hat. Die Regierung mißachtet die Rechtsvorschriften, sie unter Hervorhebung des Namens Kiesinger, und die jetzige Regierung ihn aufgehoben hätte, legt für das Jahr 1973 nur ein Haushaltsgerüst vor, weil sie den Offenbarungseid auf diesem Gebiet (Zuruf von der SPD: Das hat sie!) vermeiden will. Die Regierung wäre angesichts des ist ein unehrliches Spiel und ist für jedermann, der Wahltermins verpflichtet — sei es der 19. November, als Partner mit einer solchen Partei zusammenar- sei es der 3. Dezember —, den Haushalt 1973 vorzu- beitet, eine höchst makabre Warnung. legen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Hier besteht ein ganz gewaltiger Unterschied zu der von allen im Jahre 1969 getroffenen Vereinba- Man sollte das, was man gemeinsam beschlossen rung. Damals bin ich gebeten worden, die künftige hat, auch gemeinsam tragen! Regierung — da die beiden großen Parteien aus- (Abg. Dr. Kiesinger: Sehr richtig!) einandergehen wollten, nach der Wahl also ent- Wir haben damals manches geschluckt, was wir nicht weder eine CDU/CSU- oder SPD-geführte Regierung wollten. Und die andere Seite mußte manches übrigbleiben würde — nicht zu präjudizieren. Die schlucken, was sie nicht wollte. Und dann gingen neue Regierung hat auch von uns damals, wie Sie die Meinungen auch unter den Partnern bei der wissen, Herr Gallus, einen langen Rabatt bekom- Erarbeitung von finanziellen Einsparungen kreuz' men, um den Haushalt verspätet vorlegen zu kön- und quer. Das nur zu der Methode, die hier ange- nen, weil wir eingesehen haben, daß es Herrn wandt worden ist. Alex Möller nicht möglich war, noch im Herbst 1969 oder in den ersten Monaten 1970 diesen Haus- Nun hat der Herr Bundeskanzler auch noch etwas halt vorzulegen. zum politischen Koordinatensystem gesagt. Er Aber ich spreche von Ihrer Behauptung: Die Ver- meinte, hier sei eine Mitte, und dann sei hier trauensfrage ist zur Auflösung des Bundestags ge- etwas Mitte-Links, und dann etwas Mitte-Rechts, stellt worden, und: ich mußte diesen Weg gehen, (Zuruf von der SPD: Und Sie ganz rechts!) damit unter dem Strich keine Mehrheit heraus- und die großen Aufgaben von morgen könnten nur kommt. Warum wünschen Sie denn unterm Strich von Mitte-Links, aber nicht von Mitte-Rechts be- keine Mehrheit? Entweder haben Sie keine, oder Sie wältigt werden, und es käme zu schweren Span- kriegen keine! Aber man kann doch nicht sagen: Ich nungen und Zusammenstößen darüber, wo nun der wünsche keine Mehrheit, damit ich Neuwahlen her- Schwerpunkt der politischen Entscheidungen liege. beiführen kann. Sie wollten sie doch gar nicht. Wenn Sie frühzeitig den richtigen Weg gegangen wären, Herr Bundeskanzler, diese Darstellung ist zwar dann wären Sie zurückgetreten, Herr Bundeskanz- sehr einschmeichelnd, aber sie entspricht nicht der ler! Die Behauptung, daß es keinen anderen ver- Wahrheit. Denn Sie und Ihre Partei haben in die- fassungsmäßigen Weg gibt, ist einfach falsch; sie sem Lande das politische Koordinatensystem nach ist eine Irreführung der Offentlichkeit. links verschoben. Sie haben heute gesagt — und (Beifall bei der CDU/CSU.) Sie haben es auch in anderen Reden zu sagen ver- sucht —, daß konservative und reaktionäre Kräfte Ich will hier nichts zu anderen Details sagen, den gesellschaftlichen Aufgaben von heute und über die man noch reden könnte, mit Ausnahme morgen nicht genügten. Lassen Sie mich gerade vielleicht einer einzigen Bemerkung, die einfach im Zusammenhang mit der Ostpolitik, die heute von Schäbigkeit zeugt. In dem Beitrag, den ein von Ihnen reichlich strapaziert worden ist, sagen: Rentnerehepaar leistet — die Rentner müssen wie- Wir sind nicht deshalb rechts, weil etwa wir hier der einmal für die Regierungspropaganda, für SPD- einen Standpunkt einnehmen, der sich von unseren Propaganda antreten, wie schon die Mutter des früheren Standpunkten der Mitte unterscheidet, Kriegers im Landtagswahlkampf Baden-Württem- sondern wir werden deshalb von Ihnen in einem berg für die Friedenspolitik —, heißt es: großen prapagandistischen Vernebelungs- und Ver- Große Worte zählen bei uns Rentnern nicht. tuschungsmanöver in eine falsche Ecke gedrängt, Der Krankenversicherungsbeitrag für Rentner weil Sie heute die Politik verraten haben, die Sie wurde unter Kiesinger eingeführt und von der seinerzeit in vielen Reden vertreten haben, und 11778 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Strauß weil Sie heute eine Politik vertreten, die Sie damals — Allerdings! Darüber muß man noch oft reden, als Verrat und Verzicht bezeichnet haben. Herr Wehner; denn das ist mit einem Thema nicht ausgeschöpft. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich möchte diese Debatte (Abg. Wehner: Da haben Sie recht!) Ich weiß zwar nicht, ob die oftmalige Erwähnung des (Abg. Matthöfer: Bei so etwas enthalten Städtebauförderungsgesetzes heute nur ein Sprung Sie sich der Stimme!) in der Platte war oder ob das mit Absicht so auf- jetzt im einzelnen nicht wieder aufleben lassen, die geführt worden ist. Aber aus der Ferien-Wahlillu- wir schon manchmal in diesem Hause geführt haben. strierten der SPD vom August 1969, Auflage 5,5 Aber man kann nicht andere aus Gründen des eige- Millionen, ein markiges Wort des späteren Bundes- nen schlechten Gewissens unter Vertuschung des kanzlers: eigenen Standortwechsels in der Offentlichkeit zu Als Bundeskanzler werde ich die Deutsche Mark diffamieren versuchen. hart und stabil halten. Denn Verbraucher und Die CDU/CSU ist und bleibt — das gilt für beide Sparer dürfen nicht auf kaltem Wege enteignet Teile dieser Unionszusammengehörigkeit — eine werden. Ich werde nicht zulassen, daß notwen- Partei der Mitte. dige wirtschafts- und finanzpolitische Entschei- dungen aus parteitaktischen Gründen auf die (Beifall bei der CDU/CSU.) lange Bank geschoben werden. Sie sind mit Ihrer Partei von Jahr zu Jahr in der (Sehr richtig! bei der SPD.) Innen- und in der Außenpolitik weiter nach links Hat denn diese Regierung nicht alles versäumt, was abgerutscht. Darum versuchen Sie heute, ein falsches rechtzeitig hätte getan werden müssen, um das An- Koordinatensystem vor den Augen der Offentlich- steigen der Preisrate durch geeignete Maßnahmen keit aufzubauen. zu bekämpfen? (Abg. Schmidt [Hamburg] : Und mitten in (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der der Mitte der „Bayernkurier"!) SPD: Welche denn?) — Sie wären ja froh, wenn Sie ihn hätten. In der Regierungserklärung heißt es: (Heiterkeit bei der CDU/CSU. — Abg.- Schmidt [Hamburg] : Das geistige Führungs Binnenwirtschaftlich wird die Aufwertung die blatt!) Preisentwicklung des Jahres 1970 dämpfen.... (Abg. Wehner: Natürlich!) Heute ist viel von den Abgeordneten die Rede gewesen, die ihre Fraktionen verlassen haben. Nun, Ohne Aufwertung wäre eine weitere Zuspit- vielleicht ist das Zeugnis eines Kollegen, der auch zung der Konjunkturlage mit der Gefahr einer seine Fraktion verlassen hat, der nicht zu uns nachfolgenden Rezession kaum vermeidbar ge- übergetreten ist, des Herrn Kienbaum, nicht ganz wesen. Unser Ziel lautet: Stabilisierung ohne ohne Interesse. Er hat ja heute einen Brief ver- Stagnation. öffentlicht. In diesem Brief heißt es: Ich will hier nicht zu dem Thema der Aufwertung Meine bisherige Zurückhaltung . aus Rücksicht- reden, obwohl ich das sehr gerne tue. Aber wenn der nahme auf die Partei, für die ich 25 Jahre meine Bundeskanzler sagt: „Wir haben mehr gehalten, als Zeit, meine Kraft und mein Herz eingesetzt wir versprochen haben", wenn er sagt: „Als Bundes- habe, muß ich nunmehr aufgeben. Die Politik kanzler werde ich die Deutsche Mark hart und stabil des Bundeskanzlers Brandt war trotz meines halten", so kann ich nur erwidern: was haben wir mehrjährigen Widerstandes bewußt oder un- denn 1969 und im folgenden Jahre 1970 in die- bewußt auf Beseitigung von Wettbewerb im sem Hause an Auseinandersetzungen ausgestanden, Arbeitsmarkt, auf Garantie der Überbeschäfti- wo wir der Regierung konjunkturpolitische Untätig- gung ausgerichtet. keit vorgeworfen haben? Herr Bundeskanzler, wer hat den deutschen Wählern denn in der Regierungs- Brandts Politik habe uns bis heute bereits eine so erklärung im Oktober 1969 als Geschenk Steuer- einmalig lange Liste von Schäden eingetragen, daß senkungen ab 1. Januar 1970 in einer Größenordnung selbst Scheel einmal gesagt habe: allein die Auf- von 2 Milliarden DM versprochen? Daß waren doch zählung verschlage einem den Atem. nicht wir von der Opposition, sondern Sie! Sie haben (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) eine Verdoppelung des Arbeitnehmerfreibetrags und den Wegfall der Ergänzungsabgabe in Raten Ich zitiere nur jemanden, der zuerst seine Fraktion versprochen. Von der Steuersenkung ist nichts, aber verlassen hat, dann seine Partei verlassen hat, der auch gar nichts wahr geworden. Sie haben — ich muß aber kein Mandatsüberträger war, um in Ihrem Jar- das hier deutlich sagen, weil Sie auch sehr harte gon zu reden, Herr Bundeskanzler. Worte gebraucht haben — diesen Schwindel noch in den Landtagswahlen 1970 aufrechterhalten. In der Erlauben Sie mir noch ein paar Bemerkungen zu Woche nach den Landtagswahlen sind Sie dann mit dem „Wir haben mehr gehalten, als wir versprochen der Wahrheit herausgekommen und haben die haben". Steuersenkungen dann fallengelassen, weil sie kon- (Abg. Wehner: Das haben Sie schon ein junkturpolitisch schädlich wären; acht Tage vorher mal gesagt!) wahr Ihnen das noch nicht eingefallen. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11779

Strauß Hat der Steuerzahler in der Zwischenzeit nicht nis des Kanzlers oder ein Staatsgeheimnis der Re. tiefer in die Tasche greifen müssen? Allein in einem gierung? Jahr erhöhten sich die Verbrauchsteuern um 4 Mil- (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Nein, aber ein liarden DM. Wie steht es mit der Erhöhung der Ge- Sicherheitsrisiko!) bühren und der Tarife bei Bahn und Post? Das ist eine Last, die den kleinen Mann und nicht nur die Warum hat man uns diesen Brief nicht gezeigt? „kapitalistische" Wirtschaft betrifft. 12 Milliarden Warum braucht man die Steuerfahndung, um eine DM beträgt die Differenz zwischen dem, was Sie Kopie des Rücktrittsbriefes von Schiller aus dem versprochen haben, und dem, was Sie nicht gehalten Panzerschrank des Korrespondenten einer Illustrier- haben. Und da sagen Sie: Ich habe mehr gehalten, ten zu bekommen: Herr Bundeskanzler, das sind als ich versprochen habe. Sie haben hier kein doch Vorgänge, die in einer normalen Regierung Wort mehr von Steuersenkungen gesagt. Wie ge- mit normalen Umgangsmethoden undenkbar sind. sagt, die Differenz beträgt 12 Milliarden DM, wäh- (Abg. Frau Kalinke: Mehr Demokratie! — rend Sie Steuersenkungen in der Größenordnung Zurufe von der SPD.) von 2 Milliarden DM versprochen haben. Sie haben Warum haben Sie uns diese beiden Rücktrittsbriefe nichts von den Tarif- und Gebührenerhöhungen ge- nicht gezeigt? Diese beiden Minister sind doch zu- sagt, die in einer Größenordnung von 6 Milliarden rückgetreten, weil es um das Geld in unserem Lande DM auf den Verbraucher herniedergehen. 4 weitere ging. Wenn es um das Geld in unserem Lande geht, Milliarden DM kommen durch Steuererhöhungen dann sind es nicht, sehr verehrter Herr Schäfer, hinzu. Das ist der Unterschied zwischen Theorie und militärische Sicherheitsprobleme, militärische Ge- Praxis. Darum haben Sie draußen in weiten Kreisen heimnisse; wenn es um das Geld geht, so ist das un- der Bevölkerung das Vertrauen verloren, und aus ser aller Angelegenheit. diesem Grunde sind Sie reif zur Ablösung. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Wenn der für das Geld verantwortliche Minister Herr Bundeskanzler, es genügt nicht, daß Sie, wie zuerst gegenüber seiner Regierung — siehe Schil- Sie es oft getan haben, immer wieder sagen: Auch lers Kabinettsvorlage vom 18. Mai — erklärt, er ich bin besorgt und beunruhigt über die Preisent- könne nicht mehr weitermachen — früher hat Alex wicklung. — Das kann eine einkaufende Hausfrau- Möller dasselbe erklärt —, dann ist das eine Ange- sagen, aber nicht der Regierungschef. legenheit, die nicht in die Privatsphäre des Bundes- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) kanzlers fällt, eine Angelegenheit, deren Behand- lung unsererseits nicht Diffamierung oder Polemik Haben Sie nicht im Jahre 1970 gesagt: Wenn die oder Demagogie ist, sondern eine Angelegenheit, Preiserhöhungen 4 % erreichen, wird es ernst? Ha- die wir in Wahrnehmung der Interessen der Steuer- ben Sie nicht immer dann, wenn einer Ihrer Finanz- zahler und der Bürger dieses Landes hier aufgreifen. minister in Schwierigkeiten geriet, seine Ablösung (Beifall bei der CDU/CSU.) unter anderem damit begründet, daß Sie sich der Dinge nun selber mehr annähmen? Herr Bundeskanzler, wissen Sie, daß die Preis- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) steigerungen im Jahre 1968, im letzten Jahr der Großen Koalition, wenn man die Lebenshaltungs- Das haben Sie gesagt, um wieder eine vorüber- kosten zugrunde legt, 1,7 % betrugen, 1969 2,7 %, gehende Beschwichtigungsformel zu haben. Ist es 1970 3,8 %, 1971 5,2 %, 1972 5,7 % und 1973 — wenn nicht das typische Zeichen versagender Regierungen, wir gut wegkommen — knapp unter 6 % liegen wer- Probleme, die nicht gelöst werden konnten, durch den, daß aber auch ein Ergebnis von über 6 % mög- Wechsel der Personen vor der Öffentlichkeit als lich ist? Herr Bundeskanzler, ist das spurlos an lösungsmöglich oder gelöst ausweisen zu wollen? Ihnen vorbeigegangen? Hat man es Ihnen nicht er- (Beifall bei der CDU/CSU.) zählt? Ich gebe Ihnen jetzt ein ganz konkretes Beispiel: Warum ist denn der Kollege Alex Möller gegangen? Wer im Herbst 1969 20 000 DM als Bausparer ge- Stimmt denn das nicht, was Sie damals im Fernsehen spart hatte, besitzt davon, wenn man den Betrag gesagt haben? Ich habe sehr wohl Ihren letzten real umrechnet in den Bauwert des Jahres 1972, Artikel im SPD-Pressedienst gelesen: Am Anfang nur noch 15 000 DM, obwohl er weitergespart hat. steht die Laudatio, und am Schluß kommt der Wer sich im Herbst 1969 zum Erwerb einer Eigen- Pferdefuß. Ich kann mir vorstellen, daß bei Ihnen tumswohnung zum Preis von 100 000 DM entschlos- bittere Gefühle angesichts ihrer Behandlung zurück- sen hatte, dafür Jahr für Jahr 3600 DM gespart und geblieben sind. Haben wir nicht oft verlangt, daß mit Prämien und Zinsen innerhalb von drei Jahren der Rücktrittsbrief von Alex Möller und der von 12 441 DM an Sparguthaben erworben hat, der veröffentlicht werden sollen? Hier han- steht heute schlechter als zu Beginn seiner Spartätig- delt es sich doch nicht um Staatsgeheimnisse. Es war keit. Als er noch nicht angefangen hatte zu sparen, der Vorschlag des Justizministers der SPD, Heine- fehlten ihm zum Erwerb seiner Eigentumswohnung mann — wir sind diesem Vorschlag gefolgt —, den 100 000 DM. Nach drei Jahren Regierung Brandt/ Begriff der Staatsgeheimnisse auf Sicherheitspro- Scheel fehlen ihm trotz seines Sparguthabens bleme, nicht einmal auf die Interessen der Bundes- 122 000 DM, weil dieselbe Wohnung, die er damals republik einzuschränken. Aber ist denn der Rück- für 100 000 DM bekommen hätte, heute 135 000 DM trittsbrief eines Ministers ein persönliches Geheim kostet. Dabei sind noch nicht einmal die Verhält- 11780 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Strauß nisse in den Großstädten zugrunde gelegt, die noch Es ist einfach ein Unfug und eine Irreführung der wesentlich ungünstiger sind. Offentlichkeit, zu sagen: lieber 5 % Preiserhöhung (Abg. Flämig: Auch Folge der Bodenspeku als 5 0/o Arbeitslosigkeit! lation!) (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Rösing: — Da sehe ich Ihre ganze volkswirtschaftliche Demagogie ist das!) Ignoranz und Unkenntnis der Probleme. Das ist jetzt der neueste Wahlschwindel, mit dem (Beifall bei der CDU/CSU.) man die Öffentlichkeit in Deutschland für die Ver- Nehmen Sie doch endlich einmal zur Kenntnis — harmlosung der Inflationspolitik einlullen will. wenn Sie es selber nicht begreifen, nehmen Sie (Beifall bei der CDU/CSU.) Nachhilfeunterricht und lassen Sie es sich erklären —: Die Inflation treibt die Baupreise hoch; die Bau- Ich behaupte nicht — ich habe es vorhin schon preise treiben nicht die Inflation hoch. Das erzählt gesagt —, daß totale Preisstabilität möglich ist. Ihnen jeder, der auch nur die blasseste Ahnung da- Wohl aber ist ein relativ hohes Maß an Preis- von hat. stabilität möglich mit einem Stand der Beschäfti- (Beifall bei der CDU/CSU.) gung, den man nach normalen Maßstäben als Voll- beschäftigung bezeichnen kann. Wann sind denn die Dinge in dieser Weise in Be- wegung geraten? — Sie sind in Bewegung geraten (Abg. Flämig: Aber wie denn? Bitte Vor vom Herbst 1969 an. Diese akuten Zahlen sind noch schläge!) die Durchschnittswerte. Das ist doch die soziale Wahrheit in unserem Lande. Wenn aber der Zins auf dem Bankguthaben nicht mehr ausreicht, um die Geldentwertung zu decken, Sie haben versprochen, daß der kleine Verbrau- wenn der sehr maßvolle Sparkassen- und Giro- cher, der Rentner, der Sparer nicht geschädigt wer- verband steuerliche Maßnahmen verlangt, um den den darf. Das ist doch ein leeres Wort. Er ist doch Wertverfall durch Steuererleichterungen auszu- geschädigt worden. gleichen, wenn der Sparer nicht mehr über ein zweites Einkommen verfügen kann, sondern seinen Ich gehöre nicht zu denen, Herr Bundeskanzler, Sparzins stehenlassen muß, um die Substanz mit die jemals eine totale Preisstabilität versprochen - geringen Minderungen zu erhalten, und wenn er haben. Es waren Ihre Parteifreunde, wenn auch den Zins verwendet, um nur eine geringe jährliche heute dieser Begriff bei Ihnen manchmal schon frag- Minderung seines Sparguthabens hinnehmen zu würdig geworden ist, die damals sagten: 4, 3, 2, 1, müssen, dann sind die Dinge in diesem Lande, wie 1 /2 % usw. Ich habe in diesem Hause als Bundes- Herr Barzel im August sagte, nicht mehr in Ordnung, minister der Finanzen öfter erklärt, daß für mich und sie sind nicht in Ordnung! in der Reihenfolge der Prioritäten gemäß unseren gemeinsamen Auffassungen der CDU/CSU die Voll- (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des beschäftigung an erster Stelle steht. Ich habe hier Abg. Matthöfer.) und auch draußen im Lande gesagt: Wer die Ar- beitslosigkeit jener Jahre am Ende der Weimarer Es ist einfach ein Irrtum zu behaupten, daß das Republik kennengelernt hat, der kommt nicht auf Realeinkommen in den genannten Prozentsätzen die Idee, mit dem Mittel der Arbeitslosigkeit als gestiegen sei. Das ist einfach nicht wahr; denn Sie einem Mittel der Konjunktursteuerung auch nur müssen bei Lohnerhöhungen ja schon 2 % für gedanklich zu spielen. höhere Steuern und Sozialversicherung abziehen. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Was dann noch übrigbleibt, hat bei einigen Lohn- abschlüssen nicht einmal mehr den vollen Kauf- Ich habe immer erklärt, daß die politische und die kraftverlust gedeckt, im öffentlichen Dienst zu einer soziale Stabilität den Vorrang hat vor einer Ver- ausgesprochenen Kaufkraftminderung und Ver- ehrung des Geldwertes als einer absoluten, ge- schlechterung der Kaufkraftverhältnisse geführt. Der wissermaßen dogmatischen Größe. Bausparer und der Normalsparer haben erhebliche Sicherlich haben die Übertreibungen auf allen Substanzverluste zu verzeichnen. Seiten — staatlich und privat — in den Jahren Nun wird die neue Legende — eigentlich ist sie 1966/67 zu einem Einbruch geführt, zu einem Warn- nicht neu — aufgebracht, das böse Ausland sei daran zeichen in der Vollbeschäftigung, einem Warn- schuld, man könne doch zu Hause keine Stabilitäts- zeichen, das bald wieder beseitigt werden konnte, politik betreiben, wenn rings um einen herum über- weil wir uns gemeinsam bemüht haben, wiederum all inflationär gesündigt werde. Ich darf in diesem für ausreichende Vollbeschäftigung zu sorgen. Zusammenhang den Satz „Stability begins at home" Das Unheil ist nicht zuletzt auch durch die zitieren, der von dem Mann stammt, dem Sie 1969 dauernde Garantie der Überbeschäftigung gekom- Ihren Wahlerfolg verdankten, der Ihnen aber heute men, weil man falsche Alternativen gesetzt hat. den Rücken gekehrt hat, weil er das, was diese Herr Bundeskanzler, Sie haben sie heute wieder- Regierung getrieben hatte, mit seinem sicherlich holt; Helmut Schmidt hat es vorher gesagt. — Er auch strapazierbaren Gewissen nicht mehr verein- sitzt jetzt draußen und bereitet seine Rede vor. baren konnte: Karl Schiller. Er wird sicher noch dazu Stellung nehmen. (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des (Zurufe von der SPD.) Abg. Wehner.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11781 Strauß — Wenn Sie, Herr Wehner, sagen, ich redete hier, Bundesrepublik in die Spitzengruppe der inflatio- weil ich fragte, wo mein Geld geblieben sei, wenn nierenden Länder eingedrungen ist. Er sollte weiter- Sie so das Anliegen der Sparer in unserem Lande hin in dem Jahresbericht des IWF, lesen, daß wir behandeln, mit dieser demogogischen Leichtfertig- nach Großbritannien zur Zeit die zweitgrößte Infla- keit, dann wundert mich in diesem Lande nichts tionsrate haben. Was Sie hier gesagt haben, Herr mehr! Bundeskanzler, zeugt entweder von einer für einen (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Regierungschef unmöglichen Unwissenheit Sie haben falsch gehört, aber das kommt (Sehr gut! bei der CDU/CSU) sogar bei Ihnen vor! Ich hatte von Ihrer oder von der Absicht, die Offentlichkeit mit der Brieftasche gesprochen!) Autorität Ihres Amtes hinters Licht zu führen. Es gibt bei der Inflation Täter, Nutznießer und (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Opfer. Der Staat ist auf längere Sicht kein Nutz- Zurufe von der SPD.) nießer, sondern ein Opfer der Inflation. Nutznießer sind diejenigen, die über größere Sachwerte ver- Gerade angesichts des großen Anteils, den Export fügen und auf Grund ihrer Kreditfähigkeit in der und Import am Sozialprodukt der Bundesrepublik Lage sind, größere Sachwerte mit längerfristigen ausmachen, angesichts der großen Bedeutung, die Krediten zu erwerben. Sie haben eine Politik be- die Bundesrepublik als zweitgrößtes Welthandels trieben, die den Großen in unserem Lande Ver- land hat, ist unsere Preisentwicklung bis zu einem mögensvorteile gewährt, und Sie haben die Kleinen gewissen Grade federführend, signalgebend für die um einen Teil ihrer Ersparnisse betrogen! inflationäre Entwicklung oder für die Stabilitäts- erhaltung im Kreise unserer Partnerländer. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — (Beifall bei der CDU/CSU.) Zurufe von der SPD.) Auch wir haben früher unseren Tribut entrichten Wenn jeder sagt: Das Ausland hat hohe Infla- müssen und konnten keine volle Stabilität garan- tionsraten, also können wir auch nicht anders!, dann tieren. 2 % waren immer das, was ich für möglich redet sich jeder auf den anderen heraus. Wir haben und real erklärt habe. Ob man heute angesichts 20 Jahre lang in diesem Geleitzug der Industrie- der seit Jahren herrschenden Verhältnisse nicht länder, in dem es ein Spitzen- und ein Schlußschiff 1 /2 bis 1 % höher gehen muß, kann man nicht aus gibt, immer das Schlußschiff dargestellt. Ich- be- der Tasche heraus sagen. Aber daß wir in die Spit- haupte nie, daß man sich in einer weltwirtschaft- zengruppe eingetreten sind, daß wir mit unseren lichen Gemeinschaft oder in einer europäischen starken Preiserhöhungen, basierend auf einer Ko- Wirtschaftsgemeinschaft völlig abkapseln kann. stenexplosion und basierend auf Aufwertungsmaß- (Abg. Wehner: Sehen Sie!) nahmen, zur Inflationierung des Preisniveaus in der Auch die Maßnahmen des § 23 des Außenwirtschafts- Welt beigetragen haben, ist so sicher und so durch- sichtig wie der Sonnenschein. Auch hier sollte man gesetzes sind hier nur vorübergehend anwendbar, weil sonst ein Übel das andere erzeugt, und sie nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Nicht wir bieten keinen vollständigen Schutz. Ich habe immer, sind das Opfer finsterer ausländischer Inflations- auch damals, als Sie noch das Gegenteil von dem maßnahmen, sondern wir haben das Inflations- vertreten haben, was Sie heute sagen, der Anwen- niveau in der ganzen Weltwirtschaft und im euro- dung des § 23 des Außenwirtschaftsgesetzes das päischen Bereich durch unsere leichtfertige, schlam- Wort geredet. Damals haben Sie mich als Dirigisten pige, liederliche Finanzpolitik in unserem Lande hochgetrieben. bezeichnet. Seit Helmut Schmidt Ihnen auf diesem Gebiet das Denken abgenommen hat, sagen Sie zu (Beifall bei der CDU/CSU. — Lachen bei demselben ja, was Sie bei mir damals als Dirigis- der SPD.) mus verdammt haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen (Abg. Wehner: Die Welt ist so dankbar, Sie mich dazu nur noch eine Bemerkung machen. Herr Strauß!) Man sagt heute: Mit den öffentlichen Finanzen läßt sich keine Konjunkturpolitik machen. Diese Aus- — Ich weiß ja, Ihre Dankbarkeit mir gegenüber sage ist richtig und falsch zugleich. Ich habe hier — kennt keine Grenzen, Herr Wehner! wenn Sie damals schon im Bundestag waren — vor (Abg. Wehner: Diese Erfahrung haben wir 6 Jahren erklärt, daß öffentliche Investitionen nicht beide gemeinsam gemacht!) einfach als Verschwendung der öffentlichen Hand Wir haben 20 Jahre lang das letzte Schiff in dem diffamiert werden dürfen. Damals präsidierte Herr Geleitzug dargestellt. Was der Bundeskanzler heute Schoettle. Ich habe weiter erklärt, daß man öffent- hier sagte, ist einfach unwahr. Er sollte das Gut- liche Investitionen, Straßenbau, Wohnungsbau, Bil- achten des Sachverständigenrats lesen, den Jahres- dungsbau, Verkehrsbau, nicht einfach nach kon- bericht des Internationalen Währungsfonds, junkturellen Gesichtspunkten manipulieren kann. Ich habe mich daran auch in meiner Zeit als Bundes- (Abg. Wehner: Was soll er denn noch minister der Finanzen gehalten. Es gibt aber einen alles lesen?!) Bereich, wo man die Dinge so oder so gestalten den letzten Geschäftsbericht der Bundesbank, in kann, und wenn im weltwirtschaftlichen Bereich eine dem übereinstimmend festgestellt ist, daß die Bun- starke Nachfrage herrscht, eine Konjunkturüberhit- desrepublik jahrelang unter dem Durchschnitt lag, zung eingetreten ist, dann darf der Staat nicht durch zwei Jahrzehnte, daß aber seit dem Jahre 1970 die Übernachfrage das Übel noch vermehren. 11782 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Strauß Ich sage Ihnen auch, warum: Weil im staatlichen noch stärker in die Höhe gehen wird. Das sind doch Bereich die Inflationsrate doppelt so hoch ist wie die akuten Sorgen, die die Menschen draußen haben. im Bereich der Lebenshaltungskosten. Der Staat be- Aber unter diesen akuten Sorgen gibt es unter- zahlt, weil er Investitionen finanzieren muß — Hoch- schwellige Sorgen. Herr Bundeskanzler, diese unter- bau, Tiefbau —, eine Inflation mit dem Verlust auch schwelligen Sorgen werden nicht von der Opposition nur der bisherigen Investitionsquote. Der Bundes- erzeugt. Wenn Sie und Ihre Regierung und die kanzler spricht von mehr Geld auf allen Gebieten. hinter Ihnen stehenden politischen Kräfte nicht diese Er sollte einmal die Rechnung aufmachen, was mit Sorgen hervorgerufen hätten, wir als Opposition — dem mehr Geld gegenüber früheren Planungen an wir könnten mit Engelszungen oder mit Teufels- realen Werten mehr oder weniger erreicht worden zungen reden in diesem Lande — ist. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Stark (Zuruf von der SPD: Im Bayernkurier!) [Nürtingen] : Es ist zu schwierig für ihn!) wären nicht dazu in der Lage. Es ist nur eine Abrundung, aber ich nehme das Die Tatsache, Herr Bundeskanzler, über die Sie Stichwort auf: Viel mehr als große Worte sollte sich lachen, daß in Ihrer Partei heute Verhältnisse ein- der Herr Bundeskanzler einmal einen ganz klaren getreten sind — auch wenn Sie sie nur als Rand- Bericht über die Finanzlage z. B. der Bundesbahn mit erscheinungen bezeichnen —, die früher zu einem ihren 8 Milliarden DM Defizit geben lassen, von ganz klaren Trennungsstrich geführt hätten, führt dem ein Teil aus politischen Gründen — Sozial- heute bei Ihnen nurmehr zu salbungsvollen Redens- tarife usw. — ohne weiteres ersatzfähig ist und arten, aber zu nicht mehr. ersetzt werden muß, aber ein anderer Teil auch das (Beifall bei der CDU/CSU.) nicht mehr lösbare Problem noch verschärft, daß nämlich hier die Kostensteigerungen und die Ein- Ich plädiere auch hier trotz der Schärfe des begin- nahmegestaltung immer stärker auseinanderklaffen. nenden Wahlkampfes für die Gemeinschaft der De- Wer zahlt denn das? Das zahlt der , Bürger mit immer mokraten, in der Mitte, Mitte rechts und Mitte links, höheren Gebühren' und Tarifen, ohne daß der Ar- aber dann muß der Trennungsstrich gezogen werden beitnehmer in unserem Land auch bei der Bahn und gegenüber den Gesellschaftsveränderern, gegenüber bei der Post durch die Gehaltserhöhung für Beamte, den potentiellen Revolutionären, gegenüber denen - Angestellte und Arbeiter mehr hat als höchstens in Ihrer eigenen Partei, die offen davon sprechen, einen Inflationsausgleich. daß die Abschaffung des Privateigentums nicht auf dem parlamentarischen Wege, sondern nur durch Der Herr Bundeskanzler hat eine Reihe von Pro- den revolutionären Sprung erreicht werden kann, blemen angeschnitten, auf die hernach noch mein wie im Juso-Kongreß 1969. Kollege Barzel, wie erwähnt, eingehen wird. Aber wenn der Bundeskanzler davon spricht, daß in (Beifall bei der CDU/CSU.) diesem Lande jetzt mehr Sicherheit auf allen Ge- Diese Kräfte bei Ihnen sind nicht eine vorüberge- bieten durch die sozialliberale Regierung sei, dann hende Erscheinung, eine jugendliche Torheit, eine gehört das entweder in den Bereich „Humoristischer Angelegenheit etwa der Sturm- und Drangperiode Beitrag" oder „Gewünschtes Märchen". Denn in die- einiger Idealisten; diese Kräfte sind bei Ihnen im sem unserem Lande — Herr Scheel hat ja heute Vormarsch. Altmarxisten und Neomarxisten reichen morgen in ähnlichen Tönen gesprochen — herrscht sich wiederum zum Bund die Hand. Und das ist die doch in weitesten Kreisen eine wachsende Unsicher- Sorge, die in unserem Lande umgeht. Das ist das heit hinsichtlich der zukünftigen gesellschaftspoliti- Problem, mit dem sich weiteste Kreise unserer Be- schen Entwicklung. völkerung beschäftigen. Und das ist auch nicht allein eine Frage der Selbständigen, deren sich zuneh- (Beifall bei der CDU/CSU.) mende Existenzangst bemächtigt. Das ist auch eine Ich habe nie gesagt, Herr Bundeskanzler, daß die Frage der großen demokratischen Mehrheit unserer deutsche Wirtschaft vor dem Zusammenbruch steht. Arbeitnehmerschaft, die mit diesen Halbberufs Ich stehe dazu, daß wir eine Stagflation vorausge- revolutionären nichts, aber auch gar nichts gemein- sagt haben. Die haben wir auch gehabt. Das Sozial- sam haben will, weil sie das Erreichte erhalten und produkt ist jedoch in der zweiten Hälfte des letzten ausbauen will. Jahres und am Anfang dieses Jahres nicht mehr (Beifall bei der CDU/CSU.) gewachsen. Das Unheimliche daran ist, daß der Herr Bundeskanzler, wenn Sie dann immer so Stillstand im Wachstum bei einer relativ noch sehr tun, als ob nur die von Ihnen so richtig verstan- hohen Inflationsrate eingetreten ist. Bei einer dene Linke reformfähig sei, — was haben Sie denn soliden und sauberen Finanzpolitik hätte das Opfer an Reformen in dieser Zeit geschaffen? des Wachstumsstillstands mit einer niedrigen Preis- entwertungsrate erreicht werden müssen. Wenn Sie (Sehr gut! bei der CDU/CSU.) jetzt von einem neuen Aufschwung reden, dann Das Wesentlichste ist doch die Reform der Preise, wissen Sie 'doch ganz genau — oder Sie sollten es und die scheint endgültig zu sein. Reform heißt nicht, jedenfalls wissen —, daß eine stärkere Auslastung daß man den Boden der Tradition zerschlägt. Auch der Kapazitäten angesichts der Verhältnisse auf dem die Konservativen sind reformfähig. Und „konserva- Arbeitsmarkt, angesichts der Auftragslage dazu füh- tiv" ist nicht ein Schimpfwort, das man mit „reaktio- ren wird, daß die jetzt bei .6 % liegende Preisauf- när" gleichsetzen kann, sondern zu „konservativ" triebsrate dann — bei stärkerem Aufschwung — gehört das Bekenntnis zum Fortschritt. Der Konser- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11783 Strauß vative, der sich nicht zum Fortschritt bekennt, ist ein die auf einen Rest an sachlicher Auseinanderset- Reaktionär. Aber wenn jemand sich auch zur Tradi- zung gehofft haben. tion bekennt, zur Erhaltung und zum Ausbau der Sie haben ganz zum Schluß, Herr Kollege Strauß, Werte, dann kann man ihn deswegen nicht in die hier dem Herrn Bundeskanzler vorgeworfen, er habe rechte Ecke drängen. Herr Bundeskanzler, Sie soll- die Konfrontation begonnen. Meine Damen und Her- ten Ihr Gesellschaftsbild, wie Sie es in sich tragen ren, damit sich hier keine Geschichtsklitterung fest- und nur in rätselhaften Andeutungen und Äußerun- setzt, sage ich, diese Konfrontation ist von Ihnen be- gen hier und da aufblitzen lassen, hier einmal ganz gonnen worden. Denn noch bevor diese Regierung klar entwickeln. im Amt war, haben Sie ihr die Parolen des Ausver- (Beifall bei der CDU/CSU.) kaufs und der Inflation vorgeworfen. Das war der Was haben Sie damals gemeint, als Sie Ihr Bedau- Beginn der Konfrontation. ern ausdrückten, daß nach dem zweiten Weltkrieg (Beifall bei den Regierungsparteien.) keine gründliche Abrechnung und Säuberung er- Ich muß hier einmal folgendes wiederholen. Sie folgt sei? Wie hätte es nach Ihrer Vorstellung aus- haben sich in all den drei Jahren so verhalten, wie sehen müssen? Ich meine damit Ihr Vorwort in dem ich das einmal, ich glaube, im Juni 1970 gesagt habe: im Desch-Verlag erscheinenden Buch. Sie selbst marschieren in diesem Saal und draußen Herr Bundeskanzler, wenn Sie wieder zu dem im Land, bildlich gesprochen, mit dem Dreschflegel Weg zurückfinden, den auch unsere parteipolitischen zur Diskussion und verlangen von uns, daß wir mit Gegner, aber doch Mitglieder des gemeinsamen de- Samthandschuhen mit Ihnen umgehen. Das ist doch mokratischen Lagers, Schumacher und Ollenhauer, Ihre Taktik und Ihre Methode gewesen. gegangen sind, dann wird auch in diesem Land wie- Es ist sicherlich nicht möglich — das kann auch der eine andere Stimmung einkehren, dann werden nicht der Sinn dieser letzten Debatte des Deutschen in diesem Parlament ein anderer Ton und eine an- Bundestages sein —, hier noch die nicht mehr zu- dere Atmosphäre herrschen. Wenn es anders ge- stande gekommene Haushaltsdebatte zu führen. worden ist, Herr Bundeskanzler — trotz der manch- Aber im Hinblick auf das, was Herr Strauß jeden- mal versuchten Vornehmheit Ihres Auftretens —, falls andeutungsweise wieder finster dargestellt hat, sind Sie der Schuldige. Darum müssen Sie heute ab- möchte ich doch, damit es hier noch einmal festge- - gelöst werden. stellt wird, folgendes sagen. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU.) (Vorsitz: Präsident von Hassel.)

Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat Wir haben im Juni den Haushaltsplan des Jahres Herr Abgeordneter Kirst. Für ihn ist verlängerte 1972 dem Haushaltsausschuß zurücküberwiesen. Er Redezeit beantragt. hat in der vergangenen Woche die ihm damit ge- (Eine Reihe von Abgeordneten verläßt den stellte Aufgabe erfüllt. Wenn es nicht mehr zu einer Sitzungssaal.) Verabschiedung des Haushalts kommen kann, dann ist das ausschließlich die Schuld der hier aus den schon wiederholt genannten Gründen veränderten Kirst (FDP) : Frau Präsidentin! Meine sehr ge- Mehrheitsverhältnisse. Ich werde auf diesen Punkt ehrten Damen und Herren! Das ist ja auch wieder am Schluß noch einmal mit einer persönlichen Be- ein Zeichen von mehr Demokratie, wie Sie sie ver- merkung zurückkommen. stehen: Eine Stunde lang toben Sie, wenn hier in Demagogie geschwelgt wird, und dann gehen Sie Vom Kollegen Strauß ist hier wieder davon ge- hinaus, wenn der Gegner kommt. sprochen worden, daß die Haushaltspolitik an der von ihm beklagten und dieser Regierung fälschli- (Abg. Rösing: Wir sitzen hier vier Stunden! cherweise — so muß ich sagen — in die Schule ge- — Zuruf von der CDU/CSU: Als Strauß re schobenen Preisentwicklung mit schuld sei. Meine dete, ist die ganze SPD hinausgegangen! — Damen und Herren, ich meine, daß neben den Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Ihre grundsätzlichen Überlegungen, die ich hier schon eigene Partei fehlt doch!) mehrfach vorgetragen habe, warum die Haushalts- Aber dieses Rezept haben Sie ja von Anfang an ver- politik nur einen relativ bedingten Einfluß auf die folgt, insbesondere die Ausführungen unserer Frak- Gestaltung der Konjunktur hat, neben den entschei- tion durch ständiges Reden in diesem Saal zu stö- denden Daten, nämlich den außenwirtschaftlichen ren. Einflüssen und der Kostenentwicklung durch die Ge- staltung der Tarife, sich diese Haushaltspolitik auch Meine Damen und Herren, ich habe mich nach unter folgendem Aspekt nicht zum parteipolitischen dem Kollegen Strauß gemeldet, weil ich die beschei- Prügelknaben eignet. Man muß dazu wissen, daß dene Hoffnung hatte, mit ihm hier am Ende dieser z. B. im Jahre 1971 — die Proportionen sind in den Legislaturperiode noch in einigen Punkten eine sach- letzten Jahren immer ähnlich gewesen — nur 40 % bezogene Diskussion über die Fragen führen zu überhaupt aller Ausgaben der öffentlichen Hände können, über die wir in den vergangenen drei Jah- der Entscheidung dieser so gescholtenen Regierung ren hier nicht selten gesprochen haben. Ich muß und ihrer Mehrheit hier im Deutschen Bundestag sagen, es war ja wohl eine maßlose Enttäuschung für unterlegen sind, daß die übrigen 60 % auf Länder alle, den Kollegen Strauß zu hören, und Gemeinden entfallen und daß, wie wir alle wis- (Beifall bei der SPD) sen, in diesen Ländern über weite Strecken die hier 11784 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Kirst Opposition betreibende CDU/CSU regiert; genauso Die Opposition ist in diesen Fragen hier und drau- ist das in den Gemeinden. Insofern ist es weder ßen im Lande jede konkrete Alternative schuldig angebracht noch redlich, wenn man die Vorwürfe geblieben. gegen die Haushaltspolitik macht, das auf die Bun- (Zuruf von der CDU/CSU: Bei der Renten desregierung, auf den Bundeshaushalt zu beschrän- reform haben wir das Gegenteil gesehen!) ken. Ganz abgesehen davon, daß jeder Fachmann weiß, daß natürlich die konjunkturpolitisch interes- Herr Müller-Hermann oder Herr Katzer — sie sind santen Ausgaben, die Investitionen in den Ländern beide in ihrer Art gleich, deshalb weiß ich nicht und Gemeinden, eine viel entscheidendere Rolle genau, wer es war — hat dann immer davon ge- spielen, als das beim Bund der Fall gewesen ist. sprochen, die Opposition sei nicht dazu da, der Regierung und der Koalition die heißen Kastanien Herr Kollege Strauß, der es offenbar auch nicht aus dem Feuer zu holen. Es gibt keine konkreten nötig hat zuzuhören, hat hier einige Behauptungen stabilitäts- und konjunkturpolitischen Vorschläge aufgestellt, die — er kann das im Protokoll nach- der Opposition, über die hier hätte entschieden wer- lesen, wenn ihm der Wahlkampf Zeit dazu läßt — den können. Es gibt keine Alternative. Ich nehme mit Entschiedenheit zurückgewiesen werden müssen. Ihnen das gar nicht übel, weil es vertretbare Alter- Herr Kollege Strauß hat sich hier zu der Behaup- nativen nicht gibt. Ihre gesamte Kritik resultiert aus tung verstiegen, die Bundesrepublik sei in den Zei- einer völligen Verkennung und einer falschen Ein- ten, da die CDU/CSU die Regierung geführt habe, schätzung der wirtschaftspolitischen Gegebenhei- der Spitzenreiter der Stabilität gewesen. Jeder, der ten in unserer Gesellschaftsordnung. Sie haben mit sich die Mühe macht, die einschlägigen Statistiken Ihrer Kritik, um Ihnen das für die kommende Aus- zu studieren, wird feststellen, daß hier erbarmungs- einandersetzung noch einmal deutlich ins Stamm- los mit der Wahrheit umgegangen wird. buch zu schreiben, und mit Ihrem ständigen Rufen nach dem Staat die Prinzipien der sozialen Markt- (Beifall bei den Regierungsparteien.) wirtschaft verleugnet.

Lassen Sie mich nur einige Beispiele herausgrei- (Beifall bei den Regierungsparteien.) fen. Die Spitzenreiterstellung der Bundesrepublik Auch sonst hat man es heute mit der Wahrheit bei der Stabilität stimmt nur für ein einziges Jahr; nicht so genau genommen. das ist das Jahr 1967, aus den bekannten- Gründen. Da war die Bundesrepublik mit einer Preissteige- (Zuruf von der CDU/CSU: Vor allen Din rung von 1,4 % tatsächlich an der Spitze der Stabili- gen auf Ihrer Seite!) lität oder — umgekehrt — am Ende einer bestimm- Was die Frage von Steuererhöhungen angeht, so ten Gruppe international vergleichbarer Länder der wird nämlich hier immer der falsche Eindruck er- Preissteigerung. Dieser Rang wurde schon 1968 mit weckt, als ob diese Regierung die Steuerbelastung dem dritten Platz wieder verloren, und 1969 — das der Bürger erhöht habe. Richtig ist zunächst einmal, letzte Jahr, für das Sie die Verantwortung tragen — daß wir in diesem Jahr aus den Ihnen bekannten wurde daraus der siebente Rang. Uns ist es sogar Gründen drei Verbrauchsteuern erhöht haben. Wir gelungen, im Jahre 1970 wieder auf den fünften haben gestern ein Gesetz beschlossen, das den Rang vorzurücken. Ich verschweige nicht, daß wir Grund für diese Steuererhöhungen enthält. Diese im Jahre 1971 wieder auf den neunten Rang zurück- Steuererhöhungen decken nicht einmal das, was gefallen sind. 1961 belegten wir den 13. Rang, 1963 die Länder an Mehrwertsteuer oder die finanz- den zehnten; ich will das hier nicht alles vorführen. schwachen Länder an Sonderzuweisungen erhalten. Das zeigt, mit welcher Leichtigkeit hier Behauptun- Sehen Sie sich das bitte einmal an, dann werden Sie gen in die Welt gesetzt werden, die einer Nachprü- feststellen, daß die Steuererhöhungen, die hier be- fung nicht standhalten. schlossen worden sind, ausschließlich diesem Zweck dienen. Auch bei der Mineralölsteuer ist die Zweck- Meine Damen und Herren, ich muß auch das noch bindung deutlich. einmal wiederholen, was hier schon heute gesagt worden ist. Die Opposition hat es zwar fertig- Aber das ändert nichts daran, daß die Regierung gebracht, ständig gegen die Preissteigerungen zu in der Tat mehr gehalten als versprochen hat. Herr reden und der Regierung die Schuld in die Schuhe Strauß hat allerdings mit dieser Feststellung wieder zu schieben. zu jonglieren versucht. Die Regierung hat in der Regierungserklärung zweierlei gesagt: erstens, wir (Zuruf von der CDU/CSU: Mit Recht!) wollen keine konfiskatorischen Steuern — niemand — Herr Kollege, das ist wieder so ein programmier- wird behaupten können, daß wir solche eingeführt ter Zwischenruf, der Ihnen wider besseres Wissen hätten oder dies beabsichtigten —, zweitens, wir herausfließt. Die Opposition hat bei jeder Hand- wollen die Steuerlastquote nicht erhöhen. Die lung der Regierung — ich will sie hier im einzelnen Steuerlastquote wurde mit 24 % angenommen, was nicht aufführen, von der Aufwertung 1969 angefan- auch stimmte. Sie ist 1970 und 1971 jeweils auf gen bis zuletzt — abseits gestanden und sich ver- unter 23 % zurückgegangen. Wenn man das einmal sagt, entweder dagegen polemisiert, dagegen ge- ausrechnet — die Steuerlastquote wird ja in bezug stimmt oder sich zumindest der Stimme enthalten. auf das Bruttosozialprodukt berechnet —, stellt man Das werden Sie nicht bestreiten können. fest — Herr Strauß wollte uns weismachen, es handle sich um 12 Milliarden DM, was nicht (Beifall bei den Regierungsparteien.) stimmt —, daß die Regierung durch die Entwick- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11785 Kirst lung der Steuereinnahmen allein in diesen beiden schließen. Ich glaube, daß das ein falsches Bild ge- Jahren rund 15 Milliarden DM weniger eingenom- ben würde. men hat, als sie — dazu wäre sie nach ihrer Aus- (Zustimmung des Abg. Wehner.) sage in der Regierungserklärung, möchte ich ein- mal sagen, berechtigt gewesen — hätte einnehmen Ich hätte mir gewünscht — ich sage das ganz können. offen —, daß eine solche letzte Rede in diesem Bundestag unter glücklicheren Umständen hätte Nun noch einige Worte zu den Bemerkungen des stattfinden können. Ich meine nur, der Grund dafür, Kollegen Strauß zum Haushalt. Es kann überhaupt daß das nicht so ist, der Grund für dies alles liegt keinen Zweifel daran geben, daß das, was hinsicht- eben — das muß noch einmal deutlich gesagt wer- lich des Vollzugs des nicht verabschiedeten Haus- den — darin, daß diese Leute, die sich zum Teil hier halts 1972 geschieht, berechtigt ist. Ich darf darauf heute in peinlichster Weise produziert haben, hinweisen, daß z. B. auch der Präsident des Bundes- (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) rechnungshofs beim Besuch des Herrn Bundeskanz- lers entsprechende Erklärungen abgegeben hat. Sie nachdem sie am Mittwoch von Herrn Barzel in eben- werden zugeben müssen, daß es niemanden gibt, so peinlicher Weise wie bei einer Starparade vorge- der kraft irgendeiner Legitimation dieses Haus führt wurden, zwingen könnte, einen Haushalt zu verabschieden. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Wenn der Haushalt nicht verabschiedet wird, so doch nicht deshalb, weil er schlecht wäre, sondern eben in diesen drei Jahren — ich nehme an, einige eben nur deshalb, weil wir aus den bekannten Grün- von Ihnen werden dieses Buch kennen — Stoff für den ein neues Kapitel für das Buch „Verrat im 20. Jahr- (Abg. von Thadden: Aus welchen Gründen?) hundert" geliefert haben. eine nicht mehr vorhandene Mehrheit zu registrie- (Zustimmung bei Abgeordneten der Regie ren haben, deren Wiederherstellung das Ziel der rungsparteien. — Abg. von Thadden: Pfui! heutigen Aktion über Art. 68 GG ist., — Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Un Im Wahlkampf wird — das ist hier schon ange- glaublich! — Unmöglich!) klungen, obwohl sich Herr Strauß mit seiner allge-- Ich meine, es darf nicht der falsche Eindruck ent- meinen Polemik so übernommen hat, daß er weder stehen, als hätte sich das Gewissen in den ver- Zeit noch Lust hatte, in diese Dinge weiter einzu- gangenen Jahren immer nur bei diesen Leuten ge- steigen — die Frage Finanzchaos, Finanzkrise eine rührt. Meine Damen und Herren, wir sind in den Rolle spielen. Wer den vom Haushaltsausschuß ver- letzten drei Jahren dieser Politik nicht blindlings abschiedeten Haushalt kennt oder ihn studiert, wird gefolgt. Wir haben uns selbstverständlich ständig feststellen, daß das Gerede von einer Finanzkrise, — Tag um Tag und Stunde um Stunde — auch mit einem Finanzchaos nicht gerechtfertigt ist. Beides unserem Gewissen gequält und uns geprüft. hat es bisher nicht gegeben. Dafür sprechen die Er- gebnisse der Haushaltsführung in den Jahren 1970 (Beifall bei den Regierungsparteien.) und 1971, dafür wird das Ergebnis 1972 sprechen, Das sollte doch in diesem Zusammenhang einmal und dafür werden auch — das ist unsere Überzeu- festgestellt werden. Und das geschah angesichts der gung — die zukünftigen Ergebnisse sprechen. zweifellos vorhandenen Anfechtungen, denen wir Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich will durch ein Trommelfeuer des Angriffs und der Ver- nur wenige Bemerkungen zu dem machen, was der dächtigungen, der Verleumdungen und der Ver- Kollege Strauß so an Allgemeinem hier hat ein- ketzerungen ausgesetzt worden sind. Das alles ha- fließen lassen. Er hat z. B. von einer Irreführung ge- ben wir zu ertragen gehabt; sprochen. Nun, ich habe alle diesbezüglichen Aus- (Abg. von Thadden: Sie hatten doch das sagen immer so verstanden — so waren sie auch Bundespresseamt hinter sich!) formuliert —, daß der Weg, den wir hier heute zu gehen haben, der kürzeste und sicherste Weg zu diese Seite sollte am Ende dieser Legislaturperiode auch einmal gesehen werden. Ich verschweige nicht, einer Auflösung des Parlaments ist. Er ist nicht, wie jetzt hineingeheimnißt oder hineingedeuteltwird, der daß auch mir vieles von dem nicht paßt, was hier einzige Weg. Aber der immer geforderte Rücktritt als Alibi — in Richtung bestimmter Entwicklungen wäre kein Weg, so schnell zu einer Auflösung und in Parteien — zitiert worden ist. Nur meine ich, Sie damit zu Neuwahlen für den Deutschen Bundestag hätten in früheren Jahren Grund gehabt, da auch zu kommen. bei Ihnen manchmal sehr hellhörig zu sein. Aber das alles kann und darf kein Alibi für ein Paktieren Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, mit Herrn Barzel und Herrn Strauß sein. Das ist doch daß das Interesse an einer weiteren sachlichen die entscheidende Frage. Debatte über finanz- und haushaltspolitische Pro- (Beifall bei den Regierungsparteien.) bleme offenbar sehr gering ist. Lassen Sie mich da- her abschließend folgendes sagen. Ich meine, daß Meine Damen und Herren, vor diesem Hinter- nicht nur die hier schon häufig zitierten Mandats grund möchte ich sehr deutlich sagen — das sage überträger — oder wie immer man sie bezeichnet — ich für mich, und ich glaube, ich darf es für die das Recht haben, ihre letzten Reden in diesem Bun- Kollegen der Koalition sagen —: stünden wir noch destag sozusagen mit persönlichen Bekenntnissen zu einmal am 28. September 1969, würden wir genauso 11786 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Kirst wieder handeln, wie wir in den letzten drei Jahren Ich meine, diese Opposition muß noch viel lernen, gehandelt haben. bis sie staatspolitisch respektabel wirken will. Es (Beifall bei den Regierungsparteien.) ist für mich beruhigend, daß man davon ausgehen kann, daß diese Opposition nun bald weitere vier Wir verbinden diese Feststellung mit der Hoffnung, Jahre Lehrzeit erhalten wird. daß es trotz allem, was hier heute schon angeklun- gen ist und was uns noch bevorsteht, gelingen (Beifall bei den Regierungsparteien.) möge, daß der nächste Wahltag nicht einen Triumph der Demagogie, sondern einen Sieg von Anstand Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abge- und Vernunft bringt. ordnete Dr. Barzel. Seine Redezeit ist nicht be- (Beifall bei den Regierungsparteien.) grenzt.

Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Präsident von Hassel: Das Wort hat der Herr Damen und Herren! Ich habe nicht die Absicht, Abgeordnete Dr. Alex Möller. auch wenn der Herr Bundeskanzler jetzt da wäre, auf die Oppositionsbeschimpfung zu antworten, die er in seiner Rede vorgenommen hat. Ich glaube, daß Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller (SPD) : Herr Prä- sident! Meine Damen und Herren! Ich habe nur eine diese Rede nach Art und Inhalt gegen alle Zukunfts- kurze, mir aber wichtig erscheinende Bemerkung erwartungen für die Fortsetzung einer solchen Re- zu machen. Herr Kollege Barzel hat am Mittwoch gierungspolitik spricht. Das waren starke Worte, gesagt, mein Rücktritt signalisierte das Ende des die schlechte und ungenügende Ergebnisse ver- Versuchs einer halbwegs soliden Finanzpolitik. bergen sollten. Meine Damen und Herren der Opposition, Sie haben (Beifall bei der CDU/CSU.) anscheinend wirklich vergessen, wie Sie meine Wir halten uns an die Tatsachen, wir halten uns Finanzpolitik während meiner Amtszeit bezeichnet an die Serie der Landtagswahlergebnisse, wir halten haben. uns an diese Woche mit dem Sieg unseres Kon- (Beifall bei den Regerungsparteien.) zepts in der Rentenreform. Das sind die Tatsachen, Ich glaube, nur das allein kann als Maßstab- gültig die wirken werden. sein. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Zuruf von der CDU/CSU: Man braucht nur Ihren Brief zu lesen!) Wir halten uns an die Geschlossenheit und die Kraft dieser Opposition, und wir halten uns daran, Für Herrn Kollegen Leicht war meine Haushalts- was zuständige und sachkundige Instanzen erklä- politik brüchig, leichtfertig, prozyklisch, bis zum ren. Es ist sicher in einem solchen Augenblick, wo äußersten überzogen, von der Realität weit ent- natürlich der Wahlkampf die Schatten vorauswirft, fernt, inflationär, ohne solide Basis, um nur einige richtig, hier objektive Instanzen, die in mancher Kostproben darzubieten. Frage sachkundiger sind als wir — natürlich wollen Herr Kollege Strauß fand folgende Wertungen: wir dies einräumen —, zu hören. nicht konjunkturgerecht, leichtfertiger Umgang mit Da haben wir zunächst die jüngste Mahnung der Zahlen, inflationär, Finanzmisere, konjunkturschäd- Deutschen Bundesbank. Es wird niemand sagen lich, Inflationsquelle erster Ordnung, Inflations- können, daß deren Spitze etwa mit der Opposition herd erster Ordnung, mangelhaft und ungenügend. in Verbindung stünde. Die Deutsche Bundesbank Die letzte Bemerkung möchte ich doch im Wortlaut urteilt in ihrem letzten Monatsbericht vom 19. Sep- zitieren, und zwar aus dem Protokoll vom 24. Sep- tember, das ist also ganz druckfrisch, wie folgt — tember 1970. Da hat Herr Strauß erklärt: ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten —: Letztes Jahr habe ich zu Ihrer Finanzpolitik Die Erzeugerpreise sind nicht mehr schwächer die Anmerkung gemacht, daß sie mangelhaft und die Verbraucherpreise sogar wieder etwas sei. Heute muß ich ihr die Note „ungenügend" stärker gestiegen. erteilen. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Ich muß schon sagen, wenn man sich diese Proto- Der weitere Preisanstieg wird aber nur dann kolle noch einmal ansieht, so ist die Frage berech- nachhaltig eingedämmt werden, wenn auf brei- tigt, woher man nun den Mut nimmt, mich als ter Basis die Entschlossenheit zu einer anti- Kronzeuge für eine Opposition in Anspruch zu inflatorischen Politik bekundet und in entspre- nehmen, die mit dem Anschein von Tugendhaftig- chenden Handlungen umgesetzt wird. keit jetzt die Rolle vergessen machen will, die sie (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) die ganze Zeit über gespielt hat, Eine besondere Rolle bei diesen gemeinsamen (Beifall bei den Regierungsparteien) Anstrengungen sollte die öffentliche Finanz- nämlich die einer Opposition um jeden Preis, nicht politik spielen. Im laufenden Jahr wirken die zu übertreffen an starken Worten, wankelmütig in öffentlichen Haushalte in der Bundesrepublik ihrer Haltung und arm an konstruktiven Beiträgen. eindeutig expansiv. (Erneuter Beifall bei den Regierungs Das heißt, der Hüter der Währung spricht von In parteien.) flation, spricht von hausgemachter Inflation, spricht Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11787 Dr. Barzel von ihrer Wirkung durch den Haushalt und er- gleich möglich sind. Hier sitzt ; er mahnt uns, auf breiter Basis zur Entschlossenheit hat gezeigt, wie dies zu machen ist. einer antiinflationären Politik zu kommen. Dies (Beifall bei der CDU//CSU.) werden wir vom Wähler erbitten, dies werden wir ihm vortragen, und das werden wir bekommen, Ich halte fest, was mein Kollege Schröder heute meine Damen und Herren! morgen zu Recht sagte: Eine Regierung, die nicht einmal imstande ist, einen (Beifall bei der CDU/CSU.) Haushalt zu verabschie- den, verabschiedet sich auf ihre Weise von einem Das andere: Der Sachverständigenrat zur Beurtei- Parlament, nämlich durch Eingeständnis des Schei- lung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stellt, terns, durch Selbsteingeständnis. was die Möglichkeit von Reformen betrifft, folgen- (Beifall bei der CDU/CSU.) des fest: Und ich füge hinzu: Würde es um die öffentlichen Fatal bleibt in jedem Falle — dies sei wieder- Finanzen anders stehen — da beziehe ich mich holt —, wie wenig auf Grund der stark expan- auch auf den Kollegen Kirst —, dann hätte sich siven öffentlichen Gesamthaushalte zweier diese Regierung doch nicht nur um den Haus- Jahre, 1970 und 1971, für die Erfüllung der staat- halt 1972 bemüht, dann hätte sie sich doch an das lichen Aufgaben gewonnen wurde. Nach einer Gesetz und an die Pflicht gehalten und diesem Ausgabensteigerung um zusammen 27 % war Hause die Bestandsaufnahme und die erneuerte wegen der Preisentwicklung im Bereich der mittelfristige Finanzplanung vorgelegt. Dies hat sie Nachfrage des Staates dessen realer Anteil nicht getan, weil sie nach den Worten Karl Schil- am Produktionspotential niedriger als zuvor. lers „nicht über den Tellerrand des Wahltags hin- aus denkt", weil sie eine Politik „nach uns die Meine Damen und Herren, Sie hatten versprochen, Sintflut" macht. Das muß hier festgehalten wer- die Steuern zu senken; Sie haben sie zweimal er- den. — höht — und schon spricht die Regierung von neuen (Beifall bei der CDU/CSU.) Steuererhöhungen. Sie kann nicht sagen, daß sie mit diesem neuen Geld irgendeine zusätzliche öffent- Herr Bundeskanzler, wir hatten für diese Legisla- liche Aufgabe wird finanzieren können. turperiode, die heute vorzeitig zu Ende gehen wird, (Beifall bei der CDU/CSU.) eigene Prioritäten und eigene Alternativen, wie z. B. in dieser Woche in der Rentenfrage zu sehen Es wird, wenn sie Glück hat, gelingen, einige der war. Ich möchte jetzt nicht gerne noch einmal, wie Inflationslöcher zu stopfen. Dies ist die Realität. wir das hier oft taten, nur an Hand ihrer Regie- Deshalb frage ich mich, Herr Bundeskanzler, woher rungserklärung vorgehen. Da müßte ich 24 oder Sie den Mut nahmen zu sagen: Eine erfolgreiche 25 wichtige Punkte herausnehmen, und ich würde Bewältigung der Zukunft sei nur durch eine Politik zwei oder drei finden, von denen man sagen möglich, wie Sie sie zusammen mit Herrn Scheel könnte: bei denen ist vielleicht angefangen worden, betreiben. Sehen Sie die Bilanz dieser drei Jahre sie zu erfüllen. — und das Gegenteil ist bewiesen. Sie waren nicht (Lachen bei der SPD.) einmal imstande, die Stabilität zu wahren, als Sie die Regierung übernahmen! Nein, Herr Bundeskanzler, ich möchte anfangen mit dem Punkt, der übereinstimmend nach Ihrer und (Beifall bei der CDU/CSU.) unserer Prioritätenliste ganz vorne in diesem Da wir bei den Tatsachen bleiben wollen, möchte 6. Bundestag stehen sollte, mit dem Punkt, der in ich einige Zahlen — ich glaube, die Politik hat es dem letzten Wahlkampf eine große Rolle gespielt mit nüchternen Dingen zu tun — hier in die De- hat und den Sie nun möglichst aus der kommenden batte einführen. In den Jahren 1960 bis 1969 stieg Auseinandersetzung heraushalten wollen. Diesen das reale Bruttosozialprodukt im Durchschnitt um Gefallen werden wir Ihnen natürlich nicht tun. jeweils 4,8 %; in den drei Jahren dieser Regierung Es ist das der Punkt von Bildung, Ausbildung usw. ist es auf 3,8 % gesunken. Die Lebenshaltungs- Sie hatten versprochen, Herr Bundeskanzler — ich kosten stiegen von 1950 bis 1969 im Jahr durch- zitiere Ihre Worte , schnittlich um 2,2 % ; in den drei Jahren der SPD/ FDP-Regierung verteuerten sich die Lebenshaltungs- Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und kosten um knapp 5 % pro Jahr. Forschung stehen an der Spitze der Reformen, die es bei uns vorzunehmen gilt.... Besonders (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) dringlich ist ein langfristiger Bildungsplan für Die Tendenz ist steigend: 5,7 1) /o in diesem Juli. die Bundesrepublik für die nächsten 15 bis 20 Der Zuwachs der Realeinkommen ist von mir am Jahre. Mittwoch hier in die Debatte eingeführt worden. Sie kündigten gleichzeitig an, den Ländern bei der Herr Bundeskanzler, ich verstehe nicht, wie Sie Überwindung des Numerus clausus in wesentlichen nach den traurigen Ergebnissen dieser drei Jahre Fachbereichen zu helfen. Soweit Ihre Versprechun- auch heute noch den Mut haben können, die 20 Jahre gen. Wiederaufbau und Sozialer Marktwirtschaft anzu- Wir haben Ihnen damals gesagt, — da Sie einen greifen, in denen wir bewiesen haben — Herr parteilosen Minister, den Kollegen Leussink, beru- Kollege Schmidt sollte sich einmal die Zahlen be- fen hatten —, daß dieser Kollege, weil wir hier sorgen — daß Vollbeschäftigung und Stabilität zu- eine übereinstimmende Priorität festgestellt ha- 11788 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Dr. Barzel ben, auf unsere besondere Unterstützung würde ordnen, das finanziell abgesichert ist. Man kann rechnen können. Sie können also nicht sagen, der heute nicht nur, wie Sie dies in Ihrer Regierung böse Bundesrat — wie Herr Wehner heute — oder taten, von übermorgen sprechen und dabei die Pro- die böse Opposition, sondern hier müssen Sie sa- bleme von heute und morgen übersehen. gen: diese Regierung selbst — allein Sie und Ihre (Zustimmung bei der CDU/CSU.) Führung — wird sich überlegen, warum auch dieser Minister zu den ausgewechselten gehört. Wir haben deshalb vor geraumer Zeit aus unserer Was ist denn geworden? Diese Zusage der Re- Sicht ein Prioritätenprogramm für den Bereich des gierungserklärung hat die Bundesregierung — wie Bildungswesens vorgetragen. Es zeigt sich — die die vielen anderen nicht eingehalten. Sie legte Nüchternheit gebietet es, das einzugestehen: Wenn einen Bildungsbericht vor, der einen Katalog uto- man sagt, die Bildung stehe an erster Stelle, und pischer Grundvorstellungen enthielt; einen Bil- dabei einen besonderen Nachdruck auf die berufliche dungsgesamtplan ohne jede finanzielle Absiche- Bildung legt, damit die Kopflastigkeit der Universi- rung; ein Hochschulrahmengesetz, das nicht in der tätsbetrachtung endlich aufhört, muß man sich wie- Lage war, die Funktionsfähigkeit der Hochschulen derum klarwerden, welche Bereiche innerhalb des zu garantieren. Außerdem legte die Bundesregierung Gesamtbereichs der Bildung Vorrang haben sollen; ein „Aktionsprogramm zur beruflichen Bildung" also auch dann muß man wieder sagen: erstens, vor, das lediglich aus einer Ansammlung verbaler zweitens, drittens, viertens, fünftens usw. Meine Wunschvorstellungen bestand, ohne konkrete Damen und Herren, unser Prioritätenkatalog sieht Schritte zur Verwirklichung aufzuzeigen. deshalb so aus: Ausbau der Vorschulerziehung, Re- form und Ausbau der beruflichen Bildung, Durchfüh- Die Bund-Länder-Kommission, Herr Bundeskanz- rung der Hochschul- und Studienreform sowie Er- ler, für die Bildungsplanung hat inzwischen zwar weiterung der Studienkapazität, verbesserte Ausbil- einen Zwischenbericht verabschiedet, sie konnte dung der Lehrer und ausreichende Versorgung mit aber bisher keine Aussagen über die finanzielle Lehrern. Absicherung der bildungspolitischen Zielvorstellun- gen machen. Das Versprechen, zu erklären, wie der Wir ziehen die Bilanz auf diesem Gebiet. Wir Plan verwirklicht werden könnte, ausgerechnet die- leugnen nicht, daß es hier viele gute Absichten gab; ses Versprechen in der wichtigsten Priorität wurde aber wenn wir nach dem Erfolg urteilen — und dies - nicht erfüllt. Ein nationales Bildungsbudget für einen ist der Maßstab für verantwortliches Handeln —, Zeitraum von 5 bis 15 Jahren ist nicht einmal in den stellen wir fest, daß wir in den vergangenen drei Ansätzen vorhanden. Statt zu einer Milderung des Jahren nicht so nach vorn gekommen sind, wie dies Numerus clausus beizutragen, haben sich die Zu nötig und möglich war. lassungsbeschränkungen in wesentlichen Fachberei- Indem ich Sie mit diesem Prioritätenkatalog ver- chen noch verschärft. traut mache, sage ich Ihnen zugleich, was im näch- Die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundes- sten Bundestag unter unserer Führung auf diesem regierung führte dazu, daß die Hochschulbaumittel Gebiet geschehen wird. zwar nominal, aber kaum real gesteigert werden (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Schmidt konnten. Das ist eine nüchterne Bilanz. Sind Sie [München] : Sollten Sie nicht erst den Wäh darauf auch „stolz", Herr Bundeskanzler und Herr ler fragen?) Kollege Scheel? Sollten Sie nicht wenigstens kom- men und sagen: Wir haben uns hier überschätzt; wir — Ich komme darauf. haben unsere Möglichkeiten nicht gesehen; wir hat- Ich nehme einen anderen Punkt, Herr Bundes- ten nicht den Mut, wegen dieser Priorität Nummer 1 kanzler. Sie werden vielleicht glauben, daß er zu anderen Dingen „bitte, etwas später" zu sagen? eigentlich völlig am Rande der Wichtigkeit liege. Und wollen Sie bestreiten, daß wir zu einem Zeit- Ich glaube, jedermann, der sich mit der Zukunft punkt, als Sie die Steuern noch senken wollten, die der Bundesrepublik Deutschland ernsthaft befaßt —, Steuersenkung nicht nur aus konjunkturpolitischen ob er nun die Fragen des Umweltschutzes, die Fra- Gründen, sondern auch mit folgender Begründung gen künftiger Sozialleistungen, die Fragen künftiger abgelehnt haben: Nehmt einen Teil dieses Geldes Humanität und Wirtschaftskraft, was immer Sie — es war damals noch stabil — zur Überwindung angucken — betrachtet, wird wissen: Wenn es in der zwingendsten Probleme in Sachen des Numerus der Energiepolitik nicht stimmt, dann wird es für clausus? eine gute, soziale und humane Zukunft zu spät (Beifall bei der CDU/CSU.) sein. Das wird so sein, wenn Energie zu knapp Das können Sie doch nicht bestreiten. oder zu teuer wird. Herr Bundeskanzler, Sie haben in dieser Hinsicht in Ihrer Regierungserklärung Als der Kollege Leussink dann merkte, daß in einen ganzen Warenhauskatalog angeführt. Was ist diesem Bereich keiner mit dem Kopf durch die daraus geworden? Sie sprachen von der Gesundung Wand kann, als er sich ernsthaft zu bemühen an- des Steinkohlenbergbaus. Bisher haben Sie nur die fing, sich an das Nötige und Mögliche und deshalb Verkürzung der Fristen zum fraglichen Gesund- auch an die Opposition zu erinnern, war er nicht schrumpfen der Kohle zuwege gebracht. Dadurch mehr sehr lange im Amt. verschlechtert sich die Kostenerlössituation für die Sie haben nicht erkannt, Herr Bundeskanzler, daß Kohle rapide. Die jetzt in Aussicht genommenen man nicht nur Pläne für übermorgen haben muß; Maßnahmen reichen, wenn Sie Glück haben werden, man muß diese Pläne auch in ein Gesamtkonzept ein für eine kurzfristige Stabilisierung aus; sie sind Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11789

Dr. Barzel weit entfernt davon, die Probleme zu lösen oder wartungen, die zu erwecken immer gefährlich ist, eine Konzeption zu enthalten. Der Steinkohlenberg- weil die Enttäuschung unausweichlich wird. bau, als ein sicheres Standbein unserer Energie- (Zuruf von der SPD: Aber Angst machen!) versorgung, hat durch diese Regierung keine Hilfe bekommen; er hat keine klare Zukunft. Diese Poli- Niemand wird bestreiten wollen, daß dem Ver- tik, die eine Nichtpolitik war, hat die Kumpels an such Ihrer Politik sehr viel staatsbürgerlicher Good- der Ruhr durch ihre Konzeptionslosigkeit in der will entgegengebracht wurde. Dieser Goodwill ist Energiepoltik m Stich gelassen. längst umgeschlagen in eine große Ernüchterung und Enttäuschung. Unsere Mitbürger kennen mit uns (Beifall bei der CDU/CSU.) die Liste der nicht gehaltenen Versprechungen, sie erleben die Inflation und den fehlenden Fortschritt Die Frage der eigenen Mineralölerzeugung, die und machen sich vielfach Sorge um den Zustand Frage der Kooperation der bestehenden Energie- unseres Gemeinwesens. Es gibt manche Erbitte- träger, die Verbesserung der Wettbewerbssituation rung, und auch Unsicherheit greift um sich. innerhalb der Elektrizitätswirtschaft und das Pro- blem der Krisenvorsorge, — alles das sind Punkte, Ich kann hier den Punkt nicht verschweigen, daß Herr Bundeskanzler, die Sie versprochen haben. die anhaltende Tendenz — ich zitierte am Mittwoch Sie haben sie überhaupt nicht gehalten. Ihre früheren Mitstreiter Knorr und Steinbuch —, jenen Kräften gegenüber auf eine eigentümlich groß- So könnten wir hier Punkt für Punkt Ihre Re- zügige Weise duldsam zu isein, jenen Kräften gegen- gierungserklärung durchgehen. Wir können uns über, die von linksaußen her mit dem Marsch durch ansehen, was Sie den Bauern gesagt haben. Sie die Institutionen unseren freiheitlichen und sozialen haben ja jedem — alles sollte schöner und mo- Rechtsstaat radikal verändern, ja umstürzen wol- derner werden — etwas versprochen. Ich möchte es len, doch auch dazu führt, die wegweisende Autori- bei diesen wenigen Punkten jetzt bewenden lassen, tät des Kanzlers immer mehr in Frage zu stellen — weil ich glaube, daß wir in dieser Stunde nun doch wie ein flackerndes Licht. etwas grundsätzlicher fragen müssen. Und mußten Sie nicht wissen, daß eine Politik des Wir müssen nämlich fragen: Was kennzeichnet Ausgleichs mit der Sowjetunion und eine Politik der die innenpolitische Entwicklung seit dieser nun Aufwertung der DDR doch erhöhte Klarheit in der - knapp dreijährigen Kanzlerschaft besonders? Wir Einstellung gegenüber den Gegnern der Grundprin- meinen: Die ungewöhnlich anspruchsvollen An- zipien unserer Verfassung erfordert, wenn dies nicht kündigungen, die dadurch von Ihnen bewirkte An- zu Mißdeutungen und Desorientierungen führen spruchsinflation, die ja die Mitursache der Inflation soll? Eine Politik der Reform erfordert doch weniger des Geldwertes ist, und die ambitiöse Anspielung Überschwang als Nüchternheit, weniger Erhöhung auf „mehr Demokratie". Herr Bundeskanzler, mehr der Konsumerwartung als zunächst Opferbereit- Demokratie haben wir in diesem Hause, hat die schaft. Eine Politik notwendiger Reformen setzt eine deutsche Presse, haben die Journalisten, hat die Basis der Stabilität im Ideellen und im Materiellen Bevölkerung nicht gespürt. voraus. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Ziehen wir, meine Damen und Herren, deshalb Wenn Sie in Ihrer Wahlkampfrede in Ober- eine Bilanz nach dem Maßstab, der uns leitet, und hausen, von der wir einen erweiterten Auftakt nach den Prinzipien, die der Grund des Erfolges der heute hier hörten, vom „blanken Haß" Ihrer Kri- deutschen Politik in den ersten 20 Jahren nach dem tiker sprachen und „Konsequenzen" androhten, so zweiten Weltkrieg waren, so müssen wir nach den muß ich sagen, Herr Bundeskanzler: Diese Empfind- Erfahrungen dieser drei Jahren leider dieses sagen: lichkeit gegenüber Kritik und Anregung sollte ein Es sind heute nicht mehr nur die Wege zu den Regierungschef nicht haben. Sie sollten dankbar sein Zielen der Politik, die uns trennen, wir stimmen für jede Kritik. Das gibt doch Anregungen. Das gibt heute auch in einigen Zielvorstellungen nicht Möglichkeiten, Fehler zu vermeiden oder zu berich- mehr überein. tigen. Deshalb sind wir dafür, wir drehen hier die (Beifall bei der CDU/CSU.) Verhältnisse um — durch den Wähler, der wird dies besorgen —, und dann bitten wir um möglichst viel Wir wollen , den Fortschritt und den sozialen Ausbau Kritik in den vier Jahren, damit wir weniger Fehler dieser Republik, viele im Lager der Koalition — machen als Sie und es nach vier Jahren erneut wie- so formulierte es Karl Schiller — wollen „eine der packen können, meine Damen und Herren. andere Republik". (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Weh (Abg. Dr. Giulini: Sehr wahr!) ner: Salatöl! — Weitere Zurufe von der Dies ist die Frage, vor der wir alle stehen. SPD.) Wir kennen Ihre Steuerpläne. Wir sehen Ihre — Herr Kollege Wehner, ich freu mich, daß Sie hier Verniedlichung der Inflation, Ihr Infragestellen von wenigstens noch einen Zuruf machen; ich hatte Sie im bisherigen Teil meiner Rede schon etwas ver- Stabilität, sozialer Marktwirtschaft und sozialer Partnerschaft. Wir kennen Herrn Bahrs folgen- mißt. schwere und unwiderrufene Absage an den euro- Diese Regierungserklärung, von der ich sprach, päischen Bundesstaat. Wir kennen Ihre intolerante versetzte die Menschen in einen Zustand der Er- Reaktion auf Kritik, Ihre Haltung zum politischen 11790 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Dr. Barzel Radikalismus ebenso wie Ihre Weigerung, von Wie- digte dritte Änderung des von der CDU/CSU ein- dervereinigung auch nur noch zu reden. Wir haben geführten Vermögensbildungsgesetzes. erlebt, wie Sie Gemeinsamkeit nicht wollten, wie (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) Sie unseren Vorschlag zum inneren Frieden abwer- teten. Seither ist nichts geschehen außer Vertröstungen und Versprechungen. Wir sehen Sie am Werk, die wirkliche Lage in (Abg. Katzer: So ist es!) ganz Deutschland nicht mehr darzustellen, und wir befürchten, daß Sie bereit sind, sich mit einem inner- Diese Bundesregierung hat zu der Kernfrage der deutschen Vertrag abzufinden, der wesentlich hinter heutigen Vermögenspolitik, der stärkeren Beteili- den für verbindlich erklärten Kasseler 20 Punkten gung breiter Schichten am wirtschaftlichen Produk- zurückbleibt. tivvermögen, weder einen Gesetzentwurf vorgelegt noch auch nur ein taugliches Konzept entwickeln Wir können in dieser Regierung und in dieser für können. die Zukunft sich abzeichnenden Politik weder den (Beifall bei der CDU/CSU.) Anwalt der Schwachen noch den der Reformen Außerdem: der zunächst für Herbst 1970 zuge- sehen. Hier geht es um grundsätzliche Entscheidun- sagte Vermögensbericht mit den versprochenen gen, die große Anstrengungen erfordern. Hier geht Maßnahmen zur Vermögenspolitik liegt am Ende es um die Fundamente dieses freiheitlichen sozialen dieser Regierung immer noch nicht vor. Die von Rechtsstaates, hier geht es um dessen außenpoli- Ihnen versprochene, notwendige Reform der Spar- tische Zuordnung sowie um seine innenpolitische förderung und ihr Ausbau zu einer vermögenspoli- Ordnung. Das ist ,die Frage, vor der wir alle stehen. tischen Gesamtkonzeption, vor allem in Richtung (Beifall bei der CDU/CSU.) auf eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am wachsenden Produktivvermögen der Volkswirtschaft Wir haben unsere Vorstellungen für diesen — so Ihre Worte , liegt nicht vor. 6. Deutschen Bundestag — einige erwähnte ich — am 29. Oktober 1969 von dieser Stelle aus vorge- Herr Kollege Wehner wie der Bundeskanzler ha- tragen. Debatte für Debatte, Gesetz für Gesetz haben ben auf die nächste Legislaturperiode vertröstet. wir präzise und konkret unsere Meinung vertreten Wer soll dem glauben, wenn er diese nicht erfüllten - und unsere Alternative dargetan. Versprechungen hier heute sieht? (Zuruf von der SPD: Präzise?) Sie hatten versprochen, das Sparen der Selbstän- digen im eigenen Betrieb in die allgemeine Spar- Wir haben die Anstrengungen gefordert, die wir förderung mit einzubeziehen; dies ist unterblieben. machen müssen, wenn wir modern bleiben und mit Sie haben zugesagt, eine Erweiterung der Möglich- anderen Schritt halten wollen. Unsere Prioritäten keit des Bausparens zu schaffen; dies wurde nicht und unsere Gesetzesinitiativen haben dem entspro- eingehalten. Selbst der Auftrag dieses ganzen Bun- chen. Wir ließen uns dabei von dem Gedanken lei- destages — Entschließung vom 4. Juni 1970 —, bis ten, den wir zu Beginn hier so formulierten und den spätestens zum 30. Juni 1971 einen Gesetzentwurf ich doch in diese Debatte einführen möchte, weil er zur Reform der gesamten Sparförderung und gesetz- für uns richtig und wichtig bleibt: liche Vorschriften zur Sparförderung von Selbstän- Die richtige Gesellschaftspolitik entscheidet digen vorzulegen, wurde nicht erfüllt. über die Zukunft der Demokratie. Auf diesem Diese negative Bilanz dieser Bundesregierung in Gefechtsfeld wird der friedliche Kampf zwischen einem Kernbereich der Wirtschafts- und Gesell- rechter oder linker Diktatur auf der einen und schaftspolitik wiegt, wie wir meinen, besonders Freiheit auf der anderen Seite gewonnen oder schwer, weil die Vermögenspolitik eine der tragen- verlor en. den Säulen der Sozialen Marktwirtschaft ist. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Aus diesem Geiste lebte das, was gestern hier die Meine Damen und Herren, Sie können — und dies Mehrheit gefunden hat: unser Paket zur Renten- muß hier einmal gesagt werden, weil Sie draußen reform. anders daherreden — an der Tatsache nicht vorbei, daß in den 20 Jahren, die Sie von dieser Seite des Ich möchte eine andere Alternative, die zugleich Hauses immer so schelten, kein einziger Antrag als ein Versagen dieser Regierung markiert, hier doch Beitrag zu einer breiteren Vermögensbildung einge- in diese Debatte und in diese Bilanz einbeziehen. gangen ist, kein einziger. Sie, Herr Bundeskanzler, hatten versprochen — und ich zitiere wieder aus Ihrer Regierungserklärung —: (Beifall bei der CDU/CSU.) Zu den Schwerpunkten der Wirtschafts- und Sie haben kritisiert und kritisieren immer noch, und Gesellschaftspolitik dieser Bundesregierung ge- Sie waren unfähig, in diesen drei Jahren eine ein- hört das Bemühen um eine gezielte Vermögens- zige Vorlage zu machen. Als der Bundeskanzler hier politik. heute ein paar Zahlen nannte, hat er nur hinzuzu- fügen vergessen, daß diese Zahlen auf der Basis der Auch dieses Versprechen haben Sie nicht gehalten. von uns begonnenen Vermögenspolitik möglich ge- Verwirklicht wurde allein die von Ihnen hier an die worden sind. ser Stelle nur als „ein nächster Schritt" angekün (Beifall bei der CDU/CSU.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11791 Dr. Barzel Meine Damen und Herren, dies wiegt um so wären 1971 und 1972 12 Milliarden Deutsche Mark schlimmer, als die Bundesregierung Brandt hiermit als persönliches Eigentum den unselbständig Täti- nicht etwa auf Neuland beginnen mußte. All die gen zugeflossen. Das haben Sie verhindert. Reformen, die Novellen habe ich genannt. Aber für (Zuruf von der SPD.) den ausstehenden Bereich — wir räumen dies ein: das stand in der Palette der Vermögensbildung noch Wenn ich nun, Herr Bundeskanzler, nachdem Sie aus — der Vermögensbeteiligung breiter Schichten uns auf das Adjektiv in unserem Parteinamen an- am Produktivkapital waren in der Zeit der Regie- gesprochen haben, Sie fragen darf, dann möchte ich rung der Koalition vier unter Hilfe unseres Freun- sagen: ob dieses Verhindern „sozialistisch" ist, das des Katzer konkret ausgearbeitete Modelle für die weiß ich nicht, aber ich weiß: sozial und gerecht stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Produk- ist das nicht, was Sie hier blockiert haben. tivvermögen in den Schubladen. Sie hätten also nur, (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von Herr Bundeskanzler, entscheiden müssen, welche da- der SPD.) von, ja oder nein, oder welche man zusammenpackt. Dies ist nicht geschehen. Das, Herr Bundeskanzler, Dazu kommen die Inflationsverluste der Sparer stimmt natürlich nachdenklich. Denn das ist entwe- in Höhe von mindestens 40 Milliarden Deutsche der das Zeichen für Konzeptionslosigkeit oder für Mark in den letzten beiden Jahren. Handlungsunfähigkeit oder dafür, daß sich diejeni- (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) gen bei Ihnen durchgesetzt haben, die auf Ihrem Hinzu kommt — mein Kollege Strauß hat dies dar- letzten Parteitag erklärten: Die ganze breitere Ver- getan —, daß die Sparzinsen geringer sind als die mögensbildung sei schlecht, denn das stabilisiere Inflationsrate. Meine Damen und Herren, Sie sollten dieses System. wenigstens diesen Bereich aus dem „Stolz" über (Beifall bei der CDU/CSU.) Ihre Negativbilanz doch herausnehmen. Herr Bundeskanzler, wir wollen dieses System fort- (Zustimmung bei der CDU/CSU.) entwickeln, wir wollen es sozial ausgestalten. Dazu gehört diese breitere Vermögensbildung, und es Der Herr Bundeskanzler hat gefragt — und diese muß sich um privates Vermögen in breiteren Schich- Frage muß beantwortet werden, weil die Welt ten handeln, nicht um Kollektivfonds, die nur die draußen und auch alle hier drinnen einen Anspruch Macht anonymer Stellen stärken sollen. darauf hat, das zu wissen —, wie wir zur Europä- (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) ischen Sicherheitskonferenz, wie wir zu dem Pro- jekt der multilateralen Truppenverdünnung stehen Alle Gesetzentwürfe der CDU/CSU hierzu wurden und wie wir dazu stehen, mit der DDR vertragliche von der Regierung blockiert. Ohne die Veränderun- Regelungen zu treffen. Herr Bundeskanzler, ausweis- gen im Parlament wäre ja auch unser Rentenpaket lich der Protokolle dieses Hauses ist ganz klar, daß hier blockiert worden; das wollen wir ja doch nach wir dazu bereit sind. Nur eines möchte ich hinzu- den Reden von gestern und heute noch einmal fest- fügen: Der Maßstab in allen diesen Fragen ist für halten. uns der der NATO, der des Westens. Die NATO, (Zustimmung bei der CDU/CSU.) der Westen erklären: Maßstab für Entspannung und Blockiert wurde der April 1970 vorgelegte gesetz- Frieden ist Freizügigkeit für Menschen, Informatio- liche Beteiligungslohn. Blockiert wurde die weitere nen und Meinungen. Dazu stehen wir, und von die- soziale Privatisierung von Bundesunternehmen, Vor- sem Maßstab her beurteilen wir die einzelnen lage vom November 1970. Wir haben dann weitere Schritte in den Richtungen, nach denen Sie fragten. Initiativen beschlossen, nämlich die der betrieblichen Ich darf hinzufügen — nachdem Sie ähnliches sag- Gewinn- und Kapitalbeteiligung der Arbeitnehmer, ten —, daß die Verantwortlichen in Washington, die der Schaffung und Förderung von Unterneh- Paris, London und Moskau sehr wohl und sehr mensbeteiligungsgesellschaften für den Mittelstand. konkret die Auffassung dieser Opposition zu diesen Zu all dem gibt es von der Koalition keine Alter- Fragen kennen. native, es sei denn, Sie halten die Blockade dieser Sie haben dann, Herr Bundeskanzler, noch ver- Ideen für eine Alternative. sucht, ein Thema, ich kann nur sagen: zu erfinden. (Beifall bei der CDU/CSU.) Herr Kollege Scheel hat heute morgen eine Frage gestellt. Gut, das war sein Recht. Es war auch Ihr Dies ist ein umfassendes Gesetzgebungsprogramm Recht, die Antwort — Herr Kollege Schröder hat der CDU/CSU. Dies ist die bisher einzige vorlie- diese Frage beantwortet — zu überhören. Es be- gende gesetzesreife, ausformulierte Konzeption zu durfte deshalb nicht mehr der Polemik des Herrn diesen Fragen. Wir werden — ich wiederhole dies, Bundeskanzlers. was ich vorhin für den Bildungsbereich sagte — dieses Gesetzgebungsprogramm im 7. Deutschen Aber lassen Sie mich dies in aller Deutlichkeit Bundestag durchsetzen, so wie wir am Schluß des 6. sagen: Wir sind — das ist alles andere als das, unser Rentenreformpaket durchgesetzt haben. was Sie hier behaupten oder unterstellen — für eine europäische Gipfelkonferenz. Wir sind nur (Beifall bei der CDU/CSU.) nicht der Meinung, daß man so viel Geschrei machen Es bleibt hier anzumerken: Wäre dieses Pro- sollte, wenn es sich nur um die Errichtung eines gramm zur besseren und breiteren Eigentumsstreu- Währungsfonds handeln sollte. Wir sind dafür. Wir ung hier bereits verabschiedet worden, was ja hätten uns vielleicht eine inhaltsreichere Tages- durchaus möglich und von uns beantragt war, so ordnung vorstellen können. Aber wenn Sie von uns 11792 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Dr. Barzel noch eine Anregung entgegennehmen wollen, Herr rung westdeutscher und West-Berliner Journalisten Bundeskanzler, dann setzen Sie dort den Beschluß in der DDR als Ausländer beim Außenministerium durch, daß sich die Regierungschefs jedes Jahr ein- der DDR. mal treffen! Das wäre ein Beginn verstärkter politi- Es darf doch, Herr Bundeskanzler, niemand über- scher Zusammenarbeit. sehen — es hätte Ihnen wohl angestanden, dies hier (Beifall bei der CDU/CSU.) zu sagen —, wie teuer diese geringfügigen Verbes- Für eine solche Sache haben Sie auch sofort die serungen erwirkt sind und wie weit sie hinter den Unterstützung der Opposition. Erwartungen zurückbleiben, die Sie 'im Zusammen- hang mit der Ostpolitik erweckt haben, welche Sie Sie müssen doch folgendes verstehen: Wenn eine ausgesprochen und gefördert haben. Dies alles Opposition in diesem Haus, die, wie Sie gesehen bleibt doch hinter den Erwartungen zurück. haben, entweder die Mehrheit hat oder nahe daran ist, wie immer die Tage gerade sind, lesen muß, daß (Beifall bei der CDU/CSU.) Sie ungehindert durch diese parlamentarischer Tat- So greift auch hier allenthalben berechtigte Ent- sache und ungehindert dadurch, daß dieses Haus täuschung um sich. heute aufgelöst wird und es deshalb ein Parlament nicht mehr gibt — daß Sie dann als geschäftsfüh- Dies um so mehr, als Zusagen östlicher Seiten rende Regierung im Amt bleiben, Herr Kollege nicht eingehalten wurden. Wir haben erlebt, Herr Scheel, ist allzu selbstverständlich —, gleichwohl Bundeskanzler — das interessiert uns sehr, und ich noch wichtige Verträge aushandeln wollen, muß da- hoffe alle hier im Hause —, daß es auf Grund von zu gesagt werden: das entspricht nicht parlamen- Pressemeldungen über eine Sitzung, die die Füh- tarischer Sitte und demokratischem Stil; das sollte rungsgremien der CDU und der CSU am 2. Oktober eigentlich selbstverständlich sein. in Berlin im Reichstag abzuhalten wünschen, einen Protest der DDR gibt. Dabei kann es keinem Zweifel (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) unterliegen, daß es unser Recht war und nach dem Herr Bundeskanzler, zu Beginn Ihrer Regierung Vertrag geschrieben ist, mit diesen Gremien in Ber- haben wir hier auch die außenpolitische Situation lin zu tagen und alle Fragen dort zu besprechen. bilanziert. Ich habe von dieser Stelle aus für die Dies muß man hier festhalten. Opposition am 29. Oktober 1969 folgendes erklärt (Beifall bei der CDU/CSU.) — ich zitiere mit Genehmigung des Herrn Präsiden- ten —: Dann sehe ich die nicht gehaltenen Zusagen, etwa Frankreich setzt seine Akzente der Europa-Poli- hinsichtlich der Behandlung der Sofortbesuche der tik näher zu den unseren. ... Die Sowjetunion West-Berliner oder die nicht gehaltenen Zusagen denkt ... neu nach über Mitteleuropa. Die Ver- der polnischen Regierung. Herrn Kollegen Wehner antwortlichen in Ost-Berlin beginnen, sich von blieb es vorbehalten, in einem Brief vom Februar starren Formeln zu lösen. Das weltpolitische 1971, der veröffentlicht ist, zu erklären, „daß der Gespräch der beiden Großmächte wendet sich deutsch-polnische Vertrag die einzige Möglichkeit den Raketen-Problemen zu und nimmt damit darstellt, um Familienzusammenführung ... ver- zugleich — endlich — auch politische Span- wirklichen zu können". Dies ist nicht die Wahrheit. nungsursachen als Thema auf. Seit Bestehen Jedermann weiß, daß vor der Unterzeichnung des der Bundesrepublik Deutschland stand kein Vertrages viele Mitbürger aus Polen und den pol- Bundeskanzler bei seinem Amtsantritt in einer nisch verwalteten Gebieten zu uns gekommen sind. vergleichbaren Situation. Es sind von 1955 bis 1970 368 824, im Monatsdurch- Dies war eine einmalige Chance. Ich glaube, man schnitt als 1921 Menschen. Nach der Unterzeichnung muß heute sagen, daß diese einmalige Chance für in diesen ersten sieben Monaten waren es 7348 Per- die deutsche Politik nicht genügend genutzt wor- sonen, d. h. im Monatsdurchschnitt 1049. Wenn Sie den ist, ja, daß sie wahrscheinlich verbraucht wurde. sich mit diesen Mitbürgern unterhalten und sich vor- tragen lassen, welchen Beschwerden diese Umsied- Natürlich gibt es — wer wollte es leugnen! — ein lungswilligen ausgesetzt sind, welche Schikanen sie paar Dinge, die besser geworden sind. Aber es gibt ertragen müssen, gehört dies in den Bereich nicht doch auch Verschlechterungen und Verhärtungen. eingehaltener Zusagen, auf deren Erfüllung eine Sie sollten doch, wenn immer sie sich bemühen, ein kommende Regierung wird drängen müssen. wirklichkeitsnahes Bild zu geben, von der Illusion Abstand nehmen, als hätten sich etwa in den letzten (Beifall bei der CDU/CSU.) Monaten die Abgrenzungsmaßnahmen der DDR Wenn dieser Bundestag jetzt nicht zu Ende ge- nicht verschärft. Ich nenne erstens die Einführung gangen wäre, hätten wir Sie hier mit einer großen von Auslandspostgebühren in der DDR gegenüber Debatte über folgende Frage konfrontiert, mit einer der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, Debatte über die Forderungen des Herrn polnischen zweitens die drastische Erhöhung der Telefongebüh- Ministerpräsidenten, der von uns immerhin klare ren für den innerstädtischen Telefonverkehr in Ber- Eingriffe in die innere Ordnung verlangt: Das Ver- lin, drittens die Anweisung der SED und der Behör- bot von Aktivitäten von Landsmannschaften, die den drüben intern an die Bürger der DDR, keine Änderung von Schulbüchern, die Einstellung der Westberliner in die DDR einzuladen. Ich nenne vier- Tätigkeit von Radio Free Europe, die Bedenken tens die Enteignungswelle gegenüber halbstaat- gegen eine ideologische Unterwanderung mittels lichen und privaten Betrieben in der DDR im ersten verstärkter persönlicher und kultureller usw. usw. Halbjahr 1972. Ich nenne fünftens die Akkreditie- und die Abschaffung der Rechtsvorschriften, die von Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11793 Dr. Barzel Deutschland innerhalb der Grenzen von 1937 aus- men trotz der Wahl, bitten aber, dann auch die gehen. Das heißt doch nichts anderes, als die Staats- Frage des politischen Radikalismus auf die Tages- angehörigkeitsfrage auf den Tisch zu legen. ordnung zu setzen, weil dies zusammengehört. Man hat gesagt, dies wolle man tun, weil man aus durch- Wenn wir dies alles sehen, kommen wir zu dem sichtigen Gründen an der Konferenz interessiert Schluß, daß in diesem Bereich der Ostpolitik mehr war. Dann hat man uns während der Konferenz ge- Geduld und Bedacht und weniger Eilfertigkeit, mehr fragt: Warum bestehen Sie eigentlich darauf, auch Präzision in der Zielsetzung und in der Formulie- politischen Radikalismus neben der Kriminalität zu rung als Vertrauensseligkeit, mehr Bestehen auf beraten? Ist das für Sie nur „unbequem", weil sich Grundsätzen als Nachgiebigkeit die künftige deut- hier und da Pfeifer und Störer in den Versammlun- sche Ostpolitik leiten müssen. gen befinden, oder ist das wirklich eine „Gefahr"? Wir fügen hinzu: Unsere erste außenpolitische Das war im April 1972. Aufgabe liegt, gerade wenn der Wille nach Frieden Deshalb sage ich: Wir alle — ich zitiere nicht noch und Versöhnung, nach Sicherheit und allgemeiner einmal Professor Steinbruch oder Herrn Knorr — Wohlfahrt uns leitet, in dem Bestreben, im freien sollten nicht zuerst nach der Polizei rufen, sondern Europa durch praktische Schritte Tatsachen zu schaf- zuerst danach, daß die politische Führung dem Ge- fen, die der Vereinigung näherkommen und sie end- danken der kämpferischen Demokratie entsprechend gültig machen. handelt. Dies ist das erste. Ich betone deshalb — auch auf Grund der Frage (Beifall bei der CDU/CSU.) des Herrn Bundeskanzlers —: Klarheit und Beharr- lichkeit in drei Punkten sollten uns auszeichnen: Der Staat, von dem wir reden müssen, ist die Insti- Erstens geht es darum, unsere Sicherheit durch Bünd- tution, welche die Freiheit sichert. Eine der Wurzeln nis und Bundeswehr zweifelsfrei zu festigen, der inneren Unsicherheit, die viele zu Recht veran- (Beifall bei der CDU/CSU) laßt, die Frage zu stellen, ob wohl unsere Staats- autorität zerbröckele, liegt doch in der „Strategie der zweitens darum, den politischen Zusammenschluß Systemüberwindung". Diese Strategie nutzt die des freien Europa zu fördern, und zwar nicht durch Freiheiten und die Grundrechte, die unsere freiheit- ideologische Überschriften, sondern durch Tatsachen, liche Verfassung allen Deutschen gewährt, um die welche die Gemeinsamkeit festigen, - demokratische Grundordnung unseres Gemein- (erneuter Beifall bei der CDU/CSU) wesens mitsamt seiner wirtschaftlichen Basis zu zer- stören. Die Freiheitsrechte der Bürger werden zu An- und drittens um das Ringen um Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen in ganz griffswaffen gegen die rechtsstaatliche Ordnung um- Deutschland und in ganz Europa. Ich nannte dieses funktioniert. Maß, und ich möchte hinzufügen, daß der DDR zuge- Was wir meinen, wenn wir von Freiheit, von mutet werden muß, der Realität der Einheit unseres Aufklärung, von Toleranz und Humanität sprechen, Volkes in dem Maße Rechnung tragen, in dem wir wird in sein Gegenteil verkehrt. Dies geschieht be- der Realität ins Auge sehen, daß die staatliche Ein- wußt, um die Wertordnung des freiheitlichen Rechts- heit Deutschlands in absehbarer Zeit nicht verwirk- staates und die sittlichen Grundüberzeugungen sei- licht werden kann. ner Bürger zuerst in Frage zu stellen und sie schließ- Das so zusammen zu sehen, ist, wie wir meinen, lich zu vernichten. Dieser Verkehrung der Begriffe eine reale, solide, und, ich füge hinzu, eine westlich müssen wir uns widersetzen. Dies ist das allererste. verstandene, westlich abgesicherte und westlich Nur wenn wir diese Demokratie als einen Staat, der definierte Strategie des Friedens und der Aussöh- nicht wertfrei ist, begreifen und ihn deshalb nicht nung. wertfrei auf eine Stufe mit den Institutionen stellen, die es drüben in der DDR gibt, nur dann, wenn wir Herr Bundeskanzler, treten wir alle in einem den Wert dieser Demokratie begreifen, wird es uns Punkt einander in den kommenden Wochen nicht gelingen, diese geistige Auseinandersetzung so zu zu nahe: Friedenspolitik gab es vor Ihnen, und führen, Friedenspolitik wird es nach Ihnen geben. Dieses (Beifall bei der CDU/CSU) Haus will nichts anderes, weil dieses Volk nichts anderes will. Das sollte hier klar sein. — daß am Schluß eben weniger nach der Polizei geru- fen werden muß. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Ich muß noch einen anderen Punkt behandeln, weil wir, wie wir glauben, festhalten müssen, daß Meine Damen und Herren, nur auf der Basis die- politischer Radikalismus und Kriminalität heute ses Wertbewußtseins wird es gelingen, hier alles nicht mehr zu trennen sind. Sie haben geglaubt, fortzuentwickeln. Und deshalb dürfen wir uns nicht Herr Bundeskanzler, uns mit einem Hinweis eins aus- von denen beeindrucken lassen, die entsprechend wischen zu können. Ich möchte an eine Debatte er- dieser Strategie versuchen, uns ein schlechtes Ge- innern, die wir vor kurzer Zeit geführt haben und in wissen einzureden, wenn wir von Recht und Ord- der ich mitgeteilt habe, daß zehn Tage vor der nung sprechen. Wahl in Baden-Württemberg eine Konferenz bei (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) Ihnen stattgefunden hat, in der die Frage der Krimi- nalität besprochen werden sollte. Ich habe damals Dieser demokratische Staat muß — und jetzt ge zusammen mit Richard Stücklen erklärt: Wir kom- brauche ich ein Wort, das für viele, aber ich hoffe, 11794 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Dr. Barzel nicht hier im Hause, vielleicht schrecklich ist — seine bund abzugrenzen, weil dieser an mancher Stelle Machtmittel für Recht und Ordnung einsetzen, gemeinsame Sache mit Kommunisten macht. Aber (Sehr gut! bei der CDU/CSU) es gibt doch nach wie vor Zusammenarbeit zwischen SPD-Jusos und SHB auf der mittleren und örtlichen denn diese Demokratie kann das tun, weil es hier Ebene. Und es ist doch so, daß Mitglieder der SPD ja kein Gesetz gibt, das anders zustande gekommen noch Führungsfunktionen im SHB wahrnehmen, der wäre als durch eine Mehrheit frei gewählter Abge- vielfach Aktionseinheiten mit dem kommunistischen ordneter, die hier das Volk selbst vertreten. Spartakusbund eingegangen ist. Diese Frage, meine (Beifall bei der CDU/CSU.) Damen und Herren, muß man aufwerfen. Man muß sie aufwerfen, wenn man es mit dieser streitbaren Gewiß, es wird zur Zeit etwas weniger demon- Demokratie und dem Kampf gegen den Radikalis- striert und auch etwas weniger randaliert. Aber es mus ernst nimmt. Das ist die andere Seite der wird, meine Damen und Herren, mehr terrorisiert demokratischen Toleranz. und mehr gemordet. Und dies, glaube ich, ist ein wichtiger Punkt. Wir haben zu beklagen — und ich Meine Damen und Herren, messen wir die Poli- hoffe, daß die Bundesregierung dies trotz des begin- tik dieser Regierung, um die es heute geht, an dem nenden Wahlkampfes noch nachholt —, daß die Maßstab, den sie selbst in ihrer Regierungserklä- Kriminalstatistik noch nicht vorgelegt worden ist. rung setzt, und messen wir sie an den Leistungen Ich glaube, dies sollte noch geschehen, damit hier ihrer Vorgänger, dann müssen wir sagen, an beiden jeder ein vorurteilsloses Bild hat. Maßstäben gemessen, ist diese Regierung geschei- tert. Aber wir haben jetzt im Zusammenhang mit den (Beifall bei der CDU/CSU.) schrecklichen Ereignissen in München, die keiner von uns zu falschen Zwecken zu mißbrauchen ge- Und dies, Herr Bundeskanzler, und nichts anderes denkt, gesehen, daß da plötzlich bekannt wurde, es wird dieser 6. Deutsche Bundestag heute feststellen, gebe 50 Stützpunkte ausländischer Organisationen indem er Ihnen das Vertrauen verweigert. hierzulande, die Gewalt als Mittel der Politik nicht Dann haben die Wählerinnen und Wähler das ausschließen. Wort, und sie werden entscheiden. Wir werden (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) uns stellen und Rechenschaft geben, unsere Vor- schläge sagen und sehen der Entscheidung des Das hört man plötzlich. Das sind doch 50 Stützpunkte Souveräns mit Zuversicht entgegen. zuviel. Dieses Land darf kein Tummelplatz für solche Art von Terroristen werden! (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Wir meinen aber, meine Damen und Herren, daß neben und nach allem, was demokratisch und par- Wir dürfen auch nicht die Augen vor denen ver- lamentarisch unerläßlich hier an Aufrechnen und schließen, die gewaltlos — mit dem „Marsch durch Abrechnen geschieht, diese Stunde, sofern wir sie die Institutionen" — diese Gesellschaftsordnung nicht als eine Stunde für uns, sondern als eine unterwandern und aushöhlen. Auch wir sind dafür, Stunde unserer Pflicht gegenüber denen begreifen, daß das Instrumentarium der streitbaren Demokra- die uns hierher gewählt haben, uns, wenn wir diese tie möglichst differenziert angewandt wird. Wir sind Stunde so begreifen, zwingt, doch aus dem, was wir dafür, durch politische Auseinandersetzungen den Ra- in diesen Jahren erlebten, was wir erstrebten, was dikalismus zu schlagen—möglichst im Wege der Soli- wir bewirkten oder erlitten, notwendige Lehren zu darität der Demokraten. Aber wir können doch nicht ziehen. Ich glaube, daß wir dieser — doch für kei- das in der Verfassung verankerte Damoklesschwert nen, Herr Bundeskanzler, heiteren — Stunde nur des Verbots, das an einem Seidenfaden hängen muß, gerecht werden, wenn wir uns dieser Frage stellen. nun plötzlich mit einem festen Tau anbinden und Was können wir aus alledem lernen? Hier ist denen auch noch sagen: Da bleibt's auch. Das heißt doch keiner, der nicht immer noch dazulernen doch, ein Stück der Möglichkeiten des differenzier- müßte. Ich wenigstens bekenne mich dazu. ten Kampfes auszuschalten. So möchte ich versuchen, einiges von dem aus- Wir haben deshalb, meine Damen und Herren, zusprechen, was wir als Lehre aus alledem für die den Beschluß der Ministerpräsidenten von Januar Zukunft empfinden. Diese drei Jahre, aufs Grund- dieses Jahres zur Abwehr verfassungsfeindlicher sätzliche bezogen, geben doch diese Lehre auf: In Kräfte im öffentlichen Dienst begrüßt. Wir sehen mit der Deutschlandpolitik kann hier keiner im Allein- Bestürzung, wie gegen diesen Beschluß innerhalb gang mit dem Kopf durch die Wand. Die Widrig- der Koalition, vor allen Dingen innerhalb der Sozial- keiten, welche die Kommunisten auch dem Gut- demokratischen Partei Deutschlands, eine Kampagne willigsten von uns bereiten, sind so stark, und - des Protestes losgebrochen ist. Und wir sehen, daß ich spreche es aus — die Möglichkeiten für uns als die hessische Landesregierung aus der Solidarität Deutsche allein sind so gering, daß wir hier, falls der Länder ausgebrochen ist und Durchführungsbe- wir Erfolg an veränderten, verbesserten Wirklichkei- stimmungen erlassen hat, die nicht mit der Verab- ten, nicht aber an Schlagzeilen oder falschem Beifall redung übereinstimmen. messen, nur Erfolg haben können und haben wer- Wir sehen, daß sich die Sozialdemokratie erst den, wenn wir alle, wenigstens in diesen Fragen, nach langem Zögern und sehr massivem — auch Gemeinsamkeit finden und wenn wir unsere Pro- öffentlichem — Drängen der Opposition bereitgefun- bleme in die gemeinsamen Interessen aller Europäer den hat, sich vom Sozialdemokratischen Hochschul- einordnen, die das unveräußerliche Recht auf Selbst- Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11795

Dr. Barzel bestimmung so definieren und so meinen wie wir wenig beeinflussen: nie darf das etwa auf unsere selbst. innere Ordnung hier einwirken. (Beifall bei der CDU/CSU.) Wir wollen endgültig ein freies Land sein, Dies ist eine Lehre, und die sollte auch jeder be- — ohne Rassismus und Gewalt, ohne Einmischung herzigen, dem es um den inneren Frieden hierzu- von außen, ohne Intoleranz, Diktatur und Mani- lande ernst ist. pulation; ein Land, dessen außenpolitische Fried- fertigkeit schon wegen seines inneren Friedens un- Wir haben ein anderes gelernt, nämlich nur zu bezweifelbar ist. Dazu gehört, daß uns die Soli- versprechen, was konkret geplant, solide durchge- über allem steht und der rechnet ist und nicht nur als wünschenswert oder als darität der Demokraten Kampf gegen die Feinde der Freiheit die gemein- wahrscheinlich gilt, was sich also nach solider sach- same Selbstverständlichkeit ist. gerechter Prüfung als möglich erweist. Sich zu be- scheiden, sich genau darauf zu bescheiden, sollte Meine Damen und Herren, unsere Mitbürger künftig für alle nicht als kleinlich, sondern als empfinden mit uns, daß Deutschland- und Außen- Größe verstanden werden. politik eines gespaltenen Landes gemeinsam von (Beifall bei der CDU/CSU.) allen Demokraten betrieben werden sollte — schon Nicht Illusionen zu wecken, Versprechungen zu ma- im Interesse des inneren Friedens, auch in dem des chen oder Träume zu nähren, sondern die Grenzen Erfolgs. Sie empfinden, daß Fortschritt auf Stabili- des politisch Machbaren zu erkennen und hier ehr- tät und Stabilität auf dem nüchternen, sachgerechten lich die Wahrheit zu sagen und dem zu folgen, das Mut einer entscheidungsfreudigen Regierung ge- ist die zweite Lehre, die sich aus diesem Scheitern gründet ist. Sie empfinden, daß Demokratie gegen anbietet. ihre inneren Feinde kein schlapper Staat sein darf; (Beifall bei der CDU/CSU.) daß ehrliche Nüchternheit demokratische Politik legitimiert; daß deutsche Politik europäisch ein- Wir haben weiter gelernt, daß Fortschritt, den wir gebettet sein muß. wollen, ohne den Mut zu neuen Ufern, also etwa Vor diesen Maßstäben und Erwartungen sind Sie aus Beharren oder Bequemlichkeit, unmöglich ist. auch gescheitert, Herr Bundeskanzler. Auch des- Er ist ebenso unmöglich ohne Stabilität und Soli- halb wird Ihnen heute das Vertrauen verweigert dität, wie diese drei Jahre zeigen. Und hier, meine werden. Wir sind durch dieses Scheitern, im Blick Damen und Herren, soll sich kein Demokrat täu- wie in der Verantwortung gestärkt. Der neue An- schen: Wenn wir etwa das Unsolide, das Unsta- fang, den wir uns zutrauen, wird die Lehren dieser bile, also das Unmögliche, zum Maßstab nähmen, drei Jahre beherzigen. so würde der Ruf nach anderen Autoritäten laut, weil man sich gegängelt und genasweist statt ge- Wir stehen vor einer gescheiterten Politik großer führt, weil man sich unter Niveau regiert fühlte. Versprechungen. Sie können durch verbale Kraft- akte, wie wir sie erlebt haben, nicht beseitigt wer- Unsere Mitbürger wissen alle, daß nur bewiesene den. Der Regierung und der Koalition fehlte es an Leistung, nur konkretes Können weiterführt; nur der nötigen Kraft und Geschlossenheit. Uns hem- so kommen sie voran im Beruf und im Leben. Dies men nicht ideologisierte Bilderstürmer. Fortschritt ist das Gesetz unserer freien Gesellschaft. Deshalb verlangt Augenmaß, nüchternes Denken und den verlangen diese Mitbürger zu Recht, völlig zu Recht, Blick für das Mögliche. Wir haben das hier bewie- daß auch die Politiker diesem Maß dieser leistungs- sen bis 1969. Wir haben dies als Opposition bewie- fähigen Gesellschaft entsprechen. sen. Wir wissen und wußten, daß nicht alles zu Unsere Mitbürger, die wir hier vertreten — und gleicher Zeit geschafft werden kann. keiner von uns säße doch hier, wenn er nicht so Nach nur drei Jahren Ihrer Regierung, Herr Bun- oder so deren Auftrag hätte —, interessieren sich deskanzler, steht zum erstenmal in der Geschichte sehr wenig für die Rankünen, die Rechthabereien der Bundesrepublik Deutschland der Bundestag vor- oder die Geschäftsordnungen hier. Sie fragen allein, zeitig vor seiner Auflösung. Keine noch so schönen ob wir den Dienst für das Ganze, den wir hier lei- Worte können darüber hinwegtäuschen, daß Sie sten, nach den Maßstäben leisten, die sie selbst gescheitert sind. Sie haben die Chance gehabt. Sie erfüllen müssen, d. h. ob wir hier mit Erfolg arbei- haben die Chance vertan. Der Wähler hat das Wort. ten und ob wir verantworten, was wir taten. Des- halb kann es sein, Herr Bundeskanzler, daß Sie das (Anhaltender lebhafter Beifall bei der hier heute nicht verdient haben; aber verantworten CDU/CSU.) müssen sie diesen Mißerfolg. (Beifall bei der CDU/CSU.) Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abge- ordnete Mischnick. Für ihn hat die Fraktion der Meine Damen und Herren, wir ziehen eine wei- Freien Demokraten eine Redezeit von 30 Minuten tere Lehre. Wir wollen, wie unsere Mitbürger, beantragt. Frieden und Aussöhnung, gute Nachbarschaft und Freizügigkeit nach allen Himmelsrichtungen. Aber ebenso wollen wir entscheiden, hier in Deutschland Mischnick (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr so zu leben und frei so zu entscheiden, wie wir verehrten Damen und Herren! Die Fraktion der selbst es wollen. Wohin also immer die Weltpolitik Freien Demokraten wird dem Herrn Bundeskanzler geht, die wir, ob uns das paßt oder nicht, nur das Vertrauen aussprechen, da die Zusammenarbeit 11796 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Mischnick in der Koalition in den vergangenen Jahren fair und von Leistungen, den Sie einmal in Ruhe nachlesen ertragreich war. sollten. Auf über neun Seiten wird dargelegt, was (Beifall bei den Regierungsparteien.) diese Koalition mehr geleistet hat als jede Regie- rung unter CDU/CSU-Führung. Ich erinnere nur an Daß wir Freien Demokraten jetzt Neuwahlen be- das Ausbildungsförderungsgesetz, an den Ausbau fürworten, ist seit langem bekannt. Sie, Herr Dr. der Hochschulen, an die Mittel, die wir zusätzlich zu Barzel, können mit noch so viel Rhetorik dem, was früher an Mitteln vorhanden war, zur (Zuruf von der SPD: Das war doch gar Verfügung gestellt haben. keine!) (Beifall bei den Regierungsparteien.) das Bild, das vorhanden ist, nicht retuschieren. Es Herr Kollege Barzel, Sie haben davon gesprochen, gelingt Ihnen nicht, die Tatsachen zu übertünchen. daß Sie eine Alternative für die Vermögensbildung (Beifall bei den Regierungsparteien.) mit dem Beteiligungslohn-Plan vorgelegt haben. Wissen Sie wirklich nicht, wie viele Kollegen aus Daß wir uns heute hier über eine Entscheidung Ihren eigenen Reihen ständig besorgt waren, dieser im Zusammenhang mit Art. 68 des Grundgesetzes Gesetzentwurf könnte gar Gesetz werden? unterhalten, hat weder etwas mit einer Bankrott- erklärung einer Regierung noch mit dem Gewissen (Beifall bei den Regierungsparteien.) oder der Treue einiger Mitglieder dieses Hohen Und warum waren sie besorgt? Weil sie genau wuß- Hauses zu tun. Tatsache ist doch, daß Sie sich als ten, daß dieser Gesetzentwurf über den Beteili- Opposition bis zum heutigen Tage mit dieser Rolle gungslohn nach Herrn Burgbachers Vorstellungen nicht abfinden konnten und verzweifelt bemüht wa- gerade die lohnintensiven Betriebe, für die Sie drau- ren, Stein um Stein herauszubrechen, nicht mit kla- ßen immer auf die Barrikaden zu gehen behaupten, reren Alternativen, sondern mit dem Verlangen, die in einer. Weise getroffen hätte, die unverantwortlich Macht wieder in die Hand zu bekommen. gewesen wäre. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Wir wußten sehr genau, welch schweren Weg Wir sind sehr froh darüber, daß wir diese Fehlent- wir mit der Entscheidung von 1969 gehen. Wir wa- scheidung Ihrer Fraktion hier nicht gesetzlich ver- ren uns bewußt, daß es nicht leicht sein würde,- mit ankert haben, denn das wäre zu Lasten der kleinen einer knappen Mehrheit Entscheidungen zu fällen, Selbständigen, zu Lasten aller lohnintensiven Be- die im Interesse unseres Volkes notwendig waren reiche gegangen. Diese Art Vermögenspolitik lehnen und auch für die Zukunft notwendig sind. Wir be- wir F ei en Demokraten, lehnt diese Koalition ab. kennen uns zu dieser Entscheidung von 1969 heute (Beifall bei den Regierungsparteien.) an diesem Tage genauso wie vor drei Jahren. Sie war richtig, und sie bleibt richtig. Lieber Herr Kollege Barzel, Sie haben hier in einer durchaus berechtigten, gemeinsamen, uns alle (Beifall bei den Regierungsparteien.) angehenden Erklärung davon gesprochen, daß wir Der Kollege Barzel hat nun mit beredten Worten uns gegen das, was an Verbrechen und Terror in versucht, Alternativen, die wirklich deutlich ge- diesem Lande möglich war, wenden müssen. Ich macht hätten, welchen anderen Weg eine CDU/CSU- hoffe, daß dies nicht nur verbale Erklärungen sind, Regierung gehen will, darzulegen. Das ist ihm nicht sondern daß Sie, wenn es darum geht, zwischen gelungen. Er hat nur einige wenige Beispiele her- Bund und Ländern in der leidigen Frage der Kompe- ausgegriffen und versucht, damit den Beweis zu tenzen zu Entscheidungen zu kommen, genauso dazu liefern, daß die CDU/CSU eigentlich auch eine Re- stehen, wie Sie es eben hier getan haben, und nicht formpartei sei. wieder ausweichen. Herr Kollege Dr. Barzel hat sich ausgerechnet die (Beifall bei den Regierungsparteien.) Bildungspolitik ausgesucht und geglaubt, bei der Herr Kollege Barzel, Sie sagten: Die Solidarität Bildungspolitik beweisen zu müssen, daß diese der Demokraten geht uns über alles. Wir sind der Koalition, daß diese Regierung nicht erfüllt hat, gleichen Meinung. Wenn das aber Ihre Überzeu- was möglich war. Es bleibt Ihnen überlassen, wes- gung ist ich unterstelle dies —, warum haben Sie halb Sie diesen Fehlgriff gemacht haben. Sie müß- sich dann bis zur Stunde nicht von dem bösen Wort ten doch wissen, daß Ihre Landesfürsten, die Lan- distanziert, das Ihr Neu-Kollege Dr. Mende in desvorsitzenden Ihrer Partei als Ministerpräsiden- Hanau gesprochen hat ich zitiere wörtlich —: ten, daß Ihre Parteikollegen als Kultusminister alles Wenn die Bundestagswahl von dieser Regie- getan haben, um zu verhindern, daß wir zu einer rung gewonnen werden sollte, würde das die einheitlichen Bildungspolitik in Bonn kommen. letzte demokratische Wahl in diesem Land ge- (Beifall bei den Regierungsparteien.) wesen sein. Sie haben doch Ihre Mehrheit im Bundesrat immer (Abg. Dr. Mende: Sehr richtig! — Pfui-Rufe wieder dazu mißbraucht, Fortschritte auf dem Ge- von der SPD.) biet der Bildung und der Ausbildung zu bremsen, zu hemmen, ja, unmöglich zu machen. Es ist ein weh- Wer das sagt, stellt sich außerhalb der demokrati- leidiges Geschrei, das Sie anstimmen, wenn Sie die- schen Gemeinschaft. ser Koalition das, was sie wirklich erreicht hat, ab- (Lebhafter Beifall bei den Regierungs sprechen wollen. Es ist ein umfangreicher Katalog parteien.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11797 Mischnick Wer das nicht zurückweist, solidarisiert sich damit nauso geschlossen die Gesamtbilanz vorlegten, wie und bricht damit die Solidarität der Demokraten. wir das zu tun pflegen. Denn wir sind fair. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Es ist schon sehr viel über Stabilität, Stabilitäts- Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwi- politik und unterlassene Maßnahmen hier gespro- schenfrage des Herrn. Abgeordneten Dr. Mende? chen worden. Aber eines verstehe ich nicht: weshalb die Kollegen der CDU/CSU, insbesondere Herr Kollege Dr. Barzel und Herr Kollege Strauß, es bis Mischnick (FDP) : Da ich ihn angesprochen habe, zur Stunde nicht fertiggebracht haben, daß die von bin ich einverstanden. der CDU/CSU regierten Länder, die mit ihrer Haus- haltsausweitung erheblich über dem Durchschnitt Dr. Mende (CDU/CSU) : Ist der Herr Vorsitzende stehen, sich endlich einmal an die Maxime ihrer der FDP-Fraktion bereit, zur Kenntnis zu nehmen, eigenen Parteivorsitzenden halten. daß diese Formulierung der Schlußsatz einer länge- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ren Darstellung der volksdemokratischen Methoden vom 27. April 1972 anläßlich des Mißtrauensvotums Wenn Sie das bis zur Stunde nicht fertiggebracht und vom 17. Mai 1972 anläßlich der Entscheidungen haben, wie wollen Sie dann die Offentlichkeit über- über die Ostverträge war? zeugen, daß Sie als möglicher Bundeskanzler dann mit Ihren eigenen Leuten überhaupt fertig werden? (Abg. Wehner: Genauso wirr wie dieser Ich bin davon nicht überzeugt. Satz sind Ihre Gedanken! — Weitere leb hafte Zurufe von der SDP.) Meine Damen und Herren, wir haben sehr viele kritische Bemerkungen über viele Einzelmaßnahmen gehört. Natürlich — das wissen wir ganz genau —: Mischnick (FDP) : Herr Abgeordneter Dr. Mende, nicht alles, was wir uns vorgenommen haben, ich hätte es für besser gehalten, wenn Sie sich jetzt konnte erreicht werden. Aber alle diejenigen unter hier dafür entschuldigt hätten, überhaupt so etwas Ihnen, die in diesem Hohen Hause länger als vier gesagt zu haben. oder acht Jahre sitzen und noch in Erinnerung (Lebhafter Beifall bei den Regierungs- haben, wie die CDU/CSU von 1957 bis 1961 mit parteien. — Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] : ihrer absoluten Mehrheit allein regieren konnte, Herr Barzel müßte etwas dazu sagen!) werden sich daran erinnern, daß von sieben ver- sprochenen Reformvorhaben nicht ein einziges Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese durchgeführt worden ist. Bundesregierung hat in ihrer dreijährigen Amts- zeit — das ist unbestreitbar — mehr erreicht als (Beifall bei den Regierungsparteien.) andere Regierungen in vier Jahren. Wenn Sie, Herr Das muß jeder im Lande draußen wissen, wenn er Kollege Barzel, das nicht glauben wollen: vielleicht etwa darauf hofft, mit einer neuen absoluten Mehr- ist Herr Kollege Kirst so nett und überreicht Ihnen heit der CDU/CSU mehr erreichen zu können. Die vier Bände Stichworte; da können Sie das nach- dürftigste Bilanz, die je eine Bundesregierung hatte, lesen, was schwarz auf weiß beweist, was wir ge- war die mit der absoluten Mehrheit der CDU/CSU. leistet haben. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Lebhafter Beifall bei den Regierungs Eine andere Frage wurde heute so zwischendurch parteien. — Abg. Kirst überreicht Abg. wieder einmal deutlich Dr. Barzel ein Buch.) (Abg. Dr. Barzel schickt sich an, den Saal zu verlassen) Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwi- schenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel? — ich habe das Gefühl, der Kollege Barzel ahnt schon, was jetzt kommt —: Wer ist eigentlich Herr im Hause der CDU/CSU? Diese Frage wurde erkenn- Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Kollege Mischnick, bar, als es darum ging, wer denn nun als erster und darf ich mich durch eine Frage herzlich bedanken wer als zweiter sprechen darf. für die Übergabe der Wahlkampfunterlagen der (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.) Freien Demokratischen Partei und in dem Hand- schlag des Kollegen Kirst die Wiedergutmachung Meine Damen und Herren, das, was 1957 sichtbar dafür sehen, daß Herr Kollege Schellenberg gestern wurde, ist: Wenn die CDU/CSU die Mehrheit hat, durch Handschlag neue Sitten in diesem Hause muß sie nach der Pfeife der CSU tanzen. Dasselbe einzuführen sich bemühte? ist heute wieder sichtbar geworden. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Man fragt sich auch, weshalb eigentlich immer Mischnick (FDP) : Herr Kollege Dr. Barzel, ich wieder in den Auseinandersetzungen von seiten muß Sie berichtigen: Das sind nicht die Wahlkampf- der CSU — und da speziell — die Angst und die unterlagen, sondern Sie werden feststellen, daß auch Panikmache in die Debatte geworfen werden. Ihre Anträge objektiv gewürdigt worden sind. Es (Abg. Härzschel: Das machen Sie doch gegen wäre gut, wenn Sie auch allen Ihren Rednern ge- die CSU!) 11798 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Mischnick Die Antwort auf diese Frage war sehr einfach. Bei Wir sind bereit, die Koalition mit der CDU fortzu- einigem Nachlesen — es sind auch andere schon setzen? Darf eine solche Bereitschaftserklärung nur darauf gekommen — konnte man sie in dem Buch abgegeben werden, wenn sie zugunsten der CDU von Strauß „Finanzpolitik — Theorie und Wirk- ist? Merken Sie nicht, wie doppelzüngig Sie hier lichkeit" finden. Ich zitiere: mit dem Vorwurf einer einseitigen, vorzeitigen Bindung argumentieren? Man kann einem Volke, auch wenn es ihm gut geht, die Gegenwart als schwer erträglich und Wir gehen davon aus, daß die Wähler im Lande, durch düstere Prophezeiungen die Zukunft als wenn sie prüfen, was erreicht ist, wenn sie ab- gefährdet und katastrophengeladen vorgau- wägen, was an kleinlicher Kritik, aber nicht an Al- keln, bis sogar Anwandlungen von Hysterie auf- ternativen vorhanden war, zu dem Ergebnis kommen treten und durch Angstreaktionen erst die Ge- werden, daß gerade diese Koalition, daß diese Bun- fahren heraufbeschworen werden, vor denen desregierung in diesen drei Jahren nicht nur ver- angeblich nur gewarnt werden soll. Dazu gehört sprochen hat, Reformen durchzuführen, sondern daß auch der leichtfertige, das Gesetz der Dimen- erste Maßnahmen gelungen sind und, um die wei- sion verletzende Gebrauch der Begriffe „Krise", teren durchführen zu können, der Auftrag durch „Depression", „Inflation" u. ä. den Wähler erneut gegeben werden muß. Wir sind zuversichtlich, daß das Urteil der Wähler für uns So Herr Strauß! Freie Demokraten positiv ausfällt. (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs (Beifall bei den Regierungsparteien.) parteien. — Zurufe von der CDU/CSU.) Ich habe den Eindruck, daß Franz Josef Strauß die- ses Rezept, das er 1969 bei anderen als gefährlich Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der ansah, jetzt einmal selbst ausprobieren will. Ob das Herr Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen. aber eine Qualifikation ist, in diesem Staat in einer Bundesregierung eine Funktion zu übernehmen, das Schmidt, Bundesminister für Wirtschaft und bezweifle ich. Finanzen: Herr Präsident! Meine Damen und Her- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ren! Ein wenig traurig, Herr Kollege Mischnick, be- trete ich dieses Pult, weil Sie mir eine entzückende Meine Damen und Herren, ich kann nur- feststel- len, daß die Kollegen in der CDU, die in der Ver- Lesefrucht 20 Minuten zu früh vorweggenommen gangenheit schon mit einer gewissen Sorge auf haben. Auch ich war scharf auf dies Zitat mit der manche Entwicklung in der CSU blickten, eigentlich „Finanzhysterie". Ich hätte es allerdings so ver nunmehr gewarnt sein sollten. Wenn es beispiels- kauft, daß zunächst alle geglaubt hätten, es stammt weise der Vorsitzende der NPD für richtig hält, von Willy Brandt, und zum Schluß hätte ich gesagt, sich der CDU/CSU als „Stützkorsett" oder als wer es wirklich war, nämlich der Kollege Strauß. „Rechtsbeistand" zu empfehlen — wobei das natür- (Heiterkeit.) lich eine sehr doppelsinnige, gewollte Wirkung Aber ansonsten hat natürlich Herr Kollege Misch- hat —, bin ich mir sicher, daß viele CDU-Kollegen nick nicht nur mit diesem Zitat völlig recht. In der genauso wie wir über solche Entwicklungen nicht Außenpolitik wie in der Innenpolitik kommt es im erfreut sind. Aber die klare Distanzierung, das klare Interesse unseres Staates und unserer Bürger darauf Abrücken davon, haben wir bis zur Stunde nicht an, daß wir auf der sicheren Grundlage dessen, was gehört. wir erreicht haben, Schritt für Schritt nach vorn (Beifall bei den Regierungsparteien.) gehen; oder mit anderen Worten: Es ist notwendig, Deshalb kommen wir zu dem Ergebnis: Mag auch daß der einzelne und daß wir gemeinsam uns auf manches von dem, was wir uns als Ziel gesetzt ha- die Bewahrung der für ihn, der für uns geltenden ben, was wir als Vorstellung über die gemeinsame Grundlagen verlassen können. Auf solcher Basis Arbeit hatten, nicht voll erreicht sein — die Schluß- kommt es darauf an, den sozialen Rechtsstaat durch bilanz, die wir hier nach drei Jahren ziehen können, notwendige Neuerungen und Verbesserungen ist angefüllt mit einer Vielzahl von Vorschlägen, schrittweise so zu gestalten, daß immer mehr in Vorlagen, Initiativen, die wir Freien Demokraten das Bewußtsein aller Menschen eindringen kann, in mit unserem Partner durchbringen konnten. Wir wie starkem Maße der Begriff „sozial" tatsächlich sind dankbar dafür, daß die sozialdemokratische staatliche, gesellschaftliche, politische Wirklichkeit Fraktion für die Vorschläge der Freien Demokraten wird. Das ist eine immerwährende Aufgabe. Aber das Verständnis aufgebracht hat, das bei der CDU/ sie ist auch immer lösbar. Sie ist immer wieder CSU in sechs Jahren Zusammenarbeit nie vorhanden lösbar, vor allem auch deshalb, weil unsere Demo- gewesen ist. kratie nicht nur eine rechtliche oder verfassungs- (Beifall bei den Regierungsparteien.) mäßige Form oder Hülle ist. Das ist sie auch. Aber Demokratie ist darüber hinaus, geschützt durch Wir wissen, daß es heute ein Reihe Leute gibt, diese rechtliche Form, zugleich ein Komplex der die sich plötzlich Gedanken darüber machen, daß Rechte des einzelnen Menschen, der Rechte auch von die Unabhängigkeit dieser Freien Demokraten da- Gruppen und der Möglichkeiten zu friedlicher, wenn- durch in Gefahr sei, daß sie erklären: Wir haben die gleich auch streitiger gesellschaftlicher Entwicklung. Absicht, diese Koalition fortzusetzen. Wo waren Rechte des einzelnen kann es ohne den Rahmen der eigentlich alle diese, als wir 1965 aus der Überzeu- modernen rechtsstaatlichen Demokratie, wie wir ihn gung einer guten Zusammenarbeit heraus erklärten: nach vielen Irrwegen der Deutschen aufgebaut Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11799 Bundesminister Schmidt haben, nicht geben. Rechte von Gruppen — ver- deutlich werden lassen, daß deren Reformbedürfnis schiedene Meinungen und Interessen organisiert, gerechtfertigt ist und daß bei dieser Regierungskoa- auch im Gegensatz zueinander zu vertreten — er- lition das Reformbedürfnis der Bürgerinnen und gänzen die Rechte der einzelnen, und sie ergänzen Bürger verstanden und beantwortet wird. die gesellschaftspolitischen Entwicklungsmöglich- (Zuruf von der CDU/CSU: Es ist nur nie keiten. Es ist ein konservativer Irrglaube, zu mei- erfüllt worden!) nen, die rechtsstaatliche pluralistische Demokratie sei jene Form, mit der der gesellschaftliche Status Es ist inzwischen klarer geworden als vielleicht quo festgeschrieben werden solle. in manchen Jahren vorher, daß dafür auch Opfer (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat nie gebracht werden müssen. einer gesagt!) (Aha! bei der CDU/CSU.) Demokratie ist ein gesellschaftlicher Prozeß. Es Das heißt nicht etwa: weniger persönlicher Wohl- ist richtig, daß Rechtsstaatlichkeit immer ein Hin- stand und statt dessen mehr Steuern für den Staat. dernis für revolutionäre Entwicklungen ist. Das ist Die richtige Alternative lautet vielmehr: weitere, Gott sei Dank so. Wir haben es auch so gewollt, und wenn auch etwas weniger schnelle Steigerung des wir wollen es weiterhin so. Demokratie ist die privaten Konsums, dafür Staatsform, die Gesellschaftsform, füge ich für Herrn mehr öffentliche Investi- tionen und mehr öffentliche Dienstleistungen für den Heck hinzu, des friedlichen Wandels. Wir haben Bürger. für die Wandel die Chancen genutzt, die diese De- mokratie uns bietet. Wir sind angetreten — wie (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu- vorhin von Sprechern der Opposition schon mehr- ruf von der CDU/CSU: Und mehr Steuern!) fach zitiert — unter dem Vorzeichen der inneren Reformen. Herr Kollege Schröder hat sich heute Ich zweifle gar nicht, daß die Mehrheit der Bürger früh darüber lustig gemacht. Aber die eigene Pro- im eigenen Interesse, im Interesse ihrer ganz per- paganda Ihrer Partei, Herr Kollege, straft Sie Lü- sönlichen Zukunft sich für die richtige Alternative gen. Inzwischen haben Sie nämlich kapiert, daß entscheiden wird. Wir unternehmen heute alle mit- auch Sie von Reformen reden müssen, von Plänen einander den Versuch, ihnen die Entscheidung zu erleichtern. reden müssen man staune! — und von Program- men. Wenn Herr Schröder gesagt hat, die Tatsache,- (Lachen bei der CDU/CSU.) daß Ihre Fraktion in diesem Sommer das Zustande- Ich will mich zu diesem Zwecke ein wenig mit den kommen eines Haushaltsgesetzes verhindert habe, verschiedenen Kassandra-Rufen der Opposition aus- strafe die von uns in Wirklichkeit und Bundesge- einandersetzen. Die werden ja zum Teil hier vor- setzblatt gegossenen Reformen Lügen, dann ist das gebracht und zum Teil draußen, zum Teil gedruckt einfach nur, entschuldigen Sie, dummes Zeug. und zum Teil mündlich. Ich finde z. B. ein Flugblatt (Beifall bei den Regierungsparteien.) der CDU „Unser Kurs", und daraus kann man ent- nehmen, daß morgen nachmittag Eintracht Braun- Das, was an Reformen verwirklicht worden ist, schweig gegen Bayern München spielt. Herr Kollege Schröder, erfüllt sehr persönliche, sehr individuelle Bedürfnisse von Millionen von Frauen (Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!) und von Männern, von Jugendlichen und sogar Unten am Rande steht dann etwas von 380 000 Mit- von Kindern. gliedern — so viel ist das ja gar nicht —, die die (Zuruf von der CDU/CSU: Reformen hat es „Initiative ergreifen", um „aus zerrütteten Staats- immer gegeben!) finanzen herauszuführen". Jede dieser Reformabsichten trifft natürlich zunächst (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) auf organisierte Gegeninteressen. Sie artikulieren An dieser Stelle muß man dann nochmal an das er- sich hier im Parlament durch die Fraktion, die in innern, was Herr Kollege Mischnick schon vorgetra- der Mitte sitzt, aber eigentlich rechts sitzen müßte, gen hat. (Beifall bei der SPD — Zurufe von der (Zuruf von der CDU/CSU: Warum sind Sie CDU/CSU: Unerhört!) denn schon der dritte Finanzminister?) trifft auf die Gegeninteressen von Gruppen, die sich Die Sache ist doch so. — Ich sehe mit Vergnügen, organisieren, um den bisherigen Zustand zu erhal- ten. Das ist klar, das ist auch legitim; das hat das daß der Führer der Christlich-Sozialen Union inzwi- Grundgesetz Ihnen auch erlauben wollen. Wir sind schen eingetroffen ist. — Die Sache ist doch nur so, Ihnen gar nicht böse. Herr Strauß, daß Sie hier anders reden als im Aus- land. Es ist doch noch gar nicht viele Wochen her, (Zurufe von der CDU/CSU: Unterstellungen! — da hat Herr Kohl, Ihr Freund, Ihr CDU-Minister- Sprüche!) präsident in Mainz, weit weg in Asien, in Tokio, Wir wollen nur mit Ihnen darum ringen, daß die öffentlich gesagt wörtlich --, die Entwicklung der beiderseitigen deutlichen Gruppeninteressen, die Bundesrepublik sei gekennzeichnet „von wirtschaft- hier vertreten werden, auch dem Publikum, dem Bür- licher Prosperität und sozialer und politischer Stabi- ger, dem Wähler ganz durchsichtig werden. Ich lität". Was wollt ihr eigentlich noch? denke, daß wir in den letzten drei Jahren — mehr als (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs jemals vorher geschehen — unseren Bürgern haben parteien.) 11800 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972,

Bundesminister Schmidt Herr Kohl hat doch recht: Man kann es so kurz und Erhard, notabene mit rein marktwirtschaftlichen Mit- präzise ausdrücken. Warum reden Sie so lange, Herr teln niemals gelöst werden kann. Strauß? (Beifall bei der SPD. — Abg. van Delden: (Erneuter Beifall bei den Regierungs Das hat er auch nicht behauptet!) parteien.) Aber ich habe immer noch die Hoffnung, daß uns Der Oppositionsführer hat sich hier über Energie- Herr Strauß hier bei der Suche nach einer besseren politik verbreitet. Wirtschaftspoitik ein wenig hilft. Es gibt eine Reihe von Feldern, Herr Kollege, auf denen Sie Fachmann (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Warum ist sind. Zum Beispiel gibt der Staat enorm viel Geld denn Schiller zurückgetreten?) für ein in der Großen Koalition begonnenes Flug- — Ich komme gern auf den Kollegen Schiller zu- zeugobjekt aus. Sie sind dort der Aufsichtsratsvor- rück. Er ist nämlich ein Mann, der 1967 Bedeuten- sitzende. des zur Überwindung der von Ihnen zu verantwor- (Beifall bei der SPD.) tenden Rezession und Arbeitslosigkeit beigetragen Herr Kollege Schiller hat schon immer gemeint, man hat. müsse nun endlich mit der Schere da etwas ab- (Beifall bei der SPD.) schneiden, weil es zu teuer wird. Vielleicht hat er recht. Aber Sie sind der Fachmann, Herr Strauß. Der Oppositionsführer hat über Energiepolitik ge- Sagen Sie uns, ob wir bei diesem Projekt vielleicht redet. Wir sind auf diesem Feld sicherlich alle nicht etwas rationeller mit dem Geld des Steuerzahlers ohne Besorgnis. Er hat gemeint, es fehle an einem umgehen können, wie Sie es uns doch empfohlen energiepolitischen Gesamtkonzept. Da habe ich ge- haben. dacht, nun käme etwas, woraus ich lernen könnte. (Beifall bei der SPD.) Es kam aber gar kein Vorschlag, Herr Barzel. Ge- nauso war es bei der ganzen Rede des Kollegen Die Widersprüche im Verhalten und im Reden, Vorsitzenden der CSU. Die Rede enthielt wohl sehr auch zwischen den Reden verschiedener Exponenten viel Kritik und Polemik — dazu sind Sie nach dem der Opposition sind sehr eindeutig. Zum Beispiel hat der Oppositionsführer am 21. des vorigen Monats Grundgesetz legitimiert, und dazu fordert Sie diese erklärt, ein europäischer Beitrag zur stabilitäts- parlamentarische Situation heraus —, aber an keiner - Neuordnung des Weltwährungssystems einzigen Stelle auch nur einen alternativen Vor- orientierten sei nötig und möglich; damit stimme ich überein. Er schlag. hat dann fortgesetzt: Solange diese Neuordnung (Beifall bei der SPD.) noch aussteht, halten wir uns die Möglichkeiten Sicherlich wird die nächste Regierungserklärung einer größeren und europäisch abgestimmten — es kann ja bestensfalls nur bis Anfang Januar Außenflexibilität der Währung offen. Das heißt auf dauern, bis Willy Brandt und Walter Scheel ge- deutsch, er möchte sich gern die Tür für ein neues meinsam eine neue Regierungserklärung vortragen Schwankenlassen der Kurse offenhalten. Herr — ein energiepolitisches Konzept enthalten. Strauß hat hier vor genau zwei Stunden das akku- rate Gegenteil vorgetragen. Was ist denn nun rich (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu tig, was stimmt denn nun? rufe von der CDU/CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Uns muß man die Sorge um den Steinkohlenberg- Verehrter Kollege Strauß, dadurch, daß Sie jetzt bau nicht ans Herz legen. Wir haben nicht verspro- lächeln, schaffen Sie doch diesen diametralen Wider- chen, daß jedes Jahr 140 Millionen t Kohle gefördert spruch nicht aus der Welt. und abgesetzt werden; (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei den Regierungsparteien) Der zukünftige Wirtschaftsminister in einem Kabi- das waren wohl andere. Wir haben uns mit dem nett Strauß — Gott behüte uns! — hat nun wieder Steinkohlenbergbau viel Mühe gegeben, so Walter das gesagt, was Herr Barzel gesagt hat. Arendt oder Alex Möller, (Heiterkeit bei den Regierungsparteien. — (Zuruf von der CDU/CSU: Auch Schiller!) Abg. van Delden: Denken Sie an das, was Herr Klasen gesagt hat!) — ja, sicher, Karl Schiller; wieso denn nicht? —, so — Herr Klasen als Präsident der Bundesbank und die damaligen sozialdemokratischen Mitglieder der der gegenwärtig hier Sprechende stimmen in der Regierung der Großen Koalition. Vielleicht inter- Beurteilung dieser Frage genau wie das ganze Direk- essiert es Herrn Kollegen Barzel, daß ich z. B. sogar torium, der ganze Zentralbankrat und die ganze als Verteidigungsminister man hätte sagen kön- Bundesregierung vollständig überein. nen: das geht den in seinem Amt gar nichts an — selbstverständlich engen persönlichen Meinungsaus- (Abg. van Delden: Aber Sie handeln nicht tausch und Kontakt mit der Steinkohle gehalten danach, Herr Schmidt!) habe, mit der Unternehmerseite genauso wie mit der — Aber selbstverständlich handeln wir danach! Arbeitnehmerseite, weil es sich in der Tat um ein (Abg. van Delden: Wo denn!) für den Staat und die Gesamtgesellschaft und noch mehr für die betroffenen Menschen wichtiges Pro- — Wir wenden doch endlich jenen Paragraphen an, blem handelt, das, verehrter Herr Kollege Professor der in der Ara des Gralshüters der liberalen Markt- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11801 Bundesminister Schmidt wirtschaft, des von mir persönlich verehrten Profes- Auch innerhalb der erweiterten Gemeinschaft von sors Erhard, 1962 geschaffen wurde. Wir haben ihn zehn Staaten kann nicht jedermann seinen Kopf gar nicht erfunden, die CDU/CSU hat diesen § 23 im durchsetzen wollen, sondern auch dort muß auf Außenwirtschaftsgesetz geschaffen; wir aber wen- demokratische Weise der Ausgleich, der Kompro- den ihn an. Wir schämen uns auch dessen nicht; miß zum Besten aller gefunden werden. denn es wird ja eines Tages, wenn der Platzregen aufgehört hat, der Regenschirm des § 23 auch wieder Auf den Zwischenruf hin fällt mir ein anderer weggetan werden können. Ich erinnere mich, daß Widerspruch ein, der hier gestern offenbar wurde. gestern in der Sitzung des Zentralbankrats einer der Ich sage das alles nur, um die innere Zwiespältig- Herren gesagt hat, man solle doch den verehrten keit und Konzeptlosigkeit zu beleuchten. Es ist noch Altbundeskanzler Erhard dafür nicht in Anspruch nicht lange her, da haben Ihre Kollegen, Herr Kol- nehmen, das sei ein illegitimes Kind von ihm ge- lege Barzel, im Vermittlungsausschuß, der nach dem wesen. Grundgesetz eine wichtige Funktion hat, (Heiterkeit bei der SPD.) (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Und vertrau Das mag so sein. Ein anderer hat dann gesagt — lich ist!) das war nicht ganz ernst gemeint, sondern mehr im dem Zivildienstgesetz einstimmig zugestimmt. Ge- Flachston, wie das auch in ernsten Zirkeln manch- stern haben Sie in namentlicher Abstimmung alle mal erlaubt sein muß —: Nein, nicht illegitim, son- dagegen gestimmt. Wieso haben Sie in sieben dern es war eine unerwünschte Schwangerschaft, die Tagen ihre Meinung völlig ändern können? Das zu seinem Leidwesen ausgetragen wurde. möchte ich einmal wissen. (Heiterkeit bei der SPD.) (Lebhafter Beifall bei den Regierungs Aber alle diese Witze helfen darüber nicht hinweg, parteien.) daß Ihr den Paragraphen geschaffen habt und wir Wieso haben die Ausführungen, die Ihre Kollegen ihn anwenden, weil wir das tun, was der Bundes- im Vermittlungsausschuß zur Sache gemacht haben, regierung im Gesetz aufgegeben ist. heute plötzlich kein Gewicht mehr? Statt dessen wird behauptet, das sei alles nicht genug. Wieso Jetzt kommen wir auf einen anderen der poten- war es dort genug? tiellen Minister eines Kabinetts Barzel zu sprechen,- auf den CDU-Wirtschaftsminister des Saarlandes. In diesem Kolloquium, von dem Herr Barzel vorhin Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Bundesmini- schon hörte und zu dem er ein Dementi abgab, das ster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- sei alles nicht so gewesen, hat auch dieser Herr neten Dr. Wörner? CDU-Landeswirtschaftsminister sich zu diesen Pro- blemen geäußert. Er hat in bezug auf die Abstim mung in Europa, die auch des Dr. Barzels Ausgangs- Schmidt, Bundesminister für Wirtschaft und punkt gewesen war, wörtlich gesagt: „Wir müssen Finanzen: Herr Dr. Wörner möge mir nicht böse sein. eine Politik am Rande der Krise machen, wenn wir in Europa endlich zur Stabilität kommen wollen." (Aha-Rufe bei der CDU/CSU.) (Hört! Hört! bei der SPD.) Ich müßte mich sonst mit ihm anlegen. Denn er ist doch einer von denen, die entgegen der Sparauffor- Eine solche Politik am Rande der Krise hier ist derung des Vorsitzenden der CSU öffentlich ver- nicht Wirtschaftskrise, sondern Krise der europä- langen, es solle mehr Geld ausgegeben werden. Das ischen Gemeinschaft gemeint — ist sicher genau das haben wir doch alle gelesen, Herr Kollege Wörner. Gegenteil von dem, was unsere europäischen Partner, was unser eigenes Volk und was insbesondere die (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Arbeitnehmer von uns in der Europapolitik er- Rösing: Wir setzen andere Prioritäten! — warten und verlangen können. Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Ich möchte, was das europäische Zusammenwach- sen angeht, etwas aussprechen, was sicherlich auch Wenn ich eine Reihe von CDU-Professoren und von Ihnen so empfunden wird. Wir sind nicht nur CDU-Landeswirtschaftsministern über das reden politisch und wirtschaftlich mit unseren Nachbarn höre, was die EWG tun muß und was wir gefälligst in Europa eng verbunden; wir sind auch — unid durchsetzen sollen, habe ich manchmal das Gefühl, möchten es noch tiefer sein — menschlich mit ihnen daß sie den von Ihnen wie uns gemeinsam gewoll- verbunden. Die Bundesregierung will diese Gemein- ten Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion, zur schaft ausbauen; sie will auch, daß die vier neuen politischen Einheit, gegenüber den Partnern an- Mitglieder hinzukommen. Trotz dieser engen wirt- derer Regierungen, die mit uns reden, mit denen schaftlichen und politischen Verflechtung mit all die- wir zu Kompromissen kommen müssen, mit dem sen Ländern steht außer Frage, daß die Bundes- Hammer in der Hand betreten wollen. Ich muß republik Deutschland für sich genommen und ver- Ihnen sagen, solche Bestandteile germanischer glichen mit den neun anderen Ländern hinsichtlich Mythologie werden von unseren Freunden und der Preisstabilität unid der Vollbeschäftigung besser Nachbarn in Europa sicherlich mit nichts anderem dasteht als alle unsere Nachbarn und Partner. als mit Abscheu betrachtet. (Abg. Dr. Barzel: Nehmen Sie doch die frü (Beifall bei den Regierungsparteien.) heren Bundesregierungen!) 11802 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Bundesminister Schmidt Es steht außer Frage, daß die Bundesrepublik dank Die Vereinigten Staaten haben gegenwärtig sicher- der Politik dieses Hauses, dieser Regierung und der lich geringere Preissteigerungen als wir alle in Bundesbank das beste Ergebnis in dieser wichtigen Europa. Das ist richtig. Aber sie haben eine Arbeits- Kombination von zwei Schlüsselproblemen hat er- losigkeit von beinahe 6 %. zielen können, nämlich Preisstabilität hier und Voll- (Hört! Hört! bei der SPD.) beschäftigung dort. (Zurufe.) Dieses können wir hier nicht im Ernst als Vorbild unter uns debattieren. Wenn man das, wie Zwischenrufe zeigen, nicht glaubt, muß ich ein paar Zahlen nennen dürfen. Aber ehe ich zu den Argumenten des Oppositions- führers komme, muß ich doch noch einmal auf die (Zuruf von der CDU/CSU: Aber richtige!) Argumente des sogenannten großen Klaren aus dem — Hören Sie mal, ich bin zu lange im Parlament, um Norden eingehen. auf die Idee zu kommen, eine falsche Zahl zu nen- (Heiterkeit bei der SPD. — Zurufe von der nen, die Sie morgen widerlegen würden. CDU/CSU.) (Lachen und Zurufe bei der CDU/CSU.) — Ja, so nennt er sich doch selber, und so wird er in — Aber sicher! Lieber Freund, wenn Sie anderer Ihrer Propaganda doch genannt. Wenn Sie das Meinung sind, fordere ich Sie auf, unmittelbar an- sagen, werde ich es wohl auch so sagen dürfen. Das schließend an dieses Pult zu treten und darzulegen, ist doch keine Herabsetzung. wo ich falsche Zahlen genannt habe. (Abg. van Delden: Es regt sich ja auch (Beifall bei den Regierungsparteien.) keiner auf außer Ihnen!) Der CDU-Ministerpräsident in Kiel sagte Ende 1970, Ich nenne ein paar Zahlen für das erste Halbjahr vor 1 3/4 Jahren, im Südwestfunk: „Wir stehen un- 1972, weil man nicht überall die letzten Statistiken mittelbar vor einer Wirtschaftskrise." Nun weiß zur Hand hat. Wir haben im ersten Halbjahr eine jeder, daß das nicht wahr ist, wie übrigens viele der Preissteigerung — ich rede von den Lebenshaltungs- Prognosen, die aus derselben Ecke kamen. Aber kosten, wie es auch Herr Strauß getan hat — von heute er muß ja immer etwas kritisieren hat er 5,3 % gehabt. - sich etwas anderes ausgesucht. Jetzt beklagt er die (Zuruf von der CDU/CSU: Hoch genug!) hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte im Norwegen z. B. hatte eine Preissteigerung von 6,6 %, gegenwärtigen Jahr 1972. Dabei ist doch gerade er derjenige, der auf anderer Ebene den Bund aufge- (Zurufe von der CDU/CSU) fordert hat, sich kräftiger zu verschulden, um einen Italien — dort war sie im ersten Halbjahr etwas größeren Teil des Umsatzsteueraufkommens an die geringer als bei uns — Länder abführen zu können. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU) (Abg. Baron von Wrangel: Das stimmt nicht!) von 4,9 % und Belgien — ebenfalls etwas niedriger Er beklagt die Verschuldung; er fordert hohe Zu- als bei uns — von 5,1 %. wachsraten der Länderausgaben; (Zurufe von der CDU/CSU.) (Zuruf von der CDU/CSU: Verdrehung!) — Aber dafür — die Zwischenrufer haben eben nicht er fordert schon heute für die Zeit nach dem 1. Ja- genug im Kopf — gab es in Italien 3,6 % und in nuar 1974 — weit, weit ist es noch weg — eine Belgien leider Gottes auch 3,4 % Arbeitslose. Ich kräftige Erhöhung des Umsatzsteueranteils der Län- will Sie an folgendes erinnern: Nachdem uns Ihre der; und zugleich drückt sich dieser CDU-Minister- Mißwirtschaft 1966 3 % Arbeitslose beschert hatte, präsident vor der Konsequenz seiner Forderungen. da kam die NPD, und da kam die DKP. Die kann nämlich dann, wenn man das alles so ma- chen wollte, wie er es haben will, doch nur heißen: (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Zurufe Steuererhöhungen. Aber er sagt, Steuererhöhungen von der CDU/CSU.) seien der letzte Punkt, der für ihn in Frage käme. Die NPD ist wieder weg, Übrigens steht er natürlich im Widerspruch zu den (anhaltende Zurufe von der CDU/CSU) einstimmigen Empfehlungen des Finanzplanungsrats und die DKP spielt auch keine große Geige mehr von Bund und Ländern. Das war überhaupt so eine und hat keine großen Aussichten. Und wenn ich den komische Sache. Da haben Bund und Länder einstim- Zwischenruf mit den Vereinigten Staaten aufneh- mig alles Mögliche beschlossen, im Widerspruch zu men darf: Es stimmt, daß die Vereinigten Staaten Herrn Stoltenberg. Aber sein Finanzminister war an- eine Preissteigerung von nur 3 1 /2 % haben. wesend und stimmte dafür, (Abg. Dr. Barzel: Nun nennen Sie doch ein (Hört! Hört! bei der SPD) mal die Zahlen für 1949 bis 1969!) und sein Wirtschaftsminister Narjes war lieber gar — Ich komme auf Sie doch zu sprechen, Herr Barzel! nicht erst anwesend. Ich werde doch Ihre phantastischen Argumente nicht (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] : Hört! Hört! — auslassen; sie sind wert, zerpflückt zu werden. Ich Weitere Zurufe von der SPD: Sehr richtig!) komme darauf. Das ist der Unterschied zwischen öffentlicher Pole (Beifall bei der SPD und bei der FDP.) mik und sachlicher Arbeit. Herr Qualen, das ist sein Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11803 Bundesminister Schmidt Finanzminister, leistet sachliche Arbeit; das möchte — Wenn man polemisch in den Wald hineinruft, ich ihm bescheinigen. muß man sich über das Echo nicht wundern, und auf (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Reden Sie auch grobe Klötze gehören grobe Keile. einmal über Ihre Politik, Herr Minister?) (Beifall bei den Regierungsparteien.) — Ich rede die ganze Zeit über die Streitfragen — — In den letzten beiden Tagen kam es mir gar nicht so (Lachen in der Mitte. — Zuruf von der vor, als ob das ein Führungskreis war. Ich kann CDU/CSU: Sie polemisieren nur! — Gegen Ihnen Ihre Empfindungen, Herr Kollege Katzer, die ruf des Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Der Sie in den letzten 48 Stunden hatten, nachfühlen. versteht das nicht!) Zum ersten- und letztenmal im Leben konnten sie eine relative Gesetzgebungsmehrheit im Deutschen — Verehrter Kollege, wenn ich hier mit einem ge- Bundestag anführen. wissen Stolz im Unterton darauf hinweise, daß wir (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.) seit Jahr und Tag Vollbeschäftigung haben, dann rede ich doch über unsere eigene Politik und Lei- stung. Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Bundesmini- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu ster gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeord- ruf von der CDU/CSU: Wenn alles so gut neten Frau Kalinke? ist, warum sind Sie dann eigentlich schon der dritte Finanzminister?) Schmidt, Bundesminister für Wirtschaft und — Es ist in der parlamentarischen Demokratie — Finanzen: Nein, danke sehr. ich gebe zu, in Deutschland nicht ganz so häufig wie (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Hier spricht in anderen westeuropäischen Ländern — doch üb- die letzte Reserve der Regierung! — Wei lich, daß Minister zurücktreten, wenn sie mit der tere Zurufe.) einen oder anderen Angelegenheit bzw. mit dem einen oder anderen Aspekt der Regierungspolitik — Sie wissen doch, daß das bei mir keine Feigheit nicht einverstanden sind. ist, sondern daß das nur geschieht, um den Ton und das Niveau der Debatte einigermaßen zu wahren. (Zurufe von der CDU/CSU.) - (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs Ich kann mich erinnern, daß Minister aus ganz an- parteien. — Lachen bei der CDU/CSU.) deren Gründen ihren Rücktritt nehmen mußten: weil nämlich ein brauner Fleck auf ihrer Weste entdeckt Herr Kollege Barzel hat heute nachmittag über wurde. Daran kann ich mich erinnern! Wissenschaft und Bildung geredet. (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der (Anhaltende Rufe von der CDU/CSU.) CDU/CSU: Billig!)

Es ist doch noch nicht so lange her, und Sie waren Vizepräsident Dr. Jaeger: Meine Damen und doch schon im Parlament, als das passierte. Herren, ich darf um etwas mehr Ruhe bitten. (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Ein Drittel (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Herr Minister, des Kabinetts ist doch etwas viel!) Ihr Niveau war schon höher als heute!) — Das mag sein, aber das Kabinett ist, wie Sie se- hen und hören noch sehr kampfkräftig. Schmidt, Bundesminister für Wirtschaft und (Beifall bei der SPD. — Zuruf von der Finanzen: Das gebe ich zu. Ich bin auch schon lange CDU/CSU: Nur einzelne Mitglieder!) nicht mehr so geärgert worden wie heute.

Aber ich will das gern aufnehmen. Diese Tonart Kollege Barzel hat über Wissenschaft und Bildung ist ja heute früh schon von dem Kollegen Schröder geredet und beklagt, daß wir unseren eigenen An- angedeutet worden. Der Kollege Schröder hat, wenn sprüchen nicht genügt hätten. Sicherlich ist es so, ich das richtig im Ohr habe, von dem „Verfall des daß wir gern noch ein bißchen mehr gemacht hätten. Führungskreises" geredet. Ich habe das nicht nur Immerhin bitte ich doch zwei Zahlen zur Kenntnis zu als eine unangemessene Dramatisierung empfunden; nehmen, Herr Kollege Barzel. Die Wachstumsraten ich habe mich auch gefragt, ob das eigentlich ein Be- des Bundeshaushalts griff aus der Christlich-Demokratischen und der (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Sind beträcht Christlich-Sozialen Union sei, und habe mich gefragt: lich!) Was ist dort der Führungskreis? Ich nehme an, Herr Strauß, in trautem Einvernehmen mit ihm Hans Kat- bei den Ausgaben für Bildung und Wissenschaft zer, in trautem Einvernehmen mit jenem wiederum waren in den drei Jahren 1967 bis 1969, Kollege Gerhard Schröder und dann noch ein bißchen Barzel Strauß, im Durchschnitt 8,6 %. Sie betrugen in den und dann vielleicht noch ein bißchen Herr Kiesinger; drei Jahren 1970 bis 1972 aber 25,1 %. und jede Woche seht ihr euch und macht dann die- (Zurufe von der CDU/CSU.) sen Führungskreis. — Sicherlich, Sie können einen kleinen Preisanstieg (Abg. van Delden: Das werden Sie nach der abziehen. Wahl erleben! — Weitere Zurufe.) (Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) 11804 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Bundesminister Schmidt Lieber Herr Katzer, bei einem Unterschied von 3 zu 1 geschult werden. Aber dafür haben wir ja auch ein wollen Sie doch nicht im Ernst behaupten, die Preise Arbeitsförderungsgesetz gemacht. in Deutschland seien auf 300 % gestiegen. (Abg. Härzschel: Dank der CDU!) (Heiterkeit bei der SPD. — Abg. Katzer: Und wenn nicht irgendwo ein Betrieb auch einmal Sie müssen reale Zahlen, nicht nominelle Pleite ginge, dann wäre das jedenfalls ein Zeichen Zahlen nennen!) dafür, daß die gelobte Marktwirtschaft nicht mehr Ich will diese Zahlen auch nur erwähnen, damit die funktioniert. beredte und besorgte Klage des Oppositionsführers (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.) auf das reale Maß — real, Herr Strauß! — zurückge- führt wird. Herr Strauß, auch Sie haben Zahlen genannt. Sie haben behauptet, die Steuererhöhungen betrügen Die Bundesregierung hat in ihren Finanzen den 4 Milliarden DM. Es sind 2 Milliarden DM, aber es Ländern und Gemeinden in einem Ausmaß geholfen sind Steuererhöhungen; das gebe ich zu. wie kaum eine andere Regierung vorher. Ich er- (Abg. Strauß: Auf das ganze Jahr bezogen innere daran, daß Länder und Gemeinden aus der 4 Milliarden DM, Herr Kollege!) Neuverteilung der Umsatzsteuer in diesem Jahr 3,9 Milliarden DM mehr bekommen haben. Im nächsten — In diesem Jahr sind es 2 Milliarden DM, erst im Jahr werden es 4,4 Milliarden an Mehreinnahmen nächsten Jahr werden es 4 Milliarden sein. sein. (Ah-Rufe bei der CDU/CSU.) (Zuruf von der CDU/CSU: Das liegt an den — Ich bin doch kein Falschmünzer. Er hat so wenig Preissteigerungen!) akkurat gesprochen, daß ich ihm das erst in diesem Deshalb sind die Ausgabensteigerungen, die sich Augenblick klarmachen durfte. beim Bund für Sie angeblich so schrecklich ausneh- (Beifall bei der SPD.) men und die Sie so laut beklagen, bei den Ländern und insbesondere bei einigen Ländern und sicher Sie haben aber insofern recht: es sind keine Steuer auch beim Freistaat Bayern, Herr Kollege, so sehr senkungen, sondern das Gegenteil ist eingetroffen. viel höher als beim Bund. Es wäre gut, Herr Kollege (Abg. Strauß: Wer hat sie denn, die Steuer Barzel, wenn man die Bundesbankberichte -in diesem senkungen versprochen?) Punkte sorgfältig lesen würde. Darin wird nämlich nicht vom Bundeshaushalt gesprochen, sondern von — Ich muß Ihnen bekennen: ich nicht, aber die Koa- dem Gesamthaushalt des Staates: Bund, Länder und lition, für die ich heute hier stehen muß, hat es so Gemeinden gemeinsam. Das haben die Herren bei versprochen. Das muß ich Ihnen bekennen. der Bundesbank auch gemeint, wie sie mir gar nicht (Zuruf des Abg. Strauß.) ausdrücklich zu versichern brauchten. Nur, Herr Die Koalition hat hier etwas für möglich gehalten, Barzel liest es so, wie es ihm in den Stiefel paßt. Ich was sich hinterher als nicht möglich herausgestellt muß ins Gedächtnis rufen, daß der Bund in den er- hat. sten sieben Monaten dieses Jahres bei den Steuer- (Abg. Rösing: Wie so vieles! — Abg. einnahmen eine Zuwachsrate von 8 % gehabt hat, Strauß: Wahlgeschwätz war es!) die Länder aber eine solche von beinahe 16 % und die Gemeinden eine solche von über 17 %. Wenn Es war eine zu optimistische Einschätzung der Mög- Herr Strauß sagt, wir sollten die Steuergelder still- lichkeiten. Ich fände es nur ganz falsch, wenn wir legen, die wir einnehmen: Warum sagt er es nicht den Versuch machen wollten, das zu verheimlichen. dem Freistaat Bayern und dem Kollegen Goppel und Wir geben es zu; wir sind ehrliche Menschen. den Gemeinden? Die können das nämlich auch nicht. (Beifall bei den Regierungsparteien. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Lachen bei der CDU/CSU.) Die können das alle auch nicht, denn der Staat muß Aber damit wir nun einmal die Zahlen richtig, auf all seinen Stufen die Aufgaben erfüllen, von d. h. danach verstehen, was sie wirklich für die deren Erfüllung die Bürger abhängen und die not- arbeitenden Menschen in unserem Lande bedeuten, wendigerweise erfüllt werden müssen. habe ich mir heute morgen vom Lohnbüro eines gro- ßen deutschen Automobilwerkes die Zahlen für Nun will ich es einmal mit den Prophezeiungen damals und für heute geben lassen. Sie sind nicht im der CDU/CSU genug sein lassen. Eine fällt mir noch Ministerium ausgerechnet, sondern kommen aus der ein. Vor elf Monaten hat der Kollege Vorsitzende Lohnbuchhaltung einer der größten deutschen Auto- der CSU hier im Bundestag gesagt: Die Politik der mobilfirmen. Bundesregierung führt zur „Stagnation in Richtung (Zuruf des Abg. Strauß.) Rezession" und „Rezession mit Arbeitslosigkeit"; — Sie können sie ja prüfen, Herr Strauß. Diese das war seine Vorhersage. Es war wieder eine von kommen vom Volkswagen-Werk. Prüfen Sie es bei diesen vielen, die unter die Rubrik fallen, die der Kollege Mischnick aus Ihrem Buch zitiert hat, Herr BMW. (Heiterkeit bei der SPD.) Kollege Strauß. Es ist keine Arbeitslosigkeit zu erkennen. Natürlich wird hier und da einmal ein An ihnen kann man ablesen, wie sich nun der tat- Betrieb geschlossen, weil er nicht richtig wirtschaf- sächliche Wohlstand der Arbeitnehmer im Laufe tet, weil er veraltet ist. Im Zusammenhang damit der Jahre entwickelt hat. Ich beginne mit dem letz- müssen dann vielleicht auch die Arbeitskräfte um- ten Vierteljahr 1966 — das war das Jahr, in dem Sie Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11805

Bundesminister Schmidt zuletzt ungeteilte Regierungsverantwortung getra- erzählt haben, sondern mit sogar Negativraten als gen hatten — und vergleiche jenes Jahr mit der Folge Ihrer Rezession. Gegenwart. 1966 — im letzten Vierteljahr — ver- (Beifall bei den Regierungsparteien. — diente ein verheirateter Industriefacharbeiter mit Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Was sagen zwei Kindern im Volkswagen-Werk nach Abzug der denn die Bausparer? — Weitere Zurufe von Steuern, nach Abzug seiner Sozialversicherungs-, der CDU/CSU.) Krankenversicherungs- und Arbeitslosenversiche- — Aber sicher! rungsbeiträge 4,63 DM netto in der Stunde. Um da- mit einen VW 1200 kaufen zu können, hätte er den Nun kommen wir zum Haushalt. Das war ja auch Nettolohn von 1001 Arbeitsstunden zusammenlegen ein Thema in der Rede des CSU-Vorsitzenden. Der müssen, d. h. er hätte sechs Monate arbeiten müs- CSU-Vorsitzende hat gesagt, die Nettokreditauf- sen. Heute verdient der gleiche Facharbeiter im nahme von Bund, Ländern und Gemeinden ein- VW-Werk 7,77 DM netto pro Stunde. Um bei die- schließlich der Nebenfinanzierungen betrage 22 bis sem Nettolohn den gleichen VW kaufen zu können, 24 Milliarden DM, und wenn man die erwarteten der ja inzwischen auch teurer geworden ist — das Steuermehreingänge dagegen aufrechne, blieben will ich ja durchaus in die Rechnung einbeziehen —, immer noch 12 Milliarden DM nach. Das haben Sie muß er heute 694 Stunden arbeiten, d. h. für das- dann lauthals beklagt. selbe Gut, das er erwerben will, braucht er nicht, Es sind 11 1 /2 Milliarden DM von 1968 bis 1972. wie damals, sechs Monate, sondern nur vier Monate Wir stimmen in der Zahl ungefähr überein. Nur, zu arbeiten. Das nennt man in der Sprache der Herr Kollege Strauß, müssen Sie eben in Ihre alten Volkswirte den realen Lohnanstieg. Bücher gucken, und ich meine nicht nur das Buch, was (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu Herr Mischnick zitiert hat. Die von Ihnen als Finanz- rufe von der CDU/CSU.) minister hinterlassene letzte mittelfristige Finanz- planung ist in den Akten des Finanzministeriums Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Bundesmini- ja noch vorhanden. Ich habe mir die Freiheit genom- ster Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des men, hineinzugucken. Damals hatten Sie in Ihrem Herrn Abgeordneten Leicht? letzten Finanzplan für die Jahre 1968 bis 1972 (Abg. Strauß: Weniger Einnahmen, weniger - Schmidt, Bundesminister für Wirtschaft und Ausgaben!) Finanzen: Nein, Danke. insgesamt eine Neuverschuldung des Bundes in Höhe von 22 Milliarden DM eingeplant. Und jetzt beklagen Sie schon 11 1 /2 Milliarden DM? Sie soll- Der Herr Minister Vizepräsident Dr. Jaeger: ten uns loben, daß wir auf der Hälfte dessen geblie- gestattet keine Zwischenfrage. ben sind, was Sie an Schulden aufnehmen wollten. (Abg. Leicht: Eine falsche Rechnung! — (Beifall bei den Regierungsparteien.) Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/ CSU.) Nun will ich etwas sagen, was das Gerede vom Meine Damen und Herren, ich darf Sie um Ruhe bit- Finanzchaos endgültig beenden wird. In eben die- ten. Es ist das Recht eines Redners, Zwischenfragen sem Augenblick hat der Bund bei der Bundesnoten- abzulehnen. bank Kassenbestände — zinslos, wie es sich gehört für eine stabilitätsbewußte Bundesregierung —, ohne daß wir irgendwo einen Kassenkredit in An- Schmidt, Bundesminister für Wirtschaft und spruch genommen hätten, in Höhe von 5 1 /2 Milliar- Finanzen: Um deutlich zu machen, was das ins- den DM stillgelegt. Dazu kommen noch einmal gesamt für unsere Gesellschaft bedeutet: 1966 besaß 2 1 /2 Milliarden DM Konjunkturausgleichsrücklage. von den Arbeitnehmerfamilien mit vier Personen 8 Milliarden DM stillgelegten Geldes durch den ein gutes Drittel ein eigenes Auto, nämlich 37 %, Bund! Und das sei Finanzchaos!? einen VW oder einen Kadett oder was es immer (Beifall bei den Regierungsparteien. — gewesen ist. Heute — beinahe sechs Jahre später — Zuruf von der CDU/CSU: Ohne Haushalt!) sind es 64 % aller vierköpfigen Arbeitnehmerhaus- halte, zwei Drittel, die ein eigenes Auto besitzen. Das ist reale Steigerung des Nettoeinkommens der Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Bundesmini- Arbeitnehmer. ster, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- (Beifall bei den Regierungsparteien. — neten Leicht? Abg. Dr. Barzel: Ich fange doch an, den Karl Schiller zu vermissen. — Weitere Schmidt, Bundesminister für Wirtschaft und Zurufe von der CDU/CSU.) Finanzen: Eine Sekunde, von Herrn Leicht gerne. — 1969 war es nicht so gut wie jetzt. Das hat sich Dabei können und wollen wir, wie Sie alle wis- seither gewaltig gesteigert. sen, die 2 1 /2 Milliarden DM Konjunkturausgleichs- (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU.) rücklage nicht anfassen, während die 5 1 /2 Milliar- den DM Kassenmittel dem Bunde zur Disposition — Nein, es war 1969 viel niedriger. Da lag ja noch stehen. Ihr Rezessionsjahr 1966/67 drin mit nicht nur gar keinen realen Zuwachsraten, Herr Barzel, wie Sie Herr Kollege Leicht! 11806 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Leicht (CDU/CSU) : Herr Schmidt, warum hat das voll stabil gezeigt. Sie steht nicht unter irgendeinem Finanzministerium seine Augustrechnung bei einer Druck. Das sieht man einerseits daran, daß wir seit Steigerungsrate in den ersten acht Monaten von Mitte Juli keinerlei fremde Devisenzuflüsse mehr 10,8 % mit Kassendefiziten von Milliardenbeträgen verkraften mußten, andererseits daran, daß sich das — ich habe die Zahlen nicht hier — vorgelegt, und Austauschverhältnis von D-Mark und Dollar ziem- wissen Sie nicht, daß man bei der Bundesbank ein- lich stetig bei 3,19 DM eingependelt hat. Daran mal 5 Milliarden DM guthaben kann und im näch- wird sich auch nichts ändern. Sowohl die Devisen- sten Monat unter Umständen wieder bis zu 7 Mil- märkte als auch die Leistungsbilanz der Bundes- liarden DM in die Kreide gehen muß? republik Deutschland signalisieren uns, das unsere (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) D-Mark-Währung richtig bewertet ist und daß Herr Narjes unrecht hat, der die Exporterlöse, die Erträge unserer Exportwirtschaft erneut durch irgendwelche Schmidt, Bundesminister für Wirtschaft und Experimente gefährden möchte, die Sie ja doch Finanzen: Nein, das letztere, Herr Leicht, ist nun eigentlich nicht machen wollten. wirklich irrtümlich. Wir haben seit dem Februar (Beifall bei der SPD.) dieses Jahres keinen einzigen Kassenkredit in Anspruch nehmen müssen, wir haben also über- Ich will in diesem Zusammenhang ein Wort sagen, haupt nicht in die Kreide gehen müssen. Ich will das sich nicht an Ihre Adresse richtet. Es gibt in ganz offen sagen, was uns dabei geholfen hat: einer- unserer Wirtschaft, unserer Gesellschaft, ein paar seits die vom Kabinett beschlossenen und inzwischen Unternehmerpersönlichkeiten, ein paar Manager, vom Haushaltsausschuß mit Mehrheit sanktionier- und zwar sowohl in der Industrie als auch in der ten Einsparungsbeschlüsse. Wir hatten das mit den Bankwelt, die, im Grunde auf dem Boden der oppo- Kürzungen um 2 1/2 Milliarden DM ja ernst ge- sitionellen Auffassung stehend, ihre Autorität als meint. Dann haben uns die Steuermehreingänge Fachleute des Wirtschaftslebens benutzend, sich laut- geholfen. Drittens hat uns Art. 111 des Grundgeset- stark öffentlich bei der Bundesregierung oder sogar zes geholfen. Wir dürfen nämlich manches Geld nicht über die Bundesregierung beklagen; sie beklagen ausgeben, das wir sonst gern ausgeben würden. sich z. B. gemeinsam mit der Bundesbank über die Da wir uns an das Grundgesetz halten, ist kein Geldschwemme, in der wir alle stünden. Ich muß Finanzchaos entstanden, wie der Vorsitzende Ihrer dazu sagen: Es ist nicht so, daß die Kreditinstitute bayerischen Partei glauben machen will. an Überliquidität litten. Im Gegenteil, hier haben (Beifall bei den Regierungsparteien.) die Maßnahmen der Bundesbank schon gezogen. Es sind einige große Unternehmen, die sich direkt im Jetzt komme ich zu den Zahlen des Oppositions- Ausland verschuldet haben, auf den Eurogeld- führers. Sie sind es wert, zerpflückt zu werden. Man märkten. muß ja neue Ausdrücke finden, wenn Herr Schrö- (Zustimmung bei der SPD.) der von „schlürfen" spricht. Ohne daß ich einen Namen nennen will — ich bin (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.) aber sicher, daß der Betreffende dies heute abend im Fernsehen mit verfolgt —, will ich einem Herr Barzel hat in zwei, drei Zahlen so getan, als dieser Herren folgendes sagen. Wer selber sein ob das Wachstum der Volkswirtschaft in den 20 Jah- bedeutendes Kreditinstitut dazu benutzt, um der ren der Regierungszugehörigkeit der CDU/CSU Zinsprofite willen in unwahrscheinlichem Maße aus- immer höher als gegenwärtig gewesen sei. Dabei ländisches heißes Geld in die Bundesrepublik einzu- hat er die Zahlen der Gründerzeit der Bundesrepu- schleusen, und dadurch zur Kreditschöpfung inner- blik — damals war das natürlich so — mit einbe- halb der Bundesrepublik beiträgt, der sollte sich, zogen, und er hat auch die Zahlen des Korea-Booms wenn auch sein Verhalten nach den Gesetzen er- mit einbezogen. Er hat all das über einen Kamm ge- laubt ist, doch nach den Gesetzen des Anstandes schoren und dann auch Schillers Verdienste glatt nicht hinstellen und für dieses Manöver, das viele für die CDU/CSU mit vereinnahmt. seinesgleichen auch betrieben haben, die Bundes- (Heiterkeit bei der SPD.) regierung anklagen. Vielleicht ist das die Absicht gewesen, vielleicht (Beifall bei den Regierungsparteien.) ist es noch die Absicht — ich weiß es nicht. Tatsache, Herr Barzel, ist doch aber folgendes: In den Jahren Ich komme zurück auf das Dementi, das der Oppo- 1960 bis 1966 ist das Sozialprodukt im Durchschnitt sitionsführer heute mittag, als der Bundeskanzler um 4 % gewachsen. Dann kam das Jahr 1967 mit der sprach, abgab. Es hat hier in Bonn eine Veranstal- Rezession. In den Jahren 1968 bis 1970 betrug die tung gegeben unter dem Vorsitz eines stellvertre- Wachstumsrate im Durchschnitt 6 %. In den Jahren tenden Vorsitzenden der Opposition, und dort ist 1971 und 1972 ist ein Abfall zu verzeichnen; darüber in der Tat geredet worden von „Reprivatisierung gibt es gar keinen Zweifel. In diesem Jahr werden des Vollbeschäftigungsrisikos". Herr Kollege Barzel es nur 3 % sein, im nächsten Jahr aber wieder 5 % hat den Bundeskanzler in einer Zwischenfrage ge- oder möglicherweise mehr. Ich rede von dem realen fragt, ob er bitte zur Kenntnis nehmen wolle, daß Zuwachs. Sie haben, wie ich annehme, selber nicht dieses sofort an Ort und Stelle von anderen zurück- den Eindruck, daß das stimmt, was Sie ausführten. gewiesen worden sei. Der Bundeskanzler, fair, wie er immer ist, hat das zur Kenntnis genommen. Ich Lassen Sie mich auch zur Währung etwas sagen. habe mir erlaubt, das prüfen zu lassen, und habe Die D-Mark hat sich in den letzten Monaten als einen Ohren- und Augenzeugen befragt, Herr Kol- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11807

Bundesminister Schmidt lege Barzel. Daraus ergibt sich ein ganz anderes Ich denke persönlich, diese Beiträge sollten nicht Bild. mehr steigen. Das heißt aber, daß unsere gestrigen (Hört! Hört! bei der SPD.) Rentenbeschlüsse und insbesondere die flexible Altersgrenze, die ja einer Initiative Walter Arendts Man muß eine solche Formel wie „Reprivatisierung und der Bundesregierung entsprang — das wollen des Beschäftigungsrisikos" langsam auf der Zunge wir nicht vergessen, Herr Katzer — , zergehen lassen, um zu begreifen, welch politische Brisanz darin steckt. „Brisanz" ist ein sehr freund- (Beifall bei der SPD) liches Wort ohne Wertung; man könnte ein sehr in Zukunft nur dann finanziert sein werden, wenn böses Wort dazu sagen. In Wirklichkeit geht es Sozialdemokraten bis 1985 für kontinuierliche Voll- darum, daß einige Stabilität herstellen wollen auf beschäftigung in diesem Lande sorgen. dem Rücken der Arbeitnehmer und ihrer Beschäfti- gung. (Lebhafter Beifall bei der SPD und Abgeord (Lebhafter Beifall bei der SPD.) neten der FDP.) Dann sind da auch noch Worte gefallen wie Nur dann sind sie finanziert. Aber sie werden finan- „Disziplinierung der Tarifparteien". Das ist ein ziert sein, denn wir werden dafür sorgen. Ausdruck, den habe ich selbst auf der Hardthöhe (Erneuter Beifall bei der SPD. — Zuruf von nie gehört, Herr Kollege. der CDU/CSU: Die Hardthöhe war zu hoch!) (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.) Wissen Sie, mit all Ihrer Schwarzmalerei über Ich nehme an, die Tarifparteien können sich vorstel- Finanzchaos, Staatsbankrott, Arbeitslosigkeit und len, was damit gemeint ist. Ich bin ganz froh, daß Rezession kommen Sie mir vor wie jene Ihrer die wichtigsten Sprecher auch der Arbeitgeberseite Freunde — ich habe großen Respekt vor tüchtigen — genauso wie die Gewerkschaftsseite und genau- Unternehmern, aber nicht immer Respekt vor deren so wie wir — keinen Zweifel daran lassen, daß wir politischem Instinkt —, die im vorigen November die Tarifautonomie nicht antasten dürfen. Wir wol- alle deutsche Tageszeitungen mit teuren Anzeigen len keinen Lohnstopp, und wir wollen auch keinen überschwemmten. Herbert Wehner hat sie noch Preisstopp; wir sind nämlich Marktwirtschaftler. in der Brusttasche, aber ich nehme es ihm jetzt vorweg. In diesen Anzeigen stand: „Heute stehen (Beifall bei den Regierungsparteien.) - wir schlechter da als in der Flaute des Jahres 1966. Wir haben uns von Anfang an verstanden als Wir stehen unmittelbar vor einer Rezession". eine Regierung, die vor allem anderen eine Regie (Abg. Wehner: Hört! Hört!) rung ist für die Arbeitnehmer. Dazu gehören dann auch die Rentner, die Mütter, die Witwen, und dazu Einer hat noch mündlich erklärt, der Industrie ginge gehören dann auch alle die Menschen, die es nötig es schlechter als jemals seit der Zeit vor Hitler. haben, daß für sie mehr getan wird als bisher. In 40 Jahre lang sei es der Industrie nicht so schlecht dieser Solidarität mit den Kleinen, mit den Arbeit- gegangen. nehmern, lassen wir uns nicht übertreffen, lassen wir Sehen Sie, das ist genauso ein Unfug wie das, was uns auch in Sachen Rentenreform nicht übertreffen wir heute gehört haben. Jedermann kann beurteilen, von jemandem, der sonst, die übrigen langen Jahre daß das alles nicht eingetreten ist: Wir haben keine einer Legislaturperiode, immer nur mit 22 anderen Rezession — wir haben reale Zuwächse von über Kollegen mit uns stimmen darf, wenn doch die 3 %—, und wir haben Vollbeschäftigung. Masse der CDU/CSU-Kollegen gegen die Mitbestim- mung zu Felde zieht. (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Und wir haben Inflation!) (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört! — Welch ein Niveau!) — Jetzt will ich das mit der Inflation einmal auf- nehmen. Ich habe dafür einen Kronzeugen. Ich habe Eine Bemerkung zur Rentenreform: Man muß im hier ein Fernschreiben aus Paris. Präsident Pompi- Zusammenhang mit den Beschlüssen der letzten dou hat gestern eine große Pressekonferenz gege- beiden Tage jedermann in Deutschland deutlich ben, und ich habe den Bericht, was er zu diesen sagen, wichtigen Fragen der Stabilität und der Inflation (Zuruf von der CDU/CSU: Polemisieren gesagt hat. Präsident Pompidou sagte u. a.: können Sie!) Als ich im August 1971 von der Abhaltung des daß wir letzten Endes die Versicherten, die die Bei- Gipfeltreffens sprach, floatete damals die D- träge aufbringen, nicht überfordern dürfen. Sie zah- Mark und zog den Gulden hinter sich her, und len gegenwenrtig noch, seit einer Reihe von Jahren, ich verleumde wohl unsere Partner nicht, wenn eine Hälfte von 17 % des Bruttolohnes; auf Grund ich sage, daß sie alle zumindest dieses Floaten alter Gesetze ab 1. Januar eine Hälfte von 18 % innerhalb Europas resignierend hinnahmen, um ihres Bruttolohnes. Ich denke, daß wir damit an dem nicht von der stärksten Währung Punkt angelangt sind, wo wir uns für die weitere Zukunft fragen müssen: Sollen und dürfen die Bei- — d. h. der D-Mark — träge später etwa noch mehr steigen? Die Frage mitgerissen zu werden. stellen heißt beinahe schon, sie beantworten. Schon wegen der Ausführungen über die „stärkste (Abg. Härzschel: Das sollten Sie einmal auf Währung der Welt" ist dieses Zitat wert, hier vor- dem Gewerkschaftskongreß erzählen!) gelesen zu werden. 11808 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Bundesminister Schmidt Pompidou sprach in seiner Pressekonferenz von nicht herumdrücken. Schon der Bundeskanzler hat der Zwischenzeit, von den Verhandlungen, von der das nicht verhehlen, verschweigen oder beschönigen Finanzministerkonferenz in Rom, und er sagte dann wollen. Es ist auf der einen Seite, wie Sie sicher — Originaltext von Pompidou —: auch wissen, ein Weltproblem; auf der anderen Seite Dann haben wir zugestanden, daß es notwendig ist jedes beteiligte Land sicherlich aufgerufen, auf ist, die Wirtschaftspolitik aufeinander abzu- seine Weise zur Lösung dieses Weltproblems beizu- stimmen, und ich hoffe, daß wir in dieser Rich- tragen. Wir tun das auch innerhalb der EWG. Wir tung ziemlich rasche Fortschritte machen kön- tun es innerhalb des wirtschaftlichen Bündnisses, nen. Ich erwähne nur am Rande die vielseitige dem wir angehören. Dabei arbeiten Bundesbank Ausweitung der Hilfsmaßnahmen, den Ausschuß und Bundesregierung in derselben Richtung, und der Zentralbankgouverneure und die Schaffung wir haben das Glück, mit der französischen Regie- einer europäischen Verrechnungseinheit. rung, dein französischen Staatschef und seinem Fi- nanzminister übereinzustimmen, was die Initiativen Danach sagte Pompidou wörtlich: angeht, die wir auf den Weg gebracht haben. Die be- Hätten Sie dies alles im August 1971 geglaubt? ginnen nun allerdings mit dem Versuch, schrittweise die Eurogeldmärkte, ich will nicht sagen: auszutrock- Er fuhr fort: nen — das ginge zu weit —, aber zu verringern, die Frankreich kann nicht eine Oase der Stabilität europäischen Notenbanken wenigstens dazu zu brin- sein in einem Meer der Inflation. gen, daß sie nicht mehr ihre eigenen Währungs- Was für Frankreich gilt, gilt auch für Ihr Vaterland, reserven an der Hintertür am Eurogeldmarkt an- Herr Kollege, gilt auch für uns: Wir können nicht legen und sich dann beschweren, wenn ihnen an der eine Insel in einer Welt sein, die ähnlich wie zur Vordertür die Dollars hereinströmen. Wir streben auch dahin, in der EWG gemeinsam die Geld- und Zeit des Korea-Booms 1950 durch einen anhaltenden Kreditmengenzuwächse zu verlangsamen. Da sind schrecklichen Krieg, der viel Geld verbraucht, das nur gedruckt wird, ohne daß Gegenwerte vorhanden wir dann leider schon bei einem Punkte, wo nicht alle Länder und alle Regierungen miteinander über- sind -- ich rede von Vietnam —, in eine Inflation einstimmen und wo hart gerungen wird. Unser Be- gestürzt worden ist, die leider Gottes von den Ver- kenntnis zu Europa ist nicht gemeint als das Be- einigten Staaten ausgeht und noch nicht beendet ist. kenntnis zu einer Inflationsgemeinschaft, sondern (Beifall bei den Regierungsparteien. — -Zu ist gemeint als das Bekenntnis zu einer Gemein- ruf des Abg. Dr. Stark [Nürtingen].) schaft, die gemeinsam ihre Probleme lösen muß. Was in diesem Zusammenhang den Kollegen Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zwischenfrage Strauß angeht, so hat er sich inzwischen sicherlich 1 des Herrn Abgeordneten Dr. Kliesing. das Pompidou-Zitat, von dem Dr. Kliesing meinte, es fehlte ein Wort, beschafft und wird feststellen, daß Schmidt, Bundesminister für Wirtschaft und er wieder einmal nicht in Übereinstimmung mit der Finanzen: Bitte sehr! Führungsperson des gaullistischen Lagers in Frank- reich ist, was er im Grunde doch so gern sein möchte. Das war ja schon früher immer so, daß Sie ihr eige- Dr. Kliesing (Honnef) (CDU/CSU) : Herr Kollege Schmidt, warum haben Sie Pompidou etwas unkor- nes Bild von der gaullistischen Politik hatten. Das rekt zitiert? Er hat nämlich laut Veröffentlichung des verzerrte sich auf dem Weg von Paris nach Mün- Textes durch das Presse- und Informationsamt der chen. Das lag sicherlich an SECAM, vielleicht auch an Bundesregierung nicht von der „stärksten Wäh- PAL. Ich weiß es nicht. rung", sondern der „seinerzeit stärksten Währung" (Heiterkeit.) gesprochen. Das Vertrauen in unsere Währung ist groß. Das (Abg. van Delden: Die stammte noch von Vertrauen im Ausland ist groß. Viele, viele Men- Herrn Strauß! — Weitere Zurufe von der schen auf der ganzen Welt und nicht nur in Europa CDU/CSU.) versuchen, ihre Vermögen in D-Mark anzulegen. Auch im Inland ist das Vertrauen groß. Niemals im Schmidt, Bundesminister für Wirtschaft und Laufe von Jahrzehnten ist die Sparquote der deut- Finanzen: Herr Kollege, mir lag nicht am Herzen, schen Arbeitnehmer so groß gewesen wie in diesen etwas Falsches zu sagen. Aber wir schöpfen offenbar Tagen, Wochen und Monaten. aus verschiedenen Quellen. Ich würde es akzeptie- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ren — ich werde es im Bulletin nachlesen —, wenn es da so stünde. Damit werden alle die Kassandra-Rufe Lügen gestraft, die davon redeten, daß sich die Spargut- (Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) haben entwerteten. Da gibt es dann ja auch noch die Nur frage ich mich, Herr Kollege Kliesing, ob Ihre staatlichen Sparzulagen. Herr Strauß, Sie haben Frage bedeuten sollte, daß Sie meinten, heute sei sicherlich Verbindung mit einer Sparkasse und kön- eine andere Währung stärker. Welche wäre es denn nen prüfen, ob das stimmt, was ich über die Zu- dann wohl? nahme der Sparquote gesagt habe. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Sie haben davon gesprochen, daß Sie prüfen wol- Ich will mich um das Thema Preise und das Thema len, ob eine Verfassungsklage gegen den Bund ein- der von Ihnen so genannten Inflation im Grunde gelegt werden sollte. Ich muß daran erinnern, daß Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11809 Bundesminister Schmidt ich Ihnen diese Prüfung bereits im Juli öffentlich und im übrigen, Kollege Stücklen, das alles nicht empfohlen habe. Sie haben lange gebraucht, bis Sie übertreiben, damit man genug Zeit und Muße hat, nunmehr dazu kamen, selber prüfen zu wollen. sich der weiß Gott angenehmen Seiten des Lebens, Warum klagen Sie nun eigentlich nicht? Sie wissen die es ja auch noch gibt, zu erfreuen. Wenn das je- ganz genau, daß die Klage nicht gerechtfertigt ist. dermann täte, und wenn ich noch hinzufügen würde: Sie haben den Präsidenten des Rechnungshofes ge- außerdem noch SPD wählen und die Gewerkschaft hört, der gesagt hat, es sei nicht nur Sache der stützen, dann wäre die Gesellschaft besser dran, als Bundesregierung, einen Haushaltsentwurf zustande sie bisher war. zu bringen, sondern auch Sache des Parlamentes. (Lebhafter anhaltender Beifall bei der SPD.) Und sind Sie im Ernst der Meinung, Herr Strauß, daß wir den Beamten keine Gehälter mehr zahlen sollten unid den Arbeitern keine Löhne mehr, bloß Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der weil Ihr euch weigert, ein solides Haushaltsgesetz Abgeordnete Katzer. zu beschließen, weil euch — aus ganz anderen Grün- (Unruhe bei der SPD. — Demonstrativer den — ein paar Leute zugelaufen sind, die auf die Beifall bei der CDU/CSU.) sem Feld jedenfalls bisher Gewissensgründe noch nicht geltend gemacht haben? (Beifall bei den Regierungsparteien.) Katzer (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dieser Rede Meine Damen und Herren, nachdem ich hier 2 1 /2 kann man eigentlich, egal auf welcher Seite des Jahre an der Außen- und Sicherheitspolitik und da- Hauses man sitzt, nur bedauern, daß Herr Schiller mit auch an der Politik, die auf Ausgleich und Ver- nicht mehr Wirtschaftsminister ist. Seine Rede hätte söhnung mit unseren östlichen Nachbarn in Europa sich anders angehört als das, was wir jetzt über uns gerichtet ist, mitgewirkt habe, hätte mir sehr am haben ergehen lassen müssen. Herzen gelegen, hier in der letzten Stunde des Par- (Beifall bei der CDU/CSU.) laments auch darüber noch ein Wort zu sagen. Ich will mir das der Zeit wegen versagen, auch weil der Wenn das alles so einfach ist, wie Herr Schmidt es Bundeskanzler darüber in sehr eindrucksvoller hier verbal dargestellt hat, dann stellt sich doch die Weise gesprochen hat. Ich will nur noch wenige- per- einzige schlichte Frage: warum denn eigentlich ist sönliche Worte anfügen. Herr Schiller zurückgetreten, wenn diese Welt so Ich bin neulich einmal gefragt worden — wenn heil ist, wie Herr Schmidt sie hier zu schildern ver- man ein neues Amt übernimmt, kommen immer suchte? Journalisten, die einen noch nicht kennen, und (Beifall bei der CDU/CSU.) fragen einen, was man denn so vorhat und wie man Ich würde hinzufügen, Herr Kollege Schmidt: es sich dieses und jenes denkt , ob ich ein persön- gehört doch schon ein bemerkenswerter Mut dazu, liches Langzeitprogramm hätte. Ich habe mir das einen Augenblick überlegt und habe dann geant- (Zuruf von der CDU/CSU: Zynismus!) wortet: Es sollen die Lebensbedingungen für alle als Wirtschafts- und Finanzminister hier so aufzu- Menschen wie bisher stetig verbessert werden. Dazu treten und eine solche Wahlrede zu halten, anstatt brauchen wir eine steigende Produktivität unserer zu begründen, warum es keinen Haushalt 1972. gibt, Wirtschaft, brauchen wir Investitionen in der Wirt- warum es keinen Haushalt 1973 gibt, warum es schaft. Damit die finanziert werden, brauchen wir keine mittelfristige Finanzplanung gibt. Erträge, und damit das alles funktioniert, brauchen (Beifall bei der CDU/CSU.) wir Unternehmer. Und damit die Arbeitnehmer dabei ihren Teil bekommen, brauchen wir Gewerkschaften Wenn Sie das schon aus den Gründen, die wir alle und Gesetzgeber. Aber damit das alles funktioniert, kennen, nicht können, hätte doch zumindest dieses müssen wir auch alle sparen. Und wer sparen soll, Hohe Haus aus Ihrem Munde eine Antwort auf das muß vorher gut verdient haben. Anders geht es zu erwarten, was Herr Professor Schiller in seinem nicht. Ich habe dann ein persönliches Langzeitmotto veröffentlichten Brief — dem Kündigungsbrief an folgendermaßen formuliert — das möchte ich hier den Herrn Bundeskanzler — dargestellt hat. Ich will gern wiederholen —, es lautet so: Etwas lernen, das wegen der vorgerückten Stunde nur mit einem etwas leisten — ich will das Wort Leistung gegen- ganz kurzen Zitat sagen. Dann fällt alles zusammen über manchen Zweifeln in der heutigen Gesellschaft wie ein Kartenhaus, was Sie hier vor einer Stunde dick unterstreichen —, dargestellt haben. (Beifall bei den Regierungsparteien) (Beifall bei der CDU/CSU.) gut verdienen, anständig und ehrlich seine Steuern zahlen, Herr Professor Schiller — ich zitiere wörtlich, Herr (erneuter Beifall bei den Regierungspar Präsident — in seinem — — teien) (Abg. Wehner: Ja, ja!) ordentlich was auf die hohe Kante legen, — Sie können ja korrigieren, Herr Kollege. (Abg. Stücklen: Inflation vermeiden! — (Abg. Wehner: Lassen Sie sich bei Ihrem Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Aber Schlürfen nicht stören, um mit Ihrem Herrn nicht bei dem Zinssatz!) Schröder zu reden!) 11810 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Katzer — Mir wäre es lieber, wenn Sie eine Antwort dar- Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter auf geben würden. Das wäre sehr viel besser. Das Katzer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- hätte Herr Schmidt hier tun sollen. ordneten Dr. Nölling? (Beifall bei der CDU/CSU.) Dr. Nölling (SPD) : Herr Kollege Katzer, können Herr Schiller schreibt in seinem Brief an den Sie dem Hohen Hause erklären, nach welcher Melo- Herrn Bundeskanzler: die, was die paritätische Mitbestimmung betrifft, Es ist doch unbestritten, daß die Regierung ab Sie im Rahmen Ihrer Partei tanzen und pfeifen wer- 1973 schon durch zwangsläufige Mehrbelastun- den? gen zu Eingriffen in die Ausgaben oder zu Ein- (Beifall bei der SPD.) nahmeverbesserungen in die Milliardenhöhe gezwungen sein wird. Katzer (CDU/CSU) : Herr Kollege Nölling, wir haben uns etwas mehr Mühe mit der Frage ge- Er fährt an späterer Stelle fort: macht. Wir haben in Berlin einen ganzen Tag auf Die Regierung hat die Pflicht, über den Teller- unserem Parteitag diskutiert, wir haben in Düssel- rand des Wahltermins hinauszublicken und dem dorf einen ganzen Tag diskutiert und dort eine Volk rechtzeitig zu sagen, was zu leisten ist demokratische Entscheidung getroffen, die für diese und was zu fordern ist. Diese von mir mehr- Christlich-Demokratische Union gilt und mehr ist fach empfohlene Strategie ist bisher im Kabi- als die Nullinie, die Sie hier jetzt gemeinsam be- nett nicht einmal andiskutiert, geschweige denn zogen haben. Das ist die Position. akzeptiert. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Hört! Hört! in der Mitte.) Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, eine Der Widerwille einiger Kollegen gegen der- zweite Bemerkung machen. In dem, was Herr Kol- artige Überlegungen hindert die gleichen Kolle- lege Wehner sagte, liegt wiederum ein Widerspruch gen nicht daran, mit Anträgen, die ab 1973 ein- zu dem, was Herr Schmidt vorhin ausgeführt hat. nahmemindernd oder ausgabefördernd wirksam Herr Schmidt versuchte ja vorhin, Widersprüche werden, heute aufzuwarten. der Union darzustellen. Herr Wehner hat heute Ich glaube, damit waren Sie, Herr Kollege Schmidt, vormittag, so hatte ich den Eindruck, noch einmal gemeint und niemand anderes. auf den Grundbetrag abgehoben und gesagt, das wäre an sich doch die Melodie gewesen, nach der (Beifall bei der CDU/CSU.) es die SPD gern gemacht hätte. Wir hatten aus Dazu hätten Sie hier und heute die lange Zeit be- der Einlassung des Herrn Arbeitsministers eine nutzen können, die Sie hier gebraucht haben, um ganz andere Vorstellung. Und Herr Schmidt sagte sich in allgemeinen Erklärungen zu ergehen, die vorhin: Man muß sehen, wer das alles bezahlt. Das dem Niveau eines Ministers übrigens nicht ange- sind doch zwei ganz verschiedene Dinge. standen haben. (Beifall bei der CDU/CSU.) Jetzt sage ich Ihnen etwas, damit dieser Wahl- kampf in einigermaßen vernünftigen Formen läuft. Auf die finanzpolitischen Probleme geht Herr Ich werde doch, wenn ich zur Rentenpolitik spreche, Kollege Strauß nachher noch ein. Aber lassen Sie niemandem und niemals bestreiten und leugnen, mich nur zu den gesellschaftspolitischen Fragen, die daß Herr Kollege Arendt hinsichtlich der flexiblen Sie, zum Teil auch Herr Kollege Wehner, berührt Altersgrenze Verdienste hat. Aber ich nehme eben- haben, wegen der vorgerückten Stunde ganz wenige so für uns in Anspruch, daß die Erhöhung des Sätze sagen. Niveaus von uns, den Christlichen Demokraten, seit anderthalb Jahren permanent gefordert, aber von Herr Kollege Schmidt, auf dem DGB-Kongreß in Ihnen abgelehnt worden ist. Das ist die volle Wahr- Berlin habe ich erlebt, wie Sie sich im Glanz Ihrer heit in dieser Frage. Position als stellvertretender Vorsitzender der SPD hinstellen und verkünden: Die Sozialdemokratische (Beifall bei der CDU/CSU.) Partei Deutschlands ist die einzige Partei, die die Herr Kollege Wehner, Sie haben am 24. Juni 1971 qualifizierte Mitbestimmung verwirklichen wird. die Anhebung der Renten abgelehnt. Am 16. März (Beifall bei der SPD.) 1972 weigerten sich die Koalitionsparteien im Aus- schuß, die Vorziehung zu beschließen. Am 21. Juni Daraufhin kommt tosender Beifall bei den Gewerk- 1972 — Sie erinnern sich alle — haben wir hier in schaften. Auf der anderen Seite sitzt aber Herr einer Kampfabstimmung versucht, dieses Problem Flach. Und Herr Mischnick hat erklärt: Wenn diese auf die Tagesordnung zu setzen. Noch im Juni die- Koalition wiederkommt, dann gibt es keine Mit- ses Jahres haben Sie den Rentnern ihre Erhöhung bestimmung, weder nach der einen noch nach der der Renten abgelehnt. Das ist die Wahrheit, die anderen Melodie. Am Rande bleibt, daß Sie die Mit- hier ausgesprochen werden muß. bestimmung versprechen, aber die anderen ihre Ver- hinderung. Übrig bleibt eine Einigung auf dem (Beifall bei der CDU/CSU.) kleinsten Nenner, nämlich null, und das ist weni- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine ger, als die Union mit ihrer Unternehmensverfas- Bemerkung zu dem Kollegen Wehner machen. Ich sung vorgelegt hat. höre es immer mit Genuß, wenn Sie sprechen; das (Beifall bei der CDU/CSU.) muß ich gestehen. Da ich meistens im Plenarsaal Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11811 Katzer bin, habe ich Ihre Reden auch noch über einen län- heute für die Renten eine Mehrheit bekommen. geren Zeitraum im Ohr. Wir hören einmal: Mehr- Seien Sie ganz beruhigt, das wird sich in der näch- heit ist Mehrheit! Dann hören wir: Opposition, die sten Legislaturperiode so fortsetzen. Da brauchen brauchen wir nicht! Sie gar keine Sorge zu haben! (Sehr gut! bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Heute hören wir: Mit einer Stimme Mehrheit hat Schließlich noch eine letzte Bemerkung. Herr Kol- man uns erpreßt. Wie soll denn da ein Reim auf lege Schmidt, zu den Reformen. Die Union war eine diese Geschichte kommen? Das ist doch mit zweier- Partei der Reformen, ehe Sie diesen Ausdruck ge- lei Maß gemessen. kannt haben. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) Abg. Wehner: Sie halten es mit der Wahr Wir haben nicht so viel darüber geredet; das gebe heit auf eine ganz spezielle Weise, wie das ich zu. Aber die Rentenreform des Jahres 1957 ein Lakai zu tun pflegt!) war wirklich eine Reform, die den Namen verdient. — Wissen Sie, Herr Kollege Wehner, ich würde Bei unserer Eigentumspolitik — das ist vorhin ge- Ihnen empfehlen, sehr vorsichtig zu sein. Sie haben sagt worden — haben Sie weder damals in der einmal versucht, mich einen Betrüger zu nennen. Opposition noch jetzt in der Regierung Alternativen (Abg. Wehner: Das ist vor das Gericht ge zu unseren Vorstellungen vorgelegt. Dann wagen kommen!) Sie, uns zu sagen, wir seien nicht reformwillig. Wahr ist dies eine — damit schließe ich —: wir — Genau, und dieses Gericht hat Ihnen bestätigt, wollen Reformen, aber diese Reformen müssen auf daß Sie das nicht wiederholen dürfen. Passen Sie Stabilität und auf soliden Finanzen gebaut werden! auf, es wird sehr teuer für Sie. Das ist der Ausgangspunkt unserer Politik für den (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — nächsten Deutschen Bundestag. Abg. Wehner: Sie sind ein freier Mann! (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Sie sind ein großer Held!) Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung zu dem Vizepräsident Dr. Jaeger: Meine Damen und machen, was Herr Kollege Schmidt angesprochen- Herren, wünscht noch jemand das Wort? — Das hat. Herr Kollege Schmidt und Herr Bundeskanz- ist nicht der Fall. Dann stehen wir am Ende der ler — das werde ich auch juristisch zu klären ver- Beratungen. suchen, Herr Kollege Wehner, damit kein Irrtum entsteht —, wenn wider besseres Wissen hier im Zu einer persönlichen Erklärung gemäß § 35 der Hause oder draußen in der Öffentlichkeit behaup- Geschäftsordnung erteile ich dem Abgeordneten Dr. Mende das Wort. tet wird, die Einführung der Vorsorgeuntersuchung sei ein Ziel der SPD in dieser Legislaturperiode — früher war das anders — gewesen, werden wir Dr. Mende (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine dagegen vorgehen; denn die Christlichen Demo- Damen und Herren! Ich habe gemäß § 35 der Ge- kraten haben diesen Punkt hier eingeführt, und er schäftsordnung dem Hohen Hause folgende Erklä- ist durch uns hier erst eingebracht worden. Das rung abzugeben. ist die Situation. Zu der Darstellung des Abgeordneten Josef Ertl (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — über die Koalitionsverhandlungen im Jahre 1966 Abg. Wehner: Sozialpolitik mit dem Amts stelle ich fest: gericht!) Erstens. Im November 1966 hat eine Verhand- Herr Kollege Schmidt, Sie haben heute Ihr markt- lungskommission der FDP unter meinem Vorsitz so- wirtschaftliches Herz entdeckt und meinten, ein wohl mit der CDU/CSU als auch der SPD Verhand- Rechtsstaat ist dazu da, — — lungen über die Bildung einer neuen Bundesregie- rung geführt. Die Verhandlungen scheiterten an (Abg. Wehner: Sozialpolitik mit dem Amts Meinungsverschiedenheiten in den Sachfragen und gericht, schöne Sache!) führten zur Bildung einer Großen Koalition. Da- — Da sitzen Sie vielleicht auf der anderen Seite! her ist über eine personelle Besetzung von Mini- Aber ich will Ihnen nur sagen, Herr Wehner: ein sterien nicht verhandelt worden. Zu keiner Zeit Rechtsstaat ist dazu da, daß man sich gegen unbe- habe ich das Außenministerium für mich gefordert rechtigte Vorwürfe schützt. und mit keiner Seite je darüber verhandelt. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) (Vorsitz: Präsident von Hassel.) Herr Kollege Schmidt, ich habe den Eindruck, Sie Zweitens. Ich habe in meiner heutigen Rede im glauben schon fast selbst, was Ihre Propaganda Bundestag von einer öffentlichen Aufforderung des Ihnen schreibt. Arbeitsförderungsgesetz, Berufsbil- Abgeordneten Josef Ertl an den FDP-Bundesvorsit- dungsgesetz, die kassieren Sie so, als wenn das zenden Walter Scheel gesprochen, zurückzutreten. aus Ihrer ureigensten Sphäre gekommen wäre. Zeuge ist die deutsche Öffentlichkeit, der diese Auf- Ich bin einigermaßen stolz darauf, daß ich beim forderung zum Rücktritt durch die Presse am 29. und Arbeitsförderungsgesetz derjenige gewesen bin, der 30. September 1969 bekannt wurde. es eingebracht hat. Das gilt genauso für das Berufs- bildungsgesetz. Dafür habe ich damals genau wie (Beifall bei der CDU/CSU.) 11812 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Präsident von Hassel: Zu einer persönlichen Deutschland gefährlichen Politik" dieser Partei auf- Bemerkung nach § 35 der Geschäftsordnung erteile gerufen. ich dem Abgeordneten Schmidt (München) das Wort. (Abg. Strauß: Wollen Sie die Debatte wiedereröffnen? — Anhaltende Unruhe.) Schmidt (München) (SPD) : Herr Präsident! Meine Zweitens. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Herr Dr. Damen und Herren! Sicher wird die große Mehrheit Müller das Verhalten politischer Überläufer ent- in diesem Hause mein Bedauern teilen, wenn ich schieden gegeißelt und für die Krise im deutschen nach dieser Debatte am Nachmittag noch einmal Parlamentarismus verantwortlich gemacht. auf den Vormittag zurückblenden muß, wo die Mandatsüberträger den Versuch gemacht haben Drittens. Während er noch Mitglied der Sozial- (Zurufe von der CDU/CSU: Erklärung! Das demokratischen Partei war und öffentlich erklärte, ist doch keine Erklärung!) zum Austritt aus dieser Partei nicht bereit zu sein — — — sie kommt gleich —, ihre Gewissensgründe dar- (Fortgesetze lebhafte Zurufe von der CDU/ zulegen, und hier dem Parlament keine Sternstunde CSU.) bereitet haben. Ich bedaure es, daß ich das tun muß. Aber ich möchte nicht, daß der Eindruck entsteht, Darlegungen, die heute früh gemacht worden sind, Präsident von Hassel: Herr Abgeordneter, blieben unwidersprochen. Daher gebe ich folgende darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen. Sie Erklärung ab. haben eine schriftliche Erklärung nach § 35 vor- gelegt. Dieses ist keine Erklärung nach § 35, sondern Herr Abgeordneter Dr. Müller (München) hat es in allenfalls eine nach § 36. Wenn Sie eine Erklärung der Aussprache heute vormittag für richtig erachtet, nach § 36 abzugeben haben, müssen Sie dies er- den Begriff des politischen Opportunismus zu ge- klären. brauchen. Wenn ich auf diese Bemerkung eingehe, so deshalb, weil mir die politische Laufbahn des Schmidt (München) (SPD) : Gut, dann gebe ich Herrn Dr. Müller, der in diesem Jahr bereits der eine Erklärung nach § 36 ab. dritten politischen Gruppierung angehört, dafür keinerlei moralische Basis abzugeben scheint.- (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Wörner: Präsident von Hassel: Also nach § 36! Ich darf Das ist ein Diskussionbeitrag, aber keine Sie aber bitten, sich an die Geschäftsordnung zu Erklärung! — Weitere Zurufe von der halten. § 36 lautet: CDU/CSU: Erklärung!) Zu einer tatsächlichen oder persönlichen Er- klärung kann der Präsident außerhalb der — Das ist eine Erklärung, die dem Präsidenten vor- Tagesordnung das Wort erteilen. Die Erklä- gelegt worden ist. rung ist ihm auf Verlangen vorher schriftlich mitzuteilen. Präsident von Hassel: Ich darf Sie bitten, sich an den Wortlaut der mir vorgelegten Erklärung Schmidt (München) (SPD) : Das ist geschehen, zu halten. Herr Präsident. (Hört! Hört! und Lachen bei der CDU/ CSU. — Lebhafte Zurufe von der CDU/ CSU.) Präsident von Hassel: Das ist geschehen, aber Sie haben sich dann an die Vorlage zu halten.

Schmidt (München) (SPD) : Das tue ich. Schmidt (München) (SPD) : Das tue ich. — Wäh- Ich glaube, das Urteil darüber getrost allen Zu- rend Herr Dr. Müller noch Mitglied der Sozialdemo- hörern überlassen zu können, wenn ich Ihnen dar- kratischen Partei war und öffentlich erklärte, zum lege, daß Herr Dr. Müller allein in diesem Jahr Austritt aus dieser Partei nicht bereit zu sein, grün- folgenden politischen Weg zurückgelegt hat. dete er, nachdem er öffentlich jede Miturheberschaft bestritten hatte, für die Kommunalwahlen in Mün- Erstens. Er hat bis Mitte dieses Jahres jede chen eine Gruppierung mit dem Namen „Soziale Übertrittsabsicht zur CSU kategorisch bestritten Demokraten 72", (Abg. van Delden: Das ist keine Erklärung, (anhaltende Un ruhe bei der CDU/CSU — das ist Demagogie! — Weitere Zurufe von Glocke des Präsidenten) der CDU/CSU: Erklärung!) von der er behauptete, daß sie ein Sammelbecken — das ist eine Erklärung, die dem Präsidenten vor- echter Sozialdemokraten sei. Als die Wähler in gelegen hat — München diesen Versuch zum kläglichen Scheitern verurteilten, ist Herr Dr. Müller zwei Monate vor (Abg. Rawe: Das ist keine persönliche Er der Bundestagswahl der CSU beigetreten, nachdem klärung!) Herr Kollege Strauß, der, wie die Junge Union be- und in Wahlversammlungen der SPD zur „ent hauptet, an den Statuten vorbei die Parteiauf- schlossenen Bekämpfung der für die Bundesrepublik nahme selbst vollzogen hatte, öffentlich erklärte, er Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11813 Schmidt (München) werde sich für einen sicheren Listenplatz des Herrn Zweitens. Der Bundeswirtschaftsminister hat mit Dr. Müller einsetzen. Zustimmung der damaligen Bundesregierung einen (Weiterhin anhaltende Unruhe bei der Vertrag mit Frankreich abgeschlossen, in dem Frank- CDU/CSU.) reich und die Bundesrepublik Deutschland sich ver- pflichten, je 50 °/o der Entwicklungskosten zu tragen Fünftens. Wenn ich in diesem Zusammenhang auf und dieses Flugzeug bis zu Ende zu entwickeln. eine Richtigstellung der von Herrn Dr. Müller vor- Wenn diese Entwicklung von einem Partner nicht gebrachten Halb- und Unwahrheiten zu Vorgängen fortgeführt wird, muß dieser dem anderen Partner innerhalb der Münchener SPD gegenüber dem Unter- die finanziellen Beiträge leisten, damit der andere bezirksvorsitzenden Schöfberger und dem Landes- Partner das Flugzeug dann allein zu Ende ent- vorsitzenden Dr. Vogel verzichte, wickeln kann. (zunehmende Unruhe in der Mitte) (Abg. Leicht: Genauso ist es!) dann nur deshalb, weil ich der Meinung bin, daß Man kann hier nicht von deutsch-französischer Zu- Behauptungen über einen Unterbezirk der Sozialde- sammenarbeit reden und in einer Frage, in der mokratischen Partei in einer historisch bedeutsamen Frankreich und Deutschland sich gegenseitig ver- Debatte des Deutschen Bundestages unmittelbar vor pflichtet haben, eine derartige persönliche, gehäs- den Neuwahlen nichts, aber auch gar nichts verloren sige, in der Sache unwahre und eines Finanzmini- haben. Die Antwort darauf werden wir außerhalb sters unwürdige Stellungnahme abgeben. des Parlaments geben. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) (Anhaltende Unruhe in der Mitte. — Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! — Das ist ein wahrer Sozialist!) Präsident von Hassel: Meine Damen und Her- ren, wir kommen zur Abstimmung.

Präsident von Hassel: Herr Abgeordneter (Bundesminister Schmidt meldet sich zu Schmidt, ich bedauere sehr, daß die Erklärung diese Wort.) Form angenommen hat. Sie haben sie vorher schrift- — Zur Abgabe einer persönlichen Erklärung? — lich dem amtierenden Präsidenten zugeleitet, und Bitte schön, zur Abgabe einer persönlichen Erklä- damit wurde sie zugelassen. rung nach § 36 der Geschäftsordnung der Abgeord- Ich darf bekanntgeben, daß der Abgeordnete nete Schmidt (Hamburg). Strauß das Wort zur Abgabe einer persönlichen (Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU.) Erklärung erbeten hat. Bitte schön, Herr Abgeordne- — Darf ich Sie bitten, einen Moment Platz zu neh- ter Strauß! men.

Strauß (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gebe eine persön- Schmidt, Bundesminister für Wirtschaft und liche Erklärung in einer Sache ab, bei der es sich Finanzen: Herr Präsident, darf ich fragen, ob mir das um mich handelt und nicht um die Verunglimpfung Haus im Augenblick zuhört oder ob wir uns hin- von Kollegen. setzen oder stehenbleiben sollen. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Anhaltende lebhafte Zurufe von der CDU/ Der Herr Bundesminister für Wirtschaft und Finan- CSU.) zen hat es für richtig gehalten — man könnte auch sagen: hat die Geschmacklosigkeit besessen —, mir Präsident von Hassel: Darf ich Sie bitten, sich vorzuwerfen, hinzusetzen. — Bitte sehr, Herr Abgeordneter. (Unruhe bei der SPD) — ja, das ist eine Sache die mich betrifft — Schmidt, Bundesminister für Wirtschaft und (Zuruf von der SPD: Aber nicht uns!) Finanzen: Herr Präsident! Ich habe persönlich zu er- daß ich ein kostspieliges Flugzeugprojekt fördere, klären: bei dessen Durchführung ich der Vorsitzende des 1. Die Darstellung, die der Abgeordnete Dr. Strauß Aufsichtsrates sei. hinsichtlich der Entstehung jenes Projektes eben (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]: Stimmt es gegeben hat, trifft zu. oder stimmt es nicht? — Weitere Zurufe.) (Aha! bei der CDU/CSU.) Ich darf dazu folgendes erklären. 2. Ich habe begründeten Anlaß zu der Überzeu- Erstens. In der Regierung der Großen Koalition gung, daß der vom Kollegen Strauß zitierte Kollege hat der für diese Fragen zuständige Wirtschafts- Dr. Schiller in der Zwischenzeit in Ansehung seines minister Karl Schiller, SPD, dieses Projekt vorge- wirtschaftlichen Entwicklungsganges jenes Projekt schlagen, den Finanzminister um Zustimmung ge- gegenwärtig und schon seit geraumer Zeit mit der- beten und einen Kabinettsbeschluß erbeten, in dem selben finanzwirtschaftlichen Skepsis betrachtet wie diese seine Vorlage zur Entwicklung und Produk- ich, tion dieses Flugzeugs genehmigt wurde. (Zurufe des Abg. Strauß — Gegenrufe von (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) der SPD: Zuhören!) 11814 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Bundesminister Schmidt — daß er es mit derselben finanzwirtschaftlichen licher Eskalationsrate, wie in den Verträgen vorge- Skepsis betrachtet, die ich zum Ausdruck gebracht sehen, gezogen worden ist. Alles andere ist Augen- habe. auswischerei und Vertuschung der Wirklichkeit. 3. Ich bitte, aus dem Stenogramm meiner Rede zu (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von entnehmen, daß ich niemanden in irgendeiner Form den Regierungsparteien.) verdächtigt habe, (Zurufe von der CDU/CSU) Präsident von Hassel: Meine Damen und Her- ren, wir kommen zur Abstimmung. Bevor ich die sondern daß ich vielmehr den Aufsichtsratsvorsit- Abstimmung eröffne, verlese ich zunächst den Wort- zenden jenes Unternehmens gebeten habe, uns doch laut des Art. 68 des Grundgesetzes: hinsichtlich der rationelleren Ausgabe staatlicher Mittel auf diesem Gebiete Vorschläge zu machen. (1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustim- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu mung der Mehrheit der Mitglieder des Bundes- rufe von der CDU/CSU.) tages, so kann der Bundespräsident auf Vor- schlag des Bundeskanzlers binnen einundzwan- Präsident von Hassel: Das Wort zur Abgabe zig Tagen den Bundestag aufläsen. Das Recht einer Erklärung — — zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit (Abg. Strauß: Nein, keine Erklärung. Ich der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen rede jetzt dazu. Die Diskussion ist doch wie Bundeskanzler wählt. der eröffnet!) (2) Zwischen dem Antrag und der Abstim- — Nein, die Diskussion ist nicht eröffnet. Wir haben mung müssen achtundvierzig Stunden liegen. vier persönliche Erklärungen gehabt, und damit ist Ich stelle fest, daß diese 48-Stunden-Fr ist gewahrt die Aussprache beendet. Die Aussprache war be- ist. Es ist außerdem namentliche Abstimmung ver- endet, und wir haben vier Erklärungen gehabt. Wol- langt worden. len Sie zur Abgabe einer Erklärung das Wort? Das Ich eröffne die Abstimmung. Wer dem Bundes- Wort zu einer Ansprache kann ich Ihnen nicht ge- kanzler das Vertrauen aussprechen will, möge mit ben, zu einer Erklärung ja. - Ja stimmen. Strauß (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Meine Damen und Herren, bevor ich das Abstim- Damen und Herren! Dann muß ich das, was ich dazu mungsergebnis bekanntgebe, darf ich mitteilen, daß zu sagen habe, in Form einer persönlichen Erklärung die drei Fraktionen mich gebeten haben, Sie davon sagen. Ich wäre einer Diskussion darüber nicht aus- zu unterrichten, daß im Anschluß an diese Plenar- gewichen, wie es jetzt offensichtlich die Regierungs- sitzung alle drei Fraktionen zu Fraktionssitzungen koalition oder die SPD wünscht. zusammentreten. (Abg. Dr. Apel: Ist das Erklärung oder Dis Ich gebe das Ergebnis der Abstimmung bekannt. kussionsbeitrag?) An der Abstimmung haben insgesamt 482 stimm- berechtigte Abgeordnete und 22 Berliner Abgeord- — Mehr als das, was Herr Manfred Schmidt zur Ver- nete teilgenommen. Mit Ja haben gestimmt 233 unglimpfung des Kollegen Dr. Günther Müller ge- stimmberechtigte Abgeordnete und 12 Berliner Ab- sagt hat. geordnete, mit Nein haben gestimmt 248 stimmbe- (Abg. Wehner: Wir sind doch hier nicht in rechtigte Abgeordnete und 10 Berliner Abgeordnete; Ihrem Keller! — Weitere Zurufe von der enthalten haben sich 1 stimmberechtigter Abgeord- SPD.) neter und kein Berliner Abgeordneter. Ich stelle dazu folgendes fest: Die Bundesregie- rung hat sich gegenüber dem französischen Partner Ergebnis so verpflichtet, wie ich es vorhin dargestellt habe. Abgegebene Stimmen 482 und 22 Berliner Abgeordnete. Weiter: Mir ist sowohl von der Bundesregierung Davon wie von französischer Seite mitgeteilt worden, daß Bundeskanzler Brandt Staatspräsident Pompidou auf Ja: 233 und 12 Berliner Abgeordnete dessen besondere Frage hin erklärt hat, es gebe Nein: 248 und 10 Berliner Abgeordnete keinen Zweifel daran, daß diese Bundesregierung Enthalten: 1 Abgeordneter ihre Verpflichtungen aus diesem Vertrag erfüllen werde, um die Grundlagen einer europäischen Luft- Ja Barche fahrt- und Raumfahrtindustrie nicht zu zerstören, Dr. Bardens wie es offensichtlich der Herr Finanz- und Wirt- SPD Batz schaftsminister hier empfiehlt. Bauer (Würzburg) Adams Bay (Zuruf des Bundesministers Scheel sowie Dr. Ahrens Dr. Bayerl des Abg. Dr. Apel und weitere Zurufe von Anbuhl Dr. Bechert (Gau Algesheim) Dr. Apel Becker (Nienberge) der SPD.) Dr. Arndt (Hamburg) Dr. Beermann Ich darf drittens bemerken, daß sich sämtliche Baack Behrendt Baeuchle Bergmann Entwicklungsarbeiten innerhalb des Rahmens gehal- Bäuerle Berkhan ten haben, der von der Bundesregierung mit jähr- Bals Berlin Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11815

Biermann Lenders Urbaniak Dr. Arnold Böhm Liedtke Vit Dr. Artzinger Börner Löbbert Walkhoff Dr. Bach Frau von Bothmer Dr. Lohmar Dr. Weber (Köln) Baier Brandt (Grolsheim) Maibaum Wehner Balkenhol Bredl Marquardt Welslau Dr. Barzel Brück (Holz) Marx (München) Wende Dr. Becher (Pullach) Brünen Matthes Wendt Dr. Becker (Mönchenglad- Buchstaller Matthöfer Westphal bach) Büchler (Ebersbach) Frau Meermann Dr. Wichert Becker (Pirmasens) Büchner (Speyer) Dr. Meinecke (Hamburg) Wiefel Berberich Dr. von Bülow Meinike (Oberhausen) Wienand Berding Buschfort Metzger Wilhelm Berger Dr. Bußmann Michels Wischnewski Bewerunge Collet Möhring Dr. de With Biechele Corterier Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller Wittmann (Straubing) Biehle Cramer Müller (Mülheim) Wolf Dr. Birrenbach Dürr Müller (Nordenham) Wolfram Dr. von Bismarck Eckerland Dr. Müller-Emmert Wrede Bittelmann Frau Eilers Dr. Müthling Würtz Blumenfeld Dr. Enders Neemann Wüster von Bockelberg Engholm Neumann Wuttke Dr. Böhme Esters Dr. Nölling Wuwer Frau Brauksiepe Faller Dr. Oetting Zander Breidbach Dr. Farthmann Offergeld Zebisch Bremer Fellermaier Frau Dr. Orth Bremm Fiebig Frhr. Ostman von der Leye Berliner Abgeordnete Brück (Köln) Dr. Fischer Pawelczyk Dr. Burgbacher Flämig Peiter Dr. Arndt (Berlin) Burger Frau Dr. Focke Pensky Bartsch Cantzler Folger Peters (Norden) Bühling Dr. Czaja Frehsee Pöhler Dr. Dübber Damm Frau Freyh Porzner Heyen van Delden Fritsch Raffert Frau Krappe Dichgans Geiger Ravens Löffler Dr. Dittrich Gerlach (Emsland) Dr. Reischl Mattick Dr. Dollinger Gertzen Frau Renger Dr. Schellenberg Draeger Dr. Geßner Richter Frau Schlei von Eckardt Glombig Dr. Rinderspacher Sieglerschmidt Engelsberger Gnädinger Rohde Dr. Erhard Erhard (Bad Schwalbach) Grobecker Rosenthal FDP Dr. Haack Roß Ernesti Haar (Stuttgart) Säckl Dr. Achenbach Erpenbeck Haase (Kellinghusen) Sander Frau Dr. Diemer-Nicolaus Dr. Evers Haehser Saxowski Dorn Dr. Eyrich Halfmeier Dr. Schachtschabel Frau Funcke von Fircks Hansen Dr. Schäfer (Tübingen) Gallus Franke (Osnabrück) Hansing Frau Schanzenbach Geldner Dr. Franz Hauck Scheu Graaff Dr. Freiwald Dr. Hauff Schiller (Bayreuth) Grüner Dr. Frerichs Henke Frau Schimschok Jung Dr. Früh Frau Herklotz Schirmer Kirst Dr. Fuchs Hermsdorf (Cuxhaven) Schlaga Kleinert Dr. Furler Herold Dr. Schmid (Frankfurt) Krall Dr. Gatzen Höhmann (Hessisch Schmidt (Braunschweig) Logemann Frau Geisendörfer Lichtenau) Dr. Schmidt (Gellersen) Dr. h. c. Menne (Frankfurt) Geisenhofer Hörmann (Freiburg) Dr. Schmidt (Krefeld) Mertes Gerlach (Obernau) Hofmann Schmidt (München) Mischnick Gewandt Horn Schmidt (Niederselters) Moersch Gierenstein Frau Huber Schmidt (Würgendorf) Ollesch Dr. Giulini Jaschke Dr. Schmitt-Vockenhausen Opitz Dr. Gleissner Junghans Dr. Schmude Peters (Poppenbüll) Glüsing (Dithmarschen) Junker Schoettle Schmidt (Kempten) Dr. Gölter Kaffka Schollmeyer Spitzmüller Dr. Götz Kahn-Ackermann Schonhofen Wurbs Gottesleben Kater Schulte (Unna) Dr. Gruhl Haase (Kassel) Kern Schwabe Berliner Abgeordnete Killat-von Coreth Seefeld Dr. Häfele Dr. Koch Seibert Borm Härzschel Koenig Seidel Häussler Kohlberger Frau Seppi Dr. Hallstein Konrad Simon Dr. Hammans Dr. Kreutzmann Dr. Slotta Hanz Kriedemann Dr. Sperling Nein Hartnack Krockert Spillecke von Hassel Kulawig Staak (Hamburg) CDU/CSU Hauser (Bad Godesberg) Lange Strohmayr Dr. Hauser (Sasbach) Langebeck Suck Dr. Abelein Dr. Heck Lautenschlager Tallert Dr. Aigner Dr. Hellige Frau Lauterbach Dr. Tamblé Alber Helms (Gast) Lemp Frau Dr. Timm von Alten-Nordheim Dr. Hermesdorf (Schleiden) Lemper Tönjes Dr. Althammer Höcherl 11816 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 Präsident von Hassel Hösl Dr. Riedl (München) Berliner Abgeordnete Dr. Schulz (Berlin) Horstmeier Dr. Rinsche Dr. Seume (Gast) Horten Dr. Ritgen Amrehn Wohlrabe Dr. Hubrig Dr. Ritz Frau Berger Dr. Hupka Rock Dr. Gradl Enthaltungen Hussing Röhner Dr. Kotowski Dr. Huys Rösing Kunz SPD Frau Jacobi (Marl) Rollmann Müller (Berlin) Dr. Jaeger Rommerskirchen Frau Pieser Arendt (Wattenscheid) Dr. Jahn (Braunschweig) Roser Dr. Jenninger Ruf Dr. Jobst Russe Nach Art. 68 des Grundgesetzes ist für die An- Josten Sauter nahme des Antrages die Zustimmung der Mehrheit Dr. Jungmann Prinz zu Sayn-Wittgenstein- der Mitglieder erforderlich, d. h. 249 Ja-Stimmen. Der Frau Kalinke Hohenstein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen aus- Katzer Schedl Dr. Kempfler Schlee zusprechen, hat somit nicht die erforderliche Mehr- Kiechle Schlichting-von Rönn heit gefunden. Ich werde dem Herrn Bundespräsi- Kiep Dr. Schmid-Burgk denten unverzüglich davon Mitteilung machen. Dr. h. c. Kiesinger Dr. Schmidt (Wuppertal) Frau Klee Schmitt (Lockweiler) Meine Damen und Herren, dieses Abstimmungs- Dr. Klepsch Dr. h. c. Schmücker ergebnis gibt dem Herrn Bundespräsidenten das Dr. Kley Schneider (Königswinter) Recht, auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bun- Dr. Kliesing (Honnef) Dr. Schneider (Nürnberg) Klinker Dr. Schober destag aufzulösen. Ich kann und will dem Herrn Köster Frau Schroeder (Detmold) Bundespräsidenten nicht vorgreifen; sein Recht, Krammig Dr. Schröder (Düsseldorf) über die Auflösung des Bundestages zu entscheiden, Krampe Schröder (Wilhelminenhof) bleibt unangetastet. Die Fraktionen haben mich Dr. Kraske Schulhoff Dr. Kreile Schulte (Schwäbisch Gmünd) aber gebeten, angesichts des klaren Willens aller Frau Dr. Kuchtner Dr. Schulze-Vorberg Parteien, zu Neuwahlen zu kommen, diese Sitzung Lampersbach Dr. Schwörer nicht zu unterbrechen, um auf die Auflösungsanord- Leicht Seiters Lemmrich Dr. Siemer nung des Herrn Bundespräsidenten zu warten, wie Lensing Solke ich es gerne gesehen hätte, sondern diese Sitzung Dr. Lenz (Bergstraße) Spilker mit einem kurzen Wort zu schließen in dem Bewußt- Lenze (Attendorn) Springorum sein, daß es keine Sitzung des 6. Deutschen Bundes- Lenzer Dr. Sprung Link Stahlberg tages mehr geben wird. Löher (Dortmund) Dr. Stark (Nürtingen) Meine Damen und Herren, diese 6. Legislatur- Dr. Löhr Dr. Starke (Franken) Looft Stehle periode wird also vorzeitig zu Ende gehen. Sie Dr. Luda Stein (Honrath) unterscheidet sich in vielem von vorhergehenden Lücke (Bensberg) Steiner Legislaturperioden. Zum erstenmal haben wir über Lücker (München) Frau Stommel ein Vertrauensvotum, zum erstenmal über ein kon- Dr. Majonica Storm Dr. Martin Strauß struktives Mißtrauensvotum abgestimmt, zum Dr. Marx (Kaiserslautern) Struve erstenmal wird der Bundestag durch den Bundes- Maucher Stücklen präsidenten aufgelöst werden. Meister Susset Memmel von Thadden Die Kommentatoren des Grundgesetzes, die Ver- Dr. Mende Tobaben fassungsjuristen, werden sich freuen, daß sie nun Menth (Rittershausen) Frau Tübler Mick für die Artikel des Grundgesetzes, die sie bisher nur Dr. Unland rein theoretisch beschreiben konnten, konkrete Dr. Mikat Varelmann Dr. Miltner Vehar Beispiele haben. Aber viele Bürger unseres Staates Dr. Müller (Aachen-Land) Vogel sind beunruhigt über die ihnen nicht vertrauten und Dr. Müller (München) Vogt Müller (Niederfischbach) ungewöhnlichen Abläufe. Wir sollten sie deshalb Volmer hier und heute beruhigen. Müller (Remscheid) Wagner (Günzburg) Dr. Müller-Hermann Dr. Wagner (Trier) Mursch (Soltau-Harburg) Die Vertrauensfrage wie das konstruktive Miß- Niegel Frau Dr. Walz trauensvotum und die Auflösung des Bundestages Dr. von Nordenskjöld Dr. Warnke Wawrzik sind sicherlich Ausnahmen, aber sie sind nicht außer- Orgaß halb der Ordnung unseres Grundgesetzes, sie sind in Ott Weber (Heidelberg) Petersen Weigl ihm vielmehr ausdrücklich vorgesehen. Sie sind Be- Pfeifer Dr. Freiherr von Weizsäcker standteil unseres parlamentarischen Systems, um Picard Wendelborn Werner außergewöhnliche Situationen, wie wir sie erlebt Pieroth haben, zu meistern. Wir werden sie meistern, wenn Dr. Pinger Windelen Pohlmann Winkelheide wir alle als Demokraten zusammenstehen und auch Dr. Prassler Wissebach in den harten Auseinandersetzungen, die vor uns Dr. Preiß Dr. Wittmann (München) liegen, die gemeinsamen Grundlagen unseres demo- Dr. Wörner Dr. Probst kratisch-parlamentarischen Systems weiterhin be- Prochazka Frau Dr. Wolf Rainer Baron von Wrangel jahen und nicht um eines kurzfristigen möglichen Rawe Dr. Wulff Parteivorteils willen vergessen, daß Diffamierung Reddemann Ziegler und Herabsetzungen des Gegners letztlich keinen Dr. Reinhard Dr. Zimmermann Richarts Zink Vorteil bringen. . Riedel (Frankfurt) Zoglmann (Gast) (Beifall.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11817 Präsident von Hassel Wir können und sollen Gegner sein, aber wir dürfen lich; aber auch die Zahl der Vorlagen, die nicht nicht zu Feinden werden. Wir dürfen uns nicht mehr erledigt werden konnten, ist groß. Daß aber verleiten lassen, aus welchen Gründen auch immer bei 333 verabschiedeten Gesetzen nur 15 hart um- die großen Linien unserer freiheitlichen Verfassung kämpft waren, zeigt, daß in diesem Hause nicht nur zu verlassen. Gegensätze ausgefochten wurden, daß nicht alles Einer, der uns dies immer wieder gesagt hat, ist nur im Streit geschah, sondern daß an die 95 % unser verehrter Kollege Prof. Carlo Schmid. Er unserer Gesetzgebung einvernehmlich verbschiedet wird uns wahrscheinlich in Zukunft nicht mehr un- wurden. mittelbar mit seinem Rat begleiten. Wir sollten ihm Diese Tatsache ist doch wohl Beweis für die Kraft daher an dieser Stelle Dank sagen unseres frei gewählten Parlaments, in einer schwie- (lebhafter Beifall) rigen Zeit seine Aufgabe auch erfüllen zu können. Der Deutsche Bundestag hat bewiesen, daß er auch und erklären, daß er sich um dieses Parlament und unter besonderen Verhältnissen Besonderes zu lei- um unser Vaterland verdient gemacht hat. sten vermag. Dafür danke ich allen Mitgliedern Aus unseren Reihen scheidet nun so mancher aus. des Hauses, aber auch den Arbeitern, Angestellten Von denen, die sich wieder zur Wahl stellen, wer- und Beamten der Verwaltung. den nicht alle ihr Ziel erreichen. In einem freiheit- (Beifall im ganzen Hause.) lichen Rechtsstaat, dessen Parlament aus freien Wahlen hervorgeht, kann es gar nicht anders sein. Auch den Präsidien und dem Ältestenrat gilt mein besonderer Dank und damit vor allem den Parla- Aber: Es gibt eine beträchtliche Zahl unter un- mentarischen Geschäftsführern, die eine ganz be- seren Kolleginnen und Kollegen, die nicht wieder sondere Arbeitslast zu tragen hatten und viel zur kandidieren und die nun, zum Teil seit 1949 Mit- Lösung unserer Aufgaben beigetragen haben. glied in sechs Legislaturperioden, uns verlassen wer- den. Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß das für (Beifall im ganzen Hause.) die meisten ein schmerzhafter Abschied ist, weil es Selbst unter dem lebendigen Eindruck dieser einfach eine Zäsur ist, wenn man aus einer Arbeit Woche zeigt sich doch, daß auch bei schweren poli- ausscheidet, die 24 oder 20 oder auch nur 8 Jahre tischen Gegensätzen zwischen den beiden großen

Aufbauarbeit für Deutschland bedeutet. All denen Blöcken immer das Gespräch miteinander möglich möchte ich in diesem Augenblick unseren Dank für blieb, nicht nur im Präsidium und im Ältestenrat, ihr Wirken sagen, das mit sehr viel Entbehrung sondern im ganzen Hause. So soll es auch in Zu- und Mühsal, sicher auch mit mancher Genugtuung kunft bleiben, zum Wohle unseres Volkes und und Freude, verbunden war. Vaterlandes. In diesem Augenblick, am Ende eines ereignis- Ich danke Ihnen. Ich schließe die letzte Sitzung reichen Tages, erwartet niemand eine Würdigung des 6. Deutschen Bundestages. unserer Arbeit in dieser verkürzten Legislatur- (Beifall.) periode. Das Zahlenwerk, das die Zahl der verab- schiedeten Gesetze ausweisen würde, wäre beacht- (Schluß der Sitzung: 18.48 Uhr.)

Berichtigungen

198. Sitzung, Seite 11572 D: In den letzten vier Deutschland und der Regierung der Union der So- Zeilen müssen die Worte „Ausschuß für wirtschaft- zialistischen Sowjetrepubliken über den Luftver- liche Zusammenarbeit" gestrichen werden. kehr — Drucksache VI/3559 —, um das Gesetz zum Übereinkommen vom 20. August 1971 über die internationale Fernmeldesatellitenorganisation In- 198. Sitzung, Seite 11701 A: Vor den Worten telsat — Drucksache VI/3451 — und um das Gesetz „Wir kehren damit zurück zu Punkt 5 der Tages- zu dem Übereinkommen vom 16. Dezember 1970 zur ordnung" ist einzufügen: Bekämpfung der widerrechtlichen Inbesitznahme „Bevor ich in der Tagesordnung fortfahre, darf ich von Luftfahrzeugen — Drucksache VI/3272 —. folgendes sagen. Es ist inzwischen interfraktionell Diese drei Vorlagen sollen morgen früh aufge- Übereinstimmung hinsichtlich der Aufnahme dreier rufen werden. Ich gebe das bekannt, weil im Älte- weiterer Tagesordnungspunkte erzielt worden. Es stenrat noch keine endgültige Entscheidung getrof- handelt sich um das Abkommen vom 11. November fen wurde. — Ich sehe keinen Widerspruch dagegen, 1971 zwischen der Regierung der Bundesrepublik daß wir diese Punkte morgen früh aufrufen."

Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11819

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Wie haben die Sicherheitsbehörden festgestellt, daß sich der Anlage 1 vom Parlamentarischen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Moersch, gegen Bonner Journalisten erhobene Vorwurf, sie seien als Agenten tätig, nicht erhärtet hat? Liste der beurlaubten Abgeordneten Sind die betroffenen Journalisten, deren Verlagshäuser, ihre Besucher, ihre Telefongespräche und ihre Post überwacht worden, Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich oder erwiesen sich die Verdächtigungen des Staatssekretärs Moersch als so substanzlos, daß auch ohne Recherchen der Sicher- heitsbehörden die Schuldlosigkeit der angeschuldigten Journa- Dr. Schiller 22. 9. listen erwiesen war?

Den Sicherheitsbehörden liegen keine Erkennt- nisse über eine Agententätigkeit Bonner Journa- Anlage 2 listen vor. Im Zusammenhang mit dem gegen Bonner Jour- Schriftliche Antwort nalisten geäußerten Verdacht sind keine Überwa- des Parlamentarischen Staatssekretärs Moersch vom chungsmaßnahmen getroffen worden. 22. September 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Engelsberger (CDU/CSU) (Drucksa- che VI/3783 Frage A) : Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß für die Er- mordung der israelischen Sportler auch jene Länder Verantwor- Anlage 4 tung tragen, die diese Menschen nicht an ihrem Tun hindern, und wie ist bejahendenfalls diese Auffassung mit der Erklärung von Bundesaußenminister Scheel, daß die arabischen Staaten für den Schriftliche Antwort Terroranschlag in München nicht verantwortlich gemacht werden können, in Einklang zu bringen? des Bundesministers Genscher vom 22. September 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Nach Ansicht der Bundesregierung tragen alle Löffler (SPD) (Drucksache VI/3783 Frage A 17): Staaten im Rahmen der ihnen gegebenen Möglich- Nachdem die palästinensischen Terroristen für den Fall des keiten Verantwortung dafür, daß gegen unschuldige Scheiterns ihres verbrecherischen Anschlags in München gedroht Menschen gerichtete Terroranschläge wie der von haben, die Bundesrepublik Deutschland als ihr bevorzugtes Aktionsfeld zu wählen, frage ich die Bundesregierung, welche München verhindert werden. Deshalb hat die Bun- Maßnahmen sie zu ergreifen gedenkt, um diese Gefahr abzu- desregierung auch Initiativen ergriffen, die zu einer wenden. wirksamen internationalen Bekämpfung des Ter- rorismus beitragen sollen. So sind die Außenmini- Um Mißverständnissen vorzubeugen erlauben Sie ster der erweiterten EWG auf ihrer Sitzung am mir, zu Beginn der Antwort auf Ihre Frage darauf 12. September 1972 in Rom übereingekommen, ihre hinzuweisen, daß die Bundesregierung nicht erst aus Haltung bei der Diskussion in der Generalversamm- Anlaß der jüngsten Ereignisse in München beson- lung der VN abzustimmen, wenn die Frage des dere Schutzmaßnahmen gegen terroristische Auslän- Terrorismus entsprechend dem Vorschlag General- der und Ausländergruppen — gleich welcher Natio- sekretär Waldheims als Tagesordnungspunkt be- nalität — ergriffen hat. Auf diese Gruppen und Per- handelt werden wird. sonen richtete sich schon vorher das besondere Augenmerk der Sicherheitsorgane des Bundes und Hinsichtlich der Probleme ihrer inneren Sicher- der Länder. In Erkenntnis der von ihnen ausgehen- heit haben die Außenminister beschlossen, eine den Gefahr hat dieses Hohe Haus am 22. Juni d. J. engere Zusammenarbeit zwischen den zustän- die Änderung des Gesetzes über die Zusammen- digen Stellen ihrer Länder herbeizuführen. arbeit des Bundes und der Länder in Angelegenhei- Ein Widerspruch zwischen der Erklärung des ten des Verfassungsschutzes (BGBl. I S. 1382) ver- Bundespräsidenten anläßlich der Trauerfeier für abschiedet, die die rechtliche Möglichkeit gibt, die die Opfer des Anschlags von München und der genannten Gruppen und Personen noch effektiver Auffassung des Bundesministers des Auswärtigen als bisher zu beobachten. Von den exekutiven Maß- brachte zum Ausdruck, daß der Bundesregierung nahmen möchte ich beispielhaft folgende erwähnen: keine Beweise oder konkreten Anhaltspunkte für Namentlich bekannte Führer und Mitglieder terro- eine Verantwortlichkeit einzelner arabischer Regie- ristischer Ausländergruppen, deren Aufenthalt in rungen für das von palästinensischen Terroristen der Bundesrepublik Deutschland die Sicherheit der in München verübte Attentat vorliegen. Bundesrepublik Deutschland gefährden würde, wur- den seit Jahren auf Weisung des Bundesministers des Innern in die Grenzüberwachungsliste aufge- nommen. Dies hat sich als durchaus wirkungsvolle Maßnahme erwiesen. Eine Reihe von Personen Anlage 3 konnte an der Grenze zurückgewiesen werden. Schriftliche Antwort Ebenfalls seit Jahren führt die Grenzschutzdirek- tion weitere Fahndungslisten mit Namen bekannt- des Bundesministers Genscher vom 22. September gewordener verdächtiger Personen. Diese Listen 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abgeordneten werden laufend ergänzt. Anhand dieser Listen wer- Reddemann (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Fragen den verdächtige Personen überprüft und ggf. ent- A 11 und 12) : sprechende Maßnahmen eingeleitet. 11820 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Darüber hinaus wurden Ausländer, bei denen der und Zweigstellen von Luftfahrtgesellschaften, begründete Verdacht gegeben war, daß sie die öf- Schiffahrtsgesellschaften unter besonderen poli- fentliche Sicherheit und Ordnung stören oder son- zeilichen Schutz zu stellen. stige erhebliche Belange der Bundesrepublik — Die Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz des Deutschland beeinträchtigen, durch die zuständigen Luftverkehrs wurden ebenfalls erhöht. Seit dem Länderbehörden nach den Vorschriften des Auslän- 24. August 1972 war bereits eine 100%ige Per- dergesetzes aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und sonen- und Gepäckkontrolle für den gesamten abgeschoben. grenzüberschreitenden Linienverkehr angeord- Soweit Angehörige radikaler Ausländergruppen net. Nach dem 5. September 1972 wurden die im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit in der Bun- verstärkten Sicherungsmaßnahmen auch auf den desrepublik Straftaten begangen haben, wurden sie innerdeutschen Linienverkehr und Charterver- der Bestrafung durch die Gerichte zugeführt. kehr sowie auf die Flugreisen einiger großer Touristik-Unternehmen ausgedehnt. Schließlich Nach dem verabscheuungswürdigen Verbrechen in sollen künftig auch die Einrichtungen der Deut- München und Fürstenfeldbruck, insbesondere auf schen Lufthansa im Ausland verstärkt geschützt Grund der danach bekanntgewordenen Drohungen werden. Die entsprechenden Verhandlungen zwi- mit weiteren Terrorakten, wurden die Vorkehrun- schen der Lufthansa, dem Bundesminister für gen zur Bekämpfung palästinensischer Terroristen Verkehr und dem Bundesminister des Innern noch verschärft. sind weitgehend abgeschlossen, Ausbildungs- -- Das Bundeskabinett beschloß in seiner Sitzung lehrgänge bereits angelaufen. am 6. September 1972 — also bereits am Tage — Am 13. September 1972 hat sich auf meine Ver- nach dem Ereignis in Fürstenfeldbruck — die anlassung auch die Innenministerkonferenz ein- Wiedereinführung des Sichtvermerkszwangs für gehend mit der Sicherheitslage befaßt und be- die Staatsangehörigen der arabischen Länder Li- schlossen, zur Verhinderung weiterer Terror- byen, Marokko und Tunesien. Der entsprechen- anschläge alle rechtlichen Möglichkeiten nach den 5. Verordnung zur Änderung der Verord- dem Ausländergesetz auszuschöpfen, u. a. illegal nung zur Durchführung des Ausländergesetzes in das Bundesgebiet eingereiste Ausländer, vor stimmte der Bundesrat in einer Sondersitzung am allem aus arabischen Staaten, zu ermitteln und 13. September 1972 zu, so daß die Verordnung sofort abzuschieben. am 14. September 1972 in Kraft treten konnte. Dieser Maßnahme kommt im Rahmen einer Nunmehr bedürfen die Staatsangehörigen aller wirksamen Bekämpfung der Terroristen im arabischen Länder eines Sichtvermerks, um in die Bundesgebiet besondere Bedeutung zu, weil Bundesrepublik Deutschland einreisen zu können. illegal in die Bundesrepublik eingereiste ara- — Das Auswärtige Amt hat alle deutschen Aus- bische Staatsangehörige von Terroristen er- landsvertretungen auf meine Veranlassung an fahrungsgemäß leicht erpreßt werden. -gewiesen, Sichtvermerke an Staatsangehörige der arabischen Staaten nur nach besonders sorg- — Auf Vorschlag der Bundesregierung hat sich fältiger Prüfung unter Anlegung eines strengen schließlich auch die Konferenz der Außenminister Maßstabes zu erteilen. der erweiterten europäischen Gemeinschaften am 12. September 1972 mit der Frage der ge- — Die Ein- und Ausreisekontrollen wurden erheb- meinsamen Bekämpfung des internationalen lich verschärft. Die Grenzdienststellen sind an- Terrorismus befaßt. Die Angelegenheit wird in gewiesen, bei der grenzpolizeilichen Kontrolle der Sitzung des „Politischen Komitees" am alle ein- und ausreisenden Araber zu erfassen 21. und 22. September 1972 in Den Haag und und eingehend fahndungsmäßig zu überprüfen. danach voraussichtlich auf der geplanten Kon- Jeder Araber, bei dem nicht ausgeschlossen wer- ferenz der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft den kann, daß er ein Sicherheitsrisiko darstellt, über Fragen der Zusammenarbeit auf dem Gebiet wird zurückgewiesen. der inneren Sicherheit behandelt werden. — Der Personen- und Objektschutz wurde erheb- lich verschärft. Er bezieht sich u. a. auf den Die Bundesregierung strebt dabei eine rasche Schutz der Auslandsvertretungen der Bundes- Behandlung mit dem Ziel einer verstärkten — auch republik und auf exponierte Persönlichkeiten in polizeilichen — Zusammenarbeit bei der Bekämp- der Bundesrepublik. Im Zuständigkeitsbereich fung terroristischer Aktionen an, ferner eine Ver- des Bundes wird er durch Kräfte des Bundeskri- besserung des Nachrichtenaustausches sowie eine minalamtes und des Bundesgrenzschutzes ausge- Koordinierung des Ausländerrechts und des Paß- führt. Nähere Einzelheiten möchte ich — wofür wesens. ich Sie um Verständnis bitte — im Interesse der Wirksamkeit nicht mitteilen. — Im Rahmen des Objektschutzes habe ich die obersten Bundesbehörden und die Länder am Anlage 5 7. September 1972 fernschriftlich um erhöhten behördlichen Selbstschutz gebeten. Bereits am Schriftliche Antwort 6. September 1972 hatte ich die Länder ersucht, alle israelischen und arabischen diplomatischen des Bundesministers Genscher vom 22. September und konsularischen Einrichtungen sowie Büros 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abgeordneten Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11821

Besatzungszone — d. h. die sogenannten 9 b-Häftlinge, die allein Dr. Slotta (SPD) (Drucksache VI/3783 Fragen A 18 wegen ihres persönlichen Einsatzes nach 1945 verschleppt worden und 19) : sind — unbedingt und auf die Dauer schlechter gestellt werden müssen als diejenigen, die Freiheit und Leben unter der braunen Ist die in der „Frankfurter Rundschau" vom 19/20. August 1972 Diktatur aufs Spiel gesetzt haben? veröffentlichte Meldung zutreffend, wonach die bisherige finan- zielle Unterstützung des Bundes für den Suchdienst des Deut- schen Roten Kreuzes in der Finanzplanung für 1973 gekürzt Bei der Beantwortung der Kleinen Anfrage am werden soll, und ist die Bundesregierung mit mir der Meinung, daß die bisher gewährte Unterstützung in voller Höhe beibehal- 20. August 1970 — BT-Drucksache VI/1119 — habe ten werden sollte, um eine Personaleinschränkung beim DRK- Suchdienst und damit eine zeitliche Streckung aller Nachforschun- ich darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung gen zu vermeiden? an der bisherigen Rechtsauffassung des Gesetz- Gedenkt die Bundesregierung, die bisher gewährte Unter- gebers zur Häftlingshilfe festhält, wonach die Bun- stützung in voller Höhe aufrechtzuerhalten und damit auch der Bitte des Verbands der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinder- desrepublik Deutschland für einen Freiheitsentzug ten und Sozialrentner Deutschlands (VDK) zu entsprechen? im Sinne des Häftlingshilfegesetzes nicht haftet. Diese Auffassung wurde von der damaligen Bun- Im Finanzplan des Bundes bis 1975 sind Zuwen- desregierung bei Erlaß des Häftlingshilfegesetzes dungen für die Erfüllung von Suchdienstaufgaben im Jahre 1955 und auch von den nachfolgenden des DRK und des Kirchlichen Suchdienstes in folgen- Bundesregierungen vertreten. In der Begründung der Höhe vorgesehen: zum Entwurf der 5. Novelle zum Häftlingshilfe- 1972 12,4 Mio. DM gesetz ist daher ausgeführt, daß das Bundesentschä- digungsgesetz eine in sich geschlossene Regelung 1973 9,1 Mio. DM darstellt. 1974 9,0 Mio. DM Gleichwohl hat sich die Bundesregierung nie der 1975 9,0 Mio. DM Tatsache verschlossen, daß zahlreiche politische Häftlinge ein besonders schweres Schicksal erlitten Eine Kürzung dieser Beträge ist nicht beabsichtigt. haben, unter dessen Auswirkungen sie heute noch Der Finanzplan des Bundes berücksichtigt unter stehen. Sie hat deshalb in ihrem Gesetzentwurf anderem, daß nach dem Bericht der Bundesregierung der 5. Novelle zum Häftlingshilfegesetz spürbare an den Herrn Präsidenten des Deutschen Bundes- Hilfen für die Betroffenen vorgeschlagen, die dann tages über die Fortführung der Suchdienstarbeiten bekanntlich von diesem Hohen Hause auch be- des DRK vom 21. Dezember 1967 (BT-Drucksache schlossen wurden, um einen angemessenen Aus- V/2435) in Übereinstimmung mit dem Gutachten des gleich für den durch ihr persönliches Verhalten ver- Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit in der ursachten Freiheitsentzug zu erwirken. Die zusätz- Verwaltung vom 22. Juni 1966 die aktive Such- lichen Eingliederungshilfen für Berechtigte nach diensttätigkeit bis Ende 1972 einen gewissen Ab- § 9 b des Gesetzes stehen nunmehr den entspre- schluß gefunden haben sollte. Entsprechendes gilt chenden Sätzen nach dem Bundesentschädigungs- für den Kirchlichen Suchdienst. gesetz annähernd gleich. Inzwischen hat der Präsident des Bundesrech- Es ist bekannt, daß die durch die 5. Novelle ge- nungshofes als Bundesbeauftragter für Wirtschaft- schaffenen Verbesserungen haushaltsrechtlich nur lichkeit in der Verwaltung in einer von Mitgliedern schwer durchsetzbar waren und sich nur durch eine des Deutschen Bundestages veranlaßten gutacht- Streckung der Auszahlung der Leistungen über lichen Stellungnahme vom 17. August 1972 die Fort- einen längeren Zeitraum ermöglichen lassen. Das führung der Suchdienstarbeiten in München in voraussichtliche Volumen dieser Novelle mit rd. ihrem bisherigen Umfange für die Dauer von wei- 140 Millionen Deutsche Mark ist fast achtmal so teren vier Jahren befürwortet. Hierüber wird bei groß wie das der 3. und 4. Novelle zu dem Gesetz den Beratungen über den Haushaltsentwurf 1973 aus dem Jahre 1969 zusammen. entschieden werden. Dabei müssen wegen des Sach- zusammenhangs auch der Suchdienst des DRK in Hamburg und der Kirchliche Suchdienst einbezogen werden. Anlage 7

Schriftliche Antwort

Anlage 6 des Bundesministers Genscher vom 22. September 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Schriftliche Antwort Riedel (Frankfurt) (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Frage A 21) : des Bundesministers Genscher vom 22. September Aus welchem Grunde hat die Bundesregierung — entgegen 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten ihrer Ankündigung auf die Schriftlichen Fragen der CDU/CSU- Abgeordneten Gerhard Kunz und Jürgen Wohlrabe (Anlagen 38 Riedel (Frankfurt) (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 und 40 des Stenographischen Berichts über die 170. Sitzung vom Frage A 20) : 4. Februar 1972, S. 9728) — in den §§ 2 bis 3 der Ersten Ver- ordnung über die Auszahlung von zusätzlichen Eingliederungs- Betrachtet die Bundesregierung das Fünfte Gesetz zur Ände- hilfen und Ausgleichsleistungen nach dem Häftlingshilfegesetz rung und Ergänzung des Häftlingshilfegesetzes vom 29. Juli 1971 vom 26. April 1972 (BGBl. I S. 745) schließlich doch nicht solchen (BGBl. I S. 1173) bereits als eine dem Bundesentschädigungs- am härtesten betroffenen politischen Häftlingen Prioritäten ein- gesetz vergleichbare Lösung — vgl. Bundesgesetz zur Entschädi- geräumt, die „im Gewahrsam gesundheitliche Schäden erlitten gung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung vom 29. Juni haben" oder „lange inhaftiert waren"? 1956 (BGBl. I S. 562) i. d. F. des BEG-Schlußgesetzes vom 14. Sep- tember 1965 (BGBl. I S. 1315, zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. August 1971 — BGBl. I S. 1426) —, oder aus welchem Grunde Wie sich aus der Beantwortung der Schriftlichen ist die Bundesregierung der Meinung, daß die ungefähr 17 000 Freiheitskämpfer unter der Roten Diktatur in der Sowjetischen Fragen der Herren Kollegen Kunz und Wohlrabe 11822 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

(Anlagen 38 und 40 zur 170. BT-Sitzung vom 4. Fe- Ausländer von den Ausländerbehörden der Länder bruar 1972 — S. 9728 f) ergibt, hätte die Bundes- aus dem Bundesgebiet ausgewiesen und abgescho- regierung gern den Personen, die „lange inhaftiert ben. waren", Priorität in der Ersten Verordnung über die Auszahlung von zusätzlichen Eingliederungshilfen und Ausgleichsleistungen nach dem Häftlingshilfege- setz vom 26. April 1972 (BGBl. 1972, I, S. 745 f) ein- geräumt. Ich habe aber damals auch darauf hinge- Anlage 9 wiesen, daß der Erlaß der Verordnung von den in Schriftliche Antwort den Ländern durchzuführenden Erhebungen zu ver- schiedenen Fragen abhängig sei. Die Erhebungen des Bundesministers Genscher vom 22. September zur Frage der Haftdauer verzögerten sich leider er- 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten heblich. Um die Verordnung nicht noch länger zu- Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) (Drucksache rückstellen zu müssen, wurde deshalb. der Punkt VI/3783 Frage A 23) : „lange Haftdauer" ausgeklammert. Er wird nunmehr Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung bisher keine in der Zweiten Verordnung berücksichtigt, die noch Maßnahmen gegen die nach ihren eigenen Angaben etwa 50 im Bundesgebiet bestehenden, zu terroristischen Betätigungen nei- in diesem Jahre erlassen werden wird. genden Ausländergruppen verschiedener Nationalität ergriffen? Die in Gewahrsam erlittenen Gesundheitsschäden sind in der Ersten Verordnung berücksichtigt, in- Es trifft nicht zu, daß die Bundesregierung bisher dem für Berechtigte, bei denen eine Minderung der keine Maßnahmen gegen ihr bekannte im Bundes- Erwerbsfähigkeit um mindestens 70 v. H. festge- gebiet bestehende, zu terroristischen Betätigungen stellt ist, die Einkommensgrenze als Vorausetzung neigende Ausländergruppen ergriffen habe. Ich ver- zur Gewährung der zusätzlichen Leistungen auf weise insoweit auf meine Ausführungen auf die 700 DM (bei den übrigen Berechtigten auf 500 DM) Frage des Herrn Kollegen Löffler. festgesetzt ist. Ich möchte allerdings dabei nicht unerwähnt las- sen, daß die lose Struktur und konspirative Tätig- keit der genannten Gruppen ihre Bekämpfung sehr erschwert. Anlage 8 Im übrigen kann bei der losen Struktur und der konspirativen Betätigung solchen Gruppen nicht Schriftliche Antwort wirkungsvoll mit vereinsrechtlichen Mitteln begeg- net werden. Es handelt sich bei diesen Gruppen in des Bundesministers Genscher vom 22. September der Regel nicht um festgefügte Organisationen, son- Dr. 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten dern nur um einzelne Aktivisten, so daß ein Ver- Schulz (Berlin) (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Frage einsverbot nahezu ins Leere ginge. Gleichwohl hält A 22) : die Bundesregierung vereinsrechtliche Maßnahmen Ist die Bundesregierung bereit, nach dem Blutbad in München und Fürstenfeldbruck sämtliche Aktivitäten palästinensischer für unentbehrliche Instrumente zur Sicherung un- Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland radikal zu unter- serer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Er- binden und alle Angehörigen arabischer Staaten, die auch nur entfernt im Verdacht terroristischer Neigungen und Umtriebe folgversprechender sind nach meiner Ansicht straf- stehen, auszuweisen? rechtliche und vor allem ausländerrechtliche Maß- nahmen wie Ausweisung und Abschiebung. Die Die Bundesregierung hat bereits in der Vergan- ausländerrechtlichen Maßnahmen obliegen den Län- genheit, besonders aber nach dem verabscheuungs- dern. Soweit Maßnahmen aus dem Bereich der würdigen Verbrechen in München und Fürstenfeld- Strafverfolgung in Frage kommen, verweise ich bruck besondere Maßnahmen zur Bekämpfung der darauf, daß hier die Möglichkeiten des Bundes be- terroristischen palästinensischen Gruppen ergriffen. grenzt sind. Der Bundesminister des Innern kann Wegen der Einzelheiten darf ich auf die Antwort das Bundeskriminalamt nach § 4 Abs. 2 Buchst. b zur Frage des Herrn Kollegen Löffler verweisen. Sie des Gesetzes über das Bundeskriminalamt nur in hat damit gezeigt, daß sie bereit und entschlossen Einzelfällen aus schwerwiegenden Gründen mit der ist, alle gesetzwidrigen Aktivitäten ausländischer Wahrnehmung der polizeilichen Aufgaben bei der Gruppen in der Bundesrepublik zu unterbinden. Strafverfolgung beauftragen. Zum zweiten Teil Ihrer Frage darf ich folgendes Ich habe hinsichtlich terroristischer Aktivitäten bemerken: Der Vollzug der Bestimmungen des Aus- arabischer Untergrundorganisationen nicht ge- ländergesetzes, also auch die Ausweisung, ist Sache zögert, von dieser Möglichkeit bis an die dem Bun- der Länder. Diese haben, wie ich schon ausgeführt deskriminalamt von seiner Aufgabenstellung und habe, auf der Innenministerkonferenz am 13. Sep- Kapazität her gesetzten Grenzen Gebrauch zu ma- tember 1972 erklärt, alle gesetzlichen Möglichkeiten chen. voll auszuschöpfen, um die öffentliche Sicherheit und Ich nenne folgende Fälle: Ordnung gegen Gewalttaten radikaler Ausländer zu schützen. Soweit über ausländische, also auch arabi- a) Sprengstoffanschlag auf die israelische Botschaft sche Staatsangehörige hinreichende und gerichtsver- (Auftrag vom 8. September 1969) wertbare Erkenntnisse vorliegen, die den Verdacht b) Geheimbündlerische und terroristische Betäti- einer Unterstützung oder Förderung terroristischer gung von Angehörigen arabischer Organi- Aktivitäten begründen, werden die betreffenden sationen (Auftrag vom 16. September 1970) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11823 c) Entführung eines Jumbo-Jets zum Nachteil der Anlage 12 Deutschen Lufthansa (Auftrag vom 24. Februar 1972). Schriftliche Antwort

Neben diesen Fällen, in denen das Bundeskrimi- des Bundesministers Genscher vom 22. September nalamt die polizeilichen Aufgaben bei der Straf- 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten verfolgung selbst wahrgenommen hat, ist das Bun- Dr. Jobst (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Frage deskriminalamt in anderen Fällen —,z. B. Brand- A 27): anschlag auf das jüdische Altersheim in München Trifft es zu, daß fast alle linksextremistischen Gruppen nach den Feststellungen der Sicherheitsorgane Beziehungen zu palästi- — nach § 4 a des Bundeskriminalamt-Gesetzes durch nensischen Gruppen unterhalten und zum Teil sogar im Guerilla- Entsendung von Kriminalbeamten zu der die Er- kampf geschult werden? mittlung führenden Polizeidienststelle des jeweili- gen Landes unterstützend tätig geworden. Es trifft nicht zu, daß „fast alle" linksextremisti- schen Gruppen Beziehungen zu palästinensischen Gruppen unterhalten. Nur bei einigen wenigen linksradikalen Vereinigungen konnten solche Kon- takte festgestellt werden. Anlage 10 Hinsichtlich einer Guerilla-Ausbildung von Ange- Schriftliche Antwort hörigen deutscher Gruppen durch palästinensische Widerstandsorganisationen liegen Erkenntnisse dar des Bundesministers Genscher vom 22. September über vor, daß im Sommer 1970 mehrere Mitglieder 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten der Baader-Meinhof-Bande in der Nähe von Amman Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) (Drucksache in Lagern arabischer Guerilla-Organisationen in VI/3783 Frage A 24) : subversiver Kampftätigkeit ausgebildet werden. Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung bis zum heu- tigen Tag keine Maßnahmen gegen die zehn im Bundesgebiet Anhaltspunkte dafür, daß in neuerer Zeit ähnliche tätigen palästinensischen Organisationen ergriffen, an ihrer Spitze „AL FATAH" mit ihren 36 Zweiggruppen und Kontakt- Schulungen deutscher Linksextremisten im Nahen stellen? Osten stattgefunden haben, liegen nicht vor.

Zur Beantwortung darf ich mich auch hier- auf meine Antwort auf die Frage des Herrn Kollegen Löffler sowie auf meine Ausführungen zu Ihrer ersten Frage beziehen. Die dort genannten Maß- Anlage 13 nahmen richteten und richten sich auch gegen palä- Schriftliche Antwort stinensische Organisationen, soweit sich diese ge- setzwidrig betätigen. des Bundesministers Genscher vom 22. September 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Dr. Arndt (Hamburg) (SPD) (Drucksache VI/3783 Frage A 28) : Anlage 11 Trifft die von einigen Presseorganen aufgestellte Behauptung zu, daß die Vorschußzahlungen, die Beamten, Richtern und Sol- daten seit Anfang 1972 auf vorgesehene Besoldungserhöhungen Schriftliche Antwort gewährt werden, ab 1. Januar 1973 zurückgezahlt werden müssen, wenn bis dahin eine gesetzliche Regelung nicht erfolgt ist? des Bundesministers Genscher vom 22. September 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abg. Dr. Milt- Der von der Bundesregierung eingebrachte Ent- ner (CDU/CSU) (DrucksacheVI/3783 Fragen A 25 wurf eines Ersten Gesetzes über die Erhöhung von und 26) : Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Trifft es zu, daß die Gruppe „Schwarzer September', die die Ländern (Drucksache VI/3169) ist nach Abschluß der Verantwortung für den Anschlag auf die israelische Olympia- Ausschußberatungen gestern von diesem Hause ver- Mannschaft übernommen hat, eine Unterorganisation der „AL FATAH" darstellt, und daß ihr Führer gleichzeitig Mitglied der abschiedet worden. Ich gehe davon aus, daß Ihre Führungsspitze der „AL FATAH" ist? Frage damit gegenstandslos geworden ist. Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse über eine enge Zu- sammenarbeit der palästinensischen Untergrundorganisation mit deutschen linksradikalen Organisationen vor? Nach den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden ist die Terrororganisation „Schwarzer September" Anlage 14 wahrscheinlich eine Unterorganisation der „AL FATAH". Die „AL FATAH" streitet dies ab. Der Schriftliche Antwort Anführer des „Schwarzen September" war nach den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden früher ein des Bundesministers Genscher vom 22. September führendes Mitglied der „AL FATAH". 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Weigl (CDU/CSU) (Drucksache V/3783 Frage A 29) :

Erkenntnisse darüber, daß deutsche linksradikale Besteht bei verheirateten Ausländern, die als Touristen ihren Ehepartner in der Bundesrepublik Deutschland besuchen und Vereinigungen mit der Untergrundorganisation denen während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutsch- „Schwarzer September" zusammenarbeiten, liegen land eine Arbeitsstelle und eine angemessene Wohnung ange- boten werden, für die Ausländerbehörde die Möglichkeit, eine nicht vor. Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, ohne daß die Betreffenden zum 11824 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Zwecke der Familienzusammenführung zunächst in ihr Heimatland zurückreisen und von dort aus ihre Anwerbung betreiben müs- Anlage 16 sen? Schriftliche Antwort Ausländer, die in der Bundesrepublik Deutschland des Bundesministers Genscher vom 22. September eine Erwerbstätigkeit aufnehmen wollen, benötigen 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten nach den geltenden ausländerrechtlichen Bestim- Dr. Giulini (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Frage mungen für die Einreise grundsätzlich eine vorher A 31): einzuholende Aufenthaltserlaubnis in der Form des Kann die Bundesregierung Auskunft geben, warum Auslands- Sichtvermerks oder eine von einer Anwerbekom- deutsche nicht wahlberechtigt sind? mission ausgestellte Legitimationskarte. Das gilt auch dann, wenn die Einreise zugleich der Zusam- Nach § 12 Abs. 2 des Bundeswahlgesetzes besitzen menführung der Familie dient. Angehörige des öffentlichen Dienstes, die auf An- ordnung ihres Dienstherrn ihren Wohnsitz oder Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach der dauernden Aufenthalt im Ausland genommen haben Einreise ist in diesen Fällen nur möglich, wenn der sowie die Angehörigen ihres Hausstandes seit jeher Ausländer die Einreisebestimmungen nicht schuld- die Wahlberechtigung zum Deutschen Bundestag. haft verletzt hat. Bei Touristen und Besuchsreisen- den, die bald nach der Einreise zu erkennen geben, Einer Beteiligung der übrigen Auslandsdeutschen daß sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen wollen, ohne inländischen Wohnsitz an Wahlen stehen, wie wird nach den vorliegenden Erfahrungen in den schon der im Jahre 1955 erstattete Bericht der vom meisten Fällen davon ausgegangen werden müssen, Bundesminister des Innern eingesetzten Wahlrechts- daß dies von vornherein der Einreisezweck gewesen kommission festgestellt hat, insbesondere politische, ist. Die nachträgliche Erteilung einer Aufenthalts- völkerrechtliche und praktische Gesichtspunkte ent- erlaubnis dürfte daher nur in Ausnahmefällen in gegen. Betracht kommen. Bundesregierung wie Bundestag haben in der Er- kenntnis, daß der gegenwärtige Rechtszustand we- nig befriedigend ist, die Ausdehnung des aktiven Wahlrechts auf einzelne Gruppen von im Ausland lebenden Deutschen vorgeschlagen. Ich darf hier nur auf die gesetzgeberischen Vorhaben in der 5. und in Anlage 15 der laufenden Legislaturperiode hinweisen: — Ein Initiativ-Gesetzentwurf im Jahre 1968 sah Schriftliche Antwort die Ausdehnung des aktiven Wahlrechts auf „Be- dienstete zwischen- oder überstaatlicher Organi- des Bundesministers Genscher vom 22. September sationen für die Dauer ihres Dienstverhältnisses" 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten vor. Engelsberger (CDU/CSU) (Drucksache W3783 Frage — In einer Initiative des Ausschusses für Entwick- A 30) : lungshilfe im Jahre 1969 wurde die Ausweitung Wie ist die Feststellung des Bundeskanzlers während eines des aktiven Wahlrechts auf Entwicklungshelfer Informationsgesprächs mit Journalisten, das Bundesinnenministe- rium sei von den bayerischen Sicherheitsbehörden nicht in ge- für die Zeiten des Entwicklungsdienstes gefor- nügender Weise an den Beratungen über das Vorgehen der Polizei beteiligt worden, vereinbar mit der wiederholten Be- dert. teuerung von Bundesinnenminister Genscher, lückenlos an den Beratungen des Krisenstabs teilgenommen zu haben, und mußte Beide Bemühungen sind nach Anrufung des Ver- die Bundesregierung auf Grund der außenpolitischen Zusammen- hänge nicht sowieso zwingend an der Lagebesprechung teilneh- mittlungsausschusses durch den Bundesrat geschei- men und damit auch die Verantwortung für die gescheiterte Be- tert. freiungsaktion mitübernehmen, zumal Regierungssprecher Ahlers nach dem scheinbaren Erfolg noch erklärt hatte, daß es der „feste Wille der Bundesregierung" gewesen sei, die Terroristen mit Die Bundesregierung hat den Gesamtkomplex in ihren Opfern ,nicht zum Abflug kommen zu lassen"? dieser Wahlperiode erneut überprüft und im Rah- men des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Nach Rücksprache mit und im Auftrag von Bun- Bundeswahlgesetzes Anfang dieses Jahres eine neue deskanzler Brandt habe ich am 7. September 1972 Initiative entfaltet. Diese sah die Verleihung des erklärt, die Meldungen über eine angebliche Kritik aktiven Wahlrechts an alle in den europäischen Ge- des Bundeskanzlers an dem Vorgehen der bayeri- bieten der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen schen Polizei und dem Verhalten der bayerischen Gemeinschaften lebenden Deutschen vor. Behörden sei eine irreführende Wiedergabe eines Die Bundesregierung ist jedoch mit ihren Vorstel- Hintergrundgesprächs. lungen nicht durchgedrungen. Nach Einwendungen des Bundesrates hat sich der Deutsche Bundestag am Darüber hinaus sei es falsch, daß der Bundeskanz- 9. Juni 1972 gegen die vorgesehene Erweiterung des ler den Einsatz des Bundeskriminalamts angeboten Kreises der Wahlberechtigten ausgesprochen, im we- hätte und das Vertretern des Innenministeriums im sentlichen mit der Begründung, die verfassungs- und Laufe des Dienstags der Zugang zu den Beratungen europapolitischen sowie die verfassungsrechtlichen verweigert worden sei. Aspekte einer solchen Regelung seien noch nicht hinreichend geklärt. Im übrigen habe der Bundeskanzler sich für eine Unterstützung zur Aufklärung des Sachverhalts In einer Entschließung vom gleichen Tag ist die durch die zuständigen Behörden ausgesprochen. Bundesregierung jedoch ersucht worden, Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11825

die Problematik um die Ausweitung des Wahl- Anlage 18 rechts unter Berücksichtigung der Entwicklung in den übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Schriftliche Antwort Gemeinschaften weiter zu untersuchen und den gesetzgebenden Körperschaften eine befriedi- des Bundesministers Genscher vom 22. September gende Lösung zu unterbreiten. 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Wohlrabe (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Frage A 34) :

Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über die Zu- sammenarbeit linksradikaler deutscher Studenten und Jugend- organisationen mit militanten palästinensischen Gruppen vor? Anlage 17 Seit Beginn der „Palästina-Kampagne" der radi- Schriftliche Antwort kalen Neuen Linken im Sommer 1969, die sich gegen des Bundesministers Genscher vom 22. September den als „rassistisch und zionistisch" bezeichneten Staat Israel richtet und überwiegend von Studenten 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abgeordneten getragen wird, sind in mehreren Universitätsstädten Schulhoff (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Fragen der Bundesrepublik sogenannte „Palästinakomitees" A. 32 und 33) : gegründet worden. Über diese Komitees, aber auch Trifft es zu, daß die vom Referat Öffentlichkeitsarbeit des Bun- auf andere Weise ist es zu einer Zusammenarbeit desministeriums des Innern herausgegebene Broschüre „Erklärung der Bundesregierung zur Inneren Sicherheit" an etwa 110 000 zwischen linksradikalen deutschen Studenten und vorwiegend mittelständische Adressaten (freiberufliche Akade- miker, Selbständige, Lehrer etc.) versandt worden ist und die für palästinensischen Gruppen gekommen. Diese Zu- die Herstellung und Versendung der Broschüre verwendeten sammenarbeit erstreckte sich auf den Bezug größerer Haushaltsmittel die Summe von 70 000 DM übersteigen? Mengen von Schriften palästinensischer Gruppen Aus welchen Gründen hat der Bundesminister des Innern die genannte Broschüre zu diesem Zeitpunkt gerade an diesen Per- durch deutsche Studenten, auf gemeinsame Demon- sonenkreis versenden lassen? strationen und Aktionen und auf gelegentliche Rei- sen deutscher Studenten in arabische Länder. Die „Erklärung der Bundesregierung zur Inneren Es sind auch Informationen darüber vorhanden, Sicherheit", die ich am 7. Juni 1972 vor dem Hohen daß Mitglieder deutscher anarchistischer Vereini- Hause abzugeben die Ehre hatte, ist aufgrund star- gungen Kontakte zu Arabern im Bundesgebiet hat- ker Nachfrage in der Öffentlichkeit von meinem ten, um von den Arabern Waffen und Sprengmittel Referat Öffentlichkeitsarbeit zunächst in 44 000 zu beziehen. Einige der deutschen Kontaktpersonen Exemplaren und als diese nach wenigen Tagen konnten, insbesondere soweit sie der Baader-Mein- vergriffen waren — in weiteren 120 000 Exemplaren hof-Bande angehörten, inzwischen festgenommen hergestellt worden. werden. Ihre Frage bezieht sich offenbar auf diese zweite Weitere Einzelheiten können öffentlich nicht be- Auflage. Davon sind 110 000 Exemplare im Einzel- kanntgegeben werden. Ich bin jedoch bereit, dem versand verteilt worden. Parlamentarischen Vertrauensmännergremium für die Nachrichtendienste weitere Auskunft zu ertei- Bei der Bestimmung der Zielgruppen für den len, wenn das gewünscht wird. Einzelhandel bemüht man sich normalerweise so- genannte Multiplikatoren, also Meinungsbildner, und Personen, von denen man aufgrund ihres Be- rufs oder ihrer Ausbildung ein spezielles Interesse erwarten kann, herauszufinden. So ist auch hier Anlage 19 verfahren worden. Es kam zu drei Zielgruppen: Schriftliche Antwort 1. Leitende Personen Wirtschaft 2. Rechtsanwälte und Notare des Parlamentarischen Staatssekretärs Offergeld vom 22. September 1972 auf die Mündliche Frage 3. Steuer- und wirtschaftsberatende Berufe. des Abgeordneten Dr. Dübber (SPD) (Drucksache Der Druckauftrag für die Broschüre ist bereits am VI/3783 Frage A 57): 9. Juni, also zwei Tage nach Abgabe der Regierungs- Hält die Bundesregierung die fortdauernde Belegung betrieb- licher Hinterbliebenenrenten mit Erbschaftsteuer noch für zeit- erklärung, erteilt worden. Sie werden sich erinnern, gemäß und sozial gerecht, oder warum hat sie dieses Problem aus welchem Anlaß diese Erklärung abgegeben nicht in ihrem Sozialbericht 1972 erwähnt? worden war. Ich hielt und halte es für erforderlich, der Öffentlichkeit den vollständigen Text einer aus Wie mein Kollege Hermsdorf bei der Antwort auf solchem Anlaß abgegebenen Regierungserklärung die mündliche Anfrage des Kollegen Luda am 3. 3. zugänglich zu machen. In diesem Fall mit einem be- d. J. erklärt hat, hält die Bundesregierung den ge- sonders guten Gewissen, weil der Führer der Oppo- .genwärtigen Rechtszustand, nach dem vertragliche sition der Erklärung in der Debatte vom 7. Juni doch Hinterbliebenenbezüge, also auch betriebliche Hin- immerhin das Prädikat „beachtlich" erteilt hat. terbliebenenrenten, erbschaftsteuerpflichtig sind, Versorgungsbezüge aufgrund eigenen Rechtsan- Es trifft zu, daß die Kosten des Einzelversands spruchs der Erbschaftsteuer dagegen nicht unter- der Broschüre die Summe von 70 000 DM über- liegen, für unbefriedigend. Im Entwurf eines Zweiten steigen. Steuerreformgesetzes hat die Bundesregierung da- 11826 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 her vorgesehen, dem überlebenden Ehegatten künf- Bundestag aus zeitlichen Gründen nicht mehr ver- tig neben dem allgemeinen Freibetrag von 250 000 abschiedet werden können. Sie wissen, daß dem DM einen zusätzlichen besonderen Versorgungs- Bundestag ohnehin eine Vielzahl von Gesetzent- freibetrag in Höhe von gleichfalls 250 000 DM zu würfen zur Beschlußfassung vorliegen, die wegen gewähren. Durch die dem überlebenden Ehegatten der eingetretenen parlamentarischen Situation nicht damit zustehenden Freibeträge in Höhe von insge- mehr erledigt werden können. samt 500 000 DM soll erreicht werden, daß eine be- sondere steuerliche Belastung wegen der vertrag- lichen und damit auch der betrieblichen Hinterblie- benenbezüge nur noch in ganz seltenen Fällen ein- treten wird. Die Bundesregierung gibt dieser Lösung Anlage 21 den Vorzug gegenüber einer Regelung, die lediglich Schriftliche Antwort die vertraglichen Hinterbliebenenbezüge von der Erbschaftsteuer befreit, da die Neuregelung allen des Bundesministers Dr. von Dohnanyi vom 22. Sep- Hinterbliebenen zugute kommt, also auch denen, tember 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abge- die ihre Versorgung aus den Erträgen oder dem ordneten Lenzer (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Verbrauch des ererbten Vermögens sicherstellen Fragen A 91 und 92) : müssen. Wieviel Gutachten und Studien wurden vom Bundesministerium Ich darf ergänzend darauf hinweisen, daß für be- für Bildung und Wissenschaft mit welchen Bewilligungsgeldern seit 1969 vergeben? triebliche Hinterbliebenenbezüge gegenwärtig be- Welche Gründe sind im allgemeinen für die Vergabe von Gut- sondere Billigkeitsregelungen der Länder bestehen. achten maßgebend, und wie werden die Gutachten im Bundes- Diese sind in dieser Legislaturperiode in Zusammen- ministerium für Bildung und Wissenschaft ausgewertet? arbeit mit dem Bund erheblich ausgedehnt worden. Die seit 1961 bestehende Regelung, nach der für die Zu Frage 91: Witwe jährliche Beträge in Höhe von 5000 DM und In dieser Legislaturperiode bis einschließlich für jedes Kind van 1500 DM erbschaftsteuerfrei 1. Quartal 1972 wurden 176 Studien und Gutachten waren, wurde 1970 auf 8000 DM für die Witwe und vom Bundesministerium für Bildung und Wissen- 2500 DM für jedes Kind angehoben. schaft vergeben. Für diese Studien und Gutachten Zum zweiten Teil Ihrer Frage, warum die Bundes- wurden insgesamt 27 262 260,00 DM bewilligt. regierung das Problem der Erbschaftbesteuerung be- Außerdem sind für Einzelstudien auf dem Gebiet trieblicher Hinterbliebenenrenten nicht im Sozialbe- der Dokumentation insgesamt 55 900,00 DM be- richt 1972 behandelt hat, möchte ich darauf hinwei- willigt worden. sen, daß der Entwurf des Zweiten Steuerreformge- Zu Frage 92: setzes bereits am 1. März d. J. von der Bundesregie- rung beschlossen und am 4. Mai dem Bundestag zu- Gutachten werden vergeben, wenn das Ministe- geleitet worden ist. Eine besondere Ansprache des rium den Sachverstand im Lande für die Lösung von Problems im Sozialbericht 1972 erschien deshalb Problemen einsetzen will. Dies erscheint der Bun- nicht mehr erforderlich. desregierung besser als ein Aufblähen der Bundes- verwaltung. Die Gutachten werden zur Lösung der Probleme ausgewertet.

Anlage 20

Schriftliche Antwort Anlage 22 des Parlamentarischen Staatssekretärs Offergeld Schriftliche Antwort vom 19. September 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Neemann (SPD) (Drucksache des Bundesministers Dr. von Dohnanyi vom 22. Sep- VI/3783 Frage A 59) : tember 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abge-

Beabsichtigt die Bundesregierung, die Geltungsdauer der §§ 25 ordneten Pfeifer (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 udn 26 des Umwandlungs-Steuergesetzes über den 31. Dezember Fragen A 93 und 94) : 1972 hinaus zu verlängern? Wie beurteilt die Bundesregierung angesichts früherer Äuße- rungen der Bundesminister Prof. Dr. Leussink und Dr. von Die Bundesregierung hat nicht die Absicht, den Dohnanyi, bis 1975 werde es — abgesehen von der Fachrichtung Medizin — an den deutschen Hochschulen keinen Numerus gesetzgebenden Körperschaften einen Gesetzent- clausus mehr geben, die neuesten Feststellungen der West- deutschen Rektorenkonferenz, die Zulassungschancen für Studien- wurf vorzulegen, der die Verlängerung der in den bewerber, die im kommenden Semester eines der in das zentrale §§ 25 und 26 des Umwandlungs-Steuergesetzes ent- Registrierverfahren einbezogenen Fächer belegen wollen, hätten haltenen Fristen vorsieht. sich gegenüber dem Vorjahr weiter verschlechtert? Worauf führt die Bundesregierung diese neuerliche Verschlech- Ganz abgesehen von der Frage, ob sich für eine terung der Studienchancen für die Abiturienten zurück, und hält sie noch an ihren Versprechungen fest, bis 1975 werde der solche Verlängerung überhaupt gute Gründe finden Numerus clausus in allen Fachrichtungen mit Ausnahme des ließen, hält es die Bundesregierung angesichts der Fachs Medizin beseitigt sein? vorzeitig zu Ende gehenden Legislaturperiode nicht für sinnvoll, jetzt noch Gesetzesvorlagen einzubrin- Die Bundesregierung hat nie davon gesprochen, gen, von denen anzunehmen ist, daß sie durch den daß es bis 1975 keinen Numerus clausus an den Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11827

Hochschulen mehr geben wird, sondern hat im Ge- Anlage 23 genteil immer darauf aufmerksam gemacht, daß trotz aller Anstrengungen von Bund und Ländern Schriftliche Antwort nicht ausgeschlossen werden kann, daß sich im des Bundesministers Dr. von Dohnanyi vom 22. Sep- Planungszeitraum von 1972 bis 1975 in Einzelstu- tember 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abge- diengängen auch weiterhin Engpässe ergeben wer- ordneten von Bockelberg (CDU/CSU) (Drucksache den; ich verweise hierzu insbesondere auf die Be- VI/3783 Fragen A 95 und 96) : richte über Sofortmaßnahmen über den Abbau des Wie groß ist die Zahl der Studierenden aus den arabischen Numerus clausus vom Oktober 1970 und Februar Ländern an den Wissenschaftlichen Hochschulen in der Bundes- 1972. republik Deutschland, und welchen Anteil an dieser Zahl haben die einzelnen arabischen Länder? Die gegenwärtigen Zulassungsbeschränkungen Wie groß ist die Zahl der an Wissenschaftlichen Hochschulen oder Fachbereichen mit Numerus clausus Studierenden aus an den Hochschulen sind nicht zuletzt das Ergeb- arabischen Ländern, und welchen Anteil an dieser Zahl haben nis der Versäumnisse früherer Bundesregierungen, die einzelnen Disziplinen? die ihre Verantwortung zur Förderung von Bildung und Wissenschaft, die auch vor den Verfassungs- Zu Frage 95: änderungen vom Mai 1969 auf Grund des Artikels Die Zahl der an wissenschaftlichen Hochschulen 20 GG (Sozialstaatsprinzip) sowie von Artikel 74 Studierenden aus arabischen Ländern betrug im Ziff. 13 GG geboten und möglich gewesen wäre, Wintersemester 1969/70 insgesamt 2557 und im nicht wahrgenommen hat. Wintersemester 1970/71 2552.

In den Beratungen zum Bundeshaushalt 1966 hat Davon entfallen auf: die sozialdemokratische Fraktion auf die Notwen- Winter Winter digkeit des verstärkten Hochschulausbaus nach- semester semester drücklich hingewiesen und bewirkt, daß Bundesaus- 1969/70 1970/71 gaben für den Hochschulausbau gegenüber der Regierungsvorlage um fast 80 Mio. DM erhöht wor- Ägypten (VAR) 538 545 den sind. Die damalige Bundesregierung hatte also Algerien 19 20 schon zu dieser Zeit die Dringlichkeit des Hoch- schulausbaus und die Entwicklung der Studenten- Irak 330 318 - zahlen verkannt (vgl. BT-Drucksache V/2153 — Loh- Jemen 6 6 mar — und V/2156 — Stoltenberg —). Jordanien 385 396 Bezeichnend dafür ist auch, daß 1969, also im letz- Kuwait 2 4 ten Jahr der vorherigen Bundesregierung, die Aus- gaben für den Hochschulausbau gegenüber dem Libanon 134 138 Vorjahr nicht nur nicht gesteigert, sondern zurück- Libyen 120 138 gegangen sind, nämlich um rd. 26 Mio. DM, obgleich sich schon 1969 deutlich zeigte, daß nur mit massi- Marokko 52 58 ven und schnellen Maßnahmen die wachsenden Stu- Saudi-Arabien 185 159 dentenzahlen zu bewältigen sein würden. Sudan 45 51 Unmittelbar nach Antritt dieser Bundesregierung Syrien 597 564 ist deshalb der Ausbau beschleunigt und das Aus- bauvolumen, insbesondere durch das Schnellbaupro- Tunesien 144 155 gramm, ganz erheblich gesteigert worden. Die Bun- desausgaben stiegen von 616 Mio. DM im Jahre Zu Frage 96: 1969 auf rd. 939 Mio. DM im Jahre 1970 und 1270 Die Zahl der Studierenden aus arabischen Län- Mio DM im Jahre 1971. Für 1972 sind rd. 1,6 Mrd. dern an Fachbereichen mit Numerus clausus beträgt DM vorgesehen. etwa 920 Personen. Allen diesen Bemühungen der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Ländern ist es zu ver- Der Anteil der auf einzelne Fachbereiche ent- danken, daß im Jahre 1972 97 000 Studenten gegen- fallenden Studierenden beträgt etwa: über 1970 mehr einen Studienplatz erhalten können; Winter Winter demgegenüber gab es von 1968 bis 1970 nur zusätz- semester semester lich 72 000 Studenten und von 1966 bis 1968 nur 1969/70 1970/71 33 000 Studenten zusätzlich. Allgemeine Medizin 644 621 Bis 1976 werden zusätzlich 240 000 Studienplätze geschaffen werden, selbst bei Berücksichtigung der Biologie 54 54 Preissteigerungen. Dies setzt allerdings voraus, daß Chemie 180 172 die CDU/CSU in Bund und Ländern bereit ist, bei 36 45 den notwendigen strukturellen Reformen mitzuwir- Pharmazie ken, damit gewährleistet ist, daß die für den Hoch- Sonstige Fachbereiche 29 28 schulausbau zur Verfügung stehenden enormen Mit- 943 920 tel so effektiv und rationell wie möglich eingesetzt werden können. Der Anteil ist also rückläufig. 11828 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Anlage 24 19. 9. 1972 — habe ich darauf aufmerksam ge- macht, daß für die Bundesregierung die Sicher- Schriftliche Antwort heit der Bevölkerung immer Vorrang vor der Förderung der Kernenergie genießt, eine Auffas- des Bundesministers Dr. von Dohnanyi vom 22. Sep- sung, die schon als Grundsatz im Atomgesetz ver- tember 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abge- ankert ist und die kürzlich das Bundesverwal- ordneten Corterier (SPD) (Drucksache VI/3783 Fra- tungsgericht im Würgassen-Urteil vom 16. 3. gen A 97 und 98) : 1972 deutlich unterstrichen hat. Ist der in den letzten Wochen in verschiedenen Zeitungen ver- öffentlichte Katastrophenschutzplan für das Kernforschungs- Die Bundesregierung wird im Rahmen ihrer zentrum Karlsruhe mit dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft abgestimmt worden, und ist die Bundesregierung Zuständigkeit die Länder bei der Katastro- der Ansicht, daß dieser Plan und insbesondere das darin vorge- phenabwehr stets unterstützen. Zu diesem sehene Verbleiben der betroffenen Menschen in dem verseuchten Gebiet den optimalen Schutz für die Bevölkerung gewährleistet? Zwecke hat sie bereits vor Jahren die Errichtung Trifft eine Meldung der Stuttgarter Zeitung vom 24. August des Kerntechnischen Hilfszuges — Standort bei 1972 zu, Bundesminister von Dohnanyi habe erklärt, das von den Pfalzwerken Ludwigshafen geplante Großkraftwerk in Wörth dem Kernforschungszentrum Karlsruhe — ermög- gegenüber dem Karlsruher Rheinufer habe „unter den gegen- licht und gemeinsam mit dem BMJFG eine Sach- wärtigen Bedingungen durchaus Aussicht auf Genehmigung" durch das zuständige Bundesministerium für Bildung und Wis- verständigenkommission eingesetzt, die soge- senschaft, und ist die Befürchtung der in der ,,Rheintal-Aktion" nannte „Notfallschutz-Richtwerte" erarbeitet zusammengeschlossenen Umweltschutzbürgerinitiativen berech- tigt, daß durch das Projekt in Wörth und die außerdem auf hat. Zweck dieser Richtwerte ist es, der Katastro- deutscher und französischer Seite geplanten oder bereits in Bau befindlichen Kernkraftwerke in der Oberrheinebene die größte pheneinsatzleitung Empfehlungen für die zu tref- Konzentration von Kernkraftwerken auf der Welt mit unabseh- fenden Maßnahmen bei Überschreitung gewis- baren Gefahren für die Umwelt entstehen könnte? ser Strahlendosen zu geben.

Zu Frage 97: Zu Frage 98: a) Die Katastrophenabwehr einschließlich ihrer Pla- Der Bundesregierung ist bekannt, daß die Pfalz- nung ist nicht Sache der Länder im Auftrage werke Ludwigshafen Pläne für den Bau eines Kraft- des Bundes, sondern eigene Angelegenheit der werks auf einem linksrheinischen Gelände in der Länder, der Bund hat insoweit keine Kompetenz. Gemarkung Neupotz haben. Es ist bisher jedoch Der Katastrophenabwehrplan der GfK ist weder noch nicht entschieden, ob ein solches Kraftwerk als vor 1962 noch danach — auch nicht nach- 1970 — fossil befeuerte Anlage oder als Kernkraftwerk mit dem Minister abgestimmt worden. entstehen soll. Ein Antrag auf Erteilung eines Stand- b) Im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren ortvorbescheides oder einer Baugenehmigung nach kann eine Genehmigung u. a. nur erteilt werden, dem Atomgesetz liegt bisher nicht vor. wenn die nach dem Stand von Wissenschaft und Bei einem Zusammentreffen mit dem Aufsichts- Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden rat der Pfalzwerke habe ich Verständnis für die durch die Errichtung und den Betrieb der Anlage Befürchtungen der Rheintalaktion geäußert, daß die getroffen ist (vgl. z. B. § 7 Abs. 2 Nr. 2 des Häufung von Kraftwerken in der Oberrheinebene Atomgesetzes). Demgegenüber steht die aus- einer besonders sorgfältigen Prüfung bedarf, insbe- schließliche Zuständigkeit des Landes für die Ka- sondere im Hinblick auf die thermischen Effekte tastrophenabwehr aufgrund der allgemeinen Be- (Abwärme). Dabei ist es selbstverständlich, daß stimmungen. nicht nur jede Anlage getrennt für sich betrachtet c) Beim Zusammenwirken der atomrechtlichen Be- wird, sondern daß auch mögliche Wechselwirkungen hörden des Landes und der für die Katastrophen- mehrerer Projekte untersucht werden. abwehr zuständigen Landesbehörden wird der Die von Ihnen zitierte Aussage bedeutet, daß Katastrophenschutzplan auf Landesebene abge- bisher keine Tatsachen bekannt sind, die eine stimmt. Genehmigung eines Kernkraftwerkes von vornher- d) Der Katastrophenschutzplan sieht, je nach den ein ausschließen würden. Eine konkrete Aussage gebotenen Notwendigkeiten und dem Ausmaß über den Ausgang eines atomrechtlichen Genehmi- des Schadens verschiedene Stufen von Maßnah- gungsverfahrens ist daraus nicht abzuleiten, weil men vor, darunter u. a. das Verbleiben der Be- dazu erst, entsprechend den Vorschriften des Atom- völkerung in dem betroffenen Gebiet mit vor, gesetzes, die umfassenden Prüfungen der Geneh- wenn der Umfang der Strahlenbelastung in migungsvoraussetzungen unter Einschaltung aller keinem Verhältnis zu den Gefahren einer vor- zuständigen Behörden abgewartet werden müßten. eiligen und überstürzten Räumung des Gebietes stünden. e) Ergibt das Ausmaß der Katastrophe eine andere Würdigung durch die Katastropheneinsatzlei- tung, so wird sie weitere Maßnahmen, insbe- Anlage 25 sondere auch die vorübergehende Räumung des Gebietes vorsehen können. Auf diese Möglich- Schriftliche Antwort keiten und Umstände nimmt jeder Katastrophen- des Bundesministers Dr. von Dohnanyi vom 22. Sep- plan Rücksicht. tember 1972 auf die Mündlichen Fragen des Ab- Schon mehrmals — zuletzt anläßlich der Konsti geordneten Dr. Kotowski (CDU/CSU) (Drucksache tuierung des Kerntechnischen Ausschusses am VI/3783 Fragen A 99 und 100) : Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11829

Welche Gründe haben die Bundesregierung veranlaßt, den finanziellen Beitrag für INTERDOC (International Documentation Anlage 27 and Information Centre) zu streichen? Schriftliche Antwort Ist der Bundesregierung bekannt, daß die Publikationen von INTERDOC auf hohem wissenschaftlichen Niveau und unter Mitarbeit prominenter Gelehrter aus vielen Staaten erarbeitet des Bundesministers Genscher vom 21. September werden? 1972 auf die Schriftlichen Fragen des Abgeordneten Berger (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Fragen B Zu Frage 99: 2 und 3) :

Welche Gründe haben die Bundesregierung veranlaßt, den INTERDOC (International Documentation and Entwurf eines geänderten Bundespersonalvertretungsgesetzes dem Deutschen Bundestag nicht entsprechend dessen einstimmi- Information Center) hat in den vergangenen Jahren gem Ersuchen bis zum 31. August 1970, sondern erst im August mit einer Gruppe von Wissenschaftlern zusammen- 1972 vorzulegen? gearbeitet, die mit finanzieller Unterstützung des Beabsichtigt die Bundesregierung im Hinblick darauf, daß die Auswärtigen Amtes eine vergleichende Enzyklopä- in Erwartung des neuen Gesetzes bereits verlängerte Amtszeit der Personalräte im Bundesdienst am 30. April 1973 abläuft, dem die „Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft" Deutschen Bundestag eine nochmalige gesetzliche Verlängerung der Amtszeit vorzuschlagen, oder ist sie der Auffassung, daß die erarbeitet hat. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit nach dem 1. Mai 1973 neu zu bildenden Personalvertretungen sind Beiträge an INTERDOC gezahlt worden. nunmehr doch nach „altem" Recht gewählt werden sollen?

Die Enzyklopädie ist jetzt fertiggestellt. Den 1. Der in der Entschließung des Deutschen Bundes- Wissenschaftlern der Arbeitsgruppe wird durch Bei- tages vom 27. Februar 1970 für die Einbringung hilfen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) einer Novelle zum Personalvertretungsgesetz ge- weiterhin eine wissenschaftliche Tätigkeit ermög- nannte Termin konnte wegen des Sachzusammen- licht. Nach der Satzung und den Richtlinien der DFG hangs dieses Gesetzgebungsvorhabens mit der eben- sowie nach der Zweckbestimmung der Finanzmittel falls anstehenden Reform des Betriebsverfassungs- meines Ministeriums ist es allerdings nicht möglich, gesetzes nicht eingehalten werden. Darauf habe ich weitere Beiträge an INTERDOC zu zahlen. in meinem Schreiben an den Präsidenten des Deut- schen Bundestages vom 20. August 1970 — D I 2 — 212 100/8 — hingewiesen. Zu Frage 100: Die Schwierigkeit der Materie, die auch in den zu Der Bundesregierung ist die wissenschaftliche einem großen Teil kontroversen Forderungen der Qualifikation der Publikationen von INTERDOC Gewerkschaften zum Ausdruck kommt, haben den bekannt. Weitere Beiträge können aber, wie zu Deutschen Bundestag veranlaßt, mit einer längeren A 99 dargelegt, aus rechtlichen und haushaltstech- Frist für die Neuordnung des Personalvertretungs- nischen Gründen nicht gezahlt werden. rechts zu rechnen. Dies ergibt sich daraus, daß er auf Initiative der drei Fraktionen durch das soge- nannte Vorschaltgesetz vom 5. August 1971 die Amtszeit der derzeitigen Personalvertretungen bis zum 30. April 1973 verlängerte. Eine rechtzeitige Verabschiedung des neuen Bundespersonalvertre- tungsgesetzes vor diesem Termin wäre ohne die Anlage 26 nicht vorherzusehende Abkürzung der laufenden Legislaturperiode sicherlich möglich gewesen. Meine Schriftliche Antwort Bemühungen, eine abschließende Beratung des Ge- setzentwurfs noch vor der voraussichtlichen Auflö- des Bundesministers Dr. Ehmke vom 18. September sung des Deutschen Bundestages zu erreichen, sind 1972 auf die Schriftliche Frage des Abgeordneten leider erfolglos geblieben. Ich rechne aber damit, daß Dr. Wittmann (München) (CDU/CSU) (Drucksache der Entwurf zu einem möglichst frühen Zeitpunkt im VI/3783 Frage B 1): neuen Deutschen Bundestag wieder eingebracht wird. Ist die Bundesregierung bereit, den seinerzeitigen Brief des ehemaligen Bundesministers der Finanzen, Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. 2. Ich beabsichtige nicht, eine weitere Verlänge- Alex Möller, der Offentlichkeit zugänglich zu machen, mit dem rung der bis zum 30. April 1973 verlängerten Amts- dieser seinen Rücktritt begründet hat? zeit der Personalvertretungen durch ein zweites Vorschaltgesetz vorzuschlagen. Ihr Frage ist von der Bundesregierung bereits be- Eine nochmalige Verlängerung der Amtszeit der antwortet worden. In der Antwort der Bundesregie- Personalräte durch Gesetz würden den das Mandat rung auf die Große Anfrage der Fraktion der CDU/ CSU betr. finanz- und währungspolitische Absichten tragenden Wählerwillen vernachlässigen. Aus Zweckmäßigkeitserwägungen mag eine Verlänge- der Regierung wird zu Frage 2 mitgeteilt, daß eine rung von verhältnismäßig kurzer Dauer hingenom- Veröffentlichung des Schreibens von Herrn Dr. Möl- men werden. Eine Ausschaltung der Wählerent- ler an den Herrn Bundeskanzler nicht beabsichtigt ist (Bundestagsdrucksache VI/2326). Der Herr Bundes- scheidung für einen längeren Zeitraum wäre aber kanzler hat diese Antwort in der Bundestagssitzung mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar. am 23. Juni 1971 erläutert (vgl. Protokoll über die Auch praktische Erwägungen sprechen gegen eine 130. Sitzung des Deutschen Bundestages, Seite 7517). weitere Verlängerung der Amtszeit. Schon jetzt ha- An dem Sachstand hat sich nichts geändert. ben viele Personalvertretungen nicht mehr ihre ur- 11830 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 sprüngliche Stärke, weil nach dem Ausscheiden von Auf meine Veranlassung hat das Auswärtige Amt Mitgliedern infolge der üblichen Personalfluktuation die deutschen Auslandsvertretungen und Konsulate die Wahlvorschlagslisten erschöpft sind und daher angewiesen, Sichtvermerke an Staatsangehörige der Ersatzmitglieder nicht mehr eintreten können. Diese arabischen Staaten nur nach besonders sorgfältiger Entwicklung würde sich bei einer nochmaligen Ver- Prüfung unter Anlegung eines strengen Maßstabes längerung der Amtszeit verstärken. zu erteilen. Im Zweifelsfall ist der Sichtvermerk zu Ich halte es daher für richtiger, im kommenden versagen. Frühjahr Personalratswahlen nach dem z. Z. gelten- Auf dem Gebiet der Handhabung des Ausländer- den Recht durchzuführen. rechts in der Praxis sind die Innenminister von Bund und Ländern der Auffassung, daß die vorhandenen und nach ihrer Auffassung ausreichenden gesetz- lichen Möglichkeiten voll auszuschöpfen sind. Aus- länder, bei denen der begründete Verdacht gegeben Anlage 28 ist, daß sie die öffentliche Ordnung und Sicherheit Schriftliche Antwort stören oder sonstige erhebliche Belange der Bundes- republik Deutschland beeinträchtigen, werden an der des Bundesministers Genscher vom 21. September Grenze zurückgewiesen bzw. aus dem Bundesgebiet 1972 auf die Schriftlichen Fragen des Abgeordneten ausgewiesen und abgeschoben. Wagner (Günzburg) (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Solche Individualmaßnahmen nach dem Ausländer- Fragen B 4 und 5) : recht stellen in der Praxis auch das wirksamste Mit- Welche politisch motivierten Terror- und Gewaltakte, ein- tel gegen die Tätigkeit extremistischer Ausländer- schließlich der Androhung von solchen, wurden seit dem 1. Ja- nuar 1972 von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland organisationen dar. Denn die gefährlichen radikalen begangen, welcher Nationalität sind diese Ausländer und welchen Ausländerorganisationen arbeiten überwiegend im Organisationen sind diese Akte zuzuschreiben? geheimen und beeinträchtigen schon dadurch die Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung auf dem Wirksamkeit etwaiger vereinsrechtlicher Maßnah- Gebiet der Gesetzgebung und bei der Handhabung des Aus- länderrechts in der Praxis, um durch Erschwerung der Einreise men. Gleichwohl prüft die Bundesregierung immer und Erleichterung der Ausweisung extremistischer Ausländer sowie durch Verbote extremistischer Ausländerorganisationen wieder sorgfältig, ob gegen Vereinigungen radika- die politisch motivierte Ausländer-Kriminalität in Deutschland ler Ausländer u. U. auch solche vereinsrechtliche so weit wie möglich zu unterbinden? Maßnahmen ergriffen werden sollten. Zu Frage 4: Die Sicherheitsbehörden haben für die Zeit vom 1. Januar 1972 bis zum 15. September 1972 insgesamt 55 Gewaltakte und 85 Androhungen von Gewalt- Anlage 29 akten in der Bundesrepublik Deutschland erfaßt, deren Urheber nach dem jetzigen Erkenntnisstand Schriftliche Antwort Ausländer sind. des Bundesministers Genscher vom 21. September Von den 55 Gewaltakten sind etwa drei Fünftel 1972 auf die Schriftliche Frage des Abgeordneten Kapitalverbrechen oder gemeingefährliche Verbre- Dr. Wittmann (München) (CDU/CSU) (Drucksache chen (Morde, Sprengstoffanschläge, Brandstiftungen, V1/3783 Frage B 6) : Geiselnahme) ; sie sind vorwiegend arabischen, zum Wie stellt sich die Bundesregierung zu dem vom Deutschen Teil auch jugoslawischen, bulgarischen, spanischen, Städtetag herausgegebenen „Negativkatalog der zivilen Verteidi- italienischen und griechischen Tätern zuzurechnen. gung" vom 14. April 1972? Es gibt Anhaltspunkte, daß hinter den arabischen Deutschen Städtetag veröffentlichte Tätern die Organisation „Schwarzer September" Der vom befaßt sich mit zahlreichen Einzel- steht. Die meisten Ausschreitungen mit jugoslawi- „Negativkatalog" schem Hintergrund dürften kroatischen Terroristen- problemen des Zivilschutzes. Dieser „Negativ- gruppen zuzuschreiben sein. Für die italienischen katalog" hat bereits zu einer inhaltlich gleichen An- und spanischen Täter liegen konkrete Anhaltspunkte frage im Deutschen Bundestag geführt (Protokoll nicht vor. der 182. Sitzung, Seite 10 633 vom 26. April 1972). Auf wesentliche Teile des „Negativkatalogs" wer- Zu Frage 5: den Sie Antworten im Weißbuch zur 'zivilen Ver- teidigung der Bundesrepublik Deutschland finden, Auf dem Gebiet der Gesetzgebung hat das Bun- das am 25. Mai d. J. veröffentlicht und allen Mit- deskabinett am 6. September 1972 auf meinen Vor- gliedern des Deutschen Bundestages vorgelegt Wiedereinführung des Sichtvermerks- schlag die worden ist; es gibt Auskunft über Gesamtkonzep- zwangs gegenüber Libyen, Marokko und Tunesien tion, Aufgaben und Probleme, auch über die noch beschlossen. Der Bundesrat stimmte der entspre- nicht gelösten. chenden 5. Verordnung zur Änderung der Verord- nung zur Durchführung des Ausländergesetzes in Es wird abzuwarten sein, in welcher Weise sich einer Sondersitzung am 13. September 1972 zu. Seit die inzwischen in Kraft getretenen Verwaltungsvor- Inkrafttreten der Verordnung am 14. September schriften zum Gesetz über die Erweiterung des Ka- 1972 ist nunmehr für Angehörige aller arabischer tastrophenschutzes auswirken werden. Sie stellen Staaten zur Einreise in die Bundesrepublik Deutsch- einen bemerkenswerten Schritt nach vorn dar. Letzt- land ein Sichtvermerk erforderlich. lich hängt ihre Wirksamkeit allerdings von den Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199, Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11831

Mitteln ab, die hierfür in den nächsten Jahren zur glieder sind indessen nicht von ihren sonstigen Verfügung stehen. Hier konnte jedoch der Tief- Aufgaben in den entsendenden Ressorts freigestellt. punkt des Jahres 1969 bei der finanziellen Ausstat- Der Arbeitsgruppe gehören 12 Dienstkräfte an, da- tung zunächst immerhin aufgefangen werden. von 11 des höheren Dienstes. Auch in Zukunft betrachtet die Bundesregierung Schließlich ist noch auf die auf Empfehlung des die zivile Verteidigung als unverzichtbaren Bestand- Deutschen Bundestages im März 1968 beim Bundes- teil der Gesamtverteidigung. Sie wird sich deshalb minister- des Innern geschaffene Koordinierungs darum bemühen, daß die Haushaltsmittel hierfür und Beratungsstelle für die elektronische Daten- verstärkt und in angemessenem Umfang an die Aus- verarbeitung in der Bundesverwaltung hinzuwei- gaben der militärischen Verteidigung herangeführt sen, die über 16 Beamte des höheren Dienstes und werden. 12 Beamte des gehobenen Dienstes verfügt.

Zu Frage 8: I. Die genannte Projektgruppe befaßte sich ab Ja- Anlage 30 nuar 1969 mit folgenden Fragenkreisen: 1. Neuabgrenzung der Geschäftsbereiche Schriftliche Antwort 2. Stellung und Aufgaben der Parlamentarischen des Bundesministers Genscher vom 21. September Staatssekretäre/ Staatsminister 1972 auf die Schriftlichen Fragen des Abgeordneten 3. Verbesserung des Führungsinstumentariums von Weber (Heidelberg) (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Bundeskanzler und Bundesregierung Fragen B 7 und 8) : Sie legte hierzu am 31. August 1969 ihren Ersten Welche Arbeitsgruppen und wie viele Personen der Bundes- regierung beschäftigen sich z. Z. mit dem Problem der Reform Bericht vor. der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung? Zur Frage der Neuabgrenzung der Geschäftsbe- Welche Ergebnisse hat die Projektgruppe „Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung" (Innenministerium, reiche hatte sie drei Grundmodelle entwickelt, die Kapitel 0612) seit ihrer Gründung erzielt, und wie haben sich darauf angelegt waren, Zuständigkeiten nach ihrem ihre Vorschläge in der praktischen Arbeit der Bundesregierung niedergeschlagen? Sachzusammenhang zusammenzuführen und die Zahl der Bundesministerien im Interesse einer Straf- Zu Frage 7: fung der Kabinettsarbeit und der Beseitigung von Zuständigkeitsüberlagerungen zu verringern. Die In allen Bundesministerien bestehen Organi- Bundesregierung ist bei ihrer Neubildung im Herbst sationsreferate, die für die laufenden Organisations- 1969 diesen Vorschlägen — wenn auch mit Modi- angelegenheiten zuständig sind. Für die allgemei- fizierungen — in erheblichem Umfange gefolgt. nen Organisationsangelegenheiten der Bundesver- waltung, die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Die Vorschläge der Projektgruppe zur Stellung Geschäftsordnungen und die Beratung der Bundes- der Parlamentarischen Staatssekretäre zielten dar- behörden in organisatorischen Fragen arbeiten im auf ab, dieses Institut im Interesse einer Entlastung Bundesministerium des Innern insgesamt 3 Beamte der Bundesminister weiter auszubauen. Sie regte des höheren und 2 Beamte des gehobenen Dienstes. die Umwandlung der Parlamentarischen Staats- Im Jahre 1968 sah sich die damalige Bundesregie- sekretäre in Staatsminister an, die ihnen übertra- rung im Hinblick auf die gestiegenen Anforderun- gene Aufgaben des Bundesministers erfüllen soll- gen an die staatliche Leistungsfähigkeit veranlaßt, ten, ohne eine zusätzliche hierarchische Stufe zu Maßnahmen für eine umfassende Lösung der struk- bilden; sie sollten vielmehr in dem von dem Bun- turellen Probleme in Bundesregierung und Bundes- desminister bestimmten Umfang nach innen wei- verwaltung einzuleiten. Sie setzte hierfür gegen sungsberechtigte Ressortspitze sein. Ende 1968 einen besonderen Kabinettausschuß so- Die Bundesregierung ist diesem Vorschlag nicht wie eine interministerielle Projektgruppe ein. Ihr gefolgt. Sie hat aber ressortinterne Regelungen zu- gehören z. Z. 8 Beamte des höheren Dienstes als gelassen, die eine Stärkung der Stellung der Par- Mitglieder sowie 5 Beamte des höheren und 2 Be- lamentarischen Staatssekretäre bezweckten. amte des gehobenen Dienstes als Mitarbeiter an. Daneben sind einige Dienstkräfte für Sekretariats- In den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu einer aufgaben und Bürohilfsdienste eingesetzt. Verbesserung des Führungsinstrumentariums von Bundeskanzler und Bundesregierung hatte die Pro- Im Zusammenhang mit der auf Beschluß des jektgruppe den Ausbau der „politischen Planung" Deutschen Bundestages beim Bundesminister des und in diesem Zusammenhang die Fortentwicklung Innern gebildeten Studienkommission für die Re- bestehender Planungseinrichtungen gestellt. Ihr Be- form des öffentlichen Dienstrechtes wurde als Hilfs- richt enthielt drei Organisationsmodelle, von denen organ eine Arbeitsgruppe „Reform des öffentlichen eines besonders die kollegiale Komponente der Dienstrechtes" geschaffen, die aus 12 Beamten des Bundesregierung betonte. Die Bundesregierung ist höheren Dienstes und 6 Beamten des gehobenen diesem Modell sowie den weiteren Empfehlungen Dienstes besteht. im wesentlichen gefolgt. Diese enthielten allerdings Außerdem ist im April 1970 die interministerielle nur erste Ansätze, die auch aus der Sicht der Pro- Arbeitsgruppe „Datenbanksystem" beim Bundes- jektgruppe weitere Untersuchungsarbeiten im orga- minister des Innern eingerichtet worden. Ihre Mit- nisatorischen und methodischen Bereich erforderten. 11832 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

II. Nach dem Regierungswechsel 1969 wurde der Anlage 31 Kabinettausschuß neu konstituiert und die Projekt- Schriftliche Antwort gruppe beauftragt, das Problem einer Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwal- des Bundesministers Genscher vom 21. September tung nunmehr umfassend aufzugreifen. Sie entwik- 1972 auf die Schriftliche Frage des Abgeordneten kelte hierzu zunächst grundsätzliche Vorstellungen Biechele (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Frage B 9) : und erstattete hierüber dem Kabinettsausschuß Be- Sind Pressemeldungen zutreffend, daß die im Jahr 1964 beim Grenzübergang Konstanz-Kreuzlinger Tor erstellte Absaugeanlage richt. Ein darauf gestützter abschließender Arbeits- für Autoabgase sich als völlig unwirksam erwiesen hat und des- plan wurde gebilligt. wegen abgebaut werden soll, und erwägt deswegen die Bundes- regierung Versuche mit dem neuen Absaugegerät „Clean Air" des Schweizer Ingenieurs Georges Schwienbacher zur Beseitigung Die Projektgruppe hat auf der Grundlage ihrer giftiger Autoabgase zu machen, das sich in Zürich und anderen Arbeitsplanung neben eigenen Feststellungen und Großstädten bewährt haben soll? der Auswertung in- und ausländischen Schrifttums eine Reihe von Untersuchungsaufträgen an Wissen- Die Anlagen zum Absaugen von Autoabgasen, schaftler und Beratungsfirmen vergeben. Im einzel- die von der Bundeszollverwaltung zum Schutz der nen ist hierzu auf den Bundesbericht Forschung IV Zollbeamten und der Beamten des Bundesgrenz- (Übersichtsbericht) — Ergänzung zu Drucksache schutzes an den stark belasteten Grenzübergängen VI/3251 des Deutschen Bundestages, 6. Wahlperiode -zur Schweiz in Konstanz-Kreuzlinger Tor und Weil — zu verweisen. Otterbach errichtet worden sind, haben sich im großen und ganzen bewährt. Leider sind die Wir- Die Untersuchungen sind im wesentlichen abge- kungen und die Einsatzmöglichkeiten dieser Absauge- schlossen und liegen jetzt vor. einrichtungen infolge ihrer Größe, der Geräusch- Arbeitsschwerpunkte der Projektgruppe waren in entwicklung und der Notwendigkeit, sie in unmittel- der abgelaufenen Zeit barer Nähe der haltenden Kraftfahrzeuge aufzustel- len, begrenzt. Zur Zeit der Aufstellung der Geräte — Grundfragen der Planung (Planungsorganisation, waren jedoch keine wirkungsvolleren Absaugean- Planungsverfahren, Verbindung von fachlicher lagen verfügbar, so daß diese Nachteile bisher in Ziel- und Finanzplanung) Kauf genommen werden mußten. — ressortinterne Organisation mit Schwerpunkt Das in der Schweiz entwickelte neue Absauge Führungsorganisation und Führungsinstrumente,- gerät beruht auf einer völlig anderen Konstruktion, — Verlagerung von Aufgaben auf nachgeordnete die diese Nachteile vermeidet. Nach Auskunft des Bereiche sowie deren Gestaltung, schweizerischen Amts für Lufthygiene, Zürich, ist — Möglichkeiten einer Zentralisierung von Quer- das neue Gerät noch nicht öffentlich im Einsatz. Der schnittsaufgaben, Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen (F), der für die Aufstellung der Geräte an den stark be- — Modellentwicklung für eine programmorientierte lasteten deutschen Grenzübergängen zuständig ist, Ressortorganisation, steht seit längerer Zeit mit Schweizer Stellen hin- — interministerielle Zusammenarbeit (interministe- sichtlich der Prüfung der Erprobung der neuen Ab- rielle Ausschüsse usw.), saugeanlage in Verbindung. Dem BMWF wird am — Neuzuschnitt der Ressorts. 28. September 1972 das neue Gerät in Konstanz beim Schweizer Zollamt vorgeführt werden. Sofern die Die Arbeiten zu diesen Themenkreisen sind im Prüfung ergibt, daß das neue Gerät gegenüber den wesentlichen beendet. Zur Zeit arbeitet die Projekt- alten Absaugeanlagen leistungsfähiger ist und bes- gruppe an der Fertigstellung ihres Schlußberichtes, sere Einsatzmöglichkeiten bietet, soll beschleunigt der im Spätherbst vorliegen wird. Ein Grundsatz- mit der Erprobung des Gerätes an einem geeigneten bericht über die Möglichkeiten einer Verlagerung Grenzübergang begonnen werden. Bei positivem Ab- von Aufgaben auf nachgeordnete Bereiche wurde schluß der Erprobung ist beabsichtigt, die alten Ab- bereits im Frühjahr d. J. von der Projektgruppe vor- saugeanlagen auf lange Sicht durch die neuen An- gelegt. lagen zu ersetzen. Die Arbeiten an der Modellentwicklung für eine Wie ich in Beantwortung Ihrer schriftlichen Fra- programmorientierte Ressortorganisation sind noch gen B 8/9 für die Fragestunde im Deutschen Bundes- im Gange. Sie werden nicht vor Ende dieses Jah- tag am 23./25. Februar 1972 bereits mitgeteilt habe, res abgeschlossen sein. stellen sämtliche Absaugeanlagen nur eine Über- gangslösung dar. Hauptziel der Bundesregierung ist Die Bundesregierung verspricht sich von dem ab- die im Umweltprogramm erklärte Absicht, die Kraft- schließenden Bericht der Projektgruppe wertvolle fahrzeuge bis 1980 um 90 % des Wertes von 1969 zu Anregungen für die Anpassung der Struktur von entgiften. Bundesregierung und Bundesverwaltung an die mo- dernen Bedürfnisse. Es ist darüber hinaus nicht zu verkennen, daß die Tätigkeit der Projektgruppe und die von ihr veranlaßten Untersuchungen sowie de- Anlage 32 ren Ergebnisse schon bisher zu einem verstärkten Problembewußtsein innerhalb der Bundesverwal- Schriftliche Antwort tung beigetragen und Anstöße zu laufenden orga- des Bundesministers Genscher vom 21. September nisatorischen Verbesserungen in den Bundesres- 1972 auf die Schriftliche Frage des Abgeordneten sorts vermittelt haben. Biechele (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Frage B 10) : Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11833

Wie beurteilt die Bundesregierung die seit einigen Jahren am als genehmigungspflichtige Zweckentfremdung Bodenseeufer bei Lindau betriebenen Forschungen für eine funk- raum tionsfähige Klärung von Abwässern durch Binseneinheiten, mit anzusehen ist. Das Bundesministerium der Justiz denen nicht nur die Nachreinigung geklärter Abwässer betrieben werden soll, sondern die auch die vollständige Reinigung der hat deshalb die Landesjustizverwaltungen hierzu Abwässer kleinerer Gemeinden ermöglichen sollen, und ist sie um Stellungnahme gebeten. Die meisten Landes- bereit, diese Forschungen, die jetzt von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Dozent Dr. R. Kickuth vom Göttinger Institut justizverwaltungen, die sich bisher geäußert haben für Bodenkunde durchgeführt werden, zu unterstützen? — einige Stellungnahmen stehen noch aus —, sind der Auffassung, daß nach dem mit der Vorschrift Die Untersuchungen über Reinigung von Ab- verfolgten Zweck der Abbruch von Wohnraum die wasser durch Binsen wurden in den Jahren 1966 stärkste Form der Zweckentfremdung und daher bis 1970 in dem Forschungsvorhaben: ,,Versuchs- ebenfalls genehmigungspflichtig sei; eine Klarstel- anlage für eine dritte Reinigungsstufe der Ab- lung im Gesetz sei allerdings zweckmäßig. wasserklärung unter Verwendung höherer Wasser- pflanzen auf hydrobotanischer Basis" durch die Bei dieser Auslegung, über die die Ansichten im Bundesregierung gefördert. Die wissenschaftliche - Schrifttum auseinandergehen (bejahend: Schmidt Leitung dieses Vorhabens lag bei Frau Dr. K. Seidel, Futterer, Wohnungswirtschaft und Mietrecht 1971, -Limnologische Station Niederrhein, der Max-Planck 196; Schubert NJW 1972, 1348; verneinend: Otto, Gesellschaft. Unterstützt wurden diese Versuche Deutsche Wohnungswirtschaft 1972, 159), kann da- durch das Bayerische Landesamt für Wasserversor- von ausgegangen werden, daß im Falle eines beab- gung und Gewässerschutz und die Stadtverwaltung sichtigten Abbruchs die Genehmigung erteilt wird, Lindau. wenn der Verfügungsberechtigte sich verpflichtet, alsbald etwa ebensoviel Wohnraum zu schaffen, Die Ergebnisse dieser ersten Versuchsphase zei- wie durch den Abbruch verlorengeht, und diese gen, daß dieses Verfahren im derzeitigen Stadium Wohnungen zu der für vergleichbaren Wohnraum noch keine Hinweise auf eine baldige technische Ein- ortsüblichen Miete zu vermieten. In diesem Sinne satzbereitschaft gibt. Seit 1971 führt die Arbeits- hat das Bayerische Staatsministerium des Innern die gruppe Professor Dr. Kickuth, Hannover, Bilanzie- nachgeordneten Behörden in einem Rundschreiben rungsversuche über die Inhaltsstoffe der Abwässer angewiesen. Da nach Absatz 2 der erwähnten Vor- und Herausnahme durch die Vegetation durch. schrift die Genehmigung auch unter Bedingungen Sollte sich aus diesen Versuchen die Erwartung auf oder Auflagen erteilt werden kann, wird es zulässig ein einsatzfähiges Reinigungssystem ergeben, so sein, die Genehmigung unter der Voraussetzung der kann die Bereitstellung von Förderungsmitteln des Zahlung einer Abstandssumme zu erteilen, soweit Bundes erwogen werden. der Verfügungsberechtigte selbst keinen entspre- chenden Wohnraum wiedererstellt, damit mit der Abstandssumme der Bau von Ersatzwohnungen an anderer Stelle gefördert werden kann. Eine solche Handhabung steht einer Modernisie- Anlage 33 rung von Wohnungen nicht im Wege, solange unter Schriftliche Antwort Modernisierung nicht der Abbruch von preisgün- stigem Wohnraum in ordentlichem Bauzustand und des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Bayerl seine Ersetzung durch teure Luxusappartements vom 20. September 1972 auf die Schriftlichen Fragen oder Komfortwohnungen verstanden wird. des Abgeordneten Mick (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Fragen B 11 und 12) :

Ist der Abbruch von Wohnhäusern auch dann nach Artikel 6 § 1 des Mietrechtsverbesserungsgesetzes genehmigungspflichtig, wenn durch den folgenden Neubau mehr und bessere Wohnungen Anlage 34 erstellt werden, und können insbesondere auch bei erfolgter Ge- nehmigung Abstandssummen verlangt werden? Schriftliche Antwort Erhofft sich die Bundesregierung — bei einer Beantwortung der Frage 11 mit Ja -- von einer solchen Auslegung des Gesetzes eine durchgreifende Modernisierung des Altbaubestands und des des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf Abbruchs von Bruchbuden? vom 21. September 1972 auf die Schriftlichen Fragen des Abgeordneten Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) Nach Artikel 6 § 1 des sogenannten Artikelgeset- (Drucksache VI/3783 Fragen B 13 und 14) : zes werden die Landesregierungen ermächtigt, für Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß das Gesetz über Gemeinden, in denen die Versorgung der Bevölke- die Veranlagung von Brennereien zum Brennrecht im Betriebs- rung mit ausreichendem Wohnraum zu angemesse- jahr 1932/1933 durch die Erweiterung der Ausschußfristen für die betriebsfertige Herrichtung neuer Brennereien, insbesondere für nen Bedingungen besonders gefährdet ist, durch die bayerischen Kartoffelbrennereien, erhebliche Nachteile bringt, und ist der Bundesregierung bekannt, daß in Bayern keine Neu- Rechtsverordnung zu bestimmen, daß Wohnraum errichtungen von Kartoffelgemeinschaftsbrennereien erfolgten, anderen als Wohnzwecken nur mit Genehmigung während im norddeutschen Raum eine Vielzahl neuer Anlagen geschaffen wurden? der von der Landesregierung bestimmten Stelle zu- Wie gedenkt die Bundesregierung die in Bayern betriebswirt- geführt werden darf. schaftlich unumgängliche, für die Branntweinherstellung vorge- sehene Kartoffelerzeugung unterzubringen, und wie beurteilt die Von dieser Ermächtigung haben die meisten Län- Bundesregierung die Wettbewerbssituation der deutschen Kar- toffelbrennereien nach Inkrafttreten der EWG-Alkoholmarkt- der Gebrauch gemacht und entsprechende Rechts- ordnung? verordnungen erlassen. Es ist bereits von anderer Seite die Frage aufge- Im Entwurf des Gesetzes über die Veranlagung worfen worden, ob auch der Abbruch von Wohn- von Brennereien zum Brennrecht im Betriebsjahr 11834 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

1972/73 hatte die Bundesregierung als Stichtag für Anlage 35 die Veranlagung den 31. März 1972 vorgeschlagen. Infolge der Verzögerung bei der parlamentarischen Schriftliche Antwort Beratung konnte dieser Termin nicht beibehalten werden. Die Frist wurde zunächst bis zum 31. März des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf 1973 erweitert, dann aber schließlich auf den vom 21. September 1972 auf die Schriftliche Frage 30. September 1972 vorgezogen. Die Vertreter der des Abgeordneten Looft (CDU/CSU) (Drucksache Bundesregierung hatten sich in den Ausschußbe- VI/3783 Frage B 15) : ratungen übrigens für den Tag des Inkrafttretens Hält es die Bundesregierung für notwendig und möglich, durch die Einbeziehung des Kindergarten- und Schulbaus in die Ge- des Gesetzes als maßgebenden Stichtag ausgespro- meinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschafts- chen. Das wäre der 5. August 1972 gewesen. Ziel- struktur das Angebot an Bildungseinrichtungen in den wirtschaft- lich schwachen Gebieten der Bundesrepublik Deutschland zu er- vorstellung des Gesetzes war es, die Zahl der zur höhen, damit sich die Randgebiete auch dadurch gegenüber der Veranlagung heranstehenden Brennereien im Hin- Anziehungskraft der Ballungsräume behaupten können? -blick auf die in naher Zukunft zu erwartende EWG Alkoholmarktregelung zu beschränken und durch Für die Verbesserung der Lebensverhältnisse in gleichzeitig vorgesehene Strukturverbesserungsmaß- den wirtschaftsschwachen Gebieten ist es nicht aus- nahmen (Erleichterungen bei der Übertragung von reichend, die gewerbliche Wirtschaft zu fördern und Brennrechten) die Wettbewerbsposition der deut- die wirtschaftsnahe Infrastruktur auszubauen; die schen landwirtschaftlichen Brennereien im Gemein- Entwicklung des Bildungs-, Wohn- und Freizeit- samen Markt zu stärken. wertes dieser Gebiete gewinnt zunehmend an Be- Das Hinzutreten neuer Brennereien im Wege der deutung. Brennrechtsveranlagung führt bei gleichbleibender Der Bundesregierung ist es jedoch verfassungs- Branntweinabsatzlage zwangsläufig zu einer Ein- rechtlich nicht möglich den Bau von Kindergärten schränkung der Erzeugung für die bereits vorhan- und allgemeinbildenden Schulen im Rahmen der denen Brennereien. Diese Folge sollte durch das Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regio- Vorziehen des Stichtages gemildert werden. nalen Wirtschaftsstruktur" zu fördern. Das ist Auf- Soweit bekanntgeworden ist, handelt es sich bei gabe der Gemeinden und Länder. den Kartoffelgemeinschaftsbrennereien, die bis zum Ich möchte jedoch darauf hinweisen, daß im Rah- 30. September 1972 betriebsfähig hergerichtet wer- men des ERP-Gemeindeprogramms für Schwerpunkt- den, überwiegend um norddeutsche Betriebe. Außer orte der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der diesen Brennereien können aber gemäß Artikel 1 regionalen Wirtschaftsstruktur" der Bau von Kin- Abs. 5 des Gesetzes über die Veranlagung von Bren- dergärten gefördert werden kann. nereien im Betriebsjahr 1972/73 innerhalb eines Außerdem möchte ich erwähnen, daß der Bau von Kontingents von 30 000 Hektolitern Weingeist bis allgemeinbildenden Schulen und Kindergärten im zum 30. September 1973 noch weitere Kartoffelge- Zonenrandgebiet vom Bund gemäß §§ 6 und 7 Zo- meinschaftsbrennereien errichtet werden, wenn der nenrandförderungsgesetz gefördert wird. Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ein besonderes agrarwirtschaftliches Bedürf- nis dafür anerkennt. Die Möglichkeit der Brenn- rechtsveranlagung steht demnach auch für bayerische Kartoffelgemeinschaftsbrennereien durchaus noch Anlage 36 offen. Die Erweiterung des Kreises der landwirtschaftli- Schriftliche Antwort chen Brennereien durch die Brennrechtsveranlagung 1972/73 führt zu einem unausweichlichen Opfer, das des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf jede bereits bestehende Brennerei im Interesse der vom 21. September 1972 auf die Schriftliche Frage gesamten Landwirtschaft zu erbringen hat. Die Ein- des Abgeordneten Weigl (CDU/CSU) (Drucksache schränkung der Erzeugung trifft nicht nur die bayeri- VI/3783 Frage B 16) : schen, sondern alle landwirtschaftlichen Brennereien Ist es richtig, daß überregionale Schwerpunktorte (Doppelorte) im Zonenrandgebiet, z. B. Marktredwitz-Waldershof, nicht akzep- im gleichen Maße. Die Gesamtmenge der zur Brannt- tiert werden können, wenn der Doppelort Gemeinden umfaßt, weinerzeugung vorgesehenen Kartoffeln wird durch die zu zwei Regierungsbezirken gehören? die Veranlagung jedoch nicht berührt. Es läßt sich im gegenwärtigen Zeitpunkt noch Grundsätzlich steht die Tatsache, daß zwei Orte nicht beurteilen, welche Gesamtmenge an Kartoffel- durch eine Verwaltungsgrenze getrennt sind, der branntwein nach Inkrafttreten der EWG-Alkohol- Anerkennung der Orte als Doppelschwerpunktort marktordnung hergestellt werden kann. Die Bun- nicht entgegen. So hat der Planungsausschuß für desregierung wird sich aber dafür einsetzen, daß die regionale Wirtschaftsstruktur sogar zwei Orte als bisherige Gesamterzeugung der deutschen Kartoffel- Doppelort anerkannt, die in zwei verschiedenen brennereien nicht geschmälert wird. Nach dem Ent- Bundesländern liegen. wurf der Marktordnung sollen bei der Festsetzung Es ist Aufgabe des Planungsausschusses für regio- der Ankaufspreise die unterschiedlichen Erzeugungs- nale Wirtschaftsstruktur, in einem konkreten Fall kosten der Brennereibetriebe berücksichtigt werden, darüber zu entscheiden, ob zwei Orte, wie z. B. die um eine möglichst gleiche Wettbewerbssituation im von Ihnen genannten Orte, als Doppelschwerpunkt- Gemeinsamen Markt zu schaffen. ort anerkannt werden können. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11835

Anlage 37 Sie können versichert sein, daß sowohl die Bun- Schriftliche Antwort desanstalt für Arbeit als auch unser Haus sorg- des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf fältig die Erfahrungen prüfen, die mit der von vom 21. September 1972 auf die Schriftliche Frage mir genannten neuen Anordnung vom 1. Januar des Abgeordneten Dr. Arnold (CDU/CSU) (Druck- d. J. gemacht werden. In diesem Zusammenhang sache VI/3783 Frage B 19) : darf ich darauf hinweisen, daß die Bundesregierung nach § 239 AFG einen Bericht erstellen wird, in Ist nach Auffassung der Bundesregierung die Einführung einer „Zweitwohnsteuer", wie sie von einigen Städten geplant wird, dem u. a. eingehend die Entwicklung der beruflichen mit den Vorschriften des Grundgesetzes vereinbar? Förderungsmaßnahmen dokumentiert wird. Nach Art. 105 Abs. 2 a GG haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung über die örtlichen Ver- brauch- und Aufwandsteuern, solange und soweit die bundesgesetzlich geregelten Steuern nicht gleichartig sind. Die von einigen Gemeinden ge- Anlage 39 plante Zweitwohnungssteuer könnte als örtliche Auf- wandsteuer ausgestaltet und auf Grund einer ent- Schriftliche Antwort sprechenden landesrechtlichen Ermächtigung von den Gemeinden eingeführt werden. Sie ist verfassungs- des Parlamentarischen Staatssekretärs Berkhan vom rechtlich zulässig, wenn das Gleichartigkeitsverbot 21. September 1972 auf die Schriftlichen Fragen des des Art. 105 Abs. 2 a GG beachtet wird. Eine Gleich- Abgeordneten Seefeld (SPD) (Drucksache VI/3783 artigkeit käme in diesem Falle gegenüber der Fragen B 21 und 22) : Grundsteuer und — wenn die Einnahmen aus Ver- Trifft es zu, daß, wie z. B. in Bruchsal geschehen, durchaus gebrauchsfähige Bundeswehrkleidung (z. B. Unterwäsche, Socken, mietungen von Eigentumswohnungen versteuert Gummistiefel, Lederhandschuhe) sauber und gebündelt zur Ver- werden sollen — gegenüber der Einkommensteuer nichtung hergerichtet und auf Müllhalden abgeladen wird, und billigt die Bundesregierung dies? und der Umsatzsteuer in Betracht. Die Einführung Teilt die Bundesregierung meine Meinung, daß gebrauchte einer Zweitwohnungssteuer wäre aber evtl. mög- Bundeswehrkleidungsstücke auf ihre weitere Verwertbarkeit ge- lich, wenn die Unterhaltung einer zweiten Wohnung prüft und gegebenenfalls caritativen Zwecken zugeführt werden sollten? für den eigenen Bedarf, d. h. der Aufwand, besteu- ert würde. Ausgesonderte Bekleidung und persönliche Aus- rüstung ist nach einem Erlaß des Bundesministe- riums der Verteidigung vom Oktober 1968 grund- sätzlich über die bundeseigene Treuhandgesellschaft Anlage 38 VEBEG — Verwertungsgesellschaft m.b.H. mit Sitz in Frankfurt — zugunsten des Bundeshaushalts zu Schriftliche Antwort veräußern. des Parlamentarischen Staatssekretärs Rohde vom Für Unterwäsche, die der VEBEG aus hygienischen 20. September 1972 auf die Schriftliche Frage des Gründen gereinigt angeboten werden muß, war je- Abgeordneten Niegel (CDU/CSU) (Drucksache doch eine abweichende Regelung zu treffen, da sich VI/3783 Frage B 20) : in jüngster Zeit ergab, daß die Erlöse der VEBEG erheblich unter den Reinigungs-, Lohn- und Trans- Sieht die Bundesregierung in laufenden Beitragserhöhungen zum Ausgleich des Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit in portkosten blieben. Nürnberg, insbesondere zur Finanzierung des Arbeitsförderungs- gesetzes, die einzige Lösung, oder ist daran gedacht, das Ar- Das Bundesministerium der Verteidigung hat da- beitsförderungsgesetz so zu ändern, daß dringende Umschulungs- maßnahmen und sinnvolle Förderungsmöglichkeiten bleiben, eine her im März 1972 folgendes angeordnet: mißbräuchliche Ausnützung jedoch nicht mehr möglich ist? 1. Den ausscheidenden Soldaten wird die in ihrem Die Frage einer etwaigen mißbräuchlichen Aus- Besitz befindliche Unterwäsche unentgeltlich nutzung von Förderungsmöglichkeiten der Bundes- überlassen. anstalt für Arbeit, ist mehrfach in Fragestunden 2. Mit der Unterwäsche, die von ausscheidenden behandelt worden. Ich habe darauf ausführlich ge- Soldaten zurückgelassen wird, ist wie folgt zu antwortet und darf insofern auf meine Stellung- verfahren: nahme in den Fragestunden vom 16. Dezember 1971 und vom 21. Februar 1972 verweisen. Darin habe a) Die besten Stücke sind für besondere Fälle ich insbesondere auf die am 1. Januar d. J. in Kraft dem Vorrat der Standortverwaltung zuzufüh- getretene neue Anordnung der Bundesanstalt für ren. Arbeit über die Förderung der beruflichen Fort- b) Die restlichen Stücke können unentgeltlich bildung und Umschulung hingewiesen, die teils an Angehörige der Bundeswehr abgegeben strengere, teils präzisere Förderungsvoraussetzun- werden. Kosten dürfen hierdurch dem Bund gen aufgestellt und für einige Leistungen Höchst- nicht erwachsen. beträge vorgesehen hat. c) Verbleiben nunmehr noch Restbestände — Im übrigen hat unser Haus vor kurzem den Sach- es kann sich hierbei nur um eine geringe verhalt hinsichtlich der Finanzlage der Bundes- Menge abgetragener oder stark verschmutz- anstalt für Arbeit aufgrund einer Frage des Ab- ter Stücke handeln — sind diese, soweit ent- geordneten Dr. Freiwald dargelegt. sprechende Vorrichtungen vorhanden sind, 11836 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Trifft es zu, daß PH-Studenten in Niedersachsen die durch das bei den Standortverwaltungen zu vernich- vorgesehene Praktikum entstehenden Kosten nach dem Bundes- ten. ausbildungsförderungsgesetz ersetzt erhalten, während dies in Nordrhein-Westfalen nicht der Fall ist, und was gedenkt die Der Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen Bundesregierung gegebenenfalls dagegen zu tun? hat dieser Regelung zugestimmt; der Bundesrech- nungshof ist durch Übersendung des Erlasses unter- Der Bedarf im Sinne des Bundesausbildungsförde- richtet worden. rungsgesetzes der Studenten der Erziehungswissen- schaft, die im Rahmen des Studiums ein Praktikum Nach Auffassung der Bundesregierung ist durch von vier- bzw. sechswöchiger Dauer abzuleisten ha- diese Erlasse sichergestellt, daß die Vernichtung ben, richtet sich auch während dieses Praktikums noch brauchbarer Bekleidung vermieden wird. nach § 13 Bundesausbildungsförderungsgesetz Bei dem Ihren Fragen zugrunde liegenden Vor- (BAföG). fall in Bruchsal sind irrtümlich, außer tatsächlich Nach dieser Vorschrift kann Ausbildungsförde- unbrauchbaren Bekleidungsstücken (Socken, Gummi- rung für die Kosten der täglichen Fahrt zur Ausbil- stiefeln, Lederhandschuhen) einige Kartons mit ge- dungsstätte nur nach Maßgabe des § 13 Abs. 3 ge- bündelter Unterwäsche zur Vernichtung verladen leistet werden. Sind die Voraussetzungen hierfür worden, obgleich sie einer weiteren Verwendung (der Auszubildende wohnt während der Ausbildung zugeführt werden sollten. Die Bundesregierung be- bei seinen Eltern und die Wohnung der Eltern liegt dauert dieses Versehen. nicht am Ort der Ausbildungsstätte) während des Praktikums erfüllt, so kann für dessen Dauer der Fahrkostenpauschalbetrag von 30,— DM geleistet werden. Die Schule, an der das Praktikum durchge- führt wird, ist Ausbildungsstätte. Anlage 40 Die Leistung von Ausbildungsförderung für die Unterkunft ist in § 13 Abs. 2 BAföG und Tz 13.5.7 Schriftliche Antwort bis 13.5.9 BAföGVwv-E abschließend geregelt. Ins- des Parlamentarischen Staatssekretärs Westphal besondere können nicht gleichzeitig für die Unter- vom 19. September 1972 auf die Schriftlichen Fragen kunft am Hochschulort und am Praktikumsort Lei- des Abgeordneten Wohlrabe (CDU/CSU) (Druck- stungen erbracht werden. sache VI/3783 Fragen B 23 und 24) : Diese nach Art. 85 GG für die Ausführung des Ist beabsichtigt, die Selbständigkeit des Deutschen Zentral- Bundesausbildungsförderungsgesetzes verbindliche instituts für soziale Fragen durch eine Statutenänderung aufzu- Rechtsauffassung des Bundesministers für Jugend, heben und, wenn ja, warum? Familie und Gesundheit ist den obersten Landesbe- Ist beabsichtigt, das Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen in eine gemeinsame elektronische Dokumentation aller im so- hörden für Ausbildungsförderung durch Runderlaß zialen Bereich tätigen Organisationen einzubeziehen und, wenn vom 24. Juli 1972 — Az.: J 3 — 1982-20-72/8 — be- ja, wann sind diese Arbeiten abgeschlossen? kanntgemacht worden. Aus Anlaß der Beantwortung dieser Anfrage habe Mit der Frage der Aufhebung der Selbständigkeit ich Auskünfte der Länder Nordrhein-Westfalen und des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen ist Niedersachsen eingeholt. Danach sind die Ämter für das Bundesministerium für Jugend, Familie und Ge- Ausbildungsförderung in Nordrhein-Westfalen an- sundheit bisher nicht befaßt worden. Es fördert die gewiesen, entsprechend dem vorbezeichneten Rund- Arbeit des Instituts durch jährliche Zuwendungen, erlaß zu verfahren. Nach der Auskunft des Landes ist aber im Stiftungsvorstand nicht vertreten. Hier Niedersachsen führt die dort beachtete Förderungs- ist lediglich bekannt, daß von kommunaler Seite praxis auch derzeit schon zu demselben Ergebnis. dem Herrn Senator für Arbeit und Soziales in Berlin Der förmliche Erlaß des Niedersächsischen Kultus- eine Erörterung vorgeschlagen worden ist. ministers wird derzeit überarbeitet mit dem Ziel, Die von Ihnen erwähnte gemeinsame elektroni- ihn der vorbezeichneten Weisung des Bundesmini- sche Dokumentation besteht bisher nicht; nach mei- sters für Jugend, Familie und Gesundheit anzupas- ner Kenntnis ist sie zur Zeit auch nicht geplant. Das sen. Institut prüft zur Zeit die Möglichkeiten der Um- stellung auf eine elektronische oder maschinelle Dokumentation.

Anlage 42

Schriftliche Antwort

Anlage 41 des Parlamentarischen Staatssekretärs Westphal vom 20. September 1972 auf die Schriftlichen Fragen Schriftliche Antwort des Abgeordneten Weber (Heidelberg) (CDU/CSU) des Parlamentarischen Staatssekretärs Westphal (Drucksache VI/3783 Fragen B 26 und 27) : Wie gedenkt die Bundesregierung sicherzustellen, daß die vom 20. September 1972 auf die Schriftliche Frage neu errichteten Gebäude des Deutschen Krebsforschungszentrums des Abgeordneten Katzer (CDU/CSU) (Drucksache in Heidelberg trotz des Fortfalls der „einmaligen Sonderleistung des Bundes zu den Betriebskosten der Stiftung Deutsches Krebs- VI/3783 Frage B 25) : forschungszentrum Heidelberg" in Höhe von 1,2 Millionen DM, Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11837

die von der Bundesregierung beschlossen worden ist, in notwen- digem Ausmaß eingerichtet werden? Nach den Vorschriften der Auslandsfleischbe- schau-Verordnung wird jede Sendung von Fleisch- Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation der deutschen Krebsforschung im internationalen Vergleich, und gedenkt sie in waren bei der Einfuhr in eigens hierfür eingerichte- diesem Zusammenhang ein umfassendes Forschungsprogramm „Krebsforschung" zu verabschieden? ten Untersuchungsstellen bei den Zollstellen, die als Einlaßstellen für die Einfuhr von frischem und zu- Zu Frage 26 bereitetem Fleisch zugelassen sind, stichprobenweise untersucht. Die Proben können in Verdachtsfällen In der Sitzung des Haushaltsausschusses des Deut- auch einer bakteriologischen, histologischen, serolo- schen Bundestages am 14. September 1972 ist die gischen oder chemischen Überprüfung unterworfen einmalige Sonderzahlung des Bundes in Höhe von werden. rund 1,2 Mio DM für das Deutsche Krebsforschungs- Nach Bekanntwerden des Verdachtes, daß Koch- zentrum wieder in Ansatz gebracht worden. schinken ausländischer Herkunft unerlaubte Phos- Ihre Anfrage ist also von den Ereignissen über- phatzusätze enthalten könnten, sind die für die Le- holt worden. bensmittelüberwachung zuständigen obersten Lan- desbehörden vom Bundesminister für Jugend, Fa- Zu Frage 27 milie und Gesundheit gebeten worden, zum Import Die Bundesregierung beurteilt die Situation posi- anstehende Kochschinken einer verstärkten Kon- tiv. Sie ist der Auffassung, daß kein Krebsfor- trolle zu unterziehen. Nach mir vorliegenden Berich- schungszentrum allein die erforderlichen Aufgaben ten sind im Verlauf des Jahres 1971 einzelne Sen- in der Krebsforschung bewältigen kann. Sie ist daher dungen von der Einfuhr zurückgewiesen worden. In bestrebt, gemeinschaftliche Projekte zu fördern und jüngster Zeit sind mir Feststellungen über Phosphat- arbeitet eng zusammen mit internationalen Institu- zusätze bei Kochschinken ausländischer Herkunft tionen und Organisationen insbesondere mit der nicht mehr bekanntgeworden. WHO. Außerdem ist die Bundesrepublik Deutschland Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die Mitglied der Internationalen Zentralstelle für von der Lebensmittelüberwachung der Länder durch- Krebsforschung in Lyon, die im Rahmen der WHO geführten Maßnahmen, die eine verstärkte Kontrolle errichtet wurde und ist damit auch im internationa- der zum Import anstehenden Kochschinken zur len Forschungsprogramm integriert. In diesem inter- Folge hatten, geeignet waren, den Verbraucher und nationalen Rahmen werden Forschungsprogramme einheimische Erzeuger vor Schaden und Nachteilen beschlossen und Forschungsaufträge vergeben. zu bewahren. In meiner schriftlichen Antwort auf die Frage des Kollegen Dr. Probst am 13. Juni 1972 (Protokoll der 193. Sitzung vom 16. Juni 1972, Seite 11292 D) habe ich dargelegt, daß der Schwerpunkt der von der Bun- desregierung geförderten Forschung beim Deutschen Anlage 44 Krebsforschungszentrum in Heidelberg liegt. Dort Schriftliche Antwort wird ein wissenschaftliches Gesamtforschungspro- gramm auf mittlere und längere Sicht ausgearbeitet. des Parlamentarischen Staatssekretärs Westphal Es besteht die Absicht, einen ausgewählten Kreis in- vom 20. September 1972 auf die Schriftlichen Fragen und ausländischer Experten zu einer mehrtägigen des Abgeordneten Rollmann (CDU/CSU) (Druck- Sitzung Anfang des nächsten Jahres nach Heidelberg sache VI/3783 Fragen B 30 und 31) : einzuladen. Auf dieser Tagung werden die Instituts- Ist der Bundesregierung bekannt und billigt sie, daß offenbar direktoren ihr Forschungsprogramm vorstellen, es nach einem Erlaß des niedersächsischen Kultusministers vorn 20. Dezember 1971 (Az. 2031 — B V 2 n — 35/71) Studenten, die mit den Experten diskutieren und von diesen begut- Ausbildungsförderung erhalten, für Unterbringungs- und Fahrt- kosten bei auswärtigen Schulpraktika einen Mehrbedarf nach achten lassen. Das auf diese Weise erarbeitete For- § 13 Abs. 5 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes geltend schungsprogramm soll dann der Offentlichkeit über- machen können, während der Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen nach einem Rund- geben werden. erlaß vom 7. Juli 1972 (Az. I B 7 44-39 Nr. 01182/72) dies nicht zulassen will? Wird die Bundesregierung durch Präzisierung der Ausführungs- bestimmungen sicherstellen, daß § 13 Abs. 5 des Ausbildungsförde- rungsgesetzes in den Bundesländern einheitlich gehandhabt wird (damit die Chancengleichheit der Studenten wiederhergestellt Anlage 43 wird)?

Schriftliche Antwort Aufwendungen, die Studenten der Erziehungswis- senschaft für die Durchführung des im Rahmen dieses des Parlamentarischen Staatssekretärs Westphal Studiums abzuleistenden vier- bis sechswöchigen vom 20. September 1972 auf die Schriftlichen Fragen Praktikums treffen, können nicht als „besondere Auf- des Abgeordneten Löffler (SPD) (Drucksache VI/3783 wendungen" nach § 13 Abs. 5 Bundesausbildungs- Fragen B 28 und 29) : förderungsgesetz (BAföG) angesehen werden. Für Trifft es zu, daß mangels zentraler Lebensmittelüberwachungs- die Unterbringungs- und Fahrkosten während eines ämter an den Grenzen aus Dänemark, Belgien und den Nieder- landen gekochter Schinken eingeführt wird, der mit Phosphat auswärtigen Schulpraktikums kann ihnen Ausbil- behandelt worden ist und nach deutschen Bestimmungen nicht in dungsförderung daher nur nach Maßgabe des § 13 den Handel gelangen dürfte? Abs. 1 bis 3 BAföG geleistet werden. Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um Verbraucher und einheimische Erzeuger dieser Produkte vor Schaden und Nach- Danach kann zur Abgeltung von Fahrkosten für teilen zu bewahren, die sich aus dem Import solcher Produkte ergeben? die Dauer des Praktikums der Pauschalbetrag von 11838 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

30,— DM gezahlt werden, wenn die Voraussetzun- ver Tuberkulose Erkrankten von 401 817 auf 189 122 gen des § 13 Abs. 3 BAföG vorliegen (der Auszu- Kranke im Jahre 1970 verringert, davon waren bildende wohnt während der Ausbildung bei seinen 120 523 Männer und 68 599 Frauen. Bezogen auf Eltern und die Wohnung der Eltern liegt nicht am 100 000 Einwohner gleichen Geschlechts ergibt sich Ort der Ausbildungsstätte). eine Bestandsziffer von 413,0 für das männliche und Die Leistung von Ausbildungsförderung für die von 214,3 für das weibliche Geschlecht. Im Ver- Unterkunft ist in § 13 Abs. 2 BAföG und Tz 13.5.7 gleichsjahr 1958 lauten diese Ziffern 924,4 für die bis 13.5.9 BAföGVwv-E abschließend geregelt. Ins- Männer und 570,3 für die Frauen. Ein Viertel der besondere können nicht gleichzeitig für die Unter- 189 122 Kranken hatte eine offene Tuberkulose der kunft am Hochschulort und am Praktikumsort Lei- Atmungsorgane. Auch die Bestandsziffer der Per- stungen erbracht werden. sonen mit offener Tuberkulose der Atmungsorgane ist in den letzten Jahren zurückgegangen und zwar Diese nach Art. 85 GG für die Ausführung des beim männlichen Geschlecht von 244,0 im Jahre 1958 Bundesausbildungsförderungsgesetzes verbindliche auf 100,1 im Jahre 1970 und beim weiblichen Ge- Rechtsauffassung des Bundesministers für Jugend, schlecht von 88,5 auf 30,2. Familie und Gesundheit ist den obersten Landesbe- hörden für Ausbildungsförderung durch Runderlaß Die Zugänge der an aktiver Tuberkulose Erkrank- vom 24. Juli 1972 — Az.: J 3 — 1982-20-72/8 — be- ten sind wesentlich zurückgegangen von 84 744 im kanntgemacht worden. Jahre 1958 auf 48 262 im Jahre 1970. Die Erkran- Aus Anlaß der Beantwortung dieser Anfrage habe kungsziffer (Erkrankte auf 100 000 Einwohner) ist damit von 155,8 im Jahre 1958 auf 79,3 im Jahre ich Auskünfte der Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen eingeholt. Danach sind die Ämter 1970 gefallen. für Ausbildungsförderung in Nordrhein-Westfalen Rund ein Drittel aller Zugänge an Tuberkulose angewiesen, entsprechend dem vorbezeichneten beim männlichen Geschlecht entfielen im Jahre 1970 Runderlaß zu verfahren; der Erlaß des Ministers für auf die offene Tuberkulose der Atmungsorgane, Wissenschaft und Forschung vom 7. Juli 1972 ist während beim weiblichen Geschlecht dieser Anteil geändert worden. Nach der Auskunft des Landes bei 23 % lag; etwa 23 % der Zugänge waren Niedersachsen führt die dort beachtete Förderungs- Wiedererkrankte. praxis auch derzeit schon zu demselben Ergebnis. Der förmliche Erlaß des Niedersächsischen Kultus- Ein internationaler Vergleich ist durch sehr un- ministers vom 20. Dezember 1971 wird derzeit über- einheitliche Methoden der Erfassung wie unter- arbeitet mit dem Ziel, ihn der vorbezeichneten Wei- schiedliche Definitionen außerordentlich einge- sung des Bundesministers für Jugend, Familie und schränkt. Angaben können deshalb nur unter Gesundheit anzupassen. größtem Vorbehalt gemacht werden. Die Bundesregierung hat durch ihren Runderlaß Die Entwicklung der Tuberkuloseinzidenz von vom 24. Juli 1972 — Az.: J 3 — 1982-20-72/8 — be- 1958 bis 1968 läßt beispielsweise in nachstehenden reits alles Erforderliche getan, um sicherzustellen, Bereichen folgenden Rückgang erkennen: daß § 13 BAföG gegenüber den Studenten der Er- in England und Wales um 67 % ziehungswissenschaft in den Bundesländern einheit- in Japan um 62 % lich gehandhabt wird. in der DDR um 60 % in der BRD um 44 % in den USA um 41 % Anlage 45 in Frankreich um 15 %. Die Bundesregierung hält ein Gesetz über eine Schriftliche Antwort jährliche Röntgenreihenuntersuchung aller Bürger des Parlamentarischen Staatssekretärs Westphal zur Zeit nicht für notwendig. vom 20. September 1972 auf die Schriftlichen Fragen Einer regelmäßigen Überwachung bedürfen außer des Abgeordneten Kater (SPD) (Drucksache VI/3783 den Erkrankten in erster Linie die sogenannten Fragen B 32 und 33) : „gesunden Befundträger", d. h. Menschen mit ab- Kann die Bundesregierung Angaben über die Entwicklung der geheilten Organmanifestationen, da sich 80 % der Tuberkuloseerkrankungen in der Bundesrepublik Deutschland und in den benachbarten Staaten in den letzten Jahren machen? Tuberkuloseerkrankungen von zur Zeit etwa Sieht die Bundesregierung eine Notwendigkeit und Möglich- 48 000 im Jahr aus dieser Personengruppe rekru- keit, vorbeugende alljährliche Röntgenreihenuntersuchungen zur rechtzeitigen Erkennung tuberkulöser Infektionen für alle Bürger tieren. Ob es für diesen Personenkreis — es dürfte der Bundesrepublik Deutschland verbindlich festzulegen? sich um 4-5 % der erwachsenen Bevölkerung han- deln, die im übrigen als aus früheren Untersuchun- Auf Grund der Meldungen der Gesundheitsämter gen bekannt angesehen werden können — erforder- stehen der Bundesregierung jährlich Angaben über lich ist, die Röntgen-Überwachung gesetzlich vor- die an aktiver Tuberkulose Erkrankten, d. h. der zuschreiben, soll im Zuge der Erörterungen über offenen und geschlossenen Tuberkulose der „Vorschläge zur Neuordnung der Tuberkulose- Atmungsorgane sowie der Tuberkulose anderer bekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland" Organe, zur Verfügung. Hiernach ist seit Jahren ein geklärt werden, die jüngst vom Deutschen Zentral- kontinuierlicher Rückgang der Erkrankungen fest- komitee zur Bekämpfung der Tuberkulose vorgelegt zustellen. So hat sich seit 1958 die Zahl der an akti- worden sind. Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11839

Anlage 46 gen in einen Stückgutort umzuwandeln, wurden vorläufig fallengelassen. Schriftliche Antwort Die Konzentration des Gutaufkommens bei den des Parlamentarischen Staatssekretärs Haar vom Stückgutbahnhöfen Sigmaringen bzw. Aulendorf 20. September 1972 auf die Schriftliche Frage des hätte den Vorteil, daß dann von diesen Stellen Abgeordneten Dr. Schmitt-Vockenhausen (SPD) direkte Wagen nach entfernt gelegenen Umlade- (Drucksache VI/3783 Frage B 34) : stellen gebildet werden könnten. Bei der bisheri- Was kann geschehen, damit der Ausbau der alten B 44 von gen Zersplitterung des Gutaufkommens ist dies bis- Biebesheim bis zum Ortsanfang Stockstadt, insbesondere durch eine vordringliche Durchführung der Verbreiterung zweier zu lang von keiner dieser Stellen aus möglich. Die Bil- schmaler und verkehrsgefährdender Brücken, beschleunigt werden dung direkter Wagen bedeutet für die darin beför- kann? derten Stückgüter eine wesentliche Verkürzung der Beförderungszeit und für die Bundesbahn durch den Im Bereich der beiden vorhandenen Brücken (über Wegfall von Umladungen eine Verringerung ihrer Modau und Fanggraben) im Zuge der B 44 befindet Kosten. sich ein verkehrstechnisch ungünstiger und enger Bogen. Um diesen Bogen auszuschalten, muß die Das Wirtschaftsergebnis des Stückgutverkehrs Trasse der bestehenden B 44 geringfügig verlegt, könnte somit verbessert werden. und die beiden Brückenbauwerke neu gebaut wer- Eine endgültige Entscheidung über das weitere den. Eine Verbreiterung der beiden Brückenbau- Vorgehen ist noch nicht getroffen worden. Dies ist werke brächte dagegen keine Verbesserung. erst nach Anhörung der Gemeinden sowie der Ver- Die Planungsarbeiten sind im Gange, so daß An- bände von Industrie und Handel im dortigen Bereich fang 1973 das Planfeststellungsverfahren eingeleitet möglich. Die Bundesbahndirektion Stuttgart hat werden kann. Sobald die rechtlichen und baulichen hierzu erste Gespräche bereits mit der zuständigen Voraussetzungen geschaffen sind, soll Ende 1973 Industrie- und Handelskammer Ravensburg geführt. bzw. Anfang 1974 mit den Bauarbeiten begonnen werden. Eine Beschleunigung des Bauvorhabens ist kaum möglich, da — wie die Erfahrung zeigt — die noch zur Verfügung stehende Zeit für die Bauvor- Anlage 48 bereitungsarbeiten voll genutzt werden muß. - Schriftliche Antwort

des Parlamentarischen Staatssekretärs Haar vom 20. September 1972 auf die Schriftliche Frage des Anlage 47 Abgeordneten Weigl (CDU/CSU) (Drucksache 171/3783 Frage B 37) : Schriftliche Antwort Wird die Bundesregierung nach der in Bayern vollzogenen Ge- bietsreform die Planungen für den Bundesstraßenbau, bzw. -aus des Parlamentarischen Staatssekretärs Haar vom bau, auf die Erfordernisse der neuen Landkreise hin überprüfen, z. B. durch den vorzeitigen Ausbau der B 299 zwischen Erben- 20. September 1972 auf die Schriftlichen Fragen des dorf—Reuth—Falkenberg als der wichtigsten Verbindungsstraße Abgeordneten Maucher (CDU/CSU) (Drucksache des neuen Kreises Tirschenreuth? VI/3783 Fragen B 35 und 36) : Die Gebietsreform in Bayern hat auf den Aus- Ist der Bundesregierung bekannt, daß bei verschiedenen Bahn- höfen der Deutschen Bundesbahn die Stückgutabfertigung aufge- bau der Bundesfernstraßen keinen Einfluß. Dieser hoben werden soll, so z. B. in Mengen, Riedlingen und Saulgau? Ausbau wird nach dem Ausbauplan für die Bun- Ist die Bundesregierung bereit, sich dafür einzusetzen, daß desfernstraßen und dem 1. Fünfjahresplan (1971- diese Maßnahme wegen ihrer wirtschaftlichen und personellen Auswirkungen nicht durchgeführt wird? 1975) vollzogen. Zur Zeit wird im Raum Weiden/Tirschenreuth Die Organisation des Sütckgutdienstes liegt in der die B 22 zwischen Altenstadt und Erbendorf ausge- Hand der Deutschen Bundesbahn. Die Hauptverwal- baut. Im Anschluß daran soll der Ausbau der B 299 tung der Deutschen Bundesbahn hat mir zu ihren Erbendorf—Reuth erfolgen. Planungen für den Stückgutverkehr in dem von Ihnen genannten Raum folgendes mitgeteilt: In Anbetracht des geringfügigen Stückgutaufkom- mens in Mengen, Riedlingen und Saulgau hat die Anlage 49 zuständige Bundesbahndirektion Stuttgart interne Untersuchungen darüber angestellt, welche Möglich- Schriftliche Antwort keiten einer weiteren Konzentration im Stückgut verkehr mit dem Ziel der Verbesserung des wirt- des Parlamentarischen Staatssekretärs Haar vom schaftlichen Ergebnisses im genannten Raum gege- 20. September 1972 auf die Schriftlichen Fragen des ben sind. Nach dem vorläufigen Ergebnis dieser Abgeordneten Erhard (Bad Schwalbach) (CDU/CSU) Überlegungen erscheint es zweckmäßig, Mengen als (Drucksache VI/3783 Fragen B 38 und 39) : Stückgutort per Lkw im Haus-Haus-Stückgutflächen- Trifft es zu, daß ein Postbeamter des höheren Dienstes — min- destens zunächst — nicht befördert wurde, weil sich dieser Beamte dienst von Sigmaringen und Saulgau als Stückgut- als Mitglied der Hauptversammlung der gemeinnützigen Stiftung ort von Aulendorf aus zu bedienen. Die ersten Über- „Postwaisenhort" gegen eine vom Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen gewünschte Zweckentfremdung von legungen, den bisherigen Stückgutbahnhof Riedlin- Geldmitteln dieser Stiftung ausgesprochen hatte? 11840 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972

Wie soll für den Fall, daß die vorstehende Frage bejaht wird, sichergestellt werden, daß derartige Fehlentscheidungen künftig Um alle Möglichkeiten auszuschöpfen, im Post- vermieden werden? reisedienst die wirtschaftliche Situation zu ver- bessern, wurden Anfang 1971 auch die Außenflächen Vorab möchte ich mit aller Entschiedenheit den in der Kraftpost-Omnibusse für die Werbung freigege- Ihrer Frage versteckten Vorwurf zurückweisen, das ben. Dies hatte zur Folge, daß an beiden Seiten der Bundesministerium für das Post und Fernmeldewe- Fahrzeuge nur eng begrenzte Flächen für die Eigen- sen habe Mittel der gemeinnützigen Stiftung Post- beschriftung zur Verfügung blieben. Deshalb wurde waisenhort zweckentfremdet verwenden wollen. Es in Verbindung mit dem Posthorn die Abkürzung handelt sich vielmehr um einen vom Vorstand des „DBP" gewählt. Zugleich erfolgte damit eine An- Postwaisenhorts erarbeiteten und der Hauptver- passung an die seit einiger Zeit mit uns im Verbund sammlung zur Beschlußfassung vorgelegten Sat- verkehrenden Omnibusse der Deutschen Bundes- zungsentwurf, nach dem u. a. die Mitgliedschaft in bahn, deren Beschriftung seit Jahren „DB" lautet. den Organen der Stiftung paritätisch vertreten sein Um eine Einheitlichkeit der Beschriftung im Fahr- und auch die Altenbetreuung in den Aufgabenkreis zeugpark der DBP zu erzielen, wurde diese Maß- aufgenommen werden sollte. nahme Mitte 1971 auf die übrigen Kraftfahrzeuge und Anhängerfahrzeuge zunächst nur bei Neu- Der Hauptpersonalrat beim Bundesministerium für fahrzeugen — ausgedehnt. Diese Vereinheitlichung das Post- und Fernmeldewesen hat zwar wegen der bringt Ersparnisse u. a. beim Beschaffen und An- bei dieser Hauptversammlung des Postwaisenhorts bringen der Folien. zutage getretenen Einstellung eines Beamten des höheren Dienstes gegen dessen Verwendung im per- Ich darf feststellen, daß auch in der eben ge- sonellen Bereich Bedenken erhoben; diese Bedenken schilderten Änderung ein — wenn auch kleiner Bei- haben jedoch auf die Beförderung des Beamten kei- trag zu sehen ist, um die wirtschaftliche Gesamtlage nen Einfluß gehabt, sondern sind ihm lediglich aus der Post zu verbessern. Keinesfalls ist in dieser Gründen der Transparenz zur Stellungnahme zuge- Maßnahme eine Aufgabe der Bezeichnung „Deutsche leitet worden. Bundespost" zu sehen; der Begriff „deutsch" ist da- mit nicht aus dem Sprachgebrauch der Deutschen Die Nichtberücksichtigung der Bewerbungen des Bundespost verdrängt worden. Zudem darf ich noch Beamten war in 11 Fällen darauf zurückzuführen, darauf hinweisen, daß die Abkürzung „DBP" für daß die Präsidenten der Oberpostdirektionen dienst- „Deutsche Bundespost" nicht nur in meinem Hause ältere oder für den Dienstposten geeignetere Be- seit längerem gebräuchlich ist. amte vorgeschlagen haben. Bei der 12. Bewerbung bei der dann erstmals Bedenken des Hauptperso- nalrates gegen den Einsatz des Beamten im perso- nellen Bereich vorgetragen wurden — sind auch alle anderen Bewerber abschlägig beschieden worden. Anlage 51 Die entsprechende Ausschreibung des Dienstpostens Schriftliche Antwort wurde nicht gewertet, weil der Akademische Senat der Fachhochschule Berlin der Deutschen Bundes- des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf post bei der Auswahl der Bewerber nicht beteiligt vom 21. September 1972 auf die Schriftliche Frage worden war. Bei der 2. Ausschreibung hat sich der des Abgeordneten Dr. Slotta (SPD) (Drucksache Beamte nicht mehr um diesen Dienstposten bewor- VI/3783 Frage B 41) : ben. Ihm wurde inzwischen aufgrund einer anderen Hält es die Bundesregierung für gerechtfertigt, daß in Pension Bewerbung vom 19. 12. 71 ein höherwertiger Dienst- getretene Bergleute der Saarbergwerke AG nach Aufkündigung des Mietvertrags aus den werkseigenen Wohnungen in Jägers- posten übertragen. Der Vorwurf einer personellen freude ausziehen müssen, nachdem einem Teil durch das vor- zeitige Eintreten in den Ruhestand bereits Einbußen beim Alters- Fehlentscheidung ist unbegründet. ruhegeld entstanden sind, und welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung zur Verhinderung dieser Maßnahme?

Die Saarbergwerke AG hat in 8 Fällen Werks- wohnungen gekündigt, die von pensionierten Be- Anlage 50 legschaftsangehörigen bewohnt sind; keiner dieser Pensionäre ist vorzeitig in den Ruhestand getreten. Schriftliche Antwort Der Grund für die Kündigung ist der erhebliche Be- darf an größeren Wohnungen für Belegschaftsmit- des Parlamentarischen Staatssekretärs Haar vom glieder mit mehreren Kindern. 20. September 1972 auf die Schriftliche Frage des Abgeordneten Niegel (CDU/CSU) (Drucksache Der Vorstand hat den Mietern zugesagt, keine VI/3783 Frage B 40) : Zwangsmaßnahmen zu ergreifen. Vielmehr werden sich die Mieter und die Saarbergwerke AG um an- Welche Gründe veranlassen die Bundesregierung, den Begriff „Deutsch" bei Aufschriften auf Wagen der Deutschen Bundespost dere Wohnungen bemühen. Das Unternehmen prüft nicht mehr zu verwenden, und zwar statt der Bezeichnung Deut- z. Z. den Verkauf eines Grundstücks in Jägers- sche Bundespost nur noch .DBP" zu schreiben? freude an eine Gemeinnützige Siedlungsgesell- schaft, die dort Wohnungen für ältere Menschen er- Es waren ausschließlich wirtschaftliche Gründe„ richten will. die die Bundesregierung veranlaßt haben, für die Beschriftung der Fahrzeuge der Deutschen Bundes- Bei diesen Maßnahmen handelt es sich um eine post die Abkürzung „DBP" zu wählen. Angelegenheit der Saarbergwerke AG. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 199. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. September 1972 11841

Anlage 52 nichts entnehmen, weil lediglich der Zeitraum von zwei Monaten — die Durchführungsverordnung trat Schriftliche Antwort erst am 1. November 1971 in Kraft - erfaßt wird. des Bundesministers Dr. von Dohnanyi vom 22. Sep- Die Länder können nach § 15 GFG die Stipendien, tember 1 , 972 auf die Schriftliche Frage der Abgeord- die bisher auf Grund von Vergaberichtlinien der neten Frau Dr. Walz (CDU/CSU) (Drucksache VI/3783 Länder gewährt worden sind und die dem Zweck Frage B 42) : des GFG entsprechen, auf das GFG überleiten. So-

Wie hat sich das Graduiertenförderungsgesetz zur Steigerung weit mir bekannt ist, haben alle Länder hinsichtlich des Hochschullehrernachwuchses, zahlenmäßig auf Länder aufge- ihrer Promotionsstipendien von dieser Möglichkeit schlüsselt, ausgewirkt, und trifft es zu, daß einzelne Länder schon bestehende Promotionsförderungen aus Landesmitteln in Gebrauch gemacht. Graduiertenförderung umfunktioniert haben, ohne die auf Grund des neuen Gesetzes gestellten Anträge zufriedenstellend zu be- rücksichtigen? Nach § 13 Abs. 1 GFD trägt zunächst bis 1974 der Bund 75 vom Hundert und tragen die Länder Mit der Vergabe der ersten Stipendien nach dem 25 vom Hundert der durch die Ausführung dieses Graduiertenförderungsgesetz (GFG) konnte von den Gesetzes entstehenden Ausgaben. Der Bundesanteil Ländern bzw. Hochschulen erst nach dem Inkraft- an der Graduiertenförderung für 1972 ist von den treten der Durchführungsverordnung zum GFG am vorgesehenen 76 Millionen DM im Juni 1972 auf 1. November 1971 begonnen werden. Infolge dieses 59,5 Millionen DM reduziert worden, weil in den relativ kurzen Zeitraums seit der Gewährung der Ländern — nach deren Vorausschätzungen von An- ersten Graduiertenstipendien und unter Berücksich- fang 1972 — nur Komplementärmittel in entspre- tigung der Regelförderungsdauer von zwei Jahren chender Höhe zur Verfügung stehen. Nach neuesten kann sich dieses Gesetz noch nicht auf eine Steige- Angaben aus den einzelnen Ländern wird selbst rung des Hochschullehrernachwuchses ausgewirkt dieser Bundesanteil nicht in voller Höhe von den haben. Erst vom nächsten Jahr an wird sich in zu- Ländern in Anspruch genommen werden. Folglich nehmendem Maße die Bedeutung dieses Gesetzes werden für die Graduiertenförderung im Jahre 1972 weniger Mittel benötigt und von den Ländern an- für den Hochschullehrernachwuchs zahlenmäßig gefordert, als es den Vorstellungen der Bundes- offen erkennen lassen. Es ist also zu früh, um Ihre regierung entspricht; die Gesamtzahl der in diesem Frage wirklich zu beantworten. Jahr gewährten Graduiertenstipendien wird nicht Die Länder sind gemäß § 14 Abs. 2 GFG ver- die von der Bundesregierung gewünschte Höhe er- pflichtet, mir durch jährliche Mitteilung über die reichen. Dies hat zur Folge, daß die Zahl der zur Zahl der im Jahr gewährten Graduiertenstipendien Verfügung stehenden Stipendien an einigen Hoch- Auskunft zu geben. Folglich werde ich erst nach schulen noch nicht dem Bedarf entspricht. Es ist zu Ablauf dieses Jahres nach Ländern aufgeschlüsselte hoffen, daß die Länder die für die Finanzierung Angaben machen können. Aus den Angaben der ihres 25 v. H.-Anteils erforderlichen Mittel im näch- Länder für 1971 — soweit diese vorliegen — läßt sten Jahr in wünschenswertem Umfang steigern sich aber für eine Auswirkung des GFG deshalb werden.