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MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Frauen, Zeit

a Der Feminismus, so heißt es, sei in die Jahre ge- kommen, aber was kommt eigentlich danach? Die SPIEGEL-Redakteure Thomas Hüetlin und Marianne Wel- lershoff haben “Emmas Töchter“ gesucht – und dabei eine neue Art Frau gefunden, die sich “Babe“ oder “Girlie“ nennt, ihre eigenen Zeitschriften und Vi- deos hat sowie mit kurzen Röcken und klobigen Kampfstiefeln in New York oder Berlin herumläuft. Popkünstlerinnen wie Courtney Love oder Liz Phair verbreiten die Inhalte dieser neuen Weiblichkeit: viel Sex, viel Spaß und keinesfalls ein verbisse- ner Männerhaß. Was wohl, so lautete die Girlie- Frage im Gespräch mit den SPIEGEL-Leuten, Alice Schwarzer von ihnen halte, und Hüetlin und Wel- lershoff wollten es dann ebenfalls wissen. “Wir arbeiten an diesem Thema“, entgegnete eine Assi- stentin der deutschen Spitzenfeministin, “können Sie uns vielleicht weiterhelfen?“ Der SPIEGEL half, aber es half nichts: Chefin Schwarzer war zu keinem Kommentar bereit (Seite 104).

a In einer Zeit der Verkehrsturbulenzen, der verspä- teten Flüge und der Hochgeschwindigkeitszüge ist Reiseplanung zu einem schwierigen Fach geworden, und der Stadtplaner Rem Koolhaas beherrscht das aus dem Effeff. Der Niederländer hat ein riesiges neues Bahnhofs- viertel im nord- französischen Lille entworfen, Schnittpunkt für die TGV-Expreßzü- ge, die nach der Eröffnung des Är- melkanal-Tunnels die Fahrzeiten

J. SCHWARTZ zwischen London, Koolhaas, Mönninger Brüssel und Paris um viele Stunden verkürzen werden (Seite 182). Mit “ihren Türmen, Brücken und Schluchten“ wirkte die- se Anlage auf SPIEGEL-Redakteur Michael Mönninger “wie eine abgestürzte Weltraumstation – ein Alp- traum“, aber wie rückständig er doch ist, erfuhr Mönninger auf der Stelle. Architekt Koolhaas lach- te laut los, als der SPIEGEL-Mann ihm seine An- fahrtroute erzählte – geplant mit dem Finger auf der Landkarte und daher mit dem Flugzeug von Ham- burg nach Amsterdam, mit der Bahn nach Rotterdam und per Auto nach Lille. Völlig falsch! Nur halb so lang, empfahl nachsichtig der Meisterplaner, dauere ein Weg, der doppelt soweit ist: “Das nächste Mal nehmen Sie einen Flieger nach Paris oder London und sind mit dem TGV in Stundenfrist zurück in Lille.“

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TITEL INHALT Chipkarten revolutionieren das menschliche Zusammenleben ...... 62 Kompromisse und ein Coup Seiten 18, 26 KOMMENTAR Rudolf Augstein: Bescheiden geht Helmut Der „Schnupperstaat“ ...... 22 Kohl in seine letzten Kanzler-Jahre. Er übt Für- sorge für die moribunde DEUTSCHLAND FDP, dankt Panorama ...... 16 es ihm mit Loyalität. Die Regierung: Übungen in Rücksicht Regierungserklärung und Großmut ...... 18 diese Woche wimmelt SPIEGEL-Gespräch mit Wolfgang Schäuble von Kompromissen auf über den Start der neuen Regierung niedrigem Niveau. Einzi- und schwarz-grüne Zusammenarbeit ...... 20 ger Überraschungscoup Minister: Kohls Fachmann für die Zukunft ...... 24 des Kanzlers: Sein Kabi- Jung, hoch konservativ, unkonventionell: Kohls Coup mit ...... 26 nett ziert die für Bonner

SPD: Das Ende der Troika? ...... 27 Verhältnisse blutjunge F. DARCHINGER Europa: Interview mit EU-Kontrolleur Claudia Nolte. Kohl, Nolte über Gaunereien in Brüssel ...... 29 FDP: Hans-Joachim Noack über den künftigen Generalsekretär ...... 30 Autotelefon: Gespräche auf Staatskosten? ...... 31 „Wie die Kugel im Kasino“ Seite 97 Polizei: Interview mit dem brandenburgischen Innenminister Alwin Ziel über Der Fall Metallgesellschaft trug der Deutschen Bank und ihrem ausländerfeindliche Beamte ...... 32 Vorstand Ronaldo Schmitz viel Kritik ein. „Wenn man weiß, wie Werbung: Reklame in der Uni-Vorlesung ...... 34 die Kugel im Kasino gelaufen ist“, so Schmitz im SPIEGEL-Ge- Justiz: Darf Richter Orlet spräch, „läßt sich leicht über die richtige Strategie reden.“ vor Gericht gestellt werden? ...... 35 Linke: SPIEGEL-Streitgespräch zwischen Erhard Eppler und Lothar Bisky über die Konkurrenz von SPD und PDS ...... 36 Stasi: Warum Gregor Gysis Ex-Mandanten Zoff bei Volkswagen Seite 92 den Anwalt verfolgen ...... 45 Terroristen: Trickreiche Jagd auf den Volkswagen-Chef Carlos-Vertrauten Johannes Weinrich ...... 49 Ferdinand Pie¨ch ge- Rauschgift: Hamburg plädiert für rät unter Druck. VW- Fixerstuben ...... 50 Manager haben sich Gastarbeiter: Heimliche Helfer beim Aufsichtsrat aus Osteuropa ...... 54 beschwert, der dik- Forum ...... 61 Prozesse: Mainzer Gericht verhandelt den tatorische Pie¨ch fü- bislang schwersten Fall von Kindesmißbrauch .....81 ge dem Konzern Bildung: Erste Hochschule für Senioren ...... 83 schweren Schaden Schule: Manager sollen Schulräte ablösen ...... 87 zu. Bei den Kontrol- leuren wachsen die WIRTSCHAFT Zweifel, ob mit Pie¨ch der richtige Trends ...... 91

H. SCHWARZBACH / ARGUS Mann an der Spitze Manager: Aufbegehren bei VW gegen Pie¨ch .....92 VW-Produktion (in Mosel) des Konzerns steht. Arbeitnehmer: Unmut in Eisenhüttenstadt ...... 95 Briefmarken: Falsche Ware aus dem Osten ...... 96 Konzerne: SPIEGEL-Gespräch mit dem Uni für Alte Seite 83 Aufsichtsratsvorsitzenden Ronaldo Schmitz über das Debakel der Metallgesellschaft ...... 97 Immer mehr Rentner Kommunikation: Wettlauf auf der Infobahn ..... 100 entwickeln einen späten Bildungsdrang: Die Zahl GESELLSCHAFT der Senioren an den Hochschulen wächst, Spectrum ...... 103 bevorzugte Fächer sind Frauen: Der „Mädchen“-Kult propagiert Kunst, Literatur und einen neuen Feminismus ...... 104 Philosophie. In Baden- Interview mit drei jungen Frauen Württemberg entsteht über das Erbe der Emanzipation ...... 111 die erste Uni für Alte. Im Exzentriker: Raucherpartys in den USA ...... 117 Herbst nächsten Jahres

sollen die Vorlesungen R. JANKE / ARGUS SERIE beginnen. Senioren-Studenten in Hamburg Mandela-Memoiren (II): Apartheid und Guerillakrieger ...... 120

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AUSLAND Panorama Ausland ...... 138 Bosnien: Zerreißprobe für den Westen ...... 140 Interview mit Ministerpräsident Haris Silajdzˇic´ über den Kampf der Moslems ...... 142 Seite 144 Clintons Chancen Palästina: Arafats Kriegserklärung an die Fundamentalisten ...... 142 Der US-Präsident – ein USA: SPIEGEL-Gespräch mit dem Historiker Jammerlappen, der Arthur Schlesinger über Amerikas Wählerzorn nicht kämpfen kann? und das Scheitern der Demokraten ...... 144 Trotz der Wahlnieder- Norwegen: Erich Wiedemann über lage sieht der Histori- den Widerstand gegen den Beitritt zur EU ...... 147 ker Arthur Schlesinger Sanktionen: Carlos Widmann über Chancen für Clinton, den Widersinn der amerikanischen wenn er die versproche- Embargo-Politik ...... 150 nen Reformen endlich Schweiz: Zwangsmaßnahmen gegen Ausländer 158 mutig anpackt. In ei- Afrika: Der Überlebenskampf der Tuareg ...... 160 SABA nem SPIEGEL-Gespräch Großbritannien: Die Maxwell-Witwe analysiert der einsti- rechnet ab ...... 163

ge Kennedy-Berater den GIORDANO / Ukraine: Ein Partisanenführer wird Frust der Amerikaner. Schlesinger zum Nationalhelden ...... 164

SPORT Boxen: Prügelknaben für die deutschen Tagelöhner aus dem Osten Seite 54 Sieger ...... 168 Interview mit dem Schriftsteller Sie ackern auf Kohl- Wolf Wondratschek über die feldern, schuften Box-Inszenierungen ...... 171 auf Baustellen oder Fußball: Chinas Talente trainieren in Privatgärten: Ein in Brasilien ...... 175 Heer von Tagelöh- nern aus Osteuropa KULTUR ist in Deutschland Szene ...... 180 unterwegs, immer Architektur: Der holländische Städtebauer auf der Suche nach Rem Koolhaas und das futuristische Gelegenheitsjobs. Bahnhofsviertel von Lille ...... 182 In vielen Branchen Oper: Georg Tabori inszeniert in Leipzig sind die Billigkräfte Schönbergs „Moses und Aron“ ...... 189

R. STRIPPELMANN längst unentbehr- Film: „Die Maske“ von Charles Russell ...... 193 Polnische Wanderarbeiter bei der Kohlernte lich. Stars: Hans Meiser, das Massenidol des deutschen Fernsehens ...... 194 Unterhaltung: Adolf Winkelmanns TV-Thriller „Gefährliche Spiele“ ...... 198 Friesisches Atlantis Seite 214 Fernsehen: Wie ARD und ZDF den kleinen Kulturkanal Arte ausbeuten ...... 201 Ist die im Jahr 1362 nach einer Sturmflut versunkene Friesen-Metro- Biographien: Säufer, Sexualprotz, Chauvinist: pole Rungholt wiederaufgetaucht? Ein Bremer Wissenschaftler fand der Heidedichter Hermann Löns ...... 204 im Wattenmeer Tonkrüge, Tierknochen und steinerne Fundamente. Bestseller ...... 206 Fotografie: Cecil Beatons unwirkliche Prominenten-Porträts ...... 210 Fernseh-Vorausschau ...... 234 Emmas Töchter Seite 104 WISSENSCHAFT Sie sind ziemlich clever, sie lassen Männer die Prisma ...... 212 Drecksarbeit machen, Archäologie: Auf den Spuren der und sie können sich versunkenen Friesen-Metropole Rungholt ...... 214 stundenlang darüber Medizin: Viele Gebärmutter-Operationen unterhalten, wie man ei- sind voreilig und unnötig ...... 218 nen Lippenstift am be- sten aufträgt. Eine neue TECHNIK Generation von jungen Kühlsysteme: Kälteerzeugung durch Frauen will wild und fe- Krach und Kristalle ...... 222 minin sein, einfühlsam Rüstung: Spionage-Satelliten für und egoistisch. Eine ih- Europa ...... 224 rer Botschaften heißt: Automobile: Volks-Porsche für China ...... 228 „Gute Mädchen kom- Briefe ...... 7 men in den Himmel, bö- VISAGES / INTER-TOPICS se überallhin.“ Mädchen-Idol Schauspielerin Barrymore Impressum ...... 14 Personalien ...... 230 Register ...... 232 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 238

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BRIEFE LICHTBLICK S. SAUER / Taiji-Gruppe (in Berlin): Viele Dinge zwischen Himmel und Erde Zwei Einsteins Nun kämmt auch Dr. Gallmeier im Auftrag der Deutschen Krebshilfe seine (Nr. 45/1994, Titel: Wie sich der Körper Krankenakte auf Spontanremissionen selbst kuriert – Heilkraft der Seele) durch. Gut! Warum aber werden die Man traut seinen Augen nicht. Denn das Erkenntnisse und Entdeckungen von ist ja ein Problem des SPIEGEL: So fort- Dr. Hamer seit über einem Jahrzehnt schrittlich er sonst ist, in allem was Thera- weggebürstet? pien, Psychologie, Spiritualität, Neue Bozen DR. OSKAR AUSSERER Zentrum zur Dokumentation Wissenschaft, Esoterik, Neues Bewußt- von Naturheilverfahren sein betrifft, ister weit hinterm Mond und will einfach nicht zur Kenntnis nehmen, Nachdem die Schulmedizin mittlerweile daß die Paradigmen sich wandeln. Ist die- zugeben muß, daß es Dinge gibt, die es se Geschichte ein schüchternes Zeichen eigentlich gar nicht geben darf, versucht von Einsicht – in dem so gar nicht schüch- sie nun mit aller Macht, diese unter Zu- ternen Blatt? Gratuliere. hilfenahme anderer schulmäßiger Na- Baden-Baden turwissenschaften in ihr eigenes Welt- PROF. JOACHIM-ERNST BERENDT bild zu pressen. Wer als undogmati- Der Einstein der Medizin heißt Freud, scher Reiki-Eingeweihter erlebt, wie aber leider will kaum jemand etwas von die Energieform, die wir „Universale seinen Erkenntnissen wissen, weil sie Lebenskraft“ nennen, durch unseren darauf hinauslaufen, nicht Herr im eige- Körper fließt und bei absolut „Ungläu- nen Haus zu sein. Lieber glaubt man an bigen“ oder auch Kindern, die es noch die ausschließliche Wirkung von Pillen gar nicht verstehen können, ankommt und Spritzen oder an die alternative Seite und – selbst über etliche Kilometer hin- von Homöopathie, Handauflegen oder weg – wirkt, muß über derartig hilflose sogar „Wunder“, alssich mit den Einflüs- Erklärungsversuche schon lächeln. sen des eigenen Unbewußten von Krank- Kevelaer (Nordrh.-Westf.) MANFRED SCHOLL heit oder Gesundheit auseinanderzuset- Ihre Titelgeschichte ist eine historische zen. Großtat. Mir war danach, die Glocken Wiesbaden MARGOT NEUSER zu läuten; ich hatte nur gerade keinen Den „Einstein der Medizin“ gibt es be- Kirchturm zur Hand. reits. WilhelmReich hat 40Jahre lang mit Frankfurt am Main HEIDRUN KNIGGE wissenschaftlicher Methodik, nicht eso- Natürlich gibt es viele Dinge zwischen terisch, psychosomatische Vorgänge er- Himmel und Erde, für die wir keine Er- forscht. Unter anderem den bioenergeti- klärung haben – aber gerade darum ist schen Hintergrund der Krebsforschung. der von Ihnen geschmähte wissen- Hamburg CHRISTIAN LAWRENZ schaftsorientierte Ansatz in der Medizin Verwunderlich ist ja nicht, daß Schulme- notwendig. Spontanheilungen gibt es diziner von Wundern sprechen, wenn ein viele – so glücklich es im so seltenen Krebs sich zurückbildet. Ob Migräne, Einzelfall ist, so wenig darf es Grund Hauterkrankungen oder Krebse: Solche sein, Standards der Medizin aufzuge- „Wunder“erlebeichinmeinerPraxis täg- ben, gar ein staunendes Loblied zu sin- lich, auch ohne 190 Volt. gen auf selbstberufene Wundertä- Bodenteich (Nieders.) VOLKER ZOCH ter. Psychologische Praxis Bonn DR. UWE RUSCHER

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Dazu äußert sich Herr Faust in einem Wenn man diesen Bericht über das Interview, das J. W. von Goethe führte: Gespräch zur deutschen Einheit liest, wird man das Gefühl nicht los, daß Wenn ihrs nicht fühlt, ihr werdets nicht man für die nächsten 45 Jahre wird hö- erjagen, ren müssen, was alles schiefgelaufen ist Wenn es nicht aus der Seele dringt nach dem Mauerabbruch und warum Und mit urkräftigem Behagen man unter der Wiedervereinigung zu Die Herzen aller Hörer zwingt. leiden hätte. Bitte freut euch doch we- Sitzt ihr nur immer! leimt zusammen, nigstens ein bißchen. Braut ein Ragout von andrer Schmaus Luzern T. SCHMIDHAUSER Und blast die kümmerlichen Flammen Aus eurem Aschehäufchen ’raus! Mir wird übel, lese ich die selbstgefälli- Bewunderung von Kindern und Affen, gen Statements von ehemaligen SED- Wenn euch danach der Gaumen steht – Mitgliedern, Stasi-Angehörigen und Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen anderen, die jahrzehntelang vom politi- schaffen, schen System der DDR profitierten Wenn es euch nicht von Herzen geht. und heute die „Zerstörung ihrer Bio- graphien und Ausgrenzung“ beklagen. Kassel UDO HAUPERT Berlin D. FLEISCHER Psychologische Strategien im weitesten Definiert man „Intelligenz“ nicht völlig Sinne im Interesse der Prävention und falsch und zu Lasten der wirklich intel- Heilung von Krankheiten einzusetzen ligenten Bürgerrechtler und Reformer, ist guter, uralt-traditioneller Brauch des wenn man die staatstragenden Schlau- der Schulmedizin verpflichteten Arztes. berger und Mitmacher des ruinösen Dies ist einer der Faktoren, der ärztli- DDR-Machtapparates noch heute so ches Handwerk zur ärztlichen Kunst bezeichnet . . .? wachsen läßt. Diese Kunst setzt Persön- Braunschweig HANS-HARRO THIELE lichkeit, auch Charisma voraus. Die läßt sich nicht aus dem Lehrbuch lernen. Umarmen oder ausgrenzen? – Typisch Pulheim (Nordrh.-Westf.) für eine bestimmte Geisteshaltung. Al- DR. JÜRGEN FRITZE les wird auf das Shakespeare-Wort „Sein oder Nichtsein?“ zurückgeführt. Das aber ist die letzte, bedeutungsvoll- Sein oder Nichtsein? ste Frage unserer Existenz. Mit Ver- (Nr. 45/1994, Deutsche Einheit: Bürger- halten im politischen Alltag hat das rechtler und Funktionäre der ehemaligen nichts zu tun. DDR über Träume im Wendeherbst) Berlin LOTHAR LÖFFLER Zu dieser Diskussion kann man dem Der IM Denunziant eine Kreation der SPIEGEL nur gratulieren. So etwas Stasi? Hört, hört – die Trompeten bla- sollte Vorbild sein, sollte Schule ma- sen. Welch ein willkommener Anlaß, chen. Sie haben da genau die richtigen den IM Denunziant zur Denunziation Leute zusammengebracht, damit allen zu benutzen. Man muß wohl mit ein „DDR-Licht“ aufgehen kann. Blindheit geschlagen sein oder den ei- Ärla (Schweden) MARTIN BERTSCH genen Thron für unfehlbar halten, wenn man nicht mitbekommt, daß * In Berlin am 4. November 1989. das auslaufende IM-Denunziationspro- O. HERRMANN / PASSPORT Redner Wolf auf dem Alexanderplatz*: Selbstgefällige Statements

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gramm Ost das Denunziantengesicht West immer deutlicher in den Vorder- grund rückt. Kassel K.-H. J. NAGEL

Eigentlich sollten wir Deutschen histo- risch bedingt geradezu prädestiniert sein zur Bewältigung der Aufgabe „Deut- sche Einheit“. Hierzu sei jedem Interes- sierten die Lektüre von Erich Kästners „Notabene 45“ angeraten, dort wird er- klärt, wie selbstverständlich sich der Ag- gregatzustand der menschlichen Seele in einem totalitären System verändert. Und es wird ein Weg „danach“ aufge- zeigt: Wir dürfen und müssen ein neues

Haus bauen. J. DIRAND Bad Kreuznach ANTJE SALUP Starck-Holzhaus bei Paris: Ablehnende Haltung der Baubehörden

Pferden nach Rumänien zu reiten. Ich aber nur selten. Dabei liegt es nie am Zweiter Manstein? hatte noch nie auf einem Pferd gesessen Preis, sondern immer an der ablehnen- und bekam das langsamste, das auch den Haltung der Baubehörden. (Nr. 45/1994, Rückspiegel: Augsteins noch, wie sich herausstellte, trächtig Rückzug) Goslar SIEGFRIED GROTHE war. Es strebte beständig in die Rüben- Es haben nun drei Leute als die „am felder, so daß ich ihm an einem Stock ei- Hausbauer müssen aneinanderrücken. meisten bewunderten militärischen Lei- ne Rübe vor die Nase hielt. Ich erreichte, In Deutschland wird man dazu schon stungen“ der Geschichte im FAZ-Fra- von den Kameraden verlassen, eine über den horrenden Baulandpreis ge- gebogen „Rudolf Augsteins Rückzug Bahnlinie, ritt die Schienen entlang und zwungen. Eine ernstzunehmende Ant- aus der Ukraine“ benannt: 1980 er gelangte schließlich in ein Dorf. Dort wort auf Fragen von Wohnungssuchen- selbst, 1987 und nun, gab es ein Bett, reichlich zu essen und den mit Selbstbauambitionen kann das 1994, Joachim Fest, der sich, solange am nächsten Morgen ein doppelt so gro- angebotene Planpaket auch für unsere er Mitherausgeber der FAZ war, am ßes, räudiges Pferd. Wieder mußte der westlichen Nachbarn nicht sein. Der Fragebogenspiel nicht beteiligen konn- Kanister mit. Unterwegs wurde ich von Wald von Rambouillet, Starcks feine te. Was hat es auf sich mit diesem le- der Feldgendarmerie aufgegriffen. Aber Adresse, wird ihnen für eine Bauaktion gendären Rückzug? Hat Augstein als meine Batterie, die einen Umweg ge- sicher verschlossen bleiben. zweiter Manstein agiert? macht hatte, holte mich ein und befreite München HERBERT DEMMEL mich. Den Grenzfluß Prut überquerten Mülheim/Ruhr JÜRGEN MARKERT wir auf Holzplanken und gelangten mittels requirierter Panjewagen ins ru- Dentomane Idealisten Im Frühjahr 1944, als Mansteins Süd- mänische Jassy. Den Kanister mit dem front zusammenbrach, blieb die Batte- Sonnenblumenöl habe ich später (Nr. 45/1994, Zahnmedizin: Viele Zahn- rie, in der ich Obergefreiter war, samt zu meiner Familie nach Hannover ärzte pfuschen) ihren vier 15-Zentimeter-Haubitzen im gebracht. Eine Mißerfolgsrate von zehn Prozent Schlamm der Westukraine stecken. Ka- Hamburg RUDOLF AUGSTEIN innerhalb zweier Jahre für Wurzelbe- nonen und Fuhrpark wurden ge- handlungen als Beleg für Pfusch herzu- sprengt. Jeder nahm mit, was er tragen nehmen entspricht aber einer besonde- konnte. Bei mir gehörte dazu auch ein Im Wald von Rambouillet ren Dialektik. Man hätte es ja auch ei- 20-Liter-Kanister mit Sonnenblumenöl. (Nr. 45/1994, Architektur: Der Ruf nach nen 90prozentigen Erfolg nennen kön- Der Plan war, auf zusammengesuchten dem „Swatch“-Haus / SPIEGEL-Gespräch nen. mit dem Designer Philippe Starck über Saarbrücken ERNST GÜNTHER HUTH sein Selbstbau-Haus) Die permanente kollektive Hysterie Der französische Designer liefert mit beim Eindreschen auf die Zahnärzte seinem Selbstbau-Holzhaus den Beweis, kann ich mir nur durch eine unbewußte daß derjenige, der gute Möbel gestaltet, Rache für unangenehme Stunden auf noch lange keine guten Häuser entwirft. dem Behandlungsstuhl erklären. Das gibt uns angehenden Architekten Reinheim (Hessen) ULRICH FRIESS jedenfalls die Hoffnung, in Zukunft doch noch gebraucht zu werden. Endlich geht es den pfuschenden Zahn- Vaihingen (Bad.-Württ.) THOMAS BANGERT ärzten an den (weißen) Kragen. Es wird Zeit, Zahnärzte, die schlechte Arbeit Ich selbst vertreibe Holzhäuser im Nor- leisten, zur Rechenschaft zu ziehen. dischen Stil. Alle angebotenen Typen Bielefeld THOMAS SCHMIDT sind mehrfach, den Kundenwünschen entsprechend veränderbar. Die Preise Was ist an dem Bruttojahresgehalt denn für einen kompletten Bausatz liegen noch groß interessant? Rechnen Sie weit unter denen für ein Fertighaus der doch mal um in netto! Und vergessen gleichen Größe. Anfragen von Interes- Sie die Altersversorgung nicht, die ab- Soldat Augstein (1943) senten habe ich massenhaft, zum Ab- geht, und teilen Sie bitte durch 13 und Damals noch nie zu Pferde schluß eines Kaufvertrages kommt es nicht durch 12! Was bekommt denn ein

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Soz.-Päd.-Professor? Oder ein Amtslei- ter eines Wohnungsamtes? Oder ein Ressortleiter beim SPIEGEL? Stuttgart DR. JOHANNES PFANDER

Guter Kassenarzt, das wird immer mehr ein Job für dentomane Idealisten, die sich ohne Rücksicht auf Familie und Ge- sundheit zum Herzinfarkt schuften. Flensburg DR. W. ZEPPENFELD

Es ist sicherlich richtig, daß die schlecht- arbeitenden Zahnärzte am meisten ver- W. M. WEBER Patient beim Zahnarzt Rache für unangenehme Stunden

dienen. Richtig ist aber auch, daß es be- reits mehr als genug Kontrollmöglich- keiten gibt, diese Zahnärzte zu erken- nen. Bad Kissingen DR. WINFRIED EMMERICH

Was einer schmeckt (Nr. 45/1994, Wein: Ein Brite bringt deutsche Winzer in Rage) Man kann Stuart Pigott gar nicht genug für dieses Buch danken, denn es zeigt in beeindruckender Weise, daß hier end- lich jemand darüber schreibt, was er tat- sächlich schmeckt, und nicht darüber, was manche Produzenten nur verbal ih- ren Kunden glaubhaft machen möchten. Daß dabei auch Weingüter wie Schloß Vollrads, dem wir schon vor zehn Jah- ren vergleichsweise dürftige Qualität be- scheinigen mußten, nur unter „ferner liefen“ zu finden sind, ist vielleicht für den Produzenten bedauerlich, aber da- für werden dem Weininteressierten In- formationen geboten, die ihn auf kom- promißlos auf Qualität setzende Winzer aufmerksam machen. Bochum PETER BROCKSCHMIDT Epicourage-Gesellschaft zur Förderung kultivierten Essens und Trinkens

Pseudo-Wissenschaft (Nr. 43/1994, Intelligenz: Neue IQ-De- batte schürt den Rassismus)

Schwarze Menschen müssen sich also wieder einmal legitimieren. Die psycho- logischen und sozialen Auswirkungen .

BRIEFE MNO von Rassismus hingegen, wie unter an- 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 derem Chancenungleichheit, schlechte CompuServe: 74431,736 . Internet: http://spiegel.nda.net/nda/spiegel Schulbildung und Armut, die „unver- HERAUSGEBER: Rudolf Augstein 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glüsing, Aveni- ständlicherweise“ zu solchen IQ-Er- da Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. CHEFREDAKTEUR: Hans Werner Kilz (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von gebnissen führen, werden durch sol- Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, Tele- che haltlose Pseudo-Wissenschaftlich- STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild fax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 . keit verschleiert und als Folge naturge- REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil- Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, helm Bittorf, Peter Bölke, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Tel. (004822) 25 49 96, Telefax 25 49 96 . Washington: Karl- gebener Minderbemitteltheit feilgebo- Werner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National ten. Dr. Martin Doerry, Adel S. Elias, Nikolaus von Festenberg, Uly Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) Foerster, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Gatterburg, 347 5222, Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schön- Henry Glass, Rudolf Glismann, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. brunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax Köln VINCENZ ASSAN Volker Hage, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Dietmar Hawra- 587 4242 Initiative Schwarze Deutsche & nek, Manfred W. Hentschel, Ernst Hess, Hans Hielscher, Wolf- ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- Schwarze in Deutschland gang Höbel, Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim Hoelzgen, Dr. me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Jürgen Hohmeyer, Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Ul- Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef rich Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Kara- Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- sek, Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, me, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula Morschhäuser, Corne- Petra Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne lia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Julia Saur, Detlev Glück des Voyeurs Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Bernd Kühnl, Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank Schumann, Rainer Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Welker, (Nr. 45/1995, Medien: Killer, Kidnapper, Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Hans-Peter Martin, Georg Mas- Monika Zucht colo, Gerhard Mauz, Gerd Meißner, Fritjof Meyer, Dr. Werner Mey- Sensationen – wie Fernsehen die Wirk- er-Larsen, Michael Mönninger, Joachim Mohr, Mathias Müller SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- lichkeit verändert) von Blumencron, Bettina Musall, Hans-Georg Nachtweh, Dr. Jür- bine Bodenhagen, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hune- gen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Gunar kuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Lembcke, Christa Ortlepp, Claudia Pai, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Peter- Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas M. Peets, Gero Die Diskussion um solche Filme wie mann, Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl, Dr. Rolf Rietzler, Dr. Fritz Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, Hans-Eckhard Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Marie-Luise Segner, Tapio Sirkka, Hans-Jürgen Vogt, Kirsten Wiedner, Holger „Natural Born Killers“ zeigt doch eigent- Scherer, Heiner Schimmöller, Roland Schleicher, Michael Wolters lich nur, daß die alten Saftsäcke, die ei- Schmidt-Klingenberg, Cordt Schnibben, Hans Joachim Schöps, VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Dr. Mathias Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Schümann, Matthi- orama, Regierung, Minister, SPD, Autotelefon, Linke: Dr. Gerhard nen solchen Film verbieten wollen, die as Schulz, Hajo Schumacher, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Dr. Spörl; für Polizei, Werbung, Stasi, Terroristen, Rauschgift, Forum, Stefan Simons, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Prozesse, Bildung, Schule: Ulrich Schwarz; für Titelgeschichte: einzigen sind, die diesen Film nicht ver- Olaf Stampf, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Supp, Die- Norbert F. Pötzl; für Europa, Trends, Manager, Briefmarken, Kon- standen haben. ter G. Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. zerne: Armin Mahler; für Kommunikation, Fernsehen, Kiosk: Uly Manfred Weber, Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne Foerster; für Spectrum, Frauen, Exzentriker, Stars, Unterhaltung, Münster CHRISTIAN STRUZYNA Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiede- Fernseh-Vorausschau: Wolfgang Höbel; für Serie: Dr. Rolf Rietz- mann, Christian Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Zolling, Helene Zu- ler; für Panorama Ausland, Bosnien, Palästina, USA, Schweiz, ber Afrika, Großbritannien, Ukraine: Dr. Romain Leick; für Boxen, Fuß- RTL-Chef Thoma sagte vor zwei Jahren: ball: Heiner Schimmöller; für Szene, Oper, Film, Biographien, „Reality-TV ist das unsägliche Glück, bei REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- Bestseller, Fotografie: Dr. Mathias Schreiber; für Prisma, Archäo- gang Bayer, Petra Bornhöft, Jan Fleischhauer, Dieter Kampe, Uwe logie, Medizin, Kühlsysteme, Rüstung, Automobile: Jürgen Peter- einem Unglück dabeizusein.“ Ob er da- Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, Walter mann; für namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für mit das Glück des Voyeuristen meinte, Mayr, Harald Schumann, Gabor Steingart, Kurfürstenstraße Briefe, Personalien, Register, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Man- 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax fred Weber; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Gestaltung: Dietmar der zuschauen kann, ohne „Opfer“ zu 25 40 91 10 . Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. Olaf Suchalla; für Hausmitteilung: Hans Joachim Schöps; Chef vom Ihlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Hans Leyen- Dienst: Horst Beckmann (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Ham- sein? Oder meinte er vielmehr das Glück decker, Elisabeth Niejahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer burg) der Sender, die nun auf teure Schauspie- Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, Alexander Szandar, Klaus Wirt- DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Ulrich gen, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, Booms, Dr. Helmut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- Telefax 21 51 10 . Dresden: Sebastian Borger, Christian Hab- der, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, Ille be, Detlef Pypke, Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, (0351) 567 0271, Telefax 567 0275 . Düsseldorf: Ulrich Bie- Wolfgang Henkel, Gesa Höppner, Jürgen Holm, Christa von Holtz- ger, Georg Bönisch, Richard Rickelmann, Rudolf Wallraf, Oststra- apfel, Joachim Immisch, Hauke Janssen, Günter Johannes, Ange- ße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) 93 601-01, Telefax la Köllisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot- 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg 6, 99084 Erfurt, Tel. Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, (0361) 642 2696, Telefax 566 7459 . Frankfurt a. M.: Peter Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Ger- Adam, Wolfgang Bittner, Annette Großbongardt, Ulrich Manz, hard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Nath, Annelie- Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Tele- se Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Nora Peters, Anna Pe- fax 72 17 02 . Hannover: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, tersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. Mechthild Rip- 30159 Hannover, Tel. (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 . ke, Constanze Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G. Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Amalienstraße 25, 76133 Karls- Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Marianne Schüssler, Andrea ruhe, Tel. (0721) 225 14, Telefax 276 12 . Mainz: Birgit Loff, Schumann, Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staudham- Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, 55116 Mainz, Tel. (06131) mer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Monika Tänzer, Dr. Wilhelm 23 24 40, Telefax 23 47 68 . München: Dinah Deckstein, An- Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, nette Ramelsberger, Dr. Joachim Reimann, Stuntzstraße 16, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, Dieter Wessen- 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 . dorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwe- BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles rin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax 56 99 19 . Stuttgart: Dr. NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- Hans-Ulrich Grimm, Sylvia Schreiber, Kriegsbergstraße 11, shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, Time 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65 SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006, Telefax (040) Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax 30072898 Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg 283 0475 . 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45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 WARNER BROS. Monate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM Jerusalem: Jürgen Hogrefe, 29, Hatikva Street, Yemin Moshe, 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. Jerusalem 94103, Tel. (009722) 24 57 55, Telefax 24 05 70 . Szene aus „Natural Born Killers“ Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, Verständnislose Saftsäcke Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Tele- 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; fax 336 4057 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 . 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, ler, Drehbücher oder eine professionelle Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Hen- Hamburg: Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Tel. (040) Kameraführung verzichten können und rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (004471) 379 8550, Tele- 3007 2545, Telefax 3007 2797; München: Stuntzstraße 16, dennoch – oder gerade deswegen – hohe fax 379 8599 . Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) 226 30 35, Telefax 29 77 65 Zuschauerquoten erreichen. 220 4624, Telefax 220 4818 . Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner Düsseldorf MICHAEL DALLWIG 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 48 vom 1. Januar 1994 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 . (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 Paris: Lutz Krusche, Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) Der Gesamtauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist 4256 1211, Telefax 4256 1972 . Peking: Jürgen Kremb, Qi- VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck jiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (00861) 532 3541, Telefax MÄRKTE UND ERLÖSE: Werner E. Klatten ein Prospekt der Firma SMH/Rado, Bad Soden, bei- 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) 24 22 GESCHÄFTSFÜHRUNG: Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel geklebt. Einer Teilauflage ist eine Postkarte der Württembergischen Versicherung, Stuttgart, beige- DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $290.00 per annum. klebt. Distributed by German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Second class Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält postage is paid at Englewood, NJ 07631 and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: eine Beilage der Firma Microsoft, Unterschleiß- DER SPIEGEL, GERMAN LANGUAGE PUBLICATIONS, INC., P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631-1123. heim, sowie des SPIEGEL-Verlages / Abo., Ham- burg.

14 DER SPIEGEL 47/1994 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND PANORAMA

Europäische Union „Ein großer Kaufladen“

Interview mit der neuen EU-Kommissarin Monika Wulf- Mathies, 52, über europäische Beschäftigungspolitik

SPIEGEL: Frau Wulf-Mathies, warum haben Sie sich nicht für das Sozialressort der EU-Kommission beworben? Wulf-Mathies: Mir geht es darum, das europaweit wichtigste Interesse der Arbeitnehmer in den Vordergrund zu rücken: Arbeitsplätze und nochmals Arbeitsplätze. SPIEGEL: In der EU gibt es fast 20 Millionen Arbeitslose. Wie soll europäische Beschäftigungspolitik aussehen?

Wulf-Mathies: Als zuständige Kommissarin für die Struktur- M. DARCHINGER fonds der Union möchte ich die Vielzahl von Einzelmaßnah- Wulf-Mathies men zu echten Infrastrukturprogrammen bündeln. Das bringt neue Jobs. Gleichzeitig müssen wir auf dem Weg zur Wulf-Mathies: Wenn VW und Ford absprachewidrig ge- Sozialunion mit der Angleichung der sozialen Standards wei- handelt haben, muß die Kommission Sanktionen ergreifen. terkommen. Bisher ist Europa nur ein großer Kaufladen. Wir müssen uns verständigen, wie man Verstöße gegen SPIEGEL: Viele Konzerne nutzen das Arbeitsplatzargument Gemeinschaftsrecht ahndet. Es muß deutlich werden, daß zum Abkassieren. es in Europa nicht um Spielgeld geht, sondern um hart er- Wulf-Mathies: Wir müssen die Erfolgskontrolle ernster neh- arbeitete Steuergelder der Arbeitnehmer und Arbeitneh- men. Ich bin dafür, schon bei der Erarbeitung von Program- merinnen. men die lokalen Entscheidungsträger und die Sozialpartner, SPIEGEL: Derzeit blockieren sich die Staaten gegenseitig. also auch die Gewerkschaften, stärker einzubeziehen. Miß- Wulf-Mathies: Die EU hat keine andere Wahl, als sich spä- brauch kann so besser als bisher verhindert werden. testens auf der Regierungskonferenz 1996 so zu reformie- SPIEGEL: Volkswagen und Ford haben sich in Portugal für 1,6 ren, daß ihre Entscheidungsfähigkeit gestärkt wird. Das Milliarden Mark vom Steuerzahler ein neues Werk finanzie- geht nur, wenn wir das Mehrheitsprinzip auch im Rat zur ren lassen und 4700 Arbeitsplätze versprochen. Jetzt sollen es Regel machen. Ohne eine Demokratisierung der Entschei- nur 2300 werden. Fordern Sie das Geld zurück? dungsstrukturen ist eine Reform der EU nicht denkbar.

Rüstung soll bis zum Jahr 2005 aufge- baut sein, voraussichtliche Abkommen Kosten: 430 Millionen Mark. Dem Kuratorium der „Stif- mit Moskau tung Frauenkirche“ gehören Rußland und Deutschland auch Bundeskanzler Helmut wollen in der Rüstungspoli- Kohl und der sächsische Mi- tik eng zusammenarbeiten. nisterpräsident Kurt Bieden- Die Verteidigungsministe- kopf an. Irving hatte in den rien beider Länder verhan- sechziger Jahren die Angriffe deln derzeit vertraulich über auf Dresden dokumentiert. ein Rahmenabkommen. Ein Mit Auftritten unter Neona- Problem dabei ist der Schutz zis, bei denen er den Gas- militärischer und firmenin- kammer-Massenmord an Ju- terner Geheimnisse. Die den in Frage stellt, hat der Vereinbarung soll alle Be- Brite seinen Ruf als Histori- reiche abdecken – vom Pan- ker zerstört. zer- und Flugzeugbau bis hin zu Lasersystemen. Ruß- CDU

land hat ähnliche Abma- M: HIEKEL / ZB / DPA chungen bereits mit Frank- Ruine der Frauenkirche Kohl zweifelt reich und Italien getrof- fen. Moskaus Unterhändler Frauenkirche Interessierte das Programm an Diepgen machten aber deutlich, daß „Dresden und seine Frauen- In der CDU-Führung meh- sie Deutschland als Partner Werbung kirche multimedial“ sehen. ren sich Zweifel, daß Berlins bevorzugen. Um die west- Unter der Rubrik „Film- und Regierender Bürgermeister europäischen Verbündeten mit Irving Tondokumente“ ist ein Text Eberhard Diepgen der geeig- nicht zu verärgern, zog Bei der Werbung für den des Historikers abrufbar, der nete Kandidat für die Wah- Rüstungsstaatssekretär Jörg Wiederaufbau der Dresdner den verheerenden Bomben- len zum Abgeordnetenhaus Schönbohm zu den ersten Frauenkirche kommt auch angriff vom Februar 1945 be- im Herbst 1995 ist. Bundes- Gesprächen Beauftragte aus der umstrittene britische Hi- schreibt. Das multimediale kanzler geht Paris hinzu. Bonn will Emp- storiker David Irving zu Programm der Wiederauf- seit langem auf Distanz zu findlichkeiten der Alliierten Wort. In einem Besucherpa- bau-Gesellschaft wird von Diepgen. Bei der Wahl am vorbeugen. villon an der Ruine können IBM gesponsert. Die Kirche 16. Oktober hatte die Union

16 DER SPIEGEL 47/1994 .

in Berlin mit 31,4 Prozent 8 Prozentpunkte weniger be- kommen als vor vier Jahren. Kohl ist verärgert, weil Diepgen versucht habe, ihm die Schuld an den Verlusten zuzuschieben. Der Kanzler zeigt sich enttäuscht, daß es der CDU Berlins nicht ge- lungen sei, die Hauptstadt zum Symbol des deutsch- deutschen Zusammenwach- sens zu machen. Statt des- sen werde in Berlin durch die starke PDS – die ihre vier Bonner Direktmandate dort gewann – die Teilung noch deutlicher als anders- ACTION PRESS Diepgen

wo. Auch habe es die CDU nicht geschafft, sich ihren Einsatz für den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin honorieren zu lassen. Diepgen versucht derweil, sich die Gefolg- schaft der Berliner Unions- abgeordneten zu sichern. Dem CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky versprach er, nach gewonnener Wahl werde er den Parteivorsitz an ihn abtreten.

Wer soll deutscher Staatsbürger sein?

„Wer hier geboren ist“ 38%

„Wer von Deut- schen abstammt“ 14%

„Wer hier schon lange lebt“ 44%

Emnid-Umfrage für den SPIEGEL; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe; 1500 Befragte, 14. bis 16. November 1994 DEUTSCHLAND

Regierung ZERBRECHLICHES GEBILDE Das Gespann Kohl/Kinkel übt sich in Großmut und Rücksichtnahme. Bloß nicht überfordern, lautet die Handlungsanweisung. Die Regierungserklärung diese Woche besteht denn auch aus Kompromissen auf niedrigem Niveau. Zur Bewältigung der eigentlichen Aufgaben rafft sich das Kabinett gar nicht erst auf.

lehentlich trug Klaus Kinkel immer Wünschen überfordern. Das Regieren Unternehmensberater Roland Berger wieder seinen Standardsatz vor: in Angst vor renitenten Minderheiten empfiehlt Kanzler Kohl, „alle wesentli- F„Herr Bundeskanzler, ich brauche zwingt zum Kompromiß auf niedrigem chen Grausamkeiten“ in den ersten 100 noch was.“ Helmut Kohl verstand und Niveau. bis 150 Tagen zu vollstrecken. Das Vor- nahm Rücksicht. Die „grundlegende Erneuerung“ haben der Regierung, ein Prozent beim Immer wieder, wenn die Unterhänd- Deutschlands, einen „Umbau unseres Staatspersonal einzusparen, hält Berger ler der CSU in den Koalitionsgesprä- Gemeinwesens“ verheißt die Präambel „für einen Witz“. Die durchschnittliche chen störrisch auf ihren Forderungen des Koalitionsvertrags. Der Blick soll Fluktuation betrage schon jetzt drei Pro- beharrten, immer, wenn Finanzminister „ins nächste Jahrhundert“ gerichtet zent: „Da wäre ein Einstellungsstopp sarkastische Bemerkungen sein. Mit „Phantasie und Mut“ sollen schon viel wirksamer.“ machte und Edmund Stoiber, der Re- „neue Wege“ beschritten werden. Ein Aha-Erlebnis hatte Kohl vor der gent aus München, mit schriller Stimme Große Versprechen. Kabinettsbildung versprochen. Na ja. dazwischenfuhr, sprach der Kanzler ein Die ringsum eingeforderte Zukunfts- Er präsentierte altvertraute Gesichter Machtwort. „Ihr seht doch, das ist für aufgabe, Deutschland fit zu machen für und eine einzige Überraschung. Claudia die FDP ein wichtiger Punkt“, belehrte das Jahr 2000, kann diese geschwächte Nolte, 28, die Nachwuchskonservative

Fester Stamm Die sechs dienstältesten Bundesminister; Zeitpunkt der ersten Ernennung

Oktober1982 Mai1987 April 1989 Januar 1991 Januar 1991 Januar 1991

Norbert Blüm Klaus Töpfer Theo Waigel Klaus Kinkel Carl-Dieter Spranger Arbeit und Soziales jetzt: Bauwesen Finanzen jetzt: Umwelt Auswärtiges Amt Entwicklungshilfe

er die Prinzipienreiter in den eigenen Regierung schwerlich bewältigen. Um- aus Thüringen, darf das Ministerium für Reihen. bau des Sozialstaats, Reduktion der Frauen, Familie, Jugend und Senioren Die fünfte Regierung aus CDU, CSU Staatsschulden, die durchschlagende übernehmen (siehe Seite 26). Zwei Mi- und FDP ist ein zerbrechliches, aber – Steuerreform – warum sollte die neue, nister weniger und ein Parlamentari- vorläufig – arbeitsfähiges Gebilde. knappe Mehrheit schaffen, woran die scher Staatssekretär mehr: der verspro- Die geschrumpfte Union hat gemein- alte, stattliche abgeprallt ist? chene schlanke Staat? sam mit der siechen liberalen Partei in Hochgemute Erwartungen hegen un- Der schwer lädierte FDP-Chef Kinkel geheimer Wahl gerade noch einmal eine verdrossen die Manager von Industrie konnte personelle Neuerungen gar nicht hauchdünne Mehrheit für den Kanzler und Wirtschaft. BMW-Chef Bernd Pi- erst wagen, durfte an der schwierigen in- zustande gebracht. Im Alltag des Parla- schetsrieder verlangt „deutliche De- nerparteilichen Balance nicht rühren. mentsbetriebs sind die Abstimmungen regulierung“. Sein Vorstandskollege Daher blieb die Justizministerin Sabi- offen, Abweichler mithin schnell zu Horst Teltschik, früher enger Mitarbei- ne Leutheusser-Schnarrenberger gegen identifizieren und zu disziplinieren. Das ter des Kanzlers, mahnt an, daß die heftigen Widerstand aus der eigenen dürfte das Regieren erleichtern. Kosten noch nicht genügend gesenkt, Fraktion auf ihrem Posten. In unbere- Als oberstes Gebot für die nächsten die Produktivität der deutschen Indu- chenbaren Zeiten ist Hermann Otto vier Jahre hat Kohl allen Beteiligten ein- strie nicht ausreichend gesteigert sei: Solms als Fraktionschef unentbehrlich – geschärft: „Es kommt auf jede Stimme „Regierung und Gewerkschaften muß ein Glück für Wirtschaftsminister Gün- an.“ klar sein, daß die Zeit zum Umvertei- ter Rexrodt, den Kinkel durch ange- Die Botschaft ist klar: Keiner der len noch nicht wieder gekommen strengte Suche nach einem besseren Er- Partner darf den anderen mit seinen ist.“ satz gründlich demontierte.

18 DER SPIEGEL 47/1994 „Die Kabinettssitzung ist eröffnet“ tz, München

In seiner letzten Kanzlerschaft ist die Sprengstoff, also besser kein Thema. nach Seehofers Vorstellung zusätzlichen Machtmaschine Helmut Kohl umstellt „Wir dürfen es uns nicht zu schwer ma- Spielraum für individuelle Vorsorge, bei von heiklen Problemen. Die Mehrhei- chen“, rechtfertigt sich Kinkel. „Das voller Grundversorgung. ten im zu organisieren ist ei- war unser Ansatz.“ Stirnrunzeln bei den Freidemokraten: ne Daueraufgabe. Und hat sich die Re- Dafür mußte die FDP einen ihrer Hits Seehofers Pläne sind im Prinzip mit de- gierung mit Mühen auf Kompromisse aus dem Wahlkampf schnell vergessen. nen der Sozialdemokraten vereinbar. Ei- verständigt, kann sie damit gleichwohl Der Solidaritätsbeitrag wird nicht befri- ne Große Koalition im Bundesrat wie scheitern – an der sozialdemokratischen stet. „Da ist nichts zu machen“, ent- schon bei der Pflegeversicherung? Mehrheit im Bundesrat. schied Kanzler Kohl. „Den Haushalten soll die Arbeitgeber- Da bleibt nur Machtabsicherung auf In anderen Fällen bleibt nur die funktion in einem umfassenden Sinne er- Sichtweite. Flucht ins Unverbindliche. leichtert werden“, heißt eine andere Einträchtig muß Kohl mit Kinkel vor Daß der Wohlfahrtsstaat reformiert kryptische Formel im Koalitionsvertrag. den Landtagswahlen zittern, die 1995 in werden muß, ist längst ein Gemeinplatz. Die Freidemokraten feiertenden Satz na- Hessen, Nordrhein-Westfalen, Bremen Aus der Prosa des Koalitionsvertrags hezu als Sieg des Liberalismus. Es ist eine und Berlin anstehen. Die Freidemokra- darf jeder der Partner etwas anderes ihrer Lieblingsideen, daß wohlhabende ten hoffen auf einen „Trendbrecher“ herauslesen. Was immer dann später be- Bürger künftig ihr Dienstpersonal (Solms). Was aber, wenn die FDP wie- schlossen wird – jeder kann behaupten, von der Steuer absetzen können. So der aus den Landtagen herausfliegt? er habe sich durchgesetzt. seien Hunderttausende neue Stellen zu Packt sie dann die Lust am Untergang „Eigenverantwortung und Eigenvor- schaffen. auch in Bonn? sorge“ zu stärken heißt das Ziel der Ge- Ob nun das „Dienstmädchenprivileg“ Die reine Nächstenliebe können sich sundheitsreform. Für die Liberalen be- volkswirtschaftlich wirklich Sinn macht Kohl und Wolfgang Schäuble jedenfalls deutet das: Wer die volle medi- nicht leisten. Demonstrativ verhalf der zinische Versorgung nach heu- 33 Fraktionschef den Grünen, die erklär- tigem Kassenstandard haben Staatssekretäre termaßen das Erbe der Liberalen antre- will, muß zusätzliche Versiche- 27 27 26 ten wollen, zu einem Sitz im Bundes- rungen abschließen. Kann er 25 tagspräsidium – der Ritterschlag für die sich das nicht leisten, soll in 24 24 einstigen Schmuddelkinder. „Das hat Grenzen die Sozialhilfe ein- ein Geschmäckle“, schätzt Solms, „und springen. 19 19 17 das war auch so gedacht.“ Schäuble CSU-Gesundheitsminister 17 18 weiß seinerseits um die begrenzte hat jedoch eine 16 Reichweite seiner Provokation (siehe andere Deutung parat: Medi- SPIEGEL-Gespräch Seite 20). zinisch fragwürdige Arzneien Die ersten Zerreißproben blieben den und Therapien will er im Kas- Minister Liberalen dank der Fürsorge des Kanz- senkatalog streichen, gleich- Dicker Staat lers erspart. Der Lauschangriff, der Ein- zeitig Ärzte, Pharmaindustrie, Zahl der Minister und der satz der Verfassungsschützer oder gar Krankenhäuser und Medizin- Parlamentarischen Staatssekretäre der Bundeswehrsoldaten gegen die Or- technik zu wirtschaftlichem ganisierte Kriminalität oder auch die so- Verhalten zwingen und den genannten milieugerechten Straftaten Beitragssatz vielleicht sogar 1983 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 von verdeckten Ermittlern – alles nur ein wenig senken. Das schafft

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DEUTSCHLAND

oder nicht, lohnt den Streit nicht. Ohne Eine zweite Kommission soll „das ge- Die „Kinderstaatszugehörigkeit“ ist ein die Zustimmung der SPD-Länder ist das samte System sozialer Transferleistun- Unikum –zumBeispiel ist ein in Deutsch- Gesetz nicht zu haben. Die aber stimmen gen systematisch durchleuchten“. Damit land geborenes Kind türkischer Eltern gewiß nicht zu. Theo Waigel dürfte also wird der Eindruck erweckt, die Koaliti- von jetzt an Deutscher bis zum 18. Le- gelassen ja zum Vorhaben sagen. Steuer- on besorge sich tatkräftig die fehlenden bensjahr und muß sich dann entschei- erleichterungen, die nur auf dem Papier Fakten für einen sozialen Umbau. So ei- den, ob es Deutscher oder Türke sein stehen, können seinen Etat nicht gefähr- ne „Transferkommission“ hat ihre Ar- will. den: die sind ihm die liebsten. beit in den achtziger Jahren schon ein- Derlei seltsame Zugeständnisse hat die Ein anderes folgenloses Projekt der Li- mal abgeliefert – ohne politische Fol- FDP allein dem Kanzler zu verdanken. beralen wird wohl jetzt – da ruht es gut – gen. Da mochte Stoiber noch sosehr lamentie- eine Expertenkommission beschäftigen: An einem einzigen Punkt ist der Ko- ren, er habe mit einer ganz anderen Aus- das Bürgergeld. Zahlungen wie Wohn- alitionsvertrag seltsam präzise. Ausführ- länderpolitik in Bayern 52 Prozent der geld oder Sozialhilfe sollen mit dem Steu- lich werden zunächst alle Schwierigkei- Stimmen erreicht, diese Wähler dürfe er ersystem verknüpft werden, um die Ver- ten aufgezählt, die einer Abschaffung nicht enttäuschen. Der Kanzler belohnte waltung zu vereinfachen. der Gewerbesteuer entgegenstehen. Kinkels Loyalität. Wieder gab es heftigen Streit mit dem Dann wird gleichwohl als Datum der Den Bayern aber vertröstete Kohl mit CSU-Finanzminister, der das ominöse 1. Januar 1996 festgelegt – ein Plan ganz einer seiner berüchtigten Lebensweishei- Wort Bürgergeld nicht im Koalitionsver- aus dem mittelstandsfreundlichen Her- ten. Man müsse Triumphe in der Politik trag lesen wollte, bis Kanzler Kohl die zen der FDP. Aber selbst Unterhändler meiden. Denn: „Man sieht sich immer Debatte beendete: „Das machen wirjetzt Solms räumt ein: „Daran glaube ich zweimal im Leben.“ so.“ Entschieden aber istnichts, außer ei- nicht.“ Und Kinkel, Waigel und Kohl müssen ner Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Besonders stolz sind die Liberalen sich zwangsläufig noch eine Weile ertra- Experten. über den Tabubruch im Ausländerrecht. gen.

SPIEGEL-Gespräch „Alles reiner Unfug“ Wolfgang Schäuble über seine Rolle als Mehrheitsbeschaffer und über schwarz-grüne Zusammenarbeit

SPIEGEL: Herr Schäuble, wir sprechen mit dem geschäftsführenden Kanzler? Schäuble: Nein, mit dem Vorsitzen- den der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Das bin ich ausschließlich. Aber natür- lich hat der Vorsitzende der größten Fraktion eine eigene Verantwortung. Die Arbeit ist durch die knappen Mehr- heitsverhältnisse nach der Bundestags- wahl für alle schwieriger, und die Ver- antwortung jedes einzelnen Abgeordne- ten auch größer geworden. Das haben wir ja gerade erlebt. SPIEGEL: Sie nehmen eine Schlüsselrolle ein, weil Sie die Mehrheit organisie- ren müssen. Ihr Einfluß auf die Geset- zesvorhaben der Regierung steigt emi- nent. Schäuble: Ich halte es für richtig, daß Gesetzentwürfe der Regierung mit der Mehrheit im Bundestag abgestimmt werden. Da die SPD im Bundesrat die Mehrheit besitzt, muß die Abstimmung noch sorgfältiger sein. Die Mehrheits- verhältnisse im Bundestag und im Bun- desrat können dazu führen, daß insge- samt weniger Gesetze in dieser Legisla- turperiode verabschiedet werden. Das muß kein Nachteil sein. SPIEGEL: Einzelne Abgeordnete oder ganze Gruppen in den Koalitionsfrak-

Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure J. H. DARCHINGER Winfried Didzoleit und Dirk Koch. Fraktionschef Schäuble: „Weniger Gesetze müssen kein Nachteil sein“

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tionen haben da Erpressungsmöglich- am schwersten gewesen ist, noch einmal wir Ihre Auffassung zu kennen – einen keiten. Grund zur Beunruhigung? den Wählerauftrag zu bekommen. Acht Vorlauf von etwa eineinhalb Jahren, um Schäuble: Jeder muß seinen Beitrag da- Jahre danach wird vieles von dem Ver- sichund seinTeamzuprofilierenund eine zu leisten, daß wir geschlossen auftre- änderungsschock besser verkraftet sein. gute Wahlchance zu haben. ten. Das geht auch nicht nur nach dem SPIEGEL: Wer ist dann Kanzler? Schäuble: Da mag ein gewisser Wider- Prinzip von Befehl und Gehorsam. Wir Schäuble: Helmut Kohl ist der gewählte spruch liegen. Aber ich muß sagen: Es ist sind frei gewählte Abgeordnete. Für Er- Bundeskanzler. So schwierig das bei den im Augenblick nicht meine vorrangige pressungen braucht man eine Kamika- knappen Mehrheitsverhältnissen in ei- Sorge, diesen Widerspruch aufzulösen. ze-Mentalität. Wer damit droht, daß er ner geheimen Wahl auch war, so wird es Über die Wahl von 1998 werden wir uns die Regierungsmehrheit gefährdet, noch schwieriger sein, eine Mehrheit zu- später den Kopf zerbrechen. Wir haben droht ja nur damit, daß er, bildlich ge- sammenzubekommen, um ihn als Kanz- jetzt wirklich wichtigere Themen. sprochen, sich selbst umbringt. ler zu stürzen. Insofern hat er nämlich SPIEGEL: Wofür müssen Sie zuallererst SPIEGEL: Ein Beispiel: Die CDU-Sozi- immer noch so etwas Ähnliches wie eine die Mehrheit für diese Regierung organi- alausschüsse wollen beim Umbau des strategische Mehrheit. De facto kann sieren? Sozialstaats nicht mitma- Schäuble: Es geht sofort chen. Dann müssen Sie los mit den Arbeiten und diesen Einspruch berück- Gesprächen für die Steuer- sichtigen. gesetzgebung, die zum 1. Schäuble: Dann muß man Januar 1996 in Kraft treten vernünftig miteinander re- soll – Steuerfreiheit des den. Die Fähigkeit zum Existenzminimums, Unter- Kompromiß muß gewahrt nehmensteuerreform. Das bleiben, aber auch die Fä- geht nicht einfach über ei- higkeit zum Konsens. Kon- ne Gesetzesinitiative, das sens heißt, daß Mehrheits- wird ein Prozeß werden. entscheidungen von allen Wir brauchen den Bundes- gemeinsam getragen wer- rat, also die SPD. Vorrang den müssen. hat auch das Projekt SPIEGEL: Ein anderes Bei- „Schlanker Staat“. Das spiel: Wenn Sie kinderrei- geht nur durch eine Re- che Familien besserstellen form des Dienstrechts und wollen, was ja laut Koaliti- des Haushaltsrechts. Wir onsvertrag zum Umbau des ersticken sonst im Wu- Sozialstaats gehören soll, chern der Bürokratie. brauchen Sie die Zustim- SPIEGEL: Sollen Beamte mung des Bundesrats und von einem Dienstort an ei- damit der SPD-Mehrheit. nen anderen versetzt wer- Schäuble: Der Bundesrat den, ohne daß ihre Klagen eignet sich nur sehr bedingt dagegen aufschiebende als Instrument parteipoliti- Wirkung haben? scher Obstruktion. Die Schäuble: Genau diese Union hatte von 1969 bis Möglichkeit werden wir im 1982, als und Dienstrecht durchsetzen,

Helmut Schmidt Kanzler BONN-SEQUENZ im Interesse von mehr Mo- waren, immer die Mehrheit Schäuble im Bundestag bilität. im Bundesrat. Wir haben SPIEGEL: Was wollen Sie es gelegentlich mit Blocka- „Für Erpressungen braucht man am Haushaltsrecht ändern? den versucht und schlechte eine Kamikaze-Mentalität“ Schäuble: Das ganze ka- Erfahrungen gemacht. Die meralistische Prinzip muß Bevölkerung bestraft das. auf den Prüfstand. Das Sy- SPIEGEL: Also keine Gefahr vom Bun- gegen die Union auch in dieser Legisla- stem der jährlichen Rechnungslegung, desrat? turperiode nicht regiert werden. das mit dem Budgetrecht des Parla- Schäuble: Keineswegs. Wenn wir die SPIEGEL: Wir reden ja auch nicht übers ments zusammenhängt, ist hinderlich, unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse Stürzen, sondern darüber, daß Kohl zu wenn man Budgetverantwortung bei im Bundesrat und Bundestag von vorn- seinem Wort steht . . . den einzelnen zuständigen Stellen schaf- herein in unsere strategischen und takti- Schäuble: . . . bis 1998 Kanzler zu fen und wirklich für Anreize zum Spa- schen Planungen einbeziehen, haben sein . . . ren in den Verwaltungen sorgen will. Zu wir gute Chancen, diese Auseinander- SPIEGEL: . . . daß er 1998 nicht mehr als prüfen ist: Können wir Prinzipien der setzung mit der SPD erfolgreich zu be- Kanzler zur Verfügung stehen wird. Finanzkontrolle aus Unternehmen auf stehen. Wie ich überhaupt davon über- Schäuble: Darüber müssen Sie mit ihm die öffentlichen Haushalte übertragen, zeugt bin, daß die Chancen der Koaliti- reden. Für mich ist jetzt jedenfalls wich- Aufwand und Ertrag gegenüberstellen? on, Wahlen zu gewinnen, 1998 objektiv tig, daß er klar gesagt hat – das war auch SPIEGEL: Herr Schäuble, bei diesen besser sein werden als 1994. mein Wunsch und mein Rat an ihn, und Vorhaben werden Sie eng mit den Sozi- SPIEGEL: Weil Sie dann Kanzler sind zwar schon vor Monaten –, er stehe für aldemokraten zusammenarbeiten. Wo und alles besser machen? die gesamte Legislaturperiode als Kanz- bleibt da der Koalitionspartner FDP? Schäuble: Nein. Einfach weil es vier ler zur Verfügung. Genau dafür haben Was raten Sie den Liberalen? Jahre nach der Wiedervereinigung für wir ihn jetzt gewählt. Schäuble: Die inneren Auseinanderset- diejenigen, die während der gewaltigen SPIEGEL: In der Praxis geht es nicht, daß zungen, die zum Teil ja in ungewöhnli- Veränderungen und Belastungen Regie- Kohl erst 1998 seinen Abschied nimmt. cher Härte geführt werden, zu beenden. rungsverantwortung zu tragen hatten, Sein Nachfolger braucht – da glauben Zudem muß die FDP darauf achten,

DER SPIEGEL 47/1994 21 daß die Kluft zwischen ihren Funktio- hörigkeit. Soll dieser Krampf ein Vor- SPIEGEL: Es geht um die deutsche nären und ihren Wählern nicht zu groß bild sein? Staatsbürgerschaft für türkische Kinder, wird. Schäuble: Wir hätten einen schweren die sie ihrer Familie entfremdet. SPIEGEL: Das Nein zum Großen Fehler gemacht, gerade zu Lasten der Schäuble: Nehmen wir an, die Eltern Lauschangriff schadet den Liberalen? Integration der bei uns lebenden aus- der Kinder wollen auf ihre bisherige Schäuble: Die FDP sollte jedenfalls die ländischen Mitbürger, wenn wir den Staatsangehörigkeit, in der Regel die Gefahr vermeiden, als Verhinderer der Eindruck erweckt hätten, es würde türkische, nicht verzichten, sie wollen notwendigen Maßnahmen zur Verbesse- bald die doppelte Staatsangehörigkeit die deutsche Staatsangehörigkeit also rung der inneren Sicherheit angesehen zum Regelanspruch der hier lebenden nicht erwerben. Dann ist es für die Inte- zu werden. Ausländer werden. Die wären dann grationschancen der Kinder förderlich, SPIEGEL: Im Ausländerrecht haben sich privilegiert gegenüber dem normalen wenn sie genau wie andere Kinder etwa Union und Liberale auf einen Kompro- Deutschen. Das wäre nicht förder- in der Schule sagen können, sie seien miß geeinigt: die Schnupperstaatsange- lich. Deutsche. Dafür haben wir eine Lösung

KOMMENTAR Der „Schnupperstaat“ RUDOLF AUGSTEIN

anzler Kohl hat es uns schon bei wäre, wenn pro Jahr nicht Umzüge beeindruckend und kaum vor Jahren, wie ehedem auch 450 000 Einwanderer zu uns stießen. noch kontrollierbar. KKanzler Schmidt, schriftlich Das heißt weit in die Zukunft grei- Die Crux der doppelten Staatsbür- gegeben: „Deutschland ist kein fen. Ganz sicher ist es richtig, ein gerschaft liegt in der Verschieden- Einwanderungsland.“ Man sollte neues Einwanderungskonzept zu fin- heit, in manchen Bereichen sogar daraus keine voreiligen Schlüsse den. Denn Deutschland ist nicht nur Unvereinbarkeit der Kulturen. Die ziehen. Deutschland beherbergt Einwanderungs-, es ist auch Durch- heutige Türkei ist kein europäischer heute an die 7 Millionen Auslän- wanderungsland geworden. Von 1,2 Rechtsstaat, sondern ein inzwischen der, das sind 8,5 Prozent der Bevöl- Millionen Ankömmlingen blieben fast kriegerisch rassistischer Staat. kerung. In den meisten Ländern im vergangenen Jahr 300 000 – ver- Wer als Türke bei uns lebt und ar- Westeuropas liegt der Anteil der mutlich aber nicht gerade Leute, die beitet, soll ohne große Umstände die Ausländer um einiges darunter. unsere Renten sichern und unsere deutsche Staatsangehörigkeit be- Man kann mithin nicht sagen, Produktivkräfte stärken werden. kommen können. Will er diese Deutschland sei grundsätzlich aus- In türkischen Zeitungen für die nicht, weil er die eigene Staatsange- länderfeindlich. Zwei Drittel der doppelte Staatsbürgerschaft werben: hörigkeit vorzieht: Wieso ist er dann Flüchtlinge, die das ehemalige Ju- Das ist so echt die FDP von heute. diskriminiert, welche Nachteile hat goslawien verlassen haben, kamen Bekommen hat sie einen verfas- er dadurch? Also, will einer oder ei- zu uns und blieben bei uns. sungsrechtlich dubiosen Wechsel- ne den deutschen Paß, so sollte das Wohl wird das Asylrecht hierorts balg, die „Schnupperstaatsangehö- nicht länger „langwierig und schwie- zu kleinlich und oft nicht sachkun- rigkeit“ für Kinder, die gleichwohl rig“ (SZ) verlaufen. Zeit, sich alles dig gehandhabt. Einen 16- oder ausgewiesen werden können, wenn zu überlegen, kann der Antragsteller 19jährigen chinesischen Schüler oh- ihre Eltern straffällig werden; ein sich nehmen. ne Beistand nach Peking zu schik- „Witz“, wie Berlins Ausländerbe- Was den deutschen Befürwortern ken, wo ihn eine Umerziehung er- auftragte Barbara John (CDU) fin- einer doppelten Staatsangehörigkeit wartet, sollte eine Spezialität des det. vor der Nase hängt, ist der Luftbal- Freistaats Bayern bleiben. Doch Unangenehm, aber wahr ist die lon „multikulturelle Gesellschaft“. selbst scharfe Kritiker derzeitiger Erkenntnis, daß wir für die Bürger- Wo es sie gibt, funktioniert sie nicht: Praktiken in den Ausländerbehör- kriege der ganzen Welt nicht zustän- in Kalifornien nicht, in New York den räumen ein, daß 322 000 Asyl- dig sind. Wir können (und sollten) nicht, im ganzen Schmelztiegel USA suchende im Jahre 1993 eine schwe- Tamilen und Angolaner nicht auf- nicht; im Frankreich des Charles re Bürde waren. Kaum ein anderes nehmen. Das sprengt unsere Mög- Pasqua schon lange nicht, und auch Land Europas birgt derart viele lichkeiten. Bei uns ausgetragene im Frankfurt des multikulturellen verschiedene „Ethnien“, Völker- Stellvertreterkriege zwischen Tür- Stadtrats Daniel Cohn-Bendit ist sie schaften also. Eine Regelung mußte ken und Kurden sollten wir durch schwach auf der Brust und atmet her. unsere Gesetzgebung ebenfalls nicht kaum. Allenfalls funktioniert die Nun sagt man uns immer wieder, fördern. multikulturelle Gesellschaft in der Renten und Wohlstand seien nur si- Die Kurden haben ein völker- Londoner City, weil die Londoner cher, wenn wir entweder mehr Kin- rechtlich zu respektierendes Recht Zeitungen dort mit- und herunter- der bekämen oder noch viel mehr auf Autonomie, das ihnen von den spielen, aber schon nicht mehr am Einwanderer ins Land ließen. Ein Türken mit brutaler Gewalt bestrit- Stadtrand und über ihn hinaus. Mitarbeiter der Süddeutschen Zei- ten wird. Je mehr Türken wir ins So muß man denn über die „dop- tung hat sich vorrechnen lassen, Land locken, desto mehr Kurden pelte“ noch einmal nachdenken; daß es mit unserer Produktiv- und werden ihnen quasi unterirdisch fol- aber vielleicht kommt sie ja mit der Innovationskraft im Jahre 2050 vor- gen. Jetzt schon sind ihre politischen nächsten Regierung trotz alledem.

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geschaffen, ohne auf die Sachentscheidungen gegen schiefe Ebene der doppelten die SPD? Staatsangehörigkeit zu kom- Schäuble: Das weiß ich men. Wer sich hier integrie- nicht. Wir haben Berüh- ren will, muß sich von seiner rungsängste abgebaut. Es bisherigen Staatsangehörig- war richtig, daß wir nach der keit lösen. Das ist für jeden Entscheidung der Wähler eine schwierige Entschei- am 16. Oktober die Grünen dung, die man allerdings nicht ausgrenzen. Wir haben Kindern nicht zumuten muß. gesagt: Sie sind politische Aber wenn die Kinder er- Gegner wie die SPD auch. wachsen sind, können sie Meine Fraktion ist meiner diese Entscheidung treffen. Empfehlung gefolgt, Frau SPIEGEL: Herr Schäuble, für Vollmer zu unterstützen. Aufsehen hat Kanzler Kohl Der Weg ist richtig. Alle mit seinem neuen Kabinett Spekulationen über eine an- gesorgt. Die Ernennung von stehende Koalition sind rei- Angela Merkel zur CDU- ner Unfug. Umweltministerin war eine SPIEGEL: Dürfen die Grü- Überraschung. Als Umwelt- nen nun auch in jene ge-

politikerin hat sie so recht F. DARCHINGER heimen Bundestagsgremien noch nicht von sich reden ge- Minister Töpfer, Merkel einziehen, die ihnen bislang macht. verschlossen waren: etwa in Schäuble: Angela Merkel ist „Der Umweltschutz muß in die Parlamentarische Kon- eine Frau, der es mehr um Ostdeutschland Priorität haben“ trollkommission zur Über- die Sache geht als um den öf- wachung der Geheimdien- fentlichen Firlefanz. Sie ste? wird, auch von ihrer wissenschaftlichen re originäre Aufgabe des Bauministers Schäuble: Im Jahre 1983 haben die Ausbildung her, eine sehr gute Umwelt- ist der Umzug des Parlaments und von Grünen beim ersten Einzug in den ministerin sein. Teilen der Regierung nach Berlin. Bundestag erklärt, sie würden sich SPIEGEL: Warum Angela Merkel statt SPIEGEL: Eine besondere List? Töpfer nicht an die Geheimhaltungsvorschrif- Klaus Töpfer? zeigt Sympathie für Bonn. ten des Parlaments halten; damit hat- Schäuble: Es ist ein Signal, daß der Um- Schäuble: Vielleicht ist ein Bonn- ten sie sich selbst ausgegrenzt. Herr Fi- weltschutz vor allem in den neuen Bun- Anhänger besonders geeignet in die scher hat mir gegenüber jetzt gesagt, desländern in den nächsten Jahren Prio- sem Amt, weil er nicht unter Ver- selbstverständlich fühlten sich die Grü- rität haben muß. Wir wollen das Prinzip dacht steht, er lasse Bonn zu kurz nen in Gremien, in die sie gewählt der Verhältnismäßigkeit auch im Um- kommen. werden, an die Regeln gebunden. Da- weltschutz verwirklichen. Es ist doch SPIEGEL: Herr Schäuble, bei der Wahl her werden wir uns auch in diesen Be- Unfug, mit Milliarden Mark Abwasser Antje Vollmers zur Vizepräsidentin reichen dafür einsetzen, daß die Grü- in Westdeutschland von 93 Grad auf 95 des Bundestages haben Union und nen nicht ausgegrenzt werden. Grad Reinheit zu verbessern, während Grüne erstmals kooperiert. Sind Wie- SPIEGEL: Also Grüne demnächst auch wir in Ostdeutschland nur 20- oder derholungstaten zu erwarten, zumal in im G-10-Gremium, in dem es um Ab- 30prozentige Reinigung ha- hör-Erlaubnis zur Überwa- ben. Die Ernennung von chung verdächtiger Bürger Angela Merkel zur Umwelt- geht? ministerin war eine optimale Schäuble: Ja, wenn sie sich Entscheidung. an die Regeln halten. SPIEGEL: Mit Klaus Töpfer SPIEGEL: Da waren Berüh- war das Amt nicht optimal rungsängste auf beiden Sei- besetzt? ten – die Angst ist abgebaut, Schäuble: Klaus Töpfer war jetzt läßt sich doch auch ans unbestritten ein weltweit Berühren denken, nicht führender Umweltminister. wahr? Aber er hat ja selber den Schäuble: Wenn sich die Wunsch gehabt, nach sieben Grünen in den nächsten Jahren im selben Ressort ei- zehn Jahren so ändern soll- ne andere Aufgabe zu über- ten, wie sie sich in den letz- nehmen. ten zehn Jahren geändert ha- SPIEGEL: Anders als Angela ben, können wir in zehn Jah- Merkel neigte Töpfer zu Wi- ren noch einmal darüber re- derworten gegenüber Hel- den. Auch die Union ent- mut Kohl. Deshalb die De- wickelt sich, und zwar im-

gradierung zum Wohnungs- ZENIT mer neu. Ecclesia semper re- bauminister ohne nennens- formanda*.

werte Kompetenzen? D. GUST / SPIEGEL: Herr Schäuble, wir Schäuble: In der Wohnungs- Ausländer in Deutschland danken Ihnen für dieses Ge- baupolitik stehen in den spräch. Y nächsten Jahren eine Fülle „Wer sich hier integrieren will, von Aufgaben an, gerade in muß sich lösen“ * Die Kirche ist in stetem Wandel Ostdeutschland. Eine ande- begriffen.

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Minister Fachmann fürs Futur Der Bonner Aufsteiger Jürgen Rüttgers verblüfft seine Umgebung mit Vielseitigkeit

iemand weiß, wie Jürgen Rüttgers rektors von Pulheim mit der Hinterbank Es macht ihm auch nichts aus, die an seinen wunderschönen Titel in der CDU/CSU in Bonn vertauschte, „Ökozialisten“ vor der Wahl als Oppor- Nkam. Selbst Helmut Kohl tut so, landete er im Forschungsausschuß. Die tunistenpack zu diffamieren, hinterher als handele es sich um eine „geniale Er- Union suchte einen Weltraumexperten aber im Parlament ein schwarz-grünes findung der Medien“. und Rüttgers einen Job. Also griff er zu, Wahlbündnis zur Kür der Vizepräsiden- „Zukunft?“ fragt auch der Minister obwohl er von dem Thema keine Ah- tin zu schmieden. Soviel und läßt das Wort im rheinischen Sing- nung hatte. Wendigkeit muß sein. sang pendeln. „Ich kann mir – offen ge- Weil später im Bundestag die En- Nie hat der Bonn-Profi auf dem Weg standen – nichts darunter vorstellen.“ quetekommission zur Abschätzung von nach oben seinen Mentor aus den Au- Es waren natürlich nicht die Journali- Technikfolgen neu zu besetzen war, gen verloren. Kohl ist sein Kompaß. sten, es waren die Wortschöpfer aus aber niemand Lust hatte, in die kompli- Als ihn die Medien als „Parteirefor- dem Kanzleramt, die den sperrigen zierte Materie einzudringen, meldete mer“ outeten, legte Rüttgers großen Bundesminister für Bildung, Wissen- Rüttgers sich freiwillig und bekam den Wert darauf, bloß nicht mit anderen kri- schaft, Forschung und Technologie Vorsitz. Nach gerade zwei Jahren im tischen Geistern der Partei verwechselt (BMBWFT) in den gefälligen „Zu- Bundestag war er unter dem Fraktions- zu werden – etwa den Kohl-Kritikern kunftsminister“ umwandelten. vorsitzenden einer von Heiner Geißler, und Aber das Wort schmückt, und dem fünf Geschäftsführern. Seit November Richard von Weizsäcker. Aufsteiger aus Pulheim bei Köln ist’s 1991 war er schon der „Erste“. Sein Buch über die Bundestagspartei- recht so. Rüttgers hat ein unkomplizier- Die freundlich-feine Art, in der er en und die Gründe des wachsenden Po- tes Verhältnis zur Macht und keine Pro- sich durchsetzt, täuscht viele Gegner. litikverdrusses („Dinosaurier der De- bleme, sich öffentlich zu freuen, wenn Der ruhige Pfeifenraucher Rüttgers mokratie“) liege auf einer völlig ande- man ihn weiterer Ämter für fähig hält. taugt auch zum Wadenbeißer. ren Linie, betont er stets. Dabei glei- Natürlich wollte Rüttgers, 43, ins Ka- Daß der SPD-Vorsitzende Rudolf chen sich die Befunde. Die Klage des binett, obwohl er versichert, es gebe Scharping „ein Falschspieler“ und sein Kanzlerkritikers Weizsäcker über „eigentlich“ kein schöneres Amt als das Vize „ein Spalter“ Machtvergessenheit der politischen des Ersten Fraktionsgeschäftsführers und die SPD insgesamt der „größte Job- Klasse ähnelt der Analyse des Kohl-Ge- der CDU/CSU. Deshalb hat er sich we- killer aller Zeiten“ sei, kann er genauso treuen Rüttgers. der geziert noch Bedenkzeit ausgebe- emotionslos abdiktieren wie einen Ge- Der beklagt den Hang zum Partei- ten, sondern „sofort zugesagt“, als der schäftsbrief ins Adenauerhaus. buch-Proporz nicht weniger eindringlich Kanzler ihn rief. Er verlangte keine neuen Kompetenzen, keine zusätzlichen Experten, feilschte nicht um Geld. Was er da übernimmt, ist ihm allerdings selbst noch nicht klar. Fürs erste rettet er sich in eine Leerformel: „Anwalt“ für Schüler und Lehrlinge, Wissen- schaftler, Forscher und Lehrer wolle er sein. Was sonst soll er sagen? Wenn sein Ressort mehr sein soll als eine Umwälzanlage für Bafög-Gelder und Forschungs- subventionen, muß Rüttgers Prioritäten setzen. Das wird schwer in einer Zeit der leeren Kassen. Rüttgers kann immerhin dar- auf verweisen, daß er, seit er dem Bundestag angehört, im- mer schon der Fachmann fürs Futur gewesen ist. Als der Jurist 1987 den Stuhl des stellvertretenden Stadtdi-

* Mit Gesundheitsminister Horst See-

hofer in der Kabinettssitzung am Don- AP nerstag vergangener Woche. Zukunftsminister Rüttgers (r.)*: Von der Klüngelpartei zur Kampftruppe

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Werbeseite .

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Da ist sogar Mentor Kohl fortschritt- licher. Er mahnte sie wohlwollend: Ernst und fromm „Als Frauenministerin dürfen Sie das nicht so dogmatisch sehen.“ Jugend ins Kabinett – Kohls Coup mit Claudia Nolte Claudia Nolte stand ganz an der Seite der Rechtskonservativen in der Union, die ein Gesetz gegen sexuelle ie zierliche Frau tat alles, um stischen Weltbild gleichsam in der Belästigung am Arbeitsplatz verhin- Helmut Kohl auf sich aufmerk- doppelten Diaspora. Der Ernst, das dern wollten. Da verließ sie sich Dsam zu machen. Sie drängelte, Eifernde, ihre frühe Erwachsenheit reichlich naiv auf den flammenden grüßte, boxte sich nach vorn durch haben mit diesem biographischen Gegner (CSU): „Der zu ihm – ohne Resonanz. Schließlich Hintergrund zu tun. sagt, das ginge rechtlich nicht.“ wählte sie eine besonders artige Aus religiöser Überzeugung ver- Als die Reform des Paragraphen Form der Höflichkeitsbezeugung: weigerte sie die Jugendweihe. Sie 218 debattiert wurde, schloß sie sich Claudia Nolte machte einen Knicks. nahm in Kauf, daß sie deshalb zu- der Minderheit an, die ein radikales Da reichte ihr der Kanzler die Hand. nächst nicht Abitur machen durfte, Abtreibungsverbot forderte. Weil Seit dieser erzwungenen Begeg- machte eine Lehre als Elektronik- ein Rechtsstaat, der Menschen „zeit- nung auf dem CDU-Parteitag in facharbeiterin und studierte in Il- weilig das Lebensrecht abspricht“, Dresden 1991 weiß Helmut Kohl, menau an der Technischen Hoch- sich selbst in Frage stelle, schien es wer Claudia Nolte ist. Sie entspricht schule. Sie war Sprecherin der ka- ihr nur folgerichtig zu sein, daß so ganz seinem Bild von adretten Ju- Frauen, die abgetrieben gendlichen: viel Anstand, wenig He- haben, dafür bestraft wer- donismus, lieber konventionell als den. Ihr Vorschlag: Wer auf Emanzipation bedacht. So mach- sein Kind abgetrieben ha- te er sie im stolzen Alter von 28 Jah- be, könne ein Jahr im ren zur Bundesministerin für Frau- Krankenhaus arbeiten – en, Familie, Jugend und (wie pas- „zur Wiedergutmachung“. send) Senioren – ein einsamer Re- Über das Kuriosum, daß kord an Jugendlichkeit. nur selten Frauen für derlei „Ganz Deutschland fragt sich: rigorose Morallehren zu Packt sie das?“ titelte Bild besorgt. haben sind, wohl aber Kohl hat da weniger Zweifel. Zu- Männer, setzt sie sich un- mindest entspricht Nolte dem, was beschwert hinweg. in der CDU derzeit Mangelware ist – Dabei ist Claudia Nol- Frau, jung, Ostdeutsche. te zwar hoch konservativ, Claudia Noltes Parteifreundinnen, aber durchaus auch unkon- für die diese überraschende Beru- ventionell – zumindest im fung auch ein Affront ist, befürchten eigenen Privatleben. Ei- indes, daß Kohls Ziehkind keines- nerseits tritt sie politisch wegs das Lebensgefühl junger Frau- dafür ein, daß Frauen die en in Deutschland widerspiegelt – berufliche Karriere zurück- schon gar nicht das der ostdeut- stellen sollten zugunsten schen. der Kinder und überhaupt

Als Helmut Kohl seiner Damen- F. DARCHINGER des Familienlebens wegen. riege in der Fraktion die „zupacken- Ministerin Nolte Andererseits wächst Sohn de“ Ministerin andiente, „die „Gnade der jungen Geburt“ Christoph, 3, daheim in Il- schließlich die Lebensverhältnisse menau bei Ehemann Rai- im Osten kennt“, zischelte es: „Der tholischen Studenten, trat in den ner auf, der seinen Job als Diplom- soll mal nachrechnen.“ Wendemonaten dem Neuen Forum Ingenieur auf halbe Tage reduziert Die vom Kanzler patriarchalisch- bei, wosich Bürgerrechtler und kirch- hat. Zu solcher Arbeitsteilung fin- stolz präsentierte Jung-Ministerin lich Gesinnte versammelten. Zur den sich sonst vorzugsweise linke war zur Zeit der Wende gerade Union, zu deren allerkonservativsten Polit-Paare bereit. frischgebackene Diplom-Ingenieurin Vertreterinnen in Sachen Familie, Ganz ohne Netz und doppelten für Automatisierungstechnik und Kinder und Abtreibung sie gehört, Boden läßt Kanzler Kohl seine Kybernetik. Beim Exitus des SED- fand sie Anfang 1990. jüngste Ministerin aller Zeiten den- Regimes zählte sie ganze 24 Jahre. Dort wurde sie von den Honoratio- noch nicht auf ihr Ressort los. Die „Die Gnade der jungen Geburt“ ren schnell „angenommen und wei- kostenträchtige Neuregelung des nennt sie dies, ihr Vorbild Kohl ab- tergereicht“, sagt Claudia Nolte stolz. Kindergeldes werden zunächst Fi- wandelnd. Vom Feminismus oder auch nur von nanzminister Theo Waigel und Ar- Allerdings ist sie von der DDR- Frauensolidarität in der männerdo- beitsminister Norbert Blüm voran- Wirklichkeit auf eigene Weise ge- minierten Politik hält sie wenig. treiben. prägt. Sie entstammt einer katho- Den Mut zur unpopulären Über- Und die schwierige Reform der lisch-frommen Familie, die erst in zeugung hat sich Claudia Nolte be- Sozialhilfe, für die bislang das Nol- , dann in Thüringen lebte – wahrt. Wer wie sie Karriere im Ga- te-Ressort zuständig war, wird fort- in der mehrheitlich protestantischen lopp macht, glaubt eben, daß Frauen- an Gesundheitsminister Horst See- DDR mit ihrem atheistisch-soziali- quoten inder CDU nicht sein müssen. hofer übernehmen.

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als der ehemalige Bundespräsident: So- gern, sondern auch einfachen Parteimit- Scharping, daß so etwas dem „Erschei- lange jede freie Stelle – vom Hausmei- gliedern und Parteilosen offen. nungsbild der SPD gut bekommt“. ster an der Schule bis zum Intendanten So etwas bleibt nicht ohne Folgen. Der Chef wird sich dran gewöhnen im Rundfunk – parteipolitisch besetzt Während bei der Bundestagswahl der müssen. Letzte Woche kündigte der werde, sei es kein Wunder, wenn sich Zweitstimmenanteil der CDU um 0,6 niedersächsische Ministerpräsident und die Bürger angewidert abwendeten. Prozentpunkte sank, holte der Direkt- Wahlkampfmitstreiter Schröder über Jürgen Rüttgers liebt es, seine Umge- kandidat Rüttgers in seinem Wahlkreis Die Woche das Ende der Schonzeit für bung mit Vielseitigkeit zu verblüffen. 1,7 Punkte mehr. Scharping an. Die freie Aussprache Oft schreibt er über ihm zunächst frem- Solche Zahlen merkt sich Kohl. Sie über den neuen Oppositionsführer ist de Fachgebiete Aufsätze und Bücher. prägen sich ihm besser ein als jeder noch eröffnet. Aus der Beschäftigung des Kommu- so gute Programmsatz, selbst wenn er Die „Troika“ – Scharpings Versuch, nalpolitikers Rüttgers mit dem nord- aus der Feder des Zukunftsministers den aussichtslosen Wahlkampf gegen rhein-westfälischen Wasserrecht wurde Rüttgers stammt. den Alleindarsteller Helmut Kohl im zum Beispiel ein dicker Gesetzeskom- Der weiß immer noch nicht genau, Dreierpack mit Oskar Lafontaine und mentar. Der kurze Flirt mit der Raum- wie er an seinen schönen Titel gekom- Gerhard Schröder doch noch zu wen- fahrt schlug sich auf Hochglanzpapier men ist. Aber er bastelt schon an einen den – existiert nur noch als rhetorischer nieder: „Europas Wege in den Welt- neuen Rüttgers-Slogan: „Die Zukunft“, Merkposten („kein vorübergehendes raum“, Grußwort Helmut Kohl. scherzt der dafür zuständige Minister, Ereignis“) im Vokabular des Vorsitzen- Und das vielbeachtete Dinosaurier- „hat jetzt endlich einen Namen.“ Y den. Für Schröder ist sie zum „leeren Buch, das sich streckenweise sehr ober- Begriff“ verkommen. Immer wieder er- lehrerhaft liest, ist in Wahrheit die Do- lebte er, daß der SPD-Chef die Strate- kumentation eigener politischer Praxis. SPD gien nicht im Team festlegt und „ich in Aus den Erfahrungen als CDU-Kreis- der Zeitung lesen muß, was wichtig vorsitzender des Erftkreises zieht Rütt- ist“. gers Schlüsse für die gesamte Partei: wie Schröder scheut nicht mehr den öf- man aus einer vermieften rheinischen Hut ab fentlichen Hader mit Scharping, der in Honoratioren- und Klüngelpartei eine so vielem nicht nach seiner Fasson ist. richtige Kampftruppe macht. Zwischen und Aus heiterem Himmel, nachdem er Was er in seinem Kreis schaffte, ver- Gerhard Schröder bahnt sich längst abgesagt hatte, meldete er erneut suchte Rüttgers auch auf Landes- und seinen Anspruch auf den Vorsitz im Bundesebene durchzusetzen. Politische ein neuer Machtkampf an – aus Vermittlungsausschuß an. Ämter und Mandate sollen danach nicht für die Troika? Damit brachte er Hamburgs Ersten mehr von Delegierten, sondern direkt Bürgermeister Henning Voscherau in von den Mitgliedern verteilt, die Macht Bedrängnis, den erklärten Favoriten der Gremien eingeschränkt werden. Da- uch gegenüber so eigensinnigen Scharpings. Aus Ärger über Vosche- mit nicht immer nur die gleichen Funk- Parteifreunden wie Gerhard Schrö- rau, ließ Schröder durchscheinen, habe tionäre und Mandatsträger miteinander Ader gibt sich Rudolf Scharping ku- er so reagiert. In Wahrheit war es wohl reden, braucht die Partei nach Rüttgers’ lant: Es sei „das gute Recht“ des Han- als Provokation Scharpings gedacht. Willen mehr Öffentlichkeit. noveraners, „Interviews zu geben und Nicht minder provokant sind die In- Daheim im Erftkreis darf kein CDU- sich so zu äußern, wie er es für richtig terview-Äußerungen des Niedersach- Mitglied mehr als drei Parteiämter ha- hält“. sen: Unter Scharpings Verantwortung, ben. Aufsichtsratsposten bei kommuna- Doch harsche Kritik an ihm, dem Par- so war zu lesen, habe die SPD-Fraktion len Sparkassen und anderen Eigenun- tei- und Fraktionsvorsitzenden der SPD, „fahrlässig“ das wichtige „Monopol der ternehmen stehen nicht nur Mandatsträ- geht zu weit: „Ich bezweifle“, zürnt SPD auf Koalitionen mit den Grünen“ F. DARCHINGER SPD-Fraktionschef Scharping im Bonner Plenarsaal: „Da drängt mich jetzt gar nichts, auch der Gerd nicht“

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aufgegeben und eine „strategische Neu- vertretenden Fraktionsvorsitzenden nun umfassend in seine Geheimnisse einzu- orientierung der Grünen“ gefördert. eine Sonderrolle. weihen hielt er ebenso für überflüssig So gallig reagierte Schröder auf die Neben der fachlichen Zuständigkeit wie die rechtzeitige Information des Wahl der Grünen Antje Vollmer zur Vi- für Außenpolitik kann er mit dem Ge- Mitstreiters Schröder. zepräsidentin des Bundestages mit Stim- wicht seines Parteiamtes Einfluß auf die Keine neue Erfahrung für die Betrof- men der Union. „Hut ab“, gratulierte Fraktionsarbeit nehmen. Kritiker dieser fenen: Die Namen seines Schattenkabi- der Niedersachse dem Unionsstrategen Machtkonzentration fertigte Scharping netts hatte er ebenfalls bis zuletzt für Wolfgang Schäuble und dem Grünen kurz ab: „Wer das kritisiert, muß mich sich behalten – System Scharping. Joschka Fischer zu dem gelungenen selber kritisieren.“ „Das ist ganz erstaunlich, wie er das schwarz-grünen Coup. Den ehemaligen Grünen-Promi Otto macht“, mühte sich Verheugen Unwis- Das Parteiengefüge sei seit dieser Schily drückte Scharping als Fraktions- senheit in Bewunderung umzudeuten. Wahl mittel- und langfristig zu Lasten vize gegen die Ratschläge enger Ver- Scharping habe ein „Puzzle“ entworfen, der SPD verändert. Die Union, deren trauter und gegen den Stimmenblock mit vielen Personen als „Elementen“. angestammter liberaler Partner an Aus- der Fraktionsrechten durch. Er ignorier- Seine Gesprächspartner hätten jedoch zehrung leidet, könne von dieser Fehl- te Warnungen, der Anwalt sei in seinem keine Ahnung von dem Gesamtbild ge- leistung nur profitieren. oberbayerischen Wahlkreis als „wenig habt, zu dem sie beitragen sollten. Derb rempelte er seinen Was Scharping für ein ge- Bonner Widersacher, der En- lungenes Manöver hält, wer- de Oktober die Fraktion und tet ein einflußreiches Frakti- „die gewählten Gremien“ ons- und Parteivorstandsmit- zum „Machtzentrum der glied als „irrational“ und für SPD“ausgerufen hatte. Wenn den Vorsitzenden als „ge- es um „Machtfragen“ gehe, so fährliche Alleingänge“. Die- korrigierte der selbstbewußte sen selbstherrlichen Stil las- Landesherr, dann seider Bun- se sich auch die Fraktion auf desrat gefragt. Dort kann die Dauer nicht bieten. SPD mit der Mehrheit ihrer Die Drohung entspricht Länderstimmen wichtige Ge- der Stimmungslage des ent- setzesvorhaben der Regie- täuschten Schröder. Er wol- rung blockieren. le fortsetzen, was „man in Für Scharpings Fraktion hat der Troika miteinander be- der Ministerpräsident nur gonnen“ habe. „Da möchte Spott übrig: Sie dürfe „Kraft- ich nicht behandelt werden zentrum“bleiben, gestützt auf wie jemand, den man nicht 36 Prozent der Wählerstim- informieren muß, wenn Ent- men. Schröder: „Auf diese scheidungen anstehen.“ Kraft können wir bauen.“ Schröder will verhindern, Schröder verlangt – mit un- daß sich Scharping zum gro- verändert sehnsüchtigem ßen Drahtzieher in Bundes- Blick auf eine Große Koaliti- tag und Bundesrat aufspielt. on – von Scharping, stärker Anlaß zur Sorge sieht er in auf eine baldige Regierungs- Ankündigungen des Vorsit-

beteiligung der SPD zu „drän- P. FRISCHMUTH / ARGUS zenden in einem SPIEGEL- gen“. Nur „bereit“ zu sein Konkurrenten Voscherau, Schröder Gespräch (43/1994): „Ich zum Mitregieren, das sei zu Grotesker Streit um den Vorsitz im Vermittlungsausschuß werde auch die Koordinati- wenig. on der SPD-Arbeit in Bun- Scharping fiel dazu nicht viel mehr ein präsent“ und „noch weniger sozialde- destag und Bundesrat in die Hand neh- als die Ankündigung, er werde in dieser mokratisch im Umgang“ verschrien. Für men.“ Woche mit Antje Vollmer und Joschka den Chef zählten das „Integrationssi- Deswegen, um Scharping die Gren- Fischer essen gehen: „Ich muß nieman- gnal Schily“, dazu die „Argumentations- zen aufzuweisen, hat der Niedersachse den lieben, aber ich werde mit denen und Debattenfähigkeit“ des scharfzüngi- den grotesken Postenstreit um den Vor- nach wie vor gut umgehen.“ gen Juristen. sitz im Vermittlungsausschuß angezet- Im übrigen sei von ihm bekannt, daß Als politischen Berater für besondere telt. „Diese Frage geht das Präsidium er nicht nach der Großen Koalition gie- Fälle hat Scharping schließlich seinen nichts an“, schimpfte Schröder vor Ver- re: „Da drängt mich jetzt gar nichts, Freund Karl-Heinz Klär aus Mainz nach trauten, „über diesen Posten entschei- auch der Gerd nicht.“ Bonn gelockt. Der bisherige Chef der den allein die Ministerpräsidenten.“ Der neue Fraktionschef gibt sich un- rheinland-pfälzischen Staatskanzlei resi- Darüber ist er sich auch mit Oskar La- erschütterlich. Selbstbewußt setzte er diert künftig 100 Meter Luftlinie von fontaine einig. ein Tableau für die neue Fraktionsspitze Scharpings Bundeshausbüro entfernt als Die SPD-Landesfürsten müssen An- durch, mit dem er seinen Führungsan- Hausherr der Landesvertretung, auch fang Dezember in Dessau entscheiden, spruch absichern will. einsatzbereit für Spezialaufträge seines ob sie sich eine Kampfabstimmung zwi- Risiken hat er dabei nicht gescheut. früheren Dienstherrn bei Kungeleien schen dem von Johannes Rau und Obwohl nach dem verpatzten Europa- zwischen Fraktion und SPD-Ländern im Scharping favorisierten Hamburger Vo- wahlkampf aus der Partei Kritik an Ge- Bundesrat. scherau und Schröder zumuten oder schäftsführer Günter Verheugen laut Der Chef vergab seine Posten ohne nach bewährtem Muster den dienstälte- geworden war und auch Scharping gele- Rücksicht auf Empfindsamkeiten ver- sten Kollegen nominieren. gentlich Probleme mit dem Antreiber dienter Genossen. Die stellvertretenden Dienstältester Kollege ist der saarlän- hatte, stattete er den Ex-Liberalen mit Parteivorsitzenden Johannes Rau, Os- dische Ministerpräsident Lafontaine. neuen Kompetenzen aus. Als Parteima- kar Lafontaine, und Und der hat schon signalisiert: Er würde nager hat Verheugen im Kreis der stell- Herta Däubler-Gmelin frühzeitig und antreten. Y

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Europa „Deutschland zahlt zuviel“ Interview mit EU-Kontrolleur Bernhard Friedmann über Geldverschwendung in der Gemeinschaft

Friedmann, 62, ist seit 1989 Parlament und der Rat auf die wich- SPIEGEL: Haben Sie vor diesem Hin- deutsches Mitglied im Präsidium tigsten politischen Ziele zu einigen tergrund Verständnis für den Ein- des Europäischen Rechnungsho- haben. Die Umsetzung sollte alsdann druck der Deutschen, siemüßten Mil- fes. In ihrem neuen Jahresbericht den Mitgliedsstaaten im Rahmen der liarden in den EG-Topf zahlen, ohne kritisiert die Behörde den zuneh- Subsidiarität obliegen. Damit würde allzuviel davon zu haben? menden Subventionsschwindel. Europa bürgernäher. Dafür wären Friedmann: Wenn die EU beim Bür- Kontrollmechanismen zu entwik- ger akzeptabel bleiben soll, müssen SPIEGEL: In der Europäischen Uni- keln, die mehr als bisher auf die Ei- wir über die Belastung nachdenken. on werden Milliarden verschwen- genverantwortung der Begünstigten Eine vierköpfige Familie in Deutsch- det, beklagt der Rechnungshof. abzielen. Statt verlorener Zuschüsse land zahlt gegenwärtig etwa 2000 Sind die Kommission und die Re- müßte die Gemeinschaft häufiger Mark pro Jahr für die EU, das ist gierungen nicht fähig, die Ausga- Darlehen vergeben, die zurückflie- mehr als der viel diskutierte Solidari- ben zu kontrollieren? ßen. Sie hätte dann mehr Hilfsmög- tätszuschlag. Im Bundeshaushalt Friedmann: Die Politik der EU ist lichkeiten, ohne das Finanzvolumen schlägt der Beitrag an die Europäi- zu interventionistisch. Dies verlockt des Haushalts zu erhöhen. sche Union mit 45Milliarden Mark zu zu Betrügereien. Es ist illusorisch SPIEGEL: Der Rechnungshof ist of- Buche. Das entspricht fast dem Haus- zu glauben, daß wenige Beamte fensichtlich völlig machtlos. In Ihrem halt des Verteidigungsministers. von Brüssel aus jedes Projekt kon- Bericht steht, viele Beanstandungen, SPIEGEL: Zahlt Deutschland zuviel? trollieren könnten, das zwischen die bereits 1983 gemacht worden sei- Friedmann: Deutschland zahlt Spitzbergen im Norden und Kreta en, fänden sich 1993 wieder. 1994 25 Milliarden Mark mehr in die im Süden von der EU finanziert Friedmann: Wir arbeiten nach dem Gemeinschaftskasse, als es herausbe- wird. So werden immer wieder Zu- Motto, steter Tropfen höhlt den kommt. Bisher ist das Bruttoinlands- schüsse gezahlt, ohne daß der Stein. Irgendwann finden wir dann produkt das Maß aller Dinge, nimmt Empfänger die Notwendigkeit doch Gehör. Wenn man dem Rech- man das Bruttoinlandsprodukt pro nachweist. nungshof mehr Rechte geben will, Kopf und berücksichtigt die Rück- SPIEGEL: Weil die Betrugsfälle zu- müßte man ihn in die Lage versetzen, flüsse, dann bezahlt Deutschland 16 nehmen, wurde ein „Betrugs-Tele- in allen Fällen, in denen er Unregel- Milliarden Mark zuviel im Jahr. fon“ eingerichtet. Dort werden mäßigkeiten feststellt, deren Beseiti- SPIEGEL: Ist das nicht eine Folge der Hinweise auf Subventionsschwindel gung im Klageweg zu erzwingen. Un- Vereinigung und des dadurch gesun- angenommen. Fürchten Sie nicht sere Waffe ist bisher nur die Qualität kenen Inlandsprodukts pro Kopf? eine Flut von Denunziationen? der Argumente. Friedmann: Der Beitrag Deutsch- Friedmann: Wir müssen lands ist infolge der Vereinigung ge- das sorgfältig prüfen, stiegen. Was wir an Strukturhilfe für der Anschluß wird so- die neuen Länder zurückbekommen, wieso erst einmal provi- entspricht ungefähr den Aufschlägen sorisch eingerichtet, um infolge der Einheit. Erfahrungen zu sam- SPIEGEL: Wäre denn eine Senkung meln. Aber es ist viel- des Beitrags politisch durchsetzbar? leicht eine Möglichkeit, Friedmann: Die Regierungskonfe- Hinweise auf Organi- renz zur Überarbeitung des Maas- sierte Kriminalität mit trichter Vertrags findet 1996 statt. erheblichem Schaden Dort müßte ein neues Finanzsystem für die Gemeinschaft zu besprochen werden, um es 1999 um- bekommen. setzen zu können. SPIEGEL: Der größte SPIEGEL: Wie wollen Sie die anderen Schaden entsteht da- Staaten davon überzeugen? durch, daß jeder nimmt, Friedmann: Neben Deutschland be- was er kriegen kann. In zahlen auch Großbritannien und die Ostdeutschland wurden Niederlande zuviel. Als Anhalts- Gewerbeparks geför- punkt kann auch ein Dokument des dert, die niemand französischen Parlaments dienen. braucht. Wie ist das zu Der Senat stellte vor einigen Wochen verhindern? fest, auf Dauer könne es politisch Friedmann: Generell nicht gutgehen, wenn Deutschland al-

muß die EU politischer J. H. DARCHINGER lein mehr bezahle als England und werden. Dies heißt, daß Prüfer Friedmann Frankreich zusammen. Eine gewisse sich das Europäische „Unsere Waffe sind Argumente“ Einsicht ist also da.

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FDP „Einer muß ja beißen“ SPIEGEL-Reporter Hans-Joachim Noack über den künftigen Generalsekretär Guido Westerwelle

or dem Bonner Amtsgericht geht weg von diesem Mann! es am vergangenen Donnerstag Loyalität wird von mir Vum den Fall einer gefährlichen belohnt!“ Körperverletzung – das Opfer wird als Vermutlich gibt es pro- Nebenkläger von einem jungen Rechts- fanere Gründe für die anwalt vertreten, der sich unvermittelt Wortkargheit Kinkels. beträchtlicher Aufmerksamkeit ausge- Wichtiger als einem Ex- setzt sieht. Journalisten umringen ihn „General“ nachzuhän- in den Verhandlungspausen: Er soll gen, der so mit dem Ein- sich „erklären“, doch er windet sich. geständnis seines eigenen Das Interesse gilt nicht einer alltägli- Scheiterns ja auch ihm ei- chen Strafsache, sondern dem bevor- nen deutlichen Schuldan- stehenden Karrieresprung des etwas teil zuweist, erscheint bläßlich wirkenden Juristen. Sein Na- dem Parteiboß nun eine me: Guido Westerwelle. Der erst generell größere Sorgfalt 32jährige Freidemokrat avanciert in bei den Personalentschei- der morschen Regierungspartei zum dungen. Natürlich will er künftigen Generalsekretär. den „Jungstar“ Wester- Dem lautlos-glatten Abgang des bis- welle. Er hat nur noch herigen FDP-Chefmanagers Werner „ein bißchen herumzute- Hoyer folgt in das Bonner Thomas- lefonieren“, damit ihm Dehler-Haus ein alerter Nachwuchspo- am Ende alle Kollegen zustimmen. Das mühsame Geschäft des Einbindens erlegt dem präsumtiven Neuen Zwänge auf, denen er mit abgesicherten Konditio-

nalsätzen gerecht zu wer- M. DARCHINGER den versucht. „Gesetzt Designierter FDP-Manager Westerwelle den Fall, ich würde es“, „Manchmal zu forsch und dampfig“ hört man ihn umständlich formulieren – aber dann tritt ein Stre- ken als die „82er Nachwende-Libera- bertypus hervor, den zum Beispiel die len“ tituliert. Soll der sich vorgaukeln, Frankfurter Allgemeine als „von Politik daß er zu dem, was die Partei zuvor besessen“ empfindet. beseelte (und was sie jetzt wieder aus- Guido Westerwelle, Dr. jur. und Ju- zugraben bemüht scheint), eine „nost- niorpartner seines Vaters, mit dem er in algische Beziehung“ pflegt? Bonn eine florierende Anwaltspraxis Nein, das mag er nicht, und dem betreibt, ordnet sich selbst so ein. Be- stünde wohl auch seine Natur entge- reits als Twen saß er zu Beginn der gen. In der Pose eines auf strikte Achtziger im Bundesvorstand seiner Nüchternheit bedachten Analytikers Partei. Er hatte davor die brävlichen streift er die Jahre des sozialliberalen

T. KLINK Jungliberalen zu gründen geholfen und Bündnisses. Und glaubt gerade des- Ausgestiegener FDP-Manager Hoyer sich zu deren Anführer aufgeschwun- halb, auch die nötige Unbefangenheit Sanftmütig und entgeistert gen. zu besitzen. Eine Polit-Laufbahn im Steilanstieg, „Keine Berührungsängste“, heißt die litiker, und jeder weiß es – nur er selbst die schon seinerzeit dadurch begünstigt Losung des Youngsters Guido Wester- hat darüber im Kern noch zu schweigen. wird, daß den Sproß einer Juristen-Ehe welle, indem er munter auf das Glanz- Sein Vorsitzender, Klaus Kinkel, läßt keinerlei Selbstfindungsprozesse bela- stück seiner in den frühen Siebzigern sich Zeit, den Wechsel offiziell zu bestä- sten. Der FDP zu Diensten zu sein, ent- dominierenden Partei-Vorväter lossteu- tigen. spricht da schlicht dem ihm innewoh- ert. Es geht ihm dabei um das „hoch- Trauert der ehrpusselige Schwabe, nenden „Lebensgefühl“, und engagiert spannende Freiburger Programm“, daß sich mit dem sanftmütigen Bartträ- redet der „Juli“-Vorsteher einem Wirt- dessen alsbaldige „Fortschreibung“, in ger Hoyer ein entgeisterter Freund aus schaftskonzept das Wort, das seinen welche Richtung auch immer, er drin- der Schaltzentrale verflüchtigte? Dem entwickelten „Hang zum Freigeist“ un- gend empfiehlt. hatte er schließlich bis in die letzten Ta- terstützt. Denn die ausgebleichten Blaugelben, ge hinein geradezu leidenschaftlich die Der Generalsekretär in spe – ein ver- nicht wahr, müssen nun endlich wieder Stange zu halten versprochen: „Hände läßlicher Protagonist derer, die er trok- zu ihren Grundsätzen zurückfinden –

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„wieder eine Option“, sich notfalls an- dere Mehrheiten zu suchen. Wird er auf dem kommenden Sonder- parteitag in Gera gewählt, stellt der scharfe Anwalt („Einer muß ja beißen“) seiner Klientel eine „reinrassige FDP- Politik“ in Aussicht. Passe´ soll dann die triste Phase sein, in der sich die Libera- len darin verkrampften, ihren Anhän- gern immer nur Regierungskompromis- se nahezubringen. Er legt Wert darauf, der Schöpfer ei- nes Wortes zu sein, das den Vorsitzen- den Klaus Kinkel besonders nervt. Ge- meint ist damit die vielzitierte Vokabel vom „Schmusekurs“, die er aber seiner- zeit auf den Parteichef Martin Bange- mann und dessen „Scheiß Lagertheorie“ verwendet habe. So fing laut Westerwelle das FDP-Un- glück an. Y

Autotelefon

„In welche Richtung geht’s denn heute, Herr Kinkel?“ Kölner Stadt-Anzeiger und die ortet der neue Adlatus Kinkels quartier stehe ein ausgeprägt politi- Plaudern auf alle Fälle in der gesellschaftlichen scher Chefmanager ins Haus, aber es Mitte. „Wer wie der Herr von Stahl“, gibt auch andere Auffassungen. FDP- entfährt es ihm in ungewohnter Aufwal- Hierarchen der unteren Gliederungen über Taste 5 lung, „hohle und anti-intellektuelle Po- vermissen bei dem schneidigen Wester- sitionen durchzusetzen versucht, ver- welle den für die Arbeit unerläßlichen Müssen Minister private Telefonate brennt die Seele der FDP!“ Basisbezug. Parteifreunde im Osten aus ihren Dienstwagen Sind das bloß flotte Sprüche, oder fürchten den wenig sensiblen Besser- meldet sich da tatsächlich ein unver- wessi. selbst bezahlen? Im Prinzip ja. brauchter Libertärer, der den Seinen die Daß in die FDP-Zentrale ein sehr Flucht an den rechten Rand ersparen viel robusterer Vorturner einziehen ie Anfrage des Abgeordneten möchte? Daß Westerwelle statt dessen wird, als er selbst es war, deutet des- Detlev von Larcher (SPD) klang den Kampf gegen die Grünen für die gleichen der scheidende Generalsekre- Dharmlos und lästig zugleich. Er entscheidende Aufgabe seiner Partei tär an. preist zwar un- wollte von den Beamten im Bundesfi- hält, wird man ihm einstweilen abneh- umwunden die Intellektualität seines nanzministerium wissen, wie es Staats- men dürfen. Nachfolgers, doch in puncto „Verkaufe sekretäre und Minister mit privaten Und das um so mehr, als er insoweit von Politik“ wähle der nicht selten Telefonaten aus ihren Dienstwagen ja auch sein Lebensgefühl bedroht sieht. „zwischen Florett und Säbel“. hielten. Das Vorstandsmitglied Westerwelle, Reine Routine. Ein Blick in die das am 16. Oktober haarscharf an „Dienstanschlußvorschriften“ genügte, „Wir alle haben einem Bundestagsmandat vorbei- und schon war die Antwort fertig: Wer insgesamt unseren schrammte, hebt die Augenbrauen bei private Gespräche aus seiner Dienstli- solchen und ähnlichen Differenzierun- Job nicht getan“ gen. Ja, es stimmt wohl, sogar er selbst findet sich „manchmal zu forsch und Mit spürbarem Neid verfolgt der ledige dampfig“ – und wer in den Archiven Workaholic die strategischen Künste nachgrabe, entdecke gewiß „ein paar des konkurrierenden Ober-Realos ganz schreckliche Sätze“. Joschka Fischer. Dem ist es gelungen, Doch was soll’s: Einer, der sich auf- erkennt er schmerzlich an, sich allem gerufen weiß, der heruntergekomme- voran in seiner eigenen Generation fest nen Pünktchen-Partei ein neues Be- zu verankern. wußtsein beizubiegen, darf nicht zim- Also will er die Rivalen als im Grunde perlich sein. Der hat zu erkennen (und „viel zu staatsnah und ökologisch altmo- es auch zu sagen), „daß wir alle und disch“ entlarven – wie es ihm überhaupt insgesamt unseren Job nicht getan ha- darum zu tun ist, die von der FDP verlo- ben“. renen Begriffe zurückzuerobern. „Ge- Das muß sich jetzt ändern, dank setzt den Fall, ich würde es“, kündigt Guido Westerwelle. Eloquent, als sei der vor Ehrgeiz lodernde Newcomer er ein zweiter Jürgen Möllemann, schon jetzt einen Generalsekretär an, droht er dem Koalitionspartner „kal-

der sich nahe bei einem „Typ Geißler“ kulierte Konflikte“ an. Denn end- F. HENSEL / QUADRO PRESS plaziert glaubt. Das soll dem Eindruck lich herrsche ja „Waffengleichheit“; Abgeordneter Larcher Vorschub leisten, dem liberalen Haupt- schließlich haben auch die Liberalen Lästige Frage

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mousine führe, müsse sie selbstver- ständlich auch privat begleichen. Tue Polizei er das nicht, habe er diesen geldwerten Vorteil zu versteuern. Eine klare Auskunft – die Larcher jedoch nie erreichte. „Da muß der Blitz Statt dessen gab ihm Jürgen Echter- nach, bis vorletzte Woche Parlamenta- rischer Staatssekretär, ganz anderen Bescheid: Wer der Regierung angehö- einschlagen“ re, dürfe auch in seinem Dienstwagen auf Staatskosten privat telefonieren. Brandenburgs Innenminister Alwin Ziel über ausländerfeindliche Beamte Echternachs Auskunft ist allerdings nicht ganz richtig. Das Privileg auf kostenloses SPIEGEL: Herr Minister, Hamburger Telefonieren haben allein Polizisten quälten Schwarzafrikaner, im die Abgeordneten des brandenburgischen Bernau haben Be- Bundestages. amte Vietnamesen verprügelt. Auch aus Denen wurde vor Jah- anderen Bundesländern häufen sich Be- ren mit Verweis auf ihr richte über ausländerfeindliche Über- „freies Mandat“ freies griffe der Polizei. Doch Sie und Ihre Mi- Telefonieren gewährt. nisterkollegen sprechen noch immer von Niemand sollte mit Hilfe Einzelfällen. Augen zu und durch? von Telefonabrechnungen Ziel: Ich weigere mich, die einzelnen legal oder illegal ermit- Übergriffe zu verallgemeinern oder von teln können, ob etwa ein einem Trend zu sprechen. Wir müssen SPD-Linker lange Ge- uns die Dimension des Problems klar- spräche mit den Sandini- machen: Wenn ein Polizist am Hambur- sten in Nicaragua führte ger Hauptbahnhof an Ausländer denkt, oder ein CDU-Rechter dann hat er einen Schwarzen mit innigen Fernkontakt mit Rauschgift vor Augen und nicht einen den Contras pflegte. amerikanischen College-Studenten. Für Dieses Vorrecht haben die Beamten ist der Umgang mit krimi- Minister und Staatssekre- nellen Ausländern Alltagsarbeit, und täre, dienstlich unter- dem sind nicht alle gewachsen. wegs, jedoch nicht. Je- SPIEGEL: Die Innenminister wollen auf denfalls hat das Finanzmi- ihrem Treffen in Magdeburg Ende die- nisterium gegenüber dem ser Woche Maßnahmen gegen gewalttä- Bundesrechnungshof vor tige Polizisten beschließen. Doch in der kurzem noch eine stren- Beschlußvorlage findet sich als einzig gere Rechtsauffassung konkreter Vorschlag ein Forschungsauf- vertreten. Danach sind trag, um zu klären, ob es das Problem für alle Bediensteten ei- überhaupt gibt. nes Ministeriums, vom Ziel: Ich will meinen Kollegen nicht vor- Pförtner bis zum Mini- greifen. Einen Auftrag an externe Wis- ster, private Ferngesprä- senschaftler halte ich allerdings für sinn- che erstattungspflichtig. voll, um die Ursachen der Fremden- Wer von Bonn mit den J. LIEBE feindlichkeit zu erforschen. Ich fürchte, Lieben daheim plaudern Alwin Ziel die Forscher werden uns vorhalten, daß will, der drückt erst brav viele Polizisten für konservative Welt- die Taste 5 seines Dienst- ist Vorsitzender der Innenministerkonferenz. Der bilder und Fremdenfeindlichkeit anfälli- apparates und erhält dann brandenburgische SPD-Politiker, 53, hat seine ger sind, als wir denken. binnen 14 Tagen eine Länderkollegen nach den jüngsten Polizeiskanda- SPIEGEL: Da brauchen Sie nicht auf die Rechnung. Den geltenden len in Hamburg, Berlin und Bernau aufgefordert, Wissenschaftler zu warten. Schon der „Dienstanschlußvorschrif- das Problem ausländerfeindlicher Übergriffe von ehemalige Innensenator Werner Hack- ten“ ist nicht zu entneh- Polizisten bei ihrem nächsten Zusammentreffen mann kritisierte nach seinem Rücktritt men, daß sich Mitglieder Ende dieser Woche zu diskutieren und Maßnah- wegen des Hamburger Polizeiskandals, der Regierung preußi- men gegen prügelnde Beamte zu beschließen. In daß die Innenminister die Auseinander- scher Pingeligkeit durch Hamburg, wo Berichte über gewalttätige Polizei- setzung mit ausländerfeindlichen Poli- eine Autofahrt um den einsätze gegen Ausländer im September zum zeibeamten immer wieder vor sich her Block entziehen dürfen. Rücktritt des SPD-Innensenators Werner Hack- schieben. Das hat sich offenbar nicht ge- Aber die Praxis ist of- mann führten, haben die Staatsanwälte Anfang ändert. fenkundig anders. Und vergangener Woche Strafverfahren gegen sieben Ziel: Ich habe das Problem auf die Ta- weil sein muß, was Beamte eingeleitet. Die Polizisten sollen unter an- gesordnung der Konferenz gesetzt und eigentlich nicht sein derem Schwarzafrikanern mit Gewalt Brechmittel lasse mir das nicht kleinreden. Es darf darf, zauberte das Fi- eingeflößt und sie mit Insektengift besprüht ha- nicht bei einem allgemeinen Gedanken- nanzministerium dafür ben. In Berlin und Bernau wird gegen rund 60 Poli- austausch bleiben. Wir haben eine Men- eine Rechtsgrundlage her- zisten wegen brutaler Mißhandlungen an Vietna- ge nachzuholen, besonders in der Poli- bei – wie wackelig auch mesen ermittelt. zeiführung. Da mangelt es vielerorts an immer. Y Verantwortungsbewußtsein. Ich dulde

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nicht, wenn Vorgesetzte von Übergrif- in vielen Wachen immer wieder vor- Ziel: Es ist ein Anfang, um das nationale fen nichts gesehen und nichts gehört ha- kommt. Kästchendenken in den Köpfen aufzu- ben wollen. Ziel: Woher wissen Sie das? In Bernau brechen. Im vergangenen Sommer haben SPIEGEL: Wie wollen Sie die zum Hin- sind die Vorfälle nur deshalb aufgeklärt wir als erstes Bundesland beschlossen, sehen zwingen? worden, weil die Polizeipräsidentin ganz daß zehn Prozent der neueingestellten Ziel: Bei nachgewiesenem Fehlverhalten energisch durchgegriffen hat. Sie hat Polizisten Ausländer sein müssen. muß hart durchgegriffen werden. Das sich selbst mit Vertretern der mißhan- SPIEGEL: Heute sind gerade 40 von 8000 akzeptieren auch die Beamten, und es delten Vietnamesen zusammengesetzt, Brandenburger Polizisten Ausländer. stärkt diejenigen, die sich nichts zu- sie angehört und den Opfern die Angst Bis Sie einen spürbaren Ausländeranteil schulden kommen lassen. Polizeiführer vor der Aussage genommen. In diesem haben, wird es Jahre dauern. müssen jedem Vorwurf nachgehen und, Fall hat sich übrigens bewährt, daß wir Ziel: Wir hatten im Osten keine Chance, wenn nötig, sofort die Staatsanwalt- zivile Präsidenten eingesetzt haben, die früher damit anzufangen. Es wird das Kli- schaft einschalten. Nur so bewahren wir nicht aus dem Polizeidienst kommen ma im Lande sehr verändern, wenn ein die Glaubwürdigkeit der Polizei. und deshalb mehr Distanz zum Apparat Ausländer in Polizeiuniform selbstver- SPIEGEL: Die Polizeipräsidenten kön- ständlich wird. Ich war verblüfft, wie sehr nen auch nur verfolgen, was ihnen zu diese Maßnahme von den Brandenbur- Ohren kommt. Oft aber decken Revier- „Es ist doch verrückt, gern begrüßt wurde. leiter ihre Beamten aus falsch verstan- junge Polizisten in SPIEGEL: Den berüchtigten Korpsgeist denem Korpsgeist oder nehmen aggres- fördern viele Bundesländer auch da- sives Verhalten gegenüber Ausländern Kasernen zu sperren“ durch, daß sie Polizisten schon während nicht ernst. der Ausbildung von der Außenwelt ab- Ziel: Genau da muß der Blitz einschla- haben. Es ist klargeworden: Die lassen schotten und in Kasernen unterbringen. gen. Wir müssen ein Klima schaffen, in nicht mit sich kungeln. Das mag nicht in Ziel: Und da sitzen sie dann wie unter ei- dem es normal ist, daß sich Polizisten ih- allen Bundesländern so deutlich sein. ner Glocke. Es ist doch verrückt, junge ren Vorgesetzten offenbaren und diese SPIEGEL: Mit Härte gegenüber den eige- Menschen während ihrer Ausbildung die Meldungen auch weitergeben. nen Leuten allein werden Sie nicht wei- quasi einzusperren. Es müßte überall SPIEGEL: Polizeiexperten fordern des- terkommen. Wie wollen Sie den Beam- möglich sein, Polizeischüler wie in Bran- halb neutrale Ombudsleute in den Poli- ten die fehlende Sensibilität im Umgang denburg auch an offenen Schulen auszu- zeidirektionen, denen Opfer und Zeu- mit Ausländern antrainieren? bilden. In unserem Land ist nicht einmal gen von Polizeigewalt, notfalls anonym, Ziel: Bei der Ausbildung legen wir auf die Bereitschaftspolizei kaserniert. Auf Bericht erstatten können. Berufsethik großen Wert. Wir bieten jeden Fall sollten die Polizeischüler nicht Ziel: So ein Ombudsmann ist doch zahn- zudem Polnisch-Kurse an. Das bewegt nur von Polizisten, sondern auch von ex- los. Was soll der denn mehr ausrichten etwas in den Köpfen und schafft Ver- ternen Lehrern unterrichtet werden. als der Dienstvorgesetzte, der seine ständnis gegenüber Ausländern, das wir SPIEGEL: Wenn Polizisten gegen ihre Aufsicht konsequent wahrnimmt? in der Polizei dringend brauchen. Kollegen aussagen, bekommen siehäufig SPIEGEL: Er würde bei den Opfern SPIEGEL: Polen-Hasser und Ausländer- ein Verfahren wegen Strafvereitelung im mehr Vertrauen genießen und Be- feinde werden sich bestimmt nicht Amt – weil sie sich nicht früher gemeldet schwerden von Bürgern gegen Polizisten freiwillig zum Polnisch-Unterricht mel- haben. Wäre eine Art Kronzeugenrege- nicht als Querulantentum abtun, wie es den. lung nicht sinnvoll? Ziel: Es ist natürlich ein Problem, wenn ein Poli- zist sagt, ich will was än- dern, auspackt und da- durch in das Räderwerk der Justiz gerät. Eine Kronzeugenregelung wie für aussteigewillige Terroristen allerdings will verbrecherische Strukturen aufbrechen. Und so sind die Verhält- nisse bei der Polizei nun wirklich nicht. SPIEGEL: Sie würde manchem Polizisten die Aussage erleichtern. Ziel: Das läßt sich in ein- zelnen Fällen auch an- ders machen, in Form einer Zusicherung an Aussagewillige etwa, daß ihr Verfahren spä- ter wegen geringer Schuld eingestellt wird. Schließlich ist es besser, daß ein Polizist zu spät GAFF aussagt als gar nicht. Y

A. JANSSON / * Während einer Demonstra- Polizeieinsatz gegen Ausländer*: „Dem sind nicht alle gewachsen“ tion von Kurden in Berlin.

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Schulen kostenlos Fernseher und Kabel- Werbung anschluß oder Satellitenschüsseln zur Verfügung – aber nur, wenn sie seinen Channel One einschalten. Ein 30-Sekunden-Spot kostet über Schokoriegel 100 000 Dollar. Trotz des hohen Preises für die Werbekunden ein gutes Ge- schäft: Die Zielgruppe ist bekannt, es im Hörsaal gibt kaum Streuverluste, und die Kids können nicht in ein anderes Programm Als erste experimentiert die zappen wie vor der Glotze zu Hause. Uni Dresden mit Reklamespots „Der Zuschauer kann nicht auswei- chen“, lobt Carola Andresen von der während der Vorlesungen, Agentur Koch Media in Düsseldorf Professoren sind entrüstet. auch die Werbung im Hörsaal. Die Idee sei gut geeignet „zur Implantierung von Markenbildern in der jungen Generati- or 10 oder 20 Jahren hätten Studen- on“ – eine Traumkonstellation für die ten gegen das, was ihnen letzte Wo- Werber. Ursula Reimers von der Ham- Vche an der Technischen Universität burger Agentur Lintas sieht jedoch ein in Dresden geboten wurde, noch laut- entscheidendes Problem: An vielen Or- stark rebelliert. Wahrscheinlich hätten ten könnten keine Spots gezeigt werden, sie den Hörsaal besetzt und in einem weil „man das technische Equipment an spontanen Sit-in die Absetzung der ge- den Hochschulen nur auf den Müll wer- samten Hochschulleitung gefordert. fen kann“. An ein paar an die Hörsaal- Doch als Wirtschaftsdozent Harald wand geworfenen Dias sind die Profis Schaub, 28, am vergangenen Montag nicht interessiert. erstmals in der Bundesrepublik einen Auch Sachsens Wissenschaftsminister Werbefilm während einer Vorlesung Professor Hans Joachim Meyer (CDU) über Entscheidungstheorie einspielen hält nicht viel von der möglichen neuen ließ, nahm der akademische Nachwuchs Finanzquelle, wenn auch aus anderen den 20-Sekunden-Spot der Firma Sony Gründen. Zwar erklärte er, daß „die Sa- gelassen hin – nach der Devise: „Lieber che in der Zuständigkeit der Hochschu- so als 1000 Mark Studiengebühren“. le“ liege, doch nach Aussagen von Mey- Der Universität bringt die Werbung er-Mitarbeitern werde das Ministerium unverhofft Geld: Der japanische Elek- sofort einschreiten, sollte das Beispiel tronikkonzern zahlt für die Ausstrahlung Schule machen. Für Meyer ist das eine von fünf kurzen Werbefilmen insgesamt Frage des wissenschaftlichen Ethos. 5000 Mark. Auch dem Rektor der TU Dresden, Mit dem Experiment wollte Schaub ei- Achim Mehlhorn, ist die Sache nicht ge- gentlich nur eine Diskussion über Wirt- heuer. Der Sächsischen Zeitung vertrau- schaftsethik zwischen seinen Studenten te er an: „Es kann uns doch nicht jedes anregen – unter möglichst realistischen Mittel recht sein, um zu Geld zu kom- Bedingungen: „Ich dachte nicht an die men.“ Y Vermarktung der Hör- säle.“ Doch die Wirtschaft reagierte schnell: Un- ternehmen, die eben- falls in Vorlesungen werben wollen, haben bereits bei Schaub an- gefragt; Werbefirmen interessieren sich für den neuen Markt. Im Gegensatz zur Bundesrepublik ist in den USA Werbung im Bildungsbereich weit verbreitet. Für mehre- re Millionen Schüler gehört eine mit Wer- bung für Turnschuhe, Cola und Schokoriegel durchsetzte Nachrich- tensendung zum tägli- chen Unterrichtspen- sum. Der Unterneh-

mer Christopher LAUE / ASPECT Whittle stellt den Dozent Schaub: „Ich dachte nicht an Vermarktung“ .

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Justiz Narrenfreiheit für Juristen? SPIEGEL-Redakteur Rolf Lamprecht über Anklagen gegen verfassungsfeindliche Richter

ichter Rainer Orlet, der sich im zesse in der Justiz zu ahnden. Faßbar kennbar dafür geschaffen worden, sol- Sommer als Schutzpatron eines wären Rechtswahrer, die sich – ohne ei- che Widersprüche aufzulösen. RVolksverhetzers aufgespielt und ne strafbare Handlung zu begehen – ge- Orlet hat seine Sympathie für Deckert damit die deutsche Justiz weltweit in gen den Geist der Verfassung wenden. noch nicht mal zwischen den Zeilen ver- Verruf gebracht hatte, ist vergangene Die Radikalen-Rechtsprechung des steckt, für ihn war das Leugnen der Ju- Woche in sein Amt zurückgekehrt. Bundesverfassungsgerichts, die alle Be- denvergasung schlicht von dem „Bestre- Deutschlands Richter dürfen aufat- werber für den Staatsdienst auf die ben motiviert, die Widerstandskräfte im men. Ihre Welt ist wieder in Ordnung. „freiheitliche demokratische Grundord- deutschen Volk gegen die aus dem Ho- Die meisten Kollegen des Mannheimer nung“ verpflichtet, gilt also gleicherma- locaust abgeleiteten jüdischen Ansprü- Juristen hatten auf das antisemitische ßen für amtierende Richter. che zu stärken“. Urteil zwiespältig reagiert. Einerseits di- Wenn das tote Recht im Grundgesetz Und um es noch schlimmer zu ma- stanzierten sie sich voller Empörung von gegen furchtbare Juristen mobilisiert chen, erklärte Orlet der Süddeutschen Orlets Parteinahme für den NPD-Het- würde, könnte im besten Fall der libera- Zeitung: „Ich würde jeden Satz des Ur- zer Günter Deckert. Zugleich aber miß- le Ex-Präsident des Bundesverwaltungs- teils wieder so schreiben“ – also auch billigten sie die Freistellung des Richters gerichts, Horst Sendler, widerlegt wer- den zitierten, der den Juden Geschäfte- durch das Mannheimer Land- gericht als unstatthaften Ein- griff in die richterliche Unab- hängigkeit. Orlets krankheits- bedingte Verhinderung hielten alle für vorgeschoben. Nun, wieder gesund ge- schrieben, kann Orlet weiter- machen wie bisher. Denn her- kömmlich muß sich ein Richter für seine Urteile nicht verant- worten – es sei denn, er hätte Rechtsbeugung begangen. Doch das Privileg der richter- lichen Unabhängigkeit wurde erfunden, um die Bürger und ihre Rechte vor einer politisch gegängelten Justiz zu schützen, und nicht, um Narrenfreiheit für Juristen einzuführen. Dar- um gilt es auch nicht schran- kenlos. Justizpolitiker haben nun al- len Anlaß zum Nachdenken über die Grenzen, die Leuten wie Orlet gesetzt sind. Nicht

zufällig kamen jüngst in Karls- K. HOLZNER / ZEITENSPIEGEL ruhe unter hohen Richtern De- Mannheimer Deckert-Richter Orlet: „Ich würde jeden Satz wieder so schreiben“ batten über die Anwendung ei- ner Vorschrift auf, die schon fast verges- den. Der kam kürzlich resigniert zu dem macherei mit den Toten der NS-Willkür sen schien: Artikel 98 des Grundgeset- Schluß, „daß die richterliche Unabhän- unterstellt. Wer, wie Orlet, den Aufrüh- zes über die „Richteranklage“. gigkeit zwar unverzichtbar ist, aber ei- rer Deckert als „charakterstarke, Danach darf ein Richter, der sich ge- nen hohen Preis fordert“. Wie „bei je- verantwortungsbewußte Persönlichkeit“ gen Prinzipien des Grundgesetzes oder dem Menschenwerk“ seien „Betriebsun- würdige, stelle die Werteordnung des einer Länderverfassung vergeht, auf fälle und Schlimmeres, eben skandalöse Grundgesetzes auf den Kopf, sagt der Antrag des Bundestages oder eines Urteile“, nicht auszuschließen, „ohne Vorsitzende des Deutschen Richterbun- Landtages vom Bundesverfassungsge- daß die dafür Verantwortlichen belangt des. richt mit einer Zweidrittelmehrheit ent- werden können“. Viel Rabulistik hat das Bundesverfas- lassen oder versetzt werden. Die Vor- Orlet hat keine Rechtsbeugung be- sungsgericht in den schlimmen Zeiten aussetzungen sind streng genug, um jede gangen. Er hätte sogar noch unsäglicher des Radikalenerlasses aufgewendet, kri- kleinkarierte Maßregelung mißliebiger argumentieren dürfen, ohne damit ir- tische junge Leute wegen unbedachter Juristen auszuschließen. gendeine Bestrafung zu riskieren. Den- linker Äußerungen als Verfassungsfein- Zugleich aber bietet der vergessene noch hat er die Ideen des Grundgesetzes de zu brandmarken. Mit Orlet hätten Artikel 98 eine Chance, schlimme Ex- verraten. Die Richteranklage ist er- die Karlsruher es da viel einfacher. Y

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SPIEGEL-Streitgespräch „Einige groteske Fehler“ Erhard Eppler und Lothar Bisky über die Konkurrenz von SPD und PDS

SPIEGEL: Obwohl die SPD schon im Au- bei der PDS einen originell linken An- sie sich als demokratische Sozialisten gust in ihrer sogenannten Dresdner Er- satz nicht erkennen. Ihr Konzept ist zum empfunden haben. klärung jeder Zusammenarbeit abge- einen Teil der verwässerte Aufguß des- SPIEGEL: Was ist für Sie demokratischer schworen hat, will Parteichef Rudolf sen, was die SED gemacht hat, zum an- Sozialismus? Scharping einen weiteren Beschluß zur deren Teil die Imitation dessen, was im Eppler: Seit Godesberg, also seit 1959, Abgrenzung von der PDS durchsetzen. Berliner Programm der SPD steht. Ich verstehen wir darunter zu Ende gedach- Freuen Sie sich über soviel Aufmerk- weiß nicht, was diese Partei eigentlich te und zu Ende geführte Demokratie samkeit, Herr Bisky? ist. nicht nur im Bereich des Staates, son- Bisky: Über die Aufmerksamkeit muß Bisky: Es ist richtig, daß wir kein neues dern auch der Gesellschaft. ich mich ja freuen. Aber auf Dauer wer- Modell des demokratischen Sozialismus Bisky: Für mich ist demokratischer So- den solche Abgrenzungsbeschlüsse ge- erfunden haben. Davon halte ich per- zialismus der Weg zu einer sozial ge- gen die links neben der SPD stehende sönlich auch nicht viel. rechteren Gesellschaft, in der solidari- PDS nichts bringen. Eppler: Ich rede nicht von einem Mo- scher und humaner Umgang miteinan- SPIEGEL: Steht die PDS links von der dell, nur von einem originellen Ansatz. der eine größere Rolle spielt als gegen- SPD, Herr Eppler? Aber wie soll der auch von einer Partei wärtig. Eppler: Der Gutsverwalter stand auch kommen, deren Vorgänger Menschen SPIEGEL: Das wollten Sozialdemokraten links neben dem Gutsherrn. Ich kann dafür ins Gefängnis gesteckt haben, daß schon immer. Bisky: Ja, nur habe ich den Eindruck, daß Pro- grammatik und politische Praxis der Sozialdemo- kratie immer weniger in Einklang stehen, weil die Partei unter Scharping deutlich zur Mitte abdrif- tet. Es gibt in der SPD Linke, mit denen sehe ich mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede. Eppler: Daß es in der SPD verschiedene Tempera- mente und auch verschie- dene Akzente gibt, ist nicht gerade neu. Was es aber im Unterschied zur PDS bei uns nicht gibt, sind Leute mit einem Sozialismus-Konzept, das nicht in unsere Verfas- sung paßt. Als kürzlich die Sozialdemokraten in Mecklenburg-Vorpom-

FOTOS: M. DARCHINGER mern nach der Kommuni- Eppler, Bisky stischen Plattform in der PDS fragten, kam die Auf Abgrenzung cherheit“ abgeschlossen wurden. Lothar Bis- ausweichende Antwort, ky, 53, glaubt nicht, daß die Abgrenzungsbe- auch Kommunisten hät- bedacht bleiben soll die SPD gegenüber der schlüsse der SPD seiner Partei schaden. Er ten das Recht dazuzuler- PDS, fordert Parteichef Rudolf Scharping. übernahm im Januar 1993 von nen. Dieses Recht ist un- Auch Erhard Eppler, 67, kann kaum Gemein- den Vorsitz der PDS. Deren Vorgängerin, der bestritten. Die Frage ist, samkeiten mit den Postkommunisten entdek- DDR-Staatspartei SED, hatte der promovierte ob einer danach noch ken. Er war von 1968 bis 1974 Bonner Ent- Kulturwissenschaftler 26 Jahre angehört. Als Kommunist ist. wicklungshilfeminister. Als Vorsitzender der Rektor der DDR-Hochschule für Film und Fern- Bisky: Die Kommunisti- SPD-Grundwertekommission leitete er die Ge- sehen setzte er sich für kritische Lehrer und sche Plattform ist ganz spräche mit der SED-Akademie für Gesell- Studenten ein. Im brandenburgischen Landtag bewußt in der PDS, sie schaftswissenschaften unter Otto Reinhold, leitete Bisky den Untersuchungsausschuß, der die 1987 mit dem gemeinsamen Papier „Der die Stasi-Vorwürfe gegen SPD-Ministerpräsi- Das Streitgespräch moderierten Streit der Ideologien und die gemeinsame Si- dent Manfred Stolpe klären sollte. die SPIEGEL-Redakteure Olaf Petersen und Klaus Wirtgen.

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Werbeseite DEUTSCHLAND hat das Programm mit erarbeitet und schen Systems. Die PDS aber will sich en gegangen sind, mit der Vergangenheit akzeptiert es. Und da steht eindeutig nicht entscheiden. Da gibt es Kommuni- plötzlich nichts mehr zu tun haben. Im drin, daß es bestimmte Dinge nicht sten, die deshalb in der PDS sind, weil Kern stört es Sie doch, daß es eine neue mehr gibt, etwa das Machtmonopol ei- sie die Nachfolgerin der SED ist. Wie- Partei gibt in diesem Land und daß die ner Partei. Und soweit einzelne eine der andere sind bei der PDS, obwohl sie Mandate dadurch etwas aufgeteilt wer- andere Position vertreten, setze ich die Nachfolgerin der SED ist. den. mich inhaltlich mit ihnen auseinander. Was Sie über demokratischen Sozialis- Eppler: Wissen Sie, Herr Bisky, solange SPIEGEL: Der Ost-Sozialdemokrat Ri- mus gesagt haben, nehme ich Ihnen per- Sie es sich so einfach machen, bringen Sie chard Schröder macht die Spaltung zur sönlich ohne weiteres ab. Das könnte sogar Leute gegen sich auf, die wie ich Voraussetzung, wenn die PDS ins de- ich auch sagen. Nur, wozu braucht man schon lange vor dem Jahr 1989 der Mei- mokratische Spektrum rücken will. dann diese Partei? Sie dürfen bitte nie nung waren, daß früher oder später auch Bisky: Mit mir ist eine Säuberung nicht vergessen: Für die Gedanken, die Sie die Mitglieder der SED in unsere demo- zu machen. Am 26. November werden jetzt äußern, hat die SED die Leute ins kratische Gesellschaft reintegriert wer- wir die Differenzen auf einer Konfe- Gefängnis gesperrt. den müssen. Dies wird durch die PDS nur renz offen austragen. Wer andere Zie- Bisky: Das weiß ich. Und es ist richtig, schwieriger. Das Grundproblem der le hat als die im Programm festge- wir sind aus der SED hervorgegangen. PDS bleibt: Weil sie sich allzu plötzlich schriebenen, wird sich eines Tages ent- Das wurde damals mehrheitlich ent- Positionen angeeignet hat, die 40 Jahre fernen. schieden gegen eine beachtliche Min- lang ihr Feindbild waren, unterlaufen ihr Eppler: Hier zeigt sich der Grundwi- derheit, die zuvor die SED auflösen gelegentlich Formulierungen und Aktio- derspruch der PDS: Sie steht, auch als wollte. Als Nachfolger wären wir so nen, die nicht auf eine neue Partei, son- Rechtsnachfolger, in der Tradition der oder so bezeichnet worden. Entschei- dern auf die alte deuten. SED und will gleichzeitig völlig anders dend für mich ist der Bruch mit dem Sta- Bisky: Wir machen es uns nicht einfach, sein. In unseren Gesprächen mit der linismus und dem demokratischen Zen- wir setzen uns vielmehr sehr hart mit un- SED wurde die Position der Kommu- tralismus. Die PDS ist eine basisdemo- serer eigenen Biographie auseinander. nisten sauber definiert, nämlich einmal kratische Partei . . . Ihre Rolle, Herr Eppler, möchte ich aus- drücklich würdigen. Ich war ja einmal dabei in „Die PDS steht in der diesen Debatten und weiß als damaliger Rek- Tradition der SED tor der Hochschule für und will ganz anders sein“ Film und Fernsehen, wie hilfreich es war für kriti- sche Leute, den Dialog, der mit der SPD geführt wurde, nun auch in der DDR und der SED ein- zufordern. SPIEGEL: Damals waren sich SPD und SED einig, daß kein System dem an- deren die Existenzbe- rechtigung absprechen dürfe. Heute sagt die stellvertretende Partei- vorsitzende Heidemarie Wieczorek-Zeul: „Die „Daß wir für die PDS muß auf Dauer ver- schwinden.“ Kein Wi- Geschichte geprügelt werden, derspruch? ist in Ordnung“ Eppler: Nein. Wir haben damals mit einem Ge- sprächspartner, der defi- durch die Sozialisierung der Produkti- Eppler: . . . die sich in das demokrati- nierbar waralsRepräsentant desanderen onsmittel und zum anderen durch das, sche Spektrum einzuschleichen versucht Systems, um des Friedens willen geredet. was man das Machtmonopol der Partei unter dem Stichwort „Arbeiterbewe- Dieses System hat sich bald darauf selbst nennen konnte oder die Diktatur des gung“. Ich zitiere aus Ihrem Programm: zugrunde gerichtet. Die PDS aber istkein Proletariats. Das waren 70 Jahre lang „Für Rechtsstaatlichkeit und sozialstaat- System, sondern eine Partei, die über- die Eckpfeiler kommunistischer Herr- liche Regulierung, pluralistische Demo- wiegend aus Mitgliedern besteht, die sich schaft. kratie und Gewaltenteilung, Öffentlich- früher ganz anders definiert haben. Wor- Bisky: Aber Sie können doch nicht be- keit und elementare Menschenrechtsga- über soll ich mit denen reden? Etwa dar- streiten, daß es immer auch Reform- rantien sowie Naturerhaltung haben sich über, welcher Teil der PDS zu welchem kommunisten gab, Menschen, die für ih- Arbeiterbewegung, liberale, grüne und Teil des Programms auch wirklich steht? ren Widerstand gegen den Stalinismus andere Bewegungen eingesetzt.“ Dabei Bisky: Aber zu anderen Nachfolgepartei- Repressalien erlitten haben. Reform- haben Sie doch alles, was hier steht, kri- en halten die Sozialdemokraten intensive kommunisten können sich auf der minalisiert. Kontakte . . . Grundlage des Programms und des Bisky: Daß wir laufend für die Geschich- Eppler: . . . Sie meinen die in Osteuropa. Statuts in der PDS bewegen. te geprügelt werden, geht schon in Ord- Bisky: Ja, und da geht die SPD ja auch zu Eppler: Auch für Reformkommunisten nung. Nicht in Ordnung finde ich, daß Recht davon aus, daß das nicht mehr die gilt: Die Aufgabe des Machtmonopols jene Mitglieder der SED und auch die alten Parteien sind, sondern daß sieetwas war zugleich das Ende des kommunisti- „Blockfreunde“, die zu den Westpartei- Neues wollen. Nur wirwerden verteufelt,

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Werbeseite DEUTSCHLAND nur in Deutschland wird nicht akzep- ger breit von der Demokratie abgewi- gegenüber ehemaligen SED-Mitglie- tiert, was europäische Normalität ist. chen. Das kann man von Kommunisten dern großzügiger sein müssen. Eppler: Der kleine Unterschied zu Un- nun wahrlich nicht sagen. Bisky: Jetzt appellieren doch die Sozi- garn, zu Polen, Rußland und anderen Bisky: Die PDS steht auf dem Boden aldemokraten zum Beispiel bei mir in Ländern ist, daß es in Deutschland die der Verfassung, auch wenn wir uns man- Brandenburg immer wieder an die große Partei des demokratischen Sozia- ches anders wünschen – Runde Tische, PDS-Mitglieder, sie sollten zur SPD lismus längst gibt – die SPD. überhaupt mehr Bürgerbeteiligung. Im kommen. Regine Hildebrandt hat mich SPIEGEL: Und die soll keine Konkur- übrigen: Mehr als diese oder jene Ein- sogar persönlich eingeladen . . . renz bekommen? zelformulierung im Programm beruht SPIEGEL: . . . die Sozialministerin hält Eppler: Doch, doch. Aber von einer Par- unsere Akzeptanz in den Ostländern auf Sie für ministrabel . . . tei, die Nachfolgerin der SED ist und unserer Sachpolitik in Kommunen und Bisky: . . . vielleicht als „Minister für nun in ihrem Namen den demokrati- Landtagen. außerirdische Beziehungen“. Aber schen Sozialismus für sich reklamiert, Eppler: Differenzen zwischen Praxis und ernsthaft: Warum folgt niemand den verlange ich Eindeutigkeit. Statt dessen Programm gibt es bei allen Parteien. Aufrufen? Warum geht keiner von der lese ich im Programm: „In der PDS ha- Mal angenommen, all diejenigen, die alten SED zur SPD? Mir wären sie ben sowohl Menschen einen Platz, die laut Ihrem Programm die gegebenen dort doch lieber als bei der CDU. Was mich betrifft: Ich gehe nicht in die SPD. „Unsere Aufgabe ist es, SPIEGEL: Ihr letztes Wort? Bisky: Man soll im Leben nie „nie“ sa- die Interessen der gen. Aber ich bin in der PDS gut auf- Ostbürger einzubringen“ gehoben und möchte noch sehen, daß sich in Deutschland eine linkssozialisti- sche Kraft neben der SPD entwickelt. Eppler: Ich halte den Anspruch der PDS aus zwei Gründen für verhängnis- voll. Der ganze Ballast, den diese Par- tei von der SED her mit sich schleppt, macht es nicht leichter, sondern schwieriger, die Erfahrungen des Ostens in der deutschen Politik zur Geltung zu bringen. Und er ermöglicht den Konservativen, ihren alten Anti- kommunismus zu pflegen und ihn als Keule gegen die SPD zu benutzen. Vom Interesse der demokratischen Linken in Deutschland aus gesehen, ist die PDS eher ein Unglück. Bisky: Aus meiner Sicht ist das abwe- gig. Es gibt doch die rot-grüne Alter- native. Scharping muß sie nur wollen. An uns würde die Abwahl des Kanz- „Von der Nachfolgerin lers nicht scheitern. SPIEGEL: Dafür gibt es derzeit keine der SED verlange ich Mehrheit. Eindeutigkeit“ Bisky: Man muß auch an die Wahlen 1998 denken. Eppler: Ich habe vor ein paar Monaten der kapitalistischen Gesellschaft Wider- Verhältnisse fundamental ablehnen, zu einem führenden Mann der meck- stand entgegensetzen wollen und die ge- würden die Partei verlassen: Wodurch lenburgischen CDU gesagt: „Wenn gebenen Verhältnisse fundamental ab- unterschiede sich die Bisky-PDS dann sich doch die SED aufgelöst hätte und lehnen, als auch jene, die ihren Wider- noch von der SPD? eine neue Partei ohne diese Altlasten stand damit verbinden, die gegebenen Bisky: Wir hätten so etwas wie dem Asyl- entstanden wäre, sähe alles viel einfa- Verhältnisse positiv zu verändern und kompromiß nie zugestimmt . . . cher aus.“ Da antwortete mein Ge- schrittweise zu überwinden.“ Da darf Eppler: . . . ein PDS-Innenminister wür- sprächspartner: „Das wäre ja schreck- man nach all den Erfahrungen doch fra- de das sicher anders sehen und Ihre Wäh- lich.“ Er hat recht: Ihre Partei, die ein gen: Was wollen denn die, die diese Ver- lerschaft sowieso. ungeklärtes Verhältnis zur Vergangen- hältnisse fundamental ablehnen, an ihre Bisky: Unterschätzen Sie nicht unsere heit hat, gibt der Union, die 40 Jahre Stelle setzen? Grundsatztreue. Wir sehen es als unsere vom Antikommunismus gelebt hat, ei- Bisky: Vielleicht das, was im Berliner Aufgabe an, dieInteressen der Ostbürger ne Chance gegen die deutsche Linke, Programm der SPD von 1989 steht: „Es in die gesamtdeutsche Politik einzubrin- wie sie besser nicht sein könnte. ist eine historische Grunderfahrung, daß gen, also: Entschädigung vor Rückgabe, Bisky: Daß man auch jetzt noch mit Reparaturen am Kapitalismus nicht ge- Schluß mit dem Rentenstrafrecht. plumpem Antikommunismus Wahl- nügen. Eine neue Ordnung von Wirt- Eppler: Das sind nicht nur Ihre Postulate. kämpfe entscheidend beeinflussen schaft und Gesellschaft ist nötig.“ Nichts Bisky: Die SPD hat dem Einigungsver- kann, habe ich lernen müssen. Aber anderes sagt auch die Kommunistische trag zugestimmt. das ist kein Grund, die PDS wegzuneh- Plattform. Eppler: Sie wissen ganz genau, wiedasda- men. Es würde der SPD auch nicht Eppler: Aber unsere Reformansprüche mals war in der . Aber ich helfen. Ich bezweifle, daß in den näch- gelten strikt im Rahmen der Verfassung, gebe ja zu, daß die SPD einige groteske sten Jahren viele PDS-Wähler die SPD und Sozialdemokraten sind nie einen Fin- Fehler gemacht hat. Vielleicht hätten wir ankreuzen. Solange die SPD gemein-

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veränderte Deutsch- land darf nicht mit to- talitären Mitteln auf- gebaut werden.“ Das kann doch nicht wahr sein. Ich habe immer gegen die Verabsolu- tierung der Totalitaris- mus-Theorie argumen- tiert, um den Unter- schied zwischen Nazis und Kommunisten klarzumachen. Nun kommt der Gysi und benutzt den Begriff „totalitär“ für diese Republik. Totalitär wäre danach auch das, was die CDU gegen- über der PDS macht. Bisky: Sie müssen be- Ost-Efeu Kölner Stadt-Anzeiger denken, Herr Eppler, daß die Mehrheit der sam mit der Union auf die PDS ein- PDS-Mitglieder an den langen Traditio- drischt, hat sie im Osten keine Chance. nen der Linken im Westen nicht teilge- SPIEGEL: Verliert die PDS mit der Ver- nommen hat. Unsere Begriffe sind wirklichung der inneren Einheit ihre Exi- manchmal ganz anders gemeint, als sie in stenzberechtigung? den alten Ländern verstanden werden. Bisky: Die innere Einheit wird noch sehr Eppler: Ein Mann wie Gysi weiß doch, lange auf sich warten lassen. Wie lange was totalitär ist. Und die Existenz der die PDS existieren wird, kann ich nicht PDS beweist, daß die konservative Theo- vorhersagen. Die Wähler im Osten ha- rie – braun gleich rot – nicht stimmt: Es ben uns als eine Art linker Volkspartei gibt ja keine erlaubte NS-Nachfolge- gewählt, die auf längere Sicht gesamt- partei. deutsche Ambitionen hat. Bisky: Ich bezeichne die Bundesrepublik Eppler: Ich habe den PDS-Wählern nicht als totalitär. nichts vorzuschreiben. Die müssen ja ei- SPIEGEL: Käme die SPD ohne Abgren- nen Grund haben, nicht SPD zu wählen. zung zur PDS in eine Zerreißprobe? Daß daraus etwas Gutes wird für die in- Eppler: Immerhin hat die Partei das Mag- nere Einheit und für die Regierungsfä- deburger Tolerierungsmodell gut ver- higkeit der Linken, kann ich mir aller- kraftet. Es ist auf längere Sicht auch ge- dings nicht vorstellen. fährlicher für die PDS als für die SPD: SPIEGEL: Hat die PDS überhaupt ein gro- Entzauberung durch Verantwortung. ßes Zukunftsthema? Bisky: Wir sind da echt in der Zwickmüh- Bisky: Das Soziale und das Ökologische le. Unsere Wähler würden es uns nicht werden eine große Rolle spielen. Und im verzeihen, wenn wir aus 20 Prozent Stim- Osten wird die PDS, für mich überra- menanteil nichts machten. Jetzt haben schend, sehr stark mit Demokratie ver- wir in Sachsen-Anhalt mit Bauchschmer- bunden – vielleicht weil wir bestimmte zen einen äußerst knappen Haushalt pas- basisdemokratische Traditionen aus dem sieren lassen, und schon sind wir mit in Herbst ’89 pflegen. der Verantwortung. Eppler: Sie antworten pragmatisch und SPIEGEL: Richtet sich die PDS darauf unverbindlich wie andere deutsche Poli- ein, in Magdeburg oder Schwerin im tiker auch. Für mich ist klar: Die PDS hat Laufe der Legislaturperiode in eine SPD- keine neue, plausible, originelle Antwort geführte Regierung einzutreten? auf die Frage, was demokratischer Sozia- Eppler: Immer vorausgesetzt, sie würde lismus heute ist. überhaupt eingeladen! Bisky: Ich mit meiner Biographie be- Bisky: Wir haben in Schwerin ja ein An- schreibe keine Vision mehr in zwei Sät- gebot gemacht. Wenn es sein muß, könn- zen. Wir haben Vorstellungen, aber nicht ten wir. Auf Weichenstellungen in der einen Satz, der für typisch PDS steht. Wir Zukunft sind wir eingestellt. sind – auch das ist Teil der Erneuerung – Eppler: Wir sollten nur mit einer Partei eine linkssozialistische Partei auf der Su- koalieren, von der wir genau wissen, wer che. Ich wäre heilfroh, wenn wir eine un- sie ist. Das weiß ich im Augenblick bei verwechselbare Duftmarke hätten. Her- der PDS nicht. beizaubern kann ich sie nicht. Bisky: Manfred Stolpe weiß es, Reinhard Eppler: Ich habe mich kürzlich empört Höppner und Harald Ringstorff wissen über Gregor Gysi. Er wehrt sich in sei- es auch, Herr Eppler. nem „Ingolstädter Manifest“ gegen die SPIEGEL: Herr Eppler, Herr Bisky, wir Ausgrenzung der PDS und fordert: „Das danken Ihnen für dieses Gespräch. Y

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Stasi „Dann sind wir die Trottel“ Emotionen bis zum Haß, Verdächtigungen und gegenseitige Schuldzuweisungen prägen die öffentliche Auseinandersetzung zwischen dem Juristen und PDS-Vormann Gregor Gysi und Mandanten aus DDR-Zeiten – ein Stück Vergangenheitsbewältigung um die Rolle des Anwalts im real existierenden Sozialismus.

ie waren zur Diskussion im Fernse- Gysi steht auch für die Erfolge der der Obrigkeit, sondern immer Teil des hen geladen. Aber schon auf dem SED-Nachfolgepartei PDS. „Wenn wir Systems. Nur unter dieser Prämisse SWeg ins ZDF-Studio schwiegen jetzt gegen diese Seite verlieren“, sagt konnten sie versuchen, für ihre Klientel Gregor Gysi und Gerd Poppe sich an. der Bundestagsabgeordnete der Bünd- etwas zu bewirken. Steif saßen sie dann am Tisch und fixier- nisgrünen Poppe, „haben wir politisch Das zählt erst recht für politische Fäl- ten eine halbe Stunde lang wahlweise den Stempel der ewigen Trottel.“ Seine le. Nur einer Handvoll Juristen erlaubte Wassergläser oder den Moderator. Je- Fraktionskollegin und Gesinnungsge- das Regime, Dissidenten und Regime- den Blickkontakt mieden der Bürger- nossin Vera Wollenberger höhnt: „Am gegner zu verteidigen. Logisch, daß sich rechtler und sein Ex-Anwalt – der ange- Ende ist Gysi der Bürgerrechtler.“ diese Anwälte der besonderen Fürsorge kündigte Dialog über eine gemeinsam Fast verzweifelt pochen Gysis Gegner der Staatssicherheit erfreuten, von Lo- erlebte Wirklichkeit in der DDR fand darauf, nachträglich Klarheit in die per- thar de Maizie`re bis Gregor Gysi. nicht statt. sönlich-politische Beziehung zwischen Nur einer hat den engen Kontakt – Andere Klienten des Ost-Berliner Mandanten und Anwalt in der Honek- schon vor der Wende – als unumgängli- Advokaten Gysi sind weit weniger zu- ker-Ära zu bringen. Jürgen Fuchs, 1977 chen Bestandteil seines Jobs einge- rückhaltend: Sie verschaffen ihrer Wut als Freund Wolf Biermanns und Robert räumt: Wolfgang Vogel, der Beauftrag- über ihren früheren Verteidiger in der- Havemanns nach neun Monaten Haft te Erich Honeckers für Freikäufe und ben Beschimpfungen Luft. Die Malerin aus der DDR geworfen, wirft Gysi vor, Menschen-Transfer in den Westen. Bärbel Bohley nennt den PDS-Vor- „führende Kraft im Dienste der SED- Weniger aus Sympathie, sondern mann öffentlich einen „Feigling und Diktatur“ gewesen zu sein. mangels freier Auswahl gingen die von Lügner“. Die Funktion des Anwalts in der SED und Stasi Schikanierten zu Gysi. „Geradezu gierig“ seien die „Jäger“ DDR ist nicht mit westdeutscher Latte Seine Empfehlung: Er hatte 1978 im darauf versessen, ihn als Politiker „aus- zu messen. Die ostdeutschen Advoka- Prozeß gegen Rudolf Bahro auf Frei- zuschalten und seine Persönlichkeit zu ten waren in einem Regime, in dem es spruch plädiert. zerstören“, schlägt Gysi zurück. „Die keine Gewaltenteilung gab und die Par- Der SED-Dissident Bahro verstand Ankläger verfolgen mich mit Haß.“ tei stets päpstliche Unfehlbarkeit bean- sich als Ketzer in der Kirche. Der über- Die Ankläger sind prominente ehe- spruchte, nie unabhängiger Gegenpart zeugte Kommunist fand es „nützlich, malige DDR-Dissidenten wie Poppe, Bohley und Katja Havemann, die der junge Anwalt Gregor Gysi in den siebzi- ger und achtziger Jahren gegenüber der ostdeutschen Obrigkeit vertreten hat. Seit in den Stasi-Akten der Gauck-Be- hörde immer neue Hinweise auf Gysis Kungeleien mit dem Ministerium für Staatssicherheit gefunden werden, at- tackieren sie ihren ehemaligen Anwalt heftiger denn je, er habe sie unter dem Decknamen IM „Notar“ an die Stasi verraten und verkauft – was Gysi nicht minder heftig bestreitet. Vor allem Westdeutsche macht die Heftigkeit der Attacken fassungslos. Doch der Krieg mit Worten ist ein Stück deutscher Vergangenheitsbewältigung, nur zu verstehen aus dem Lebensweg der Dissidenten von einst: Sie, die da- mals auf verlorenem Posten für eine menschliche und demokratische DDR gekämpft haben, fühlen sich heute um ihre Identität betrogen, während der Genosse Gysi im neuen Deutschland re- üssiert wie damals im real existierenden Sozialismus.

* Auf dem letzten SED-Parteitag im Dezember REUTER 1989 in Berlin. Anwalt Gysi, ehemaliger Mandant Bahro*: Teil des Systems

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DEUTSCHLAND A. SCHOELZEL Bürgerrechtler nach Einsicht in Stasi-Akten 1992*: Kampf um Spielräume

von einem SED-Genossen verteidigt zu ver und gewitzt aus. Wie der Anwalt ar- werden“. Es gab keinen prinzipiellen beitete, darüber wurde nicht gespro- Dissens zwischen beiden. Gysi zeigte In- chen. teresse an dem Buch „Die Alternative“, Ulrike Poppe, die Ehefrau von Gerd das Bahro hinter Gitter gebracht hatte, Poppe, die 1983 wegen ihrer Friedens- vermied aber jeden Anschein der Kum- aktivitäten sechs Wochen in Haft saß, panei mit seinem Mandanten. wähnte den Anwalt „niemals auf unserer Heute bescheinigt Bahro dem An- Seite“. Trotzdem war sie „überzeugt von walt, „so gut wie möglich für meine seiner Ehrlichkeit, weil er nie so tat, als menschlichen Interessen gedealt zu ha- könne er viel erreichen“. ben“. Ob sein Freispruch „vielleicht im Gerade weil Gysi zwischen sich und Kalkül des Zentralkomitees der SED den Dissidenten Grenzen zog, hofften lag“, hat er Gysi nicht gefragt – und will sie, er werde die „Trennlinie auch zur an- es auch nicht. deren Seite einhalten“ (Bohley). Offen- Den Bürgerrechtlern der achtziger heit verbot sich, Vertrauen war zwin- Jahre waren die millimeterengen Spiel- gend für das von beiden Seiten damals räume in der SED-Justiz bekannt. Wer akzeptierte Zwielicht. sie überschritt, riskierte Berufsverbot. Mißtrauen keimte erst, als Bohley und Götz Berger, erster Verteidiger des Re- Poppe Anfang 1992 in ihren Stasi-Akten gimekritikers Robert Havemann, verlor den IM „Notar“ fanden, dessen Aktivitä- 1976 Mandat und Job, weil er sich einzig ten nach ihrer Überzeugung nur auf ei- seinem Mandanten verpflichtet fühlte. nen in ihrem Umfeld paßten –auf Gregor Sein Nachfolger wurde 1979 Gysi. Gysi. Vier-Augen-Gespräche mit dem „Verteidigen konnte uns kein Jurist, Anwalt waren fast lückenlos protokol- sondern nur öffentlicher Druck aus dem liert. Gysi überreichte Papiere waren Westen“, sagt der Schriftsteller Lutz Ra- den Akten zufolge bei der Stasi gelandet. thenow über die Erfahrungen der Oppo- Aufgebracht riefen Bohley und Poppe sition in den achtziger Jahren. Regime- bei Gysi an und baten um ein Gespräch. kritiker erwarteten keine Strafverteidi- Am Küchentisch der Malerin wirkte er gung nach rechtsstaatlichen Idealen. erschrocken und aufrichtig bedrückt. DDR-Anwälte konnten Sprecher- Doch erklären konnte Gysi nichts. Es laubnis für Angehörige durchsetzen blieb das einzige private Gespräch zwi- oder deren Briefe transportieren und ih- schen Gysi und den Ex-Mandanten. re inhaftierten Mandanten in engem Ulrike Poppe ist die einzige unter den Rahmen beraten. Aber wirklich helfen prominenten Dissidenten, die noch im- konnten sie kaum. Prozesse und Urteile mer an Gysis Ehrlichkeit glauben möch- folgten, wie im Fall Havemann, aus- te. „Gefühlsmäßig sperrt sich etwas“, schließlich dem Drehbuch der Stasi. sagt sie, nach Spuren möglichen Verrats Rathenow entsinnt sich einer Mah- zu forschen. Wieweit der Anwalt seinen nung Havemanns, beim SED-Genossen Mandanten Schaden zugefügt hat, wird Gysi aufzupassen. Bei dem sei „alles sich objektiv vermutlich nie klären lassen möglich, weil er eng mit der Partei ko- – schon weil die Stasi einen Großteil Ak- operiert“. Doch die meisten seiner Man- ten in den Wirren der Wende vernichtet danten setzten auf ihn. Gysi wahrte Di- hat. stanz und schuf dadurch Nähe. Seine Vielleicht hat er ja tatsächlich nur un- „kühle und klare Haltung“ (Poppe) be- ter dem Druck des Systems jenes „Über- wirkte Vertrauen. Seine Klienten glaub- ten, er lote die schmalen Spielräume cle- * Ulrike Poppe, Vera Wollenberger, Gerd Poppe.

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maß an Zivilcourage“ (Gysi 1989) nicht aufgebracht, das die Mandanten von da- mals heute von ihm einfordern. Doch selbst das könnte der PDS-Poli- tiker Gysi nicht mehr einräumen, ohne sich selbst zu beschädigen und mögli- cherweise sogar seine Anwaltslizenz zu riskieren. Gysi hat sich längst festgelegt: „Ich habe die Staatssicherheit niemals direkt und bewußt informiert.“ Y

Terroristen Jagd auf Jean Die deutsche Justiz ließ einen Ver- wandten des syrischen Staatschefs verhaften – als Geisel für den Terroristen Johannes Weinrich?

er Syrer Feisal Sammak ist ein weltläufiger Mann. Der 46jährige Dspricht vier Sprachen, war acht Jahre lang Botschafter in Ost-Berlin. Derzeit dient Sammak seinem Land als Generaldirektor der Tabakindustrie. Doch sein Erscheinen alarmiert welt- weit noch immer die Geheimdienste. Wenn Seine Exzellenz, was in den letz- ten Jahren häufiger passierte, nach Wien reiste, waren die Spezialisten der österreichischen Einsatzgruppe zur Be- kämpfung des Terrorismus auf dem Quivive, ganz diskret. Im Oktober dieses Jahres kam Sam- mak erneut in die österreichische Me- F. RUCH Terrorist Weinrich Kuhhandel mit Damaskus

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tropole. Diesmal griffen die Beamten ten als um den dienstältesten deutschen zu: Sie sistierten den früheren Diploma- Terroristen: Carlos-Vize Johannes ten. Die Berliner Staatsanwaltschaft Weinrich, 47, der noch immer frei ist. hatte im August dieses Jahres Haftbe- Weinrich ist als „Monsieur Jean“ wie fehl beantragt. Carlos früher in Sammaks Botschaft ein Sammak ist Schlüsselfigur in einem und aus gegangen. Auch in Damaskus spektakulären Verfahren. Ihm wird haben Späher ihn gesichtet. Die Ermitt- Beihilfe beim Anschlag auf das franzö- ler wollen Weinrich, unbedingt. Ihr sische Kulturzentrum „Maison de Ziel: Damaskus mit der Festsetzung von France“ in Berlin (ein Toter, 22 Ver- Sammak zur Herausgabe des Top-Ter- letzte) im August 1983 vorgeworfen. roristen Weinrich zu bewegen. Seit vier Wochen sitzt der Syrer in Das Ganze, vermutet ein arabischer Auslieferungshaft, sein Arrest sorgt für Diplomat, sei ein „Kuhhandel“. Wenn diplomatische Verwicklungen. Vertre- „wir Weinrich freigeben, können wir ter arabischer Staaten in Österreich be- über Sammak neu verhandeln“. Y drängen die Regierung von Kanzler

Franz Vranitzky, Sammak auf keinen A. SCHIEL / KRONENZEITUNG Fall an die Deutschen auszuliefern. Ex-Botschafter Sammak Rauschgift Die Wiener fürchten Rache und Sprengstoff in Parfümflaschen versuchen, sich herauszuhalten. Der Adressat für Beschwerden, erklärten sie Die Botschaft war ein Netz mit vielen den Arabern, sei das Auswärtige Amt Spinnen. Vor allem die Gruppe um den Hascher in Bonn. Wenn die Deutschen den gefürchtetsten Terroristen der Welt, Haftbefehl kassierten, sei Sammak bin- den im Sommer im Sudan festgenomme- nen 60 Minuten ein freier Mann. nen „Carlos“, ging dort ein und aus. und Händler Bonn bleibt hartnäckig. Bei den Über die Carlos-Connection der Bot- Österreichern pochten die deutschen schaft hat ein Insider vor den Berliner Der Hamburger Senat will die Diplomaten auf Überstellung Sam- Ermittlern Anfang des Jahres ausge- deutsche Drogenpolitik revolutio- maks. Den arabischen Abgesandten rie- packt: Nabil Chritah, 44, von 1979 bis ten sie zur Zurückhaltung: Dies sei ein 1985 Dritter Sekretär in Ost-Berlin. nieren – mit Fixerstuben Kriminalfall, da habe keine Regierung Chritah berichtete den Fahndern et- und Heroin auf Staatskosten. reinzureden, auch nicht die syrische. wa, wie Damaskus die syrische Bot- Doch Syrien wird in den nächsten schaft der DDR per Telegramm aufge- esser kann man eine öffentliche Wochen den Druck noch verstärken – fordert habe, Carlos und Konsorten Beratungsstelle kaum verbergen: Sammak gehört zum Clan des syrischen „jegliche mögliche Hilfe“ zu leisten. BAm Rande eines Parks im Ham- Staatschefs Hafis el-Assad. In einem 24,38 Kilogramm Plastiksprengstoff burger Stadtteil Harburg steht die kleine Prozeß gegen ihn käme auch Assads wurden in Sammaks exterritorialem Do- Baracke zwischen Friedhof und Förder- Regierung in Bedrängnis. Über viele mizil von Carlos-Leuten aufbewahrt. schule, kein Schild weist den Weg, nur Jahre war Syriens Ost-Berliner Depen- Mit dem Teufelszeug jagten die Terrori- ein winziger Zettel zeigt den Junkies, dance Anlaufstation für Terroristen. sten das „Maison de France“ in die Luft. Die diplomatische Filiale in der Otto- Den deutschen Fahndern geht es * Die Arme sind vom Gebrauch unsauberer Na- Grotewohl-Straße war keine Botschaft weniger um die arabischen Ex-Diploma- deln entzündet. wie jede andere. Spreng- stoff, in Parfümflaschen abgefüllt, hielten Assads Abgesandte stets vorrätig. Von Damaskus aus diri- gierte der Vize-Chef des Luftwaffengeheimdienstes, Heitham Said, seine Leute in Ost-Deutschland. Er wird von den Berliner Er- mittlern wegen versuchten Mordes gesucht. Beim An- schlag auf die Deutsch- Arabische Gesellschaft in Berlin 1986 soll er der Auftraggeber gewesen sein. Preußisch akribisch hat das Ministerium für Staats- sicherheit viele der Terror- verflechtungen Syriens in seinen Akten unter dem Kennwort „Separat“ fest- gehalten. Ein paar Rätsel gibt es noch: War bei- spielsweise ein Neffe des

syrischen Präsidenten Mit- D. KONNERTH / LICHTBLICK arbeiter der Stasi? Berliner Junkie*: „Zugespritzt und weggedämmert“

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daß sie hier richtig sind: „Abrigado“ Wo bei Haschisch der Konsum auf- zu erziehen. Fachliche Anleitung durch heißt das Cafe´, „Beratungsstelle für ak- hört und der Handel beginnt, darüber Mediziner, glaubt Bossong, könnte die zeptierende Drogenarbeit“. wollen sich, ebenfalls in Hamburg, in Zahl der Entzündungen, Abszesse und Was in den Räumen der Baracke ge- dieser Woche die Justizminister der auch HIV-Infektionen entscheidend schieht, ist juristisch höchst umstritten: Länder verständigen. Die Rechtspre- verringern. Seit Mai dieses Jahres erhalten Drogen- chung gegen Hascher und Händler ist Wieweit die Junkies in den geplanten abhängige, staatlich finanziert, neue bisher bundesweit höchst unterschied- Drogenausgabestellen allerdings zum Spritzen und Alkoholtupfer zur Desin- lich: Im Süden der Republik, in Mün- Entzug erzogen werden können, ist un- fektion und können sich ihren täglichen chen etwa, gilt meist schon als Kriminel- ter Therapeuten umstritten. Es sei nicht Schuß unter Aufsicht von geschultem ler, wer ein Gramm Haschisch mit sich auszuschließen, so eine Hamburger Personal selbst setzen. Schon im Febru- führt, in Düsseldorf sind dem Konsu- Drogenberaterin, daß mancher der ar hatte Hamburgs Senat eine ähnliche menten 10 Gramm gestattet, in Schles- Süchtigen sich in den Fixerstuben „bloß Fixerstation in einem umgebauten Om- nibus eingerichtet. Nicht nur empörte Anwohner, auch konservative Politiker protestieren seit Monaten lautstark ge- gen Deutschlands erste Fixerstuben. Die stehen nicht zufällig im Stadtstaat Hamburg. Seit Jahren propagieren Sozi- alpolitiker und Suchtexperten der Han- sestadt beharrlich eine Legalisierung harter und weicher Drogen, um die kri- minelle Dealerszene auszutrocknen und den Junkies den Ausstieg aus dem tödli- chen Kreislauf von Beschaffungskrimi- nalität und illegalem Drogenkonsum zu erleichtern. An der Spitze der Bewegung steht Horst Bossong, 43, Drogenbeauftragter der Hansestadt. Seit Ende der achtziger Jahre streitet der gelernte Soziologe für die Freigabe des Handels mit Marihua- na und die legale Verteilung von Heroin und Ersatzdrogen an die rund 100 000

Junkies in Deutschland. Mit Erfolg, R. FRANZ / SIGNUM nicht nur im Norden. Hamburger Fixer-Bus: Sauberer Stoff Nach Hamburger Vorbild plant auch die Stadt Frankfurt am Main, Drogen- wig-Holstein 30 Gramm. Hamburgs zuspritzt und wegdämmert, während der abhängigen das Fixen in sogenannten Richter lassen in der Regel eine Streich- Sozialpädagoge neben ihm mit dem An- Gesundheitsräumen zu gestatten. Die holzschachtel voll Cannabis straffrei meldeformular zum Drogenentzug we- erste Fixerstube soll Mitte Dezember er- durchgehen. delt“. öffnet werden. Die Hamburger Sozialsenatorin Hel- Das Risiko muß die Gesellschaft nach Einen Durchbruch in der Justiz er- grit Fischer-Menzel (SPD) hat bereits Ansicht des Hamburger Bürgermeisters reichte Bossong Ende Oktober in Lü- den nächsten Vorstoß der Hamburger an- Henning Voscherau eingehen. Denn es beck. Gut fünf Monate nach dem Ha- gekündigt:Noch indiesemMonatwill der sei offensichtlich, so Voscherau, daß „der schischurteil des Bundesverfassungsge- Senat über den Bundesrat die gesetzli- Versuch der Eliminierung des Drogenan- chen Grundlagen für einen Heroinver- gebotsund desDrogenkonsums aus unse- such mit zunächst 200 Junkies schaffen. rem Kulturkreis gescheitert ist“. „Wir warnen dringend Die Drogenabhängigen sollen, ähnlich Schon vor gut zwei Jahren hatte der davor, in die wie bei der Vergabe der Ersatzdroge Me- Hamburger Regierungschef im Bundes- thadon, ihren Stoff in Beratungsstellen rat die staatliche Heroinabgabe gefor- Muskeln zu ballern“ unter ärztlicher Aufsicht bekommen, in dert, war jedoch am Widerstand der Bun- Portionen, die nicht länger reichen als ei- desregierung gescheitert. richts, das den Besitz von Cannabis nen Tag. Es sei zu befürchten, so die Bundesre- straffrei stellte, entschied das Lübecker Endziel, so Bossong, sei die bundes- gierung, „daß die staatliche Vergabe har- Landgericht, sogar ein Vorrat von vier weite Verteilung von Heroin an Abhängi- ter Drogen insgesamt zu einem weiteren Kilogramm Haschisch sei zwar nicht er- ge, um den illegalen Drogenmarkt lahm- Anstieg der Zahl der Süchtigen führen laubt, aber auch kein Verbrechen. zulegen. Zudem, so der Rauschgiftex- wird“. Schließlich sei Cannabis weniger schäd- perte, könne die medizinische Aufsicht Doch diesmal hat die Hamburger In- lich als Alkohol oder Zigaretten. Gut- beim Drogenkonsum den größten Teil itiative bessere Chancen. Die Bundes- achter im Lübecker Prozeß: Drogenex- der Todesfälle unter Junkies verhin- tagsfraktion der SPD und die Mehrheit perte Bossong. dern. Bossong: „Das Problem ist in der SPD-geführten Länder, sagt Bos- Ermutigt durch das Lübecker Urteil, erster Linie die Sauberkeit von Stoff und song, hätten den Modellversuch bereits forderte Schleswig-Holsteins Gesund- Spritzbesteck.“ gutgeheißen. heitsministerin Heide Moser (SPD) eine Schon jetzt versuchen Drogenbera- Drogenpolitiker Bossong plant schon Woche später die Einführung von Cof- tungsstellen in Hamburg und anderswo, weiter. Kommt Hamburg mit seinem He- fie-Shops nach holländischem Vorbild, ihre Klientel durch Gespräche und Ge- roinplan durch, soll der Bundesrat im in denen Joints und Haschkekse legal brauchsanweisungen („Wir warnen drin- nächsten Februar auch die bislang nur ge- konsumiert und gehandelt werden dür- gend davor, in die Muskeln zu ballern“) duldeten Fixerstuben endgültig legalisie- fen. zum richtigen Umgang mit den Spritzen ren. Y

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DEUTSCHLAND K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL L. FISCHMANN / GRÖNINGER Polnische Erntehelfer, ungarischer Barpianist Nemes*: Ein Heer von Einzelgängern, ständig unterwegs

Gastarbeiter Völkerwanderung am Freitag SPIEGEL-Redakteur Mathias Schulz über die neuen Gastarbeiter aus dem Osten

erlin, Freitag, 20.38 Uhr. Knir- Das Leben in der Diaspora lohnt sich. Jahr waren wir zum erstenmal im Ur- schend setzt sich der Spätzug Rich- Annas Mann, Chef einer kleinen Ziegel- laub.“ Btung Breslau in Bewegung. Anna, fabrik, bezieht 400 Mark Gehalt. Sie Um halb zehn läuft die Lokomotive in 37, sitzt im Nichtraucherabteil. Die zier- selbst spart pro Monat 1000 Mark. Von Frankfurt/Oder ein. Trauben von Men- liche Polin ist frisch geduscht. Sie trägt dem Geld hat sich die Familie einen ge- schen stehen auf dem Bahnsteig. Be- eine bunte Bluse und verströmt den Ge- brauchten Audi 100 gekauft. „Ich bin packt mit Tüten, Koffern und schwerem ruch von süßlichem Parfüm. ein bißchen glücklich“, sagt sie, „letztes Gepäck, drängen die Reisenden in die Jeden zweiten Freitag sitzt die brünet- überfüllten Abteile. „Freitags“, sagt die te Frau in diesem Zug. Ihr Mann und Schaffnerin, „ist hier Völkerwande- die beiden Kinder, 14 und 16 Jahre alt, Ausländer ran rung.“ Frankfurt/Oder ist das Nadelöhr werden sie in Breslau nachts um zwei im deutsch-polnischen Transitverkehr. Uhr vom Bahnhof abholen. „Mami Musikanten aus Ungarn spielen in Jedes Wochenende strömt eine Karawa- kommt heim“, freut sich der Sohn. Sie Kurkapellen, tschechische Putz- ne von Grenzgängern und Tagelöhnern hat ihm Duplo mitgebracht. frauen schrubben Klos, Polen gie- heim ins Polnische. An der Stadtbrücke Anna arbeitet illegal als Putzfrau in ßen Beton oder graben Besserver- nach Slubice stauen sich die Autos bis in Berlin. Früher hat die gelernte Ernäh- dienenden die Gärten um: Rund die City zurück. Am Autobahn-Grenz- rungsphysiologin Speisepläne für Kran- eine Million osteuropäische Tage- übergang warten die Lkw 35 bis 40 Stun- ke ausgearbeitet. Nun bügelt sie, spült löhner schuften – häufig illegal – den. Geschirr und wischt Staub, für 15 Mark in Deutschland, ein neuer Typ von Allein in Berlin, schätzt das Landes- die Stunde. Acht Privatleute gehören zu Gastarbeitern, die aus dem Koffer arbeitsamt, sind 20 000 Schwarzarbei- ihren Kunden, darunter ein Chirurg, ei- leben und an Wochenenden heim- ter, überwiegend aus Osteuropa, tätig: ne Gewerkschafterin und die Besitzerin fahren. Bonner Politiker reagieren russische Eisenbieger, kroatische Kin- eines Kosmetikstudios. mit Restriktionen auf den wach- dermädchen, bulgarische Tellerwäscher Seit zwei Jahren schon pendelt Anna senden Zustrom vagabundierender – ein Heer von Lohnsklaven für die zwischen den Welten: Zwei Wochen Billigkräfte. Doch längst sind die Mistjobs in der deutschen Volkswirt- putzen in Deutschland, Heimfahrt, 40 Ostarbeiter unentbehrlich gewor- schaft. Stunden Familienleben, Sonntagabend den. Als Erntehelfer, Kellner oder Die Arbeitsnomaden verdienen unter zurück. „Es ist furchtbar“, sagt sie lä- Schaustellergehilfen übernehmen teils abenteuerlichen Bedingungen in chelnd, „aber ohne Geld in Polen ist sie Jobs, die bei den Einheimi- Deutschland ihr Geld. Viele leben aus auch furchtbar.“ schen verpönt sind, oder Kno- dem Koffer, essen Aldi-Kost und arbei- chenarbeit, die sich nicht automa- ten für zehn Mark Stundenlohn – Ak- * Links: bei Bauer Beckmann in Friedrichskoog; tisieren läßt. teure einer kolossalen Schattenwirt- rechts: in der „Moonlight-Bar“ in Nürnberg. schaft.

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Sie kommen zwar in Anna, die Putzfrau, Scharen, doch dann und Dragica, die Gele- versickern sie gleich- genheits-Prostituierte, sam in der bundesdeut- besetzen wie fast al- schen Gesellschaft – le Arbeitsnomaden aus irrlichternde Existen- Osteuropa die Nischen zen ohne Anhang, stets in der hochgerüste- auf dem Sprung. An- ten deutschen Volks- ders als Türken oder wirtschaft. Modernen Jugoslawen, die sich Knechten gleich, tape- mit ihren Sippen in be- zieren sie Häuslebau- stimmten Vierteln ge- ern die Zimmer, fegen ballt niederließen, blei- bei Rentnerinnen Laub ben die unsteten Ost- und hüten berufstäti- Immigranten weitge- gen Frauen die Kinder. hend unsichtbar, ein Oder sie verdingen sich Heer von Einzelgän- bei findigen Unterneh- gern, das ständig unter- mern als Lohnsklaven. wegs ist. Angetrieben wird Einziges Kapital der die große Wanderbe- mobilen Tagelöhner ist wegung vom enormen die Muskelkraft. Oder Lohngefälle zwischen ihre Schönheit. Beata Ost und West. Nach

etwa, eine 18jährige G. LINZENMEIER dem Zusammenbruch Polin, verkauft ihren Wanderarbeiter-Quartier*: Übernachtung im Lada des Kommunismus hat schlanken Körper. Das sich der einst waf- blonde Mädchen geht in der Berliner kriegswirren nach Deutschland kamen. fenstarrende Ostblock in ein Bettel- Frobenstraße auf den Strich. Im Auto ko- Sie wird im Land geduldet, weil sie ei- reich verwandelt. Das neue, größere stet die Nummer 50, in der Pension 70 nem Rentner im Wedding den Haushalt Europa verläuft entlang der Magistrale Mark. führt. Arm – Oder – Reich. Bis in die Kurfürstenstraße und Kur- Zweimal in der Woche geht die Frau 500 000 Schwarzarbeiter, schätzt die märkische Straße stehen abends etwa 200 mit den kohlschwarzen Haaren anschaf- IG Bau, tummeln sich auf Baustellen. Prostituierte. „Die Ausländerinnen ver- fen. Nach dem dritten Kunden hört sie Auch Kfz-Werkstätten und das Reini- derben uns die Preise“, sagt eine 17jähri- auf. „150 Mark, das reicht mir.“ Türken gungsgewerbe gehören zu den Hochbur- ge deutsche Hure mit strähnigen Haaren. mag sie nicht, „weil die immer handeln gen an illegal Beschäftigten. „Immer „Manche machen’s schon für 30 Mark.“ wollen“. Die deutschen Freier seien in mehr Branchen agieren im rechtsfreien Dragica Andjelkovic´, 33, ist nur tags- Ordnung. Nur einmal hat sie sich betrü- Raum“, sagt Klaus-Dieter Pankauˇ, Vor- über auf der Szene. Fast schüchtern sitzt gen lassen. „Es war im Auto, von hin- sitzender der IG Bau in Berlin-Branden- die Frau an der Bushaltestelle. Sie hat ten,“ erzählt sie, „da hat mir der Kerl burg. Rouge und Lippenstift aufgelegt, ihr run- doch während dessen die Handtasche Mit der anspringenden Konjunktur der Leib steckt in einer Lederjacke und aufgemacht und 200 Mark rausgeklaut.“ dürfte der Zustrom weiter ausufern. Al- engen schwarzen Leggings. lerorten haben die Arbeitsämter im Dragica gehört zu den rund 350 000 * Parkplatz im Gemüseanbaugebiet Vierlande bei Verbund mit Polizei, Zoll und Steuer- Ex-Jugoslawen, die während der Bürger- Hamburg. fahndung Greifdienste zusammenge- ACTION PRESS LICHTBLICK S. SAUER / Gelegenheitsprostituierte Andjelkovic´, Ausländer-Razzia auf einer Berliner Baustelle: Fahndung im Abluftschacht

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stellt. 75 300 Bußgeld- und Strafver- Machen solche Aktionen über- fahren wurden letztes Jahr nach haupt Sinn? Das Lamento Ausländer-Razzien eingeleitet. vom volkswirtschaftlichen Schaden Der größte Spürtrupp dieser Art durch Schwarzarbeit, das die Ge- residiert in der Kruppstraße 14 a in werkschaften unentwegt anstim- Berlin. 20 Turnschuhpolizisten ge- men, trifft nur halb. Viele Osteuro- hören der „Gemeinsamen Ermitt- päer übernehmen unqualifizierte lungsgruppe Schwarzarbeit“ (GES) Hilfsarbeit. Sie schleifen Farbe ab, an. schaufeln Erde – alles schweißtrei- Uwe Krohn ist der Leiter der bende Maloche, für die der Privat- „operativen Einheit“. Der blonde mann kaum noch Handwerker fin- Beamte hält eine Liste mit hundert det. Adressen hoch. Fensterputzbetrie- Das Geschäft mit den Discount- be, Trabrennbahnen, Schnellimbis- Jobbern spielt sich zudem längst se und vor allem Baustellen sind auf nicht nur im Untergrund ab. 80 000 dem Computerausdruck verzeich- Asylanten erhielten in diesem Jahr net. „Alles illegale Objekte“, sagt eine Arbeitserlaubnis, nicht selten Krohn. als Tellerwäscher oder im Pflegebe- reich. Aus Osteuropa kamen 6000 Schaustellergehilfen, 47 000 Bauar- Die Ermittler beiter mit Werkverträgen, dazu schöpfen Wasser mit Künstler, Erntehelfer, Spezialitä- tenköche und Forstgehilfen. dem Sieb Basis für solche Deals ist die „Anwerbestopp-Ausnahmeverord- Jeden morgen um halb neun nung“. Die Regelung ist ein Ventil rückt die GES mit vier VW-Bussen für den eklatanten Arbeitskräfte- an die „Überprüfungstatorte“ aus. mangel in vielen Berufsgruppen. Diesmal ist ein Jugendstil-Wohn- Wo Not am Mann ist, dürfen Aus- block in der Blissestraße dran. Ein länder ran. typischer Einsatz. Vor einem Eck- Die Sparte Berufsmusik/Allein- haus steht ein Baugerüst. Sechs unterhalter stützt sich mittlerweile

Männer verputzen die Fassade. DARCHINGER fast ausschließlich auf osteuropäi- Der Einsatz verläuft schnell und Ehepaar Rusu bei der Weinlese sche Billigkräfte. Von Westerland nach strategischem Plan. Zwei Be- Anfahrt aus den Karpaten bis Bad Kissingen spielen Kurka- amte besetzen die Hauseingänge, pellen aus Polen, Ungarn oder ein Polizist läuft mit Funkgerät auf Rußland. Bars und Cafe´s engagie- die gegenüberliegende Straßensei- ren Billiglohn-Geiger für eine Sai- te. Krohn springt auf den Bürger- son oder auch nur einen Monat. steig. Dort steht ein kleiner Mann Den Pianisten Pe´ter Nemes, 39, an einer Lasthexe. hat es ins Bayerische verschlagen. „Halt! Polizei“, ruft der Chef. Der bebrillte Ungar kommt aus Drei Meter über ihm schaut ein Ar- Cegle´d bei Budapest. Über den beiter mit flackerndem Blick vom Künstlerdienst beim Arbeitsamt Gerüst – und verschwindet. „Die hat er seine Stelle gefunden. Nun Leute sind im dritten Stock in eine sitzt er mit gelbem Jackett in der Wohnung geklettert“, meldet der Nürnberger „Moonlight-Bar“ und Observator mit dem Funkgerät. spielt sanfte Weisen auf dem Syn- Krohns Befehl: „Scheibe einschla- thesizer. gen.“ Von 21 Uhr an greift Nemes in Sekunden später stürmen die Zi- dem schummrigen Animierschup- vilbeamten die Wohnung und ertap- pen in die Tasten. „San Francisco“ pen die Putzerkolonne beim Um- quäkt sein Elektropiano, während kleiden. Jacketts haben die Männer die einsamen Herzen an der Bar in schon an, darunter tragen sie noch die Runde lächeln. die Blaumänner. Dann wird das Nemes ist Absolvent des Buda- Haus systematisch durchkämmt. pester Konservatoriums. Sein fi- „Manchmal“, sagt Krohn, „stecken nanziell bester Job war ein Engage- die Jungs in den Abluftschächten.“ ment in einem Hotel am Platten- Trotz solcher Erfolge – die GES- see: 950 Mark Monatsgage – für Polizisten schaufeln Wasser mit Ungarn ein Spitzenlohn. Dann ging dem Sieb. Jeden Tag treffen im seine Ehe in die Brüche. Seine Hauptquartier mehr Anzeigen ein, Frau heiratete einen Italiener und als überprüft werden können. Der nahm die Tochter mit. Abschiebeknast (170 Plätze) ist voll So was macht wurzellos. Also mit straffällig gewordenen Asylan- hat auch Nemes den Sprung ins ten. Erwischte Schwarzarbeiter Reich des Kapitals gewagt. Sein

kriegen einen Stempel in den Paß L. FISCHMANN / GRÖNINGER neuer Chef zahlt 2000 Mark, cash, („Aufgefordert zur Ausreise“) und Tagelöhner Irek beim Treppenschleifen ohne Verpflegung und Unterkunft. werden wieder entlassen. Bis Februar ausgebucht Kein Deutscher würde sich für das

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Geld die Nächte um die Ohren schlagen. Bis morgens um vier harrt der Alleinunterhalter an sei- nem Instrument aus. Ever- greens gehören zu seinem Re- pertoire, ein bißchen deut- scher Schlager, manchmal Frank Sinatras „My way“. Dann fährt der Animateur tod- müde mit seinem Wagen heim in eine Privatpension im nahe- gelegenen Ort Schwabach. „Etwas einsam“ fühle er sich in seinem neuen Berufsum- feld, gibt der lustige Musikant zu. Er spricht kein Deutsch und nur gebrochen Englisch. Bis Ende Dezember ist das Gastspiel befristet. Dann fährt der Pianist wieder in die Hei- mat. Andere Jobs folgen dem Sai-

sonbedarf. Die deutsche Land- R. STRIPPELMANN wirtschaft wäre ohne die flin- Polnische Erntehelfer bei der Mittagspause*: „Guter Bauer, gute Arbeit“ ken Heloten aus dem ehemali- gen Sowjet-Machtbereich längst kolla- als Feuerwehrmann. Alle haben für den Ladwiga Lepiarczur, 36, eine Schul- biert. Rund 135 000 Osteuropäer ste- Drei-Wochen-Job ihren Jahresurlaub pädagogin, schneidet Trauben vom chen Heide-Spargel, ernten Blaubeeren genommen. Stock. Sie arbeitet in Jogginganzug und in Niedersachsen oder pflücken Äpfel Um halb zwölf ist Mittagspause. Die Turnschuhen. Den ganzen Tag steht sie im Alten Land. Sie schlafen im Lada Männer müssen sich selbst verpflegen. mit den Füßen schräg am Hang. „Das ist oder Polski-Fiat. Auf dem kleinen Kocher brutzelt Kon- wie Urlaub“, sagt sie und blickt hinunter Henryk, Jan und Roman verdienen servenkost. Die Bäuerin hat ihnen Sau- ins Moseltal. Abends cremt sie sich die sich Geld als Kohlstecher. Die Männer, erkraut hingestellt. „Ich kann’s nicht Achillessehne ein. klein und drahtig wie die Marx- mehr sehen“, sagt Jan, „Kohl bis zum Weiter oben pflücken Gheorghe Ru- Brothers, sind von Wollstein bei Posen Abwinken.“ Von seinem DM-Verdienst su, 44, und seine Frau. Die Rumänen 750 Kilometer bis nach Dithmarschen will er seinem kleinen Sohn Legosteine stammen aus Suceava in den Karpaten. gebrettert. Zwischen Heide und Fried- mitbringen. Kreuzberger hat sie über die „Zentral- Rund 5000 Polen sind in Dithmar- stelle für Arbeitsvermittlung“ in Frank- schen legal im Kohleinsatz tätig, wohl furt angefordert. 2000 Kilometer An- Wer keine Westknete ebenso viele verdingen sich unter der fahrt – lohnt sich das? Rusu nickt. Als verdient, muß Hand. „Hier stehen ständig Leute vor Techniker in der Holzindustrie verdient der Tür“, sagt Großbauer Hans Jürgen er 200 Mark im Monat. in Polen Fahrrad fahren Beckmann. Er hat bis Mitte November Elf Prozent Arbeitslosigkeit in Un- 15 Polen beschäftigt. Arbeitslohn: 12 garn, Hyperinflation in Rumänien – je- richskoog erstreckt sich das größte Mark. „Das sind alles Topleute“, sagt der kleinste Luxus ist für die Bürger der Kohlanbaugebiet Deutschlands. Beckmann. Oststaaten unerschwinglich. Kaffee Nun haust das Trio für drei Wochen Die Erntejobber aus dem Osten sind oder Radios kosten in Bulgarien mehr bei Bauer Ulf Jarrens in der Scheune. bei den Landwirten beliebt. Anspruchs- als in Deutschland. Wer keine Westkne- Oben ist ein Verschlag eingerichtet. 20 los sind sie, fleißig und belastbar. „Kei- te verdient, muß in Polen von Weißkä- Quadratmeter Nachtasyl. Putz fällt von ne Trottel oder Alkoholiker wie die se, Brot und Milch leben und Fahrrad den Wänden. Auf dem Fußboden lie- Deutschen, die uns das Arbeitsamt fahren. gen Matratzen, auf dem Tisch sind schickt“, sagt ein Bauer. Also folgen die Depravierten dem Spielkarten verstreut. Abends wird Auch Norbert Kreuzberger, Gutsver- Lockruf des Geldes. Auch im bayeri- „Tysia¸c“ gezockt, ein Glücksspiel. walter beim Moselweingut Deinhard ist schen Grenzgebiet setzten sich im Jarrens hat acht Hektar Kohlfelder, voll des Lobes. Er läßt seine Trauben Rhythmus der Arbeitszeiten die Wan- das sind rund 320 000 Köpfe. Morgens vornehmlich von Akademikern ernten. derarbeiter in Bewegung. Mindestens um sieben Uhr rücken die Gehilfen mit 20 Ostarbeiter sind bei ihm tätig. Jurek 5000 Tschechen verdienen ihr Geld im scharfen Messern ins taunasse Feld aus. Olkuski, 40, wohnhaft bei Krakau, ist Freistaat Bayern, die meisten in Gastro- Kohlstechen geht auf die Bandschei- Anästhesist. Tomek, ein blonder 30jäh- nomiebetrieben. ben: Bücken, Kohlkopf zur Seite drük- riger, arbeitet als Lehrer. „Es ist eine Katastrophe, ich krieg’ ken, Strunk durchtrennen, wieder bük- Ende Oktober stapfen die studierten keine Leute“, flucht Heinz Drenske aus ken. Einer stapelt das Gemüse in Ki- Herren mit schweren Hotten auf dem Wunsiedel. Der Mann ist Chef des sten. Buckel durch Deutschlands teuersten „Wunsiedler Hofes“: gehobene Küche, „Guter Bauer, gute Arbeit“, sagt Weinberg: „Bernkastel-Kues, Lage gestreifte Plüschstühle. Hinter dem Re- Henryk. Der schnurrbärtige Mann Süd-Südwest, Rieslingtraube, Heimat staurant öffnet sich ein großer Ballsaal steckt sich eine „Popularne“, eine Bil- des berühmten Doktor-Weins“, doziert mit 600 Plätzen. ligzigarette, an. In Wollstein ist er der Verwalter. Da kam Martin Krysl, 22, gerade Tischler in einer Möbelfabrik, Jan ar- recht. Vor zwei Jahren war der junge beitet in Polen als Elektriker, Roman * Bei Bauer Beckmann. Tscheche mit seinem alten Lada auf Ar-

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beitssuche in den Westen gefahren. Nun Für den Transport der Arbeitsnoma- fährt er Honda. Drenske hat ihn enga- den sorgen Hunderte von kleinen Reise- giert: „Ein Spitzenmann“, lobt der Chef, unternehmen. Allein von Hamburg aus „Hotelfachschule Marienbad, erstklassi- starten jedes Wochenende an die hun- ger Ruf.“ dert klapprige Busse und Ford Transits Martin hat Benehmen gelernt. Mit Richtung Tallinn oder Krakau. Am schwarzer Hose, schwarz-lila Weste und Montag morgen schwappen die Shuttle- Fliege durcheilt er das Restaurant. Er Lawinen zurück. Die Tour Hamburg– tranchiert am Tisch, serviert „Entrecote Stettin kostet 50 Mark, bis nach War- double“, Rumpsteak oder Götterspeise. schau müssen rund 80 Mark gelöhnt wer- Bezahlt wird er nach Tarif, 2500 Mark den. brutto. Exemplarisch für diesen neuen Typ Nach der Arbeit, gegen elf Uhr des schwarz arbeitenden Tagelöhners ist abends, fährt Martin 80 Kilometer heim Irek, 36. Ehedem war der beurlaub- ins tschechische Karlsbad. Der Grenzer te Biologielehrer Solidarnos´c´-Kämpfer. winkt ihn durch, damit kein Stau ent- Seit einem Jahr tingelt der sympathische steht. Pole nun als mobiler Arbeitsmann durch Für die fränkischen Hoteliers ist der Hamburg. Nachbarstaat ein unverzichtbares Ar- Irek macht alles, für zehn Mark die beitsreservoir. Drei von Drenskes Kell- Stunde. Er hat Kakao-Säcke im Ham- nern und zwei Zimmermädchen kom- burger Hafen geschleppt, für einen Ab- men aus dem Egerland. In Stoßzeiten, rißunternehmer gerackert und einem etwa wenn große Festivitäten auszurich- Arzt die Jugendstiltüren abgebeizt. ten sind, heuert er als Servier-Aushilfen Über fehlende Arbeit kann sich der weitere Tschechen an. Biologiedoktor nicht beklagen. Über Damit dürfte es nun vorbei sein. An- Mund-zu-Mund-Propaganda wird Irek fang November hat das Bonner Arbeits- durch die Villenetagen und Vorgärten ministerium eine neue Direktive ausge- der Bessergestellten gereicht. Im ersten geben. Die Anstellung von Grenzgän- Jahr hat er 7500 Mark gespart. „Ich re- montiere“, ist sein Lieblingsausdruck. Bis Februar ist der Jobber ausgebucht. Irek macht alles, Zur Zeit verdingt er sich bei einem für zehn Privatmann im Norden von Hamburg. Mit Flex und Bandschleifer schmirgelt er Mark die Stunde Farbe von einer alten Eichentreppe ab. Der Hausbesitzer hat ihn gleich einquar- gern mit „geringfügiger Beschäftigung“, tiert. Irek kocht sein Kaffeewasser mit heißt es, wird ab sofort verboten. Drens- einem Heizstab in der Konservendose. kes Aushilfskellner dürfen nicht mehr Bei Bedarf behandelt er die Hausherrin kommen. mit Bioenergie, das ist sein Hobby. Die Immer neue Hürden werden erson- Dame leidet an Migräne. nen, um die Osteuropäer vom deutschen Unterbrochen wird der eintönige All- Arbeitsmarkt auszusperren. Seit Okto- tag nur durch die obligaten Heimreisen. ber 1993 ist die Saisonarbeit im Bauge- Alle drei Monate fährt Irek, bewaffnet werbe stark eingeschränkt. Die Werk- mit Reizgas, die Habseligkeiten in einem verträge wurden von 116 000 im Jahr alten Kinderwagen aufgetürmt, 1200 Ki- 1992 auf jetzt 47 000 runtergefahren. lometer weit mit Bus und Bahn in sein Erntehelfer sollen in die deutsche Ren- Heimatdorf an der ukrainischen Grenze. tenkasse zahlen. Das Touristenvisum muß erneuert wer- Grund für die Restriktionen: Die den. Wohlstandsfestung Deutschland (3,5 Ein Jahr will Irek noch in Deutschland Millionen Arbeitslose) wird neuerdings durchhalten. Ein Haus, ein Mountain- auch vom Westen bestürmt. Bis zu bike für die Kinder, vielleicht ein Auto, 80 000 englische Bauarbeiter, dazu Mau- ein bißchen Luxus – das sind seine Le- rerkolonnen aus Irland oder Finnland bensziele. „Noch bin ich jung“, sagt er, und portugiesische Putzer sind im Land. „noch kann ich schwer arbeiten.“ Ausgewiesen als „selbständige Einzelun- Jetzt verzichten, um später zu genie- ternehmer“, können sie – legal und weit ßen, nach diesem Motto leben viele der unter Tariflohn – in Deutschland ihre osteuropäischen Gastwerker. Doch der Arbeitskraft vermarkten. Traum vom besseren Leben hat einen Ihnen zuliebe sollen die Osteuropäer hohen Preis. „Meine Frau hat Sehn- ausgesperrt werden. Doch die Taktik sucht“, sagt Irek. Abends sitzt er allein kommt zu spät. Längst sind die Tagelöh- auf seinem Zimmer. ner aus dem Osten etabliert, haben eine Ganz allmählich wird Irek zum Hei- geheime Infrastruktur aufgebaut. „Bul- matlosen, der weder in Polen noch in gare, 36, stark, sucht Arbeit“, heißt es in Deutschland zu Hause ist. Seine Kinder Kontaktanzeigen. Bauunternehmer füh- sind fünf und sieben Jahre alt. Sie ken- ren Adressenkarteien mit Betongießern, nen den Vater nur noch als Vagabunden Maurern und Elektrikern. Anruf genügt, und Geschenke-Onkel, der hin und wie- und die Männer rücken an. der zu Besuch kommt. Y

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Wiesen ohne Rücksicht auf Müll ökologische Belange zur Rin- derzucht nutzen werden. Be- droht sei jetzt auch ein ge- Schilda in Bayern plantes Renaturierungspro- Die Bürger im bayerischen Landkreis gramm, bei dem einige Dei- Fürth sollen mindestens 30 Millionen Mark che geschliffen werden sol- für eine Hausmülldeponie ausgeben, die len, damit das Weideland sie überhaupt nicht benötigen. Das ver- wieder häufiger überflutet langt das Münchner Umweltministerium. wird. Die verkauften Feucht- Seit acht Jahren schon muß der Landkreis gebietsflächen sind ein wich- dank offensiver Umweltpolitik keinerlei tiger Rastplatz für Kraniche, Hausmüll mehr deponieren: Die Fürther am Ufer sonnen sich seltene

haben mit 72 Prozent die höchste Recy- W. M. WEBER Kegelrobben. clingquote in Bayern. Müllverbrennungsanlage in Zirndorf Weil der Landkreis zudem seine Müllver- Republikaner brennungsanlage in Zirndorf gründlich mo- nachweisen muß. Landrätin Gabriele Pauli dernisiert hat, ist auch die anfallende (CSU) ärgert sich über diese Schildbürge- Drohende Schlacke so wenig schadstoffbelastet, daß rei: „Es ist einfach unsinnig, wenn wir Mil- sie im Straßenbau verwendet werden kann; lionen in eine Deponie stecken müssen, die Spaltung die Abnahme dieser Schlacken ist über das wir nicht brauchen. Dadurch werden die Nach ihrer Niederlage bei Jahr 1998 hinaus gesichert. Das bayerische Menschen für ihr umweltbewußtes Verhal- der Bundestagswahl (1,9 Pro- Abfallgesetz, auf das die Münchner Um- ten auch noch bestraft – und die Deponie zent) und einer Welle von welt-Ministerialen nun pochen, aber ver- steht leer.“ Pauli: „Die Gesetzgebung Austritten stehen die rechts- langt, daß jeder Landkreis Deponieflächen hinkt der Realität hinterher.“ populistischen Republikaner vor dem Zerfall. Zwei rivali- sierende Flügel formieren Eisenbahn schutzgesetzes für die Nacht- PDS, an staatliche Stiftungs- sich: einer um den Rep-Chef ruhe sollen nach den Bahn- gelder zu gelangen, am Argu- Franz Schönhuber, der nach Bei offenem plänen durch „passive Lärm- ment der anderen Parteien ge- seiner Absetzung durch den schutzmaßnahmen“, etwa scheitert, die Gysi-Truppe sei Bundesvorstand per Ge- Fenster durch „Mehrscheibenvergla- keine „dauerhafte politische richtsbeschluß wieder den Gegen den Ausbau der sung“, erreicht werden. Die- Kraft“ der Bundesrepublik. Parteivorsitz erlangt hat; der Bahntrasse Hamburg – Ber- ses Ansinnen sei ein „ekla- andere um den baden-würt- lin zur Schnellstrecke will die tanter Verstoß“ gegen An- Naturschutz tembergischen Fraktionschef schleswig-holsteinische Ge- wohnerrechte, meint Au- Rolf Schlierer. Schönhuber meinde Aumühle Verfas- mühles Bürgermeister Mi- Bodden-Park will durch einen radikalen sungsbeschwerde einlegen. chael Schimanel, denn „übli- Rechtskurs die Partei als cherweise“ werde „bei offe- gefährdet „fundamentale Opposition“ nen Fenstern geschlafen“. Der Nationalpark Vorpom- ausrichten und sozial Be- 4 km Richtung mersche Boddenlandschaft, nachteiligte umwerben. BERLIN Parteistiftungen einer der bedeutendsten Na- Schlierer hingegen setzt auf 24 turreservate an der Ostsee- bürgerliche Rechte, „die et- Ausbau der Sachsenwald PDS will küste, ist gefährdet. Entge- was zu verlieren haben“, und Bahnstrecke Aumühle gen einer Vereinbarung mit wirft Schönhuber vor, eine Millionen dem Schweriner Umweltmi- Politik zu betreiben, die den Wohltorf Bismarck- Mausoleum Nach ihrer Rückkehr in den nisterium hat die Treuhand „absoluten Untergang unse- Bundestag will die PDS eine ökologisch wertvolle Salzwie- rer Partei“ bedeute. Führen- HAMBURG parteinahe Stiftung gründen. sen aus dem Schutzgebiet an de Rep-Funktionäre rechnen Stadtgrenze Für das Projekt, das der politi- einen privaten Agrarbetrieb mit einer Spaltung der Partei schen Bildungsarbeit dienen verkauft. Nun fürchten Na- auf einem Bundesparteitag in soll, ist der Name „Rosa-Lu- tionalparkverwalter und Um- Sindelfingen Mitte Dezem- Hauptvorwurf: Die Linie xemburg-Stiftung“ im Ge- weltgruppen, daß Bauern die ber. durch den Sachsenwald, der spräch. Die SED-Erben von sich größtenteils im Besitz der PDS können nach dem üb- der Familie Ferdinand Fürst lichen, zwischen den Parteien von Bismarck befindet, wer- ausgehandelten Verteiler- de „ohne ausreichenden schlüssel mit mehr als 30 Mil- Lärmschutz“ geplant. Die lionen Mark Steuergeldern betuchten Anlieger in dem rechnen. Das Personal soll fürstlichen Forst mit Aus- nach dem Willen von PDS- flugslokalen und der Ruhe- Strategen vom parteinahen stätte des Eisernen Kanzlers Berliner Verein „Gesell- fordern „bis zu 20 Meter“ ho- schaftsanalyse und Politische he Lärmschutzwände; die Bildung e. V.“ kommen, der aber werden von der Bahn sich vor allem aus abgewickel- aus wirtschaftlichen Gründen ten DDR-Gesellschaftswis-

abgelehnt. Die Vorschrif- senschaftlern rekrutiert. Bis- M. BALLHAUS ten des Bundes-Immissions- lang waren alle Versuche der Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft

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„DIE LUNTE BRENNT“ Plastikkarten mit Mikrochips als Zahlungsmittel, Datenträger oder Ausweise werden nach Experten-Ansicht „unsere Lebensgewohnheiten total verändern“. Die Vision vom Chip-Bürger ist faszinierend und furchterregend zugleich: Führt die Smartcard zu „Massenkontrolle“ und „Verhaltenslenkung“?

ür seine Idee läuft Horst-Jürgen aufgezeichneten Medizin-Daten „zu- Quadratmillimeter Silizium, so klein Rösgen, 50, „herum wie eine tibeta- sammengeführt“ werden: Die Chipkarte und flach wie ein Konfetti-Schnipsel, re- Fnische Gebetsmühle“. Der Refe- dient dann als Berechtigungsnachweis, volutionieren das menschliche Zusam- ratsleiter beim Berliner Verkehrssena- der „automatisch die entsprechende menleben. tor brennt darauf, das Bezahlen mit Kommunikationsverbindung herstellt“. Metallene Münzen, mit denen seit Bargeld abzuschaffen. Damit beim elektronischen Schrift- 3000 Jahren Waren und Dienstleistun- Schon Anfang 1997, hofft Rösgen, verkehr über Telefon- und Datenfern- gen bezahlt wurden, kommen aus der könnte der Gebrauch von Münzen und leitungen die Echtheit der Dokumente Mode. Mechanische Schlösser, wie sie kleineren Geldscheinen in der Haupt- und die Authentizität der Absender be- die Ägypter vor 4000 Jahren erfanden stadt entbehrlich sein. Für den täglichen legt werden können, entwickelten For- und deren Funktionsprinzip sich bis Bedarf, so die Vorstellung des Senatsbe- scher wie der Darmstädter Diplominge- heute erhalten hat, werden durch chip- amten, reicht dann die „elektronische nieur Bruno Struif, 51, die „digitale Un- kartengesteuerte Zugangs- und Kon- Geldbörse“, eine Plastikkarte mit inte- terschrift“ – kryptographische Verfah- trollsysteme verdrängt. griertem Mikroprozessor-Chip. ren, die wiederum durch Chipkarten In den Betrieben ersetzen die wun- Die „Berlin Card“ soll nicht nur die ver- und entschlüsselt werden. dersamen Winzlinge nicht nur Schlüssel Tickets für Busse und Bahnen ersetzen, Struif, Leiter des Forschungsbereichs und Stechuhr, sondern errechnen aus sondern auch Zahlungsmittel für Ein- Smartcard-Technik bei der Gesellschaft der Anwesenheitszeit sowie dem gespei- käufe und Dienstleistungen sein: für die für Mathematik und Datenverarbeitung cherten Leistungs- und Qualifikations- Benutzung von Taxen, Schwimmbädern (GMD), simuliert im GMD-Labor das profil den individuellen Arbeitslohn. und Parkhäusern, für den Eintritt in „elektronische Rezept“: Der Arzt ver- Im papierlosen Büro der Zukunft be- Museen, Theater und Kinos, an den schreibt Pillen nicht mehr auf seinem darf es nicht mehr der eigenhändigen Kassen von Supermärkten und Kauf- Block, sondern tippt den Namen des Unterschrift – Urkunden, Verträge und häusern, für den Verzehr in Fast-food- Medikaments über seinen Praxis-Com- Zahlungsanweisungen werden per Chip- Restaurants, für Waren an Kiosken und puter in die Patienten-Chipkarte ein, karte mit einer geheimen 200stelligen aus Automaten. Und wenn der Geld- wozu ihn seine Professional Card be- Ziffernfolge signiert, die nur der durch speicher im Chip aufgebraucht ist, läßt rechtigt. Der durch seine Chipkarte legi- seine Chipkarte ausgewiesene rechtmä- er sich an Bankautomaten wieder auf- timierte Apotheker liest auf seinem ßige Empfänger dechiffrieren kann. füllen. Bildschirm, welche Arznei der Doktor Die Menschheit, davon sind die Tech- Nicht minder begeistert schwärmt verordnet hat, und rechnet, ebenfalls nik-Scouts überzeugt, ist auf dem Weg der Heidelberger Medizin-Informatiker elektronisch, über das Claus O. Köhler, 59, von der Aussicht, Apotheken-Rechen- jeden chronisch Kranken in Deutsch- zentrum mit der Kran- land mit einer Patienten-Chipkarte aus- kenkasse ab. zustatten. Der Mini-Speicher soll alle Ob als Bargeld- medizinischen Daten enthalten, die im ersatz, mobiler Daten- Laufe eines Menschenlebens anfallen: träger oder Identifika- Diagnosebefunde und Therapiedaten, tionsnachweis – der Angaben über Blutgruppe, Impfungen Phantasie der Chip- und Allergien, Dialysedaten, Dauerme- karten-Tüftler sind dikation und die Einwilligung zur Or- keine Grenzen gesetzt. ganspende. „Hunderterlei Anwen- „In wenigen Jahren“, davon ist der dungen“, sagt Struif, Wissenschaftler am Deutschen Krebs- seien denkbar, eine forschungszentrum überzeugt, werden „neue Dimension der komplette Krankengeschichten auf Informationstechnik“ Scheckkartengröße komprimiert. Wie- tut sich auf. Die derholte Diagnose-Erhebungen bei der- Chipkarte, prophezeit selben Behandlung und oft mehrtägige Struif, „wird unsere klinische Untersuchungen vor Operatio- Lebensgewohnheiten nen seien dann überflüssig, in Notfällen total verändern“. sei schnellere Hilfe möglich, wirbt Köh- Diese Vorstellung ler für sein Modell. ist faszinierend und

Mittels Chipkarte, so Köhlers Fern- furchterregend zu- K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL ziel, könnten schließlich alle irgendwo gleich. Weniger als 25 Röntgenbild von Speicherkarte, Chipkarte als Busticket,

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in die chipkartengestützte Dienstlei- stungsgesellschaft. Plastikkarten mit in- tegrierten Minicomputern werden die Menschen von der Wiege bis zur Bahre begleiten. Am Ende der Entwicklung, glauben manche EDV-Enthusiasten gar, stehe eine einzige Allzweckkarte, die zugleich Zahlungsmittel, Datenbank und Ausweis ist. Der Hamburger Erfinder Jürgen Dethloff, der 1968 mit seinem Partner Helmut Gröttrup den „Identifikanden mit integrierter Schaltung“, den Vorläu- fer der Chipkarte, zum Patent anmelde- te, prognostiziert: „Die Chipkarte kann zu einem Teil unserer selbst werden.“ Schöne neue Welt oder Schreckensvi- sion: Mutiert der Mensch zum Chip- Bürger? Ihre Befürworter preisen die Chipkar- te, weil sie das Leben angenehmer und bequemer mache. Von der elektroni- schen Geldbörse, glaubt Stefan Kissin- ger, 42, Senatsberater beim „Berlin Card“-Projekt, hätten Handel und Ban- ken nur Vorteile – mehr Komfort, mehr Sicherheit, höheren Umsatz, weniger Kosten. Doch Experten zweifeln, ob die neue Technik wirklich nützlich ist. Für die fragwürdigen Annehmlichkeiten, die der Chip mit sich bringt, sind Millionen- Investitionen nötig. Und unabsehbar, warnen Kritiker, seien die rechtlichen, ökonomischen und gesellschaftspoliti- schen Folgen. Zwar sind vorausbezahlte, also an- onyme elektronische Geldbörsen unter dem Datenschutz-Aspekt unbedenklich – ihr Gebrauch hinterläßt ebensowenig Spuren wie das Bezahlen mit Münzen und Scheinen. Dafür aber wecken andere Chipkar- ten, auf denen vielerlei persönliche Da- Fest im Griff ten gehortet sind, Begehrlichkeiten ZENIT D. GUST/ S. DOBLINGER / PAPARAZZI Wiederaufladen der elektronischen Geldbörse (in Berlin): „Eine neue Dimension der Informationstechnik tut sich auf“

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te“. Erfinder Dethloff freut sich: „Die Ladung ist da, die Lunte brennt.“ Nur zögernd haben sich die eher tech- nikscheuen Deutschen in den letzten Jahren an den Umgang mit Plastikgeld gewöhnt – anders als etwa die unbeküm- mert fortschrittsgläubigen Franzosen oder Japaner. Doch nun stecken schon mehr als 36 Millionen Eurocheque-Kar- ten, an die 9 Millionen Kreditkarten und rund 6 Millionen Kundenkarten in den Brieftaschen der Deutschen. Allerdings haben diese Karten als Da- tenspeicher bislang lediglich einen ordi- nären Magnetstreifen auf der Rückseite. Die schwarzbraune Eisenoxidschicht kann nur wenige Informationen spei- chern, jedoch nicht weiterverarbeiten. Bereits auf derzeit gebräuchlichen Chips läßt sich der Inhalt einer großen Tageszeitung unterbringen. Und der Winzling kann mehr als eine Million Be-

S. KRESIN fehle pro Sekunde verarbeiten. Chipkarten-Förderer Köhler*: „Konfliktträchtiger Spannungsbogen“ Rund 70 Röntgenbilder faßt eine in Freiburg entwickelte „Röntgencard“, staatlicher und privater Institutionen, notwendigen Daten verliert? Kommt der behandelnde Arzt kann die radiolo- aus dem Informationspool zu schöpfen. das nicht einem Gedächtnisschwund gische Vorgeschichte des Patienten auf Doch wem gehören diese Daten? Dem gleich? Büßt der gar seine ganze Identi- einem Bildschirm abrufen. Herausgeber der Karten, wer immer als tät ein? Soll man, darf man alles auf eine „Mit der weiteren Miniaturisierung solcher fungiert? Oder darf der Karten- Karte setzen? der Computer“, sagt Köhler voraus, sei- besitzer allein darüber verfügen? Ist, um die Benutzung durch Unbe- en „spätestens Ende des Jahrtausends“ Wie sollen Kinder künftig noch den fugte auszuschließen, für jeden einzel- mit Chips und optischen Speichern be- Umgang mit Geld erlernen, wenn es nen Verwendungszweck eine persönli- keine Groschen mehr gibt? Wie kom- che Geheimzahl notwendig? Wer kann men ältere Menschen mit der neuen sich die alle merken? Und, fragt der Ju- In keinem anderen Land Technik zurecht? Werden ganze soziale raprofessor und Technikfolgen-Forscher wurden Chipkarten so Alexander Roßnagel, 44, von der Universität Kassel: flächendeckend eingeführt „Würde man so ein Heilig- tum in irgendeinen Schlitz stückte Hybridkarten auf dem Markt, reinstecken?“ die 10 Millionen Instruktionen pro Se- Selbst Chipkarten-Pro- kunde schaffen und 20 Megabytes spei- motor Kissinger räumt ein: chern – das entspricht 10 000 DIN-A4- „Es gibt mehr Fragen als Seiten. Mit Bildschirm und Tastatur Antworten.“ werde die Chipkarte dann zu einem Für Gegner der Wunder- vollständigen Informationssystem, „das karte steht schon fest, wel- auch über den eingebauten Funkkanal chem Zweck sie letzten En- mit allen anderen Informationssyste- des dient. So sieht der men in Verbindung treten kann“. Bremer Rechtsinformatiker Nahezu jeder Bundesbürger hat be- und Datenschutz-Experte reits seit Jahren eine Chipkarte im Jan Kuhlmann, 39, in der Portemonnaie. Aber auf der Telefon- Chipkarte ein Mittel zur karte klebt nur die simpelste Version „Totalerfassung“ des Bür- eines Halbleiterplättchens: Es enthält gers, die zur „Schrumpfung weder individuelle Informationen noch der Privatsphäre“ und läßt es sich nach Gebrauch wieder auf-

C. KELLER / GRÖNINGER zur „totalitären Entmündi- laden. Der Zeittakt-Impuls im Telefon Chipkarten-Erfinder Dethloff* gung“ führt. zerstört lediglich pro Gebühreneinheit „Ein Teil unserer selbst“ Zumindest müsse vorher jeweils einen Abschnitt des Mini-Spei- geklärt werden, fordert chers. Die Telekom bietet auch eine Gruppen, etwa Obdachlose, ausge- Rechtsprofessor Roßnagel, wie die technologische Alternative an: Der grenzt? Brauchen Blinde ein ertastbares „verfassungsverträgliche Ausgestal- Chip auf der „Telekarte“ bucht Ge- Merkmal, um die verschiedenen Karten tung“ der Chipkarte „sichergestellt“ bühren auf das persönliche Telefon- auseinanderhalten zu können? werden könne. konto. Wie hilflos ist einer, der seine multi- Denn der Vormarsch der Chipkarte Von der Schlichtversion der Fern- funktionale Chipkarte mit allen lebens- scheint unaufhaltsam. Erstaunlich ist sprech-Zahlkarte hat die Telekom in- nur, daß mehr als 25 Jahre seit der Pa- zwischen mehr als 150 Millionen Ex- tent-Anmeldung vergingen, bis sie, wie emplare verkauft, die sich, so der Me- * Oben: mit Chipkarten-Lesegerät; unten: mit Te- lefonkarte zum 25jährigen Jubiläum seiner Pa- die Fachzeitschrift a` la Card aktuell dienwissenschaftler Ulrich Lange von tent-Anmeldung. verkündete, „die Marktreife erreich- der Freien Universität Berlin, als

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„technisch relativ sicher und Jargon) reihenweise Fachärzte ohne ökonomisch profitabel“ erwie- vorherige Konsultation des Hausarztes sen hat. auf – mit der Folge, daß es keine koordi- Der wirtschaftliche Nutzen nierende Vertrauensperson mehr gibt. für das Staatsunternehmen Schwerer als der Verdienstausfall der liegt auf der Hand: In Allgemeinmediziner wiegt indes der Fernsprechzellen, wo die alten Verdacht, daß die Versicherten-Chip- Münzbehälter abgeschafft karte nur die Vorstufe zu einer allumfas- sind, gibt es so gut wie keinen senden Gesundheitskarte ist. Ein „Spiel Vandalismus mehr; wessen mit gezinkten Karten“ vermutet Hans- Redezeit nicht durch den Jürgen Jonas vom alternativen Kölner Kleingeld-Vorrat begrenzt ist, Gesundheitsladen hinter der Einfüh- plaudert ungehemmt länger; rung des elektronischen Kranken- und weil die Gebühren voraus- scheins. Denn für die spärlichen Anga- bezahlt sind, gewähren die ben, die derzeit gespeichert werden dür- Kunden der Telekom ein zins- fen, hätte eine schlichte Magnetstreifen- loses Darlehen. Karte genügt.

Der nächste Technologie- P. MEYER / FORUM So war es auch schon beschlossen, Schritt ist auch bereits vollzo- Datenschützer Walz doch über Nacht schwenkten die Kas- gen. Ein Chip, der mehr kann „Das Machbare drängt nach Umsetzung“ senärzte auf die Chiptechnik um. Denn als Werteinheiten zählen und nur mit ihr, so der Vorsitzende der Kas- abknipsen, steckt in der Versicherten- se Daten können automatisch auf Ab- senärztlichen Vereinigung in Hessen, karte. Sie wird seit Ende vorigen Jahres rechnungen und Rezepte übertragen Otfrid P. Schaefer, 66, sei es möglich, sukzessive in den Bundesländern von und maschinell weiterverarbeitet wer- „vollkommen neue Kommunikations- den gesetzlichen Krankenkassen ausge- den. strukturen im Gesundheitswesen und in geben und ersetzt demnächst bundes- Bis Ende des Jahres sollen alle 72 Mil- der Medizin aufzubauen“. weit den herkömmlichen Kranken- lionen Versicherten im Besitz des EDV- Es wäre ja auch, wie der Juraprofes- schein. Ausweises sein. In keinem anderen sor Roßnagel kombiniert, wirklich Der Datenspeicher darf zwar, weil Land wurde bislang so flächendeckend durch ein Gesetz ausdrücklich so be- eine Chipkarten-Nutzung eingeführt. schränkt, nur acht Angaben enthalten: Bei manchen Ärzten löst die techni- „Eine echte Marktlücke, die Bezeichnung der ausstellenden sche Innovation indes nicht nur eitel die Idee Krankenkasse, den Namen des Versi- Freude aus. Allgemeinmediziner klagen cherten, dessen Geburtstag, Anschrift über ein um sich greifendes „Ärzte- trifft den Zeitgeist“ und Versichertennummer, seinen Versi- Shopping“ mit Hilfe der Chipkarten. chertenstatus sowie den Tag des Be- Weil Überweisungsformulare obsolet „idiotisch, nur wegen der paar Angaben ginns des Versicherungsschutzes und geworden sind, suchen Patienten mit jedem Arzt ein Lesegerät für 750 Mark das Verfallsdatum der Karte. Aber die- der neuen „Einkaufskarte“ (Mediziner- zu spendieren“. Die Versicherungen statteten 130 000 Praxen mit der not- wendigen Hard- und Software aus, ins- gesamt kostet die Einführung der Versi- chertenkarte rund 500 Millionen Mark. Als Trendsetter betätigt sich der Lan- desverband der sächsischen Betriebs- krankenkassen (BKK). Er plant, eine BKK-Card einzuführen, auf der persön- liche Meßwerte etwa über Blutzucker- spiegel, Sauerstoffdynamik oder Chole- sterol-Gehalt sowie weitere spezielle medizinische Daten gespeichert und lau- fend aktualisiert werden können. Damit würde Wirklichkeit, wovon manche Kassenfunktionäre schon lange träumen. Die Versicherungsprämien könnten für Leute mit ungesundem Le- benswandel individuell erhöht werden. Risikozuschläge für Raucher, Trinker oder Übergewichtige sind program- miert. „Solche Ideen“, warnt die Bremer Medizin-Informatikerin Ute Bertrand, „könnten zur Aushebelung des Versi- cherungsprinzips führen, das bisher auf gleichmäßiger Verteilung des Krank- heitsrisikos beruht.“ Die Solidargemein- schaft würde sich auflösen. Als freiwillige Ergänzung zur Pflicht- karte der gesetzlichen Krankenkassen

R. RIETH will die Bundesvereinigung Deutscher Protest gegen Volkszählung 1983: Datenschutz in der Defensive Apothekerverbände (ABDA) Anfang

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1996 eine „A-Card“ mit Chip einführen. der Innungskrankenkassen vornehmen: sten“, um Versicherte aufzuspüren, de- Da immer mehr Patienten zur Selbstme- „So sind wir eher als bisher in der Lage, ren Medikation „spezifisch nur bei dikation greifen, sollen auf der Apothe- unsinnige Verordnungen oder abhängig bestimmten Krankheiten verwendet ker-Karte die ohne ärztliches Rezept ge- machende Medikamente zu identifizie- wird“. kauften Medikamente dokumentiert ren.“ So ist beispielsweise die Verordnung werden. Dies geschehe „zum Nutzen unserer von Pentamidin zur Prophylaxe gegen Frank Diener von der ABDA glaubt Versicherten“, behauptet Stuppardt. Pneumocystis carini, einer Infektion der eine „echte Marktlücke“ entdeckt zu ha- Der Sparkommissar und Volkserzieher Lunge, ein Indiz, daß es sich um einen ben. „Offensichtlich“ sei „die Zeit reif“ ignoriert indes, daß die Versicherten auf Aids-Kranken handelt. für eine Patienten-Chipkarte. Diener: die Schweigepflicht ihres Arztes ver- Ein „unkontrollierter Zugang“ zu Ge- „Die Idee trifft den Zeitgeist.“ trauen, die durch die Rasterfahndung sundheitsdaten auf einem Chip, fürchtet Erstrebenswert erscheint es den Ko- der Krankenkassen unterlaufen würde. der Bremer Datenschützer Stefan Walz, stenträgern des Gesundheitswesens, die Die elektronische Recherche im Me- könnte Angehörigen von Risikogruppen neue Versichertenkarte mit den Daten- dizinbetrieb ist bereits Realität. Der vor „unverantwortbare Nachteile für Sozial- netzen der Krankenkassen und der kas- kurzem abgeschlossene „Vertrag über status, Berufsaussichten und Versiche- senärztlichen Vereinigungen zu ver- den Datenaustausch auf Datenträgern“ rungsschutz“ aufbürden. Vom gelten- knüpfen. Eine Broschüre des Instituts verpflichtet die Kassenärztlichen Verei- den Recht wäre ein solches Vorgehen für Informations- und Kommunikations- nigungen, den Krankenkassen auf deren zwar nicht gedeckt, aber Walz weiß aus ökologie beschreibt das Szenario: Verlangen die Identität von Versicher- Erfahrung, „daß das technisch Machba- ten mitzuteilen, um angebliche „Lei- re nach praktischer Umsetzung drängt“. Rund um die Versichertenkarte ent- stungserschleichungen“ zu ermitteln. Götz Riedel, Internist in Koblenz und steht ein System der Datenerfassung Sensibler oder zumindest taktisch klü- Vorstandsmitglied des Bundesverbands und -weitergabe, das letzten Endes zu ger verhalten sich Chipkarten-Befür- Niedergelassener Gebietsärzte, versteht hingegen nicht, warum sich Kranken- kassen und Mediziner mit halben Sa- chen zufriedengeben: Die Versicherten- karte befinde sich „technisch auf einem Stand, der dem vor rund 20 Jahren ent- spricht“. Der Heidelberger Medizin-Informati- ker Köhler weiß um den „konfliktträch- tigen Spannungsbogen“, der sich „zwi- schen dem Positivum der aktuellen und vollständigen Daten der Krankenge- „Umfassendes System sozialer Rasterfahndung wurde aufgebaut“

schichte und dem Negativum der Angst der ,Durchsichtigkeit‘ aufspannt“. Doch könnten, beruhigt Köhler, einzelne Be- reiche der Krankengeschichte problem- los „völlig gegeneinander abgeschottet“

A. SCHWAIGER / LOOKAT werden. Bezahlen mit Chipkarte (in Biel): Neue Marktsegmente erschließen Auf diese Weise, glaubt Köhler, wer- de beispielsweise „vermieden, daß ein einer lückenlosen Erfassung aller Be- worter wie der hessische Kassenärzte- potentieller Arbeitgeber den Bewerber handlungs- und Krankheitsdaten in den Chef Schaefer – gerade um den Erfolg unter Druck setzen kann, um dessen Computern der Krankenkassen und der Versichertenkarte nicht zu gefähr- Krankenblattdaten lesen zu dürfen“. Ju- kassenärztlichen Vereinigungen führen den. rist Roßnagel traut jedoch einem gesetz- soll. Ausdrückliches Ziel ist, daß die Die Kassen, fordert Schaefer, müßten lichen Verbot allein nicht: „Wie viele Krankenkassen „Einblick in das Lei- die Daten unverzüglich löschen oder ir- Fragen werden heute bei Einstellungs- stungsgeschehen“, d. h. in das Verhält- reversibel anonymisieren, sobald die gesprächen gestellt, die rechtlich nicht nis zwischen Arzt und Patient, bekom- Leistungspflicht geklärt und die Wirt- zulässig sind?“ men . . . Langfristig können die Kran- schaftlichkeitsprüfung abgeschlossen ist. Der Hamburgische Datenschutzbe- kenkassen durch die neuen Daten- Denn „jede Rezeptur“, weiß Schaefer, auftragte Hans-Hermann Schrader sammlungen dahin kommen, Funktio- „läßt einen klaren Rückschluß auf die warnt davor, „unter dem Vorwand der nen einer Gesundheitspolizei auszu- Diagnose bzw. das zu behandelnde Kostendämpfung eine Transparenz und üben, Gesundheitsleistungen nach Krankheitsbild zu“. Vergleichsmöglichkeit“ zu schaffen, die dem Einkommen zu differenzieren und Die Apotheken werden von 1995 an den Patienten „zum Objekt von Über- Hilfe bei der Auslese von Menschen zu in maschinenlesbarer Form auf den Ver- wachung, Kontrolle und Einflußnahme“ leisten. ordnungsblättern die Pharma-Zentral- macht. nummer notieren, die jedem Medika- Die Verhaltenslenkung, ahnt der Bre- Solchen Argwohn nähren Kassen- ment zugeteilt ist. „Über diese Nummer mer Rechtsinformatiker Kuhlmann, sei funktionäre wie Rolf Stuppardt. „Aus- als Suchkriterium“, erläutert Schaefer jedoch keine bloß abstrakte Gefahr, wertungen per Knopfdruck“ will der seinen Vorbehalt, könnten die Kassen sondern der verkappte Zweck aller Geschäftsführer des Bundesverbands „den gesamten Datenbestand durchfor- Chipkarten-Anwendungen, nicht nur

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Ende der freien Fahrt Verschiedene Systeme zur Erhebung von Autobahngebühren Im offenen System werden Gebühren erhoben, sobald das Fahrzeug an einem bestimmten Punkt der Strecke vorbeifährt. Dieser Punkt kann eine feste Funkstation sein (A) oder eine Satellitenortung „virtuelle Station“, die vom Gerät im Fahrzeug mittels Satellitenpeilung erkannt wird (C). Ein Empfangsgerät im Auto be- Bei geschlossenen Systemen werden Aus- und Einfahrt der gebührenpflichtigen Strecke registriert (B). stimmt mit Hilfe der Satelliten des GPS (Global Positioning System) die geographische Position (C). Das Computerprogramm des Ge- Fest installierte Funkstationen räts kennt die Koordinaten aller über der Fahrbahn (A) und (B) kommunizieren Autobahnauffahrten und -kreuze mit dem Bordgerät des Fahrzeugs; und berechnet daraus Informationen über Streckenabschnitt, die Gebühren. Fahrzeugtyp und Zeitpunkt ermöglichen C gestaffelte Tarife.

A

B D

Zwei Modelle für die Chip-Karte Mobilfunk und Zentralcomputer B Gebührenabrechnung Das Bordgerät enthält neben dem Sender/Empfänger einen Ein anderes Modell sieht die Zwi- Chip-Kartenleser. Die Karte kann, ähnlich der Telefonkar- schenspeicherung der Streckenda- te, in Tankstellen oder Banken erworben werden. Sie ten im Fahrzeugcomputer vor; ist wird bei Fahrtantritt eingeschoben, die fälligen Ge- eine bestimmte Summe erreicht, bühren werden während der Fahrt automatisch werden die Gebühren über Mobil- Chip- abgezogen; neigt sich das Guthaben dem Ende funk an einen Zentralcomputer über- Karte zu, wird der Fahrer vom Gerät gewarnt. mittelt und vom Konto abgebucht. DM 7.00

Ist das Bordgerät nicht aktiviert oder die Chip-Karte abgelaufen, wird das Fahrzeug geblitzt (D).

der medizinischen: Sie seien ein Kern- leer ist oder ganz fehlt, wird der Auto- leistungen verantwortlich. Damit recht- stück „flächendeckender elektronischer fahrer geblitzt. Oder ein Chip speichert fertigt er strenge Rationierungen, die Kontroll- und Zuteilungssysteme“ für die aufgelaufenen Gebühren, die dann wiederum konsequent kontrolliert wer- knappe Güter. vom Girokonto des Fahrzeughalters ab- den müssen. Die geplanten Autobahngebühren et- gezogen werden – mit dem datenschutz- Die Bürger lassen sich die staatlichen wa sollen nicht nur die leeren Kassen relevanten Risiko, daß alle Fahrtrouten Gängelungen gefallen, weil, wie Kuhl- des Staates füllen, sondern zugleich die rekonstruiert werden können. mann konstatiert, „das Interesse am Da- Fahrzeugströme auf den Fernstraßen Das Beispiel Maut zeigt allerdings, tenschutz nahezu auf den Nullpunkt ge- steuern. Die Chipkarten-Technik macht daß ein Rationierungssystem auch das sunken“ ist. es möglich, die – etwa nach Tageszeit Gegenteil von dem bewirken kann, was Auch der amtliche Bürgerrechtswah- oder Verkehrsdichte gestaffelten – Ge- ökologisch wünschenswert wäre: Ge- rer Walz sieht den Datenschutz „derzeit bühren bei fließendem Verkehr, ohne staffelte Tarife – Spitzensätze in Stoß- klar in der Defensive“. Der Bund habe Halt und ohne Stau, auch noch bei Tem- zeiten, Niedrigpreise bei schwachem in den vergangenen Jahren „ein umfas- po 250 einzuziehen. Verkehr – führen nicht etwa zu weniger sendes System sozialer Rasterfahndung“ Auf einem zehn Kilometer langen Autofahrten, sondern allenfalls zu einer aufgebaut, ohne daß es einen Aufschrei Abschnitt der Autobahn 555 zwischen gleichmäßigeren Auslastung der Auto- der Empörung gegeben hat. Künftig sol- Bonn und Köln testet der TÜV Rhein- bahnen, ganz im Interesse der künftig len regelmäßig automatisierte Dateiab- land derzeit die Systeme von zehn ver- privaten Betreiber, die natürlich Gewin- gleiche zwischen Sozial-, Arbeits-, Ge- schiedenen Konsortien. Bei allen wird ne machen wollen. werbe- und Zollämtern sowie den Kran- ein zigarettenschachtelgroßes Emp- Ebenso wie die Benutzung der Fern- kenkassen stattfinden. fangsgerät an der Windschutzscheibe straßen soll, so die These des Chipkar- Was der Chipkarten-Kritiker Kuhl- angebracht, in dessen Schlitz die Test- ten-Kritikers Kuhlmann, eine Vielzahl mann vorwurfsvoll analysiert, hat der fahrer eine Chipkarte schieben. Das Ge- tatsächlicher oder vermeintlicher „Kri- Chipkarten-Erfinder Dethloff stets of- rät registriert, wenn das Auto eine Meß- senressourcen“ rationiert werden: Sozi- fen propagiert. „Die Ökonomie und da- stelle passiert, aus der Summe der ge- al- und Gesundheitsleistungen, Arbeits- mit das Leben der meisten Menschen“, fahrenen Kilometer errechnet es die zu plätze und Zuwanderung, Personenbe- hatte Dethloff bereits 1977 prophezeit, zahlende Gebühr. förderung und Abfallbeseitigung. Was werde „immer stärker durch Mangel- Dabei gibt es, wie bei den beiden Te- in Kriegs- und Notzeiten Bezugsscheine erscheinungen beeinflußt“. lefonkarten-Alternativen, zwei prinzi- und Lebensmittelkarten waren, sind im Die vorhandenen Ressourcen müßten piell verschiedene Funktionsweisen EDV-Zeitalter die Chipkarten. daher, ob wegen „ideologisch begründe- (siehe Grafik): Entweder werden die Ein Beispiel: Der tiefverschuldete ter Gerechtigkeit“ oder aus „sachlichem Beträge fortlaufend von der vorausbe- Staat macht für einen Teil seines Haus- Zwang“, verteilt werden. Dazu, meinte zahlten Chipkarte abgebucht – wenn sie haltsdefizits den Mißbrauch von Sozial- Dethloff schon damals, „wird man sich

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Werbeseite TITEL vorzugsweise elektronischer Mittel be- ditwirtschaft ist geringerer Bargeld-Um- dienen, um ,Gerechtigkeit‘, Berechti- lauf ebenfalls billiger. gung, Verteilung und Kontrolle zu be- Die Chipkarte, wirbt der Berliner Se- herrschen“. nats-Consultant Kissinger von der „BB- Kuhlmann bezeichnet diese Methode Data“, einer Tochter der Bankgesell- als „Massenkontrolle mit dem Ziel der schaft Berlin, könne „ganz neue Markt- Verhaltenslenkung“. Dethloff nennt sie segmente erschließen“. Lebensmittel- das „edukative Element“ einer karten- Automaten etwa könnten im Freien auf- gesteuerten Mangelverwaltung. gestellt werden und wären dennoch ge- Der Patent-Inhaber denkt dabei etwa gen Betrug und Diebstahl gefeit. an Gutschriften für Energiesparen und Automaten könnten auch nicht mehr Müllvermeidung oder an Strafgebühren mit geringerwertiger Fremdwährung für Kilowatt-Vergeuder und Verpak- überlistet werden – schwedische Kronen kungsverschwender. Die schlauen Kärt- oder polnische Zloty taugen dann nicht chen rechnen die persönliche Umwelt- mehr als Ersatz für Fünf-Mark-Stücke. bilanz fix in Mark und Pfennig um. Und ohne Münzdepot, so Kissinger, ist Die Kehrseite: Wenn die einzelnen ein Automat für Diebe reizlos: „Keiner Haushalte für die Abfallreduzierung bricht so ein Ding wegen eines Liters belohnt werden sollen, muß die Müll- Milch auf.“ Mit Outdoor-Automaten, menge pro Kopf registriert werden. die „täglich 24 Stunden verfügbar sind“, Auf diese Daten aber haben wiederum meint Kissinger, werde „auch der deut- auch die Sozialbehörden Zugriff und sche Ladenschluß ausgehebelt“. können so überprüfen, wie viele Perso- Da wäre es freilich einfacher und billi- nen in einem Haus leben – womöglich ger, das Ladenschlußgesetz zu ändern. ein Anhaltspunkt für Sozialleistungs- Und auch ansonsten ist der Nutzen der mißbrauch. elektronischen Geldbörse für den Ver- Durch die Verzahnung von Behör- braucher gering. Beim Bezahlen an der den-EDV und, beispielsweise, Müll- Kasse spielt passendes Kleingeld, an- Chipkarten werden routinemäßig Zu- ders als beim Telefonieren mit Karte, sammenhänge hergestellt, die das vom keine Rolle – dem Käufer kann es egal sein, ob der Kaufmann Wechselgeld pa- rat hat. Andererseits werden alle Nach- „Folgen beseitigen, teile auf den Kunden abgewälzt. Den die durch die Chipkarte Zinsgewinn einer vorausbezahlten Kar- te hat die Bank, aber das Verlustrisiko erst entstehen“ trägt der Kartenhalter allein. Und weil mit bloßem Auge ja nicht zu Bundesverfassungsgericht normierte sehen ist, welchen Betrag der Chip noch Grundrecht auf informationelle Selbst- enthält, wird mancher Kartenzahler bestimmung aushöhlen. Niemand kann plötzlich mittellos an der Kasse stehen. mehr wissen, wo seine Daten landen. Die mißliche Situation läßt sich ver- Die Chipkarte dürfe „nicht als Instru- meiden, wenn sich die Kunden mit ment mißverstanden werden, um den Chipkarten-Lesegeräten ausrüsten, die Ärmsten der Armen ans soziale Leder über einen kleinen Bildschirm und eine zu gehen“, wiegelt Kommunikationsfor- Tastatur verfügen. Das scheinbar so scher Lange ab. Dessen Institut an der praktische Plastikgeld erfordert mithin Freien Universität veranstaltete Anfang eine unhandliche Ergänzung. Damit des Jahres in Berlin gemeinsam mit werden, amüsiert sich der Technikkriti- Elektronik- und Plastikfirmen einen er- ker Roßnagel, „Folgen beseitigt, die sten interdisziplinären Karten-Kongreß durch die Chipkarte erst entstehen“. („Multicard 94“). Wenn schon nicht als elektronische Eine schlüssige Antwort auf die Fra- Geldbörse, so doch als lückenlos doku- ge, was die Chipkarte dem Bürger ei- mentierte Krankengeschichte in der gentlich nützt, blieb die Tagung schul- Brieftasche diene die Chipkarte „heuti- dig. Die versammelten Branchenvertre- gen und zukünftigen Bedürfnissen der ter referierten zwar voller Stolz, welche Menschen“, behauptet der Heidelber- Leistungen die Chips vollbringen kön- ger Medizin-Informatiker Köhler. nen – doch zugleich hielten sie Ausschau Selbst der Hamburger Unterneh- nach Problemen, die damit zu lösen wä- mensberater Peter Debold, Chef des für ren. die Spitzenverbände der Krankenkassen „Eigentlich braucht der Verbraucher und Kassenärzte tätigen Projektbüros keine elektronische Geldbörse“, meint Versichertenkarte, weiß indes „nicht, der Bremer Informatiker Peter Ansor- wem eine Patientenkarte nützen soll“. ge. Zeitersparnis an der Ladenkasse Er bezweifelt den Sinn des Informati- oder 100prozentige Zahlungsgarantie onsflusses: „Der Arzt, der die Daten er- sind Argumente, mit denen der Handel hebt, kennt den Kontext, nur er kann geködert wird – überzogene Konten, das Sichere vom Unsicheren unterschei- ungedeckte Schecks oder gefälschte den.“ Geldscheine wären, wenn die Chipkarte „Sinnvoller“, meint Debold, sei eine kommt, kein Thema mehr. Für die Kre- Karte, „die nachweist, wo Informatio-

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Werbeseite nen über einen Patienten gespeichert sind“, im übrigen solle „der Arzt den Patienten selbst fragen“, statt einem auf einem Chip gespeicherten Befund zu vertrauen, von dem niemand weiß, wie aktuell und vollständig er ist. Kassenarztfunktionär Schaefer ver- weist auf die Vielfalt an Impf-, Mutter- schafts- und sonstigen Gesundheitspäs- sen, die alle auf einer Chipkarte verei- nigt werden könnten. Debold hält dage- gen, „nicht einmal für den medizini- schen Notfallausweis“ gebe es „offenbar Bedarf, sonst müßte es ihn auch schon in Papierform geben“. Nüchtern stellt Debold fest: „Die Brücke zwischen den Systemlösungen und dem faktischen Bedarf muß erst noch geschlagen werden.“ Sinnvoll erscheinen allenfalls kleintei- lige Anwendungsformen der sogenann- ten Shared Care: Anstatt Patienten langfristig stationär im Krankenhaus zu behandeln, könnten Pflege, Therapie und weitere Diagnostik in der häusli- chen Umgebung, in der Praxis eines nie- dergelassenen Arztes und in Ambulato- rien erfolgen – per Chipkarte sind die notwendigen Patientendaten an den ver- schiedenen Stellen verfügbar. So wird, unter Professor Köhlers Ob- hut, in Heidelberg die Nachsorge für Fürs Kartenmanagement ein neues Netzwerk von Super-Bürokratien

Krebspatienten organisiert. Und eine ebenfalls von Köhler initiierte „Defi- card“ begleitet an der Kardiologischen Abteilung der Medizinischen Hochschu- le Hannover die Betreuung von Herzpa- tienten, denen ein Defibrillator einge- setzt wurde, um den flatternden Herz- muskel durch Stromstöße wieder in den richtigen Rhythmus zu versetzen. Im Unterschied zur Patienten-Chip- karte ist der Einsatz elektronischer Geldbörsen nur zweckmäßig, wenn die- se an möglichst vielen Stellen verwendet werden können. Bislang sind solche Geldsurrogate, testweise oder im Pra- xisbetrieb, nur regional begrenzt einge- führt oder zersplittert auf eine Vielzahl von Kartenanbietern. Was die Hersteller von Halbleitern und Plastikkarten als Zukunftsmarkt an- peilen, fristet derzeit ein bescheidenes Dasein, etwa als Bargeldersatz zum Füt- tern von Parkuhren. Doch die lokalen Pilotprojekte kranken alle daran, daß Ortsfremde erst mal eine Verkaufsstelle für die Chipkarten suchen müssen, ehe sie ihr Vehikel abstellen können. Im dänischen Aarhus und im schwei- zerischen Biel kooperieren – wie in Ber- lin geplant – Banken, Kaufleute, Tele- fongesellschaften und Nahverkehrsun- .

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nen ist. Anders verhält es sich mit Chipkarten, deren Sinn dar- in besteht, personenbezogene Informationen zu speichern und zu verarbeiten. Der Inhalt sol- cher Karten muß zumindest für den Verlustfall irgendwo in Ko- pie aufbewahrt werden. Bei solchen Anwendungen, weiß der Jurist Roßnagel, sind die Chipkarten „nur der Eis- berg, der oben rausguckt“. Un- ter der Oberfläche müssen je- doch Instanzen wirken, die die Karten herausgeben, personali- sieren, codieren, autorisieren, bei Verlust sperren, wieder auf- laden. Mithin wären neue Super-Bü- rokratien nötig. „Darüber“,

A. SCHOELZEL wundert sich Roßnagel, „hat Chipherstellung: Inhalt einer Zeitung auf 25 Quadratmillimetern Silizium sichbisherkaum jemandGedan- ken gemacht.“ ternehmen. Außerhalb der kleinen mit Drehkreuzen nebeneinander, wie Zwangsläufig entstünde, zusätzlich zu Testinseln läßt sich jedoch mit der Chip- beispielsweise inParis, sindaus baulichen den bereits vorhandenen Datenpools, karte nichts anfangen. Gründen nicht möglich. ein weiteres Netzwerk zur Verwaltung Landesweit etabliert sind elektroni- Deshalb will Rösgen eine kontaktlose der Chipkarten. Das Management sche Geldbörsen in Japan, allerdings Chipkarte einführen: Die Fahrgäste sol- könnte, wie manche argwöhnen, ein gibt jeder Anbieter seine eigene Chip- len das elektronische Billett – nach Vor- zentrales „Karten-Bundesamt“ über- karte heraus. „Deshalb läuft man als le- bildern in Helsinki oder Kopenhagen –in nehmen, das Karten-Entwickler lieber bender Kartenständer herum“, lästert geringer Entfernung an einem Sensor- „Trustcenter“ oder „Vertrauensinstanz“ der Berliner Verkehrsplaner Rös- pfosten vorbeiführen. Optische und aku- nennen – eine schönfärberische Voka- gen: Der Big Mac wird mit einer McDo- stische Signale, ähnlich wie bei Scanner- bel, die an George Orwells „Neuspra- nald’s-Karte bezahlt, der Getränkeauto- kassen in Supermärkten, zeigen an, daß che“ erinnert. mat mit einer Coca-Cola-Karte bedient, das Gerät das Passieren der Sperre auf Chipkarten seien „das beste Mittel ge- für den Supermarkt ist die Kundenkarte der Chipkarte registriert hat. Kontrolleu- gen politischen Mißbrauch“, behauptet der jeweiligen Handelskette erforder- re in den Zügen haben Lesegeräte, mit der Medizin-Informatiker Köhler: In lich, die Maschinen im Waschsalon wer- denen sie feststellen können, ob der Tik- den Datennetzen sei der einzelne gefan- den mit einem firmeneigenen Plastik- ket-Chip tatsächlich aktiviert worden ist. gen, „aber die Karte kann ich einfach Rechteck in Gang gesetzt. Wer seine elektronische Geldbörse wegschmeißen“. Kleinräumig und mit Mono-Nutzen verliert, womöglich geladen mit mehre- Das sei ein Fehlschluß, warnt Kuhl- erproben die Berliner Verkehrs-Betrie- ren hundert Mark, bringt sich um bares mann: „Wenn erwartet oder vorausge- be seit April vorigen Jahres eine elek- Geld – der Finder kann sich ungehindert setzt wird, daß alle die Karte haben, tronische Geldbörse: Sie ist lediglich auf bedienen, eben weil diese Art von Chip- dann endet faktisch die Verfügungsge- fünf Buslinien im Stadtbezirk Zehlen- karte keiner bestimmten Person zuzuord- walt.“ Y dorf verwendbar. Das System soll nun rasch ausgeweitet werden. In gut zwei Jahren, wenn Berlin und halb Brandenburg einen Tarifver- bund im öffentlichen Nahverkehr bil- den, sollen die bisherigen Einheitsfahr- preise abgeschafft sein – derzeit berech- tigt ein Einzelticket zu zweistündiger Fahrt, egal wie weit. Auch Zeitkarten soll es dann nicht mehr geben. Denn die Chipkarte rechnet individuell die gefah- renen Kilometer ab und gewährt gestaf- felte Rabatte für Vielfahrer. Doch die Karte wirft neue Probleme auf, die im Massenverkehr längst über- wunden schienen. Der öffentliche Nah- verkehr würde zusammenbrechen, wenn jeder U-Bahn-Benutzer beim Be- treten des Bahnsteigs seine Karte in ein Lesegerät stecken müßte. Warteschlan- gen wären unvermeidlich, zumal deut- sche U-Bahnhöfe nur durch enge Tun- nel zugänglich sind. Mehrere Sperren P. MEYER / FORUM DPD * Punktekarte für Bergleute (1947). Kritiker Kuhlmann, Bezugsmarken*: „Rationierung von Krisenressourcen“

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Prozesse Eindeutige Spuren Der bisher schwerste sexuelle Mißbrauch von Kindern wird ab Donnerstag dieser Woche vor Gericht verhandelt.

er Fall bringt selbst einen abge- brühten Juristen wie den Chef Dder Mainzer Staatsanwaltschaft, Hans Seeliger, aus der Fassung. Als Seeliger die Vernehmungsprotokolle

durchlas, fiel ihm nur ein: „Das JOKER sprengt die Grenzen des Vorstellba- Vermuteter Tatort in Worms: Exzesse beim Familientreff? ren.“ Vor der Jugendschutzkammer des tober zu langjährigen Freiheitsstrafen Die Ermittlungen der Justiz begannen Mainzer Landgerichts müssen sich in verurteilt (SPIEGEL 32/1994). bereits vor drei Jahren. Im Sommer einer Kette von Verfahren ab Don- Unabhängig voneinander schilderten 1991 erstattete der Vater eines damals nerstag dieser Woche 30 Beschuldigte mehrere Kinder den Staatsanwältinnen dreieinhalb Jahre alten Mädchens Straf- wegen sexuellen Mißbrauchs von Kin- sadistische Einzelheiten. Beispiel: Sie anzeige gegen seine frühere Ehefrau. dern verantworten. seien an einen geheizten Backofen ge- Der Mann hatte bemerkt, daß seine Die Staatsanwältinnen Martina fesselt und dann mit einer chirurgi- Tochter, wenn sie vom Besuch ihrer Fischl, 33, und Heike Finke, 30, be- schen Klemme gefoltert worden. Einer Mutter zurückkam, des öfteren blaue zichtigen die Angeklagten, Angehörige der Tatorte soll der Keller der Gast- Flecken an Stellen hatte, wo man sie und Bekannte von drei Familienclans stätte „Steven’s Corner“ in Worms- „sonst nicht hat“. Das Verfahren wurde aus Worms und Umgebung, in mehr Pfeddersheim gewesen sein, wo sich die jedoch mangels Beweisen eingestellt. als 100 Fällen insge- Familien gelegentlich Die Mainzer Prozesse könnten für die samt 16 Kinder verge- trafen. mißbrauchten Kinder zu einer neuen waltigt und mißhan- Nach Aussagen eini- Tortur werden. Bleiben die Beschuldig- delt zu haben. Das äl- ger Opfer wurden die ten vor Gericht stumm, müssen die Kin- teste Opfer war zur Exzesse mit einer Vi- der aussagen – schwere psychische Schä- Tatzeit acht Jahre alt, deokamera gefilmt. den wären vermutlich die Folge. das jüngste sechs Mo- Trotz intensiver Suche Die Justiz will die Kinder soweit wie nate. Laut Ermitt- fanden die Ermittler möglich schonen. Die Opfer, so eine lungsbehörde haben dafür bislang keinen Idee der Staatsanwältinnen, müßten sich Mütter, Väter, Beweis. Die Kassetten, nicht im Gerichtssaal vernommen wer- Stiefväter, Onkel, so fürchtet die Polizei, den, sondern könnten in einem Neben- Tanten und Großel- seien womöglich an zimmer vom Vorsitzenden der Jugend- tern an den scheußli- Kunden ins Ausland schutzkammer allein befragt werden. chen Verbrechen be- verkauft worden. 17 Die Vernehmung sollte per Video in teiligt. Angeklagte sitzen nun den Gerichtssaal übertragen werden. Bestätigt sich der Anklägerin Fischl in Untersuchungshaft. Die Verteidiger stellen die Aussagen Verdacht, handelt es Tortur für die Kinder Keiner hat bisher ge- der Kinder generell in Frage. Der Main- sich um den schwer- standen. Einige der zer Rechtsanwalt Georg Schumacher sten Fall von Kindes- Beschuldigten räumen wirft der Staatsanwaltschaft vor, sie ha- mißbrauch, der bislang zwar ein, den Kindern be die Kinder animiert, möglichst Bela- in Deutschland be- sei tatsächlich etwas stendes auszusagen. kanntgeworden ist. angetan worden – aber Daß einige Aussagen der jungen Zeu- Er übertrifft in sei- nicht von ihnen. gen mit Vorsicht zu behandeln seien, nen Ausmaßen selbst Die Staatsanwalt- will der Anwalt vor Gericht an einem das Verbrechen von schaft stützt sich außer Beispiel demonstrieren: Ein achtjähri- Flachslanden. In der auf die Aussagen der ger Junge habe nicht nur en de´tail bei fränkischen Gemeinde JOKER Opfer auf medizinische seiner Vernehmung geschildert, wie er hatten Eltern, Ver- Gutachten, die bei ei- sexuell mißbraucht worden sei, sondern wandte und Bekannte ner Reihe von Kindern ebenso exakt über einen angeblichen jahrelang neun Kinder Verletzungen im Anal- Banküberfall berichtet. brutal mißhandelt. Va- und Genitalbereich Schumacher: „Die Staatsanwaltschaft

ter und Mutter der am FOTOS: A. OSTEN-SACKEN / festgestellt haben – ein- muß erklären, warum sie die eine Aus- meisten mißbrauchten Anklägerin Finke deutige Spuren sexuel- sage ernst nimmt, die andere dagegen Kinder wurden im Ok- Vernehmung per Video len Mißbrauchs. nicht.“ Y

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schen Holzen bei Lörrach wollen der verpassen. Bereits Ende der sieb- Bildung Konstanzer Literaturprofessor Helmut ziger Jahre gab es in der DDR eine Bachmaier, 48, sowie der Maler und „Universität der Veteranen der Ar- Kunstmanager Martin Rabe, 52, die beit“ mit öffentlichen Vorlesungen für erste Privat-Universität für ältere Er- verdiente Aktivisten des Klassenkamp- Gut drauf wachsene eröffnen, ein europaweit ein- fes. zigartiges Vorhaben. Im Herbst 1995 In der Bundesrepublik ist die Wei- Immer mehr ältere Menschen drän- soll der Lehrbetrieb beginnen. terbildung älterer Erwachsener seit gen an die Hochschulen. In Baden- Ein einheitliches Seniorenstudium 1976 im Hochschulrahmengesetz gere- gibt es in der Bundesrepublik bisher gelt. Danach kann grundsätzlich jeder Württemberg soll jetzt die erste nicht. Die meisten Hochschulen lassen ohne Ansehen seines Alters studieren. Universität für Senioren entstehen. ältere Menschen nur als Gasthörer zu. Als Gasthörer brauchen Altbewerber, Einige Unis bieten spezielle Kurse und außer in Bayern, kein Abitur; sind sie Vorlesungen für Ältere an. Etwa die Vollstudenten, müssen sie wie jeder it dem Numerus clausus hatte In- Universität des 3. Lebensalters in andere Student die Hochschulreife ga Friedrich bei Beginn ihres Stu- Frankfurt am Main, die der Frankfur- nachweisen. Mdiums keine Schwierigkeiten. ter Goethe-Universität angegliedert ist Die Vorliebe für bestimmte Fächer „SiekönnenmitderZulassungrechnen“ , und ihre Hörer über die „Sozialge- ist bei beiden Gruppen gleich: Ge- hieß die Antwort auf dem Studentense- schichte, Kunst, Literatur und Philoso- kretariat, „die Wartezeit haben Sie auf phie. Naturwissenschaften belegt kaum jeden Fall erfüllt.“ Die jungen Studenten einer der Studenten. Inga Friedrich hat fast 40 Jahre gewar- haben keine Probleme Günter Hönicke, 75, hat sein Ge- tet. Seit ihrer Schulzeit träumte sievonei- schichtsstudium einschließlich Magi- nem Studium. Doch nach dem Krieg fehl- mit den Senioren sterarbeit in rekordverdächtigen neun te das Geld, anschließend bestimmte der Semestern durchgezogen. Noch vor Beruf den Alltag. schichte des Alters“ und „Politische Ende dieses Jahres will der ehemalige Inzwischen ist die 62jährige ehemalige Perspektiven im Alter“ aufklärt. Journalist seine Doktorarbeit mit dem Fremdsprachen-Sekretärin nicht nur in Einen anderen späteren Bildungsweg Titel „Jüdische Stiftungen und Legate Rente, sondern auch im achten Semester bietet das „Berliner Modell Ausbil- in Hamburg“ fertigstellen. Für ihn – sie studiert Geschichte und Kulturwis- dung für nachberufliche Arbeitsberei- „auch ein Zeichen der Wiedergutma- senschaften an der Universität Hamburg. che“: An der Technischen Universität chung“, wie er sagt. Die „besessene Altstudentin“, wie sie in Berlin qualifizieren sich Frauen und Christel Adebar, 48, begann ihr Stu- sich selbst nennt, schreibt wissenschaftli- Männer ab 45 vier Semester lang in dium, als die Kinder erwachsen waren. che Arbeiten über die Weimarer Repu- den Fächern Ökologie, Ernährung und Die Bibliothekarin hat sich neben ih- blik, beschäftigtsichmit KaiserJoseph II. soziale Kommunikation für ehrenamtli- rem Halbtagsjob in einer Gemeindebü- und erforscht das Imperium des römi- che Arbeit. Die Alt-Akademiker un- cherei im Fach Literaturwissenschaften schen Feldherrn Pompejus. terrichten anschließend in Volkshoch- in Hamburg eingeschrieben. „Das Studium ist mein Lebenselixier“, schulen oder kirchlichen Einrichtun- Probleme mit den jungen Kommili- sagt die agileSeniorin. Die meistenSchei- gen. tonen hat sie nicht. „Die akzeptieren ne hat sie schon gemacht, demnächst Auch an den Hochschulen in den einen ganz selbstverständlich“, sagt sie, kann sie mit ihrer Magisterarbeit begin- neuen Bundesländern können Senioren „ich werde genauso geduzt, und nach nen. sich eine akademische Frischzellenkur der Vorlesung trinken wir gemeinsam Seit Anfang der achtzi- ger Jahre schon drängen immer mehr ältere Men- schen an die Hochschulen. Das Bundesbildungsmini- sterium verzeichnete 1991 fast 40 000 Studenten, die 39 Jahre und älter waren; wie viele genau es derzeit sind, ist nirgendwo er- faßt. In Hamburg sind zur Zeit rund 800 Studenten über 50 eingeschrieben. An der Johann Wolfgang Goe- the-Universität in Frank- furt am Main sitzen etwa 1500 „Grau-Köpfe“, wie sie im Studenten-Jargon heißen, in Seminaren und Vorlesungen. Der Bildungsdrang der Alten hat einen Wissen- schaftler und einen Künst- ler auf die Idee gebracht, eine eigene Hochschule

für Senioren zu gründen. R. JANKE / ARGUS Im baden-württembergi- Altstudentin Friedrich: „Das Studium ist mein Lebenselixier“

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DEUTSCHLAND K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL Uni-Gründer Bachmaier: Seminare zur Ästhetik

einen Kaffee, oder wir gehen in die Holzen keine gehobene Volkshoch- Mensa.“ schule errichten, sondern eine „richtige Hin und wieder trifft Mutter Adebar Universität“ (Bachmaier). auf dem Campus ihren Sohn Marco, 22, Die Vorbereitungen laufen bereits: der in Hamburg Betriebswirtschaftsleh- Ein Grundstück ist vorhanden, die Plä- re studiert. Der findet es „geil“, daß sei- ne des Architekten liegen vor. Am ne Mutter „noch so gut drauf ist“. vergangenen Wochenende trat das Professoren und Dozenten behandeln Gründungskuratorium zusammen, die älteren Studiosi nach einer Untersu- noch in diesem Monat soll die Bauge- chung des Bundesbildungsministeriums nehmigung beantragt werden. Ein ehe- meist mit „wohlwollender Gleichgültig- maliger Gasthof wird derzeit zum Stu- keit“. dentenwohnheim umgerüstet. Auch die Masse der jungen Studenten Anfangen wollen die Holzener im hat trotz überfüllter Hochschulen nichts November nächsten Jahres mit Vorle- gegen die älteren Kommilitonen einzu- sungen und Seminaren zur Ästhetik, wenden, die oft ihre Großeltern sein Theorie und Praxis der künstlerischen könnten. Unmut regt sich nur hin und Produktion. Bis dahin wollen sie beim Kultusministerium in Stuttgart auch die staatliche Anerkennung beantragen. In Im Kuratorium der den nächsten Jahren sollen in Holzen Hochschule sitzen fünf Professoren, assistiert von Hono- rar-Dozenten, rund hundert Studenten Politiker und Manager unterrichten. Bachmaier und Rabe rechnen für die wieder, wenn einzelne Senioren zu oft ersten fünf Jahre mit Kosten von rund ihre persönlichen Erlebnisse zum be- 20 Millionen Mark. Das Geld soll vor sten geben. allem durch Spenden und Studienge- Die meisten Alten studieren, um bühren hereinkommen. 4,2 Millionen sich geistig fit zu halten und nicht zu Mark haben sie nach eigenen Angaben vereinsamen. „Lohn für eine gelunge- bereits zusammen. ne Arbeit ist jedesmal eine Massagekur Im 30köpfigen Kuratorium sitzen für das Selbstbewußtsein“, sagt Inga Politiker und Manager wie der Schwei- Friedrich. Rund zwei Drittel der Se- zer Nationalrat Ernst Mühlemann, Di- nioren geben laut einer Untersuchung rektor des Schweizer Bankvereins und an der Uni Dortmund an, sie fühlten Mitglied des Europaparlaments, sowie sich durch das Studium gesünder. Klaus Wiegandt, Vorstandsvorsitzen- Der Andrang der Alten zu den der des Handelskonzerns Asko (Le- Hochschulen dürfte in den nächsten bensmittelketten, Warenhäuser, Bau- Jahren weiter zunehmen, denn ihr An- und Möbelmärkte). teil an der Bevölkerung steigt: Im Jahr Sorgen über die Leistungsfähigkeit 2000 wird schon jeder Vierte, im Jahr seiner künftigen Kommilitonen macht 2020 vermutlich sogar jeder Dritte äl- sich Professor Bachmaier nicht. „Die ter als 60 sein. Alten“, sagt er forsch, „sind doch kei- So kalkulieren auch die Unigründer ne Grufties. Die sind doch aktiver als Bachmaier und Rabe. Sie wollen in viele lasche Junge.“ Y

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Die Unternehmensberater fordern Zur Stärkung der Finanzautonomie Schule die Abschaffung der unteren Behörde. könnte den Schulen nach Ansicht der Statt dessen schlagen sie „Grundschul- Kienbaum-Experten zugestanden wer- verbunde“ vor: Jeweils 75 Lehrern soll den, „durch Anbieten von Dienstlei- ein Schulleiter vorstehen, in der Regel stungen etwa im Bereich der Weiterbil- Nachhilfe einer der überflüssigen Schulräte. Die dung, Nachhilfe oder Nachmittagsbe- einzelnen Schulen bekommen nur noch treuung eigene Einnahmen zu erzielen“ „eine Art Oberlehrer“. – ein Vorschlag, der bei vielen Lehrern, für Lehrer Der Rest der rund 450 Stellen in den die bislang ihre Privatschatulle durch Schulämtern soll auf die Regierungsprä- Nachhilfestunden aufbessern, wenig Unternehmensberater wollen sidien verteilt und nach und nach abge- Gegenliebe finden dürfte. die Schulverwaltung umkrempeln: baut werden. Das Kienbaum-Modell Der Direktor weiterführender Schu- trifft Schul- und Parteipolitiker emp- len würde weit mehr Kompetenzen er- Manager sollen Schul- findlich: Schulratsposten sind in allen halten als bisher und vom Verwalter räte und Direktoren ablösen. Parteien beliebte Belohnungen für treue über Stunden, Bleistifte und Ausflüge Gefolgsleute unter den Paukern. zum Manager aufgewertet. Auch die Lehrerverbände werden den Die derzeitige Lage beschreibt das ultusbeamten und Lehrern in Vorstoß nicht klaglos hinnehmen, denn Gutachten lapidar mit einem Satz: Nordrhein-Westfalen schwant Un- mit den Schulämtern fielen auch die ört- „Eine professionelle Ausbildung von Kheil. Zum zweitenmal innerhalb lichen Personalräte weg, wodurch Ver- Schulleitern im Sinne einer gezielten von drei Jahren machten geschäftige bandsfunktionäre zahllose Freistunden Vorbereitung auf ihre Funktion findet Herren in teuren Anzügen monatelang das Düsseldorfer Kultusministerium un- sicher. Ihr Auftrag: zu ergründen, wie die Schulverwaltung künftig kostengün- stiger und zugleich effizienter arbeiten könne. Das Team der Kienbaum Unterneh- mensberatung hatte 1991 in einer „Organisationsuntersuchung im Schul- bereich“ ein vernichtendes Urteil über die Arbeit an den Lehranstalten in Nordrhein-Westfalen abgegeben. Der Schulbetrieb mit seinen 160 000 Be- schäftigten und Personalkosten von 11,7 Milliarden Mark sei schlecht, konfus und teuer. Das Verdikt der Kontrolleure aus der freien Wirtschaft schlug vor allem auf die Lehrer durch: Kultusminister Hans Schwier kürzte den Mehrbedarf an Plan- stellen von ursprünglich 20 000 auf 5000 herunter und strich die Freistunden der

Pädagogen zusammen. D. HOPPE / NETZHAUT Das neue Gutachten, knapp 250 Sei- Kultusminister Schwier*: Explosives Gutachten ten stark und 700 000 Mark teuer, ist kaum weniger explosiv: Die Kienbaum- verlieren. Diese Freistunden, haben die nicht statt, ebensowenig eine auf Quali- Spezialisten plädieren in dem bisher un- Kienbaum-Prüfer errechnet, machten tätskriterien wie Führungsfähigkeit aus- veröffentlichten Bericht dafür, in der allein rund 100 Planstellen aus. gerichtete Auswahl.“ Schulverwaltung die überkommene Die Zuständigkeit der beiden Ober- Dem soll eine Art drittes Staatsex- Hierarchie von Schulräten und Schul- behörden – Regierungspräsidien und amen abhelfen: Nach dem Besuch von amtsdirektoren durch ein modernes Ma- Ministerium – empfehlen die Gutachter Aus- und Fortbildungsseminaren, so die nagement abzulösen. radikal zu beschneiden zugunsten einer Gutachter, müsse der Lehrer seine In Nordrhein-Westfalen, wie in den dezentralen Schulverwaltung. Die Kom- „Befähigung zur Mitarbeitermotivation, meisten Flächenländern, ist die Schul- munen sollen als Schulträger vom Land zum Verwaltungshandeln und zur Wei- aufsicht dreistufig organisiert: Die Ver- pauschal Lehrerstellen und Finanzmittel terentwicklung der Unterrichts- und Er- antwortung vor Ort hat das Schulamt, zugewiesen bekommen. ziehungsarbeit“ nachweisen – Voraus- das wird vom zuständigen Regierungs- Die Schulen müßten dann mit ihrer setzung für jede Beförderung. Zusätz- präsidenten beaufsichtigt, der dem Kul- Gemeinde Lehrerzahl und Ausstattung lich empfehlen die Gutachter eine zwei- tusminister rechenschaftspflichtig ist. mit Lehrmitteln verhandeln. „Die vor- jährige Probezeit für Direktoren. Die Schulräte in den Schulämtern geschlagene Verteilung der Entschei- Doch auch der gemeine Lehrer, ver- sind ausschließlich zuständig für dungskompetenzen“, so das Gutachten langt die Firma Kienbaum, müsse sich Grund-, Haupt- und Sonderschulen, in bestem Beamtendeutsch, „begünstigt ändern. Das Modell der starken, selbst- Regierungspräsidenten und Ministerium gleichzeitig eine koordinierte, standort- verwalteten Schule verlange Pädagogen für die höheren Bildungsanstalten. Das bezogen ausgestaltete, flexible Schul- mit „größerer Kompetenz im sozialen, Schema hat sich längst überlebt: 1970 landschaft und sich eigenständig profi- erzieherischen und organisatorischen besuchten rund 60 Prozent eines Jahr- lierende Schulen.“ Bereich“ und der Fähigkeit zu „Teamar- gangs die Volksschule, heute verbleiben beit, Kommunikation und Kooperation an den Hauptschulen nur noch 23 von * Mit Schülern des Pascal-Gymnasiums in Gre- mit dem Ziel der Ablösung des Einzel- 100 Schülern. venbroich. kämpfertums“. Y

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WIRTSCHAFT TRENDS

sichten offenbar nicht, die US-Investitionen Stadt München dagegen lehnt den Plan ab. Sie hält die restlichen 23 Prozent – Japanische zuwenig allerdings, um den Beschluß zu blockieren. Die Milliardengräber Stadtvertreter überlegen Pech gehabt: Mit Milliarden Dollar kauf- nun, ihren Kapitalanteil an ten sich die Japaner in den achtziger Jahren eine private Investmentge- in ureigenste amerikanische Besitztümer sellschaft zu verkaufen. ein, jetzt reiht sich für die Investoren aus Fernost ein Reinfall an den anderen. Nach- Deutsche Bahn dem der Elektronikriese Sony mit seinen 1989 erworbenen Hollywood-Gesellschaf- Am Kartellamt ten Columbia Pictures und Tristar Pictures 3,2 Milliarden Dollar Verlust verbuchen vorbei mußte, steht nun Mitsubishi mit dem New Heinz Dürr, Chef der Bahn Yorker Rockefeller Center vor einem fi- AG, will das Bundeskartell- nanziellen Desaster. Der Konzern, dem 80 amt austricksen. Die Berliner Prozent des legendären Geschäftszentrums Wettbewerbshüter hatten gehören, erwartet in diesem Jahr erneut dem Bahn-Boß mitgeteilt, sie hohe Verluste aus dem Investment. Damit würden den Verkauf der haben die Investoren aus Fernost mit dem Gleisbau-Aktivitäten in Ost-

Sinnbild des amerikanischen Kapitalismus M. GRUNDT deutschland an die Bauriesen bis jetzt mehrere hundert Millionen Dollar Rockefeller Center Hochtief und Philipp Holz- verloren. Die Japaner haben sich gründlich mann sowie die Spezialfirma verkalkuliert: Kaum waren die Verträge zu finanzieren. In diesem Jahr mußte frist- für den Erwerb der edlen Adresse unter- gemäß fast die Hälfte der Gesamtfläche schrieben, bröckelte der amerikanische des Komplexes neu vermietet werden – zu Immobilienmarkt. Die Mieteinnahmen Preisen, die um rund 25 Prozent niedriger reichten nicht mehr, um die Hypotheken sind als vor zehn Jahren.

Verkehr alles Zubehör wie Grenz- Flughafen übergänge, Service-Statio- Neue Wege nen, Fracht- und Passagier- Bau-Wahn im terminals. An der Grenze nach Moskau zwischen Polen und Weiß- Erdinger Moos Berlin und Moskau sollen rußland wird eine vollauto- Der neue Münchner Groß- durch einen „Transport-Kor- matische Anlage, wie sie be- flughafen im Erdinger Moos ridor“ verbunden werden. reits an der Grenze zwischen soll noch größer werden, ob- Eine entsprechende Verein- Frankreich und Spanien exi- wohl sich immer mehr Flug- barung wollen Deutschland, stiert, für die Umstellung der gesellschaften zurückziehen. Polen, Weißrußland, Ruß- in Ost und West unterschied- Mitte Dezember wollen die

land und die Europäische lichen Spurbreite der Bahn Gesellschafter des Flugha- K. HOFFMANN Union Ende Dezember in sorgen. Das Jahrhundertpro- fens den Bau eines 40 000 Dürr Berlin schließen. Vorgesehen jekt, dessen Verwirklichung Quadratmeter großen und ist der Ausbau von Straße von West nach Ost voran- 200 Millionen Mark teuren Knape verbieten. Kurz vor und Bahnlinie von Berlin getrieben werden soll (er- Büro- und Geschäftszen- dem offiziellen Veto gab über Warschau, Brest und stes Teilstück: Berlin–War- trums beschließen. Bran- Dürr seinen Plan auf und ent- Minsk in die russische Haupt- schau), soll sowohl aus der chenexperten befürchten ei- wickelte ein neues Konzept. stadt. Die gemeinsame Pla- Staatskasse der beteiligten ne gigantische Fehlinvestiti- Zeitlich gestreckt, will er nun nung umfaßt nicht nur die Länder als auch von Privaten on, denn im Gewerbegebiet in drei Etappen doch zum Verkehrswege, sondern auch finanziert werden. rund um den Flughafen ste- Ziel kommen. Zunächst soll hen schon jetzt mehrere hun- Knape mit der Bahn allein 400 km RUSSLAND derttausend Quadratmeter den Neu- und Ausbau der Büro- und Lagerflächen leer. Trassen ausführen. Dann sto- Moskau Außerdem gibt es immer we- ßen in ein oder zwei Jahren Ostsee Nordsee niger direkte Flugverbindun- Holzmann und Hochtief mit Minsk gen ins Ausland. Vom kom- jeweils 10 Prozent hinzu, eine Berlin Warschau BELORUSSLAND menden Frühjahr an zum Bank soll als Statthalter 20 Beispiel bieten nur noch zwei Prozent übernehmen. Erst DEUTSCH- POLEN Brest Airlines Nonstopflüge in die mit der dritten Stufe in drei LAND UKRAINE USA – anfangs waren es ein Jahren kann es zu Komplika- halbes Dutzend. Den Frei- tionen mit dem Wettbe- staat Bayern und den Bund, werbsgesetz kommen. Dann geplante Auto- und die zusammen 77 Prozent der sollen die Bauriesen und Eisenbahnverbindung Flughafen-Anteile besitzen, Knape jeweils ein Drittel der irritieren die düsteren Aus- Anteile erhalten.

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Manager AUFSTAND DER FEIGLINGE VW-Chef Ferdinand Pie¨ch herrscht in Wolfsburg mit eiserner Hand. Nach dem Kahlschlag im obersten Manage- ment plant er nun eine Säuberungswelle in der zweiten Ebene. Doch dort regt sich Widerstand. Und auch im Aufsichtsrat wachsen die Zweifel an Pie¨chs eigenwilligem Führungsstil – und an dessen Erfolgen.

ür seine Manager hat Ferdinand Das Gremium gab dem Duo freie Der Vorstandsvorsitzende des Volks- Pie¨ch nur Verachtung übrig. „Heer- Hand. Die Räte billigten Pie¨chs Perso- wagen-Konzerns hat sich und der Firma Fscharen“ von ihnen, spottet der nalentscheidungen, als er in kürzester mit seinen einsamen Entscheidungen in Vorstandsvorsitzende des Volkswagen- Zeit neun Vorstandsmitglieder entließ. eine gefährliche Isolation getrieben. Ko- Konzerns, eilten von Besprechung zu Zweifel an sich und seinem Kurs operationspartner wie Toyota, Merce- Besprechung und produzierten nur Pa- konnte Pie¨ch bislang stets mit Hinweis des und Ford gehen auf Distanz. In der pier. Mitarbeiter hingegen, die in kurzer auf die Erfolge beseitigen. Bis Ende die- Automobilbranche wird der Außensei- Zeit etwas verändern kön- nen, „gibt es nur wenige“. Die Versager im Konzern Ein Fall für die Werkstatt Geschäftsentwicklung bei VW; Angaben in Milliarden Mark entdeckt Pie¨ch nach eigener Einschätzung vor allem, wenn ein grober Fehler pas- umsatzerlöse investitionen jahresergebnis siert ist: „Dann erscheinen 9,9 1,11 die ganzen Feiglinge nicht.“ 9,3 85,4 Rigoros räumt der Por- 82,0 sche-Enkel seit seinem Amts- 76,3 76,6 antritt vor knapp zwei Jahren 0,15 0,0 im VW-Management auf. Widerstände fürchtet er 5,0 1991 1992 1993 1994* nicht. „Gegen mich aufzuste- 4,8 hen“, höhnte der Konzern- chef in einem Interview mit der Zeitung Die Woche, „trauen sie sich nicht.“ Da hat sich Pie¨ch offenbar getäuscht. Eine Gruppe von 1991 19921993 1994* 1991 1992 1993 1994* –1,94 *geschätzt Volkswagen-Managern will den eigenwilligen Führungs- stil des Chefs nicht länger schweigend ses Jahres will er die Gewinnschwelle er- ter als Gesprächs- und Geschäftspartner hinnehmen. reichen, mit einer Reihe neuer Modelle gemieden. „Den Aderlaß“ an Managern, schrie- und verbesserter Qualität will er dann Im Volkswagen-Konzern leben die ben die VW-Mitarbeiter an den Auf- Volkswagen international ganz nach Führungskräfte in der ständigen Angst, sichtsratschef Klaus Liesen, „kann unser vorn bringen. aus nichtigem Anlaß entlassen zu wer- Haus nicht mehr lange aushalten“. Der Was er bisher geleistet hat, kann sich den. „Eine Automobilfirma in unserer Konzern werde „von einem Mann mit sehen lassen – zumindest auf dem Pa- Situation“, klagen VW-Manager, „kann psychopathischen Zügen ,geführt‘“ pier. In Wirklichkeit aber sind die Erfol- sich eine solche Managementlähmung (siehe Seite 94). ge keineswegs so beeindruckend, wie nicht lange leisten.“ Der Hilferuf trifft bei einigen Auf- Pie¨ch sie darstellt. Im Aufsichtsrat wächst die Zahl der- sichtsräten durchaus auf Verständnis. Das ausgeglichene Ergebnis, das der jenigen, die dies ähnlich sehen. Mit sei- Sie fragen sich schon seit geraumer Zeit, Konzernchef in diesem Jahr erreichen ner pauschalen Kritik an Wolfsburger ob Pie¨ch der richtige Mann ist, um Eu- will, basiert nur zum geringsten Teil auf Führungskräften hat Pie¨ch offenbar ropas größten Autokonzern aus der Kri- einer höheren Produktivität. Es ist überzogen. Klaus Liesen drohte dem se zu führen. hauptsächlich das Ergebnis drastisch ge- VW-Vorsitzenden bereits Konsequen- Daß bei dieser gewaltigen Aufgabe kürzter Investitionen (siehe Grafik) und zen an. Opfer unumgänglich sind, war auch dem der Vier-Tage-Woche, durch die vor- Wenn er seine Mitarbeiter noch ein- Aufsichtsrat klar, als er den ehemaligen übergehend Personalkosten eingespart mal öffentlich diffamiere, ließ er Pie¨ch Audi-Chef verpflichtete. werden. wissen, müsse er mit seiner Entlassung Ferdinand Pie¨ch sollte, zusammen mit Pie¨chs Zahlenbluff geht vielen Mana- rechnen. Das könne dann ebenso dem von General Motors abgeworbenen gern zu weit. „Lassen Sie sich nicht täu- schnell geschehen, wie er sich von sei- Chefeinkäufer Ignacio Lo´pez, im ange- schen“, heißt es in ihrem Brief an Auf- nen Führungskräften getrennt habe. schlagenen VW-Konzern gründlich auf- sichtsrat Liesen. Die Schäden der Ära Pie¨ch steckte die Ermahnung weg, als räumen. Pie¨ch seien „viel größer als die Erfolge“. sei nichts geschehen. Er scheint sich si-

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cher, daß niemand ihn aus So wirken viele der Sanie- seinem Büro im 13. Stock- rungserfolge bei näherem werk der VW-Zentrale zu Betrachten wesentlich be- vertreiben vermag, solange scheidener. Daß Pie¨ch mit er Erfolge vorweisen kann. einem Grundübel aus alten Stolz erzählt der Porsche- VW-Zeiten, der teuren Mo- Enkel, mit welchen Metho- dellvielfalt, noch nicht auf- den er, zusammen mit Igna- geräumt hat, kann ihm aller- cio Lo´pez, Volkswagen wie- dings niemand anlasten: Die der flottmacht. Der Techni- Nachfolge-Fahrzeuge kom- ker Pie¨ch sorgt dafür, daß men erst in einigen Jahren die Modelle von VW, Audi, auf den Markt. Sˇkoda und Seat künftig nicht Doch der VW-Chef mehr mit verschiedenen braucht Erfolge, und zwar Plattformen und Motoren schnell. So halbierte er ein- ausgestattet werden. Glei- fach die Investitionen von che Teile sollen die Kosten 9,3 auf 4,8 Milliarden Mark, senken. Sein Partner Lo´pez das spart natürlich eine bringt die Fabriken auf Vor- Menge Geld. dermann und preßt den Zu- Der Schaden, den Pie¨chs lieferern niedrigere Preise rigoroser Führungsstil bisher ab. schon in Wolfsburg anrichte- Wahre Wunder haben die te, läßt sich dagegen nicht in beiden bereits vollbracht. So Mark beziffern. Auf Dauer sehen sie es jedenfalls selbst. aber dürfte er alle Sparerfol- Im Wolfsburger Manage- ge mehr als aufwiegen. ment nimmt kaum noch je- Demotivierte, ja veräng- mand die ständigen Superla- stigte Mitarbeiter im Kon- tive ernst. zern; verärgerte, ja verprell- Natürlich hat Lo´pez die te Partner in der Automobil- Einkaufspreise gesenkt. industrie – in einer Welt, die Aber das haben die Manager zunehmend auf Teamarbeit bei Ford, BMW und Merce- setzt, wird Pie¨ch zum einsa- des-Benz auch, und sie wa- men Kämpfer: einer gegen ren kaum weniger erfolg- alle. reich. Allenfalls im Präsen- Die Branche geht auf Di- tieren seines Erfolgs ist Lo´- stanz, nicht nur zu Pie¨ch, pez ein einsamer Meister. sondern auch zum Volkswa- Besonders merkwürdig gen-Konzern. Pie¨chs Vor- sind die Methoden, mit de- gänger Carl Hahn hatte mit nen Lo´pez ermittelt, wie Toyota die Gemeinschafts- stark er die Produktivität er- produktion eines Pickups im höht hat. 6766 Workshops Werk Hannover vereinbart. hat er angeblich in den VW- VW sollte so Einblick in ja-

Werken, bei Zulieferern und P. SCHIRNHOFER / FOCUS panische Montagetechniken Händlern eingerichtet. Die VW-Manager Pie¨ch, Lo´pez: Das Duo hat völlig freie Hand bekommen. Seit Pie¨ch in Beschäftigten diskutieren in Wolfsburg regiert, gibt es sogenannten KVP-Kreisen (Kontinuier- duktionsvorstand meldete wegen der Ärger mit Toyota. Die Japaner lösen licher Verbesserungs-Prozeß), wie sie hohen Produktivitätssteigerung für das deshalb ihr Büro in Hannover auf. besser und schneller arbeiten können. Werk Wolfsburg einen „Personalüber- Mit Ford baut VW eine Fabrik in Por- Allein im vergangenen Jahr, behauptet hang“ von 5000 Beschäftigten. Als tugal, gemeinsam entwickeln die beiden Lo´pez, sei die Produktivität in den VW- Hartz mehrere hundert Arbeiter für ein Konzerne eine Großraumlimousine. Fabriken dadurch um 20 Prozent gestie- anderes Werk abziehen wollte, war al- Doch der Partner in Köln ist irritiert. gen. lerdings keiner entbehrlich. Fords Europa-Chef Albert Caspers er- Mathematisch mag die Zahl durchaus „Wir gehen jetzt zusammen ins Preß- fuhr aus der Zeitung, daß Pie¨ch die ver- stimmen. Der Baske addiert einfach die werk“, forderte er seinen Kollegen einbarten Produktionsziele für unreali- Produktivitätssteigerungen, die aus den Weißgerber auf, „dort zeigen Sie mir stisch hält. „Was will Pie¨ch, will er aus- einzelnen Workshops gemeldet werden. den Personalüberhang.“ In dem Back- steigen?“ rätselt Caspers nun. In der Automobilmontage aber baut steinbau erfuhren die beiden Vorstände Seltsame Erfahrungen machte auch ein Arbeitsgang auf dem nächsten auf. den Unterschied zwischen den Zahlen Mercedes-Benz mit dem VW-Chef. Die Das Tempo richtet sich nach der lang- und der Realität. Stuttgarter hatten mit dem Lieferanten samsten Gruppe. Wenn ein Workshop Ein Arbeitsbereich mit 64 Beschäftig- ZF Friedrichshafen und VW die Grün- seine Produktivität theoretisch um 30 ten hatte gemeldet, daß 8 Arbeiter nicht dung einer Gemeinschaftsfirma verein- Prozent erhöhen könnte, nutzt dies mehr benötigt würden. Als Hartz wissen bart, in der Lenkungen hergestellt wer- kaum etwas, wenn die Kollegen am wollte, wer denn abkömmlich sei, den sollten. Kurz vor der Vertragsunter- Band hinter ihnen mit dem alten Tempo druckste der Vorgesetzte herum. Nun zeichnung legte Pie¨ch sich quer. Nun weitermachen. ja, einer müsse hier aushelfen, sagte er, verhandelt Mercedes mit Renault. Die Personalchef Peter Hartz bekam des- ein anderer dort nacharbeiten. Eigent- Franzosen gelten als verläßlich. halb einen handfesten Streit mit seinem lich sei kein einziger aus seiner Truppe Die meisten Vorstände in der Auto- Kollegen Folker Weißgerber. Der Pro- verzichtbar. mobilindustrie beobachten das Trei-

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WIRTSCHAFT

ben in Wolfsburg wie Geschichten aus einer fremden Welt. Viele Per- sonalentscheidungen des VW-Chefs, wie der Rausschmiß des Finanzvor- „Wie ein Rittergut“ stands Werner Schmidt, lassen sich nur als persönliche Racheakte er- VW-Manager beklagen Pie¨chs Führungsstil klären. Pie¨ch hatte sich schon in seiner Zeit als Audi-Chef über Schmidt geärgert. In einem Brief an den Aufsichts- Der war damals im Konzern für den ratsvorsitzenden Klaus Liesen be- Vertrieb verantwortlich und verhinder- schweren sich Manager des VW- te, daß Pie¨ch ein eigenes Händlernetz Konzerns über ihren Chef Ferdi- für Audi aufbauen konnte. So etwas nand Pie¨ch. Auszüge: vergißt ein Ferdinand Pie¨ch nie. Ande- re Verhaltensweisen Pie¨chs können ir mögen die Tatsache, daß nicht einmal wohlmeinende Beobach- wir anonym bleiben müssen, ter rational erklären. Wnicht, aber die derzeitige Si- Einen einleuchtenden Grund, warum tuation hier in Wolfsburg läßt uns der VW-Chef ausgerechnet jetzt mit ei- keine andere Wahl . . . ner Räubergeschichte über Wanzen in Herr Dr. Liesen, dieses Unter- seinem Telefon an die Öffentlichkeit nehmen wird von einem Mann mit ging, gibt es jedenfalls nicht. Wie sich psychopathischen Zügen „geführt“. die Geschichte vor mehr als einem Alle kreativ und selbständig arbei- Jahr wirklich zutrug, weiß bei Volks- tenden Führungskräfte werden ent- wagen jeder. weder von ihren Positionen ent- An Pie¨chs Privattelefon sollte vor ei- fernt, begeben sich in die innere nem Jahr ein Tonbandgerät ange- Emigration oder kündigen, wie ge- schlossen werden. Der Werkschutz rade letzte Woche der Leiter des wollte, daß der Chef, wie seine Vor- Unternehmensbereiches Nutzfahr-

zeuge. Herr Pie¨ch sammelt eine K. STRAUBE Gruppe von Ja-Sagern um sich und VW-Kontrolleur Liesen „Manches Verhalten glaubt damit ein Weltunternehmen Hilferuf aus Wolfsburg grenzt schon an führen zu können . . . Herr Pie¨ch entläßt gute Füh- Pie¨ch-Regime läßt dies nicht zu, es Verfolgungswahn“ rungskräfte, ohne sich über den ist auf stumpfes Gehorchen ausge- ständigen Aderlaß an „Know-how“ richtet und nicht auf kreative Er- standskollegen auch, mögliche anonyme und Führungsfähigkeit Gedanken neuerung durch eine mitdenkende Drohanrufe mitschneiden konnte. zu machen. Den Aderlaß kann un- Führungsmannschaft. Wider besseres Wissen nutzt Pie¨ch ser Haus nicht mehr lange aushal- Eine Automobilfirma in unserer jetzt die alte Geschichte, um seine Lieb- ten, weil von außerhalb keine Situation kann sich eine solche Ma- lingsthese, es gebe eine Verschwörung brauchbaren Manager mehr bereit nagementlähmung nicht lange lei- gegen ihn, zu belegen. „Manche Verhal- sind, für VW zu arbeiten. Unser sten, ohne tiefgreifende Schäden da- tensweisen von Pie¨ch“, sagt ein VW- Unternehmen hat durch Herrn vonzutragen. Aufsichtsrat, „grenzen schon an Verfol- Pie¨ch ein schlechtes Image bekom- Herr Dr. Liesen, lassen Sie sich gungswahn.“ men. Auch ehemals befreundete nicht täuschen von den Berichten Konsequenzen wird Pie¨chs Führungs- Firmen, wie Ford und Toyota, wer- über die Anfangserfolge der Ära stil vorläufig nicht haben. Die Kontrol- den zunehmend durch Herrn Pie¨ch Pie¨ch. Leider sind die Schäden viel leure stehen vor einem Dilemma: Sie vor den Kopf gestoßen, von Gene- größer als die Erfolge. Sie sind aller- zweifeln zwar daran, daß der Krisenma- ral Motors ganz zu schweigen. dings nicht so leicht zu erkennen – nager Pie¨ch auch der richtige Mann ist, Eine Firma, für die keine guten wenn sie erst für jedermann erkenn- um den Konzern in besseren Zeiten zu Manager mehr arbeiten wollen, bar sind, dann sind sie auch irrepara- führen. bringt sich in große Gefahr für die bel! . . . Doch sie können Pie¨ch nur schwer er- Zukunft. Das gleiche gilt für Fir- Machen Sie Herrn Pie¨ch klar, daß setzen, denn sie haben ihm den Volks- men, die keine Kooperationspart- ein Weltkonzern nicht wie ein Rit- wagen-Konzern fast völlig ausgeliefert. ner mehr finden! tergut mit Leibeigenen zu führen ist. Nach dem Kahlschlag im Management Die größte Gefahr geht von der Wenn er sein Verhalten nicht än- gibt es keinen Vorstand mehr, der das Passivität der Führungsmannschaft dert, ist er für den Posten des Vor- Format zur Führung des Unternehmens aus, die naturgemäß nur noch an standsvorsitzenden nicht geeignet. besitzt. Posten-Sicherung und Durchhalten Sein Charakter erfüllt nicht die Er- Ferdinand Pie¨ch arbeitet deshalb un- bis zur Nach-Pie¨ch-Ära denkt. Hier fordernisse für diese wichtige Positi- beirrt weiter. Trotz der Ermahnung möchten wir anmerken, daß die on... durch Aufsichtsratschef Liesen bereitet Opposition gegen Pie¨ch sich nicht Wir wissen, daß Änderungen bei er in Wolfsburg die zweite Säuberungs- nur auf „Feiglinge“ und Leute be- Volkswagen notwendig waren und welle vor. Nun sollen einige Kritiker in zieht, die keine Änderungen wol- sind – wir wissen aber auch, daß dik- der zweiten Führungsebene hinausge- len. Wir sehen die Notwendigkeit tatorischer Führungsstil ohne Über- drängt werden. von Veränderungen und wollen die- zeugung der Mannschaft der falsche Hat er Erfolg, dann wird es künftig se auch aktiv unterstützen. Das Weg ist. wohl keinen mehr geben, der sich über den VW-Chef beim Aufsichtsrat be- schwert. Y

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Arbeitnehmer „Mami, was wird sein, wenn ich groß bin?“ Michael Schmidt-Klingenberg über den Unmut der Eko-Arbeiter

er Vorstand des Eko-Stahlwerks viel. Erst sprang der italienische Inve- hat eilig einen Parka für Günter stor Emilio Riva ab. Dann tauchte zwar DRexrodt herbeigeschafft, denn der ein neuer Interessent, der belgische Wirtschaftsminister war allzu leicht be- Stahlkonzern Cockerill Sambre, auf. kleidet im Hubschrauber der Luftwaffe Aber da fielen der französischen und an der zugigen Ostgrenze der Europäi- der britischen Regierung plötzlich aller-

schen Union eingeschwebt. hand Fragen zum Subventionsbedarf D. KONNERTH / LICHTBLICK Etwas knapp ist die Jacke für den lan- der Eisenhüttenstädter ein, die Zustim- Minister Rexrodt in Eisenhüttenstadt gen Politiker wohl, aber Eko-Chef mung des EU-Ministerrats zur Privati- „Ich werde ein Konzept durchboxen“ Hans-Joachim Krüger findet ihn nun gut sierung zum Jahresende ist nicht mehr eingepackt: „Das ist ein russisches Fell.“ sicher. Die Franzosen und die Briten kommt die bisher letzte Drehung im Östlich eingemummt steht Rexrodt pokern nun ihrerseits um mehr Subven- Drama um Eko zum Beispiel Uwe Sta- also am Freitag vergangener Woche in tionen. Aber für solche Brüsseler Spiele nislawski, 32, vor. Es war doch „alles in Eisenhüttenstadt auf dem blauen An- haben die Eisenhüttenstädter sowenig Back und Tüten“, meint der schwerge- hänger Nummer 338 der Beschäfti- Verständnis wie früher für die des Polit- wichtige Meister der Längsteilanlage im gungsgesellschaft Gem und blickt auf ei- büros. Kaltwalzwerk. Die jüngste Brüsseler ne Versammlung von ein paar hundert Eine Angestellte aus dem Kaltwalz- Entwicklung empfindet er als „Schuß in Eko-Werkern herab. Den Besuch hatte werk erzählt herzrührend von ihrer sie- den Rücken“. er dem Betriebsrat schon vor Wochen benjährigen Tochter, die abends fragt: Fünfzehn Jahre, sein bisheriges Ar- versprochen. Da hoffte er wohl noch, er „Mami, was wird sein, wenn ich mal beitsleben, hat Stanislawski bei Eko ver- könne gute Nachrichten überbringen. groß bin?“ Und Azubi Thomas Mahn, bracht, seine Frau war bei Eko und ist Richtig warm wird der gerade wieder genannt Bruno, findet „das ganze Rum- nun in der Beschäftigungsgesellschaft ins Amt gerutschte Liberale hier nicht. geeiere mit der Privatisierung irgendwie auf dem Weg in die Arbeitslosigkeit. Rexrodt müht sich, in die riesigen Box- Scheiße“. Beide sind in Eisenhüttenstadt geboren, handschuhe mit dem Aufkleber „Eisen- Der Minister grinst solidarisch, haben ein Kind hier in die Welt gesetzt. hüttenstadt muß leben“ zu schlüpfen. kommt aber einfach nicht in die Boxer- In einer für Ortsfremde schwer ver- Die hat ihm der Betriebsratsvorsitzende Fäustlinge rein. Fröstelnd ballt er die so ständlichen Weise hängen sie an der ein- Wolfgang Ramthun gerade zur Begrü- dringlich geforderte Faust vor dem stigen Stalinstadt an der Oder, der „er- ßung überreicht, und brav versprach der Mund zusammen und versucht, sich an sten sozialistischen Stadt auf deutschem Minister, „ein vernünftiges Konzept seinem eigenen Atem zu erwärmen. Boden“. Obwohl der Meister mit seinen durchzuboxen“. Was da mit dem Stahlwerk gespielt neuerworbenen bundesdeutschen Zerti- Das versucht er nun schon lange, aber wird, ist für die meisten Kumpel „ein fikaten auch im Westen eine Chance gebracht hat es den Leuten nicht sehr undurchsichtiges Schattenspiel“. So hätte, ist er „entschlossen, an diesem Platz zu bleiben“. So anhänglich sind nicht alle. Über 5000 Eisenhüttenstädter haben nach der offiziellen Statistik schon den Ort ver- lassen, massenweise stehen Wohnungen leer. „Was willst du hier noch?“ fragte auch Gerhard Jäschke, 46, seinen Sohn, als der einen Lehrplatz in Eisenhütten- stadt suchte: „Nun lernt der Bengel Koch in Nürnberg.“ Der Schichtführer in der Glüherei glaubt an gar nichts mehr. Lässig klickt er in Blaumann und Filzpantoffeln die Maus am Computer des Meßstandes, der gerade vor einem Jahr auf den neue- sten Stand gebracht wurde. Aber eine Perspektive sieht er nicht, jedenfalls kei- ne gute: „Die brechen uns einen Finger nach dem anderen.“

LICHTBLICK Eigentlich lohnt es sich gar nicht, auf die Betriebsversammlung mit dem Mini-

S. SAUER / ster zu gehen, glaubt Jäschke. „Was sol- Eko-Werk in Eisenhüttenstadt: „Die brechen uns einen Finger nach dem anderen“ len die Politiker schon sagen? Sie wer-

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den sich anstrengen“, vermutet er, „und Versammlung eingeladen hat. „Was da Schiff gemacht wird“. Seine Forderung ausgehen wird es wie dieses Schießen da, abgelaufen ist, sollen mal die erklären, an die hohe Politik ist schlicht und doch in Hornberg.“ Dann trottet Jäschke aber die dabei waren. Ich war nicht verant- so schwer zu erfüllen: „Ich möchte mei- doch mit den anderen zum Parkplatz hin. wortlich für diesen Mist.“ nen Arbeitsplatz behalten.“ Natürlich nur, um zu hören, daß er recht Rexrodt ist in diesem Fall auch nicht Kropp ist zu jung für den recht aus- hat. verantwortlich. Aber er steht da oben kömmlichen Vorruhestand mit 54 Jah- Und wie recht er hat. „Wir sind im Ge- auf der Pritsche im Parka als glückloser ren und zu alt für einen neuen Job. Aber spräch“, sagt der Minister. „Wir haben Bote aus einer Welt, die in Eisenhütten- wenigstens um seine beiden Kinder muß gute Chancen“, sagt er. „Schulterschluß stadt kaum einer versteht. er sich keine Sorgen machen. Die Toch- ist angesagt“, sagt er. Und dann sagt er „Das ist hohe Politik, da blicken wir ter studiert Betriebswirtschaft. Der ein bißchen noch die Wahrheit: „Das ist nicht durch“, meint Erich Kropp, 52. Sohn, ein ehemaliger Besamungstechni- noch nicht der volle Durchbruch.“ Der Meister aus dem Kaltwalzwerk, wo ker, hat auch wieder einen Beruf mit Betriebsratschef Ramthun hat schon die Bleche etwa für Autos produziert Zukunft gefunden. Er arbeitet jetzt auf gewußt, warum er den Minister zu dieser werden, will, „daß endlich mal klar dem Friedhof von Eisenhüttenstadt. Y

Briefmarken se; deshalb könne jeder begabte Drucker die kleinen Wertpapiere fälschen. Die „Sehenswürdigkeiten“ wer- Ständig den in der Bundesdruckerei im so- genannten indirekten Hochdruck hergestellt. Dabei wird die Farbe – verfeinert ähnlich wie beim Offset – nicht di- rekt auf das Papier gebracht, son- Russische Fälscher drucken dern zunächst auf einen mit einem deutsche Briefmarken. Wird es Gummituch bespannten Zylinder übertragen. Der wesentliche Unter- ihnen zu leicht gemacht? schied zum teureren Tiefdruck: Die bedruckte Fläche ist völlig glatt, ie Dinger sehen aus wie echt: beim Tiefdruck kann sogar ein Laie Sie fluoreszieren ein bißchen, die erhabenen Konturen auf der Dund die richtige Zahl von Marke erkennen. Zähnen haben sie auch, nämlich 14 Vom Porträt des Bundespräsi- Gefälschte Marke auf 2 Zentimetern. denten Gustav Heinemann (Amts- 20 Prozent billiger Und doch sind sie gefälscht – zeit: 1969 bis 1974), sagt Schlegel, deutsche Briefmarken, von russi- seien selbst 5-Pfennig-Marken noch Die Bundesdruckerei in Berlin, schen Künstlern nachempfunden im Tiefdruck hergestellt worden. die für die Post jährlich 4,7 Milliar- und in guter Qualität gedruckt. Sie Überhaupt, findet der Fachmann, den Briefmarken liefert, will solche sind den Originalen so täuschend seien die Marken früher besser Vorwürfe nicht hinnehmen. „Wenn ähnlich, daß ein Laie sie nicht als gegen Fälscher gesichert worden. Fälschungen auftauchen“, sagt Joa- Importgut erkennen kann. „Zu Kaisers Zeiten“, so Schlegel, chim Schulz-Heisel, Sprecher der Die ersten Fälschungen tauchten „gab es sogar noch Wasserzei- Druckerei, „bleibt keiner ruhig.“ zuerst in Berlin auf, zumeist in chen.“ Die Sicherheitsmerkmale – zum Bei- Blöcken von fünf oder zehn Stück. spiel bei den Farben oder beim Pa- Sie wurden Markenhändlern 20 pier – würden ständig verfeinert. Prozent unter Nennwert angeboten. Auch die Bundespost, die inzwi- Kopiert werden Marken der Se- schen wegen der russischen Fäl- rie „Sehenswürdigkeiten“, die vor schungen die Kripo eingeschaltet allem interessante Gebäude in hat, weist den Vorwurf zurück, das Deutschland darstellt: die russische Druckverfahren könnte kriminelle Kirche in Wiesbaden etwa, die Kopierer ermuntern. Sie lasse ihre Staatsoper Dresden oder das Ham- Marken auf verschiedene Weise fer- bacher Schloß. Der Nominalwert tigen, und bei keinem Verfahren lie- der gefälschten Stücke reicht von ßen sich Fälschungen verhindern – einer bis zu fünf Mark. selbst Banknoten würden schließlich Nach Ansicht von Experten wird mit moderner Technik leicht kopiert. den Fälschern das Handwerk allzu Der Postdienst sieht das Problem sehr erleichtert. „Jedes zivilisierte bei den Händlern. Die müßten die Land druckt bessere Marken als die Fälschungen leicht erkennen und Bundesrepublik“, sagt Hans-Georg dürften sie nicht akzeptieren. Schlegel, Verbandsprüfer des Bun- Das Problem könnte sich auswach- des Deutscher Philatelisten. Schle- sen: Fachleute meinen, die Russen

gel moniert, daß die Bundespost P. LANGROCK / ZENIT testeten gerade erst den Markt und selbst teure Marken in einem billi- Markenexperte Schlegel kämen bald mit größeren Men- gen Druckverfahren herstellen las- „Jedes Land druckt bessere“ gen.

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SPIEGEL-Gespräch „Wir wurden getäuscht“ Deutsche-Bank-Vorstand Ronaldo Schmitz über das Debakel bei der Metallgesellschaft

SPIEGEL: Herr Schmitz, wie fühlt sich scheidenen Niveau herkommend in ge- zwischen herausgestellt hat, lücken- ein Bankier und Aufsichtsratschef, waltige Dimensionen aufgeschaukelt. haft. Und zweitens bekamen wir auf wenn ihm vorgeworfen wird, er habe die Das fiel zu allem Unglück genau zwi- meine gezielte Frage in der Aufsichts- Geschäfte bei der Metallgesellschaft schen zwei Berichtstermine. Nach den ratssitzung am 19. November vergan- nicht richtig verstanden? Erläuterungen des Managements war genen Jahres, ob im Konzern noch Schmitz: Es ist dem Aufsichtsrat sogar die wahre Lage nicht zu erkennen. über gravierende Risiken zu berichten vorgeworfen worden, er habe damals im SPIEGEL: Fühlen Sie sich an der Nase wäre, von Herrn Schimmelbusch eine Dezember 1993 in Panik gehandelt. herumgeführt? ebenso klare Antwort. Die lautete: Nichts liegt weiter weg von der Realität. Schmitz: Wir sind schlichtweg getäuscht Nein. Der Aufsichtsrat hat sehr nüchtern und worden. Erstens waren die mir überlas- SPIEGEL: Schimmelbusch sah offen- abwägend gehandelt. Innerhalb von 14 senen Vorstandsprotokolle, wie sich in- sichtlich nur ein Liquiditätsproblem. Tagen hat er einen weitgehend neu be- setzten Vorstand präsentiert. Der hatte dann zügig die Entscheidungen zur Ret- tung des Unternehmens getroffen. Inso- fern berühren mich die Vorwürfe nicht. SPIEGEL: War die Lage bei der Metall- gesellschaft so verzweifelt, daß über- stürzt gehandelt werden mußte? Schmitz: Verzweifelte Lage, ja, aber überstürzt gehandelt – nein. Am 3. De- zember 1993 kam Herr Schimmelbusch, der damalige Vorstandsvorsitzende, zu mir, am Nikolaustag noch einmal mit Kollegen. Es war relativ schnell erkenn- bar, daß die Metallgesellschaft ihre ge- samten liquiden Ressourcen verbraucht hatte. Die Gesamtverschuldung lag bei neun Milliarden Mark. Fazit der Beichte des Managements war: Die Metallge- sellschaft sah sich nicht mehr in der La- ge, im Markt zu reagieren. Es gab keine Möglichkeit mehr, Kredite zu nutzen und sich neue Mittel zu beschaffen. SPIEGEL: Wie konnte das von heute auf morgen passieren? FOTOS: M. DARCHINGER Schmitz: Nicht von heute auf morgen. Bankier Schmitz: „Die Vorwürfe berühren mich nicht“ Die Verantwortlichen bei der Metallge- sellschaft hatten in den Monaten vor Herbe Kritik kurzfristige Terminkontrakte gesi- diesem 3. Dezember intensiv daran ge- chert. Als der Ölpreis fiel, mußten sie arbeitet, alle liquiden Mittel des Unter- mußte sich Ronaldo Schmitz gefallen für die Sicherungsgeschäfte Geld nehmens zu mobilisieren und sie nach lassen, als die Metallgesellschaft nachschießen und gerieten in Schwie- Amerika zu schaffen. (MG) im Dezember vergangenen Jah- rigkeiten. Neue Mittel wollte der Auf- SPIEGEL: Und der Aufsichtsrat bemerk- res in Schwierigkeiten geriet. sichtsrat jedoch nicht bewilligen. Kriti- te nichts. Schmitz, 56, Vorstandsmitglied der ker in den USA wie der Ökonom Merton Schmitz: Er war nicht informiert wor- Deutschen Bank, hätte als MG-Auf- Miller, ein Nobelpreisträger, werfen den. Gelegenheit, mit dem Aufsichtsrat sichtsratsvorsitzender – so seine Kri- Schmitz vor, er habe die Geschäfte über die prekäre Entwicklung zu spre- tiker – früher merken müssen, daß nicht verstanden und gerade durch chen oder etwas zu beichten, hatte der die Firma in den USA riskante Ölge- übereilte Verkäufe bei der Metallge- Vorstand in überreichem Maße. schäfte in großem Umfang betrieb. sellschaft hohe Verluste verursacht. SPIEGEL: Wie ist es möglich, daß dem Im Dezember sah der Aufsichtsrat die Schmitz kam 1990 vom Chemiekon- Aufsichtsratsvorsitzenden nicht auffiel, Metallgesellschaft in einer existenz- zern BASF zur Deutschen Bank. Er wie abgeräumt wurde? bedrohenden Liquiditätsklemme. MG- übernahm im März 1993 den Vorsitz Schmitz: Das Debakel hat sich ja inner- Chef Heinz Schimmelbusch wurde im Aufsichtsrat der Metallgesell- halb weniger Monate von einem be- fristlos gefeuert, die Ölkontrakte wur- schaft. Er wird künftig für das Invest- den mit großen Verlusten liquidiert. mentbanking verantwortlich sein, das Die Ölhändler der MG in den USA hat- die Deutsche Bank über London ver- Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Peter Bölke und Rudolf Wallraf in seinem Büro in ten langfristige Lieferverträge über stärkt betreiben will. Frankfurt am Main.

DER SPIEGEL 47/1994 97 WIRTSCHAFT

Schmitz: Die Erschöpfung der liquiden res betrug das Volumen im Ölgeschäft konnte sie aber nicht kurzfristig reali- Mittel stellt in jedem Unternehmen 19 Millionen Barrel. Am Ende waren sieren, wenn sie denn überhaupt reali- Alarmstufe eins dar. Das sollte niemand es rund 160 Millionen Barrel, ein für sierbar waren. verniedlichen. Es wurde uns jedenfalls die Metallgesellschaft existenzgefähr- SPIEGEL: Dann war es doch nur eine schnell deutlich, daß die Beschaffung dendes Volumen. Damals fiel die Aus- Frage der Zeit. Überbrückungskredite neuer liquider Mittel nicht möglich sein sage: Wäre dies die Ölposition der hätten geholfen. würde. Je mehr dann über die Ölge- Shell – du großer Gott! Schmitz: Es waren gravierende Fragen schäfte bekannt wurde, um so mehr war SPIEGEL: Hilmar Kopper, der Vor- zu klären. Bekomme ich dieses Geld, klar, daß es auch ein ganz gravierendes standssprecher der Deutschen Bank, das ich jetzt auf den Tisch lege, eines Ertragsproblem geben würde. Die Wirt- meinte damals, die Firma habe ein rei- Tages von meinen Kunden wieder? Da schaftsprüfer rieten dringend zu einer nes Liquiditätsproblem. gab es Zweifel. Wann bekomme ich vorsichtigen Bilanzierung. Die Dinge Schmitz: Das war der Erkenntnisstand dieses Geld wieder? Das kostet Zin- nahmen den bekannten Lauf. vom 7. Dezember. Auch ich hatte kei- sen. Sind die Verträge, die ich mit die- SPIEGEL: Die Kreditlinie von 1,5 Milli- nen anderen. sen Kunden habe, wasserdicht? Viele arden Mark eines Bankenkonsortiums SPIEGEL: Kritiker wie der amerikani- waren es nicht. In der Summe der Pro- hätte helfen können. Warum wurde sie sche Ökonom Merton Miller behaup- bleme und der Kürze der Zeit war das nicht in Anspruch genommen? ten, mit etwas mehr Geduld wäre alles nicht zu lösen. Schmitz: Ich muß mit einem SPIEGEL: So honorige Kun- Irrtum aufräumen. Die Kre- den wie Chrysler oder Coca- ditlinie war als Auffanglinie Cola lassen doch keine Ver- für ein Commercial Paper träge platzen. Program der Metallgesell- Schmitz: Ein beachtlicher schaft, einer Art kurzlaufen- Teil der Kunden hatte flexi- der Anleihe, gedacht. Über- ble Verträge und konnte die dies gab es eine wesentliche Annahme vertraglicher Lie- Bedingung: Wenn sich die ferungen bis zu zehn Jahre Lage der Gesellschaft gra- hinausschieben. Bei anderen vierend verschlechtern soll- Kunden war die Kreditfähig- te, durfte der vereinbarte keit und die Solvenz nicht so Kredit nicht ohne weiteres schnell zu ermitteln. genutzt werden – die Ban- SPIEGEL: Sind solche Ge- ken mußten ausdrücklich zu- schäfte üblich? stimmen. Schmitz: Das System, lang SPIEGEL: Im Zeitalter des laufende Terminkontrakte Telefax doch kein Problem. mit kurzfristigen Terminge- Schmitz: Das war in der schäften abzusichern, ist kei- Dramatik der Entwicklung neswegs üblich. nicht möglich. Die Zustim- SPIEGEL: Arthur Benson, mung von über 40 Banken der gefeuerte Ölhändler der wäre nicht zu erhalten gewe- „Die Erschöpfung der liquiden Metallgesellschaft in den sen. Und vergessen Sie nicht Mittel stellt Alarmstufe eins dar“ USA, galt als Spezialist. Er die Zweckbindung des Kre- behauptet, Ihnen schon im dites. So kam es dann zu ei- Sommer letzten Jahres das ner von der Deutschen und der gutgegangen. Die Metallgesellschaft System und das Risiko der Geschäfte Dresdner Bank gemeinsam gewährten hätte nicht ihre Perlen verkaufen und verständlich gemacht zu haben. neuen Kreditlinie, allerdings unter ver- Arbeitsplätze abbauen müssen. Schmitz: Das war keineswegs so. Ich schärften Konditionen. Schmitz: Das ist doch nicht wahr. Mil- war im Juli 1993 in New York und ha- SPIEGEL: Warum wurden Hilfsangebote ler ging unter anderem von der fal- be dabei auch die US-Tochter der Me- etwa der Chemical Bank nicht akzep- schen Voraussetzung aus, daß die Kre- tallgesellschaft besucht. Über die De- tiert? ditlinie nicht zweckgebunden war. Die tails des Ölgeschäfts wurde sehr kurso- Schmitz: Wir warteten doch begierig, Liquidität war erschöpft; weitere Ver- risch hinweggegangen. Bei mir wurde Angebote zu bekommen. Eine Weile schuldung nur unter stringenten Bedin- der Eindruck erweckt, daß alles zum hatten wir sogar die Hoffnung, daß es gungen möglich. Außerdem war die besten bestellt sei. gelingen könnte, das Geschäft in toto Metallgesellschaft Verpflichtungen ein- SPIEGEL: Zu diesem Zeitpunkt war un- abzustoßen. Es gab aber niemanden, gegangen, die sehr schwer zu bewerten ter Ölhändlern längst bekannt, daß die der die Risiken übernehmen wollte. waren. Metallgesellschaft ein zu großes Rad SPIEGEL: Die Kuweiter hätten als größ- SPIEGEL: Was für Verpflichtungen? drehte. ter Einzelaktionär die Verpflichtungen Schmitz: Beispielsweise Terminkon- Schmitz: Im nachhinein läßt sich so et- übernehmen können. trakte, in denen Lieferungen von Ben- was immer leicht behaupten. Bis De- Schmitz: Ein prominenter Vertreter Ku- zin, Diesel oder Heizöl zu einem spä- zember 1993 war auch in keiner mir weits sitzt im Aufsichtsrat. Er hatte teren Zeitpunkt und zu einem festen zugänglichen Publikation darüber et- reichlich Gelegenheiten, Fragen aus Preis vereinbart waren. Zur Risikoab- was zu lesen. dem Gremium, ob er nicht helfen kön- sicherung wurden gegenläufige Kon- SPIEGEL: Sie wollen damit vorsichtig ne, zu beantworten. trakte kurzfristiger Art abgeschlossen. ausdrücken, der Aufsichtsrat habe SPIEGEL: Wurde bei der Metallgesell- Sie verpflichteten die Metallgesell- nicht geschlafen. schaft wild spekuliert, oder hat sich da schaft zur Abnahme von Öl. Als die Schmitz: Sie sollten bei Ihrem vorsich- einer bei normalen Geschäften nur ein Preise fielen, mußte die Metallgesell- tigen Vorwurf berücksichtigen, daß die bißchen verkalkuliert? schaft für die Absicherungsverträge Metallgesellschaft eine Fülle gravieren- Schmitz: Verkalkuliert ist wohl ein Geld nachschießen. Ihre Gewinne bei der Probleme mit sich herumschleppte: Witz. Am Anfang des Geschäftsjah- den langfristig angelegten Verträgen Schiess, Kolbenschmidt, Hütten. Wäh-

98 DER SPIEGEL 47/1994 .

rend der Aufsichtsrat im Inland gut be- sten Jahre mit auf den Weg gegeben schäftigt war, drehte jemand in New wurde. York im verborgenen ein Rad. SPIEGEL: War Schimmelbusch so mas- SPIEGEL: Sie halten nicht viel von dem siv in die Ölgeschäfte eingestiegen, um damaligen Firmenchef Schimmelbusch. seine Probleme im Konzern auf einen Schmitz: Wir haben uns beide um eine Schlag lösen zu können? gute Zusammenarbeit bemüht. Es hat Schmitz: Ich weiß es nicht und werde sich bei mir allerdings im Laufe der es vielleicht auch nie erfahren. In den Monate ein gewisses Unwohlsein ein- USA hatte man jedenfalls einer klei- gestellt. nen Gruppe von Mitarbeitern große SPIEGEL: Wodurch? Freiräume eingeräumt und ihnen den Schmitz: Die Metallgesellschaft zählte Eindruck vermittelt, daß sie einen Bei- zu den kompliziertesten Unternehmen trag zur Verbesserung der Bilanz lei- in Deutschland. Vom Bergbau in Pa- sten könnten. pua-Neuguinea über Hütten in SPIEGEL: Heute stünde die Metallge- Deutschland bis zum Umweltservice sellschaft ohne Ihre Einmischung viel- bot sie ein kunterbuntes Sammelsuri- leicht gut da. Der Ölpreis zog inzwi- um von Produkten und Dienstleistun- schen gewaltig an. gen, wie es kein anderes deutsches Un- Schmitz: Was heißt hier Einmischung? ternehmen aufweist. Herr Schimmel- Im übrigen, wenn man weiß, wie busch war dieser Herausforderung nie die Kugel im Kasino gelaufen ist, läßt gewachsen. Er ist immer ein Händler sich leicht über die richtige Strategie „Es hat sich im Laufe geblieben. Darin liegt zum Teil die reden. Tragik der Metallgesellschaft. SPIEGEL: Bei der Metallgesellschaft der Monate ein gewisses SPIEGEL: Warum haben Sie ihm dann waren Spieler am Werk? Unwohlsein eingestellt“ noch im November 1993 den Vertrag Schmitz: Mich erinnern die Ereignisse verlängert? in der Endphase jedenfalls an die Si- Schmitz: Darüber ist im Aufsichtsrat tuation im Kasino, wenn sich der Spie- SPIEGEL: Mit der Raffineriefirma damals intensiv diskutiert worden. Es ler, der sein ganzes Geld verloren hat, Castle hatte die Metallgesellschaft un- ist nicht einfach, den Vorstandsvorsit- umdreht und sagt: Leih mir bitte Geld, ter Schimmelbusch und Benson Ab- zenden eines deutschen Unterneh- damit ich weitermachen kann. nahmeverträge geschlossen . . . mens, der mit seinem Unternehmen SPIEGEL: Ein Gutachten unabhängiger Schmitz: . . . und Mitarbeiter der Me- nicht gegen die Wand gefahren ist und Prüfer über die Rolle von Vorstand tallgesellschaft haben im Zusam- der nicht mit einem gestohlenen silber- und Aufsichtsrat sollte schon im Okto- menhang mit der Emission von nen Löffel entdeckt wurde, seines Am- ber vorliegen. Warum ist es noch nicht Castle-Aktien deutliche Vorteile er- tes zu entheben. da? langt. SPIEGEL: Das überzeugt nicht. Nach Schmitz: Es wird rechtzeitig zur SPIEGEL: Bei der Auflösung der Ver- Ihrer Analyse hätte Schimmelbusch Hauptversammlung im März vorliegen. träge mit Castle vor einigen Wochen auch ohne das Ölfiasko gefeuert wer- Die Prüfer nehmen sich nämlich noch hat das amtierende Management der den müssen. den Komplex Castle vor, den wir am Metallgesellschaft offenbar eine phan- Schmitz: Es gab tiefbegründete Zwei- Jahresanfang in seiner fürchterlichen tastische Summe gezahlt. fel gegen ihn. Diese äußerten sich dar- Tragweite nicht ermessen konnten und Schmitz: Die Verarbeitungsmargen, al- in, daß ihm mit dem neuen Vertrag der uns dann enorm zu schaffen ge- so die Gewinnspannen, die Castle zu- auch gleichzeitig ein Plan für die näch- macht hat. gestanden wurden, lagen so deutlich über denen des Marktes, daß der Fort- bestand der Castle-Verträge zu einer Auszehrung der neuen Metallgesell- schaft geführt hätte. Es war also dringend notwendig, diese Beziehung zu kappen. Dafür war ein Preis zu zah- len. SPIEGEL: Die hohen Verdienstspannen für Castle bestärken Sie in dem Ver- dacht, daß tatsächlich einige Mitarbei- ter der Metallgesellschaft an Castle gut verdient haben? Schmitz: Fest steht, daß die Verträge so ungewöhnlich waren, daß Sie nie- manden in der Wirtschaft finden wer- den, der bereit wäre, unter ähnlichen Umständen Verträge einzugehen. SPIEGEL: Hat hat sich auch Schimmel- busch persönlich bereichert? Schmitz: Das müssen die Gutachter klären sowie die Staatsanwaltschaften in New York und Frankfurt. Die Er- gebnisse können sehr wohl Gegenstand von Prozessen werden.

D. OTFINOWSKI SPIEGEL: Herr Schmitz, wir danken Ih- Terminbörse in New York: Zu großes Rad im verborgenen gedreht nen für dieses Gespräch. Y

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WIRTSCHAFT

Wettlauf auf der Infobahn bestehende Bestehende und geplante Online-Dienste 0nline-dienste betreiber zahl der anschlüsse Datex-J Deutsche Telekom rund 671000

Compuserve H&R Block 2,4 Millionen weltweit, davon knapp 100000 in Deutschland Internet nichtkommerzielles 30 Millionen geschätzt Computernetzwerk America Online America Online Inc. 1 Million

Prodigy IBM, Sears/Roebuck 2 Millionen

E-World Apple Computer 50 000

General Electric 100000 geplante 0nline-dienste Genie Microsoft (Bill Gates) Delphi News Corporation 140000 Microsoft Network (Rupert Murdoch) Italia Online Mondadori, Olivetti Minitel France Télécom 6,5 Millionen in Frankreich

Europe Online Burda, Pearson, Matra Hachette Interchange Ziff-Davis Testphase, Verlagsgruppe 77000 Interessenten

gramm, mit einem Mausklick auf das tragen ihre Daten gegen Gebühr per Kommunikation Icon, startet, dem öffnen sich die unend- Telefonleitung direkt auf die Festplat- lichen Weiten des Cyberspace. ten der PC in Unternehmen und Pri- In zunächst 35 Ländern sollen sich vathaushalten – ein Milliardengeschäft PC-Besitzer, deren Rechner über einen mit der Information. Weltpostamt Signalwandler (Modem) ans Telefon- Millionen Verbraucher erliegen be- netz angeschlossen sind, jede nur denk- reits der Faszination dieser kommer- bare Form von Information und Unter- ziellen Datennetze, monatlich kommen von Bill haltung direkt auf den Schreibtisch ho- Hunderttausende weltweit hinzu. In len können: Versandhauskataloge und den USA wurden voriges Jahr bereits Software-Gigant Microsoft strebt die eigenen Kontoauszüge, Börsenkurse mehr Personalcomputer verkauft jetzt auch auf dem und minutenfrische Nachrichten, Flug- als Fernsehgeräte. Der amerikanische pläne und brühwarmen Klatsch über Börsenexperte Jeff Leopold: „Der Milliardenmarkt der kommerziellen Hollywood-Stars, Soundproben aus den Gebrauch von Online-Diensten wird Datennetze die Vormacht an. neuesten Pop-Platten oder elektronisch bis Ende des Jahrhunderts explodie- übermittelte Privatpost von jedem Win- ren.“ kel der Erde. Von diesem Zukunftsmarkt will sich n einem abgedunkelten Ballsaal des Das alles kommt aus den Riesenrech- Gates, in der Software-Branche schon Kasinohotels Mirage in Las Vegas de- nern kommerzieller Anbieter. Sie über- fast ein Monopolist, einen großen Teil Imonstrierte der reichste Mann Ameri- sichern. Wer die neue Win- kas, während nebenan die Rouletteku- dows-Version benutzt, soll geln in die Kessel klapperten, wie er dazu verleitet werden, sich noch reicher werden will: mit einem möglichst oft direkt ins Micro- daumennagelgroßen Symbol, das dem- soft Network einzuwählen – nächst auf den Bildschirmen von zig Tastendruck genügt. Millionen Computerbenutzern in aller Deutsche Microsoft-Kun- Welt erscheinen wird. den beispielsweise werden Bill Gates, 39, etwa sieben Milliarden dann automatisch zu einem Dollar schwer und Gründer des ameri- Vermittlungscomputer der kanischen Software-Riesen Microsoft, British Telecom durchge- steigt in den scharf umkämpften Markt schaltet. Er stellt die Verbin- der globalen Datennetze ein. Seine Pro- dung her zu einem Zentral- gramme MS-Dos und Windows steuern rechner in der Nähe von mehr als 80 Prozent der weltweit über Seattle, der vom beauftragten 130 Millionen Personalcomputer (PC). Netzverwalter Digital Equip- Das neue digitale Bildchen („Icon“) ment Corporation betrieben auf den Monitoren wird allen Käufern wird. Die Gebühren für diese der nächsten Windows-Version, die im Dienstleistung zahlt der Nut- Frühjahr erscheinen soll, mitgeliefert – zer an Microsoft, der Konzern es steht für das weltumspannende Kom- hat Kampfpreise angekün-

munikationssystem Microsoft Network, M. DARCHINGER digt. Codename bis vorige Woche: „Marvel“ Netzwerker Burda Bisher teilten sich wenige (Wunder). Wer das Netzwerk-Pro- Suche nach Partnern vom Fach Anbieter, die meisten in den

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USA heimisch, das Geschäft (siehe auch Doch die Preise waren Bolls zu hoch. Grafik): Ziff-Davis Publishing ging für 1,4 Milli- i Compuserve, seit 1979 online und da- arden Dollar an eine US-Investment- mit Großvater der Kommerz-Netze, bank. Auch das zum Verkauf stehende hat von Columbus (US-Staat Ohio) Online-System Interchange von Ziff- aus bisher weltweit 2,4 Millionen Davis ist dem deutschen Medienkon- Kunden gefunden und bietet jede Art zern zu teuer – es soll rund 150 Millio- von Information – von der professio- nen Mark kosten. nellen Datenbank über wochenfrische Wappnen muß sich auch die Deutsche SPIEGEL-Artikel bis zur weltweiten Telekom mit ihrem Dienst Datex-J, der Suche nach vermißten Kindern; nach dem Vorbild des erfolgreichen i Prodigy in White Plains (US-Staat französischen Minitel nach langen Start- New York), ein Gemeinschaftsunter- schwierigkeiten mittlerweile rund nehmen des Computergiganten IBM 671 000 Kunden gewonnen hat und die mit dem Einzelhandelskonzern Sears, Million anpeilt. Datex-J (früher: Bild- Roebuck, hat zwei Millionen Nutzer schirmtext), derzeit grafisch wirr und und will vor allem die Familien als technisch rückständig, soll nächstes Jahr Zielgruppe bedienen; mit bunter Software des Telekom-Part- i America Online in Vienna (US-Staat ners 1 & 1 und mit höheren Über- Virginia) mit einer Million Kunden tragungsgeschwindigkeiten aufgerüstet versteht sich ebenfalls als familien- werden. und hobby-orientiert. Der Zuwachs bei Datex-J – das J steht Hinzu kommen kleinere Anbieter wie für Jedermann – kann jedoch durch die Genie (General Electric), Delphi (News neuen Projekte stark gedämpft werden. Corporation) und E-World (Apple). Viele deutsche Kunden nutzen den Te-

Insgesamt bringen es die kommerziellen W. M. WEBER lekom-Dienst vor allem dazu, ihre Datendienste in den USA bereits auf Netzwerker Gates Bankgeschäfte am Computer daheim zu rund sechs Millionen Kunden mit durch- Unendliche Weiten erledigen. Diese Möglichkeit wird künf- schnittlich neun Dollar Grundgebühr tig nicht nur Compuserve, sondern auch monatlich. Doch 96 Prozent der insge- ner Verleger Hubert Burda (Focus, das Gates-Netzwerk bieten – auf einer samt 96 Millionen privaten Haushalte Bunte), der wie der italienische Olivetti- standardisierten Windows-Oberfläche, nutzen die Datendienste noch nicht. Chef Carlo De Benedetti (Italia Online) die Millionen Nutzern vertraut ist. Investoren wie Gates erspähen daher ein eigenes Netz knüpfen will, tut sich Zudem hat das neue Network für Mil- einen Riesenmarkt. Wenn nur ein Teil schwer. lionen Datenreisende ein Sonderange- der Millionen Käufer, die sich für die Ganz im Jargon der Computerfreaks bot parat: Sie sollen, durch das neue neue Windows-Version entscheiden, hatte der Unternehmer verkündet: Windows, Zugang zum weltgrößten Da- das Netzwerk-Icon anklickt, würde der „Wer Print besitzt, ist auch Con- tennetz Internet erhalten, das nicht Gates-Way ins Datennetz innerhalb ei- tent-Provider für die Computernetze.“ kommerziell betrieben wird und aus im- nes Jahres zur Nummer eins unter den Nun muß die Luxemburger Firma mer neuen Verbindungen zwischen Uni- Anbietern. Europe Online, bei der Burda der größ- Sicher ist jetzt schon, daß Compu- te Gesellschafter ist, den für Anfang serve einige der umsatzstärksten On- 1995 angekündigten Start verschie- „Wer Print besitzt, der line-Dienste und damit Interessenten ben. ist auch Provider verlieren wird. Denn Microsoft nutzte Nach dem Vorbild von America On- den Datenservice bisher, die weltweite line wollte das europäische Pendant mit für die Computernetze“ Kundschaft am Bildschirm zu beraten, Info-Diensten vom Bildschirm schnell Informationen über neue Software zu Kunden gewinnen. Doch den Gesell- versitäts-, Behörden- und Forschungs- verbreiten oder Zusatzprogramme an- schaftern – neben Burda der französi- rechnern zusammenwuchert. Ein wei- zubieten. Damit dürfte Schluß sein, so- sche Medien- und Rüstungsriese Matra- teres Zusatzprogramm, Internet Assi- bald das Microsoft-Netzwerk startet. Hachette, der britische Verlag Pearson, stant, soll es ihnen sogar ermöglichen, Und mit dem Trick, daß Microsoft- luxemburgische Investmentbanken und eigene Informationsangebote im globa- gesteuerte Computer gegen Gebühr Ex-Postminister Christian Schwarz- len Dorf zu gestalten – mit dem Text- wiederum Microsoft-gesteuerte Compu- Schilling (CDU) – fehlt ein Partner vom programm Word, Hersteller: Micro- ter anrufen, könnte die Firma binnen Fach. soft. kurzem zum Weltpostamt beim Aus- Insbesondere sucht Europe Online Dennoch wird es Gates nicht leicht tausch elektronischer Nachrichten wer- noch die richtige Technologie zur Ver- haben, seinen neuen Service durchzu- den. waltung des Netzes. Burda-Manager setzen. Referenz-Anbieter etwa aus Für die Konkurrenz hat Gates, der klapperten in den letzten Wochen, be- der Medienbranche wie Newsweek bei seinen Coup vorige Woche auf der Elek- richten Verlagsmitarbeiter, verschiede- Prodigy, New York Times bei America tronikmesse Comdex in Las Vegas lan- ne High-Tech-Unternehmen ab. Doch Online, U. S. News & World Report dete, ohnehin nur abfällige Worte: die meisten Kandidaten für eine Allianz bei Compuserve oder Top-Adressen „Nicht aufregend genug, nicht einfach haben eigene Pläne. wie Kreditauskunfteien und große Da- genug, nicht kreativ genug.“ Und in der Große Hoffnung setzte Burda etwa tenbanken kann Microsoft bisher nicht Tat zeigten die traditionellen Anbieter auf den Ziff-Davis-Verlag, mit dem er in bieten. Wirkung: Fast alle haben bereits Preise Deutschland ein Computermagazin für Der Spitzenmanager des Konkurren- gesenkt und Angebote erweitert. die Familie startete. In New York ver- ten America Online, Ted Leonsis, klei- Auch europäischen Investoren, die handelte Burda-Geschäftsführer Gerd det seine Hoffnungen denn auch in ei- von der Bonanza-Stimmung profitieren Bolls mit dem US-Partner über eine nen dramatischen Vergleich: „Micro- wollen, macht der Einstieg von Micro- weitgehende Kooperation, bis hin zum soft wird mit dem Online-Service sein soft zu schaffen. Vor allem der Münch- Kauf des Unternehmens. Vietnam erleben.“ Y

DER SPIEGEL 47/1994 101 Werbeseite

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MODERNES LEBEN SPECTRUM

Pop Bergsteigen mutlich hat der Führer zwei oder drei Seil- schaften gebildet. Der liebe Gott SPIEGEL: Warum aber sind dann alle töd- „Nie am Seil gehen“ lich verunglückt? des Kinos In Nepal verunglückten vergangene Wo- Loretan: Sie können tatsächlich mit einer Wenn auch das Leben einen che elf Bergsteiger – darunter neun Deut- Wächte abgegangen sein. Dann war es das Soundtrack hätte; wenn, ir- sche. Der Schweizer Erhard Loretan, 35, Gewicht der Alpinisten, das die Katastro- gendwo weit oben, eine hat 13 der 14 Achttausend-Meter-Berge phe auslöste – schon ein Mann kann genü- Gottheit wohnte, die, immer im Himalaja bestiegen. gen, und eine Wächte geht weg, die da wo- wenn es spannend oder rüh- möglich jahrelang gehangen hat. Ich neh- rend wird, die himmlischen SPIEGEL: Sie kommen gerade vom Gip- me aber eher an, daß die Bergsteiger von Lautsprecherboxen einschal- fel des 8516 Meter hohen Lhotse im einem Schneebrett begraben wurden. tete, eine Million Watt min- Mount-Everest-Massiv zu- SPIEGEL: Wie konnte das destens – dann müßte Quen- rück. Welche Verhältnisse geschehen? tin Tarantino am Plattentel- herrschten im Unglücksge- Loretan: Der Schnee ist vom ler sitzen. Denn der Mann biet? Wind zusammengepreßt hat nicht nur eine Ahnung Loretan: Der Monsun hatte worden und mit der darun- vom Film; er versteht viel- gewaltige Schneemassen terliegenden Schicht nur leicht noch mehr vom Leben herangeworfen. Nach schö- locker verbunden, dazwi- und der Musik. Und wer die nen Tagen brach ohne gro- schen kann auch nur Luft Platte mit dem Soundtrack zu ßen Übergang der Winter sein. Das Gewicht dieser elf „Pulp Fiction“ (MCA) auf- herein, und das mit starken Menschen reicht, und der legt, wird den Verdacht nicht Höhenstürmen. Preßschnee löst sich in Blök- los, daß Tarantino sich die SPIEGEL: Kann es denn ei- ke auf, die alles zermalmen. ganze Story von den Gang- ne Schneewächte gewesen SPIEGEL: Wie war es am stern, Boxern, Mädchen nur sein, die den Bergsteigern Lhotse? zu einem Zweck ausgedacht am Pisang Peak (6091 Me- Loretan: Schneebrettgefahr habe: um ein paar Bilder zu ter) zum Verhängnis wur- im Anstieg zur Wand. Der kriegen, die er mit seinen

de? KEYSTONE / DPA Wind jagte irrsinnig. Am be- liebsten Popsongs unterlegen Loretan: Die Wächten ra- Bergführer Loretan sten war, nur über Felspar- konnte. Er hat „Let’s Stay gen bis zu zehn Meter über tien aufzusteigen. Together“ von Al Green aus- die Grate. Und im Nebel ist es schwierig, SPIEGEL: Ist es gefährlich, mit anderen am gesucht und „Son of a Prea- ihren Verlauf zu erkennen. Eine schwere Seil zu gehen? cher Man“ von Dusty Spring- Schneewächte reißt sogar noch einen Teil Loretan: Ja. Wir sind nie am Seil gegangen, field; und wenn Ricky Nelson des gegenüberliegenden Hanges ab. auch nicht in der Nordwand des Mount „Lonesome Town“ singt, SPIEGEL: Ist es möglich, daß Alpenvereins- Everest. Ohne Seil ist man schneller, und dann ist ohnehin der Moment Bergführer Stephan Hasenkopf die Grup- wenn einer stürzt, können die anderen des Showdowns gekommen: pe an nur einem Seil geleitet hat? nicht mitgerissen werden. Solche Mitreiß- Loretan: Mit einem 50-Meter-Seil ginge das unfälle sind extrem gefährlich, schon nach gerade noch. Der Pisang Peak ist technisch zwei Metern kann man den Rutschenden nicht schwierig, man stapft da hinauf. Ver- ohne Sicherung nicht halten.

Stars gisch, daß Warhol-Freund Stars wie Mary Richardson, Gunter Sachs seine Neuer- heute die Frau von Robert Warhol-Party mit werbung mit einer Party wie- Kennedy Jr., alter Zeiten derbelebte, auf der Warhol- gedachten. An den Wänden Geländer Warhol-Fotos von Kissinger Den Tip bekam Gunter und Mick Jagger, Liza Mi- Sachs von Jet-set-Freund nelli, Bianca Jagger, Jacque- Giovanni Agnelli: „Ein line Bisset sowie Sachs’ eige- Haus, das verrückt genug für ne Warhol-Kollektion, die dich ist.“ Modezar Halstons etwa den berühmten „Super- legendäres schwarzes man“ von 1962 enthält. Den „Pulp Fiction“-Soundtrack Townhouse „101“ in Manhat- Hedonistentempel ließ er tans 63. Straße stand zum unverändert – bis auf die Hält man es aus, oder hält Verkauf. Kühl, vier Stock- Geländer aus Panzerglas, die man es für kitschig? Besitzt werke hoch, kathedralenho- er den freischwebenden der Hörer die sittliche Reife, hes Wohnzimmer, schmuck- Treppen und Innenterrassen soviel Gefühl zu verkraften – los bis auf den schwarzen beigab. „Daß da niemand oder muß er noch ein wenig Onyxkamin und das Treib- abgestürzt ist“, wundert sich üben? Den rechten Weg wei- haus mit veritablem Bam- Sachs. „Es standen doch alle sen die dazwischenmontier- busdschungel – die ideale lee- ständig unter Strom.“ Das ten Originaldialoge der Film- re Bühne für den Zeremo- ist wohl einer der Unter- gangster: „Der Pfad der Ge- nienmeister der siebziger und schiede zwischen den siebzi- rechten ist gesäumt von den achtziger Jahre: Andy War- ger und den neunziger Jah- Freveleien der Selbstsüchti- hol organisierte hier seine ren: Heute hat man Spaß gen . . .“ (Hesekiel 25, Vers Paradiesvogel-Partys. Nur lo- Sachs mit Geländer. 17).

DER SPIEGEL 47/1994 103 .

GESELLSCHAFT

Frauen DIE BOMBE VON NEBENAN Sie tragen Blümchenrock und Kampfstiefel, sie wollen wild und feminin sein, freizügig und egoistisch; sie nen- nen sich Mädchen, Girlies oder Babes – eine neue Generation von jungen Frauen kämpft für einen neuen Femi- nismus und lebt ihre eigene Vorstellung von Weiblichkeit: viel Sex, viel Spaß und kein verbissener Männerhaß.

eulich in Texas sind sie sogar Lau- Etwas ist anders. Erst waren es nur ren Hutton aufgefallen. Sie habe ein paar zerschlissene Kleider, dann gab Nda einige „ziemlich außergewöhn- es auf einmal die Zöpfe, die gestrickten liche junge Frauen“ gesehen, erzählt Kniestrümpfe und die klobigen Pumps. Hutton, 50, die etwas von der Sache ver- Schulmädchen-Look hieß das – und steht. Die Amerikanerin ist seit 25 Jah- mit dem Begriff schien das Phänomen ren ein Topmodel. eingeordnet und abgehakt zu sein. Ein Stark und schlau seien die Mädels ge- neuer Modetrend, wie in jeder Saison. wesen und dabei sehr feminin: „viel wil- Aber dann wurden die Zöpfe aufge- des Haar, wildes Make-up, leuchtende flochten und die Pumps gegen Kampf- Farben – und wundervolle Unterwä- stiefel eingetauscht, und bald gab es im- sche“. Lauren Hutton war beeindruckt. mer mehr davon. Und wer die Mädchen in den Minis immer noch für harmlose Schulmädchen hielt; wer kurze Kleider als Ausdruck von Un- schuld mißverstand, der bekam vielleicht

einen Schienbeintritt U. THOMAS / GARP / PHOTO SELECTION und lernte es auf die Pop-Babe Cherry harte Art: Es gibt eine „Stöckelschuhe am liebsten im Bett“ neue Generation von jungen Frauen. Sie se- Pussy), sie lesen über sich selbst in Titel- hen aus wie Lolitas, geschichten von Tempo oder Village und sie treten zu wie Voice; die Verlage liefern Bücher mit Bruce Lee. Handlungsanweisungen („Sei ein Es ist die Generati- Biest“, „Gute Mädchen kommen in den on der Mädchen, es Himmel, böse überall hin“); die Mäd- sind die Postfemini- chen haben ihre eigene Musik, ihre eige- stinnen in der Popkul- nen Stars. Und jetzt wird auch ihr Lieb- tur. „Ich stehe nicht je- lingscomic „Tank Girl“ verfilmt. den Morgen auf und Ihre Kleidung ist eine Mischung aus danke der Frauenbe- Grunge, Punk, Hip Hop und Schulmäd- wegung für alles, was chen-Stil: „Girliewear“ heißt sie; das sie mir ermöglicht Wort bezeichnet weniger eine Mode als hat“, sagt die Münch- eine Haltung dazu: „Stöckelschuhe“, ner Regiestudentin Jo- sagt die Sängerin Neneh Cherry („7 Se- hanna Adorja´n, 23 conds“), einer der Girlie-Stars, „Stök- (siehe Interview Seite kelschuhe trage ich am liebsten im 111), „ich danke ja Bett.“ auch nicht jeden Tag Feminin und selbstbewußt, einfühl- dem Erfinder des elek- sam und egoistisch – falls das noch Wi- trischen Lichts.“ dersprüche sind, dann haben die Mäd- Schon sind sie ein chen damit zu leben gelernt: Äußerlich gesellschaftliches wie sind sie „good girls“, innerlich „bad politisches Phänomen, girls“. in Amerika wie in Noch haben die jungen Frauen keinen Deutschland. Sie ha- griffigen Namen gefunden, nichts was so ben ihre eigenen Ma- plakativ wie „Slacker“ oder „Raver“

G. DE GUIRE / LFJ / PHOTO SELECTION gazine (in Amerika klänge. Sie nennen sich Girlies oder Girl-Idol Love Sassy, in Deutschland Babes, und sie haben die abschätzigen Aussehen wie Lolita, zutreten wie Bruce Lee Fanzines wie Planet Wörter der Herrenmagazin-Gesellschaft

104 DER SPIEGEL 47/1994 Werbeseite

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GESELLSCHAFT

hol dir einen Mann ins Bett) verkündet Ma- donna. Und Cindi Lauper, ihrer Zeit um ein paar Lieder vor- aus, sang 1983: „Girls just wanna have fun“: Spaß haben heißt frei sein, Sex haben und Männer als nützliche Komparsen ins eigene Leben integrieren. Mädchen leiden nicht an dem Unter- schied der Geschlech- ter – sie feiern und ge- nießen ihn. Die Chica- goer Sängerin Liz Phair singt Lieder, die

MCA fast immer nur vom Mädchen-Video „Crazy“ von Aerosmith Sex handeln. „Ich fik- Klauen, albern, Jungs aufreißen ke dich, bis dein Schwanz blau wird“, zu ihren Kampfnamen gemacht, so wie singt sie, oder: „Du kannst mich von die Punks sich in den Siebzigern als hinten nehmen. Dann können wir vö- Menschenmüll bezeichneten und damit geln und dabei Fernsehen gucken.“ in die Offensive gingen. Weniger drastisch in der Formulie- Den Feminismus kennt die Generati- rung, aber ähnlich war die Aussage on der 15- bis 25jährigen nur noch aus „Weil ich ein Mädchen bin“ von Luci- der Sozialkundestunde. Ein bißchen lectric, die, wie Bernadette Hengst von verbissen sei Alice Schwarzer, finden der Hamburger Band „Die Braut haut sie, und sie nehmen es als selbstver- ins Auge“, die bravere deutsche Varian- ständlich, was ihre Mütter für sie er- te ist. Mädchen, so das Fazit der deut- kämpft haben. Forderungen nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, einem freizügigen Ab- treibungsrecht und gleichen Aufstiegs- chancen gehören für die Mädchen nicht zu den Prioritäten; die Errungenschaf- ten des Feminismus setzen sie als Exi- stenzminimum voraus. Logisch, daß die Mädchen bei Frau- enrechtlerinnen auf Skepsis und Wider- spruch stoßen. Die jungen Frauen woll- ten zwar „den Gewinn einstreichen, aber sie wollen sich nicht für die politi- sche Bewegung aus dem Fenster hän- gen“, kritisiert die amerikanische Auto- rin Susan Faludi („Backlash“): „Ich hal- te das für total egoistisch.“ Was das Beste sei, das sie von ihrer Mutter gelernt habe, wurde das Girlie- Model Kate Moss kürzlich gefragt. „Mich nicht von Männern wie ein Stück Scheiße behandeln zu lassen“, antworte- te sie, „und seit meine Mutter mir das gesagt hat, hat es auch funktioniert.“ Die Töchter der Emanzipation nen- nen sich „Mädchen“, weil die Frau nach Wille und Vorstellung des Feminismus mit so viel Ideologie befrachtet wurde, daß der Begriff keinen Spaß mehr ver- hieß. Auch mit jenen Karriereweibern, die nach Ansicht der Autorin Camille Paglia „den Aktenkoffer als ultimatives Ziel moderner Weiblichkeit“ begreifen, haben die Girlies nichts im Sinn.

Nein, Emmas Töchter sind anders. SAVAGE AND BEST AGENCY „Get fit, get rich, get laid“ (sinngemäß Vorbild Tank Girl etwa: mach dich stark, werde reich und Kein Kosmetikkoffer

106 DER SPIEGEL 47/1994 Werbeseite

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GESELLSCHAFT

Es ist harte Arbeit, ein profes- sionelles Girlie zu sein: Das deut- sche Model mit den wasserstoff- blonden Haaren wird in stunden- langen Sitzungen so geschminkt, als hätte sie eilig etwas Make-up ins Gesicht gemalt. Echte Mäd- chen besitzen keine Kosmetik- koffer; sie kommen mit Lippen- stift, Wimperntusche und Kajal- stift aus. Fünf Minuten vor dem Spiegel halten sie für ausreichend – Männer verschwenden mit dem Rasieren auch nicht mehr Zeit. Manchem mag es so vorkom- men, als hätte ein Werbetexter sich das ganze Phänomen beim Rasieren ausgedacht – um neue Stiefel, Miniröcke und jede Men- ge Schallplatten zu verkaufen. Mancher mag einwenden, daß er auch Mädchen kenne, die ganz anders seien, braver, biederer und strebsamer. Doch das war damals auch nicht anders, als re- bellische Studenten, bekiffte Hippies oder durchgedrehte

M. ANKER / RETNA / PHOTO SELECTION Punks das Image ihrer Generatio- A. WATSON / SCHIRMER UND MOSEL Postfeministin Phair nen bestimmten, obwohl sie nie- Schauspielerin Thurman „Dabei Fernsehen“ mals in der Mehrheit waren. Kokettes, unberechenbares Mega-Babe Und daß sich eine neue Bewe- schen Liedermacherinnen, schrecken gung gut vermarkten läßt, das war auch „Der Feminismus hat sehr viel für uns auch vor sexueller Belästigung nicht zu- schon immer so. Frauen getan, aber er hat uns gleichzei- rück. „Lauf los und hol dir das, was du dir Natürlich wollen die Mädchen gleich- tig nur in eine Richtung gedrängt“, sagt erträumt hast“, heißt ein Text von „Die berechtigt sein; einen Job haben, Geld Pop-Sängerin Neneh Cherry, „weg da- Braut haut ins Auge“, „lauf los und, verdienen. Aber müssen sie auch die von, Mutter zu sein, sich sexy zu fühlen peng, wird alles anders sein.“ Waschmaschine anschließen, obwohl oder sich auch manchmal nur wie eine Anka Radakovich, Starkolumnistin das überhaupt keinen Spaß macht? Au- Schlampe zu benehmen.“ Dabei mache der New Yorker Illustrierten Details, toreifen wechseln? Sie halten das für es doch gelegentlich ziemlich viel Spaß, zieht in ihren wüsten, im Bestseller „Wild Männerarbeit, was ungefähr dasselbe sich wie eine Schlampe zu benehmen. Girls Club“ gesammelten Kolumnen heißt wie „Drecksarbeit“. Wenn sie die Inzwischen, so Cherry, können Frauen über Männer- und Frauensex her. Sie be- Jungs die Koffer tragen lassen, heißt das breitbeinig wie ein Kerl dasitzen und schreibt das Verhältnis von Männern zu noch lange nicht, daß sie auch Hemden „zur selben Zeit immer noch eine Lady ihrer Männlichkeit („Jedesmal, wenn ich bügeln. sein“. mit einem Mann an dem Blumengeschäft „Mit jungen Mädchen zu reden ist wie in meinem Viertel vorbeigehe, zeigt er in die Sonne zu schauen“, behaupten die auf den enormen Kaktus im Schaufenster amerikanischen Autorinnen Carol Gilli- und sagt: ,Der hat genau meine Grö- gan und Lyn Mikel Brown, die das Er- ße‘“);und siehütet sich davor, einen Jun- wachsenwerden von Mädchen wissen- gen in seiner Wohnung zu besuchen: schaftlich untersucht haben. Sie applau- „Männer halten ihre Junggesellenbude dieren der neuen Generation, die ihrem für so eine Art Mini-Playboy-Villa. Frau- inneren Kind nicht zumutet vernünftig en dagegen halten sie für das Vergewalti- und erwachsen zu werden. Denn dieses gungshauptquartier.“ Mädchen sei schließlich das wahre Männer wären entsetzt, schreibt Rada- Selbst. kovich, wenn sie Mädchengespräche be- In dem Video „Bull in the Heather“ lauschen könnten: „Sie würden sich der New Yorker Avantgarde-Band So- wahrscheinlich für die ganze Gattung nic Youth fesselt ein Mädchen, das aus- schämen.“ sieht wie Tennessee Williams’ „Baby Nadja Auermann, 23, zierte bis jetzt Doll“, einen Jungen, kommandiert ihn die Cover von Vogue, Harper’s Bazaar herum und zwingt den Burschen schließ- und rund hundert anderen Modemagazi- lich, ihr die Fußnägel zu lackieren. nen. „Sie ist ein königliches Biest“, sagt „Es lohnt sich nicht, ein Junge zu Karl Lagerfeld und bringt damit das sein“, heißt also das Motto, ausgegeben Image der Berlinerin auf den Punkt. Au- etwa in der Mädchen-Spezialausgabe ermann verkörpert ein ganz anderes von Jetzt, der Jugendbeilage der Süd- Weiblichkeitsideal als ihre einfältige Kol- deutschen Zeitung. Denn Jungs müssen

legin Claudia Schiffer. Auermann wirkt CROWN PUBLISHERS dübeln und Autos reparieren und selbst- wie eine gefährliche Großstadt-Amazo- Mädchen-Buch „Wild Girls Club“ verständlich auch noch den Abwasch ne. Die Zeitbombe von nebenan. „Der hat genau meine Größe“ machen. Jungs sind das Gegenstück zu

108 DER SPIEGEL 47/1994 Mädchen: äußerlich „bad guys“, inner- In der Popmusik gibt es eine Traditi- mindest vor den Kameras – den Girls lich „good guys“. on der Mädchen-Bands, die unter dem Platz: weil es dem Umsatz nützt. So er- Mädchen gab es schon immer, denn Begriff „Girlism“ geführt wird: Es gab kannte zum Beispiel die Rockgruppe Mädchen sein ist vor allem eine Frage die Ronettes, die Runaways und die Aerosmith, daß es an der Zeit sei, selbst der Haltung: Sex, Selbstbewußtsein und Shangri-Las mit ihrem Hit „Leader of in den Hintergrund zu treten. Also tobt Eigenständigkeit mußte man auch in the Pack“. Zu Anfang der neunziger seit letztem Jahr die Schauspielerin Ali- den dreißiger Jahren mitbringen, als die Jahre waren es dann die Riot Girls, lau- cia Silverstone, mittlerweile längst selbst „Jazz Babes“ Hollywood unsicher ter zornige junge Frauen, die in ihren eine Girlie-Ikone, durch die Videos der machten. Die junge Barbara Stanwyck Hard-Rock-Band. Sie klaut ein Auto, etwa schlug sich in „Baby Face“ von flirtet und stiehlt dabei in einer Tank- ganz unten nach ganz oben durch – und Girlie-Sängerinnen sind stelle, albert mit ihrer besten Freundin verlor dabei vielleicht ihre Unschuld, ih- genauso hart, formulieren und reißt sich die Jungs auf, die ihr ge- re Würde aber niemals. fallen. Den anderen zeigt sie den erho- Auch die Schauspielerinnen Jean aber etwas netter benen Mittelfinger. Harlow und Joan Crawford bauten ihre Ergebnis des Dreieinhalb-Minuten- Karriere auf dem Babe-Image, das die Liedern Weiblichkeit umdefinierten: Mädchenaufstandes: Aerosmith, Mitte englische Publizistin Julie Burchill so durch aggressive Musik, ruppige, ordi- der achtziger Jahre bankrott und zer- beschreibt: „Sie rauchte auf der Straße, näre Texte, schlampige Klamotten. stritten, verkauften ihr letztes Album kam spät nach Hause und fühlte sich „Als ich jung war, war ich eine Hure“, rund achtmillionenmal und gewannen in eher zur dunklen Seite des Lebens schrie die „Hole“-Sängerin Courtney diesem Herbst die wichtigsten Preise des hingezogen. Aber sie schaffte es mit Love; die Gruppe „Seven Year Bitch“ Musiksenders MTV. einem Lächeln, daß ihr alles vergeben brüllte: „Ich will eine Knarre, ich will Am Ende sind es die Girls selbst, die wurde.“ sehen, wie du rennst.“ Die Girlie-Sän- sich am wenigsten verklären. Als Emily Auch Holly Golightly, die freie und gerinnen sind in der Sache zwar genauso White, Autorin der New Yorker Village freizügige junge Frau aus Truman Capo- hart, aber sie formulieren es etwas net- Voice, ein paar 14jährige befragte, wie tes „Frühstück bei Tiffany“, war ein sol- ter: „Ich nutze jeden Mann aus, den ich es denn so sei, ein Mädchen zu sein, ches Mädchen. Winona Ryder, das treffe“, singt Liz Phair, „ich komme zuckten die nur mit den Schultern. großäugige, selbstbewußte und unab- davon, fast jeden Tag, mit dem, was „Ziemlich langweilig“, antworteten sie. hängige Mädchen, und Uma Thurman, die Mädchen Mord nennen.“ Im Grunde bestünde es aus viel lauter das kokette, unberechenbare Mega- Selbst die Hard-Rock-Machos im Musik, nichtgemachten Hausaufgaben – Babe sind ihre Nachfolgerinnen im Hol- nach wie vor von Männern beherrschten und der Hoffnung, später mal den Füh- lywood der neunziger Jahre. Popgeschäft machen inzwischen – zu- rerschein zu machen.

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GESELLSCHAFT „Madonna kämpft anders“ Interview mit drei jungen Frauen über Mädchen-Kult, Männer, Kühlschränke und das Erbe der Emanzipation

SPIEGEL: In einem Mädchen-Manifest hieß es kürzlich: „Die echten Mädchen haben zwei Dinge kapiert: Es lohnt sich nicht, ein Junge zu sein, und eine Frau zu werden, lohnt sich schon gar nicht.“ Was haben Mädchen gegen Frauen? Adorja´n: Es lohnt sich nicht, eine Frau zu werden, weil damit nur Ärger ver- bunden ist. Von Frauen wird erwartet, daß sie gut im Beruf sind, Kinder groß- ziehen, mit dem Hund spazierengehen und jeden Tag kochen. Mädchen haben es viel leichter. Sie dürfen immer zu spät kommen, sich jeden Tag in jemand anders verlieben und laut fluchen. Makatsch: Sie dürfen auch erwachsen werden, wenn sie wollen. Mädchen

sein, das ist keine Frage des Alters, FOTOS: L. FISCHMANN / GRÖNINGER sondern eine Frage der Einstellung. Ich Heike Makatsch meine, heute komme ich schon mal pünktlich zu einer Verabredung, und „Es gibt eben Unterschiede zwischen Männern und ich gehe auch nicht mehr aus, bis es Frauen, und es lohnt sich, die zu betonen“ hell wird. Heute gehe ich sogar manch- mal zum Flohmarkt. Das heißt, ich kann früh aufstehen, also vor vier Uhr Hinrichsen: Kann ja sein, daß sich deine hatte. Im Gegenteil: Ich wurde hofiert, nachmittags. Eltern gefreut haben, meine haben sich und er mußte am Telefon bei RTL Hinrichsen: Ich fürchte, mit dem Be- auch gefreut, aber im Beruf sieht es an- schuften. griff Mädchen schaden wir uns nur. Die ders aus. Da werden Frauen benachtei- SPIEGEL: Gab es den Punkt in Ihrem Leute denken doch: Mädchen – die ligt, auch heute noch. Eine Frau in der Leben, wo Sie trotzdem lieber Jungs ge- sind blöd, dumm, dämlich, bescheuert. Werbung muß sich zum Beispiel erst wesen wären? Zu doof, um Frau zu sein. zwei, drei Jahre als Sekretärin abrak- Adorja´n: Nein. Makatsch: Mir sind die zu doof, die kern, ehe sie einen Job als Kontakter Hinrichsen: Zwischen vier und fünf. Da darüber nachdenken, was andere im- bekommt. wollte ich Matrose werden. mer so denken. Ich sage: Ich bin ein Adorja´n: Ich studiere einen Männerbe- Makatsch: Ich wollte nie ein Junge sein. Mädchen, und ich bin froh darüber. ruf, Regie, und bin noch nie aufgrund Als Mädchen hat man viel mehr Spiel- SPIEGEL: Was verdanken Sie der Frau- meines Geschlechts benachteiligt wor- möglichkeiten. Wenn ich mich mit Jungs enbewegung? den. Wenn es trotzdem einmal passieren unterhalte, daß wir Mädchen ein paar Makatsch: Daß wir nicht mehr mit dem sollte: na und? Dann beschwere ich Vorteile haben. gleichen Eifer gegen Männer vorgehen mich eben, und alles wird wieder rück- SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf? müssen. Es hat sich, zumindest in mei- gängig gemacht. Makatsch: Mädchen müssen nicht dau- ner Umgebung, anscheinend die Ein- Makatsch: Ich kann auch nicht sagen, ernd beweisen: Ich bin die Tollste, sicht durchgesetzt, daß Mädchen ge- daß mein Freund es irgendwie leichter Stärkste, Schnellste. nausoviel wert sind wie Männer. Adorja´n: Die Frauenbewegung hatte ja Adorja´n: Für mich ist die Frauenbewe- was dagegen, wenn die Jungs die Frauen gung Geschichte. Ich stehe nicht jeden „Klug und sexy“ umwarben. Ich nicht. Ich finde es ganz Morgen auf und danke der Frauenbe- in Ordnung, wenn die Jungs das Taxi wegung für alles, was sie mir ermög- sollte eine moderne Frau sein, fan- und die Getränke bezahlen. licht hat. Ich danke ja auch nicht jeden den drei junge Deutsche, als sie Hinrichsen: Ich bin nicht der Typ, der Tag dem Erfinder des elektrischen beim SPIEGEL-Interview über die sich umwerben läßt. Ich stelle mich Lichts. Wenn früher Mädchen etwas Haltung derBabeszum Leben und zur nicht in die Ecke und warte, daß mich machen wollten, dann mußten sie im- Liebe diskutierten. Heike Makatsch, jemand anspricht. mer beweisen, daß sie das können, ob- 23, lernte nach dem Abitur Modede- Makatsch: Du sollst dich ja auch nicht wohl sie Mädchen sind. Das „obwohl“ sign, moderiert heute im TV-Musik- dumm in die Ecke stellen und denken, spielt heute keine Rolle mehr. kanal Viva und lebt in Düsseldorf. Jo- jetzt mach’ mal. Aber jede Begegnung Makatsch: Das fängt schon bei den El- hanna Adorja´n, 23, studiert Regie an ist ein Spiel, ein Ausloten, wieweit der tern an. Meine Eltern zum Beispiel, die der Musikhochschule München. Ju- andere sich abstrampeln soll. Ich sollte haben sich richtig gefreut, als ich zur lia Hinrichsen, 27, arbeitete für Jaco- das vielleicht jetzt nicht so kraß sa- Welt kam. Früher, im letzten Jahrhun- by als freie Werbetexterin in Ham- gen. dert und davor, da zählte es ja nur, burg. Adorja´n: Ach was, kraß. Es ist ja nicht wenn ein Sohn geboren wurde. mehr wie vor 300 Jahren: Du sitzt da

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soviel Spaß haben kann, so ver- Wasser springen lassen können, schnit- dammt . . . zen und in der Lage sein, einen Videore- Adorja´n: . . . und sich dabei selbst so corder zu programmieren. verhärmt, alt und männlich macht. Adorja´n: Die mögen das, wenn wir das Hinrichsen: Mädchen, das war eine an- nicht können. Zum Beispiel Videorecor- dere Zeit. Alice Schwarzer kommt vor der programmieren. Da ist mein Bruder allem so hart daher, weil sie eben so hart sehr, sehr glücklich, wenn ich ihn darum kämpfen mußte, daß ihr jemand zuhört. bitte. Makatsch: Madonna kämpft auch, aber Makatsch: Es lohnt sich nicht, alles zu anders. können, was Männer können. Das ist die SPIEGEL: Ist Madonna ein Vorbild? Haltung von Sklaven, die sich selbst Makatsch: Ja, aber nicht in erster Linie nichts zutrauen und die den Dominanten wegen ihrer Musik, sondern wegen ihres alles, alles nachmachen. Es gibt eben enormen Selbstbewußtseins. Sie hat uns Unterschiede zwischen Männern und Mädchen Mut gemacht. Frauen, und es lohnt sich, die zu beto- Adorja´n: Sie hat uns bewiesen, daß nen. Frauen alles erreichen können. Daß sie SPIEGEL: Wer von Ihnen kauft ein zum Johanna Adorja´n Spaß, Sex und Millionen Dollar haben Wochenende? können, und trotzdem eine eigene Mei- Adorja´n: Ich kaufe mir höchstens Nudeln „Kurzer Rock, hohe nung, und trotzdem rasierte Achseln und Fruchtzwerge. ... Hinrichsen: Ich kaufe Brot und Butter Schuhe, das Makatsch: . . . daß man sexy sein kann, und Reis. heißt: Ich bin so hilflos“ ohne gleich mit einer Prostituierten Makatsch: Ich frühstücke jeden Morgen gleichgesetzt zu werden, die alles der an der Tankstelle. Mein Kühlschrank ist Männerwelt unterordnet. Ich meine, nur eine Attrappe, sozusagen. und wartest, daß er mit der Kutsche vor- was ist verkehrt daran, klug und sexy zu SPIEGEL: Was steht im Kühlschrank? beikommt. sein? Hinrichsen: Bier, Senf und Salzgurken. Makatsch: Heute gibt es ja Telefon. SPIEGEL: Sonst noch Vorbilder? Die sind so alt, daß ich mich nicht mehr Adorja´n: Und da sollen sie anrufen. Tun Adorja´n: Holly Golightly aus „Frühstück trauen werde, die zu essen. sie aber immer weniger . . . bei Tiffany“ . . . Makatsch: Ich habe eben festgestellt, Makatsch: . . . weil sie wissen: „Die Makatsch: . . . die war so niedlich, ohne daß mein Senf seit drei Jahren abgelau- wartet nur, daß ich anrufe. Soll sie doch dumm zu sein. So verspielt. Ein richti- anrufen. Ich warte jetzt erst mal fünf Ta- ges Mädchen. Sehr sympathisch. ge ab.“ SPIEGEL: Wie kommen denn Jungs mit SPIEGEL: Ist dieses Taktieren mit den Ihrer Mischung aus Weiblichkeit und Waffen der Frau nicht mühsam? Härte zurecht? Makatsch: Warum soll Charme mühsam Makatsch: Ich glaube, denen gefällt das. sein? Jungs wollen kein Heimchen, das im Hinrichsen: Ach was, Charme. Vivienne Topf rührt und von nichts einen Plan Westwood hat gesagt: Die Waffen der hat. Die wollen eine Frau, von der sie Frau sind ihre Titten und ihr Arsch. auch mal was lernen können. Makatsch: Mit Titten und Arsch kann SPIEGEL: Gibt es Dinge, die Sie nie mit man sicher einige Männer anlocken. einem Mann besprechen würden? Aber nicht die, die ich bevorzuge. Hinrichsen: Es ist wahrscheinlich SPIEGEL: Sie tragen heute alle drei kur- schwierig, von einem Mann eine Ant- ze Röcke und dazu dicke, schwarze Stie- wort darauf zu bekommen, wie man ei- fel. Sind das Ihre Waffen? nen Lippenstift auftragen soll. Makatsch: Das sind nicht unsere Waf- Makatsch: Das kriegt man aber auch fen, das ist unsere Kleidung, und die ist selbst raus. natürlich wichtig. Das ist so, als ob du Hinrichsen: Manchmal nicht. Das kann Julia Hinrichsen ein Schild um den Hals trägst. manchmal Jahre dauern, wenn’s einem Adorja´n: Aber die tragen wir für Frauen nicht richtig gezeigt wird. Ich kann’s bis „Claudia Schiffer sieht und für Männer. Ich denke doch nicht, heute nicht. ich zieh’ mir jetzt einen kurzen Rock an, Makatsch: Ich kann’s sogar im Dun- aus, als habe ein Mann sie nur, weil ich einen Vorstellungstermin keln. Das ist bei mir angeboren. im Baukasten gebastelt“ habe. Vielleicht noch dazu hohe Absät- SPIEGEL: Können Sie auch ein Bild auf- ze. Lieber würde ich mich einsperren hängen? lassen. Kurzer Rock, hohe Schuhe, das Makatsch: Einen Nagel in die Wand fen ist. Also esse ich am Wochenende heißt: „Ich bin so hilflos, ich falle gleich schlagen und ein Bild aufhängen? Also, eine Butterstulle, fertig. in die nächste Kiesgrube.“ ich würde mir das zutrauen. Aber es wä- SPIEGEL: Also lauter Lätta-Haushalte. Makatsch: Kurzer Rock, schwere Stie- re mir auch egal, wenn es dann schief So wie sich die Werbung die starke, fel dagegen heißt: „Ich trage, was ich dahängt. Wenn es schief ist, ist es halt neue Frau vorstellt. will, und ich lauf’ damit überall hin. schief. Aber wenn mein Auto kaputt- Makatsch: Quatsch Lätta. Das ist was Wenn ich will.“ geht, wäre ich allein aufgeschmissen. für so Gruselfrauen wie diese RTL- SPIEGEL: Könnten Sie sich noch mit Das ist mir auch Wurst. Das Auto soll Sprecherin Barbara Eligmann. Die Alice Schwarzer unterhalten? fahren. Und wenn’s nicht mehr fährt Werbung – grauenhaft. Dagegen die Hinrichsen: Die weiß bestimmt prima und der Reifen ist kaputt, dann hält Kraft-Ketchup-Werbung: groß. Da mer- Rohkostrezepte. schon jemand an. Da machen die dann ke ich, daß ich auf einmal Ketchup gut Makatsch: Ich würde sie fragen, warum stundenlang herum. So sind Männer. finde wegen der Reklame. Da kommt sie das andere Geschlecht, mit dem man Ich finde, die sollten auch Steine übers dieses Mädchen auf diese Party, ißt

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Pommes, hat einen rotverschmierten Auflage seiner Vierteljahreszeitschrift Mund und ist sehr sympathisch. Da ist Exzentriker auf 185 000 Exemplare gesteigert und, nichts von wegen harte Frau, das ist mehr schöner noch: „Seit dem ersten Tag wirft so Pippi Langstrumpf. Man denkt: das Blatt Gewinn ab.“ „Wow, die hätte ich gerne zur Freun- Im militanten Nichtraucherland Ame- din.“ Fidels rika sammeln sich die Zigarrenfreunde, Hinrichsen: So ziemlich das Gegenteil und Shanken will die Stimme dieser Ver- von Claudia Schiffer. Claudia Schiffer folgten sein. Sein Cigar Aficionado wet- sieht aus, als habe sie ein Mann im Bau- Torpedos tert gegen Pläne in New York und ande- kasten zusammengebastelt. ren Städten, Rauchen in allen Restau- Adorja´n: Die sieht wirklich so aus wie ei- Der New Yorker Verleger eines rants und auf öffentlichen Plätzen zu ver- ne Frau, die besser den Mund halten soll- Zigarren-Magazins hat unerwarte- bieten. Er warnt vor zigarrenfeindlichen te. Kneipen, listet zigarrenfreundliche Re- SPIEGEL: Was liegt neben Ihren Betten, ten Erfolg mit Raucherpartys. staurants auf und ermittelt Versicherun- wenn Sie einschlafen? gen, dieZigarrenraucher nicht alsRisiko- Adorja´n: Ein Wecker, mein Tagebuch, inner des Jahrhunderts“ nannte gruppe einstufen. jede Menge Zeitschriften und das Buch, der Amerikaner Marvin Shanken, Manchmal allerdings geht er der Klien- das ich gerade lese: Thomas Bernhard Dwozu er jüngst ins Pariser Restau- tel zu weit. Wütende Leserbriefe („Sie „Der Untergeher“. rant Laurent geladen hatte: Für 1000 haben sich mit einem Monster eingelas- Hinrichsen: . . . jede Menge Kassetten, Dollar Eintritt durften 160 Genießer aus sen“) erhielt er nach einem zehnseitigen Zigaretten, das Fernsehprogramm. Und aller Welt am Chaˆteau Lafite-Roth- Exklusiv-Interview mit Fidel Castro. Krümel, Krümel und noch mehr Krü- schild, Jahrgang 1924, nippen und beka- Darin plaudert derkubanische Staatschef mel. Leere Teller auch. Dazu die eine men Edles von den Starköchen Alain freundlich und fachkundig und erzählt, oder andere Bierdose. Ducasse und Joe¨l Robuchon serviert. daß er selbst eine der besten Marken, die Makatsch: Hey, wartet auf mich! Also Der Bordeaux war nur Beiwerk, „Cohiba Esple´ndido“, für den Markt ent- neben meinem Bett liegen: die Strümp- ebenso die Haute Cuisine. Höhepunkt deckt habe. Zuvor sei sie nur das private fe, die ich gerade ausgezogen habe, jede des Programms waren die Zigarren, die Erzeugnis eines Leibwächters gewesen. Menge Kassetten und ein lee- Sehr geschätzt werden dage- rer Teller, weil ich mir vorher gen die „Big Smokes“, Rau- immer noch Brote schmiere. cherpartys, die Shanken regel- Hinrichsen: Und der Freund, mäßig veranstaltet. 1200 Gä- den man aus dem Bett rausge- ste versammelten sich im Be- schmissen hat. verly-Wilshire-Hotel in Los Makatsch: Nein, der liegt auf Angeles, 900 waren es in Chi- der Couch. cago, einige hundert in Miami SPIEGEL: Haben Sie Angst vor Beach und mehr als 2500 in der Zukunft? New York. Adorja´n: Ich nicht. Das hatte Big smoke ist big business ich Anfang der achtziger Jahre. für Shanken: Die Hersteller Da haben sie uns in der Schule zahlen 700 Dollar, damit sie Umweltfilme gezeigt, überall ihre edelsten Marken kosten- braunes Wasser und so. Da hab los verteilen dürfen. Jeder ich auch Angst vor dem Atom- Raucher zahlt 125 Dollar für krieg gehabt. Ganz, ganz die Erlaubnis, diese Werbege- schlimm. schenke entgegenzunehmen. Hinrichsen: Beim Golfkrieg Die Zeit scheint günstig für war es noch mal so schlimm. Aficionados. Feine Hotels la-

SPIEGEL: Haben Sie eine Ah- N. FEANNY / SABA den jetzt häufig zu Spezialdin- nung, wo Sie mit 35 sein wer- Raucher Shanken: Gespräch mit dem Monster ners für Zigarrenfreunde, den? Raucher gründen Raucher- Hinrichsen: Ich bin dann schon tot. nach dem Mahl gereicht wurden: zwei klubs. Und Prominente bekennen sich Adorja´n: Wie schrecklich, woran ge- kubanische Marken, die „Cohiba Tor- zu ihrem Laster. Vor zwei Jahren noch storben? pedo“ und die „Cohiba A“, exklusiv für hatte der TV-Star Bill Cosby ein Foto Hinrichsen: Kehlkopfkrebs, Lungen- diesen Abend gefertigt. Zu Hause in mit Zigarre verweigert. Jetzt ließ er sich krebs, keine Ahnung. New York hätte sich Shanken mit dieser für den Titel des Cigar Aficionado ab- Makatsch: Ich könnte mir vorstellen, Einladung strafbar gemacht; die Einfuhr lichten. Jack Nicholson soll folgen. daß ich Kinder habe, auf jeden Fall, kubanischer Zigarren ist dort verboten. Auch Bill Clinton wurde schon ge- das wünsche ich mir. Kein Amerikaner erwartet das Ende fragt, doch er wollte nicht. Dem US- Adorja´n: Ich denke mir auch: So mit 32 des US-Wirtschaftsembargos gegen Ku- Präsidenten und mehr noch seiner Frau ein Kind. ba deshalb so sehnsüchtig wie Marvin Hillary, die im Weißen Haus das Rau- SPIEGEL: Und wie sieht es mit 65 aus? Shanken, 50. Die Betonung liegt auf chen verboten hat, sind die Überzeu- Adorja´n: Keine Ahnung. süchtig: Shanken ist passionierter Rau- gungsraucher ohnehin gram. Makatsch: Viele, viele Kinder, viel cher und hat seine Passion zur Professi- Vor ein paar Monaten bildete das Ma- Liebe, ein Haus in Deia auf Mallorca, on gemacht. Mit Cigar Aficionado gazin einen Clinton-Schnappschuß ab, aber schon auch immer noch Partys. („Der Zigarren-Liebhaber“) verlegt er das den Präsidenten beim Kauen einer Hinrichsen: Wenn ich nicht mit 35 ster- ein 3,95 Dollar teures Glanzmagazin, kalten Zigarre zeigte. Kommentar: Der be und die 65 schaffe, dann würde ich das auf eine stetig wachsende Leser- Mann, der einst öffentlich gestand, er gerne so einen Rentnertanzclub auf- schaft zählen darf. habe Haschisch geraucht, ohne zu inha- machen. Das fände ich ziemlich Gestartet war er im Herbst 1992 mit lieren, habe offenbar auch vom Zigar- nett. Y 100 000 Heften. Inzwischen hat er die rengenuß keinen Schimmer. Y

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SERIE MANDELA – DER LANGE WEG

„EIN FÜHRER IST EIN HIRTE“ Aus den Memoiren des südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela (II): Apartheid und Guerillakrieger

ch kann nicht genau angeben, wann sten und in den Herden. Neben der renenbus“ – nur für Afrikaner –, der ich politisiert wurde. Afrikaner in Straße lagen Lachen von stinkendem mit 1,10 Pfund pro Monat mein Ein- ISüdafrika zu sein bedeutete damals in stehendem Wasser voller Maden. kommen erheblich beschnitt. Außer- den vierziger Jahren, daß man von Ge- Das Township war überfüllt, jeder dem mußte ich Gebühren an die Uni- burt an politisiert war, ob man es zugab Quadratmeter trug ein Behelfshaus oder versity of South Africa entrichten, um oder nicht. eine Wellblechhütte. Nachts herrschten meine in Fort Hare begonnenen Stu- Ein afrikanisches Kind kam in einem Pistole und Messer. dien beenden zu können. Ein weiteres Krankenhaus nur für Afrikaner zur Aber trotz der höllischen Aspekte Pfund oder so ging für Lebensmittel Welt, wurde in einem Bus nur für Afri- war Alexandra auch eine Art Himmel. drauf. kaner nach Hause gebracht, wohnte in Als eines der wenigen Gebiete des Lan- Unvermeidlich fehlten mir jeden einem Bezirk nur für Afrikaner und be- des, wo Afrikaner freien Grundbesitz Monat mehr als nur ein paar Pence. suchte eine Schule nur für Afrikaner, erwerben und ihren eigenen Angelegen- Oft mußte ich mich mit einer winzigen wenn es überhaupt ei- Mahlzeit begnügen und konnte meine ne Schule besuchte. Kleider nicht wechseln. Einmal Wuchs das Kind her- schenkte mir mein Chef einen seiner an, konnte es einen alten Anzüge. Nachdem er gestopft Arbeitsplatz nur für und geflickt war, trug ich diesen An- Afrikaner erhalten, zug tagtäglich fast fünf Jahre lang. Am ein Haus in einem Ende hatte er mehr Flicken als An- Township nur für Afri- zugstoff. kaner mieten und In der Kanzlei war mein Verhältnis konnte jederzeit ange- zu Gaur Radebe – neben mir der einzi- halten und nach sei- ge Afrikaner dort – immer enger ge- nem Ausweis gefragt worden. Gaur, zehn Jahre älter als ich, werden. Wenn es ihn erzählte mir von den Versammlungen nicht bei sich hatte, und Absichten des 1912 gegründeten wurde es ins Gefängnis African National Congress (ANC), der gesteckt. für die Afrikaner die Anerkennung als Es war eine ständige vollwertige Bürger Südafrikas forderte. Anhäufung von tau- Mit Gaur ging ich zu vielen Treffen send Kränkungen, tau- des ANC, 1943 marschierte ich mit send unerinnerten Mo- ihm und 10 000 anderen beim Busboy- menten, die Wut in kott von Alexandra mit, um gegen die mir erzeugten, die das Erhöhung der Fahrpreise von vier auf Verlangen weckten, fünf Pence zu protestieren. Die Effek- ein System zu bekämp- tivität des Boykotts war beeindruk- fen, das mein Volk kend: Nach neun Tagen, an denen die

einkerkerte. Da war I. BERRY / MAGNUM Busse leer fuhren, reduzierte die Bus- kein bestimmter Tag, Rechtsanwalt Mandela in Johannesburg (1957) gesellschaft die Fahrpreise wieder auf an dem ich mir sagte, „Ich liebte unorthodoxe Taktiken im Kreuzverhör“ vier Pence. von nun an will ich 1943 schrieb ich mich an der Univer- mich der Befreiung meines Volkes wid- heiten nachgehen konnten, wo sich die sität von Witwatersrand ein, um den men. Statt dessen tat ich es einfach, weil Menschen nicht der Tyrannei weißer Bachelor of Law, die akademische ich nicht anders konnte. städtischer Behörden unterwerfen muß- Vorstufe für den Rechtsanwalt, zu ma- 1941, in meinem ersten Jahr in Alex- ten, war Alexandra für Afrikaner ein ur- chen. Die Universität, allgemein als andra, einer Afrikaner-Siedlung am banes Gelobtes Land. „Wits“ bekannt, liegt in Braamfontein Rande Johannesburgs, lernte ich mehr Um diese zu bewegen, auf dem Land im Norden von Johannesburg, und sie über Armut als während meiner gesam- zu bleiben oder unten in den Minen zu gilt vielen als beste englischsprachige ten Kindheit in Qunu, einem Dorf in der arbeiten, hatte die Regierung stets be- Universität in Südafrika. Transkei. Das Leben in Alexandra war hauptet, Afrikaner seien von Natur aus In der juristischen Fakultät war ich aufregend und gefährlich zugleich. Die Landmenschen, ungeeignet für das der einzige Afrikaner. Obwohl ich ei- schmutzigen Straßen waren ungepfla- Stadtleben. Trotz aller Probleme und nige sympathische Weiße kennenlern- stert und voller hungriger, unterernähr- Mängel strafte Alexandra diese Behaup- te, die meine Freunde wurden, waren ter Kinder, die halbnackt herumliefen. tung Lügen. doch die meisten von ihnen weder libe- Die Luft war geschwängert vom Rauch Die Anwaltskanzlei in Johannesburg, ral noch „farbenblind“. Zwar nahm der Holzkohlenfeuer unter den Blechro- in der ich damals als Hilfskraft arbeite- niemand das Wort „Kaffer“ in den te, zahlte mir zwei Pfund monatlich. Mund; aber es herrschte eine still- © 1994 Nelson Mandela. Deutsche Ausgabe: Das billigste Beförderungsmittel von schweigende Feindseligkeit, die ich ge- © 1994 S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. und nach Alexandra war der „Eingebo- nau spürte.

120 DER SPIEGEL 47/1994 Bahnsteig für Nichtweiße in Johannesburg (1975): „Anhäufung von tausend Kränkungen, die Wut in mir erzeugten“ J. GUYAUX

„Wits“ eröffnete mir eine neue wurde Sekretär und Sisulu Schatzmei- sy plek“ (Der Nigger an seinen Platz) Welt, eine Welt voller Ideen, politi- ster. Wir wollten, im Gegensatz zur und „Die Koelies uit die land“ (Die scher Überzeugungen und Debatten, ANC-Leitung, deren Politik eher durch Kulis raus aus dem Land). „Kulis“ eine Welt, in der Menschen leiden- Zurückhaltung gekennzeichnet war, die war das burische Schmähwort für In- schaftlich an Politik interessiert waren. Massen zur Unterstützung unserer Ziele der. Ich lebte unter weißen und indischen mobilisieren. Die Nationalisten, geführt von Dr. Intellektuellen meiner eigenen Genera- Im Haus von Sisulu lernte ich auch Daniel Malan, einem ehemaligen tion und traf zum erstenmal auf Men- Evelyn Mase, eine Krankenschwestern- Geistlichen der Holländisch-Reformier- schen, die sich dem Freiheitskampf fest schülerin, kennen. Schon wenige Mona- ten Kirche und Zeitungsredakteur, wa- verbunden hatten, die trotz ihrer Privi- te später heirateten wir. Unser Heim, ren eine von Bitterkeit erfüllte Partei – legien bereit waren, sich für die Sache ein kleines Haus in Orlando, war alles Bitterkeit gegenüber den Engländern, der Unterdrückten einzusetzen. andere als großartig, doch es war mein die sie jahrzehntelang als minderwertig Unter jenen, die damals in Johan- erstes echtes Zuhause, und ich war sehr behandelt hatten, und Bitterkeit gegen- nesburg bei mir einen starken Ein- stolz darauf. In jenem Jahr wurde unser über den Afrikanern, die ihrer Ansicht druck hinterließen, war vor allem Wal- erster Sohn, Madiba Thembekile, gebo- nach den Wohlstand und die Reinheit ter Sisulu, der mich unter seine weise ren. Mit „Thembi“ hatte ich einen Er- der Buren-Kultur bedrohten. Wir Afri- Obhut nahm. Er war stark, vernünftig, ben in die Welt ge- kaner kannten keine praktisch und engagiert, sein Haus in setzt, obgleich ich ihm Loyalität gegenüber Orlando, einem Stadtteil von Johan- damals nur wenig zu Malans Buren General Smuts von der nesburg, war ein Mekka für Aktivisten vererben hatte. United Party, noch und ANC-Mitglieder. verboten die Heirat weniger freilich gegen- Dort begegnete ich auch Anton frikaner konnten zwischen Weißen über der National Par- Lembede. Er war einer aus der Hand- Anicht wählen, aber ty. voll afrikanischer Rechtsanwälte, die das bedeutete nicht, und Nichtweißen Malans Programm es in ganz Südafrika gab, und ein Ver- daß es uns gleichgültig war bekannt als fechter des Afrikanismus. Für ihn war gewesen wäre, wer die „Apartheid“. Das war Afrika der Kontinent des schwarzen Wahl gewann. 1948 standen sich die ein neuer Name für eine alte Idee. Mannes – jetzt sei die Zeit reif für die herrschende, von Briten dominierte Apartheid bedeutet soviel wie „Tren- Afrikaner, sich zu behaupten und zu- United Party und die wiedererstarkte nung“ und war die Kodifizierung aller rückzufordern, was rechtmäßig ihr Ei- National Party der Buren gegenüber, Gesetze und Vorschriften, die über gentum war. die offen ihre Sympathie für Nazi- Jahrhunderte hinweg die Schwarzen ge- Lembede wurde der erste Präsident Deutschland bekundet hatte. genüber den Weißen in einer unterge- der 1944 gegründeten ANC-Jugendli- Der Wahlkampf der National Party ordneten Position gehalten hatten. Ein ga, zu dessen Exekutivkomitee auch konzentrierte sich auf die „Swart Ge- Unterdrückungssystem, das die weiße ich gehörte. Oliver Tambo, den ich vaar“ (schwarze Gefahr), sie bestritt ihn Vorherrschaft für alle Zeiten sichern noch aus meiner Studentenzeit kannte, mit den beiden Slogans „Die Kaffer op sollte: „Die wit man moet altyd baas

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wees“ („Der weiße Mann muß immer aufgestiegen und führten den ANC auf einem kleinen Gebäude in der Innen- Boß bleiben“). Für Malans Partei waren einen Weg, der radikaler und revolutio- stadt von Johannesburg. die Buren Gottes auserwähltes Volk närer war. Die Jahreskonferenz des Von Anfang an wurde unser Büro von und die Schwarzen eine untergeordnete ANC von Ende 1952 wählte einen neu- Mandanten geradezu belagert. Wir wa- Spezies. en, energiegeladenen Präsidenten: ren das einzige afrikanische Anwaltsbü- Der überraschende Sieg der Nationa- Häuptling Albert Luthuli. Schon lange ro in Südafrika. listen bedeutete den Anfang vom Ende im ANC aktiv, gehörte Luthuli zu jenen Afrikaner suchten verzweifelt juristi- der britischen Herrschaft im Süden des Häuptlingen, die der Politik der Regie- sche Hilfe bei uns: Es war ein Verbre- afrikanischen Kontinents. Es war die rung stets starken Widerstand entgegen- chen, durch eine „Nur für Weiße“-Tür letzte Schlacht im Krieg zwischen Eng- gesetzt hatten. in Regierungsgebäuden zu gehen, ein ländern und Buren. Zum erstenmal in Mir selbst war es damals nicht mög- Verbrechen, in einem „Nur für Weiße“- der Geschichte Südafrikas war eine rei- lich, der nationalen Konferenz beizu- Bus zu fahren, ein Verbrechen, einen ne Burenpartei an der Regierung. wohnen. Wenige Tage vor dem Beginn „Nur für Weiße“-Trinkbrunnen zu be- Schon bald begann der Konferenz waren nutzen, ein Verbrechen, an einem „Nur Malan sein verderbli- im ganzen Land 52 für Weiße“-Strand spazierenzugehen, ches Programm zu ver- „Mit der Spitze Führer, darunter auch ein Verbrechen, kein Paßbuch bei sich wirklichen. „Misch- ich, unter Bann ge- zu haben, ein Verbrechen, arbeitslos zu ehen“ wurden per Ge- meines Bleistifts stellt worden. Wir sein, ein Verbrechen, an bestimmten setz verboten, ebenso hob ich den durften sechs Monate Orten zu leben, und ein Verbrechen, der Sexualverkehr zwi- lang an keinerlei Tref- keinen Platz zum Leben zu haben. Je- schen Weißen und Slip vom Tisch“ fen oder Zusammen- den Tag hörten und sahen wir die tau- Nichtweißen, und der künften teilnehmen. sendfältigen Erniedrigungen, denen ge- Population Registrati- Meine Bewegungsfrei- wöhnliche Afrikaner ausgesetzt waren. on Act klassifizierte alle Südafrikaner heit war auf den Distrikt von Johannes- Gegenüber Zeugen der Anklage nach Rassenzugehörigkeit. burg beschränkt. Generell war mir ver- wandte ich zuweilen unorthodoxe Takti- Diese Maßnahmen ließen den ANC boten, zu mehr als einer Person auf ein- ken an. Ich liebte Kreuzverhöre und 1949 einen neuen Weg einschlagen. Auf mal zu reden. setzte häufig auf rassische Spannungen. der Jahreskonferenz in Bloemfontein Ich erinnere mich daran, daß ich ein- nahm die Organisation ein Aktionspro- ein Leben verlief damals auf zwei mal eine Afrikanerin verteidigte, die in gramm an, das zu Boykotts, Streiks, zu M Gleisen: die Arbeit im Befreiungs- der Stadt als Hausangestellte arbeitete. passivem Widerstand, zu Protestdemon- kampf des ANC und mein Beruf als Sie war angeklagt, ihrer „Madam“ Klei- strationen und anderen Formen von Rechtsanwalt. Nach bestandener An- dungsstücke gestohlen zu haben. Die Massenaktionen aufrief. waltsprüfung hatte ich zunächst in einer angeblich gestohlene Kleidung lag im Dies war ein radikaler Wandel: Mit liberalen weißen Kanzlei als Angestell- Gerichtssaal ausgebreitet auf einem seiner Politik, alle Aktivitäten im Rah- ter gearbeitet. 1952 eröffnete ich dann Tisch. men des Gesetzlichen zu halten, hatte als erster Afrikaner ein eigenes An- Nachdem „Madam“ ausgesagt hatte, der ANC nicht das geringste gegen die waltsbüro. begann ich mit meinem Kreuzverhör, Unterdrückung ausgerichtet. Nun soll- Wenige Monate später wurde Oliver wobei ich langsam zu dem Tisch mit den ten seine Mitglieder bereit sein, Gesetze Tambo mein Partner. „Mandela und Beweisstücken ging. Ich schaute die zu verletzen und, falls nötig, für ihre Tambo“ stand auf dem Messingschild an Stücke prüfend an und hob dann mit der Überzeugungen ins Gefängnis zu gehen. unserer Bürotür im Chancellor House, Spitze meines Bleistifts ein Teil der Da- Drei Jahre später war die Wachablö- menunterwäsche empor. Dann schlen- sung perfekt. Wir von der Jugendliga * Bei einer Protestaktion in einem für Weiße re- derte ich zum Zeugenstand und fragte, waren in der Organisation inzwischen servierten Eisenbahnabteil. während ich den Slip an meinem Blei- CAMERA PRESS ULLSTEIN Apartheids-Politiker Malan (1951), Apartheids-Gegner in Kapstadt (1952)*: „Der weiße Mann muß immer Boß bleiben“

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stift herumschwenkte, schlicht: „Ma- an Kraft auszugleichen. Mich faszinierte Das Treffen brachte keine Lösung, dam, ist dies Ihrer?“ „Nein“, erwiderte aber am Boxen, wie man seinen Körper und die Boxer, darunter auch ich, gingen sie hastig, weil es ihr peinlich war. Der bewegte, um sich zu schützen, wie man fortan ihre eigenen Wege. Richter wies die Klage ab. eine Strategie sowohl für den Angriff als Im März 1956 wurde mir zum auch für die Verteidigung anwandte, m 5. Dezember 1956, unmittelbar drittenmal ein Bann auferlegt, der mei- wie man sich die Kräfte einteilte. Anach Sonnenaufgang, weckte mich ne Bewegungsfreiheit für fünf Jahre Mein Hauptinteresse galt dem Trai- lautes Klopfen an meiner Wohnungstür. auf Johannesburg einschränkte. Im ning. Die anstrengenden Übungen wa- Ein Sicherheitsbeamter mit zwei Polizi- gleichen Jahr wurde ich als Mittels- ren ein ausgezeichnetes Ventil für An- sten stand vor der Tür. Nach der Durch- mann in einen erbitterten Streit ver- spannung und Streß. Nach einem stra- suchung der Wohnung präsentierte er wickelt. Im Box- und Gewichtheber- paziösen Training fühlte ich mich so- mir einen Haftbefehl. Als ich einen Blick klub von Orlando, wo ich fast jeden wohl mental als auch physisch erleich- darauf warf, sprang mich ein Wort an: Abend trainierte, standen sich zwei tert. „Hoogverraad“. Außer mir wurden an Parteien gegenüber, die beide meine Die kameradschaftliche Atmosphäre diesem und den folgenden Tagen noch Unterstützung suchten. im Klub wurde durch einen Streit zwi- weitere 155 Personen festgenommen, Ich war dem Klub 1950 beigetreten. schen Skipper Molotsi, dem Manager, darunter fast die gesamte Exekutivfüh- Seit ein paar Jahren nahm ich auch und Jerry Moloi, unserem Starboxer, rung des ANC. Die Regierung klagte uns allesamt des Hochverrats an sowie der landesweiten Verschwörung zum gewaltsamen Sturz der gegenwärtigen Regierung. Angeb- lich wollten wir sie durch ein kommuni- stisches Regime ersetzen. Am vierten Tag der Voruntersuchung wurden wir gegen Kaution freigelassen. Die Kautionssumme war ein Beispiel für die gleitende Skala der Apartheid: 250 Pfund für Weiße, 100für Inder und 25für Afrikaner und Farbige. Nicht einmal der Hochverrat war farbenblind. Bereits vor dem Prozeß hatte meine Ehe Auflösungserscheinungen gezeigt. Meine Frau Evelyn, die sich seit einiger Zeit für die religiöse Sekte der „Zeugen Jehovas“ engagierte, wollte nicht akzep- tieren, daß Politik für mich nicht nur eine Zerstreuung war, die ich später aufgeben würde, sondern fundamentaler Bestand- teil meines Lebens. Schließlich stellte mir meine Frau ein Ultimatum: Ich sollte zwischen ihr und dem ANC wählen. Noch bevor ich gegen Kaution freikam, war sie ausgezogen und hatte unsere Kinder mitgenommen. Ich fand ein leeres, stilles Haus vor. Sie hatte sogar die Vorhänge entfernt, und

AP dieses winzige Detail fand ich merk- Boxer Mandela, Trainingspartner Moloi (1957): Ventil für den Streß würdigerweise besonders niederschmet- ternd. meinen Sohn Thembi mit dorthin, und gestört. Jerry und die anderen Boxer Die Hochverratsanklage stützte sich 1956 war er mit seinen zehn Jahren ein meinten, daß Skipper sich nicht genü- auf Professor Andrew Murray, den Lei- ehrgeiziger, wenn auch spindeldürrer gend um den Klub kümmere. Der Trai- ter der Abteilung für Politische Wissen- Amateurboxer im Papiergewicht. ner war zu selten anwesend, um den schaften an der Universität von Kap- Wir waren schlecht ausgerüstet. Ei- Leuten sein Wissen zu vermitteln. stadt. Murray bezeichnete viele der bei nen Ring konnten wir uns nicht leisten, Die Boxer drohten, unter Jerrys Füh- uns beschlagnahmten Dokumente als und wir trainierten auf einem Zement- rung ihren eigenen Verein zu gründen. kommunistisch. fußboden, was besonders gefährlich Ich berief ein Treffen für alle Mitglie- Zu Anfang wirkte Professor Murray war, wenn ein Boxer niedergeschlagen der ein, und es wurde eine sehr lebhaf- relativ beschlagen. Doch dann nahm ihn wurde. Wir besaßen einen einzigen Pun- te Versammlung – geführt in Sesotho, unser Verteidiger Vernon Berrange´ ins chingball und nur einige Paar Boxhand- Zulu, Xhosa und Englisch. Selbst Kreuzverhör. Berrange´ las Murray Pas- schuhe. Wir hatten keine richtigen Box- Shakespeare wurde zitiert, und zwar sagen aus verschiedenen Dokumenten hosen oder -schuhe und keinen Mund- von Skipper in seiner Attacke gegen vor, die der dann als kommunistisch oder schutz. die rebellischen Boxer: Er warf Jerry nicht kommunistisch einstufen sollte. Ich war niemals ein hervorragender vor, ihn genauso zu verraten, wie Bru- Die erste Passage, die Berrange´ vor- Boxer. Ich gehörte in die Schwerge- tus Cäsar verraten hatte. „Sind die las, betraf die Notwendigkeit, daß ge- wichtsklasse und besaß weder genügend nicht tot?“ fragte ein Klub-Mitglied. wöhnliche Arbeiter miteinander koope- Kraft, um meinen Mangel an Schnellig- Worauf Skipper erwiderte: „Ja, aber rieren sollten. Kommunistisch, sagte keit wettmachen zu können, noch genü- die Wahrheit über den Verrat ist sehr Murray. Berrange´ merkte an, daß die gend Schnelligkeit, um meinen Mangel lebendig.“ Erklärung von dem früheren Minister-

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präsidenten von Südafrika, Dr. Malan, Als Winnie ihm gegen- stammte. über zum erstenmal unsere Berrange´ las zwei weitere Statements geplante Hochzeit erwähnt vor, die Professor Murray gleichfalls als hatte, hatte er ausgerufen: kommunistisch bezeichnete. Diesmal „Aber du heiratest ja einen handelte es sich um Passagen, die zwei Knastbruder!“ Er zeigte amerikanische Präsidenten von sich ge- sich besorgt: Eine solche geben hatten: Abraham Lincoln und Ehe in einer solch schwieri- Woodrow Wilson. Der Höhepunkt war gen Zeit werde unablässig erreicht, als Berrange´ eine Passage vor- schwersten Prüfungen un- las, die der Professor ohne Zögern als terworfen. Er wünschte sei- „von Grund auf kommunistisch“ be- ner Tochter Glück und en- zeichnete. Berrange´ gab dann bekannt, dete mit den Worten: daß es sich um eine Erklärung handelte, „Wenn dein Mann ein He- die Professor Murray selbst in den drei- xer ist, mußt du eine Hexe ßiger Jahren niedergeschrieben hatte. werden!“

ines Nachmittags, während einer mJahr1959verabschiede- EPause bei der Voruntersuchung, fuhr Ite das Parlament den Pro- ich am Baragwanath Hospital vorüber, motion of Bantu Self Go- dem bedeutendsten schwarzen Kran- vernment Act, der acht ver- kenhaus in Johannesburg. An einer schiedene ethnische Bantu- Bushaltestelle bemerkte ich aus dem stans ins Leben rief. Dies Augenwinkel eine reizende junge Frau, war die Gründung dessen, die auf den Bus wartete. was der Staat „groot“ oder Ich war überwältigt von ihrer Schön- große Apartheid nannte. heit und drehte den Kopf, um einen bes- Bei der Einführung die- seren Blick auf sie zu erhaschen, doch ses Gesetzes erklärte de mein Auto war schon zu weit entfernt. Wet Nel, der zuständige Mi- Aber das Gesicht dieser Frau haftete in nister, das Wohlergehen je- meiner Erinnerung. des einzelnen und jeder Be- Einige Wochen später, als ich nur völkerungsgruppe könne

kurz bei Oliver Tambo im Büro vorbei- MAYIBUYE CENTER am besten innerhalb der ei- schauen wollte, sah ich ebendiese junge Brautpaar Mandela (1958) genen nationalen Gemein- Frau vor seinem Schreibtisch sitzen. Ich „Aber du heiratest ja einen Knastbruder“ schaft erreicht werden. gab mir alle Mühe, mir meine Verblüf- Afrikaner, meinte er, könn- fung nicht anmerken zu lassen – und Der Hochverratsprozeß stand im ten niemals in die weiße Gemeinschaft in- auch nicht mein Entzücken. Oliver stell- zweiten Jahr, und er war für unsere An- tegriert werden. te uns einander vor. waltspraxis eine erdrückende Last. Die Unmoral der Bantustan-Politik lag Ihr Name war Nomzamo Winnifred „Mandela und Tambo“ fielen als Praxis klar auf der Hand: Durch sie würden 70 Madikizela, genannt Winnie. Sie war auseinander, weil wir ja nicht anwesend Prozent der Bevölkerung lediglich 13 das sechste von elf Kindern eines Schul- sein konnten, und sowohl Oliver als Prozent des Landes erhalten. Obwohl direktors, der Geschäftsmann geworden auch ich befanden uns in großen finan- zwei Drittel der Afrikaner in sogenann- war. Als erste schwarze Sozialarbeiterin ziellen Schwierigkeiten. ten weißen Gebieten lebten, konnten sie arbeitete sie im Baragwanath Hospital. All dies erklärte ich Winnie. Ich sagte nach der neuen Politik ihre Bürgerrechte Am nächsten Tag rief ich sie im Hos- ihr, es sei mehr als wahrscheinlich, daß ausschließlich in dem „Homeland“ ihres pital an und lud sie zum Essen ein. Ich wir von ihrem kleinen Gehalt als Sozial- Stammes wahrnehmen. Dieses System führte sie in ein indisches Restaurant in arbeiterin würden leben müssen. Win- gab uns weder Freiheit in „weißen“ Ge- der Nähe meines Bü- nie verstand und er- bieten noch Unabhängigkeit in dem, was ros, eines der wenigen klärte sich bereit, das man „unsere“ Gebiete nannte. Lokale, in dem auch „Wenn dein Mann Risiko einzugehen und Ministerpräsident Verwoerd erklärte, Afrikaner bedient ihr Leben an meines zu die Schaffung der Bantustans – oder wurden. Winnie war ein Hexer binden. Homelands – würde so viel guten Willen hinreißend, und die ist, mußt du eine Die Hochzeit fand erzeugen, daß sieniemals Brutstätten der Tatsache, daß sie noch am 14. Juni 1958 statt. Rebellion würden. Das Gegenteil war nie zuvor Curry geko- Hexe werden“ Ich beantragte eine der Fall. Die ländlichen Gebiete befan- stet hatte und ein Glas Lockerung meiner den sich in Aufruhr. Scharen unschuldi- Wasser nach dem an- Bannungsverfügun- ger Menschen wurden verhaftet, verur- deren trank, um ihren Gaumen zu küh- gen. Sechs Tage Abwesenheitsurlaub teilt, ins Gefängnis geworfen, zusam- len, erhöhte nur ihren Charme. von Johannesburg wurden mir gewährt. mengeschlagen, gefoltert und ermordet. Kurz nachdem ich die Scheidung ge- Im Rathaus von Winnies Heimatort Am 3. August 1959, zwei Jahre und gen Evelyn eingereicht hatte, sagte ich Bizana in der Transkei feierten wir den acht Monate nach unserer Verhaftung, Winnie, sie solle die Maße für das Hoch- Hochzeitsempfang. Die Rede, an die ich begann der eigentliche Prozeß in dem zeitskleid nehmen lassen. Später erzähl- mich am deutlichsten erinnere, war die Hochverratsverfahren gegen uns in der te Winnie öfter lachend, ich hätte ihr von Winnies Vater. Er sprach von der Alten Synagoge in Pretoria. Wir wurden niemals einen Heiratsantrag gemacht, Liebe zu seiner Tochter, von meinem formal angeklagt und erklärten uns alle doch ich habe ihr immer erklärt, ich hät- langjährigen Engagement für das Land für nicht schuldig. te sie schon bei unserer allerersten Ver- und meiner gefährlichen Karriere als Am 21. März 1960 – vor Gericht sagte abredung gefragt. Politiker. gerade Häuptling Luthuli als Zeuge der

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Verteidigung aus – wurde der Prozeß wanderungsplänen. Liberale drängten durch ein aufrüttelndes Ereignis außer- Ministerpräsident Verwoerd, Afrika- halb des Gerichts unterbrochen. Als der nern gegenüber Konzessionen zu ma- Häuptling einen Monat später seine chen. Die Regierung beharrte auf ihrer Aussagen fortsetzte, war das Gericht zu Behauptung, Sharpeville sei das Ergeb- einem anderen Ort geworden – wie Süd- nis einer kommunistischen Verschwö- afrika insgesamt. rung. Dem Namen der Siedlung, in dem Das Massaker schuf eine neue Situati- sich der verhängnisvolle Vorfall ereigne- on im Land. Innerhalb nur eines Tages te, haftet noch immer ein tragischer waren die bislang wenig beachteten Klang an: Sharpeville. PAC-Aktivisten in die vordersten In diesem kleinen Township, 50 Kilo- Kampfeslinien vorgerückt. Wir im ANC meter südlich von Johannesburg, hatten hatten uns dieser Lage rasch anzupas- an jenem 21. März Aktivisten des Pan sen, und das taten wir auch. African Congress (PAC) wie an vielen Am 26. März verbrannte ANC-Präsi- anderen Orten zu einer Demonstration dent Luthuli in Pretoria öffentlich sei- gegen die diskriminierenden Paßgesetze nen Paß und rief andere dazu auf, sei-

aufgerufen. Der 1959 gegründete PAC nem Beispiel zu folgen. In Orlando ver- R. KALLY war eine Widerstands- brannten Duma Nok- ANC-Präsident Luthuli (1955) organisation, die im we von der ANC-Füh- Öffentlich den Paß verbrannt Gegensatz zum ANC „Ich wurde ein rung und ich ebenfalls nur Schwarze auf- unsere Pässe – vor tionen erklärt. Über Nacht war es zum nahm. Wesen der Nacht, Hunderten von Men- Verbrechen geworden, Mitglied des Am frühen Nach- tagsüber blieb schen und Dutzenden ANC zu sein. Wir waren jetzt Outlaws – mittag umringten meh- von Pressefotografen. Gesetzlose. rere tausend Men- ich verborgen“ Luthuli kündigte ein Als ein knappes Jahr später die Rich- schen die Polizeistati- landesweites „Stay at ter des Hochverratsprozesses zur Ver- on. Die Demonstran- home“ (Fernbleiben kündung des seit langem erwarteten Ur- ten waren unbewaffnet. Die kleine Poli- von der Arbeit) für den 28. März an, ei- teils zusammenkamen, waren die Besu- zeitruppe von 75 Mann war zahlenmäßig nen Tag der Trauer und des Protests an- chergalerie und die Pressebank dicht ge- weit unterlegen und geriet in Panik. gesichts der Greuel von Sharpeville. füllt. Hunderte hatten keinen Einlaß Plötzlich eröffnete sie das Feuer auf die Das Land reagierte großartig: Mehre- mehr gefunden. Menschenmenge und schoß noch wei- re hunderttausend Afrikaner folgten Mit seiner tiefen, ruhigen Stimme ter, als sich die Demonstranten um- zwei Tage später dem Aufruf von trug der Vorsitzende die Schlußfolge- wandten und in ihrer Angst fortliefen. Häuptling Luthuli. rungen des Gerichts vor: Ja, der African Als der Platz geräumt war, zählte man In vielen Gebieten brachen Unruhen National Congress habe darauf hingear- 69 tote Afrikaner, die meisten von ihnen aus. Die Regierung erklärte den Not- beitet, die Regierung durch eine „radi- mit Schüssen im Rücken. Insgesamt wa- stand und stattete sich mit Sondervoll- kal und fundamental andere Staatsform ren über 700 Schüsse in die Menge ge- machten aus. In Südafrika herrschte zu ersetzen“; ja, der African National feuert worden. Mehr als 400 Menschen jetzt Kriegsrecht. Congress habe während der Mißach- wurden verletzt, darunter auch viele Am 8. April wurden sowohl der ANC tungskampagne illegale Protestmetho- Frauen und Kinder. Es war ein Massa- als auch der PAC zu illegalen Organisa- den eingesetzt; ja, gewisse ANC-Führer ker, und am nächsten Tag zeigten Pressefotos auf den Frontseiten der Zeitungen in der ganzen Welt das Blutbad. Die Schüsse von Sharpe- ville lösten nationale Unru- hen und eine Regierungs- krise aus. Aus aller Welt kamen empörte Proteste. Zum erstenmal interve- nierte der Uno-Sicherheits- rat in südafrikanischen An- gelegenheiten. Er machte die Regierung für die Schießerei verantwortlich und forderte sie auf, Maß- nahmen zu ergreifen, um Gleichberechtigung unter den Rassen herbeizufüh- ren. Die Börsenkurse in Jo- hannesburg stürzten ab, und das Kapital begann aus dem Land abzufließen.

Südafrikanische Weiße be- I. BERRY / MAGNUM schäftigten sich mit Aus- Massaker in Sharpeville (1960): Die meisten Toten hatten Schüsse im Rücken

128 DER SPIEGEL 47/1994 MANDELA – DER LANGE WEG hätten Reden gehalten, in denen sie sich für Gewalttätigkeit aussprachen; und ja, es gebe im ANC eine starke Linksten- denz, erkennbar an seinen antiimperiali- stischen, antiwestlichen, prosowjeti- schen Einstellungen, jedoch: „All das diesem Gericht vorgelegte Beweismaterial vermag das Gericht nicht zu dem Schluß zu veranlassen, daß sich der ANC eine Politik zu eigen ge- macht hatte mit dem Ziel, den Staat durch Gewalt zu stürzen.“ Das Gericht erklärte weiter, es sei der Anklagevertretung nicht gelungen zu beweisen, daß der ANC eine kommuni- stische Organisation sei. Folglich seien die Angeklagten nicht schuldig und frei- zulassen. Jubel brach aus. Stehend umarmten wir uns und winkten in den glücklich lär- menden Gerichtssaal. Dann marschier- ten wir alle hinaus in den Gerichtshof, lächelnd, lachend, weinend. Nach über vier Jahren vor Gericht, nach dem Aufmarsch von Dutzenden von Anklagevertretern und nach der Vorlage von Tausenden von Dokumen- ten hatte der Staat eine peinliche Nie- derlage erlitten. Dennoch bestärkte das Resultat den Staat nur in seiner Härte gegen uns. Die Lehre, die er aus allem zog, war nicht etwa, daß unsere Beschwerden begrün- det waren, sondern daß er noch rück- sichtsloser vorgehen mußte. Nach der Urteilsverkündung kehrte ich nicht nach Hause zurück. Mochten andere auch in Festtagsstimmung sein, ich wußte, daß die Behörden jeden Au- genblick zuschlagen konnten, weil ja der ANC verboten war. Ich wollte fort sein, bevor man mich wieder bannen oder verhaften konnte.

on nun an lebte ich im Untergrund. VEin solches Leben erfordert seismo- graphisches Gespür und psychologisches Geschick. Man muß jede Handlung pla- nen, so geringfügig und scheinbar unbe- deutend sie auch ist. Nichts ist harmlos. Du kannst nicht du selbst sein; du mußt das verkörpern, was die von dir ange- nommene Rolle vorschreibt. In mancher Hinsicht erforderte dies für einen Schwarzen in Südafrika keine große Anpassung. Unter der Apartheid lebte der Schwarze ohnehin ein schat- tenhaftes Leben zwischen Legalität und Illegalität. Ich wurde ein Wesen der Nacht, tags- über blieb ich verborgen in meinem Un- terschlupf, und wenn es dunkel wurde, tauchte ich daraus hervor, um meine Arbeit zu tun. Ich operierte hauptsäch- lich von Johannesburg aus, reiste aber auch, falls notwendig, in die Provinzen. Entscheidend für das Leben im Un- tergrund ist es, unsichtbar zu sein. Ge- nauso wie es eine Art gibt, einen Raum

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Mit dem Prinzip der gewaltlosen Poli- tik war der ANC in den 50 Jahren seines Bestehens nicht weit gekommen. Sisulu und ich waren wie andere auch der Mei- nung, daß die Organisation einen neuen Kurs einschlagen mußte. Bei einem ANC-Treffen führte ich den alten afri- kanischen Ausspruch ins Feld: „Sebata- na ha se bokwe ka diatla“ („Die Angrif- fe der wilden Bestie kann man nicht nur mit bloßen Händen abwehren“). Mein Vorschlag, eine militärische Be- wegung aufzubauen, fand schließlich die Zustimmung Häuptling Luthulis und der ANC-Leitung. Es würde zwei ge- trennte Fronten des Kampfes geben. Die militärische Bewegung sollte zwar unter der Gesamtkontrolle des ANC sein, jedoch fundamental autonom. Der Auftrag ging an mich. Ich, der niemals in einer Schlacht gekämpft und niemals auf einen Feind geschossen hat- te, sollte nun eine Armee aufstellen. Der Name dieser neuen Organisation war Umkhonto We Sizwe („Speer der Nation“) – abgekürzt MK. Unsere Strategie bestand darin, selek- tiv Anschläge zu verüben gegen militäri- sche Einrichtungen, Kraftwerke, Tele- fonleitungen und Transportverbindun- gen – alles Ziele, die nicht nur die mili- tärische Effektivität des Staates beein-

MAYIBUYE CENTER trächtigen, sondern auch die Anhänger Angeklagte im Hochverratsprozeß*: Peinliche Niederlage für den Staat der National Party verschrecken, aus- ländisches Kapital abschrecken und die zu betreten, um auf sich aufmerksam zu rend der Französischen Revolution sei- Ökonomie schwächen würden. Dies, so machen, so gibt es Verhaltensweisen, nen Verfolgern immer wieder entkom- hofften wir, würde die Regierung an den die einen unauffällig machen. Ich sprach men war. Verhandlungstisch zwingen. Sollte Sa- leiser, weniger klar und deutlich. Ich Heimlich reiste ich im Land umher. botage nicht die gewünschten Resultate war passiver, drängte mich nicht auf; Ich war bei Moslems am Kap, bei Zuk- erbringen, so waren wir bereit, zur ich verlangte nichts, sondern wartete, kerarbeitern in Natal, bei Fabrikarbei- nächsten Phase überzugehen: Guerilla- daß andere mir sagten, was ich tun tern in Port Elizabeth. Ich tauchte in krieg und Terrorismus. sollte. Townships auf, hier und dort im Land Meine häufigste Verkleidung war die und nahm nachts an geheimen Treffen m Dezember erhielt der ANC eine eines Chauffeurs oder eines Gärtners. teil. IEinladung von der Pan African Free- Ich trug oft den blauen Overall eines Anfangs war ich bei einer Familie in dom Movement for East, Central and Landarbeiters und auch die runden, der Market Street untergekommen, Southern Africa (PAFMECSA) zu ihrer randlosen Brillengläser, die man Mazza- danach teilte ich mit einem weißen Konferenz in Addis Abeba im Februar wati-Brille nannte. Ich hatte ein Auto Freund eine Ein-Zim- 1962. Der ANC be- und trug eine Chauffeursmütze zu mei- mer-Junggesellenwoh- schloß, mich dorthin nem Overall. Die Chauffeursrolle war nung in Berea, einem „Sekou Toure´ ließ zu schicken. praktisch, weil ich unter dem Vorwand ruhigen weißen Vor- Meine Mission war, reisen konnte, das Auto meines Herrn ort, wenige Kilometer uns einen Koffer politische und ökono- zu fahren. nördlich des Zen- mit Banknoten mische Unterstützung Während der ersten Monate, in denen trums. Mein Zimmer- für unsere Armee, den die Polizei nach mir fahndete, beschäf- genosse hatte im Zwei- ins Hotel bringen“ MK, zu gewinnen. tigte meine Outlaw-Existenz die Phanta- ten Weltkrieg in Nord- Auch sollte ich militä- sie der Presse. Auf den ersten Zeitungs- afrika und in Italien rische Ausbildungs- seiten erschienen Artikel, in denen be- gekämpft. Seine Kenntnisse über Krieg- möglichkeiten für unsere Guerillakrie- hauptet wurde, man habe mich da und führung und seine Kampferfahrungen ger in anderen afrikanischen Ländern dort gesehen. Überall im Land wurden aus erster Hand waren äußerst nützlich erkunden. Straßensperren errichtet, doch die für mich. Obwohl Dutzende von Malen er- Fangnetze der Polizei blieben leer. Auf seine Anregung las ich das klassi- obert, war Äthiopien der Geburtsort Man gab mir den Spitznamen „Black sche Werk des preußischen Generals des afrikanischen Nationalismus. Im Pimpernel“, eine etwas herabsetzende von Clausewitz „Vom Kriege“. Clause- Gegensatz zu vielen anderen afrikani- Anspielung auf den waghalsigen Ro- witz’ zentrale These, daß der Krieg eine schen Staaten hatte das Land immer manhelden Scarlet Pimpernel, der wäh- Fortsetzung der Politik mit anderen Mit- wieder gegen den Kolonialismus ge- teln sei, entsprach meinen eigenen An- kämpft. Äthiopien hatte daher in mei- * Mit Nelson Mandela (Kreis). sichten. ner Phantasie immer einen besonderen

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SERIE MANDELA – DER LANGE WEG

Platz eingenommen. Dem Kaiser Haile Er hörte sehr aufmerksam zu und gab Selassie zu begegnen würde sein wie ein dann eine ziemlich formale Antwort, in Handschlag mit der Geschichte. einem Stil, als halte er eine Rede: Addis Abeba, die Hauptstadt des da- „Die Regierung und das Volk von maligen Kaiserreichs, war alles andere Guinea unterstützen in vollem Maße den als großartig. Es gab dort mehr Ziegen Kampf unserer Brüder in Südafrika, und und Schafe als Automobile, und außer wir haben bei den Vereinten Nationen dem Kaiserpalast, der Universität und entsprechende Erklärungen abgege- dem Ras-Hotel, in dem wir wohnten, ben.“ Nach diesen Worten trat er zu ei- gab es nur wenige Gebäude, die an Jo- nem Bücherregal und zog zwei seiner hannesburg erinnerten. Das zeitgenössi- Bücher hervor, die er jeweils mit seinem sche Äthiopien war auch nicht gerade Autogramm versah und uns überreichte. ein Vorbild, wenn es um die Demokratie Dann waren wir entlassen. ging. Es gab keine politischen Parteien, Oliver und ich waren verärgert. Doch keine vom Parlament kontrollierten Re- kurze Zeit später im Hotel klopfte ein gierungsorgane, keine Gewaltenteilung Vertreter des Außenministeriums an un- – nur den Kaiser, der allmächtig war. sere Tür und überreichte uns einen Kof- Doch eins begeisterte mich in Addis fer mit Banknoten. Freudestrahlend sa- Abeba: Hier sah ich zum erstenmal in hen wir einander an. Aber dann änderte meinem Leben schwarze Soldaten, kom- sich Olivers Gesichtsausdruck. „Nelson, mandiert von schwarzen Generälen, ap- dies ist Guinea-Währung“, sagte er. plaudiert von schwarzen Führern, die al- „Außerhalb dieses Landes ist sie nichts

le Gäste eines schwarzen Staatsober- HARRIS-EWING wert. Das ist bloß Papier.“ Doch Oliver hauptes waren. Es war ein berauschen- Kaiser Haile Selassie (1954) hatte eine Idee: Wir trugen das Geld zur der Augenblick. Handschlag mit der Geschichte tschechischen Botschaft, wo er einen Von Addis Abeba flog ich mit Oliver Freund hatte, der das Geld in eine harte Tambo nach Kairo. Ich verbrachte den sich ihre Streifen im Feuer erworben Währung umtauschte. gesamten Vormittag meines ersten Ta- hatten und denen Kampf und Taktik Im Senegal gab uns Präsident Le´opold ges in Kairo im Museum. Für einen afri- wichtiger waren als Paraden und Senghor zwar kein Geld, doch stattete er kanischen Nationalisten ist es wichtig, schmucke Uniformen. Mir war klar, daß mich mit einem Diplomatenpaß aus und sich mit Beweisen zu wappnen, um den unsere eigene Streitkraft eher diesen bezahlte unsere Flüge von Dakar zu un- falschen Behauptungen von Weißen ent- Kämpfern ähneln würde, und ich konn- serem nächsten Bestimmungsort: Lon- gegenzutreten, Afrikaner hätten keine te nur hoffen, daß sie auch ebenso tap- don. zivilisierte Vergangenheit. An einem fer sein würde. Ich hatte mehrere Gründe, nach Eng- einzigen Vormittag entdeckte ich, daß Von Präsident Sekou Toure´ in Gui- land reisen zu wollen, ganz abgesehen Ägypter bereits große Werke der Kunst nea waren Oliver und ich sehr beein- von dem Wunsch, das Land kennenzu- und Architektur geschaffen hatten, als druckt. Er lebte in einem bescheidenen lernen, über das ich so viel gelesen und die Weißen noch in Höhlen lebten. Bungalow und trug einen alten, verbli- gehört hatte. Unter anderem hoffte ich, In Algerien war ich dann Gast bei ei- chenen Anzug, dem eine Reinigung in London an Literatur über den Gue- ner weiteren Militärparade. Welch Un- nicht geschadet hätte. Wir legten ihm rillakrieg zu kommen, die anderswo terschied zu dem Aufmarsch, den ich in unsere Sache dar, erläuterten die Ge- nicht zu erhalten war. Addis Abeba erlebt hatte! Diese Trup- schichte des ANC und baten um 5000 Nach dem Aufenthalt in London stand pe, das waren Guerilla-Soldaten, die Dollar Unterstützung. meine militärische Ausbildung in Addis Abeba auf dem Plan. Ich lernte das Schießen mit automatischem Gewehr und Pistole sowie das Sprengen und Ab- feuern von Mörsern. Ich lernte, kleine Bomben und Minen herzustellen, und ich übte auch, wie man ihnen aus dem Weg geht. Ich fühlte, wie ich zu einem Soldaten geformt wurde, und begann zu denken wie ein Soldat – himmelweit an- ders, als ein Politiker denkt. Die Ausbildung war auf sechs Monate angesetzt, doch nach acht Wochen er- hielt ich ein Telegramm vom ANC, das mich dringend aufforderte, nach Hau- se zurückzukehren. Der bewaffnete Kampf in Südafrika eskalierte, und sie wollten mich dabeihaben.

Im nächsten Heft

Im Leopardenfell vor Gericht – Polizei entdeckt Plan zum Guerilla-Krieg – Verur- teilt zu „lebenslänglich“ – Einkerkerung

MAYIBUYE CENTER auf Robben Island – Schinderei im Stein- ANC-Führer Tambo, Mandela (1962): Geld für eine Guerilla-Armee gesammelt bruch – Tomatenzucht im Gefängnishof

136 DER SPIEGEL 47/1994 Werbeseite

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AUSLAND PANORAMA

Italien Der Gottesmann hatte einen 18jährigen Anhalter unsitt- Ruanda Bergdörfer wollen lich belästigt. Kurz darauf starb Pater Liam Cosgrave, los von Rom 68, an den Folgen eines Rache der Franzosen Weil sie sich von den Pro- Herzinfarkts – in einem Sau- vinzbehörden und von den naklub für Schwule in der iri- Bürokraten in Rom verlas- schen Hauptstadt. Zwei wei- sen fühlen, wollen die sie- tere Priester, die ebenfalls ben Gemeinden des nordita- gerade als Kunden in dem lienischen Vigezzo-Tals um Etablissement weilten, konn- Aufnahme in die Schweiz ten ihrem Amtsbruder noch bitten. Seit einem Jahr war- die Sterbesakramente spen- ten die Bergler auf die Re- den. Dublins Erzbischof Des- paratur ihrer verschütteten mond Connell will nun der Talstraße, einer Verbin- wachsenden Zahl von Prie- dungsstrecke zwischen den stern in Sexualnot „mit thera- Kantonen Wallis und Tes- peutischer Hilfe“ beistehen. sin. Läden und Gasthäuser Prominentester Übeltäter ist stehen vor dem Ruin. Pater Brendan Smyth, dessen Grenzgänger erreichen ihre päderastische Neigungen seit über 40 Jahren aktenkundig sind. Sein Fall hatte indirekt SCHWEIZ sogar den Rücktritt von Pre- SCANFOTO / DPA mier Albert Reynolds mit Französische Soldaten in Ruanda SCHWEIZ ausgelöst. Der Regierungs- Frankreich blockiert in der Europäischen Union über ITALIEN chef hatte gegen den Wider- 290 Millionen Mark Wiederaufbau-Hilfe für Ruanda. stand des Labour-Koalitions- Begründung: Die von Tutsi dominierte Regierung des SCHWEIZ partners den ultrakonservati- Locarno afrikanischen Landes solle erst die Voraussetzungen Vigezzo-Tal ven Juristen Harry Whelehan schaffen, um den Millionen Hutu-Flüchtlingen die Rück- Domodossola zum Oberrichter bestellt – kehr zu ermöglichen. Genau dazu könne das Geld bei- obwohl der monatelang die tragen, argumentieren empörte Europa-Parlamentarier Auslieferung des Priesters in Straßburg. Sie vermuten, daß die Franzosen als Lago Smyth an die Behörden Schutzherren des gestürzten Hutu-Regimes kein Interes- ITALIEN Maggiore Nordirlands verschleppt hat- se an einer Stärkung der neuen Machthaber haben. In te. Mit Reynolds stürzte ver- der vorletzten Woche hatte Paris zum erstenmal Ruanda 20 km gangenen Donnerstag auch nicht zum traditionellen Gipfeltreffen mit Afrikas fran- dessen Protege´ Whelehan. kophonen Staaten eingeladen. Frankreich fürchtet, daß Ruanda unter den Tutsi seinem Einflußbereich entglei- Arbeitsstellen in der Schweiz Rußland tet. Viele der neuen ruandischen Führungspolitiker sind nur über lange Umwege. im anglophonen Uganda aufgewachsen und unterhalten Proteste, darunter ein Jelzin rügt bessere Verbindungen zu englischsprachigen Staaten. Sprengstoffanschlag auf eine Telefonzelle, brachten keine Regierungschef dauerhafte Abhilfe. Jetzt ist Für Präsident Boris Jelzin gesteigerten Steuereinnah- um sein Ansehen bis zum die Geduld der Vigezzini am wird Premier Wiktor men ins nächste Jahr gehen. Wahljahr 1996 zu verbes- Ende. Ihre Vertreter teilten Tschernomyrdin zunehmend So soll die monatliche Infla- sern. Durch seinen Wirt- den italienischen Behörden unbequem: Der Regierungs- tion von gegenwärtig 15 schaftsberater Alexander mit, daß sie Schweizer wer- chef will mit einem Spar- Prozent auf etwa 1 Prozent Liwschiz ließ er bereits ver- den wollen. Die Umworbe- haushalt, einer Begrenzung gedrückt werden. Jelzin da- künden, das Budget sei „zu nen reagieren ratlos: Weder der Geldmenge und auf 14,5 gegen möchte wieder finan- knapp“ kalkuliert, die Ko- die Bundesregierung in Bern Prozent des Sozialprodukts zielle Wohltaten verteilen, sten der Inflationsbekämp- noch die Tessiner Kantonsre- fung kämen Rußland „teuer gierung äußern sich zum An- zu stehen“. Zugleich erhielt liegen der frustrierten Italie- Tschernomyrdin gleich meh- ner. rere Signale allerhöchster Ungnade: Sein Stabschef Irland Wladimir Kwasow wurde ohne Rücksprache vom Prä- Sexskandale in sidenten gefeuert. Danach machte Jelzin seinen Pre- der Kirche mier mitverantwortlich für Irlands katholische Kirche den jähen Rubelsturz um 27 wurde vergangene Woche Prozent am 11. Oktober. von einer Reihe von Sex- Auch die nach Meinung der skandalen erschüttert. Erst Militärs zu geringen Mittel mußte sich der Priester Mi- für die Streitkräfte werden

chael Carney vor einem Dub- AFP / DPA dem Regierungschef angela- liner Gericht verantworten. Jelzin, Tschernomyrdin stet.

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AUSLAND

Bosnien NATO: OPFER DES KRIEGES? Zwist in der westlichen Militärallianz: Die USA haben den Glauben an einen Verhandlungsfrieden verloren und wollen den Moslems mit Waffen und Militärberatern helfen. Washingtons Alleingang beunruhigt die Verbündeten in London und Paris. Wird Clinton das Embargo gegen Bosnien brechen, das die Europäer überwachen wollen?

er Führer eilte an die Front bei bei“, prahlte der Großserbe, „und auch es sei denn, in letzter Minute käme Hilfe Bihac´. „Es war ein erfolgreiches die Deutschen wollen nicht, daß wir ge- von außen. Rund 150 000 Zivilisten sa- DJahr“, rühmte er die Tapferkeit gen die Moslems verlieren.“ ßen in der Falle, und mit ihnen etwa seiner Truppen und brach nach from- Das militärische Debakel vor drei 1000 Uno-Soldaten aus Bangladesch, mem Brauch das Brot, „wir schauen Wochen, als Bosnier und Kroaten die denen warme Winterkleidung und Le- zufrieden in die Zukunft.“ Die Solda- serbischen Truppen auf breiter Front bensmittel fehlten. ten klatschten, gemeinsam tranken sie zurückschlugen, verharmloste Karadzˇic´ Zum Opfer des Kriegs um Bihac´ selbstgebrannten Pflaumenschnaps. zum taktischen Rückzug. Einige Front- könnte erstmals auch die Nato werden. Zur Feier in den bosnischen Bergen begradigungen seien bewußt einkalku- Der Zusammenhalt der westlichen Mili- geladen waren ein orthodoxer Pope, ein liert gewesen, um den Gegner zu verlei- tärallianz ist so stark gefährdet wie nie Chor und viel Volk. Der Geistliche seg- ten, seine Linien zu überdehnen. Und in seit dem Streit um die Nachrüstung mit nete die Waffen, die Sänger schmetter- der Pose eines souveränen Staatsman- atomaren Mittelstreckenwaffen. Über ten patriotische Lieder, und die Menge nes schwor der Kriegstreiber: „Jeden ih- das Engagement in Bosnien, wo die versicherte ihrem Vormann: „Wir sind rer Erfolge werden wir ihnen heimzah- Nato sich zum militärischen Arm der für gerechten Frieden.“ len.“ Uno gemacht hat, brachen tiefe Gegen- Radovan Karadzˇic´, Präsident der bos- Zumindest in der nordwestlichen Re- sätze zwischen den europäischen Part- nischen Serben, strahlte Zuversicht aus. gion Bihac´ stießen seine Männer in den nern und den Vereinigten Staaten auf. Allmählich verstehe die internationale vergangenen Tagen erfolgreich vor und Als sich die Regierung des angeschla- Staatengemeinschaft die Anliegen der holten zurück, was sie als Teil ihres genen Bill Clinton entschloß, das von Serben, erkenne selbst Deutschland die Großserbischen Reiches erachten. Aus der Uno verhängte Waffenembargo drohende Gefahr des moslemischen Rache für die Gebietsverluste in Zen- nicht mehr zu überwachen, kündigten Fundamentalismus mitten in Europa. tralbosnien setzten sie Ende voriger die USA einseitig eine Politik auf, die „Russen und Briten stehen uns schon Woche bei der Entscheidungsschlacht von allen Nato-Partnern einstimmig be- um die Moslem-Enkla- schlossen worden war: Sie machten sich ve sogar Napalm- und faktisch zum Verbündeten der Mos- Streubomben ein. Der lems. Belagerungsgürtel war Seither sind die Außenminister der bereits auf wenige Kilo- Allianz damit beschäftigt, den Riß zu meter zusammengezo- kitten und die „absolute Notwendigkeit gen, die Kapitulation gemeinsamen Handelns“ zu beschwö- schien unausweichlich – ren, so der Brite Douglas Hurd. In Wa- FOTOS: AP Serbische Raketenwerfer, französische Uno-Soldaten: Zuschauen wie gewohnt

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SLOWENIEN UNGARN Zagreb KROATIEN

Donau

Bihac´ BOSNIEN- Tuzla HERZEGOWINA Knin Srebrenica SERBIEN 50 km Zepa Sarajevo Serben Split Goraˇzde Kroaten Mostar und Moslems von Serben kontrollierte Krajina MONTE- serbische, NEGRO moslemische, Dubrovnik kroatische Offensive R. SCHULZ Uno-Schutzzonen Kampfgebiete Serbenführer Karadzˇic´: „Russen und Briten stehen uns bei“

shington forderte der neue Nato-Gene- nutzen die seit langem erkennbare – und Kongreß – im Senat der Mehrheitsführer ralsekretär Willy Claes die Amerikaner nunmehr offene – Spaltung der Nato zu Robert Dole, im Repräsentantenhaus eindringlich auf, die „gemeinsame Li- ihrem Vorteil. der Chef des Außenpolitischen Aus- nie“ nicht zu verlassen. Die Europäer, allen voran Frankreich schusses, Benjamin Gilman –wollen eine Die neue Offensive der Serben, durch und Großbritannien, setzen nach wie vor Aufhebung des Waffenembargos erzwin- die sich die Krise verschärfte, war erst auf eine Lösung am Verhandlungstisch. gen. Weil sich Clinton mit den neuen durch brüderlichen Beistand aus der Obwohl zahllose Friedenspläne geschei- Mehrheitsverhältnissen im Land abge- kroatischen Krajina möglich geworden. tert sind, wollen sie auch künftig das Waf- funden hat, ließ er vorige Woche den Aus der serbisch besetzten Uno-Schutz- fenembargo durchsetzen, das die Ameri- Kongreß über Pläne unterrichten, die das zone stiegen in der vorigen Woche kaner immer unverhohlener zu brechen Pentagon für eine aktive Unterstützung mehrmals serbische Kampfmaschinen versuchen. Absurd, aber nicht mehr der Bosnier entwickelt hat. auf und bombardierten die Munitionsfa- gänzlich undenkbar: Europäische Schif- Im äußersten Fall (Pentagon-Jargon: brik von Bihac´. Außerdem eilten an die fe oder Flugzeuge könnten Waffen- „schwere Option“) erwägt Washington dreitausend Mann Bodentruppen den schmuggler stellen, die im Auftrag der demnach Waffen- und Ausbildungshilfe Verbänden von Karadzˇic´ zu Hilfe. Die USA die Bosnier mit Kriegsgerät versor- für die bosnischen Regierungstruppen im Uno schaute wie gewohnt tatenlos zu. gen. Wert von vier Milliarden Dollar. Die Dabei hatte bereits der Genfer Frie- Damit wäre jede Aussicht auf Vermitt- „leichte Option“ soll mit 500 Millionen densplan vom Sommer 1992 die Ent- lung durch die westliche Staatengemein- Dollar auskommen. waffnung der paramilitärischen Forma- schaft dahin, klagte Frankreichs Außen- Diskutiert wurden ferner Pläne, ganze tionen in der Krajina vorgesehen, dazu minister Alain Juppe´. Ausbildungseinheiten ins Kriegsgebiet die Vernichtung aller schweren Waffen. zu schicken. Schon jetzt sind die Ameri- Damals erhielten die Blauhelme Voll- kaner mit Militärberatern in Zivil prä- macht, Angriffe der Serben mit Waffen- Amerikanische Berater sent, die moslemische Soldaten in den gewalt zu stoppen. bilden die Bosnier Umgang mit modernen Waffen einwei- Doch wie früher schon bei Kämpfen sen. in den anderen fünf Uno-Schutzzonen an modernen Waffen aus Die Möglichkeit, daß die USA auf Sei- konnten sich die Friedenshüter auch ten der Bosnier eingreifen, scheint die diesmal nicht dazu aufraffen, massive Briten, Franzosen und Dänen sind Europäer mehr zu schrecken als die Ser- Luftschläge der Nato anzufordern. Ver- denn auch entschlossen, ihre etwa 9000 ben. „Es kann keine militärische Lösung gessen schien das Ultimatum, mit dem Blauhelme abzuziehen, wenn sich das dieser Tragödie geben“, beschwor Hurd die europäischen Vermittler unter Lord Kräfteverhältnis aufgrund amerikani- seine transatlantischen Partner und fügte Owen am 5. Juli den Kriegsparteien ei- scher Hilfe zugunsten der Bosnier ver- dunkel drohend hinzu: „Die Nato muß ne Vierzehntagefrist eingeräumt hatten, schieben sollte. Waffennachschub für die bestehenbleiben.“ um ihrem Friedensplan zuzustimmen: Moslems kann in großem Umfang nur Die Angst der Europäer vor einer er- Der sah eine Teilung Bosniens in zwei über Land, über kroatisches Territorium neuten Ausweitung des Krieges ist nicht etwa gleich große Hälften vor. kommen. Die Regierung in Zagreb wür- unbegründet. Denn das Mißtrauen sitzt Fast ein halbes Jahr später zeigen sich de jedoch solche Lieferungen nur dulden, tief zwischen Kroaten und Moslems. die Vermittler gleichgültiger denn je ge- wenn auch ihre eigenen Truppen von den Kroatiens Präsident Franjo Tudjman hat genüber dem Morden auf dem Balkan; Amerikanern hochgerüstet würden. sich noch immer nicht von jenen Militärs sie lassen die Opfer im Stich (siehe In- Keine Seite könnte dann noch verhin- und politischen Mitstreitern getrennt, die terview Seite 142). Auch die jüngste dern, daß der Krieg aus Bosnien aus- für ein Großkroatien eintreten und dem amerikanische Drohgebärde, im kom- bricht, daß Kroaten, Serben und Mos- Staat Bosnien jede Existenzberechtigung menden Winter die Moslems zu stärken, lems zum Kampf aller gegen alle antre- absprechen. beeindruckt die Serben bislang wenig. ten. Die Uno-Soldaten gerieten damit Auch im Kampf um Bihac´ verweigerte Sie wissen, daß die europäischen Ver- zwischen sämtliche Fronten. Zagreb den Bosniern vorige Woche die bündeten der USA – auch Deutschland Die Amerikaner hingegen glauben Unterstützung. Ein Gesuch aus Sarajevo – eine Aufrüstung der Regierung in Sa- nicht mehraneinepolitischeLösung.Vor um militärischen Beistand verhallte un- rajevo verhindern wollen. Die Serben allem die neuen Herren im künftigen gehört. Tudjmanwill sich die Möglichkeit

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AUSLAND

offenhalten, bei Bedarf auch mit den Ser- ben zusammenzugehen. Karadzˇic´ gibt sich deshalb gelassen und wartet ab. Für ihn ist ein neues Aufflam- „Wir sind Geiseln“ men der Kämpfe zwischen Kroaten und Moslems gewiß. „Es wird noch Überra- Ministerpräsident Haris Silajdzˇic´ über das Versagen des Westens schungen geben“, prophezeit der Serben- führer. Sich selbst sieht er auf der Sieger- seite: „Wir haben vorgesorgt, wir über- SPIEGEL: Die USA haben sich mit ih- stehen den Winter.“ Y rem Entschluß, das Waffenembargo gegen Bosnien nicht länger zu über- wachen, gegen den Kurs der Verein- Palästina ten Nationen gestellt. Sind die Frie- densaussichten damit nicht noch wei- ter gesunken? Silajdzˇic´: Die Vereinten Nationen Über die haben sich zum Papiertiger mit dop- pelter Moral aufgeplustert. In Bos- nien benehmen sie sich wie eine Au- rote Linie ßenstelle des Roten Kreuzes, obwohl sieunsauch militärischschützen müß- Jassir Arafat bäumt sich gegen die ten. Wir sind Geiseln einer Organisa- Fundamentalisten im eigenen La- tion, die zwischen Opfern und Tätern nicht zu unterscheiden vermag. ger auf – und provoziert womöglich

SPIEGEL: Trotz des Embargos gelan- DARCHINGER Bürgerkrieg.

gen Waffen nach Bosnien. Die inter- J.H. nationale Gemeinschaft drückt doch Regierungschef Silajdzˇic´ seit langem die Augen zu. „Die Welt läßt uns im Stich“ efühlsausbrüche ihres Vorsitzen- Silajdzˇic´: Aber was für Waffen? Was den Jassir Arafat sind die Mitglie- sind schon Kalaschnikows, wenn die Silajdzˇic´: Wir wollten dort die Ver- Gder der palästinensischen Autono- Serben 22 000Artilleriegeschosse ha- bindungswege öffnen, weil die Uno- mieregierung gewöhnt. Doch so aufge- ben? Das ist doch Augenwischerei. Schutztruppe ihr Mandat nicht er- bracht hatten selbst engste Vertraute Die Welt läßt uns im Stich. füllt und unsere Leute verhungern. den PLO-Chef selten erlebt. SPIEGEL: Befürchten Sie, daß nun Aber wenn uns nun auch die Ser- „Ich werde es nicht zulassen, daß die auch die Russen sich ermuntert füh- ben aus der kroatischen Krajina an- mich noch einmal bloßstellen“, tobte ein len könnten, das Embargo gegen Ser- greifen und sich niemand aufgeru- hochroter Arafat in seinem Hauptquar- bien einseitig zu brechen? fen fühlt, dies zu verhindern, dann tier in Gaza und donnerte mit der Faust Silajdzˇic´: Außer der Atombombe ist das sehr beunruhigend. auf den Schreibtisch: „Denen werde ich gibt es nichts, was die Russen den Ser- SPIEGEL: Die bosnische Armee will eine Lektion erteilen, die sie nicht ver- ben nicht bereits geliefert hätten, von die Rückeroberung aller Gebiete, in gessen.“ Raketen bis zu Freiwilligen. denen die Moslems vor dem Krieg Der Zorn des PLO-Führers galt nicht SPIEGEL: Beziehen die bosnischen in der Mehrheit waren. Ist damit den israelischen Widersachern, die bei Serben noch weiter Nachschub aus der Genfer Friedensplan hinfällig? den zähen Autonomieverhandlungen Serbien, obwohl Belgrad dieGrenzen Silajdzˇic´: Nein, auf keinen Fall. kaum eine Gelegenheit auslassen, ihren offiziell dichtgemacht hat? Wenn die Serben ihn akzeptieren, Friedenspartner zu stutzen. Rache Silajdzˇic´: Alles, was die bosnischen halten auch wir uns daran. schwor Arafat palästinensischen Her- Serben brauchen, läuft über die nicht SPIEGEL: Die islamischen Länder ausforderern, die ihn immer heftiger be- kontrollierten Grenzübergänge. Auf unterstützen Sie finanziell – um so drängen: den religiösen Fanatikern der diese Weise bekommen sie auch noch großzügiger, je entschiedener sich Terrororganisationen Hamas und Isla- Treibstoff. Bosnien zum Islam bekennt. Den mischer Dschihad. SPIEGEL: Glauben Sie, daß Europa Westen beunruhigt dagegen die Is- „Ich will keine Gegenstimmen von die Bosnier aufgegeben hat? lamisierung Ihres Staates. euch hören“, fuhr Arafat seine zögerli- Silajdzˇic´: Die Europäische Union Silajdzˇic´: Wir haben uns in diesem chen Minister an und setzte auf die Ta- will den Status quo erhalten und die Krieg am zivilisiertesten verhalten. gesordnung nur einen einzigen Punkt – serbischen Eroberungen in Bosnien Trotzdem werden wir beschuldigt, die Zerschlagung des islamistischen Wi- legalisieren. Das heißt: grünes Licht Fundamentalisten zu sein. Wenn für derstands. Noch während die Regie- fürdieSerben. Deren Präsident Milo- den Westen bereits die Anwesen- rungsrunde tagte, mußte der Polizeichef sˇevic´ taktiert. Er will mit kleinen heit eines Mudschahidin zur Gefahr von Gaza Vollzug melden. Bilanz der Schritten vollendete Tatsachen schaf- wird, dann ist dies eine Botschaft Großrazzia: über 150 Festnahmen. fen und das mit Gewalt eroberte Ter- an Millionen Moslems in der Welt, Die Massenverhaftungen waren Auf- ritorium zunächst durch eine Konfö- daß es keine Kooperation, sondern takt eines Machtkampfes, der die deration mit dem serbischen Staat le- nur Konfrontation gibt. Wir begin- Selbstverwaltungsgebiete ins Chaos galisieren. nen langsam daran zu glauben, stürzen könnte. Vor allem der Elends- SPIEGEL: Die Serben haben mittler- daß die Welt Hintergedanken streifen Gaza, Hochburg der religiösen weile auch das Gebiet um Bihac´ wie- hegt – daß eine Verschwörung be- Fanatiker, droht wieder zu brennen wie der zurückerobert. Wirkt das nicht steht mit dem Ziel, Bosnien zu ver- in schlimmsten Intifada-Zeiten – nur demoralisierend auf Ihre Truppen? nichten. diesmal wäre es ein palästinensischer Bürgerkrieg: PLO gegen Hamas und Is- lamischen Dschihad.

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im Gazastreifen mit den todesbereiten Fanatikern nicht fertig geworden. Deren Hintermänner ziehen die Fä- den aus sicheren Zentralen im Iran oder im Libanon, wo sie auch der findige is- raelische Geheimdienst nur schwer tref- fen kann. Die Selbstmordkommandos, die im Gazastreifen und im Westjordan- land nicht viel mehr als 100 Kämpfer zählen, operieren in autonomen Mini- zellen, in die noch kein Spitzel eindrin- gen konnte. Den Krieg gegen die Radikalen sucht Arafat durch eine List zu gewinnen. Er möchte die Religiösen spalten: Die vor- wiegend jugendlichen Heißsporne des Dschihad, die in der Bevölkerung nur bedingt Rückhalt genießen, will er uner- bittlich jagen. Die mit ihren sozialen Netzwerken, aber auch durch Studen- tengruppen und Berufsverbände in der Bevölkerung tief verwurzelte Hamas

REUTER hingegen will er durch Teilhabe an der Protestierende Hamas-Anhänger in Gaza*: Agent der Israelis Macht einbinden – für den selbstherrli- chen Arafat ein bitteres Opfer. Zu einer ersten blutigen Konfrontati- gen? Dann wiederum würde er einen Das Angebot könnte zu spät kom- on kam es bereits am vergangenen Frei- verhängnisvollen Guerillakrieg begin- men. „Wir steigen nicht in ein sinkendes tag: Als PLO-Polizisten Lautsprecher nen, der ihn um sein Ansehen in der ei- Boot“, verkündeten Hamas-Aktivisten. an einer Haupt-Moschee entfernen und genen Bevölkerung bringen könnte, Insgeheim sollen Arafat-Vertraute je- eine Demonstration von Hamas-Anhän- stünde er doch als Büttel der Israelis da. doch bereits mit einer Hamas-Fraktion gern unterbinden wollten, leisteten die Immerhin gelten mehr als ein Drittel verhandeln, die den Untergrund verlas- Fundamentalisten Widerstand. In einer der Palästinenser in Gaza als Hamas- sen und sich an Wahlen zu einem Palä- wüsten Straßenschlacht, bei der auch Sympathisanten. In der frustrierten Be- stinenserparlament beteiligen will. scharf geschossen wurde, starben 11 Pa- völkerung, die bisher vergebens auf bes- Einen ersten Posten erhielten die Re- lästinenser; über 120 wurden verletzt, sere Lebensverhältnisse wartet, tun sich ligiösen bereits vom PLO-Führer: Ara- viele von ihnen lebensgefährlich. De- die Fundamentalisten als die wahren fat ernannte den Hamas-Mann Abu monstranten warfen Steine auf das Vertreter palästinensischer Interessen Chussa, der in Israel ganz oben auf der PLO-Hauptquartier. Vor dem Schifa- hervor. „Arafat hat uns ein Stückchen Fahndungsliste steht, zum Chef bei der Krankenhaus riefen aufgebrachte Men- Land besorgt“, tönen ihre Sprecher, Sittenpolizei. Am vergangenen Montag schen: „Arafat, Mörder!“ „wir holen uns den Rest.“ schlugen die Wächter das erste Mal zu – Die Fundamentalisten schmähen den Der alte Zauderer Arafat scheute die gegen ein Hinterhofbordell im Flücht- Palästinenserführer schon seit seiner Auseinandersetzung – bis die Extremi- lingslager Dschabalja. Y sten mit einer selbstmörderischen Akti- on im Gazastreifen die „rote Linie“ Arafat will den Krieg überschritten, so der Justizminister der gegen die Radikalen durch Autonomieregierung, Freih Abu Mid- dein. Beim Sprengstoffanschlag eines List gewinnen Dschihad-Aktivisten nahe der israeli- schen Siedlung Nezarim wurden drei is- Aussöhnung mit Israel vor gut einem raelische Soldaten getötet und acht Jahr in Washington als „Verräter“. Je schwer verwundet; vier Palästinenser er- näher sich die alten Kombattanten Ara- litten erhebliche Verletzungen. fat und Jizchak Rabin kamen, desto bru- Zudem hatten die Fundamentalisten taler wurden die Attacken auf den Frie- Arafat kurz zuvor unverzeihlich gede- denskurs – und dessen obersten palästi- mütigt. Bei der Trauerfeier für den ver- nensischen Wegbereiter. mutlich vom israelischen Geheimdienst Mit dem Anschlag auf einen Bus mit- getöteten Dschihad-Führer Hani Abid ten in Tel Aviv (23 Tote) verübten Ha- war der PLO-Chef unter Schmährufen mas-Aktivisten vor vier Wochen nicht („Agent der Israelis“) verjagt worden. nur eines der schwersten Attentate in Die Kampfansage an die religiösen der Geschichte des jüdischen Staats, Zeloten ist für Arafat eine harte Probe. sondern brachten den PLO-Führer auch Die PLO-Polizei, eine schlecht ausgebil- in ein teuflisches Dilemma: dete und mangelhaft ausgestattete Trup- Sollte Arafat die Friedensgegner ge- pe von 9000 Mann, ist oft schon mit der währen lassen? Dann würde er nicht nur Ergreifung von Autodieben überfor- den Konflikt mit den argwöhnischen is- dert. Von der Schußwaffe macht sie raelischen Autonomiepartnern, sondern schnell Gebrauch. Selbst die hochgerü-

auch den Verlust jeglicher Autorität ris- stete israelische Besatzungsarmee war ACTION PRESS kieren. Oder sollte er den offenen Palästinenserführer Arafat Schlagabtausch mit den Fanatikern wa- * Am vorigen Freitag. „Eine Lektion, die sie nicht vergessen“

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AUSLAND

SPIEGEL-Gespräch „Wirklich schade um Clinton“ Der Historiker Arthur Schlesinger über Amerikas Wählerzorn und das Versagen der Demokraten

SPIEGEL: Professor Schlesinger, die Schlesinger: Sie peinigt der Gedanke, Marktes werden von sich aus weder un- Wirtschaft läuft auf Hochtouren, die daß ihre Kinder einmal nicht die glei- ser Bildungssystem verbessern noch un- Zahl der Arbeitslosen sinkt – eigentlich chen Aufstiegschancen haben werden, sere Umwelt schützen. müßten die Amerikaner rundum zufrie- die sie selbst genossen haben. Was in SPIEGEL: Der Verlust des Vertrauens in den sein. Warum haben die Demokra- der Wirtschaft euphemistisch gesund- die Kompetenz der Regierung ist also ten und ihr Präsident Bill Clinton den- schrumpfen genannt wird, bedeutet der eigentliche Grund für die Stim- noch eine so vernichtende Niederlage nichts anderes, als daß jetzt die Arbeits- mungswechsel der Wähler? bei der Wahl vom 8. November erlit- plätze des Mittelstands auf dem Spiel Schlesinger: Damit geht es ständig berg- ten? stehen. ab. Das begann schon während des Schlesinger: Vor allem, weil Clinton es SPIEGEL: Gegen eine Strukturverände- Vietnamkriegs, als sich das Volk von zugelassen hat, daß die Republikaner rung ist jede Regierung machtlos. Lyndon Johnson betrogen fühlte. Ri- das Thema des Wahlkampfes bestim- Schlesinger: Richtig. Es ist das herauf- chard Nixons Watergate und Ronald men konnten: der Moloch Regierung als ziehende Computer-Zeitalter, das mehr Reagans Irangate haben das Mißtrauen Ursprung allen Übels. Seine eigene Lei- Beschäftigungslosigkeit als neue Ar- verstärkt. Und die Regierung Bill Clin- stungsbilanz hat der Präsident den Wäh- beitsplätze schafft. Viele Menschen, be- tons hat auch nicht immer mit offenen lern nie überzeugend darlegen können. sonders die 40- bis 60jährigen, verstehen Karten gespielt.

Arthur Schlesinger lehrt Geschichte an der City University of New York. Der in Harvard ausgebildete Histori- ker arbeitete nach dem Zwei- ten Weltkrieg für Präsident- schaftskandidaten der Demo- kraten, unter anderen für John F. Kennedy. Nach des- sen Wahlsieg wurde Schle- singer, heute 77, Mitglied im inneren Beraterkreis des Prä- sidenten und wandte sich als einziger gegen die von der CIA organisierte Invasion Ku- bas. Nach Kennedys Ermor- dung in Dallas quittierte Schlesinger den Staats- dienst. Für sein Buch „Die tausend Tage Kennedys“ er- hielt er den Pulitzerpreis. D. OTFINOWSKI

SPIEGEL: Demnach soll das Ganze also die neue High-Tech-Welt nicht und ah- SPIEGEL: War John F. Kennedy der nur ein taktisches Versagen gewesen nen, daß sie die Kontrolle über die mei- letzte Präsident, der das Vertrauen der sein? sten Veränderungen verloren haben. US-Bürger genoß? Schlesinger: Es gibt natürlich ein grund- Das macht sie hilflos und wütend. Schlesinger: Damals glaubten immerhin legenderes Problem, das schon lange SPIEGEL: Ist das derselbe Frust, der vor 70 Prozent der Bevölkerung, daß die vor Clintons Präsidentschaft existierte. zwei Jahren Bill Clinton die Wähler zu- Regierung die Interessen des Volkes Große Teile unserer Bevölkerung sind trieb? vertrete. Darauf setzt heute nicht ein- von tiefsitzenden Zukunftsängsten ge- Schlesinger: Die Wähler waren 1992 mal mehr ein Fünftel der Amerikaner. plagt, neuerdings vor allem der Mittel- über George Bush verärgert, heute Die Regierung muß Antworten auf Fra- stand. schimpfen sie über Clinton, und 1996 gen geben, denen die Menschen ratlos SPIEGEL: Wovor fürchten sich die sonst werden sie wahrscheinlich schon wieder gegenüberstehen. Da hat auch Clinton stets optimistisch in die Zukunft blik- auf die Republikaner wütend sein. Der versagt. kenden Amerikaner? Zorn richtet sich gegen die jeweils Re- SPIEGEL: Ihr Harvard-Kollege Michael gierenden. Das ist fatal, denn viele Pro- Sandel fürchtet, daß die frustrierten bleme, soweit sie überhaupt administra- Wähler beim nächstenmal nach einem Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Siegesmund von Ilsemann und Carlos Widmann in tiv zu bewältigen sind, erfordern staatli- „Retter hoch zu Roß“ Ausschau halten New York. ches Handeln. Die Kräfte des freien könnten, nach einem autoritären Füh-

144 DER SPIEGEL 47/1994 SPIEGEL: Clinton ist dage- gen viel anpassungswilli- ger . . . Schlesinger: ...unddas ist jammerschade, denn er ist ein begabter Wahl- kämpfer, beredt und auf Pressekonferenzen sehr präsent. Er könnte aller- hand bewirken, wenn er ein Kämpfer wäre. SPIEGEL: In Kalifornien haben fast 60 Prozent der Bevölkerung dafür ge- stimmt, illegale Einwan- derer aus Schulen und Hospitälern zu verbannen. Ist das die Absage an eine multikulturelle Gesell- schaft? Schlesinger: Nein, es ge- schah vielmehr aus Angst, von all diesen fremdspra- chigen Neuzugängen über- rollt zu werden. Das ha- The Guardian ben wir in Amerika schon öfter gehabt. 1924 wurde rer, der vielleicht auch ohne Rücksicht dem Mehrheitsführer im Senat, Robert ein äußerst striktes Einwanderungsge- auf die Verfassung agiert. Dole. Im Grunde ist Dole ein feinfühli- setz verabschiedet. Viele Menschen wa- Schlesinger: Möglich ist das schon, aber ger Geselle. Er hat nur das Pech, daß ren es leid, auf den Straßen dauernd ich rechne nicht mit solch dramatischen seine Fraktion viel weiter rechts steht als Deutsch oder Polnisch, Jiddisch oder Entwicklungen. Allerdings könnten die er selbst. Tschechisch zu hören. Protestwähler durchaus eine dritte Par- SPIEGEL: Die religiöse Rechte hat rund SPIEGEL: Damals sollte der Zustrom tei an die Macht bringen, wie die Bewe- 60 Prozent der neu gewählten Kongreß- von Immigranten abgebremst werden. gung des populistischen Milliardärs mitglieder unterstützt. Ist das der Auf- Die Gesetzesbestimmungen der kalifor- Ross Perot. Das Zweiparteiensystem er- takt zu einem Kreuzzug gegen kulturelle nischen Bürgerinitiative richten sich ge- füllt seine historische Funktion nicht Minderheiten und Randgruppen? gen Menschen, die schon im Land sind. mehr. Schlesinger: Das ist eine sehr starke und Schlesinger: Die Gerichte werden die SPIEGEL: Bislang sind die USA doch engagierte Bewegung. Sie wird aber Vorschriften der kalifornischen Initiati- ganz gut damit gefahren. Woran kann kaum mehr als 20 bis 25 Prozent der ve stutzen. Die Kinder und Teenager man denn erkennen, daß es mit den US- Wähler an sich binden können. Wir sind aus den Schulen zu werfen wäre ja Parteien bergab geht? eine weltliche Nation. Viele Menschen Selbstverstümmelung. Wohlfahrtszah- Schlesinger: 1888 beteiligten sich noch behaupten zwar, daß sie in die Kirche lungen sind schließlich auch ein Löse- 70 Prozent der berechtigten Bürger an gehen, aber spätestens wenn der Gottes- geld, das wir der Unterklasse für den den Wahlen. Ein Jahrhundert später ist dienst vorüber ist, findet man sie auf Erhalt des sozialen Friedens entrichten. es kaum mehr als die Hälfte. Im letzten dem Golfplatz. Wenn es etwas gibt, das in diesem Land Jahrhundert wurden die Menschen noch SPIEGEL: Aber schon will Präsident Klassenkampf erzeugen könnte, dann in ihre Parteien hineingeboren und blie- Clinton seine bisherige Ablehnung des die Gingrich-Lösung: alleinerziehende ben ihnen ein Leben lang treu. Viele Mütter von der Fürsorge abschneiden Bürger hätten eher ihre Kirche als ihre und ihre Kinder in Waisenhäuser stek- Partei gewechselt. Heute werden Kandi- „Die Kinder aus den ken. Das führt uns zurück ins England daten gewählt, Persönlichkeiten, nicht Schulen zu werfen, wäre von Charles Dickens. Parteien. Das macht die Politik unbere- SPIEGEL: Der Unmut über die Fremden chenbarer. In Wahrheit haben wir gar Selbstverstümmelung“ ist im ganzen Land zu spüren. Ist das ein keinen wirklichen Wechsel zu den Re- Symptom für den Zerfall der amerikani- publikanern erlebt. Es war ein Schrei Schulgebets überdenken. Ist er nicht schen Gesellschaft, den Sie schon länger der Verzweiflung. eben doch ein Kompromißler – im Ge- beklagen? SPIEGEL: Gewöhnlich werden liberale gensatz etwa zu Präsident Truman, der Schlesinger: Die Spannungen zwischen Reformen in Amerika auch von konser- sich aus innerster Überzeugung mit dem den Bevölkerungsgruppen verschärfen vativen Mehrheiten nicht umgestoßen. Kongreß anlegte? sich. Die Latinos unterscheiden sich von Gilt das noch angesichts eines Kongres- Schlesinger: Clinton ist in einer ähnli- den europäischen Immigranten früherer ses, der den Rückzug ins goldene Zeital- chen Lage wie Truman 1946, als der Epochen, die nicht in ihre Heimat zu- ter der Reagan-Jahre antreten will? Präsident unpopulär war und es oben- rückkehren wollten. Sie kamen, um zu Schlesinger: Sicher werden Soziallei- drein mit einem republikanischen Kon- bleiben. Einwanderer aus Mexiko oder stungen gestrichen. Aber interessant greß zu tun hatte. Doch dem Tempera- Mittelamerika pendeln viel, sie geben werden in den nächsten Monaten vor al- ment nach sind Clinton und Truman ihre Identität nicht auf. Trotzdem wol- lem die Grabenkämpfe zwischen den sehr verschieden. Truman war ein len ihre Kinder letztlich Englisch lernen neuen republikanischen Herren des Kämpfer. Und er hatte die Unterstüt- und Amerikaner werden. Kapitols, dem Sprecher im Repräsen- zung der linksliberalen Basis: Die Ge- SPIEGEL: Wie kann der immer tiefere tantenhaus, Newt Gingrich, und werkschaften waren damals noch stark. Graben zwischen den einzelnen Volks-

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gruppen der Vereinigten Staaten ge- unterliegen, als verhinder- schlossen werden? ter Reformer stünde er Schlesinger: Durch eine bessere Ausbil- aber vorteilhaft da. dung in der englischen Sprache. Das er- SPIEGEL: Sollte Clinton möglicht es den Immigranten, amerika- sich auf Gebiete konzen- nische Bürger zu werden. trieren, in denen der Kon- SPIEGEL: Die siegreichen Republikaner greß weniger zu sagen hat, wollen zurück in die Wirtschaftspolitik etwa auf die Außenpolitik? der achtziger Jahre. Damals wurde die Schlesinger: Präsidenten, Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. die innenpolitisch umzin- Wird dieser Klassenkampf von oben gelt sind, suchen gern die- nicht ebenfalls den Zerfall der amerika- sen Fluchtweg. Da wird er nischen Gesellschaft vorantreiben? Probleme mit Jesse Helms Schlesinger: Unbedingt. Wie kann je- bekommen, dem ultrarech- mand noch an die Doktrin der Reagan- ten Außenpolitiker der Re- Jahre glauben, nach der Steuersenkun- publikaner. Doch der ist gen die Staatseinnahmen letztlich erhö- wie Gingrich so extrem, hen? Reagan hat die fixe Idee verbrei- daß seine Verhinderungs- tet, Steuern seien Teufelswerk. Das Er- taktik unbeliebt sein wird. gebnis war eine Verdreifachung der Anders als Truman hat Staatsschuld. Clinton hat es nicht ge- Clinton freilich keine schafft, dies den Leuten auch klarzuma- Chance, außenpolitische chen. Großtaten wie den Mar- SPIEGEL: Nun glauben die Republika- shallplan in die Welt zu set- ner, ein Mandat für die Abschaffung des zen. Gewissermaßen fehlt Sozialstaats erhalten zu haben. Wollen die Bedrohung durch die bessergestellten US-Bürger wirklich den Sowjetkommunismus. allen Notleidenden den Rücken zukeh- Zwar werden die USA von ren? kleineren Konflikten über- Schlesinger: Die Amerikaner wollen all auf der Welt geplagt, verhindern, daß eine festgefügte Unter- aber für die gibt es keine klasse von Hilfsempfängern entsteht. einfachen Allheilmittel. Sie wollen diese Menschen in die Ar- Alle außenpolitischen Lö- beitswelt integrieren. In der Depression sungen, die einen US- der dreißiger Jahre hat Roosevelt die Truppeneinsatz verlangen,

gleiche Kritik an Wohlfahrtszahlungen R. TRIPPETT / SIPA werden äußerst unpopulär geübt wie die Republikaner heute. Er Republikanerführer Dole bleiben. verkündete, die Alternative dazu sei Be- „Im Grunde ein feinfühliger Geselle“ SPIEGEL: Sehen Sie denn schäftigung. So wurde, als die Wirt- die Gefahr, daß der innen- schaft versagte, die Regierung zum Not- Schlesinger: Das glaube ich nicht. Die politisch gelähmte Präsident sich in ein stands-Arbeitgeber. Je mehr Sozialhilfe Fraktionskämpfe bei den Republika- außenpolitisches Abenteuer stürzt, um gestrichen wird, desto mehr muß für Ar- nern sowie das Gezerre unter ihren – wie Bush im Golfkrieg – seine Zu- beitsbeschaffung getan werden. vielen Präsidentschaftsbewerbern, die stimmungsrate auf 90 Prozent zu stei- SPIEGEL: Jimmy Carter, der letzte Präsi- glauben, Clinton werde 1996 leicht zu gern? dent der Demokratischen Partei, wurde schlagen sein, könnten ein selbstzerstö- Schlesinger: Für Clinton wäre das nur nach einer Amtszeit aus dem Weißen rerisches Spektakel abgeben. eine theoretische Option. Es brauchen Haus vertrieben. Clinton erscheint nun SPIEGEL: Haben Sie darum den radika- nur ein halbes Dutzend GIs irgendwo gar als ein US-Präsident, der nur eine len Republikanerführer Newt Gingrich zu fallen, und schon ertönt überall der als ein Gottesgeschenk an die Demo- Ruf: Bringt die Boys wieder nach Hau- kraten bezeichnet? se. Eigentlich ist das merkwürdig, „Dem Volk hängt Schlesinger: Ja, Gingrich ist ein Rü- denn wir haben eine Berufsarmee, für das Washingtoner Gezänk pel, und er befindet sich in einem Zu- die Schießen zum Job gehört. Trotz- stand manischer Euphorie. Dieses dem können wir gerade noch Länder zum Hals heraus“ Hochgefühl läßt ihn glauben, er könne wie Grenada oder Haiti besetzen. sich über alles hinwegsetzen. Damit Schon in Bosnien müssen wir passen, halbe Amtszeit regieren durfte. Haben könnte er bald äußerst unpopulär wer- weil es zu gefährlich werden könn- die Demokraten so abgewirtschaftet, den. te. daß sie keine Chancen mehr als Regie- SPIEGEL: Aber darauf kann Clinton SPIEGEL: Viele liberale Amerikaner rungspartei haben? doch nicht warten. Was sollte er tun, haben auf das Wahlergebnis mit völli- Schlesinger: Es ist wirklich schade um um seine Präsidentschaft wieder zu be- ger Entmutigung reagiert. Sind auch Clinton. Er ist, anders als Carter, im leben? Sie so pessimistisch? Grunde ein Anhänger des New Deal: Er Schlesinger: Sich auf politische Refor- Schlesinger: Es wird eine schlimme will sich der Regierung bedienen, um men konzentrieren: Die Wahlkampf- Zeit, aber der große Vorzug unserer den Menschen größere Chancen zu er- finanzierung müßte neu geordnet wer- Demokratie ist ihre Fähigkeit zur öffnen. Aber er hat Pech gehabt, und den. Neue Geschäftsordnungen könn- Selbstkorrektur. Der Radikalismus von viele seiner Blessuren hat er sich selbst ten die Dauerblockade im Kongreß be- Politikern wie Gingrich und Helms zugefügt. enden. Das würde dem Volk draußen wird Gegenreaktionen auslösen. SPIEGEL: Hat er ausgespielt, wird er von im Land gefallen, dem das Washing- SPIEGEL: Professor Schlesinger, wir einem republikanisch beherrschten toner Gezänk zum Hals heraushängt. danken Ihnen für dieses Ge- Kongreß praktisch entmachtet? Clinton mag den Republikanern dabei spräch. Y

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Norwegen Es fehlt der Elendsdruck SPIEGEL-Reporter Erich Wiedemann über den Widerstand der Norweger gegen den Beitritt zur EU

enn der Kabeljau vor den Lofo- kungsvollste Instrument ist, das der in- Rückfragen. Als der Reporter nachha- ten beim Referendum am näch- ternationale Kapitalismus zur Ausbeu- ken will, greift er einen Hering aus sei- Wsten Sonntag stimmberechtigt tung der Arbeiterklasse jemals erfunden nem Fischkorb und tut so, als wolle er wäre, so sagen die norwegischen Fische- hat“. damit schmeißen. reifunktionäre, dann würde er mit Nein Die EU-Gegner sind durch die ge- Wenn es nach der Stimmungslage in stimmen. Denn wenn erst mal die frem- meinsame Angst verbunden, daß alles der Hauptstadt ginge, wäre das Refe- den Fangflotten kämen, dann sänken vor die Hunde geht, wenn sich Norwe- rendum ein glatter Durchgang. Die seine Überlebenschancen auf Null, weil gen dem Brüsseler Kollektivismus un- Städter sind weit überwiegend für Euro- die norwegischen Gewässer schnell leer- terwirft – der Umweltschutz, die sozia- pa. Die Widerstandsnester liegen alle im gefischt wären. len Errungenschaften, die Gleichbe- dünnbesiedelten subarktischen Norden, Das ist sachlich nicht richtig. Die Nor- rechtigung der Frau. da, wo die Menschen schon die Anord- weger bräuchten praktisch keinen einzi- gen Heringsschwanz abzugeben. So steht es im Vertrag, den sie in Brüssel ausgehandelt haben. Aber Sachlichkeit spielt keine Rolle im epischen Ringen um Norwegens Beitritt zur Europäi- schen Union. Wer hier nicht aus dem Herzen heraus argumentiert, hat schon verloren. Der Widerstand ist überall in Oslo mit Megaphonen und holzrahmenverstärk- ten Postern in Stellung gegangen. Am Fridtjof Nansens plass skandiert eine Gruppe von jungen Mädchen hände- klatschend: „EU, nei, nei, nei“ – EU nein, nein, nein. Sie gehören zur Organisation „Blonde gegen die Europäische Union“, die es zu einer gewissen Prominenz gebracht hat, weil ihr auch zwei hübsche Töchter des Osloer Bürgermeisters angehören. Sie hatten auch Schilder aufgestellt. Darauf stand: „Blonde sagen immer ja – aber diesmal sagen sie nein.“ Leider sind die Plakate alle von Souvenirjägern geklaut worden. Ein paar lärmige Jungs wollen mit den blonden Mädchen tanzen. Aber

so ist der Slogan offenbar nicht gemeint. DPA Sie sagen auch dazu nein. Norwegischer EU-Protest: „Den europäischen Sumpf draußen lassen“ Die Liste der 60 Interessenverbände, die sich zu einem Kampfbund gegen Eu- Eine kleine studentische Gruppe, die nungen der Osloer Regierung als unver- ropa zusammengeschlossen haben, zeigt allerdings nicht im Dachverband organi- schämte Eingriffe in ihre Unabhängig- die enorme thematische Spannbreite, siert ist, hat den Spieß umgedreht. Sie keit empfinden. den der Widerstand zu überbrücken hat. plädiert gegen den Beitritt mit dem Ar- Die Landwirte sind die einzige gesell- Zur Nein-Front gehören außer Blonden gument, es gelte hier nicht, Norwegen schaftliche Gruppe von Belang, die ei- und Sozialisten: Naturschutzverbände, vor der EU zu schützen, sondern Euro- nen plausiblen Grund hat, Europa zu Sekten, diverse Teilgewerkschaften, pa vor den Norwegern. Die würden den fürchten. Nicht, daß Brüssel ihnen einen mehrere kommunistische und sozialisti- Rest des Kontinents nur verderben mit neuen Biegungskoeffizienten für Salat- sche Parteien, „SOS Rassismus“, Fi- ihrer Trotteligkeit und ihren ruinösen gurken aufzwingen könnte, wie sie zu- schereiverbände, die sich gegen die und weltfremden Sozialgesetzen. nächst befürchteten, sondern weil die „Überfremdung“ der norwegischen Der Fischer Ture Andressen, der un- norwegische Landwirtschaft die höch- Fischfanggründe wehren, und Alkohol- ten am Hafen Heringe direkt vom Boot sten Subventionen des Kontinents ge- gegner, die „den europäischen Sumpf an Hausfrauen verkauft, ist auch gegen nießt – und weil das wohl nach einem draußen lassen“ wollen. den Beitritt. Warum? „Wir haben unse- Beitritt nicht so bleiben würde. Euro-Contra Kjetil Kulst von den ren Fisch, und die anderen haben ihren Die Bauern wollen von ihren Privile- „Internationalen Sozialisten“ sagt, er Fisch. Wir wollen unseren Fisch behal- gien nichts abgeben. Niemand will etwas und seine Freunde seien entschlossen, ten, und die anderen sollen ihren Fisch abgeben. Für ein Volk, das von Wikin- die EU zu bekämpfen, „weil sie das wir- behalten.“ Basta. Ture gestattet keine gern und Polarforschern abstammt, sind

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die Norweger ziemlich kleinlich und be- lichen Dünkel aus den Tagen, sitzstandsorientiert. als man die Norweger an ihren Die heimliche Hauptstadt des soge- gehäkelten Wollmützen und nannten Nein-Lagers ist Tromsø im ho- ihrem Fischgeruch erkennen hen Norden, wo die Antieuropäer 90 konnte und als sie noch mehr- Prozent für sich reklamieren. Die Trom- heitlich davon überzeugt wa- søer Fischer empfingen letzte Woche die ren, daß südlich des Skagerrak Minister des Nordischen Rates, die dort nur katholische Taschendiebe tagten, mit einem wütenden Schiffssire- und Zigeuner lebten. nenkonzert. Abends formierten sie sich Für die protestantischen am Berg über der Stadt mit Pechfackeln Ländler ist schon Oslo gottlo- zu einem riesigen flammenden Nein. ses Terrain. Der liebe Gott, so Chefinterpretin des Unwillens ist An- finden sie, wollte, daß seine ne Enger Lahnstein, die Vorsitzende Menschenkinder auf Bergen und an Fjorden wohnen. Städ- te hat er nicht gewollt. Und Norwegen wird nicht in schon gar nicht solche wie einem schwarzen Brüssel. Vielleicht wäre der Wider- Loch verschwinden stand nicht so verbissen, wenn nicht ausgerechnet eine „Uni- der agrarisch-isolationistischen Zen- on“ zur Wahl stünde. Der Be-

trumspartei. Sie figuriert unter den griff ist mit einer historischen E. WIEDEMANN / DER SPIEGEL Nein-Leuten als „Nei-Dronning“, als Hypothek belastet. Die Union Fischer Andressen Nein-Königin. Wo sie auftritt, ist es aus mit Schweden, von der sich Der Kabeljau würde mit Nein stimmen mit der nordischen Gelassenheit. Ihre Norwegen erst 1905 befreite, charismatische Bugwelle spült mit ihrem wird noch heute als eine bessere Okku- schreibt, stehen am Wahltag 48,5 Pro vaterländischen Gedröhn jeden sachli- pation empfunden. Nein, das wollen sie und 51,5 Contra. Aber es ist noch nicht chen Einwand hinweg. nicht wieder. gesagt, daß der Schwedenswing, wie er Frau Enger Lahnstein appelliert an Das deutliche Ja bei der Europa-Ab- hier heißt, so lange vorhält. den elitären Patriotismus in ihren stimmung in Schweden am vorletzten Was passiert, wenn es schiefgeht? Landsleuten. Nun, da Schweden sich Sonntag hat dem norwegischen Ja-Lager „Fast nichts“, sagt Udgaard. Norwe- von dem Brüsseler Kraken habe einfan- dennoch tüchtig Auftrieb gegeben – gen werde nicht unter Getöse in einem gen lassen, sei Norwegen berufen, das mindestens fünf Prozent, schätzt Nils großen schwarzen Loch verschwinden, überlegene skandinavische Modell am Morten Udgaard, der diplomatische wenn das zweite Europa-Referendum Leben zu halten. Skandinavier sind nach Korrespondent von Aftenposten. ebenso ausgehe wie 1972 das erste. landläufiger Auffassung besser, klüger Der Zeiger auf der „EU-Uhr“, die je- Damals war der Vorstoß der Regie- und moralischer als andere Völkerschaf- den Tag in der Tageszeitung Verdens rung in Richtung Europa an einem ten. Und die Norweger sind die besten Gang erscheint, stand Anfang des Mo- 53:47-Votum gescheitert. Ministerpräsi- von allen in Skandinavien. So etwas Gu- nats noch tief im Rot. Letzte Woche dentin Gro Harlem Brundtland redet tes vermischt sich nicht ohne Not mit rückte er jeden Tag durchschnittlich um nicht mehr gern darüber. Premiermini- Zweitklassigem. ein halbes Prozent dichter an den blauen ster Trygve Bratteli hatte den Norwe- Ihre Gegner sagen, Frau Enger Lahn- Bereich heran. Am Freitag stand es 44 gern damals eine fürchterliche Wirt- stein kultiviere den alten fremdenfeind- zu 56. Wenn man die Kurve fort- schaftskrise für den Fall in Aussicht ge- stellt, daß sie falsch abstimmen würden. Die Nation stimmte trotzdem mit Nein – und erlebte in den zwei Jahrzehnten da- nach die strahlendste Wirtschaftsblüte ihrer Geschichte. Der Boom ist bis heute ungebrochen. Mit seiner Erdöl-Ausfuhr steht Norwe- gen ganz oben auf der Weltrangliste. Die Holzwirtschaft macht Rekordum- sätze, weil die Papierpreise steigen. Und die Fischereiindustrie braucht Konkur- renz schon gar nicht zu fürchten. Ihre Fische sind gesünder und bekömmlicher als Fische aus wärmeren Gewässern. Um sie zu verkaufen, braucht Norwegen keinen Sitz in der EU. Norwegen geht es wirklich blendend – auch ohne Teilnahme am Gemeinsamen Markt. Das ist hier anders als in Schwe- den und Finnland: Es fehlt der Elends- druck. Die Schulkinder haben ihre Wahl schon getroffen. In einem simulierten Referendum stimmten sie am Donners- tag mit 60,3 zu 39,7 Prozent gegen den Frankfurter Allgemeine Beitritt zur Europäischen Union. Y

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Sanktionen Die Schlange in der Falle SPIEGEL-Reporter Carlos Widmann über den Widersinn amerikanischer Embargo-Politik L. STONE / SYGMA AP Unterernährtes irakisches Kind, Diktator Saddam Hussein: Ein wohlhabendes Land der Dritten Welt wird gründlich ruiniert

ie Brosche in Schlangenform, mit Nun ist Madeleine Albright, als Toch- dings merkwürdig inkonsequent. Zwar der Madeleine Albright am Mon- ter des Deutschböhmen Josef Körbel im sei durch den Boykott „der Lebensstan- Dtag voriger Woche in New York Mai 1937 in Prag geboren, schon von dard der meisten Iraker gesunken“, dem Bevollmächtigten Saddam Hus- der Herkunft her eine Expertin auf dem sagte Frau Albright, doch habe dies seins entgegentrat, entstammte wohl Gebiet der Völkerrechtsverletzung. den irakischen Führer keineswegs dar- kaum ihrem eigenen Schmuckkästchen. 1939 wurden Böhmen und Mähren von an gehindert, eine halbe Milliarde Dol- Es sei denn, die amerikanische Diplo- Hitlers Wehrmacht besetzt und als Pro- lar zur Errichtung „Dutzender opulen- matin wäre in ihrem Geschmeidevorrat tektorat dem Deutschen Reich angeglie- ter neuer Paläste zur ausschließlichen für schlechthin jede symbolische Geste dert. Und 1948 wurde die kleine Made- Nutzung durch seine Familie“ auszuge- gerüstet. Tarik Asis, der stellvertreten- leine Körbel beinah zwangsläufig Ame- ben. de Ministerpräsident des Irak, wurde rikanerin, als die Kommunisten in Treffender läßt sich kaum ausdrük- durch den Anblick jener Brustspange an Prag die Macht übernahmen und ihr ken, daß das von Washington initiierte einen antiamerikanischen Affront seines Vater in New York als tschechoslowaki- Embargo seinem eigentlichen Ziel – Regimes erinnert: Vor ein paar Wochen scher Diplomat lieber für den Westen dem Sturz Saddam Husseins – kein biß- noch war die Uno-Delegierte der Verei- optierte. chen näher gekommen ist. nigten Staaten in einem Spottgedicht Längst selber – unter Präsident Clin- Dafür wird ein wohlhabendes Land der Bagdader Zeitung El Irak als unap- ton – zu Washingtons Spitzendiplomatin der Dritten Welt gründlich ruiniert – petitliches Reptil geschildert worden. in New York avanciert, hat Madeleine und auf Dauer dem wachsenden Über die Begegnung zwischen Frau Albright dem Irak in eigener Person den Verband der gescheiterten, rettungsbe- Albright und dem Außenpolitiker des Völkerrechtsbruch heimgezahlt, den dürftigen Nationalstaaten angeschlos- Erzfeindes Saddam Hussein verkündete Saddam Hussein vor vier Jahren durch sen. die amerikanische Seite hinterher un- die Besetzung Kuweits beging. Frau Wo es früher in der Hauptstadt des verblümt, die Atmosphäre sei „kühl“ Albright verkündete, auch die irakische Irak Pistazien und Süßigkeiten zu kau- gewesen – womit der unterste Grad di- Anerkennung der Grenzen Kuweits – fen gab, Trockenobst, Nüsse und im- plomatischer Frostigkeit diesseits einer die vorletzte Woche durch einen ent- portierte Delikatessen, da stehen heute Kriegserklärung angedeutet wird. Frau sprechenden Beschluß des Bagdader Frauen und Männer des Mittelstands Albright, derzeit turnusmäßig Vorsit- Parlaments formalisiert wurde – bedeu- auf den Straßen – die Kunden von einst zende des Uno-Sicherheitsrats, berich- te durchaus nicht, daß nun die Handels- – und bieten selbst Waren an. Ver- tete über die Sitzung nach ihrem Ge- sanktionen der Uno gegen den Irak (vor schleudert werden die letzten Habselig- spräch mit Tarik Asis: „Wir trafen uns, allem das Ausfuhrverbot von irakischem keiten der Bourgeoisie: einzelne Mö- überprüften die Sanktionen und be- Erdöl) aufgehoben würden. belstücke, Geschirr und Besteck, sogar schlossen, diese unverändert fortzuset- Das Argument, dessen sich die Ame- Kleidung. Die Flohmarkt-Kultur, die zen.“ rikanerin dabei bediente, wirkt aller- mit dem Zusammenbruch des Kommu-

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AUSLAND JOBARD / SIPA T. SAVINO / SIPA Begrüßung der US-Truppen nach der Landung auf Haiti, Diktator Ce´dras: „50 Jahre müßt ihr bleiben“

nismus das zerfallene Sowjetreich über- Mittelstand zu vernichten, Prostitution ihr Regime, sondern diejenigen verant- zog, hat Bagdad erreicht. und Kriminalität zu fördern, die Kran- wortlich zu machen, die es verhängt ha- Im Irak, der auf einem See von Erdöl kenhäuser lahmzulegen, Schwangere ben: die Amerikaner und die Vereinten schwimmt, ist vormals Undenkbares all- und Säuglinge auszuhungern. Zweck Nationen. täglich geworden. Der Verkäufer, der des Embargos vielmehr ist es, das Re- Offenkundig gibt Saddam Hussein einem westlichen Besucher schamhaft gime des Tyrannen Saddam Hussein zu sich über die eigene Beliebtheit keinen für eine Nacht die eigene Schwester an- stürzen – oder ihm wenigstens zivilisier- Illusionen hin. Darum konnte der Ver- bietet, stellt keine Ausnahme dar. Un- te Umgangsformen aufzuzwingen. such der Weltgemeinschaft, sein Re- abhängig von der allgemeinen Krimina- Dieses vornehme Ziel haben die gime wirtschaftlich zu erwürgen, den lität, die erschreckend zunimmt, werden Sanktionen indessen verfehlt. Die Tat- Tyrannen auch keineswegs von den im Mittelstand von Bagdad und Basra sache, daß der Irak nun das Emirat Ku- Vorzügen einer politischen Liberalisie- immer mehr Fälle von Hunger-Prostitu- weit – aus dem seine Truppen vor vier rung überzeugen. Saddam vertraut aus- tion bekannt: in einem islamischen Land Jahren von den Amerikanern blutig ver- schließlich dem bewährtesten Mittel, eine moralisch-soziale Katastrophe. dem Terror, und er wählt dabei biswei- Künstler, die in der ganzen arabi- len solche Methoden, die den Vergleich schen Welt einen Namen haben, bieten Wahl zwischen mit Hitler nicht völlig abwegig erschei- ihre Gemälde in der irakischen Heimat bewaffneter Intervention nen lassen: für umgerechnet 20 Mark an. Das Mo- Unlängst hat er den führenden Mit- natsgehalt eines Universitätsprofessors oder Blamage gliedern seiner Baath-Partei einen Film reicht gerade aus, ein halbes Huhn zu von der grausamen Tötung eines gewis- erstehen. Manche Gelehrte haben ihre trieben wurden – anzuerkennen bereit sen Raschid Takriti zukommen lassen. Bibliotheken an Schmuggler verkauft. ist, hat mit den Handelssanktionen we- Der Name dieses Bedauernswerten, ei- Ärzte und Ingenieure verbringen ganze nig zu tun: Es liegt vor allem daran, daß nes Mitglieds von Saddams eigenem Nächte damit, das Familienauto (sofern Clinton sofort die militärischen Mittel Klan, stand auf einer Liste angeblicher es nicht schon in Lebensmittel umge- einer Supermacht mobilisierte, als Sad- Verschwörer, die einen Putsch geplant setzt wurde) vor Dieben und Plünderern dam vor sechs Wochen den reichen haben sollen. Wie berichtet wird, mußte zu schützen. In einem früher von Kor- Nachbarn zum zweiten Mal bedrohte. die Baath-Führung zur eigenen Erbau- ruption relativ freien Land arbeiten Be- Saddam Hussein, seine beiden Söhne, ung ansehen, wie Raschid Takriti von amte jetzt nur noch gegen Bestechung. seine Vettern, Günstlinge und sonstigen ausgehungerten Kampfhunden zer- Daß der Mittelstand verelendet und Getreuen leiden gar nicht unter dem fleischt wurde. als Wirtschaftsfaktor erledigt ist, kön- Embargo. Sie leben als Potentaten in Hunderte von Offizieren erschossen; nen die seltenen Besucher aus dem We- geschmacklosen, doch hervorragend ge- Dutzende von hamsternden Händlern sten mit eigenen Augen feststellen. We- schützten Palästen, von denen weitere gehängt; Dieben die Hände abgehackt; niger zuverlässig sind die Angaben über gebaut werden. Ihre kulinarischen Be- Deserteuren die Ohren amputiert; Ärz- die Not der ärmeren Schichten. Die Be- dürfnisse werden, auf dem Umweg über te, die sich solcher Operation verweiger- hauptung des Regimes, daß in den vier Jordanien, von der Feinkostabteilung ten, hingerichtet – Saddam bleibt sich Jahren seit der Verhängung des Embar- des Londoner Kaufhauses Harrods be- treu. Aber es ist nicht nur Terror, der gos von den 20 Millionen Irakern eine friedigt. das Volk am Rebellieren hindert. Unter Million verhungert sei, dient zweifellos Die Erwartung der Weltgemein- den unmenschlichen Alltagshärten, die der Propaganda, gilt aber unter Landes- schaft, das unter Sanktionen darbende das Embargo geschaffen hat, reicht die kennern als plausibel. Volk werde sich gegen den Tyrannen er- Willenskraft der Bevölkerung nur für Natürlich verfolgen die wirtschaftli- heben und ihn davonjagen, ist bislang den Überlebenskampf. chen Sanktionen der Weltgemeinschaft enttäuscht worden. Im Gegenteil schei- Wer einen Gewaltherrscher zu Fall nicht primär das Ziel, den irakischen nen viele Iraker für das Embargo nicht oder zur Räson bringen will, der kann

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sich nicht darauf verlassen, dessen Un- noch von dem Müll leben, den die will- Stimmen, 48 Enthaltungen) die USA er- tertanen zu strafen. Hätte George Bush kommenen Invasoren erzeugen. Tan- mahnt, ihre 34 Jahre alten Handelssank- den Golfkrieg ein paar Tage länger ge- zend vor Freude stürzen sie sich auf den tionen gegen Kuba aufzuheben. Selbst führt und Saddams Eliteverbände aufge- Abfall der 16 000 GIs: Eßbares und Nato-Verbündete wie Frankreich, Spa- rieben (statt sich über die Grenzen sei- Brauchbares und Verkäufliches aller nien und Kanada stimmten zugunsten nes Uno-Mandats Gedanken zu ma- Art wird hervorgekramt, und aus der Kubas. Nur noch ein Land unterstützte chen), wären die Sanktionen überflüssig Verwertung des Verworfenen entsteht Amerikas Blockade: Israel. geworden. eine eigene Industrie. Der Handelsboykott gegen Fidel Ca- Ein Embargo indessen, das sein Ziel Das Pentagon, diese Wegwerfgesell- stro ist älter als das kommunistische Ku- nicht innerhalb einer vernünftigen Zeit- schaft in Uniform, bietet den Haitianern ba: Die Strafe ging dem Sündenfall vor- spanne erreicht, ist ohne Gesichtsverlust somit den ersten Ausgleich für die Ver- aus, und die Geißel, die den siegreichen schwer wieder aufzuheben. Bushs Nach- wüstungen des amerikanischen Embar- Revolutionär in die Knie zwingen sollte, folger Bill Clinton hat diese bittere Er- gos. Hunderte von Millionen Dollar hat Fidel erst recht in die Umarmung fahrung im Falle Haitis gemacht: Die werden folgen. Und damit dieses Geld Nikita Chruschtschows getrieben. Offiziere um den Putschgeneral Raoul nicht in dunklen Kanälen verschwindet, Nicht fremde Panzer haben den Ku- Ce´dras und die Oberschicht waren ent- werden die US-Truppen wohl so bald banern den Kommunismus beschert, schlossen, das Embargo durchzustehen nicht heimkehren können. „50 Jahre sondern ursprünglich idealistische Re- – es mußten ja nur der kleine Mittel- müßt ihr bleiben!“ ruft die Menge den volutionäre, die von dem einen Imperi- stand und die Massen der Armen unter verblüfften jungen Soldaten zu. Für um befehdet, vom anderen alsbald um- der amerikanischen Blockade wirklich garnt, gehätschelt, gegängelt wurden. leiden. Weder Eisenhower noch Kennedy woll- Da Figuren wie Ce´dras der Hunger Es gibt keinen Handel, ten einen Nationalrevolutionär Castro der Bevölkerung vollkommen gleichgül- solange der dulden. Das Embargo schnitt Kuba tig ist, hätten die Sanktionen unbegrenzt nicht nur von seinem großen Nachbarn weitergehen können, ohne das Regime Erzfeind Castro regiert USA ab, sondern lange Zeit auch von in Port-au-Prince zu gefährden. Außer- Lateinamerika und Westeuropa. dem konnten die Generäle sich darauf manche Länder gibt es heute kaum et- Welche Entwicklung die kubanische verlassen, daß das Volk das Embargo was Erstrebenswerteres als eine Inter- Revolution genommen hätte ohne diese nicht ihnen, sondern den Amerikanern vention der Ersten Welt. Zäsur, bleibt Spekulation. Als Luxusob- anlasten würde – und dem exilierten Wie schon im Falle des Irak hatte jekt des Ostblocks wurde die Insel zum Präsidenten Aristide, der die Verschär- auch das Embargo gegen Haiti die volle einzigen Wohlfahrtsstaat Lateinameri- fung der Sanktionen forderte, um den Billigung der Vereinten Nationen. Ja, kas – trotz aller Mängel viele Jahre lang Sturz der Generäle (und seine eigene Bill Clinton konnte sich, als er das Hun- ein Gemeinwesen, das in Erziehung und Rückkehr) zu erzwingen. gerdasein der Haitianer verschärfte, als Gesundheitsfürsorge nicht mit der Drit- Das Embargo entpuppte sich somit Willensvollstrecker der Weltgemein- ten Welt, sondern mit den USA wettei- als Falle. Daß es gescheitert war, ließ schaft fühlen – von der er nun hofft, daß ferte. Lange konnte sich Havanna auch Clinton keine andere Wahl als die be- sie ihm in Haiti bald die militärische und als kulturelle Hauptstadt Lateinameri- waffnete Intervention, die er unbedingt finanzielle Last abnimmt. kas empfinden. vermeiden wollte. Der andere Ausweg, Da könnte er sich täuschen. Denn Der Zusammenbruch des Sowjet- eine Aufhebung der Sanktionen, wäre Vollstrecker des Uno-Willens, das hat reichs hat Kuba wirtschaftlich endgültig weltweit als Blamage der letzten Super- sich wieder gezeigt, sind die Amerika- ruiniert. Nur Handel mit den USA, Ka- macht erschienen. ner nur im eigenen Interesse. Im Okto- pital aus Miami, Massentourismus der Heute können in Port-au-Prince, in ber hat die Vollversammlung in New Gringos könnten die Kubaner vor dem Cap-Haı¨tien und Jacmel die Ärmsten York mit massiver Mehrheit (101 Ja- Schlimmsten bewahren. Das aber darf S. CREUTZMANN / ZONE 5 R. ANTONIO / GAMMA / STUDIO X Leere Verkaufsstände in Havanna, Diktator Castro: Von einem Imperium befehdet, vom anderen umgarnt

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es nicht geben, solange der Erzfeind Ca- sen im bürgerlichen Lager. Deshalb stro regiert. Kein amerikanischer Präsi- Schweiz schränken siedie Rechte der Asylsuchen- dent, schon gar kein Demokrat, kann den immer weiter ein, beschleunigen die sich innenpolitisch eine Aufhebung des Prüfverfahren und lassen provisorische Embargos leisten. Doch die Kubaner Abschiebegefängnisse bauen –das bisher sind vom elenden Alltag wohl schon zu Braune Ecke größte direkt neben einer Startbahn des zermürbt, als daß sie gegen die altver- Zürcher Flughafens. traute Diktatur noch rebellieren könn- Die Regierung will rabiater Als konservative Politiker zusammen ten. gegen Ausländer vorgehen – mit mit der Boulevardpresse vor einem Jahr Inzwischen geht auch das wenige zu- eine Kampagne gegen „kriminelle Asy- grunde, das dem Sozialismus Castros zu Bestimmungen, die zu den lanten“ entfacht hatten, stellte sich der danken war. Hospitäler mit einer mo- schärfsten in Europa gehören. Justizminister an die Spitze der Bewe- dernen Technologie, von der arme Län- gung. Weniger als ein halbes Jahr benö- der nur träumen können, bekommen tigten seine Beamten, um neue Zwangs- schon lange keine Ersatzteile mehr, ha- aum war der gerichtliche Bußgeld- maßnahmen im Ausländerrecht zu ver- ben selten Strom; Drogen und Arzneien bescheid im Haus, wurde der Ber- ankern. werden immer knapper. Da es keine Be- Kner Pfarrer Franz Kuhn, 62, erneut Unerwünschte Ausländer – Drogen- täubungsmittel gibt, wird unter Aku- straffällig. Soeben habe seine Dreifaltig- dealer aus der Zürcher Szene, aber auch punktur operiert, und Wunden werden keits-Gemeinde fünf Kosovo-Albaner abgewiesene Asylbewerber oder schlicht mit Hanf vernäht. Noch vor ein paar aufgenommen, die vom Staat abgescho- Fremde ohne Ausweispapiere – sollen Jahren war die Säuglingssterblichkeit in ben werden sollten, verkündete Kuhn. demnach bis zu drei Monate in „Vorbe- Havanna geringer als in der US-Haupt- Die größte katholische Gemeinde der reitungshaft“ genommen werden; bis zu stadt Washington. Das dürfte sich geän- Schweizer Bundesstadt kämpft beson- neun Monate darf nach einem Abschie- dert haben. ders aktiv gegen die unerbittliche Ab- beurteil die Auslieferungshaft dauern. Gewiß, Kuba ist vom Sozialismus gründlicher zerstört worden als vom Embargo der Amerikaner. Aber drei Jahrzehnte lang war die US-Blockade der Grund für alle Mißerfolge, die Aus- rede für alle Mängel. Die Bindung an die Sowjetunion, die Erfolge der kuba- nischen „Internationalisten“ in Afrika, der revolutionäre Enthusiasmus einer gar nicht so kleinen Elite auf Kuba: Oh- ne die Anfeindung durch die Amerika- ner, die wegen des Embargos täglich spürbar blieb, hätte sich all dies gewiß nicht so lange entfalten können. Irak, Haiti, Kuba sind internationale Elendsfälle geworden, Opfer ihrer je- weiligen Herrscher, aber doch auch ih- rer tatsächlichen oder potentiellen Be- freier. Die Behandlung, die diesen Län- dern von der Weltgemeinschaft beschert wurde, wird sich dem Gedächtnis von Millionen ihrer darbenden, todgeweih- ten Menschen einprägen. Jene westli- chen Industrieländer, die das Schicksal

dieser Unterentwickelten so massiv zu KEYSTONE ZÜRICH beeinflussen suchten, haben sich aller- Polizeieinsatz gegen Ausländer in Bern: Schnell ins Gefängnis hand Verantwortung aufgeladen. Schon will der neue, von den Republikanern schiebepraxis der Behörden. „Die ge- Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmi- beherrschte Kongreß in Washington die genwärtige Politik gegenüber den Koso- gung können nach den Vorstellungen GIs aus Haiti zurückholen, möglichst vo-Albanern ist nicht mehr akzeptabel“, der Juristen ins Gefängnis eingeliefert umgehend. unterstützt der Gemeinderat seinen un- werden, ohne verurteilt zu sein oder ein Das Bagdad Saddam Husseins dürfte botmäßigen Pfarrer. „Die Verfolgung Verbrechen begangen zu haben. Haft, letzte Woche mit befremdetem Staunen dieser Volksgruppe ist eindeutig nach- selbst für Jugendliche ab 15, wird zu- nach Jakarta geblickt haben, ins ferne gewiesen.“ künftig in Einzelfällen sogar vor ei- Indonesien, das die Ehre hatte, den Doch Justizminister Arnold Koller, nem gerichtlichen Ausweisungsbeschluß Staatschefs der Pazifik-Länder (ein- Rechtsprofessor aus dem katholisch- möglich. schließlich Bill Clintons) als Gastgeber konservativen Appenzell Innerrhoden, Die Machtfülle der Behörden sei zu dienen. Kein Krieg, kein Boykott, läßt sich durch ein paar standhafte Chri- Willkür, empört sich der Genfer Straf- kein Embargo hat je die indonesischen sten nicht beeindrucken. Im Einklang rechtsprofessor Andreas Auer: „Das Militärs bedrängt, die Mitte der siebzi- mit der Mehrheit der Eidgenossen hält Asylverfahren wird zum Abschiebever- ger Jahre mit Osttimor nicht anders ver- er Kirchenasyl in einem Rechtsstaat für fahren degradiert.“ Die geplanten Be- fuhren als Saddam Hussein mit dem unannehmbar. stimmungen seien verfassungswidrig Emirat Kuweit. Um die tatsächlich Verfolgten zu und verletzten die Europäische Men- Die Schlange auf der Brust Madeleine schützen, müßten alle „Scheinasylan- schenrechtskonvention. Albrights verkörpert nur Amerikas In- ten“ zügig abgeschoben werden, glau- Die Fremdenpolizei jedenfalls neigt konsequenz. Y ben Koller und seine Gesinnungsgenos- zu drakonischem Vorgehen; die Richter

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haben 96 Stunden Zeit für eine Haft- das dem Mißtrauen gegenüber Fremden flict“. Dabei fordern diese Kampfhand- prüfung – weitaus mehr als im norma- Vorschub“ leiste. lungen Tausende Opfer. In Afrika be- len Strafrecht. Schon kleine Übertre- „Ethisches Verantwortungsbewußt- drohen sie die Existenz eines ganzen tungen genügen für die Einweisung ins sein“, wie es die Bischöfe fordern, solle Volkes – der Tuareg. Gefängnis: Wer beispielsweise einer nicht nur die Stimmbürger leiten, Die Nomaden mit ihren Herden von amtlichen Vorladung nicht folgt, soll wünscht der Berner Pfarrer Kuhn, son- Ziegen, Schafen und Dromedaren gal- prompt hinter Gitter gebracht werden. dern auch die Juristen im Flüchtlings- ten einst als Herren der Sahara und wa- Durchsuchungen sind auf bloßen Ver- amt. Die urteilen über Asylbewerber, ren als Sklavenjäger gefürchtet. Deshalb dacht hin möglich – auch in Kirchen ohne sie je zu sehen. Ihre Arbeit, bestä- nennen Bewohner der Region sie bis oder in Privatwohnungen –, wenn die tigt das Schweizer Rote Kreuz in einer heute „Weiße“. Tatsächlich stammen Polizei dort versteckte Ausländer ver- Analyse von 4000 einschlägigen Ent- die stolzen Reiter von hellhäutigen Ber- mutet. scheidungen, sei oft oberflächlich und bervölkern ab. Die geplanten Vorschriften gehören geprägt von Vorurteilen. Die neuen Seit dem Ende der Kolonialzeit ist das zu den schärfsten in Europa, doch Vorschriften könnten diese Tendenz Siedlungsgebiet der rund 1,2 Millionen rechtsstaatliche Bedenken wischt der noch verstärken. Y Tuareg auf fünf Staaten verteilt. Ihre Justizminister beiseite. Eifrig wirbt er Wanderungen führten immer wieder zu für seine Gesetzesänderung, über wel- Zusammenstößen mit den Regierungen, che die Schweizer am 4. Dezember ab- Afrika die in den Nomaden eine Bedrohung stimmen. Ein Sieg ist ihm so gut wie der seßhaften Volksmehrheit sehen. sicher, denn viele Eidgenossen empfin- Nach mehreren Dürrejahren, in denen den die 20 Prozent Fremden im Land die Wüste weiter vordrang, steigert sich als Bedrohung. Herren der Konflikt nun zum Überlebenskampf Kritiker werfen dem Minister Heu- zwischen Bauern und Tuareg um das chelei vor, weil sich die neuen Bestim- knapp gewordene Land. mungen keineswegs nur gegen krimi- der Sahara Fast 400 Menschen, behauptet eine nelle Ausländer richten würden. Sol- Tuareg-Organisation, seien in Timbuktu che Einwände nimmt Koller auf die Das legendäre Nomadenvolk der (Mali) bei Pogromen umgebracht wor- leichte Schulter. „Das sind genau die Tuareg rebelliert gegen die den. Auf der anderen Seite, so berichtet Argumente“, wies er im Fernsehen ei- Amnesty International, hätten Tuareg- nen Züricher Grünen zurecht, „welche Regierungen in Mali und Niger. Rebellen „willkürlich über 80 Zivilisten die Atmosphäre in der Schweiz verpe- getötet“. sten.“ Er lasse sich nicht „in die brau- as Muster folgt einer grausamen „Die Situation ist wirklich ernst“, ne Ecke“ drängen. Logik: Stammeskämpfer überfal- warnt der vom Uno-Generalsekretär in Der Minister und seine Berater glau- Dlen ein Dorf oder einen Militärpo- die Region entsandte Sonderbotschaf- ben, mit dem juristischen Kraftakt die sten. Die Armee schlägt zurück. Ihre ter. Die Staatschefs von Algerien, Bur- wachsende Fremdenfeindlichkeit ein- Rache trifft vor allem Zivilisten, weil die kina Faso, Libyen, Mauretanien, Mali dämmen zu können. Rechtsgelehrte Rebellen nur schwer zu stellen sind. Sol- und Niger wollen noch in diesem Monat wie Auer erwarten das Gegenteil: daten bringen Verdächtige um, Frauen auf einem Gipfeltreffen versuchen, die „Indem er für bestimmte Ausländerka- und Kinder fliehen. Auseinandersetzung zu entschärfen. tegorien Sondergesetze erläßt, bestätigt Solche Kriege ohne Frontlinien hei- Die Zwischenfälle häufen sich, seit in der Staat das Vorurteil, daß es sich bei ßen im Militärjargon „low-intensity con- Mali ein vor zweieinhalb Jahren ge- Ausländern, die um Asyl bitten, mutmaßlich um Kriminelle handelt.“ Nur in der französi- schen Schweiz wächst der Widerstand. Die Genfer Anwaltskam- mer, die bürgerliche Kantonsregierung und die regionalen Parteien von den Sozialdemokra- ten bis zu den konser- vativen Liberalen leh- nen die Gesetzesände- rung ab. Im alemannischen Landesteil erscheint die Lage der Koller-Gegner hoffnungslos. Ihre War- nung, die Schweiz dürfe ihre humanitären Tradi- tionen nicht preisgeben, kommt zwischen Bo- densee und Bern nicht an. Nur die katholischen Bischöfe springen ihnen bei. In einem Hirten-

brief wehren sie sich M. DEVILLE / GAMMA / STUDIO X „gegen jedes Gesetz, Tuareg-Rebellen in der Sahara: „Krieg zwischen Schwarz und Weiß“

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Dürre mit ihrem Le- gen Wölker erfahren: Als die Armee 500 km LIBYEN bensstil brachen und mit Terroraktionen gegen die Noma- ALGERIEN sich von der Regierung den vorging, drohte Wölker, die deut- Gebiet der als Bauern ansiedeln sche Entwicklungshilfe einzustellen. Ni- Tuareg ließen. Ihr Interesse an grische Intellektuelle attackierten dar- Frieden und Integrati- aufhin den Deutschen als arischen Ver- Hoggar- Dschanet on brachte sie später schwörer gegen die schwarze Rasse. Gebirge bei den Rebellen in Dennoch schlossen Tuareg und Re- den Verruf, Handlan- gierung am 9. Oktober ein Friedensab- MAURETANIEN Saharager der Regierungs- kommen. „Wir haben uns immer ge- Flüchtlingslager truppen zu sein. weigert, ein politisches Problem zur Daß Malis Armee Rassenfrage umzuwandeln“, sagt der MALI nun auch in Dofana Tuareg-Politiker Mano Dayak. Künftig Vassala Timbuktu mordet, zeigt die Will- sollen alle Regionen in Niger neu ge- Niger NIGER kür ihrer Vergeltung. gliedert werden und sich selbst verwal- TSCHAD Einige Opfer wurden ten können. Für die Ordnung in ihrem von den Soldaten in Gebiet sollen die Tuareg selbst zustän- Bamako Tschad- Niamey see ein Nachbardorf ge- dig sein. Regierung und Aufständische BURKINA Wagadugu schleppt und vor der setzten sich eine Frist von sechs Mona- FASO NIGERIA johlenden Menge er- ten, um den Plan zu verwirklichen. schlagen. Doch wie im benachbarten Mali dro- Eine schwarze Bür- hen auch in Niger die guten Absichten gerwehr, die sich zu scheitern, weil die Mittel zu knapp Gandha Koy (Herren sind. „Wir brauchen Schulen, Kranken- schlossenes Friedensabkommen zusam- der Erde) nennt, liefert die ideologische häuser und Entwicklungsprojekte“, for- menbrach. Ein Nationalpakt sah wirt- Rechtfertigung für das Morden. Von dert Dayak, „sonst werden in beiden schaftliche Fördermaßnahmen und die der Armee bewaffnet und gelenkt, bil- Lagern wieder Extremisten die Ober- Aufnahme von Tuareg in die Armee vor. det sie Todesschwadronen, die ausspre- hand gewinnen.“ Nach Vertragsunter- Doch Geld für Entwicklungsprojekte chen, was die schwarze Mehrheit fühlt: zeichnung sprach der Tuareg-Führer verschwand in der Hauptstadt Bamako. „Die Tuareg-Rebellen sind Rassisten, bei der deutschen Botschaft in Waga- Die 7300 Mann starken Streitkräfte re- sie sehen in Schwarzen nur Sklaven.“ dugu vor und bat um Entwicklungshil- krutierten nur 640 Tuareg; die fühlten Rassische Gegensätze erschweren fe. sich bald zurückgesetzt, etliche desertier- auch in der Republik Niger jeden Kom- Dayak, früher Tourismusunterneh- ten. promiß. Das mußte Bonns (inzwischen mer, möchte bald wieder als Wüsten- Auch die Rebellen brachen das Ab- heimgekehrter) Botschafter Sepp-Jür- führer Geld verdienen. Wegen der Un- kommen. Ihren Führern gelang es nicht, ruhen ist der Sahara-Tou- junge Guerrilleros im Zaum zu halten. rismus in Niger und Mali Banden plünderten ungestraft am Niger- zum Erliegen gekommen. Fluß, wo sich die Gebiete der Nomaden Damit verschwand die und der Bauern überschneiden. einzige Möglichkeit, die An den Aufständen ist ein notorischer Traditionen des bedroh- Unruhestifter mitschuldig: Libyens Mu- ten Nomadenvolkes mit ammar el-Gaddafi. Als in den siebziger modernen Wirtschaftsfor- und achtziger Jahren katastrophale Dür- men in Einklang zu brin- ren die Herden der Nomaden in der Sa- gen. helzone vernichteten, verdingten sich Noch gibt es Sahara- junge Tuareg aus Niger und Mali in den Touristen, die zu den Kasernen des Revolutionsführers. Tuareg reisen – nach Al- Gaddafi versprach ihnen Hilfe bei der gerien. Während sich Befreiung ihrer Heimat, benutzte die Ausländer wegen des Krieger jedoch für eigene Zwecke: als Terrors der Islamisten Sturmtruppen imTschad oder alsLeihga- nicht mehr in die Haupt- be an die Befreiungsfront der Westsahara stadt Algier und den Nor- und die PLO im Libanon. Eine politische den des Landes wagen, Organisation bauten die Tuareg in Liby- fliegt die algerische Flug- en nicht auf, ihre Aktionen blieben spon- gesellschaft einmal im tan und ungeplant. Monat Bildungsurlauber Das schwächt ihren Widerstand bis ins südalgerische Dscha- heute. Den Preis zahlt die Zivilbevölke- net. rung: Rund 200 000Tuareg aus Mali sind Dort starten Rundrei- bislang nach Mauretanien, Algerien und sen durch die Wüste, un- Burkina Faso geflohen. „Es ist ein Krieg ter der kundigen Führung von Schwarz gegen Weiß“, sagt der Tua- von Tuareg. Sie berichten reg Rissa Cheboune, Flüchtling im mau- den Besuchern von der retanischen Lager Vassala. Cheboune Not ihres Volkes jenseits überlebte ein Massaker, bei dem im Au- der Grenzen. Etliche gust 24 Menschen in Dofana umkamen. melden sich immer wie-

Der Name dieses Dorfes besitzt in Mali REA der befristet ab – zum Symbolwert – es war Wohnsitz der ersten Angesiedelte Nomaden in Mali Einsatz bei den Brüdern Tuareg-Nomaden, die 1985 nach der „Wir brauchen Schulen und Krankenhäuser“ in Mali und Niger. Y

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Großbritannien Sadistisches Vergnügen Drei Jahre nach seinem mysteriö- sen Tod wird der Pressezar und Großbankrotteur Robert Maxwell bloßgestellt – von seiner Witwe.

iemand an Bord hörte, wie der massige Körper Robert Maxwells, N68, in den Atlantik plumpste. War der mächtige Pressezar vor der kanari- schen Küste im Morgengrauen von sei- ner 55-Meter-Jacht „Lady Ghislaine“ gefallen, weil ein Herzinfarkt ihn jäh lähmte? SIPA PRESS Verleger Maxwell, Ehefrau (1987) „Klima von Terror und Angst“

Oder suchte Maxwell an jenem No- vembermorgen 1991 den Freitod – im Wissen, daß sein überschuldetes Me- dienimperium vor dem Bankrott stand und seine weltweiten Geschäfte eine Sa- che für die Staatsanwälte waren? Oder starb der Jachteigner, dem engste Kon- takte zur israelischen Regierung und de- ren Geheimdienst Mossad nachgesagt wurden, gar gewaltsam, womöglich als Opfer eines arabischen Mordkomman- dos? Der einsame Tod des Großverlegers auf hoher See ist bis heute mit jener Au- ra von Geheimnissen und Rätseln um- woben, wie sie „Captain Bob“ schon zu Lebzeiten sorgsam pflegte. Eifrig ließ er gefällige Biographen und Lohnschreiber am Mythos seiner außergewöhnlichen Nachkriegskarriere stricken: Das Kind armer jüdischer

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Landarbeiter aus der Tschechoslowakei, das erstmals mit acht Jahren festes Schuhzeug bekam, stieg zum weltweit bekannten Zeitungszaren mit Tausen- den Angestellten in 28 Ländern auf. Nun wird das Andenken an den rast- losen Selfmade-Tycoon mit der tiefen Stimme und den buschigen Augenbrau- en durch neue, ruhmlose Enthüllungen befleckt – späte Rache einer unter- drückten Gattin. Exakt drei Jahre nach seinem Tod hat sich Elisabeth („Betty“) Maxwell, 73, zu Wort gemeldet. Ihre Memoiren, die Ende dieser Woche in Großbritannien erscheinen, sind die ei- sige Abrechnung mit einem exzentri- schen Despoten. Der Gemahl, so bilanziert die scharf- züngige Hinterbliebene ihr 46 Jahre währendes Ehemartyrium, habe sie „mit

sadistischem Vergnügen“ vor anderen A. KLYMENKO Leuten heruntergeputzt, ständig betro- Totengedenken für Nationalheld Bandera*: Wider das russische Imperium gen und hintergangen. Die sieben Kin- der seien vom Vater regelmäßig verdro- Derzeit bewohnt die Witwe im feinen schen worden; im 53-Zimmer-Herren- Londoner Viertel Chelsea eine „mikro- Ukraine sitz „Headington Hill Hall“ in Oxford skopisch“ kleine Behausung (so Betty habe ein „Klima von Terror und Angst“ Maxwell), die sich nach Augenschein geherrscht. Kurz: Das Leben mit dem von Reportern als Appartement mit vier „größenwahnsinnigen und jähzornigen Schlafzimmern und teeservierendem Gesegnetes Tyrannen war die Hölle“. Dienstmädchen entpuppte. Die Miete Bekennerdrang aus den gehobenen bringt ein alter Freund aus glanzvollen Kreisen der Gesellschaft garantiert im Tagen auf: der Duke of Westminster. Schwert Vereinigten Königreich satte Verkaufs- Mag sein, daß Betty Maxwell tatsäch- erlöse. Die Autorin soll vom Londoner lich Rachegefühle und Gewinnstreben Nationalisten feiern einen Partisa- Verlagshaus Sidgwick 100 000 Pfund zur postumen Demontage ihres Mannes nen, der einst mit den Nazis (eine knappe Viertelmillion Mark) Vor- trieben. Es ist aber auch möglich, daß schuß kassiert haben – zu Lebzeiten die gescheite Witwe, die 1981 an der kollaborierte und dann gegen alle Maxwells wäre das freilich eine Sum- Universität von Oxford über die „Kunst focht – Stepan Bandera. me gewesen, die nicht einmal zur Ent- des Briefeschreibens im Frankreich zur lohnung der diensthabenden Zofen, Zeit der Revolution und der napoleoni- Butler, Köche und Gouvernanten ge- schen Ära“ promovierte, gezielt Legen- as Telefon klingelte nachts um reicht hätte. den bildet – zum Vorteil ihrer Söhne drei. „Heute lassen wir euch ver- Ddammte Ukrainer hochgehen“, Doch nun, klagt die Witwe, brauche Ian, 38, und Kevin, 35. sie die Honorare aus ihrer Lebensbeich- Die beiden jungen Maxwells müssen kündigte eine Stimme an, die sich unter te, um ihren kümmerlichen Unterhalt zu sich von Anfang kommenden Jahres an dem Namen Romanow vorstellte. bestreiten. Nach der grandiosen Pleite vor einem Londoner Gericht verantwor- Die Bombendrohung kam vom russi- ihres Mannes – Maxwell hinterließ etwa ten. Sie werden beschuldigt, an der be- schen Nationalistenbund Pamjat, sie fünf Milliarden Mark Gesamtschul- trügerischen Megapleite des Vaters ak- galt einem Aufmarsch der Konkurrenz, den – sei sie „völlig mittellos“, angewie- tiv mitgewirkt zu haben. Ihre Mutter hat dem „Kongreß Ukrainischer Nationali- sen auf die staatliche Mindestrente bereits bei den verbliebenen Freunden sten“, Ende Oktober in Kiew. Die von gerade 141 Mark pro Woche für weit über eine Million Mark zur Bezah- Ukrainer feierten ihren Helden und Alleinstehende. lung erstklassiger Verteidiger aufgetrie- Märtyrer Stepan Bandera, der vor 35 Jahren in München ermordet worden Ein ungnädiges Schicksal, das Betty ben. war. Maxwell mit etlichen ehemaligen Mitar- In ihrem Buch zeichnet sie nun das Mehrere hundert altersschwache beitern ihres Mannes teilt: Denn vor Bild zweier herzensguter Jungs, die vom Kämpfer aus dem Zweiten Weltkrieg dem Kollaps seines Imperiums hatte der durchtriebenen, herrschsüchtigen Papa und Veteranen der „14. Waffen-Grena- Pressebaron rücksichtslos die Pensions- hemmungslos für dessen Geschäfte be- dier-Division der SS (galizische Nr. 1)“ kassen, vor allem die des Londoner Mir- nutzt wurden. Betty Maxwell: „Nun hat sangen ihrem Heroen das Ruhmeslied ror-Verlags, geplündert und so das Per- er aus meinen eigenen Söhnen Parias „Ewiges Gedenken“. Die KGB-Verbre- sonal um bis zu 70 Prozent ihrer betrieb- gemacht – sie sind stigmatisiert und wer- cher hätten zwar „den Körper des Füh- lichen Altersversorgung geprellt. den gehaßt.“ rers getötet“, so eine Rednerin, „sein Doch ganz so schlimm wie die betro- Sie selbst scheint zu dauerndem Haß Geist aber bleibt unsterblich“. genen Rentner muß die Pariser Aristo- nicht fähig. Trotz aller Schmähungen „Wir segnen das Schwert, das Bande- kraten-Tochter auch künftig nicht dar- und Beschuldigungen kann die Witwe ra im Namen Gottes und der ukraini- ben. Allein der Verkehrswert ihres fran- dem verblichenen Milliarden-Betrüger, schen Nation führte“, verkündete der zösischen Chaˆteaus, das nicht zur Kon- dessen Charme in der Damenwelt noto- Priester Jurij von der ukrainischen Na- kursmasse gehört, liegt bei etwa 7,5 Mil- risch war, nicht lebenslang gram sein: tionalkirche und schwang das Kreuz vor lionen Mark. Das Schloß ist jedoch laut „Er konnte ganz furchtbare Dinge an- Mrs. Maxwell „bis oben hin“ mit Hypo- stellen, aber irgendwie mußte man die- theken belastet. sen Scheißkerl dennoch mögen.“ Y * In seinem Geburtsort Stary Ugriniw.

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dem Porträt des jugendlichen Bandera. de.“ Auch als die Sowjets die Ukraine schisten und Monarchisten ebenso be- Der hatte sich als Student 1934 an der zurückerobert hatten, lieferten die Ban- droht wie von Jelzins Außenminister: Ermordung des polnischen Innenmini- dera-Freischärler sowjetischen und pol- „Pamjat, Schirinowski, Solschenizyn sters beteiligt, was ihn ins Gefängnis nischen Polizeitruppen Gefechte. Sie und Kosyrew, sie alle wollen das russi- brachte. Als einer der Anführer der überfielen Posten und Versorgungsla- sche Imperium erneuern.“ „Organisation Ukrainischer Nationali- ger, töteten Funktionäre und Spitzel. Die Ehefrau des Fünf-Tage-Regie- sten“ (OUN) kämpfte Bandera damals Erst 1959 gelang es sowjetischen Mili- rungschefs Stezko hatte Banderas für eine Großukraine, die das Polen zu- täreinheiten, die letzten Rebellen im Münchner Exil geteilt, erst vor zwei Jah- geschlagene Galizien, die Sowjetukrai- Grenzgebiet zur Slowakei auszuschal- ren kehrte sie in die Heimat zurück. ne, die russischen Kuban-Gebiete und ten. Im selben Jahr tötete ein KGB-Kil- 50 000 Anhänger konnte sie seither um den Nordkaukasus umfassen sollte. ler in München Bandera mittels einer sich scharen, sagt sie. Über die stärksten Nach dem deutschen Einmarsch in Giftpistole. Kader verfügt die streng hierarchisch or- Polen kam Bandera 1939 frei und arbei- Der Mörder, den seine deutsche Frau ganisierte Partei in der Westukraine, tete zunächst mit den Besatzern zusam- zum Geständnis überredete, erhielt eine doch nun will sie „auch den Osten er- men. Er gründete eine „Ukrainische Le- milde Strafe: acht Jahre, nur wegen Bei- obern“. gion“, die von der Wehrmacht ausgebil- hilfe zum Mord. Urheber der Tat, so Mit dem Geld reicher Exilukrainer fi- det wurde. Im Juni 1941 marschierten entschied der Bundesgerichtshof, sei nanziert die Partei die Ausbreitung der die Bataillone „Nachtigall“ und „Ro- nationalistischen Idee, für die Frau Stez- land“, geführt von Offizieren und Un- ko in Broschüren und Schulungskursen teroffizieren aus den Reihen der OUN, Schon zweimal sprengten wirbt. Auf „wissenschaftlichen Konfe- in Lemberg (Lwiw) ein. Am 30. Juni Feinde das Denkmal renzen“ in Lemberg, Kiew und Donezk proklamierte Banderas Stellvertreter Ja- bemüht sich der Kongreß Ukrainischer roslaw Stezko eine unabhängige Lan- des Partisanenführers Nationalisten, seinen Helden Bandera desregierung für die Westukraine. Ein historisch zu rehabilitieren. Pogrom an den jüdischen Einwohnern Auftraggeber Alexander Schelepin, da- Im Rausch der wiedergewonnenen ließ nicht lange auf sich warten. mals KGB-Chef und Politbüromitglied Selbständigkeit wurden 1991 in Lem- Doch der neue Staat konnte sich nur in Moskau. berg und vielen westukrainischen Kom- fünf Tage halten. Die Deutschen waren Schreibtischtäter Schelepin starb vori- munen Straßen mit sowjetischen Namen nicht gekommen, die sowjetische Kolo- gen Monat kaum beachtet als Pensionär auf Bandera umgetauft. Der Jüdische nie zu befreien, sondern sie ebenso aus- in Rußland. Sein Opfer Bandera aber Weltkongreß protestierte ebenso wie zubeuten wie Stalin. Stezko und Bande- dient in der nun selbständigen Ukraine die Warschauer Regierung – in Polen ist ra wurden ins Konzentrationslager allen Rechten als Symbolfigur. Die Mit- Banderas Untergrundarmee bis heute Sachsenhausen verschleppt, zwei Brü- glieder des Nationalisten-Kongresses, als „Mörderbande“ verhaßt. Nach der Banderas in Auschwitz von polni- der als Partei registriert ist, werden in Schätzung polnischer Historiker kamen schen Mithäftlingen erschlagen. seinem Namen „zum ewigen Dienst an in Kämpfen mit den ukrainischen Parti- Die OUN-Aktivisten führten fortan der ukrainischen Nation“ vereidigt. sanen 50 000 bis 80 000 Polen vor allem einen Partisanenkampf gegen alle Fein- „Dreizack“, die Nachwuchsorganisation im Gebiet von Wolhynien ums Leben. de der Ukraine: „Wir wollen nicht für der Banderiten, trägt den Ehrennamen Eine steinerne Büste Banderas in sei- Moskau, die Juden, die Deutschen und „Stepan Bandera“. nem Geburtsort Stary Ugriniw wurde andere Fremde arbeiten, sondern für Die Parteivorsitzende Jaroslawa Stez- schon zweimal von Unbekannten ge- uns“, verkündete ein Flugblatt. „Wir ko, 74, sieht in Moskau noch immer eine sprengt. Jetzt steht ein Standbild aus schaffen einen selbständigen ukraini- feindliche Macht. Sie wähnt die ukraini- Bronze nahe seinem Elternhaus, in dem schen Staat oder gehen für ihn zugrun- sche Unabhängigkeit von russischen Fa- ein Museum untergebracht ist. Dieses Jahr mußten ganze Schulklassen aus den umliegenden Dörfern zur Gedenkfeier anmar- schieren und dem Nationalhelden huldigen. „Ihr seid die Erben Ban- deras“, schärfte der Vorsitzende des Bezirksrats, Stepan Wolko- wezki, den Jungen und Mädchen ein, die vor dem Denkmal strammstanden. Vom Bandera-Kult verspricht sich Gouverneur Wolkowezki au- ßer neuem Nationalgefühl auch klingende Münze. Er plant einen großen Ehrenkomplex für den Landesrebellen: Ein richtiges Mu- seum mit Hotelbetrieb soll die zahlreichen Widerstandskämpfer, die im Exil zu Wohlstand gekom- men sind, zu einem Besuch in die Heimat locken. Auch im Ukrainischen klingt „Banderowez“ (Banderit) fast wie Bandit. Das hindert Wolkowezki allerdings nicht am trotzigen Be-

A. KLYMENKO kenntnis: „Wir sind stolz, Bande- Treffen von Bandera-Veteranen: Für ein Reich bis zum Kaukasus riwzi zu sein.“ Y

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Werbeseite Herausforderer Barkley, Weltmeister Maske*: Schläge mit dem Druck von mehr als einer halben Tonne B. WENDE

Boxen FALLOBST FÜR TIGER Henry Maske hat den Faustkampf in Deutschland wieder populär gemacht. Die Schickeria trifft sich am Ring, um die deutschen Helden zu feiern. Doch viele Siege sind nur das Ergebnis einer geschickten Inszenierung: Die Gegner, meist als harte Fighter aus den US-Ghettos angepriesen, sind schlecht bezahlte Prügelknaben.

ach einem laschen Schlag auf die zung von Emma Elizondo von der New te zu verlieren“, sagt Fabian Garcia, ein Nase war der Abend für Alberto York State Athletic Commission, der amerikanischer Halbschwergewichtler NAlicea gelaufen. Vier Runden lang obersten Boxbehörde in New York, tat- mit Deutschland-Erfahrung als lebender hatte sich der Leichtgewichtler aus den sächlich Boxer – „allerdings keiner, der Sandsack. Und die Veranstalter haben USA in der Lübecker Hansehalle erfolg- ernst zu nehmen ist“. die freie Auswahl: Tausende solcher reich vor den Schlägen seines Hamburger Alicea und seine Kollegen sind Fall- schlecht trainierten oder abgehalfterten Kontrahenten Artur Grigorjan geduckt. obst. So heißen in der Szene Boxer, die Boxer, schätzt das US-Fachmagazin The Vor dem fünften Durchgang blieb Ali- in den Ring steigen, um sich dort fach- Ring, „tingeln über Land und lassen sich cea, 31, einfach in der Ringecke sitzen. gerecht verprügeln zu lassen. Ihre Kar- die Birne weich klopfen“. Noch eiliger hatte es Landsmann Ken rieren, schreibt die amerikanische Es- Berufsboxen, sagt der Kabarettist Wood. Nach 106 Sekunden gegen den sayistin und Boxexpertin Joyce Carol Werner Schneyder, der die Kämpfe für Deutschen Kim Weber legte er sich für Oates, sind „von vornherein festgelegt: den Fernsehsender RTL kommentiert, drei Minuten auf die Bretter. sie haben keine“. Die harten Jobs galten sei nun auch in Deutschland „eine Sache Alicea, der sich selbst einen „techni- bislang als Spezialität der US-Boxszene. in between“. Irgendwo zwischen realem schen K.o.“ attestiert hatte, sprach auch Doch seitdem in Deutschland das Ge- Sport und einstudiertem Ballett. fürWood,alserseinenAusstiegmitüber- schäft mit dem Faustkampf boomt, Die privaten TV-Anstalten präsentie- raschender Ehrlichkeit begründete: steigt auch hierzulande die Nachfrage ren die harten Machos in grellen Shows „Soll ich mich kaputtschlagen lassen?“ nach willigen Opfern. und locken so, wie beim letzten Kampf Nur wenig mehr Widerstand erwartet „Wir werden von den Promotern aus- von Weltmeister Henry Maske, fast am Samstag der Berliner Torsten May bei gewählt, um gegen aufstrebende Talen- zehn Millionen Zuschauer vor die Fern- einem Kampfabend in Wuppertal. Sein seher. Und in den ersten Reihen am Gegner Jason Waller ist nach Einschät- * Im Oktober in Halle. Ring sitzt, wer sich für prominent hält:

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Der alternde Udo Lin- und in ein paar Jahren ist Heroin das denberg und der noch äl- einzige, womit der sich beschäftigt.“ tere Johannes Heesters, Die Hoffnung auf eine kleine oder Talkmaster Thomas die womöglich letzte Börse läßt die Ge- Gottschalk ebenso wie strandeten des Genres auch die Gefahr Kollegin Margarethe ignorieren, der sie sich in den deut- Schreinemakers. schen Ringen aussetzen. Barkley war in Bejubelt werden die England bereits wegen zweier Netz- Sieger – die liefern die hautablösungen die Lizenz entzogen Deutschen mit ihren in worden, als er sich trotz seiner schwe- den DDR-Schulen ge- ren Sehstörungen zum letzten Gefecht

drillten Kampfmaschinen BONGARTS gegen Maske entschloß. Die Fäuste, die oder eingebürgerten Ta- TV-Moderatorin Margarethe Schreinemakers auf ihn zuflogen, bemerkte er erst, als lenten wie dem Polen Da- sie gegen seine Augen klatschten. riusz Michalczewski, der unter dem chenbaren Straßenkämpfern aufrecht. Auch Alberto Aliceas Kampffähig- Kampfnamen „Tiger“ für seine neue Hei- Doch das Risiko für die einheimischen keit ist umstritten, seit er sich am 6. Ju- mat und Mark boxt. Kämpfer wird schon durch den Boxstil li 1989 bei einem Kampf in New York Die Verlierer werden mit System dazu- auf Null reduziert: Die Deckung der einen Nackenwirbel brach. In New gekauft. Wo früher Türsteher von der schnellen Deutschen ist mit wilden Schlä- York war er wegen gesundheitlicher Kneipenkeilerei weg engagiert wurden gen kaum zu durchbrechen. Statt an Ge- Probleme ebenso gesperrt wie in Con- oder als „braune Bomber“ angepriesene genwehr denken die eingeflogenen Ver- necticut. Afrikaner ausreichten, bedarf es heute lierer ohnehin nur an die subtilerer Regie. Die ausgewählten Kon- Gage. 1000 Dollar zahlte trahenten müssen spektakulär zuschla- der Hamburger Promoter gen können – doch nicht hart genug, um Klaus-Peter Kohl für den eigenen Mann zu gefährden. Aliceas Kurzauftritt – Bevorzugt werden Boxer aus den ein Honorar, das der USA, der Heimat aller Heroen von Jack Schwarze in seiner Hei- Dempsey bis George Foreman; schwarz mat angesichts seiner ge- sollten sie sein und sich ihr boxerisches ringen boxerischen Fähig- Know-how in den Ghettoschluchten keiten nirgendwo kassie- amerikanischer Großstädte erworben ren kann. haben. Mehr der Form halber müssen sie Aliceas Kampfrekord über eine Boxlizenz verfügen. Wie, wann reicht in den USA allen- und auf welchem Wege die erworben falls noch für ein Engage- wurde, ist oft nebensächlich. ment beim Rummelbo- Wichtig ist nur, daß sich mit irgendwel- xen. 31mal trat er in sie- chen Ranglistenplätzen oder dubiosen ben Jahren an, 26mal Kampfrekorden der Mythos eines harten blieb ihm nur die spärli-

Schlägers begründen läßt. „Techniker che Börse des Niederge- M. BRANDT / BONGARTS wiedie Europäer“, sagt Maskes Manager schlagenen. Kollege Ken Schauspieler Johannes Heesters Wilfried Sauerland, „können wir nicht Wood bestritt bislang vier Prominente Boxfans verkaufen. Die Leute wollen die furchtlo- Profikämpfe, gewinnen „Die Leute wollen furchtlose Fighter sehen“ sen Fighter und Wühler sehen.“ konnte er keinen. Der Glaube der Fans an die Stärke der Die Boxkrise in den Staaten, zuletzt „Kämpfer, die viel einstecken müs- Amerikaner ist ungebrochen. Die Mög- dokumentiert durch das Comeback des sen“, warnt der Göttinger Neurologe lichkeit, daß solche Schläger mit einem 46jährigen Weltmeisters George Fore- Manfed Holzgraefe, „laufen große Ge- weiten Schwinger (Szenejargon: „Heu- man, macht es den deutschen Promo- fahr, geschädigt zu werden.“ Wer den- macher“) zum finalen Punch durchkom- tern leicht, willfährige Opfer zum noch weiterkämpft, riskiert den Tod, wie men, hält die Legende von den unbere- Kampf gegen die in den USA weitge- der Fall des Profis Zwetan Todorow, 28, hend unbekannten Deut- zeigt. Todorow war vor zwei Wochen bei schen zu locken. Als Iran einem Kampf inSt. Gallen imRing umge- Barkley zum WM-Fight fallen und wenig später gestorben. Eine gegen Maske in Deutsch- als Rettungsversuch vorgenommene land ankam, erkundigte Operation erbrachte den Nachweis er- er sich erst einmal über heblicher Vorschädigungen. den Weltmeister: „Wer Für Holzgraefe, der eine detaillierte ist dieser Deutsche? Wen Studie über dieGefahren desBoxens vor- hat er schon geboxt?“ legte, kam der Tod beinahe zwangsläufig. Pure Verzweiflung, Er stellte fest, daß die Fäuste mit etwa 30 sagt Wolf Wondratschek, Stundenkilometern und einem Druck Dichter und leidenschaft- von mehr als einer halben Tonne auf die licher Boxfan, treibe die- Schädel der Gegner treffen. se Boxer nach Europa. Das normalerweise von der Hirnflüs- Nach der Niederlage ge- sigkeit geschützte Gehirn schleudert gen Maske bleibe dem durch diese Wucht gegen die Schädel- verbeulten Barkley das wand – die Hirnrinde wird geprellt und in Schicksal vieler Kollegen den tieferen Gehirnstrukturen kommt es

B. WENDE wohl kaum erspart: „Der zu kleinen Blutungen. Koordinationsstö- Talkmaster Thomas Gottschalk, Sänger Udo Lindenberg geht zurück in die Bronx, rungen, Gedächtnisverlust und Beein-

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trächtigung der Intelligenz sind die Fol- ge. „Bis zu 25 Prozent aller Boxer“, so Holzgraefe, „entwickeln chronische Hirnschäden.“ Die deutschen Promoter scheren sich „Nur noch Marionetten“ weder um den sozialen Hintergrund ih- rer ausgewählten Opfer noch um deren Der Schriftsteller Wolf Wondratschek über die Box-Inszenierungen Gesundheitszustand oder Alter. Ihnen geht es nur darum, den Kampfrekord ih- rer Schützlinge in die Höhe zu treiben. Wondratschek, 51, thematisiert in SPIEGEL: Das Konzept scheint aufzu- So lange wie möglich unbesiegt zu sein, seinen Werken häufig das Boxen. gehen, die Schickeria trifft sich wie- sagt Schneyder, „bestimmt nun mal im Weltmeister Henry Maske trug vor der am Ring. Berufsboxen die Höhe der Gage“. So seinem letzten Kampf einen Man- Wondratschek: Mir hat am Boxen im- durfte sich Axel Schulz, Schwergewicht- tel, der mit Wondratschek-Versen mer gefallen, daß es etwas misfit war, ler aus Frankfurt/Oder, am ehemaligen bedruckt war. also nicht gesellschaftsfähig. Heute Weltmeister James „Bonecrusher“ wird Boxen trotz des Boxens ver- Smith austoben – Schulz zählt 25 Lenze, SPIEGEL: Herr Wondratschek, fin- kauft, gereinigt vom proletarischen der Knochenbrecher ist mit 41 Jahren den Sie in den Box-Shows des Ambiente. Die Veranstalter wollen bereits ein Boxveteran. Fernsehens noch den archaischen die Lower class, die Basis dieses Kampf Mann gegen Sports, ausgrenzen, sind überheblich Mann? und begnügen sich mit der hausei- Wondratschek: Im Prin- genen Fernsehprominenz. Und dann zip ist es noch der Sport, hören wirdie neue Elite der Showma- den ich immer geliebt ster, sich über das Boxen äußern. Zu- habe. Allerdings sind neigung zum Boxen verspüren solche die Kämpfer im Sog Zuschauer aber nicht, überhaupt lie- der finanziell erfolgrei- ben die Deutschen das Boxen nicht. chen Vermarktung Henry SPIEGEL: Warum nicht? Maskes Teile der Unter- Wondratschek: Da sind sie sich doch haltungsindustrie gewor- zu fein. Wir sind ein abgeschotteter, den. wohlhabender Staat. Bei uns sind SPIEGEL: Was hat das zur selbst die Reichen neureich. Heute Folge? muß sich niemand mehr schinden. Wondratschek: Die Boxen aber ist immer noch eine aus- Kämpfer sind zu Mario- zehrende, einsame Angelegenheit. netten der kapitalisti- SPIEGEL: Also sind die Vermarkter schen Verwertung eines auf dem richtigen Weg, indem sie Bo- Produkts verkommen. xen aseptisch anbieten. Mögen die Aus den schweißver- Deutschen bald das Boxen? schmierten, geschunde- Wondratschek: Nein. Es istnur glück- nen Boxern wurden glat- liche Fügung, daß ein Maske in die te, saubere Werbeträger. Werbekonzeption paßt, ohne sich SPIEGEL: Ihre Helden verbiegen zu müssen. Es ist mit dem sind nur noch künstlich? Boxen hierzulande ohnehin wieder Wondratschek: Was Hen- vorbei, wenn Maske verliert. ry Maske betrifft sicher SPIEGEL: DieserGefahrbegegnendie nicht, er ist keine Kunstfi- Manager, indem sie ihm schwache gur. Maske ist, was er ver- Gegner präsentieren. körpert und wasdie Deut- Wondratschek: Das sehe ich auch so. schen unter einem auf- Es wird Zeit, daß Maske endlich ge-

WEBER rechten Sportsmann ver- gen die Besten seiner Klasse antritt.

W.M. stehen: Er hat gute Ma- Er kann es sich nicht mehr leisten, ge- Schriftsteller Wondratschek* nieren, ein anständiges gen zweit- und drittklassige Gegner „Henry muß die Stärksten boxen“ Äußeres und eine faire Einstellung zuboxen.Dochdazumüßteersichge- zum Kampf. Ansonsten aber wird mit gen die Interessen seiner Sponsoren Mitunter können sich selbst die deut- törichten Mitteln versucht, dem Bo- durchsetzen, die das Risiko einer Nie- schen Boxer nicht mehr mit den Metho- xen künstliches Leben einzuhauchen. derlage scheuen. den anfreunden, mit denen ihre Mana- SPIEGEL: Was sind das für Mittel? SPIEGEL: Und Nachfolger sind nicht ger makellose Kampfrekorde zu produ- Wondratschek: Das sind die Showele- in Sicht? zieren versuchen. mente, mit denen die Kämpfe unter- Wondratschek: Maske ist einmalig, Nachdem der ehemalige Berliner malt werden. Das sind die als große sowohl als Boxer, wie als Erschei- Weltmeister Graciano Rocchigiani in Fights angekündigten Rahmenkämp- nung. Ein Typ zum Anhimmeln. Ein Lübeck seinen amerikanischen Konkur- fe, die tatsächlich nur Prügeleien zwi- Norbert Grupe hätte sich das verbe- renten Willie Lee Kemp zwei Runden schen kräftigen Türstehern und al- ten. Und Graciano „Rocky“ Rocchi- verprügelt hatte, behauptete der Ameri- ternden Boxern sind, die ein paar giani spuckt lieber in die Kamera, als kaner flugs, einen Nasenbeinbruch erlit- Mark verdienen wollen. Das ist die daß er lächelt. Sie wollten nur ran ans ten zu haben. Rocchigiani, trotz man- Präsentation des Boxens alsPartyvor- Geld, nicht hinein in die Karriere ei- gang für die Modewelt. nes sozialen Aufstiegs.

* Mit dem Mantel von Weltmeister Henry Maske.

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hat – ein Diner in Lon- don vorgezogen. Nicht einmal Henry Maske sucht immer den Zweikampf mit adäquaten Gegnern. Auch der Protagonist des sauberen Profibo- xens schiebt, wie Kom- mentator Schneyder weiß, „zwischen tat- sächliche Titelkämpfe zwei, drei, die nur fürs Geschäft gut sind“. Nach dem Barkley- Kampf kamen sogar

BONGARTS dem glühenden Mas- Weltmeister Michalczewski: „Ein echter Knaller“ ke-Verehrer Wondra- tschek ernste Zweifel: cher intellektueller Defizite stets ein ehr- „Langsam wird es Zeit, daß Henry die licher Fighter, wetterte vor laufenden Stärksten der Welt boxt“ (siehe Inter- Kameras und wütend johlenden Zu- view Seite 171). schauern gegen seinen Manager Klaus Doch richtige Kämpfe könnten das Peter Kohl: „Mitsolchen Kämpfen macht Geschäft gefährden. Also reden die Pro- der den Boxsport kaputt.“ moter lieber das billig eingekaufte Fall- Was auch vom Publikum inzwischen obst wider besseres Wissen zu harten als Betrug verstanden wird, definieren Fightern hoch. Klaus Peter Kohl, der die Veranstalter gern als Fürsorge. Jun- ansonsten in U-Bahn-Stationen Ham- ge, ausbaufähige Boxer, sagt Jean-Mar- burgs Unterwelt mit Fritten versorgt, cel Nartz aus dem Maske-Stall, könne lobte die von ihm für den Lübecker man nichtaufGegner vonFormat hetzen: „Das ist und gibt eine Sauerei.“ Doch die Dramaturgie, die zu Beginn „Zwei, drei Kämpfe, einer Profikarriere hilft, ist oft genug die nur fürs auch noch gefragt, wenn angeblich auf oberstem Niveau gekämpft wird. Mitun- Geschäft gut sind“ ter gelingt die Show so perfekt, daß nur Kleinigkeiten die Inszenierung verra- Kampfabend verpflichtete Umfallergar- ten. de vorab „als das Beste, was derzeit auf Als der Amerikaner Leeonzer Barber dem Markt zu kriegen ist“. seinen Halbschwergewichtstitel der Auch Michael Pfad, Sportchef bei World Boxing Organisation (WBO), Premiere (Eigenwerbung: „Deutsch- dem kleinsten und unbedeutendsten der lands Box-Sender Nummer eins“), er- vier Weltverbände, in Deutschland ge- klärt, überwiegend „sensationelle gen Dariusz Michalczewski verteidigen events“ zu übertragen. So hält er Nestor wollte, tat er das quasi im Alleingang. Giovannini, gegen den Michalczewski Sein Manager und Coach Emanuel im Dezember seinen Titel verteidigt, für Steward, bekannt als erfolgreicher Ein- einen „echten Knaller“. Bei The Ring, peitscher, hatte – wohl wissend, daß sein dem Magazin, das alles übers Boxen Schützling schon bessere Zeiten erlebt weiß, ist weder der deutsche WBO- Weltmeister noch sein Herausforderer be- kannt. Das euphemistische Gerede ist selbst Mas- ke nicht mehr fremd. Barkley, behauptete er, „war mein bisher schwerster Gegner“. Damit lieferte er sei- nem Manager das rich- tige Stichwort. Ange- sprochen auf die offen- sichtliche Sehbehinde- rung des Amerikaners, konterte Sauerland: „Wieso blind? Bark-

REUTER ley hat den Vertrag Sieger Rocchigiani, Verlierer Kemp ohne Brille unterzeich- „Solche Kämpfe machen den Boxsport kaputt“ net.“ Y

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SPORT J. MAIER / JB PICTURES Chinesische Fußballer, Trainer Pasca (M.): „Noch viel zu steif“

schen 14 und 17 Jahren aus allen Tei- Fußball len des Landes ausgewählt und nach Brasilien geschickt, um sie für den Auf- stieg zur Fußballweltmacht zu trainie- ren. Zwei weitere Teams wurden nach Klein und Italien und Rußland entsandt, um sich dort den europäischen Fußball abzu- gucken. wendig „Die besten und talentiertesten Jun- gen sind aber in Brasilien“, erklärt Jin China plant den Aufstieg in die Zhengmin, stellvertretender Direktor Weltklasse. Für den Olympia- des chinesischen Fußballverbands. Der europäische Fußball sei „zu kraftbetont sieg 2000 trainieren asiatische und schwerfällig“, die Südamerikaner Kicker in Brasilien. dagegen „sind klein und wendig – sie haben eher die Körperstatur und Men- talität der Chinesen“. as ist Fußball?“ fragt Eclo Pas- Ein Feldweg führt zu dem abgelege- ca, der einst die brasilianische nen Trainingslager auf einer ehemali- WJugendnationalmannschaft trai- gen Farm nahe dem Städtchen Juquiti- nierte. 22 junge Chinesen sehen ihn rat- ba, 60 Kilometer südwestlich von Sa˜o los an und kichern verlegen. Aber so Paulo. Goldene chinesische Schriftzei- schnell läßt Pasca, 44, sich nicht entmu- chen auf rotem Grund weisen den Weg, tigen. „Wo wurde der Fußball erfun- nur die „Warnung vor dem Hund“ ist in den?“ setzt er nach. Da kommt die Portugiesisch gehalten. Über der Ein- Antwort im Chor: „In China“. Pasca ist zufrieden. „Die Chinesen haben den Fußball erfunden, die Eng- „Die besten und länder haben ihn zum Volkssport ge- talentiertesten Jungen macht.“ Daß erst die Brasilianer das Spiel zur Kunstform erhoben haben, sind in Brasilien“ braucht er nicht extra zu erwähnen, das versteht sich im Land des viermaligen fahrt prangt ein chinesisches Transpa- Weltmeisters von selbst. rent mit dem Motto „Schneller, höher, Schließlich sind die jungen Chinesen stärker“. deshalb in diesem schäbigen Un- Die Mannschaftsunterkünfte sind ein- terrichtsraum versammelt: Pasca soll fach, lediglich eine riesige chinesische den ehrgeizigen Nachkommen der Fuß- Flagge schmückt den Speisesaal. Die ballerfinder aus dem Fernen Osten Fremden haben ihre eigenen Lehrer zum Aufstieg in die Weltklasse mitgebracht, ein chinesischer Koch verhelfen. Als Etappenziel peilt Chi- sorgt für vertraute Kost. Mit Brasilia- nas Fußballverband einen Sieg bei nern haben sie außerhalb des Trainings der Olympiade im Jahr 2000 in Austra- kaum Kontakt, die meisten Asiaten lien an. sprechen nur ein paar Brocken Portu- Nach mehr als 500 Testspielen hat giesisch. der chinesische Fußballverband vor ei- Nur selten fahren sie zu Ausflügen in nem Jahr 22 Nachwuchsspieler zwi- die Einkaufszentren von Sa˜o Paulo oder

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SPORT J. MAIER / JB PICTURES Trainingslager der Chinesen: Nur ein Heimatbesuch pro Jahr

speisen beim chinesischen Konsul. Ein- unsere Spieler das nie lernen. Die Deut- mal im Jahr dürfen sie ihre Familien in schen spielen so hart.“ der Heimat besuchen. Li Hui muß es wissen: Er kickte ein Täglich büffeln die Kicker mehrere Jahr lang für die „Spielvereinigung Bay- Stunden Chinesisch und Mathematik, reuth“. Wegen einer Knieverletzung ging nachmittags trainieren sie auf dem Fuß- er nach China zurück, arbeitete fortan als ballplatz oder lernen Fußballtheorie. Trainer und wurde schließlich ausge- Dolmetscher übersetzen die portugiesi- sucht, die Jugendauswahl in Brasilien zu schen Anweisungen, der Sprachunter- betreuen. richt beschränkt sich auf Fußballfachaus- Die Wahl der Trainingsländer Brasi- drücke. lien, Italien und Rußland zeigt auch, In Juquitiba gehören die Fußballexo- welch geringen Stellenwert die Arbeit des ten inzwischen zur Folklore. Brasiliani- ehemaligen Bundesligatrainers Klaus sche Jungen, die oft schon mit vier Jahren Schlappner in China wirklich besitzt. das Dribbeln lernen, bestaunen die unge- Während sich der Hesse in den deutschen lenken Fremden beim Training und amü- Medien gern als erfolgreicher National- sieren sich über deren Schlachtruf: Nach coachfeiernließ,der den Chinesen mitei- serner Hand taktische Disziplin beibrin- gen mußte, setzten die Funktionäre für „In Deutschland die Zukunft längst auf Spielvermögen könnten unsere Spieler und Ballzauber. Denn Schlappners Drill brachte nicht das nie lernen“ den gewünschten Erfolg. Der Deutsche hatte bei seinen Spielern mehr Wert auf jedem Spiel – die meisten der bisher über Tischmanieren („Wer schmatzt, rülpst, 60 Tests gegen brasilianische Teams ha- unter den Tisch spuckt oder beim Essen ben die Chinesen gewonnen – stellen sich einen Wind läßt, fliegt raus“) denn auf die Spieler im Kreis auf und singen: „Ole´- Fußballkunst gelegt. So wurde die Quali- ole´-ole´, China“. fikation für die WM inAmerika verspielt. „Die Chinesen sind zwar schnell, aber Und im Finale der Asienspiele unterlag noch viel zu steif“, klagt Pasca, der früher das chinesische Nationalteam vor weni- beim Traditionsklub Palmeiras spielte. gen Wochen gar Usbekistan. „Als sieankamen, kannten sievom brasi- Auch das enttäuschende Abschneiden lianischen Fußball nur den Namen der deutschen Nationalelf bei der WM in Pele´.“ den USA hat Li Hui in seiner Ansicht be- Um den typisch brasilianischen Hüft- stärkt, daß die Teutonen schlechte Leh- schwung zu trainieren, hat er einen Sam- rer für seine Fußballschüler wären: „Wir ba-Lehrer und einen Experten für Ca- haben alle 52Spiele gesehen und studiert, poeira angeheuert, eine brasilianische von den Brasilianern können wir am mei- Kampfsportart. Er will den asiatischen sten lernen.“ Kickern jene Fähigkeit beibringen, die Für Fußballmanager Jin Zhengmin zum Markenzeichen für die südameri- steht fest, daß seine jungen Kicker schon kanische Fußballkunst geworden ist: bald die internationale Fußball-Land- „Ginga“, die brasilianische Art, gegneri- schaft verändern werden. „Europäer und sche Spieler tänzelnd auszudribbeln. Südamerikaner spielen sicherlich gut“, „Brasilianer sind unglaublich wendig räumt er lächelnd ein. „Aber welches am Ball“, schwärmt der chinesischeHilfs- Land bringt schon eine Milliarde Fans zur trainer Li Hui. „In Deutschland könnten Unterstützung auf die Beine?“ Y

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KULTUR SZENE

Theater rierendes: „An ausgewählten Gemarken stehen Köpfe auf Shylock in der Erde, die inwendig hoh- Venice/California ler werden vom Behalten.“ Endlich hat der amerikani- Film sche Regiestar Peter Sellars, der sich bei den Salzburger Eliot-Ehe Festspielen mit Opernpro- duktionen hervortut, wieder im Visier einmal ein großes Schauspiel Die Ehe, die der junge ame- inszeniert: „The Merchant of rikanische Dichter und Ox- Venice“ hatte im Oktober ford-Student T. S. Eliot 1915 in Chicago Premiere und recht überstürzt mit der blau- kommt nun auf Europatour- blütigen Vivienne Haigh-

nee zwischen London und Pa- L. LAUREN Wood einging, erwies sich als ris für sieben Vorstellungen Shakespeare-Inszenierung von Sellars Malheur: Der US-Puritaner (vom 24. November an) ins fühlte sich zu aristokratischer Hamburger Thalia Theater. nitoren zwischen Spielszenen sche Bank so schön, daß sie Lebensart hingezogen, wäh- Sellars, radikal wie eh und je, und Cartoons Aufnahmen neun Grafiker aufforderte, rend seine Frau den Aus- hat das Shakespeare-Stück, der letzten großen Rassenun- sich von Heidegger „inspirie- bruch aus der steifen Adels- ungekürzt und unbarmherzig, ruhen in Los Angeles. ren“ zu lassen. Das Ergebnis, an seinem Wohnort Venice/ verpackt in eine „Naturholz- California lokalisiert, um Heidegger kassette“ und gepriesen als diese „scharfsichtigste und „attraktive Kapitalanlage“, schockierendste Analyse der Inwendig kann nun bei der Bank geor- ökonomischen Wurzeln des dert werden (Subskriptions- Rassismus“ (Sellars) auf ihre hohler preis bis 25. November: 5900 Aktualität zu testen: Die Ju- „Im Retten der Erde, im Mark). Mildtätiger Zweck den sind in seiner Version Empfangen des Himmels, im der Kassette: Der „Reiner- Schwarze, Portia samt Gefol- Erwarten der Göttlichen, im lös“ geht ans Deutsche Ar- ge stellen Asiaten dar, und die Geleiten der Sterblichen er- chitektur-Museum in Frank- venezianischen Geschäftema- eignet sich das Wohnen als furt. Es heideggert also wie- cher sind Latinos. Damit die das vierfältige Schonen des der im Geviert, bei Bank und

Komödie, die in Chicago Em- Gevierts“: Kapiert? Der Au- Buch. „Wohnen Dämmern CONCORDE pörung wie Jubel auslöste, ihr tor heißt Heidegger, der Auf- Lügen“ hieß Botho Strauß Filmszene aus „Tom und Viv“ Provokationsziel nicht ver- satz „Bauen Wohnen Den- beispielsweise sein Jüngstes, fehlt, zeigen neun Videomo- ken“, und den fand die Deut- und darin quillt auch Inspi- welt suchte. Überdies traten bei Vivienne zunehmend pa- ranoide Störungen auf, die Kunst dem gesellschaftlichen Auf- stieg des Dichters schadeten, weshalb er sie schließlich in ei- Bonbonfarbene ne Nervenklinik abschob und nie wieder von sich hören ließ. Paradiese Das bekannt gründliche briti- Knapper ist die Endlichkeit der Künstler- sche Interesse für die Intimitä- existenz kaum zu formulieren: „Salvo lebt“, ten der Prominenz hat vor ließ der Italiener, der eigentlich Salvatore zehn Jahren aus der Eliot-Ehe Mangione heißt, 1970 in eine Marmortafel ein erfolgreiches Theater- gravieren. Eines Tages wird die an die stück gemacht, und dessen Wand gelehnte Platte umzudrehen sein; Verfilmung kommt nun unter denn auf der Rückseite lauert die Inschrift: dem Titel „Tom und Viv“ „Salvo ist tot“. Noch lebt er, aber längst hat auch in deutsche Kinos. Salvo der Kunst der kargen Konzepte den Rücken gekehrt und sich statt dessen ein Zitat postmodernes Reich der Sinne gemalt – ei- ne Art Bildschirm-Wirklichkeit in leuchten- Handkes Seitenhiebe den Bonbonfarben und mit unendlich kom- schmerzen mich überhaupt binierbaren Versatzstücken. Die Galerie nicht, aber . . . es der Stadt Stuttgart entführt nun ihr Publi- ärgert mich doch, daß in kum mit einer großen Ausstellung (25. No- seinem Buch gerade vember bis 5. Februar) in diese syntheti- GALERIE KAESS-WEISS die gegen mich gerichteten schen Paradiese voller Palmenstrände, Mo- Salvo-Gemälde „Ottomania“ Passagen besonders scheen und Minarette. Der Katalog preist schlecht geschrieben sind. die „Annehmlichkeit unmittelbarer Augen- Platz hat Salvo auf seine Art verherrlicht: lust“ als eine rare „Dreingabe zum sozialen Er malte das Galeriegebäude wie eine Marcel Reich-Ranicki in einem Interview mit der Münchner Abendzeitung zu Hand- Glück“. Sogar den schwäbischen Schau- Gralsburg im Abendrot. kes neuem Buch „Mein Jahr in der Nie- mandsbucht“

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Werbeseite KULTUR

Architektur PLANKTON DER VORSTÄDTE SPIEGEL-Redakteur Michael Mönninger über den holländischen Architekten Rem Koolhaas

Schnellbahnhof mit Brückenhäusern in Lille: Aus dem All gestürzte Raumstation E. LUIDER / RAPHO / FOCUS

uf Europas größter Baustelle wur- einandergekettet wie Gefangene, die „Wir erleben den Übergang vom Ur- den gerade die Fundamente gegos- sich nur gemeinsam befreien können.“ banismus des Raumes zu einem der Zeit Asen, da bekam es der Architekt mit Das Ergebnis dieser urbanistischen und der Geschwindigkeit“, sagt Chefar- der Angst zu tun: „Warum haben Sie zu Strafexpedition ist nach nur sechs Jah- chitekt Koolhaas. Die Tempo-Maßstäbe unseren größenwahnsinnigen Vorschlä- ren Planungs- und Bauzeit jetzt in der des Luftverkehrs gelten jetzt auch auf gen niemals nein gesagt?“ fragte der nordfranzösischen Zitadellenstadt Lille dem Erdboden. Anstelle des bisherigen Niederländer Rem Koolhaas, 50, seinen – de Gaulles Geburtsort – zu besichti- Einzugsbereiches von 1,5 Millionen Auftraggeber. Der Bauherr Jean-Paul gen. Auf 70 Hektar hat sich ein kom- Menschen im ausgebluteten nordfranzö- Baietto, Chef des französischen Bau- plettes Bahnhofs-, Büro-, Hotel-, Ein- sischen Textil- und Kohlerevier wird konzerns Euralille, überraschte den ner- kaufs-, Kongreß- und Wohnzentrum mit Lille künftig im Umkreis von zwei vösen Planer mit einem dicken Lob: 300 000 Quadratmeter Nutzfläche in Schnellbahn-Fahrtstunden für 70 Millio- „Wer am Ende des 20. Jahrhunderts den Erdboden gebohrt. nen Menschen erreichbar sein. Mit täg- noch etwas Nennenswertes bauen will, Seitdem vergangene Woche der Ei- lich 100 Expreßzügen steigt Lille dann der muß möglichst viele Interessenten senbahntunnel unter dem Ärmelkanal nach Paris und Lyon zum drittgröß- durch eine extrem höllische Dynamik für Passagierzüge freigegeben wurde, ten Verkehrs- und Geschäftszentrum zusammenschweißen.“ liegt Lille im Schnittpunkt des europäi- Frankreichs auf. Was der Konzernchef meinte: Der schen Schnellbahnnetzes. Dadurch Was Katastrophenphilosophen und Holländer hatte alle Beteiligten – ein rückt die flämische Stadt auf Vorortnä- Simulationsideologen über die „Virtua- Dutzend Investoren und ihre Architek- he an die westeuropäischen Metropolen lisierung“ der Realität munkeln, ist hier ten, dazu Staat, Stadt, Politiker und heran. Die Reisedauer von Lille nach eingetreten: Durch die bloße Erreich- Bürger – durch die Komplexität des London schrumpft von sieben auf zwei barkeit ist Lille zur Phantom-Stadt ge- Großprojektes in einen Teufelskreis von Stunden, nach Paris von zweieinhalb auf worden, eine Metropole im Konjunktiv, Abhängigkeiten gebracht. „Herr Kool- eine Stunde und nach Brüssel von einer die für Masseninvasionen gerüstet sein haas“, fügt er hinzu, „Sie haben uns an- Stunde auf 30 Minuten. muß. „Wenn ein amerikanischer Rock-

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star in Europa ein Konzert gibt oder ein japanischer Autokonzern einen Neuwa- gen vorstellt“, meint Koolhaas, „dann können sie es statt in London, Brüssel oder Paris auf halbem Wege in Lille tun.“ Ausgerechnet Koolhaas, der Bau-In- tellektuelle aus Rotterdam, berüchtigt für seinen gnadenlosen Modernismus, wurde mit dem 1,5 Milliarden Mark teu- ren Projekt beauftragt. Das erscheint so sagenhaft, als hätte Metro-Goldwyn- Mayer den Avantgarde-Filmer Jean-Luc Godard zum Direktor berufen. „Als wir 1989 den städtebaulichen Wettbewerb für dieses Mega-Projekt ge-

wonnen hatten, waren wir völlig über- FOTOS: J. SCHWARZ rascht und schockiert“, erinnert sich Architekt Koolhaas: „Laßt uns super-überrascht und hyper-schockiert sein“ Koolhaas. „Uns blieb nichts anderes übrig als zu sagen: O. K., laßt uns super- überrascht und hyper-schockiert sein und die Komplexität der Bauaufgabe so weit steigern, bis das Projekt entweder abgeblasen wird oder man uns feuert.“ Den Gefallen wollte ihm der Bürger- meister von Lille aber nicht tun. Pierre Mauroy, 66, ehemals französischer Pre- mierminister, setzte durch, daß der neue Kreuzungsbahnhof nicht, wie geplant, außerhalb der Stadt, sondern direkt am Zentrum gebaut wurde. Und er wählte Koolhaas für die Aufgabe, erstmals in direkter Citylage eine typische Periphe- rie-Nutzung zu planen, die anders ausse- hen sollte als jene desaströsen Krebsge- schwüre aus Verkehrsknoten, Gewerbe- parks und Hypermarkets, wie sie die Stadtränder weltweit verunstalten. Koolhaas holte den Tunnelbahnhof auf ganzer Länge ans Tageslicht, damit die Franzosen ihr Prestigeobjekt Train a` grande vitesse feiern können. Zudem bündelte er die gesamte Verkehrsinfra- struktur auf engstem Raum. So ist unter dem Bahnhof das größte Parkhaus der Nouvel-Bau Shopping-Center in Lille: „Alchimie der Mischnutzung“ Welt mit 6000 Plätzen entstanden, dazu der zentrale U-Bahn-Knoten von Lille, Welt“ in Paris – mit dem Bau einer me- und asketischer gemacht. Die Ehrung darüber die Stadtautobahn und hoch tallisch glänzenden Shopping-Mall mit durch eine Ausstellung im New Yorker über dem Bahndamm Turmhäuser auf 130 Läden, 45 000 Quadratmeter Büro- Museum of Modern Art nimmt er fast Stelzen. flächen und 570 Wohnungen. beiläufig zur Kenntnis*. Zwar laufen die Menschen in diesem Den Clou an Mischung und Verdich- New York feiert acht seiner neueren Labyrinth wie Flöhe auf dem Fell eines tung entwarf der Holländer selbst: das Projekte und Bauten – außer Lille auch riesigen Hundes herum. Aber immerhin Veranstaltungszentrum Grand Palais, die kürzlich eingeweihte Kunsthalle in hat der Bau nichts mehr mit herkömmli- ein elegantes Großoval mit 60 000 Qua- Rotterdam, Villen in Frankreich, aber chen Kellerbahnhöfen und Metrokno- dratmetern, in dem er eine Arena für auch gescheiterte Entwürfe wie die neue ten gemein, wo die Fahrgäste wie Rat- Rockkonzerte, ein Kongreßzentrum Pariser Nationalbibliothek und ein Me- ten in der Kanalisation verschwinden. und eine Messehalle unterbrachte. dienzentrum in Karlsruhe. Die Anlage mit ihren Türmen, Brücken Während herkömmliche Mehrzweckge- Koolhaas hat mit dem Bahnhofsvier- und Schluchten sieht aus wie eine abge- bäude die Ästhetik und Gebrauchsqua- tel von Lille seine Unschuld als „intel- stürzte Weltraumstation – ein Alptraum lität einer Kombizange haben und im- lektuelles Genie der Gegenwartsarchi- wie aus den Phantasien des holländi- mer nur notdürftig funktionieren, zer- tektur“ (Philip Johnson) verloren. Bis- schen Graphikers M. C. Escher und des schnitt Koolhaas sein schwungvolles lang war jeder Baustar – gleichgültig, ob römischen Bauvisionärs Piranesi. Riesenstadion in drei selbständige Teile. als Radikal- oder Postmoderner – zu Der größte gedankliche Quanten- Aber weil sie durch gemeinsame Foyers prinzipiellem Widerstand gegen die Lo- sprung von Lille: Erstmals wurde ein und Schiebewände verbunden sind, er- gik der Immobilienkonzerne und deren Bahnhof wie ein Flughafen mit allen da- geben sie ein Stück gebaute Synergie. Stadtzerstörung durch Riesenprojekte zugehörigen Serviceeinrichtungen ge- Der planerische Gewaltakt in Lille plant. Koolhaas beauftragte den Fran- hat den großgewachsenen, hageren und * Die Ausstellung läuft bis zum 31. Januar 1995. Dazu erscheint ein Werkkatalog: Rem Koolhaas, zosen Jean Nouvel – bekannt geworden asketischen Langstreckenläufer und Bruce Mau: „S, M, L, XL“. Monacelli Press, New durch sein „Institut der arabischen Maserati-Fahrer Koolhaas noch hagerer York; 1376 Seiten; 50 Dollar.

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verpflichtet. Berühmtheit erlangte man ment“ kam anders als gedacht: 1992 in den achtziger Jahren mit preziösem stürzte ein israelischer Jumbo auf die So- Kunsthandwerk und steilen Theorien. zialbauwüste und besiegelte die Abriß- Das galt besonders für den Obertheo- pläne. „Die andere Seite hatte gesiegt“, retiker und Hochschullehrer Koolhaas. bedauert der Architekt. Er war das Idol einer Generation von Berühmt wurde Koolhaas 1978 durch progressiven Künstlerarchitekten, die seinen wissenschaftlich-poetischen Ar- die Honigkuchen-Architektur der Post- chitekturroman „Delirious New York“*. moderne mit modernem Zeitgeist und Darin spürte er den amerkanischen exakter Phantasie bekämpfte. Hochhaus-Pionieren und Metropolen- Doch der Meisterdenker, meinen jetzt Phantasten zu Beginn dieses Jahrhun- viele, hat sich mit der Bauorgie von Lille derts nach, die keine funktionale Stadt, die Finger schmutzig gemacht. Koolhaas sondern ein steinernes Naturschauspiel revanchiert sich für diese Kritik seiner geschaffen hatten. Koolhaas untersuchte Standeskollegen mit purem Mitleid: die ungeheure Verdichtung, Überlage- „Architekten sind in einer ähnlichen La- rung und Mischung der Lebensformen in ge wie Geiseln bei einer Entführung, die unter einem Pistolenlauf an der Schläfe zu Hause anrufen und sagen müssen, daß „Unsere Metropolen alles in Ordnung ist.“ Für Koolhaas ist entwickeln sich nichts in Ordnung, und deshalb lacht er auch so selten. wie Großflughäfen“ Der 1944 in Rotterdam geborene und in der ehemaligen holländischen Kolonie dieser „einzigartigen Fabrikationsstätte Indonesien aufgewachsene Kosmopolit menschlicher Begierden“. begann seine Laufbahn als Journalist Seitdem er immer mehr Aufträge be- und Drehbuchautor – unter anderem für kommt, möchte der Besserwisser zum den amerikanischen Sex-Maniak Russ Bessermacher werden. Die hochabstrak- Meyer und seine „Vixen“-Serie. ten Gedankenflüge seiner Schüler und Als er während der Mai-Unruhen 1968 Adepten mit ihren „dekonstruktivisti- Korrespondent für holländische Zeitun- schen“ Zertrümmerungs-Architekturen gen in Paris war, entschloß er sich, nicht lehnt er als „dekorative Verherrlichung mehr nur zuzuschauen, sondern als Ar- des Unvermeidlichen“ ab. chitekt die Gesellschaft mit aufzumi- Anstelle der Chaostheorie der Natur- schen. Er ging an die Londoner Archi- wissenschaften studiert der Holländer tectural Association, die berüchtigte lieber das wild wuchernde „Plankton der Brutstätte der Bauavantgarde. Vorstädte“ oder die „künstliche Geolo- „Architekturstudenten wollten da- gie“ von Bürovierteln. Mit Vorliebe stellt mals nur Fertigteil-Krankenhäuser für er Modephilosophen vom Kopf auf die den Vietcong bauen“, erinnert er sich. Füße: „Derrida sagt, daß die Dinge nicht Sein erstes Studienprojekt ließ ahnen, mehr ganz sein können, Baudrillard sagt, daß da ein außergewöhnlich gefährlicher daß die Dinge nicht mehr echt sein kön- Architekturdenker heranwuchs. nen, und Virilio meint, daß sienicht mehr Es hieß „Die Berliner Mauer als Ar- dasein können.“ chitektur“ und interpretierte die Grenze Aber für solche Erkenntnisse liest mit ihren Panzersperren und geharkten Koolhaas keine Bücher, sondern durch- Sandstreifen als gespenstischen „Medi- streift die ausufernden Stadtränder. Dort tationsgarten mit Zen-Skulpturen“, als entdeckt er immer mehr kommerzielle eine „Architektur der Verzweiflung“, Spiegelglastürme, die wie Hubschrauber die allein durch ihre Leere und Unüber- abgesetzt werden und so simuliert, frag- windlichkeit ungeheure Sehnsüchte mo- mentiert, unecht und abwesend ausse- bilisierte – eine zynische These, aber hen, als seien sie von den Philosophen auch eine Vorahnung des deutschen entworfen worden. Vereinigungsfrustes nach dem Mauer- 1980 eröffnete er sein Office for Metro- fall. politan Architecture in einem häßlichen Ähnlichen Hardcore-Realismus zeigte Hochhaus am Hafen von Rotterdam. Die Koolhaas später, als er zum Abriß vorge- weitläufige, schmucklose Großraumeta- sehene Schandflecke wie ein Gefängnis ge könnte genausogut ein Industriebau in Arnheim oder die heruntergekomme- im polnischen Nowa Huta sein. Deutli- ne Trabantenstadt Bijlmermeer bei Am- cher vermag der Holländer seine Verach- sterdam – Koolhaas nannte die Siedlung tung für Architekturdesign nicht auszu- „das Las Vegas des Wohlfahrtsstaates“ – drücken. Sein Credo lautet: „Die Archi- mit einem „Bombardement an neuen tektur ist nichts, das Programm ist alles.“ Nutzungen“ retten wollte. Seine neusachliche Architektur ist von Er sah den Makel dieser Schlafsilos Mondrian, Mies van der Rohe und den nicht allein in der trostlosen Architektur, sondern in der monotonen Nutzung. * Das seit langem vergriffene Buch erscheint Deshalb plante er zwischen den Beton- jetzt in einer Neuauflage bei Monacelli Press, New York; 320 Seiten; 35 Dollar. Eine deutsche scheiben neue Theater-, Sport- und Ein- Ausgabe erscheint 1995 im Arch + Verlag, Aa- kaufsstätten. Doch das „Bombarde- chen; 330 Seiten; 68 Mark.

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liendeveloper und Bodenspekulanten nach dem Zweiten Weltkrieg, meint Koolhaas, haben diese Entmischung ins Extrem getrieben – hier ein Büroviertel La De´fense, dort eine Schlafstadt Biljmermeer, dazwischen abgeschottete Shopping-Citys, Verkehrsknoten und Vergnügungsparks. Gegen diese ökonomisch und politisch motivierte „Taylorisierung“ der Städte in einzelne Aufgabenbereiche weiß der Holländer nur ein Gegengift: die Monta- getechnik der Frühmoderne, dieCollage, der Mut zum Schnitt, die schockartige Kollision. Er schwärmt von „hybriden Gebäuden“,von „Kontamination“ durch Überlagerungen und von der „Alchimie“ der Mischnutzungen. Gegen den Ver- fall des öffentlichen Raumes möchte er „neue Gemeinschaftseinrichtungen“ schaffen.

FOTOS: H. WERLEMANN So versteht er die Bauexplosion von Koolhaas-Bibliothek für die Uni von Paris (Modell): „Gebauter Supraleiter“ Lille nicht als Gewaltschlag gegen eine wehrlose Altstadt, sondern als realisti- russischen Konstruktivisten geprägt – wirklicht: die Verbindung der grenzenlo- sche Antwort auf den Massenverkehr: kräftige Primärfarben, aber radikale For- sen Raumkontinua der Moderne mit der „Wäre das Bahnhofsviertel an der Peri- menabstraktion und Askese in der Mate- Dramatik barocker Labyrinthe. pherie entstanden, hätte es dem Zentrum rialwahl. Doch vor allem will er jedes Ge- Was Koolhaas zum interessante- vollends das Publikum entzogen.“ bäude durch riskante funktionelle Über- sten Architekturdenker der Gegenwart Seitdem er Metropolen wie Hongkong komplexität zu einem „gebauten Supra- macht, ist seine Hingabe an die realen oder Singapur studiert hat, glaubt Kool- leiter“ machen. Schrecken des heutigen Städtebaus. haas nicht mehr an die Wiedergewinnung Seine heißkalten Träume vom „um- „Riesige Gebiete der Erde werden heute von Tradition, Hierarchie und Zentrali- bauten Nichts“, von „Ereignisorten“ und längst ohne jede Architektenhilfe be- tät. „Städte entwickeln sich wie interna- „psychologischen Räumen“ könnten baut“, sagt er. Damit meint er nicht die tionale Flughäfen und erleiden dabei ei- bald an einem historischen Ort verwirk- Dritte Welt, sondern beispielsweise Pa- nen derartigen Identitätsverlust, daß licht werden. An der Pariser Sorbonne, ris. Dort leben nur noch zwei Millionen man sich fragen muß, ob diese totale Ho- wo die Mai-Unruhen 1968 ausbrachen Menschen im Glanz der historischen Mit- mogenisierung der Welt nicht doch eine und Koolhaas den Plan faßte, Architekt te, während neun Millionen in den amor- Bedeutung hat, die wir bloß noch nicht zu werden, soll er eine Bibliothek bauen, phen Siedlungsbrei der Banlieue ver- begriffen haben.“ die auf die dunklen, horizontalen und bannt sind, um den sich die vornehmen Verzweiflung angesichts der Inva- steifen Institutsgebäude mit vertikaler Baumeister nie gekümmert haben. sion neuer Produktions-, Verkehrs- und Transparenz antwortet. Diese Landschaftsverschandelung Kommunikationstechniken, die die Sta- Der Bücherturm soll keine Schichttor- führt er nicht allein auf den Zerfall der bilität der Geographie und der Architek- te mit isolierten Etagen werden. Der Ar- Bauformen zurück, sondern auf die völli- tur untergraben, leistet sich Koolhaas chitekt plant eine mäandrierende, 1,5 Ki- ge Fragmentierung und Isolierung der nicht. „Architekten haben auf diese Mo- lometer lange Promenade durch alle Lebensbereiche. Diese Stadtauflösung dernisierungsdynamik kaum noch Ein- Stockwerke, die sich abwechselnd zu hatte einst die Architekturmoderne er- fluß“, resümiert er. „Unsere Arbeit istle- mehrgeschossigen Hallen öffnet und funden, um gegen den Wildwuchs der hi- diglich am sichtbarsten.“ Um auch wei- wieder zu intimen Studienbereichen storischen Zentren das Ideal einer hy- terhin eine gute Figur zu machen, hat er schließt. Anders als in Lille hätte Kool- gienisch und moralisch gesäuberten eine Überlebenstaktik entwickelt: „Man haas sein Raumideal damit auch ohne Zuchthaus-Ordnung zu setzen. Erst die muß auf die Kräfte der Stadt reagieren Autoabgase und Eisenbahnlärm ver- Wohnungsbaugesellschaften, Immobi- wie ein Surfer auf die Wellen.“ Y OMA Koolhaas-Werke Fährterminal in Zeebrugge (Modell), Wohnanlage in Fukuoka/Japan: „Wie ein Surfer reagieren“

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chen. Es klappt nicht.“ George Tabori hen, griffig in Aktion umzusetzen. „Und Oper verzweifelt mit Contenance. was für Worte sind das!“ Daß der Chor nicht begreift, was er, „Haß, Wut, Abscheu“ müßten sie zei- der Regisseur, will, läßt den Probendril- gen, nein, aus sich rauspressen, hat er ler nur noch tiefer in den langen Woll- den fast 150 Sängerinnen und Sängern Prügel schal sacken, den er mit feschem aus Leipzig und Weimar wochenlang Schwung um den Hals geschlagen hat. eingepaukt. Und es will ihm nicht in den In solchen Momenten sieht der Greis, Kopf, daß Chöre nicht Mob und Meute für Moses angeblich ein Evergreen an Biß, frivoler werden, wenn im Textbuch steht: „Wo Bravour und lästerlicher Magie, so alt ist der Allmächtige? Zerreißt ihn!“ Theatermann George Tabori insze- aus, wie er ist: 80. „Das spüre ich auch.“ Was er denn für ein Konzept bei sei- niert in Leipzig die Schönberg-Oper „Halb taub und halb blind“ sei er ner Inszenierung habe, wollten sie von nach einem Schlaganfall Anfang dieses ihm wissen. Und als er, mit Samuel „Moses und Aron“ – als Lehrstück Jahres, und Probleme mit den Beinen Beckett, antwortete: „Scheitern, schei- für Judenhaß. hat der Kettenraucher auch. Mehrmals tern, immer scheitern, besser schei- am Tag fingert er nach seiner Pillendo- tern!“ da waren sie erst recht ratlos. se, in der die Tabletten, genau über den Das alte Spiel: „Ohne große Schwie- ein, jetzt nicht. Zwar darf er, als Tag dosiert, in Fächern liegen – „alles rigkeiten geht es, für mich, nie in einer einziger mit Genehmigung der homöopathisch, alles Sachen, die nichts Produktion.“ Dann, im Crescendo sol- NFeuerwehr, in diesem Saal rau- bringen“, lästert der Spötter in brüchi- cher Schwierigkeiten, ist er auf die Büh- chen. Aber er schiebt den mit Wasser gem Sarastro-Baß und schluckt. ne geschlurft, hat ein paar von ihnen am gefüllten Aschenbecher, sonst stets sein Ach was, „lebende Legende“, „nim- Arm gepackt, hat sie herumgeführt und Accessoire, beiseite. Manchmal ist sein mermüder Draufgänger“, gar „Guru der geschubst und aufeinander gehetzt; er anderes Laster noch stärker – die Büh- Bühne“ – „alles Blödsinn“, alle diese hat Atemübungen und Bewegungsdyna- ne: „Ich muß jetzt aufpassen.“ Klischees tut er ab „in die Schublade des mik mit ihnen betrieben und vorge- Scheinbar entspannt, doch ganz auf Feuilletons, wo sie auch herkommen“. macht, wie sie mit ihren Stühlen aufein- dem Quivive, legt er die Hände in den Er ist einfach als Facharbeiter im Metier ander losgehen müßten: „eine kochende Schoß. Manchmal streicht er über seine ergraut. Erschöpft ist er noch lange Volksseele“. Nur, es kocht ihm nicht ge- girlandenhaft gezwirbelten Augenbrau- nicht. nug, nicht genug über. en, oder er spielt mit dem grauen Bart. „Aus reinem Masochismus“, wie er Seit Mitte September heizt er den Da- Keine Miene verrät, ob ihm das paßt, kokettiert, hat er sich jetzt, in Leipzig, men und Herren nun schon ein; den mu- was er da oben sieht. noch einmal Oper aufgehalst, um die sikalischen Part studieren die Chöre seit Es paßt ihm nicht: „Die stehen da sich der hochtourige Macher meist ge- eineinhalb Jahren, er sitzt. Es gibt kaum bloß rum und singen. Mein Gott, die drückt hat: „Oper ist schwer, weil man eine schwierigere Choroper als Schön- sind doch in Rage, die drehen durch! Ich nie etwas versteht.“ Hätte er „dieses bergs „Moses und Aron“. fürchte, sie verstehen gar nicht, was sie Stück ohne Musik inszenieren“ können, Die Partitur fordert fast alle Formen singen. Das ist die Crux. Wie oft habe „wäre die Sache längst gegessen“. von Verlautbarung, die Menschen über ich schon versucht, es ihnen klarzuma- Nun plagt er sich damit, die Worte die Lippen kommen: flüstern, sprechen, * Links: Matteo de Monti (Moses); rechts: Hans des Librettos, die in höchsten Tönen singen, kreischen; das alles in trunkener Aschenbach (Aron), Chor. oder in satten Orchesterwogen unterge- Spätromantik, auf chromatischen Reib- FOTOS: A. BIRKIGT Tabori-Inszenierung „Moses und Aron“ in Leipzig*: „Oper ist schwer, weil man nie etwas versteht“

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immer noch kein Schönberg. Jetzt schlägt der Mann im Mantel sein Buch zu und ge- sellt sich langsam unter die Sangesbrüder. Plötzlich: Rem- peleien, Handgemenge. Ein paar Chorherren haben den komischen Typen eingekreist und prügeln auf ihn los. Der Fremde stürzt zu Boden und bleibt regungslos auf dem Rücken liegen. Der Chor ist das auserwählte Volk, sein Opfer ist Moses: Die Juden al- so haben den Gottsucher fer- tiggemacht. Mit einem Schlag verstummt das Orchester; der Chor erstarrt. „Ganz lange“, sagt Tabori, „wird sich nun nichts bewegen, und kein Ton Schönberg-Regisseur Tabori wird zu hören sein.“ „Haß, Wut, Abscheu“ Dann endlich, nach den stil- len Schrecksekunden, setzen, flächen oder über greller Atonalität. „sehr langsam“ und in dreifachem Piano, Am kommenden Samstag hat das ge- die sechs Sing- und die betörend schönen fürchtete Werk in Leipzig Premiere; Instrumentalstimmen mit Schönbergs O- Weimar folgt später. Ton ein. Nun erst, in Takt 8, wird der zu- „Diese Oper“, sagt Tabori, „enthält sammengedroschene Moses mit blutver- wunderbare Musik, und damit werden schmiertem Gesicht aufstehen und Gott die glänzend fertig. Aber die Botschaft, anrufen. Und erst imzweiten Akt werden die Vision, die Idee des Werkes?“ die Chormassen herausschreien, was Ta- „Moses und Aron“ ist halb Bibel-Sto- bori sie vorher hat spielen lassen: „Wo ist ry, halb Schönbergs Erfindung; mehr Moses? Daß wir ihn zerreißen!“ gestandenes Oratorium als Oper mit Vergangenheitsbewältigung mittels Firlefanz; „und ich glaube“, bekennt der Heiliger Schrift? Inszenierung als ein Regisseur, „es ist ein sehr jüdisches Lehrstück, das der Weltbürger Tabori, Stück“: Da spricht Gott aus dem Dorn- umjubelter Spezialist für toxische busch, es geschehen Zeichen und Wun- Schocks, gerade den Deutschen zumu- der, die Juden träumen vom Land, wo tet? Milch und Honig fließen. Aber sicher: „Natürlich richtet sich Aber das Alte Testament und Schön- meine Lesart an das deutsche Publikum. bergs neue Musik reichen dem virtuosen Ich würde diese Oper in New York oder London anders machen.“ Tabori,undnicht nur er, hat furchtbare Gerade den Gründe, die Schönberg-Oper gerade im Deutschen toxische Land der „Endlösung“ zum Dokument des Judenhasses hochzuspielen. Nir- Schocks zumuten gendwo ist der rauschhafte Wahn der bi- blischen Israeliten gnadenloser schreien- Widerspruchsgeist nicht, da muß er des Unrecht geworden. Und doch ist die- deutlicher werden. Und so hat Tabori se Inszenierung weder Racheakt noch dem Spiel ein Vorspiel angedichtet, in Richterspruch des Regisseurs. dem nur stumm agiert und Taboris lako- 20 Familienmitglieder, darunter sei- nische These demonstriert wird: „Diese nen Vater, hat Tabori in Konzentrations- Oper ist ein Stück über Antisemitis- lagern verloren. Bedichtet hat er die mus“, nunmehr mit Präludium. Mordstätten schon 1968, als er in seinen Wenn am Samstag die Premierengä- „Kannibalen“ zwei Auschwitz-Häftlinge ste in den Zuschauerraum drängen, sitzt einen dritten verspeisen ließ. Besucht hat auf der leeren Bühne ein hagerer Typ in er den Greuelort erst jüngst, kurz vor sei- verknautschtem Mantel. Seelenruhig nem 80. Geburtstag. Da hat er „mit mei- blättert er in einem großen Buch. Er nes Vaters Geist gesprochen“. Nun sei er könnte ein Sozialhilfeempfänger sein „versöhnt“ und Auschwitz für ihn „zual- auf dem Flur einer deutschen Behörde. lererst ein Museum“. Unten, im Orchestergraben, schlen- Er will nicht, auch nicht mittels Bibel dern derweil die Musiker herein, neh- und Schönberg, zu Gericht sitzen: „Was men Platz und stimmen sich ein. Nach gibtmir das Recht,überandereUrteilezu und nach kommt auch die Schar der fällen? In jedem von uns wohnt ein Tä- Choristen auf die Bühne, alle in schwar- ter.“ Es seigeradezu „ein wunder Punkt“ zem Konzertdreß, jeder mit einem in seiner Vita, „daß es mir als Jude zu gut schwarzen Stuhl. Immer noch Tabori, ging im Leben“,und „mitdem Gewissen“

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sei das „so eine Sache“. Und weil ihm Dann aber, und das eben ist das Wun- solche Kern- und Glaubenssätze wohl derbare an Hollywood, verwandelt sich schon wieder zu theatralisch klingen, dieser trübe Generation-X-Tölpel Ipkiss steht dieser grausam obszöne Ehren- sekundenschnell „from zero to hero“ in mann um so unerschrockener zu seinem einen messianischen Gangster-Besieger, abgründigsten Kalauer: „Der kürzeste der das Dynamit pfundweise frißt und deutsche Witz ist Auschwitz.“ Y dann rülpst wie ein Flammenwerfer: Dies ist kein Film mit dem üblen Beige- schmack der Behauptung, aus dem Film wirklichen Leben gegriffen zu sein; er jongliert ausschließlich mit Klischees; er ist Kino-Comic und „pulp fiction“ in Reinkultur. Null als Held Der Kerl, der das spielt, der Kanadier Jim Carrey, 32, gilt als Blitz-Star des „Die Maske“. Spielfilm von Jahres und wird seine Gage von diesem Charles Russell. USA 1994. zu seinem nächsten Film in etwa ver- zwanzigfachen. Er ist der pferdegesich- tigste Grimassenschneider und Hampel- as Wunderbare an Hollywood ist, mann seit Jerry Lewis, doch sein wie- so der Philosoph Peter Sloterdijk, herndes Grinsen ist so unverschämt un- Ddaß „dieUSA ihreHegemonie über widerstehlich, und er legt einen so apo- die Medienkultur der westlichen Welt kalyptisch rasanten Tango oder Rumba nicht nur de facto ausüben, sondern sich aufs Parkett, daß ihn Millionen von diese von Zeit zu Zeit mit unerwarteten Teenagern dafür abküssen möchten. Meisterwerken neu verdienen“. Carrey schafft die erstaunlichste schau- Jetzt eben geschieht dies in einer Sai- spielerische Annäherung an die Exzen- son der Prototypen: Dem „natural born trik einer Zeichentrickfilmfigur, etwa idiot“ Forrest Gump trat der „natural von Tex Avery, und wenn es die born killer“ Mickey Knox gegenüber, Schwerkraft zu überwinden gilt, helfen und hinzu kommt nun als drittes Lebens- ihm die Computer-Animations-Virtuo- Rollenmodell für die reifere Jugend der sen der legendären Firma ILM auf die „natural born loser“ namens Stanley Sprünge – insofern ist „Die Maske“ ein Ipkiss, genannt „The Mask“. Wunderwerk. Es handelt sich um einen Bankange- Übrigens hat der Held, wie alle Hel- stellten von so herausragender Dußlig- den, auch einen besten Freund, ohne keit, daß er vor Glubschen den Mund dessen Beistand im schicksalhaftesten nicht mehr zukriegt, als diese Blondine Augenblick das Böse nicht zu besiegen auf ihren nichtendenwollenden Beinen wäre. Er heißt Milo und gilt schon jetzt hereingestöckelt kommt, um bei ihm ein als Favorit im Rennen um den Oscar für Konto zu eröffnen: Sogar drei blinde Af- die beste Nebenrolle: Milo ist ein Ter- fen würden erkennen, daß die angebliche rier Marke Jack Russell (mit dem Regis- Nachtklubsängerin eine Räuberbraut seur weder verwandt noch verschwä- beim sogenannten Ausbaldowern eines gert) und hört, wie man hört, im Privat- Bruchs ist. leben auf den Namen Max. Y CONNEXION / MAB Star Carrey in „Die Maske“: Dusselig, aber unwiderstehlich

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Stars Der König der Kellner Michael Skasa über das Fernseh-Idol Hans Meiser, eckige Sakkos und den Charme der Beschränktheit

chen, sie mag Kinder nicht, die Kinder mögen Stiefväter nicht, sie wollen lieber haschen, Mama lieber Schokolade na- schen – nix wie Probleme und daher nix wie Geschichten, Gespräche, Erzählhap- pen. Weshalb so schöne Sachen nur im klei- nen Kreis beplaudern? Meiser bietet die Arena dafür, die „Hans Meiser“-Show, ganz ohne Show, da gucken zur stillen Zeit desKaffeedufts gut dreiMillionen zu an jedem Werktag, den Gott oder sein RTL werden läßt. Schon zuvor ging’s bei Meiser um aller- lei, was fast jeder schon erlebt hat: mal nicht ertrunken, beim Klettern nicht in den Tod gestürzt zu sein, ganz knapp vorm Vergewaltigen errettet zu werden oder schlagenden Wettern und Vätern so eben noch zu entkommen, weil See-, Baum- oder Bergwacht rechtzeitig ein- griffen: Hans Meiser präsentiert diese Geschichten, die der Tod nicht schreiben durfte, in „Notruf“, und durchschnittlich fünf Millionen wollen das seit Anfang 1992 einmal die Woche sehen. Sind Bundespräsidenten- oder Kanz- lerwahlen, schon schiebt Meiser eine Sondersendung ins Programm und redet

ACTION PRESS auch mit solchen Männern, ein, zwei Gastgeber Meiser, Gast Kohl: „Er sieht aus wie jeder, er räumt ab wie keiner“ Stunden lang pro Herr. Oder er düst, wenn der Sommer heiß ist, nach Mallorca Skasa, 52, produziert, moderiert und (wie unlängst bei Pro 7), niemand preßt und macht seine Show im Auge des San- schreibt für den Rundfunk; er lebt in quäkende Dolmetschknöpfe ins Ohr gria-Orkans, von beinahnackten Frauen München. und quellende Drüsen ins Mieder (wie und ganzbesoffnen Männern deutscher bei Gottschalk), reißt mit klappendem Herkunft umlagert, hautnah. Und nur is Meiser kam, war allen Sendern Lid Zoten über die Promi-Gäste; denn ein Jahr später haben alle übrigen Sen- der Nachmittag wurscht: Paar immer haben es Namen sein müssen, der, sogar die beiden ersten, entdeckt, BHausfrauen, paar Rentner, Kids Fachleute, Herrenschneider und mög- was alles auf Mallorca filmreif abgeht. und Wellensittiche – was sollte man de- lichst ein Politiker (oder besser drei). Jetzt hat er schon wieder etwas ausge- nen schon zeigen? Was halt so rumlag Ging’s um Arbeitslosigkeit, packten die heckt, um seine Zeit und die Studios bes- und weg mußte. Und drum hörten die Zahlen aus, bei Unzucht sprachen The- ser auszunützen: Die „Stunde der Ent- alle weiter Radio, schauten ihre Dau- rapeuten, bei Zucht ein Gefängnisdirek- scheidung“, so der Titel seiner neuen men an und aus den Fenstern ins Nichts. tor. Wenn der Werbeblock kam, brach Sendung, steht vor der Kulissentür, das Die vielzitierten Kaffeekränzchen gibt’s endlich Leben aus. Volk scharrt und will gefragt sein, wie das in der Wirklichkeit ja kaum, vor allem in Die Leute auf Meisers Podestchen Schicksal von Mitmenschen verlauten Dörfern sieht’s zappenduster aus. kennt niemand, aber ihre Sorgen möcht’ soll – pro oder contra Vollzug oder Entsa- Seit mehr als zwei Jahren stellt nun man haben! Hat man ja auch, und ihren gung. Aber eben nicht nach Plädoyers ge- RTL das Kränzchen in die Stuben, nur Spaß genauso. scheiter Fachmenschen, sondern nach Kaffee und Kuchen muß jeder selbst Das Meiser-Prinzip ist einfach: Wohl vorgefertigten Filmkapiteln, die sich frei- mitbringen. Dann kann’s losgehen, und jedem ist irgendwann irgendwas wider- lich als unglaublicher Schrott aus Dilet- dabei geht eben nicht die Post ab, keine fahren, was irgendwie ganz interessant tantenkreisen entpuppen: Das „Studio Welträtsel, nicht mal Möllemann steht ist und sich im kleinen Kreise gut erzäh- Hamburg“ liefert das Zeug zu. zur Debatte, und keine Studioband haut len ließe. Sagen wir, er ist gepfändet Und in Meiser-Kreisen schüttelte man einem Blech um die Ohren. worden oder geschändet oder hat ein sich und setzte die schiefgelaufene Serie Kein Talker schlägt verschwitzte Pur- Vermögen geerbt; sie ist vielleicht alko- fürs erste ab. zelbäume unter der Brooklyn-Bridge, holisch versandet (oder Strandkönigin Die „Stunde der Entscheidung“ war weil er mitten in New York eine deut- geworden); er und sie haben es zum er- ein mittleres Desaster:Denn wenn’s auch sche Unterhosenwirkerin entdeckt hat stenmal gemacht; er kann sie nicht rie- Dämliches im Leben gibt, war der hier zu

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Crashkurse, soviel sind die auf Achse); die Kandidaten näher zu befragen nach ihren Storys, zu Haus in deren Woh- nungen. Daraus und aus Recherchen in Bü- chern und bei Fachleuten entstehen die Handakten für Meiser, auf daß auch er erfahre, wovon die Rede sein wird im Studio. Und der Rest sei einfach? Keine weitere Arbeit? Für Meiser vielleicht wirklich, diesen smarten, gut gestande- nen Herrn mit angelockten Silberhaa- ren, Stahlbrille und eckigen Sakkos, Traum aller Konfektionsschneider: Der Mann von der Straße für Menschen auf den Straßen. Einer, dem sich jeder anvertraut als unerbittlich sanft Füh- rendem, weil er gewiß immer vorn sein wird, aber nie davonlaufen.

F. HEMPEL / THOMAS & THOMAS Und wenn man nun erlebt, wie an- Meiser-Serie „Stunde der Entscheidung“*: Nix wie Probleme dre Moderatoren und Talkmaster sich verbiegen, weil sie selbst unter Witzel- entscheidende Fall allzu dämlich ge- arbeiten wirklich hart! Es war ein leises zwang stehen, dann atmet man tatsäch- spielt: Ein Chef will seine Angestellte Summen auf Bildschirmen, ein Telefo- lich auf beim jovialen Meiser Hans. Er vernaschen und droht zu diesem nieren und Notizenmachen auf den Ti- drängt zu nichts, er hilft ein bißchen. Zweck, ihren Mann aus der Firma zu schen, wo 15 Redakteure an etwa 30 Mag ja sein, daß er sich nicht tiefer entlassen; tut’s dann auch. Was aber tut Themen für die Meiser-Nachmittage interessiert für all das Zeug, worüber die Frau? Was täten Sie? stricken, jeder an zweien. er fünf Tage die Woche öffentlich Egal. Zur Abschlaffzeit nach zehn Da heißt es, Themen erfinden („Dick- plaudert, daß er nach der Sendung Uhr soll nun Mitte Dezember ein zwei- sein ist schön“, „Sex im Alter“, „Spiel- nicht mehr weiß, worüber es eben ge- ter Versuch gestartet werden. sucht“, „Wohnungsnot“), dann Gäste gangen ist – fürs Fernsehen genügt, Vielleicht, daß die Hamburger ihre dazu finden, gänzlich unbekannte Men- daß er sich im Moment vollkommen Dilettantenschnippel nachbessern bis schen, die darüber reden können; sie darauf einläßt und unsere Aufmerk- dahin? Über deren Billigquark ist die anzurufen und auf Tauglichkeit vorzu- samkeit, unsern Spaß und, je nach- Meiser-Crew stocksauer, aber Ham- testen, dann hinzufahren (crea-tv be- dem, auch mal unsre Nachdenklich- burg hat die Lizenzen gekauft, Meiser zahlt jedem Autotrainingsstunden und keit weckt. Statt Welträtsel löst er darf nur den Studiogästeteil moderie- Verspannungen, 250mal im ren. Pech für ihn, wohl auch für RTL. Jahr. „So was“, hallt es durchs Gebäude, „Der Mann hat das gewisse „können wir doch besser! Das haben Nichts“, schrieb staunend eine wir gezeigt!“ Zeitung, eine andre: „Er sieht Die Meiser-Fabrik, mit eigenen und aus wie jeder. Er redet wie je- gemieteten Studiogebäuden und allen der. Er denkt wie jeder. Er Schikanen (und einer stinkenden Kanti- fühlt wie jeder. Aber er räumt ne), steht in einem Kaff im Rheini- ab wie keiner.“ Alles beinah schen. Mögen die berühmten Großvä- wahr. Meisers Geheimnis ist ter bibelstarke Namen wie Babelsberg, seine Selbst-Verständlichkeit, Hollywood und Geiselgasteig haben, sie sein Spaß am Arbeiten (der sind nach Hürth bei Köln gezogen. sich überträgt), die Leistungs- Im Mutterhaus war es Meiser zu eng seriosität. Daß man spürt, hier geworden, und weil Boß Thoma eh an- will sich einer gut unterhalten; regte, sich für den tagtäglichen Talk daß er rüberbringt, wie reiz- selbständig zu machen, gründeten sie voll alles Menschliche ist, vor die „crea-tv“: 44 Prozent für RTL, 34 allem alles Fehlbare – solang für Meiser, im eigenen Hause nun, so- es nicht die eigne Redaktion lid gebaut, neben die Wellzinkhallen, in betrifft. Da, so hört man, kön- denen RTL selbst produzieren läßt, ne er zum Brüller werden. liegt das neue Meiser-Studio auf den Seine Definition, er sei nur Äckern, dazwischen haben noch viele der Kellner, gekocht werde Hallen für viele bunte Shows Platz. von den Redakteuren, trifft Wird die Luft noch dünner für die Öf- durchaus. Nur daß er an den fentlich-Rechtlichen? „4000 Mitarbeiter Tischen filetiert, vorlegt, ab- hat das ZDF“, ruft man dröhnend in räumt und berät. Daß er oben- Hürth, „bei RTL beschäftigen wir gra- drein das Lokal zum Teil be- de 700.“ sitzt, um so schöner für ihn. Bei crea-tv sind es genau 38 Mitarbei- Vor 30 Jahren schon schrieb

ter, und, ich hab’ es selbst gesehen: Sie GALUSCHK. / ACTION PRESS Umberto Eco in seiner „Phä- Meiser-Serie „Notruf“ nomenologie des Quizma- * Nicht gesendete Folge. Geschichten, die der Tod nicht schreiben durfte sters“, das Fernsehen präsen-

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tiere „als Ideal den totalen Durch- Bild. Da zerreißt eine Explosion den schnittsmenschen“, und über den Spiel- Unterhaltung Jet, feurige Trümmer stürzen herab, macher selbst notierte er: Autos bremsen, fahren ineinander. Ein brennender Mann löscht die Flammen Idolisiert von Millionen, verdankt die- auf seinem Rücken im Schlamm. Inga ser Mann seinen Erfolg der Tatsache, läßt den Kopf aufs Lenkrad fallen. daß aus jeder Handlung und jedem Lebendig Da hämmert es an ihre Wagentür: Wort der Figur, die er vor den Fernseh- Halbnackt, brandwund und samtäugig kameras verkörpert, eine absolute Mit- bittet der TV-Lohengrin (Nathaniel telmäßigkeit spricht, verbunden mit ei- wie Acryl Parker) um Hilfe. Die Spielregel der nem direkten Charme, der sich durch schmerzgeborenen Beziehung verkün- die Tatsache erklären läßt, daß an ihm Killer in Leipzig, London und den det er sogleich: Keine Fragen, keine keinerlei Künstlichkeit oder Schauspie- Pyrenäen – der TV-Zweiteiler Polizei. lerei zu erkennen ist. Man möchte fast sagen: Er verkauft sich als das, was er „Gefährliche Spiele“ führt in die Gewiß wollte auch Regisseur Win- ist, und das, was er ist, ist so geartet, weite, leere Welt des Bösen. kelmann, 48, hoch hinaus mit dieser daß es keinem Zuschauer Minderwer- „grenzüberschreitenden“ Geschichte tigkeitsgefühle verursacht, nicht ein- vom Killer und der Schönen. Die mal den unbedarftesten. Im Gegenteil, ieser Lohengrin kommt vom Him- Handlung hat kontinentale Ausmaße: der Zuschauer sieht das Abbild seiner mel. Sein Schwan ist ein brennen- Schweizer Schieberfirma heuert einen eigenen Beschränktheit glorifiziert und Ddes Flugzeug. Aber das Wichtigste britischen Mörder, um Umweltschützer offiziell mit den Insignien einer natio- hat er mit dem Gralsritter gemein: Er zu ermorden, die Giftmülltransporte in nalen Autorität ausgezeichnet. haßt Fragen nach seiner Herkunft. den Osten verhindern wollen, und Adolf Winkelmanns Zweiteiler lenkt zugleich fälschlich den Verdacht Es gibt weder Schwindel noch doppel- „Gefährliche Spiele“ (Sendetermine: auf ukrainische Terrorgruppen. te Böden in Meisers Show, Zeitungsan- noncen, Aufrufe, sich zur Show zu mel- den oder derlei Kram kennt sein Team nicht. Man sucht sie in Vereinen, im Be- kanntenkreis, und inzwischen melden sie sich auch selbst im „Zuschauerrück- lauf“ nach den Sendungen. Auskünfte von Gliedzeigern oder In- zestlern gegen Vorauskasse – wonach dann ein andrer Sender schadenfroh enthüllt, die Story sei erstunken und er- logen worden für den Kies – das läuft bei ihm nicht. (Obwohl’s ja piepegal ist, ob dieser Typ zum Beispiel wirk- lich in brünstiger Leidenschaft zu Hühnern entbrannt ist oder ob er’s bloß erfindet: Was ändert das? Irgendwer hat bestimmt eine echte Hühnerliebe. Also.) Die extra von einer freischaffenden Agentur bezogenen Zuschauer betrach- ten ihn auch nicht als Jubel-Idol, son- dern eher wie ihren Animateur auf Ibi- za, und der plaudert drum sogar noch in

den Werbeblockpausen aufgeräumt wei- WDR ter, ein Bein aufs Podest gestützt, eine TV-Stars Landgrebe, Parker: Wie drei Wagner-Opern auf einmal Hand in der Tasche, blitzschnell auf Wortspiele einsteigend und Fallgruben Freitag, Sonntag, 20.15 Uhr, ARD) Die Liste der Drehorte liest sich wie meidend, und besonders beliebt macht geht ran wie drei Wagner-Opern auf ein Tourenvorschlag europäischer Rei- er sich, sobald er was „einfach nicht ver- einmal: Feuriger Schwanenritter, Flie- severanstalter: München, Leipzig, Lon- stehen“ kann: ein Fremdwort, einen gender Holländer und Götterdämme- don, Paris, Biarritz, Barcelona, Pyrenä- komplizierten Vorgang, dann wird er rung, soweit das Kamera-Auge en . . . Die Namen der Beteiligten an zum Ombudsmann des Kaffeekränz- reicht. diesem in englischer Sprache gedrehten chens. Was für ein Auftakt: Regen peitscht Opus zeugen von internationalem Flair. Will einer aber gar nicht flüssig erzäh- auf die nächtliche Autobahn hernieder, Das Buch stammt vom britischen Best- len, kann er auch mal kiebig werden und aus feuchten Schlieren auf der Wind- sellerautor Julian Rathbone, die dunkel- leis anpfeifen: „Sie halten hier Vorträge schutzscheibe blicket wäßrig und schön süße Musik vom Griechen Nikos Platy- wie im juristischen Seminar, so furcht- eine Frau namens Inga (Gudrun Land- rachos. Verkauft ist das Stück an 18 bar abgeklärt“ (seine Haßvokabel), grebe). Entschlossen zieht sie ihre Länder. „nu’ erzähl’n Sie doch endlich mal, was Bahn gen Süden. Wenn überholende Doch wenn der nächtliche Feuerzau- Sie gedacht haben!“ Ja, so issa, der Mei- Laster ihren Campingbus bespritzen, ber des Filmbeginns vorbei ist, bemerkt ser Hans. müssen sie sich „Scheißkerl“ nachrufen der Zuschauer schnell ernüchternd, daß Einst reimte Erich Mühsam: „Zwar lassen. trotz allen Willens zur Größe das Genie ist dies nichts Besunderes. Ich aber – ich Aber niemand hat ein Ohr für Wut Wagner weit und die alltägliche Schwä- bewunder es.“ Obwohl er Meiser nicht und Tränen in diesem triefenden Meer che der obwaltenden Fernsehkultur na- kannte. Y aus Blech. Ein Flugzeug gleitet ins he ist.

198 DER SPIEGEL 47/1994 Diese großspurige WDR-Produktion (Gesamtkosten: 6,3 Millionen Mark) macht das derzeitige TV-Dilemma ex- emplarisch deutlich. Das Stück funktio- niert wie ein Staubsauger. Der Sog des rasenden Erzählpropellers kann alles leicht vertilgen, weil das Drehbuch die Wirklichkeit schon zerbröselt hat: Orte und Landschaften sind verwechselbar wie Postkarten, den Reißbrettfiguren haben die Konstrukteure alle Widerha- ken genommen, Gefühle sind nur noch Behauptungen. Hinten heraus kommt, was vorne hineinkam: heiße Luft. Leipzig ist in diesem Krümel-Spiel Bahnhof, München Bierkeller, Paris Montmartre, Zürich Büropalast, Barce- lona Kathedrale, London Doppelstock- bus. Die Pyrenäen sind malerisch ge- wittrig, Schwulenlokale tuntig . . . Der eurosklerotischen Filmtopologie entspricht die hohl-erhabene Sprache der Figuren. Sie tönt unaufhörlich aus dem Nirgends des Drehbuch-Orbits, be- sonders wenn sich der Landgrebe schö- ner Mund also öffnet: „Ein Niemand, ohne Namen, ein Nichts. Alles ist weg. Ich beneide Sie. Wie eine Schlange im Frühling, die sich zwischen den Steinen hindurchschlängelt ins Gras und die zu eng gewordene Haut zurückläßt.“ Derweil zeigt „No Man“, so tauft ihn seine Begleiterin, sein liebes Knabenge- sicht. Ob er später mordet oder liebt, er zahlt immer mit der gleichen Menge physiognomischer Ecus. Man glaubt gern Zeitungsberichten, wonach sich der mimisch unterforderte englische Star während der Drehpausen mit Pfer- de-Wetten beschäftigte. Ein bißchen Leidenschaft braucht schließlich jeder. Die Landgrebe durchsteht ihren Part mit somnambuler Entrücktheit. Als sei- en ihre Züge von Acryl-Glas überzogen, so prallt von ihnen das wenige Leben dieser Geschichte ab. Ihre Stimme, mit der sie sich selbst synchronisiert, ver- leiht der Lakonie des Dialogs das Pathos der höheren Eurolalie. Es wird viel gefahren in diesem Film. Aber wenn Schemen reisen, gibt es kei- ne Erfahrungen zu sehen. Handlungen, Gefühle und Orte – alles geht durch die Personen hindurch. Die geschlechtliche Vereinigung der Protagonisten stellt ei- nen Höhepunkt unfreiwilliger Komik dar. „Du liebst wunderbar“, flötet die schöne Inga. Doch „No Man“ gibt trotz gelungener A-tergo-Leistung eine be- kümmerte Antwort: „Ich kann gut vö- geln, aber ich kann nicht lieben.“ „Wieso nicht“, fragt die Frau. Und er: „Weil ich das nicht durfte.“ Hier endet gnädig der Dialog. Und im folgenden Bild sieht der Zuschauer die nächtliche Hütte in giftig-violetten Nol- de-Farben erstrahlen. Als schämte sich der Film für die Sprechblasenentzün- dung, ohne rot werden zu können. Y

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und 2000 Mark (Erstausstrah- Fernsehen lungen). Die Etats von Arte sind bei den öffentlich-rechtlichen Ma- nagern hoch beliebt. Da der Teutonische Liebhaber-Sender nur auf rund 0,5 Prozent Marktanteil kommt, sind Neuproduktionen Sendung auch nach einer Premiere auf Arte taufrisch. 4,5 Millionen ARD und ZDF beuten den Mark holte sich der Westdeut- kleinen deutsch-französischen sche Rundfunk auf diesem Weg für das 26-Stunden-Epos Kulturkanal Arte aus. „Die zweite Heimat“. Die Ar- te-Gebühr sei eine „indirekte oller Elan trat Sabine Rollberg, 41, Subvention“ für ARD und ihren Job als Chefredakteurin von ZDF, sagt der Berliner Produ- VArte an. Der deutsch-französische zent Bengt von zur Mühlen. TV-Sender, befand sie Anfang Septem- Ein internes Regelungspa- ber, erreiche „Menschen, die eigentlich pier des Norddeutschen Rund- schon die Hoffnung aufgegeben haben, funks (NDR) mahnt, bei den intelligent unterhalten zu werden“. Programmen für Arte sei dar- Gegen den Eintopf mit Game-Shows, auf zu achten, daß sie „grund- Schmalzserien und Quasselrunden bie- sätzlich“ in die Strukturen des

tet Arte eine besondere Mischung: Do- TEUTOPRESS dritten oder ersten Programms kumentationen, Themenabende, Maga- Arte-Chefin Rollberg: „Stiefkind Aktualität“ passen. „Es wird der Klarstel- zine, Qualitätsspielfilme. lung wegen daran erinnert, Doch ARD und ZDF schätzen die in Baden-Baden, eine überflüssige Ver- daß Sendungen an Arte gegen Entgelte kleine Station aus ganz anderem Grund: waltungseinheit, ist dagegen fest im zugeliefert werden“, hält eine Zusatzno- Sie bringt ihnen viel Geld. Die Arte-Ge- Griff von ARD und ZDF. te fest. sellschafter (Anteil: 50 Prozent) nutzen Ohne die mächtigen Anstalten dürfen Eigene Ausgaben für Arte, etwa für den Ausnahmesender, um altes Pro- die Redakteure dort nicht einmal ei- gemeinsame Produktionen, sollen da- gramm noch mal zu verwerten oder nen Drei-Minuten-Beitrag finanzieren. nach vermieden werden. Und für Kofi- neue Produktionen aus dem eigenen Nach einem genau festgelegten Quoten- nanzierungen behält sich NDR-Pro- Haus durchzufinanzieren. Später laufen schlüssel liefern die ARD-Anstalten grammdirektor Jürgen Kellermeier die sie, quasi gratis, in den angestammten und das ZDF das Programm zu. besondere Genehmigung vor. Wie pro- Kanälen von ARD und ZDF. Dafür werden sie, streng bürokra- fitabel die Deals mit Arte sind, läßt Kel- Die Praktiken haben den französi- tisch, über Pauschalen bezahlt. Ein Li- lermeier intern – unterteilt nach Erst- schen Mitgesellschafter La Sept und vie- zenz-Spielfilm bringt ihnen knapp sendungen, Wiederholungen, Themen- le freie Fernsehproduzenten alarmiert. 100 000 Mark, eine Fernsehspielpremie- tagen – penibel berechnen. Ende 1993 Als Verschiebestation war Arte, seit re rund 250 000 Mark. Und bei Doku- hatten ARD und ZDF, so ermittelte die Mai 1992 auf Sendung, nicht geplant. mentationen zahlt Arte pro Minute zwi- Tageszeitung, ein Polster von rund 70 Kanzler Helmut Kohl und Frank- schen 583 Mark (für Wiederholungen) Millionen Mark angelegt. Ohne die öf- reichs Staatspräsident Franc¸ois Mitter- rand, die Gründungsväter, wollten viel- mehr einen starken europäischen Kul- turkanal. Für diese Idee zahlt jeder deutsche TV-Haushalt bei der Rund- funkgebühr monatlich 75 Pfennig extra. Dabei wird Arte fast nur über die Ka- belnetze verbreitet. Gerade mal 43 Pro- zent der Haushalte können das Hoch- kultur-TV sehen, in Ostdeutschland so- gar weniger als 20 Prozent. Die Gebüh- renpflicht besteht trotzdem zu Recht, wie das Verwaltungsgericht Braun- schweig feststellte. Es urteilte gegen ei- nen zahlungsunwilligen Zuschauer, der Arte nicht empfangen kann. Die Senderzentrale in Straßburg be- stimmt jedoch nur über ein Viertel des Etats (Gesamthöhe 1995: rund 500 Mil- lionen Mark). Die Hoheit liegt bei den Gesellschaftern. Auf der französischen Seite hat La Sept volle Handlungsfreiheit. Die Firma verwaltet ihr großes Budget selbständig. Die deutsche Arte-Koordinierungsstelle T. KLINK / ZEITENSPIEGEL * Zum Sendestart 1992. Arte-Werbung*: „Moralisch unstatthafte Front“

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fentlich-rechtlichen Archive könne der Kulturkanal nicht existieren, argumen- Biographien tiert dagegen Gerhard Vogel aus der Arte-Redaktion des NDR. Würden al- le Kosten einkalkuliert, sei Arte für den NDR sogar ein „absolutes Minus- Schuß geschäft“. Seltsam, daß der Ostdeut- sche Rundfunk und der Mitteldeutsche Rundfunk 1995 gern zur Arte-Gesell- in den Ofen schaft dazustoßen. Filmproduzenten, deren Werke auf Ein Volksheld kippt vom Sockel: Arte ein zweites Mal gesendet werden, Eine neue Biographie entzaubert gehen, anders als die öffentlich-rechtli- chen Gesellschaften, oft leer aus. Das den Idylliker Hermann Löns ZDF stellt sich taub: Es handele sich als Wüstling und Chauvinisten. nicht um einen Vertrieb im üblichen „Sinne“. So streitet sich der Münchner Doku- as deutsche Gemüt ist eine treue mentarfilmer Thomas Riedelsheimer Seele – tief ruht darin, seit fast mit der Mainzer Anstalt, die sein Dhundert Jahren, der Heimatdichter ZDF-Werk „Sponsae Christi“ an Arte Hermann Löns. geliefert hat. Riedelsheimers Vertrag Generationen lodengrüner Wander- sieht in solchen Fällen eine Beteiligung vögel, Jäger und Naturfetischisten ver- von 25 bis 50 Prozent vom Nettoerlös ehren ihn als wortmächtigen „Dichter vor, bislang aber bekam er nichts. Das der Lüneburger Heide“ und „Vater der ZDF lau: Es komme „je nach Fallge- deutschen Tiererzählung“. Sie verdan- staltung auf die Vertragslage an“. ken ihm die farbechten Schmuckzeilen Eine „moralisch unstatthafte Front“ „Grün ist die Heide, die Heide ist grün“ sieht der Urheberrecht-Experte Tho- und den gereimten Notruf „Rose Marie, mas Hoeren aus Münster. Die Interes- Rose Marie, sieben Jahre mein Herz senvertreter der Spielfilmproduzenten nach dir schrie“. und der Dokumentarfilmer wollen bis Löns unterrichtete Neigungsornitho- Jahresende eine Lösung finden. logen über den Flugverkehr der Turm- Gegen die Fehlentwicklungen bei schwalben und Krähen. Er entschleierte Arte regt sich besonders in Frankreich die Geheimnisse der Wasserspitzmaus Widerstand. Sender-Präsident Je´roˆme und verewigte in Erzählungen wie Cle´ment mahnte bessere, auf Arte zu- „Mümmelmann“ so drollige Kreaturen geschnittene TV-Ware aus Deutsch- wie die Hasen Kunrad Flinkfoot und land an. Lischen Hopsinskrut. Auch der Dackel Obwohl Arte in Frankreich über die Putt Battermann ist allen Lönsianern Hausantenne 80 Prozent der Haushalte tierisch ans Herz gewachsen. erreicht, schaltet sich auch dort nur ein Löns-Schrifttum kursiert mittlerweile kleiner Zuschauerkreis ein. Vielen in zehn Millionen Buchexemplaren, der Franzosen sind die Sendungen zu teu- Kult ist ungebrochen. Ein „Verband der tonisch. Für Experimente und frische Hermann-Löns-Kreise“ mit Hauptsitz in Sendungen, wie sie La Sept bestreitet, sind Redakteure bei ARD und ZDF kaum zu haben. Viele sprechen kein Französisch. Mitte Dezember wird einiges anders. Dann schließt sich La Sept mit dem Bildungskanal La Cinquie`me zusam- men. Der neue Partner darf tagsüber in Frankreich die Frequenz von Arte benutzen. Schafft La Cinquie`me besse- re Einschaltquoten als Arte, will Cle´- ment Druck auf ARD und ZDF aus- üben, das Programm populärer zu ge- stalten. Den Deutschen müsse geraten wer- den, „über mehr Flexibilität nachzu- denken“, sagt WDR-Rundfunkrat Jür- gen Rosorius. Auch Chefredakteurin Rollberg hat ein paar Illusionen verloren. Die Ak- tualität bei Arte sei „leider immer noch ein Stiefkind“, sagt sie jetzt. Und

es gebe noch viel Unkenntnis über das, CLASSEN VERLAG „was die Nachbarn dies- und jenseits Heidedichter Löns (um 1910) des Rheins bewegt“. Y Schollen-Filou im Rassenwahn

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Walsrode wacht über die Dichterpfle- Hinter dem eitlen Stadt-Stutzer lauer- ge. Ergriffen wallfahren noch immer te aber schon der erzdumpfe Naturbur- jährlich Hunderttausende von Enthu- sche, der Schollen-Filou im Rassen- siasten zum Löns-Grabmal. wahn, der sich rauschhaft in völkischer Nun freilich, im 80. Todesjahr des Prosa austobte. Wie entfesselt, stets am umschwärmten Flinkfoot-Poeten, stört Rande des Nervenzusammenbruchs, Mißklang die Friedhofsruhe. Denn in schleuderte er nun seine berüchtigten einer neuen Biographie entzaubert der Heimatromane aufs Papier, den „Letz- Essener Germanist Thomas Dupke, 30, ten Hansbur“ oder „Das zweite Ge- den Idylliker als exzessiven Trunken- sicht“, wo rassisch astreine Mädels wie bold, hämischen Frauenfeind und zü- gellosen Chauvinisten*. Zwar war schon früher viel Düsternis aus der Dichter-Vita ruchbar geworden, und BESTSELLER die Walsroder Löns-Verweser haben auch schon trotzig gemault, es sei doch BELLETRISTIK längst bekannt, daß er „zeitweilig einen über den Durst getrunken hat“. Aber Gaarder: Sofies Welt (1) so helle und gründlich wie der Mythen- 1 Hanser; 39,80 Mark schreck Dupke hat noch niemand Œuvre und Nachlaß durchforstet und Grisham: Der Klient (2) dabei den „Zusammenhang zwischen 2 Hoffmann und Campe; nationalsozialistischer Ideologie und 44 Mark Lönsschem Gedankengut“ beleuchtet. Die Jugend verbrachte der (1866 ge- Pilcher: Das blaue Zimmer (3) borene) Lehrersohn im westpreußi- 3 Wunderlich; 42 Mark schen Flecken Deutsch-Krone. Erregt, mit „pfeifendem Atem“ und der „ein- Høeg: Fräulein Smillas (5) läufigen Vogelflinte“ stiefelte Jung- 4 Gespür für Schnee Hermann schon damals durch Forst Hanser; 45 Mark und Flur. Früh hub er an zu dichten, sexuell verdichtete Verse wie „Laß Follett: Die Pfeiler (4) mich deinen Leib umfangen, wilde Dir- 5 der Macht ne, küsse mich“ oder das stürmische Lübbe; 46 Mark Entkleidungsdramolett „Entdämme Deines Busens Wellen, die du so grau- Garcı´a Ma´rquez: Von der (6) sam eingezwängt“. 6 Liebe und anderen Dämonen Doch die Dirnen blieben unerreich- Kiepenheuer & Witsch; 38 Mark bar, und auf der Universität Greifswald fiel der stud. med. zunächst nur als Forsyth: Die Faust Gottes (7) hormonell unausgewogener, versoffe- 7 C. Bertelsmann; 48 Mark ner Nichtsnutz auf. Die schlagende Verbindung „Cimbria“ verstieß den Begley: Lügen in Zeiten (8) Blutsbruder wegen einer unehrenhaften 8 des Krieges Schuldenaffäre. Der Jüngling poetisier- Suhrkamp; 36 Mark te verzagt: „Der Tag, wo ich geboren ward, da hat der Himmel geweint“, Crichton: Enthüllung (9) ehelichte und entdämmte aber alsbald 9 Droemer; 44 Mark ein „süßes Möpslein“, die Konditorei- gehilfin Elisabet. Löns verdingte sich George: Denn keiner ist (10) als Zeitungsschreiber, landete schließ- 10 ohne Schuld lich beim Hannoverschen Anzeiger und Blanvalet; 44 Mark verfaßte achtbare satirische Glossen, Reportagen und Naturbetrachtungen. King: Schlaflos (11) Literarischer Ruhm war ihm noch 11 Heyne; 48 Mark nicht gegönnt. „Halbschlafmystik“, grummelte spöttisch die Kritik über sei- 12 Nadolny: Ein Gott (12) ne Pirschliteratur. Auch eine kurze der Frechheit sozialdemokratische Schaffensperiode Piper; 39,80 Mark („Alter Freund, sei unverdrossen, denk daran, du hast Genossen“) brachte 13 Noll: Die Apothekerin (14) dem spirituosen Schriftleiter keine An- Diogenes; 36 Mark erkennung, und im heimischen Hanno- ver erregte er vorerst mehr Aufmerk- 14 Kishon: Ein Apfel (13) samkeit als herausgeputzter Freizeit- ist an allem schuld Dandy. Langen Müller; 36 Mark de Moor: Der Virtuose (15) * Thomas Dupke: „Hermann Löns. Mythos und 15 Hanser; 34 Mark Wirklichkeit“. Claassen Verlag, Hildesheim; 216 Seiten; 38 Mark.

206 DER SPIEGEL 47/1994 das schnieke Annemieken durch die Wa- den angestammten „Vollgermanen“ an cholder-Taiga wandeln, mit „Backen rot die Heidschnucke will. Da läßt der Dich- wie Rosen“ und „Augen blau wie Bach- ter die Knüppel niedersausen, und das blumen“. schnucken-räuberische Gelichter fährt Im Bauern-Opus „Wehrwolf“, das die zur Hölle, daß die Heide wackelt. Nazis später propagandistisch aus- Mit dieser vollidiotischen Bauern-Bal- schlachteten, zieht eine mordlüsterne lade hatte der „Teutone hoch vier“ Nährstandsrotte mit dem Schlachtruf (Löns-Selbstlob) endlich den ersehnten „Schlaah doot!“ in den Kampf gegen wel- literarischen Durchbruch. „Ich bin stolz sches, schwarzbärtiges „Ungeziefer“, das darauf, daß man bei meinen Büchern nicht zu denken braucht“, schwadronier- te der völkische Beobachter. Penibel hielten sich die Rezensenten daran. „Ein Heldenbuch“, jauchzte die Presse, „stark und wurzelecht“, „gewichtig wie so ein SACHBÜCHER Heidbauernschrank“. In der „Konfrontation mit der Moder- N. E. Thing Enterprises: (2) ne“, resümiert Dupke, verunsichert 1 Das magische Auge III durch den Triumphzug der Technik und Ars Edition; 29,80 Mark den rapiden sozialen Wandel, suchte N. E. Thing Enterprises: (1) Löns wie viele Zeitgenossen das „Heil im 2 Das magische Auge II Ideal des bäuerlichen Lebens“, im Ars Edition; 29,80 Mark „Mythos von Heimat und Vaterland“. Das private Leben des wurzelechten N. E. Thing Enterprises: (3) Passionsariers entwickelte sich indes zu- 3 Das magische Auge nehmend unbehaglich. Eheverdrossen Ars Edition; 29,80 Mark durchkreuzte der Heidjer die braun-ro- Wickert: Der Ehrliche (4) ten (keineswegs grünen) Wilseder Berge. 4 ist der Dumme Daheim darbte seine zweite Frau Lisa, Hoffmann und Campe; 38 Mark die ihm den Sohn Dettmer gebar und Ogger: Das Kartell (6) schwer trug an dem Saufsack und selbst- 5 der Kassierer ernannten Frauenhelden. „Ein Mann wie Droemer; 38 Mark ich braucht jede sieben Wochen eine an- dere Geliebte“, brüllte der Erotissimus. Carnegie: Sorge dich (5) 6 nicht, lebe! Er drohte, seiner Kleinfamilie die Kugel Scherz; 44 Mark zu geben, begnügte sich aber damit, be- sinnungslos auf den häuslichen Ofen zu 7 21st Century Publishing: (8) schießen. 3D – Die Dritte Dimension In Frau Lisa sah er nun die „aufgeblase- Ars Edition; 19,80 Mark ne Frauenrechtlerin“. Weibern verwei- Ditzinger/Kuhn: (7) gerte er generell den „Vollmensch“- 8 Phantastische Bilder Status. Sie waren sexuelle Jagdbeute, Südwest; 14,90 Mark hatten „keine Seele, sondern nur einen Johannes Paul II.: (9) Uterus“. Entkräftet von der jahrelangen 9 Die Schwelle der Hermann-Schlacht, entwichen Mutter Hoffnung überschreiten und Kind aus dem Dichter-Horst. Löns Hoffmann und Campe; 36 Mark verfiel in Depressionen, vagabundierte ziellos durch sein teutonisches Vaterland 10 Ditzinger/Kuhn: (13) und barmte: „Das Leben ist beschissen. Phantastische Bilder II Sein Sinn ist Bockmist.“ Sogar die un- Südwest; 14,90 Mark schuldige Natur, seinen poetischen und Scholl-Latour: Im (12) kommerziellen Glücksquell, fand er jetzt 11 Fadenkreuz der Mächte „schmutzig, verlogen, kokett und C. Bertelsmann; 44 Mark dumm“. Ogger: Nieten in (10) Der Weltkrieg verscheuchte die Krise. 12 Nadelstreifen „Ist das eine herrliche Zeit“, jubilierte Droemer; 38 Mark der Heidekrauter im August 1914. „Mensch, das Leben ist so schön jetzt, 13 Paungger/Poppe: Vom (14) daß es sich lohnt zu sterben.“ Beflissen richtigen Zeitpunkt trug er die Literatur zu Grabe („Die Fe- Hugendubel; 29,80 Mark der schmeiß’ ich in den Dreck“), mar- Fest: Staatsstreich (11) schierte, mit 48 Jahren, freiwillig aufs 14 Siedler; 44 Mark französische Schlachtfeld und verblutete Gallmann: Afrikanische (15) im ersten Sturmangriff. 15 Nächte Mit dem „Matrosenlied“, das der Her- Droemer; 32 Mark renmensch 1910 ausgebrütet hatte, zogen deutsche Soldaten noch im Zweiten Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Weltkrieg siegestrunken in den Tod: Fachmagazin Buchreport „Leb wohl, mein Schatz, leb wohl, denn wir fahren gegen Engelland.“ Y

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Fotografie Cecil Beaton hat als bildhungriger Dandy ein halbes Jahrhundert mit seiner Kamera beglei- tet. Wenn es je ein Fotograf geschafft hat, berühmt zu werden, indem er be- rühmte Leute ablichtete, dann dieser Gentleman aus London. Wohl keiner hat ausdauernder an diesem Ruhm ge- feilt als der Narziß Beaton, der zu sei- nem Leidwesen aus einer wenig feinen Kaufmannsfamilie stammte. Sich stets als charmanter Amateur ausgebend, hat Beaton (1904 bis 1980) seinen eigenen Foto-Olymp mit den Reichen, Adligen, Schicken und Schö- nen der High-Society-Welt zwischen London und Hollywood bevölkert – mit Marilyn Monroe, Greta Garbo, Marle- ne Dietrich, Mick Jagger, Andy Warhol und den Angehörigen des britischen Kö- nigshauses.

Eine große Monographie, die 265 BEATON / SCHIRMER UND MOSEL Aufnahmen des Kamera-Snobs versam-

melt, erlaubt nun einen Streifzug durch FOTOS: C. sein Bilderreich der schillernden Insze- Selbstporträt in New York (um 1929, o.), Charles Henri Ford (um 1935, u.)

Marlene Dietrich (1935) nierungen*. Beaton, der nebenbei im- mer wieder Bühnenbilder und Kostüme entwarf, treibt ein irrlichterndes Spiel der Spiegelungen, Verkleidungen und Verwandlungen. In Bildern wie dem Porträt des Modemachers Charles James erscheinen Gesichter doppelt

* „Cecil Beaton. Photographien 1920 – 1970“. Mit Texten von Philippe Garner und David Alan Mellor. Schirmer/Mosel Verlag, München; 320 Seiten; 148 Mark.

210 DER SPIEGEL 47/1994 Abendkleider von Charles James (1948)

Couturier Charles James (dreißiger Jahre) Schauspielerin Marisa Berenson, kostümiert als Marchesa Casati (1971) Beaton-Fotografien: Das Leben in einem unwirklichen Raum verbringen, der nur aus Spaß und Vergnügen besteht oder dreifach; in anderen teilen sich die dessen ästhetische Konventionen und lich nicht einmal Beaton selbst. Es sei Abgebildeten, etwa Marlene Dietrich in verfeinert sie bis zur Dekadenz. Manche ihm gelungen, erkannte er, sein „Leben einer Aufnahme von 1935, den Bild- Modeaufnahmen, etwa „Abendkleider in einem unwirklichen Raum zu verbrin- raum mit einer Skulptur, die ihnen von Charles James“ (1948), sind inspi- gen, der nur aus Spaß und Vergnügen frappierend gleicht. Ironisch jongliert riert von Gemälden vergangener Jahr- bestand“. Beaton mit Identitäten, auch mit der hunderte. Raum und Zeit sind in einer Beatons ehrgeizigster Versuch aller- Illusion, die Fotografie gewähre Ein- Scheinwelt der romantischen Imagina- dings, sein Leben mit einem Mythos zu blicke in die Seele des Menschen. tion aufgehoben. vermählen, scheiterte: Die Heiratsan- Mit einer postmodern anmutenden Wo die Grenze zwischen Wirklichkeit träge, die er Greta Garbo machte, hat Lust an der Künstlichkeit zitiert er statt und Fiktion verlief, wußte wohl schließ- die Göttliche stets abgelehnt. Y

DER SPIEGEL 47/1994 211 .

WISSENSCHAFT PRISMA

Medizin schlägig tätiger Scholar, weiß in einem bei Hoff- Frühtest mann und Campe erschie- nenen Buch nachzuweisen, für Alzheimer wie sehr sich eine ganze Nahezu ein Jahr habe es bis Generation von Qumran- zu einer sicheren Diagnose Forschern darauf festgelegt gedauert, verriet der vorma- hatte, eine klösterliche Ge- lige US-Präsident Ronald meinde von Tempelveräch- Reagan Ende letzten Mo- tern habe die Schriftrollen nats, als er der Öffentlichkeit kopiert oder gar selbst ver- mitteilte, er leide an der un- faßt und in den umliegen- heilbaren und letztlich tödli-

HUNTINGTON LIBRARY / SIPA den Höhlen versteckt. Das chen Alzheimerschen Krank- Qumran-Schriftrolle mit den üblichen Gelehr- heit. Forscher der Harvard ten-Invektiven reich ge- Medical School glauben nun Qumran spickte Werk zerpflückt so manchen wis- durch Zufall eine Methode senschaftlichen Ansatz der auf Qumran gefunden zu haben, die schon eingeschworenen Gelehrten. Das gelingt in einer frühen Phase der Er- Zerstörte Legende Golb oftmals überzeugend. Nicht beweisen krankung eine gesicherte Nachdem die von Heinrich Schliemann be- kann er allerdings seine eigene Theorie, Diagnose erlauben würde. gründete Troja-Legende während der letz- die gesamten aufgefundenen Schriften sei- Der von den Bostoner Medi- ten Ausgrabungsarbeiten gründlich zer- en in Jerusalem selbst geschrieben oder zinern im Wissenschaftsblatt stört wurde und die Dichtkunst Homers aufbewahrt und während des jüdischen Science beschriebene Früh- und der Homeriden wieder in ihr eigen- Krieges von 66 bis 70 nach Qumran ausge- test wäre zudem einfach und ständiges Recht gesetzt worden ist, droht lagert worden. Auch diese Spekulation billig. Dabei wird den Patien- auch der Qumran-Legende der Schriftrol- wird auf heftigen Widerstand stoßen und ten eine stark verdünnte len vom Toten Meer ein tödlicher Schlag. kann ohne unvorhersehbare Glücksfälle Atropin-Lösung ins Auge ge- Der Professor für Geschichte und Kultur wohl nicht bewiesen werden. Aber Glücks- tropft – die Konzentration des Judentums an der Universität von Chi- fälle gibt es ja – siehe Schliemann und sei- beträgt nur etwa ein Hun- cago, Norman Golb, ein seit 40 Jahren ein- nen angeblichen „Schatz des Priamos“. dertstel der von Augenärzten bei Routineuntersuchungen zur Erweiterung der Pupille Energietechnik Corporation, will schon in York Medical Center den eingesetzten Atropin-Menge. zwei Jahren soweit sein. Für Ausbruch einer Infektions- Bei Alzheimer-Patienten ge- Solarstrom 230 Millionen Mark errichtet welle an ihrer Klinik, die zwi- nügt diese winzige Dosis be- Enron in einem Wüsten- schen September 1991 und reits für eine Pupillen-Erwei- aus der Wüste gebiet im südlichen Nevada September 1992 insgesamt 59 terung – eine Reaktion, die ein 100-Megawatt-Solarkraft- Patienten erfaßte. Verursa- bei gesunden Versuchsperso- werk, das Ende 1996 ans cher waren Bakterien vom nen ebensowenig zu beob- Netz gehen soll. Die Kilo- Typ Acinetobacter baumanii. achten war wie bei Patienten, wattstunde Strom will Enron Mehrere Stämme dieser Er- die an anderen Altersleiden für 5,5 Cents (etwa 8 Pfen- reger erwiesen sich als resi- wie etwa der Parkinsonschen nig) liefern – etwa 30 Prozent stent gegenüber einer Reihe Krankheit oder fortgeschrit- billiger als der derzeitige von Antibiotika. Die Infek- tener Demenz litten. Die Durchschnittspreis für elek- tionen konnten schließlich amerikanische Firma Genica trische Energie in den USA. mit Hilfe der Antibiotika Po- Pharmaceuticals Corporation Die in Dünnfilm-Technik lymyxin B und Sulbactam ge- will den Alzheimer-Test spä- ausgeführten Solarzellen für stoppt werden. Inzwischen testens 1996 auf den Markt das Projekt sollen in unmit- allerdings hat das Bakterium bringen. Die Harvard Uni- telbarer Nachbarschaft des auch schon Stämme entwik- versity erhält dafür Aktien Sonnenkraftwerks hergestellt kelt, die gegen Sulbactam re- der Firma und Lizenzgebüh- werden. sistent sind. ren.

Medikamente

F. SMITH Gefährliche Solarzelle von Enron Klinikkeime Frühestens im Jahre 2020, so Die Befürchtung vieler Medi- die Einschätzung der Ener- ziner, vor allem der Klinik- giewirtschaft, werde die di- ärzte, die Ära der Antibioti- rekte Umwandlung von Son- ka gehe angesichts zuneh- nenlicht in elektrische Ener- mender Resistenz der Krank- gie mit Hilfe von Solarzellen heitskeime allmählich zu En- zu wirtschaftlich vertretbaren de, hat neue Nahrung erhal- Preisen möglich sein. Ameri- ten. In einem Bericht des bri-

kas größter Erdgas-Konzern, tischen Fachblatts The Lan- REUTERS / BETTMANN die texanische Firma Enron cet melden Ärzte vom New Alzheimer-Patient Reagan, Ehefrau Nancy

212 DER SPIEGEL 47/1994 Werbeseite

Werbeseite .

WISSENSCHAFT

Archäologie WALLFAHRT INS WATT Wissenschaftler haben im nordfriesischen Wattenmeer einen sensationellen Fund gemacht: Der Bremer Ethnolo- ge Hans Peter Duerr stieß im Schlick auf Keramikscherben, Kirchenfundamente und Spuren eines mittel- alterlichen Bauernhauses. Sind es Überreste der sagenumwobenen Stadt Rungholt, des friesischen Atlantis?

„Heut bin ich über Rungholt gefahren, See an jenem denkwürdigen „Tag Mar- rei nahm derart überhand, daß die Fach- Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren“ celli Pontificis“ über die höchsten gras- welt im 20. Jahrhundert zweifelte, ob Detlev von Liliencron, „Trutz, Blanke Hans“ bewachsenen Deiche geschwappt. der Ort überhaupt je existiert hat. Eine Sturmflut desaströsen Ausma- Dann trat der Nordstrander Bauer ßes. Dutzende von Quadratkilometer Andreas Busch auf den Plan, um Mär s war recht stürmisch in jener Win- Küstenland wurden von den Fluten der und Wahrheit zu scheiden. 1921 stieß ternacht des 16. Januar 1362. Von „Groten Mandränke“ verschlungen. der Eigenbrötler und Heimatforscher EWest fauchte die Windsbraut über Die Edomsharde, einst ein torfiges südlich der Hallig Südfall auf Schleusen- die flachen Marschen Nordfrieslands. Marschland zwischen Pellworm und pfähle, die aus dem Schlick ragten. Regen prasselte auf strohgedeckte Bau- Nordstrand, versank mitsamt sieben Nachfolgende Wattsucher gruben Brun- ernhäuser. Immer ungestümer rollten Ortschaften unter einer Lawine aus nen und Keramikreste aus. 70 Jahre die Wellen gegen die Küste und bedroh- Wasser und Schlamm. Alten Quellen lang lagerten diese spärlichen Funde in ten die prächtige Handelsmetropole zufolge ertranken 7600 Men- Rungholt. schen, die meisten von ihnen Der Dichter Detlev von Liliencron Bürger Rungholts. (1844 bis 1909) hat die Szene nachemp- Seit jener mittelalterlichen

funden: „Lärmende Leute, betrunkene Katastrophe sind die Gerüchte P. MEYER / FORUM Massen“ seien abends auf die Deiche über das friesische Atlantis getorkelt und hätten dem Blanken nicht verstummt. Ein Sonntags- Hans, in feuchtfröhlicher Hybris, die kind, weiß die Sage, werde die Fäuste gezeigt: „Wir trotzen dir!“ Stadt dermaleinst erlösen. Ein vermessener Anspruch bei nur Geographen rekonstruierten drei Meter hohen Schutzwällen. Volle im 17. Jahrhundert die Lage „vier Ellen“, also 2,7 Meter, vermeldet der Siedlung – sie zeichneten eine alte Chronik, sei die aufgewühlte Fabelkarten. Die Spökenkieke-

Rungholt-Ausgräber im Watt, Rungholt-Forscher Duerr, Fundstück: Pferdeschädel, Keramikscherben und mittelalterliche

214 DER SPIEGEL 47/1994 norddeutschen Museen – bestaunt als Reliquien des einst mächtigen Versunkene Die friesische Handelsmetropole Rungholt lag im Mittelalter inmitten „al-Sila“, wie die Mauren vermut- Stadt einer torfigen Marschlandschaft, die im Laufe der Jahrhunderte lich die friesische Handelsmetropo- durch eine Vielzahl von Sturmfluten weitgehend weggespült wurde. le Rungholt nannten. W Doch Bauer Busch war offenbar D ÄNEMARK in die falsche Richtung gestiefelt, a wie jetzt der Bremer Professor Hans Rantum Rantum PeterDuerr, 51,herausfand. Duerr, t Sylt S CHLESWIG- renommierter Kulturhistoriker und t

Autor zahlreicher Bücher, stieß im e Niebüll Juni 1994 im Nordseewatt auf Spu- Föhr ren einer versunkenen Großsied- n Nieblum Nieblum lung – das wahre Rungholt? m HOLSTEIN

Zum Zeitpunkt ihres Untergangs Amrum e hatten an dem legendären Ort wohl an die 4000 Menschen gelebt. Rung- e do r holt war die größte Hafenstadt an E msha rd Pellworm Nord- der sumpfig-mäandernden nord- e friesischen Küste. strand Urkunden beweisen, daß die Rung- Rungholt Husum holt Friesen Handel mit Flandern und Nordfriesland Nordfriesland Südfall Husum bis ins maurische Spanien trieben. um 1240 heute Ihren ReichtumerzieltendieBürger t e d mit der Salzproduktion. Dabei wur- r s t E i d e de meernasser Torf getrocknet und Tönning Tönning verbrannt; aus der salzigen Asche St. Peter St. Peter- ließ sich das kostbare Mineral her- Ording aussieden. Vergleichbar einem tropischen Man- krug. 1876 war die Insel schon auf 119 ma kam der langhaarige Professor wei- grovensumpf ragte die flußreiche Kü- Hektar Größe geschrumpft. 1881 floh teren Ungereimtheiten auf die Spur. stenzone weit in die Nordsee. Entwässe- der letzte Einwohner. Heute wird das Abgelegenen Annalen der Provinzfor- rungskanäle durchzogen das flache Gras- Inselchen nur noch von Vögeln belebt. schung war zu entnehmen, daß einige land. Über Bohlenwege und kleine Holz- Seine Fläche: 56 Hektar. der Rungholt-Reliquien in Wahrheit aus brücken bahnten sich die Friesen trocke- Zweifel an der bisher gültigen Rung- dem 16. Jahrhundert stammen. nen Fußes den Weg. holt-Forschung waren dem Bremer Auch die im Husumer Nissenhaus Heute liegt dieses einst mit Windmüh- Ethnologen Duerr vor zwei Jahren ge- ausgestellte Holzschleuse, Kernstück len gespickte Kulturland fast komplett kommen. Auf alten Landkarten ist die der bisherigen Rungholt-Forschung, er- unter Wasser – Folge zahlreicher Sturm- Sagenstadt nördlich der Hallig Südfall wies sich als Schwindelobjekt. Bereits fluten, die den Marschboden zum Skelett eingezeichnet und nicht südlich, wo 1981 hatte der damalige Museumsleiter abnagten (siehe Grafik). Noch im Jahre Bauer Busch seine Schleuse ausgrub. Erich Wohlenberg das Alter des Fundes 1711 hatte die Hallig Südfall einen Dorf- Nach drei Uni-Seminaren zu dem The- nach der C-14-Methode bestimmen las- sen. Ergebnis: Die Schleusenreste sind keine 300 Jahre alt. Doch Wohlenberg verschwieg die wis- senschaftlichen Resultate, wohl aus Angst, eines seiner attraktivsten Aus- stellungsstücke zu verlieren. Weiterhin pilgerten Scharen von Besuchern an den vermeintlichen Rungholt-Vitrinen vor- bei. Irritiert von dem Gemauschel, begab sich Ethnologie-Professor Duerr höchst- selbst auf Wallfahrt ins Watt. Beim Schleswiger Landesamt für Vor- und Frühgeschichte wurde der Trip ord- nungsgemäß als Exkursionsreise ange- meldet. Im Juni fuhren Duerr und ein Troß Studenten mit einem Ewer, einem Flachbauchschiff, ins Hallig-Archipel. Bei Südfall ließ die Mannschaft den Ewer bei Ebbe trockenfallen. Kaum waren sie ausgestiegen, fühlten sich die Wattgänger in ein wundersames Ruinenreich versetzt. In einem Priel la- gen Pferdeschädel in großer Zahl sowie Keramikscherben. Reste von Pfosten und aufrecht stehenden Flechtwänden ragten aus dem nassen Grund. „Wir wa- Fischgräten am Grunde eines Priels ren auf ein mittelalterliches Langhaus

DER SPIEGEL 47/1994 215 . HULBE / G. + J. Atlantis-Darstellung: Versunkene Metropole auch im Norden?

gestoßen“, sagt Duerr, „auf der Feuer- fakte sind zu gewichtig, als daß sie stelle lagen noch Fischgräten.“ sich, wie im Fall der Schleusen-Datie- Damit nicht genug. In 2000 Schritt rung, unterm Deckel halten ließen. Entfernung hob sich ein Fundament aus Noch nie ist im Wattenmeer ein kom- behauenen Findlingen aus dem plettes mittelalterliches Haus aufge- Schlamm – typisch für mittelalterliche spürt worden. Kirchen. Rungholt besaß eine „Ecclesia Zudem hat Duerr einen Trumpf im cum collegio“, eine Stiftskirche mit Prie- Ärmel. Bevor er seine Schätze in sterunterkünften. Schleswig ablieferte, ließ er einige Ke- Die Kulturgüter waren offensichtlich ramikscherben mit Hilfe der Thermo- erst kurz zuvor von einem Wattenstrom lumineszenz-Technik analysieren. Alle freigespült worden. Nun trudelten eini- Artefakte stammen tatsächlich aus der ge der Schätze frei in der Strömung um- Zeit vor der großen Mandränke von her. Was tun? Die Flut stieg wieder. 1362. Duerr entschloß sich zur Notbergung. Mit dieser Datierung eröffnen sich Kistenweise schleppten die Studenten den Archäologen glänzende Perspekti- rheinische Krüge, Reste von Holzfäs- ven: Eine ganze mittelalterliche Stadt, sern und Kuhschädeln an Bord ihres Ewers. Das Material, katalogisiert und vermessen, lieferte der Professor einige Geht Rungholt Tage später beim zuständigen Landes- ein zweites Mal unter – amt in Schleswig ab. Doch der glückliche Finder sah sich diesmal im Papier? alsbald hart gestraft. Statt mit Begeiste- rung über den erstaunlichen Fund rea- bestehend aus bis zu 50 Meter messen- gierten die Grabungsbürokraten ver- den friesischen Langhäusern, liegt wo- drossen. Sie behandelten Duerr wie ei- möglich unterm Schlick. nen Outlaw. Seine Funde wurden igno- Für die Forscher wären die Grabungs- riert, Brief- und Telefonkontakte abge- bedingungen gut. Die Schlammlawine, brochen. Schließlich erstattete der Lan- die sich mit der Sturmflut von 1362 über desarchäologe Joachim Reichstein An- die Flachbodensiedlung Rungholt er- zeige gegen den Bremer wegen Raub- goß, schloß die Stätte nahezu luftdicht grabens (Bußgeld bis zu 50 000 Mark). ab. Duerrs Studenten stießen auf ein Die Husumer Staatsanwaltschaft sah Holzfaß, das noch unverrückt auf einem keine Veranlassung, gegen den Profes- Podest stand – gleichsam im Matsch er- sor zu ermitteln. Doch Reichstein will starrt und gut konserviert. Widerspruch einlegen und den Rechts- Doch die Zeit drängt. „Der Watten- kampf weiterführen. strom Dwarsloch könnte quer durch die Wollen die Behörden (Duerr: „Fisch- Fundstätte brechen“, sagt Duerr. Stän- köppe“) von eigenen Versäumnissen ab- dig würde der Strudel die etwa 50 Zenti- lenken und den Bremer Entdecker dis- meter tief im Watt verborgenen Kultur- kreditieren? Duerr erhielt ein Watt-Zu- güter freilegen und sogleich wegspülen. trittsverbot. Ein Sammelausweis wurde Duerr, zur Untätigkeit in Bremen ihm verweigert. verurteilt: „Rungholt droht erneut un- Die Aussperr-Taktik wird keinen Er- terzugehen – diesmal in einer Papierflut folg haben. Die neuen Rungholt-Arte- und durch behördliche Ignoranz.“ Y

216 DER SPIEGEL 47/1994 Werbeseite

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WISSENSCHAFT

Medizin „Das gibt sich wieder“ Jeder dritten Frau wird im Laufe ihres Lebens die Gebärmutter herausope- riert – meist ohne Not und oft mit schwerwiegenden Folgen. Viele Patientinnen fühlen sich zu dem Eingriff „gedrängt“ und „überrumpelt“.

erena S. ist in den Warteräumen Ehret-Wagener; „ein Bewußtseinswan- der Frauenärzte zu Hause. Die del“ bahne sich auch unter den Gynäko- Vstrahlende Mittvierzigerin in Rin- logen an. Doch dauerhafte Schäden gelhemd und Jeans teilt den Patientin- kommen immer wieder vor. nen ihre frohe Botschaft mit: „Viel zu In ihrer großen Praxis sowie in einer lange“ habe sie sich, „aus Angst vor den Rehabilitationsklinik bekommt die Ärz- Folgen der Operation“, herumgequält. tin ständig Patientinnen zu Gesicht, de- Doch nun, nach dem Eingriff, gehe es ren Fälle „ans Tragische grenzen“, etwa ihr „endlich wieder richtig gut – auch die 28jährige, die aus psychosomati- seelisch“. schen Gründen Dauerblutungen hatte Die flotte Grafikerin, die eine Infor- und kurzerhand hysterektomiert wurde mationsschrift des Berufsverbandes der – „eine ärztliche Dummheit“, so Ehret- Gynäkologen ziert, soll anderen Frauen Wagener, „die nie wiedergutzumachen Mut machen – zur „Hysterektomie“, der ist“. Entfernung der Gebärmutter. Nicht nur bei Gebärmuttersenkungen Doch die Lebensfreude, die Verena oder gutartigen Geschwülsten, auch „als S. vermittelt, ist vielen Frauen mitsamt Ausweg aus Lebenskonflikten“ würden dem urweiblichen Organ abhanden gekommen: Die „Totaloperation“, in Deutschland der am häu- figsten durchgeführte chir- urgische Eingriff, hinter- läßt oft körperliche und psychische Schäden. In Selbsthilfegruppen, Rehabilitationskliniken oder auch beim Rechtsan- walt suchen Frauen Hilfe, die vom Arzt zur Hysterek- tomie „gedrängt“ wurden, sich „überrumpelt“ fühlen und nun mit den Folgen zu kämpfen haben, wie Helga Nather vom „Arbeitskreis Frauenselbsthilfe“ in Vil- lingen berichtet. Von den jährlich rund 200 000 an deutschen Klini- ken vorgenommenen Ge- bärmutterentfernungen sei „nach wie vor mindestens jede zweite überflüssig“, stellt Barbara Ehret-Wage- ner fest, Gynäkologin in Bad Salzuflen. Zwar haben sich in den vergangenen Jahren die Operationsmethoden geän- dert. Tatsächlich „fühlen sich viele hysterektomierte Frauen nach einiger Zeit wieder wohl“, so Ärztin KAEMPRE * Mit Trainingsgerät für endosko- Gynäkologe Semm* pische Eingriffe. „Den Frauen die Lust bewahren“

218 DER SPIEGEL 47/1994 Frauen „immer wieder nur Operationen angeboten“, kritisiert die Gynäkologin in ihrem Beitrag zu dem Buch „Gebär- mutter – das überflüssige Organ?“*. Doch: „Strenggenommen gibt es nur wenige Krankheiten, die eindeutig eine Hysterektomie notwendig machen.“ Unumstritten sei der Eingriff nur bei Krebs – aber nur etwa jeder zehnte Ute- rus wird aus diesem Grund herausge- schnitten. Den Grund für die Operati- on, die jede dritte Frau irgendwann durchmacht, liefern jedoch meist Myo- me, Gebärmuttervorfälle und -senkun- gen oder Blutungsstörungen – „Proble- me, die sich oftmals gut behandeln las- sen, ohne gleich das Organ anzugrei- fen“, wie Ehret-Wagener feststellt. Die Gynäkologin schickt nur etwa zwei Pa- tientinnen jährlich zur Hysterektomie, ihre niedergelassenen männlichen Kol- legen überweisen im Durchschnitt 84 Patientinnen in jedem Jahr. Die 54jährige Medizinerin spielte lan- ge Zeit die Rolle einer „einsamen Rufe- rin“. Zu Beginn der achtziger Jahre machte sie auf den „ungeahnten Boom“ der Gebärmutterentfernung aufmerk- sam, den vor allem die Gynäkologie- Professoren Peter Stoll und Hans-Joa- chim Staemmler in Gang gesetzt hatten. Die beiden Chefärzte propagierten, wenn eine Frau genügend Kinder gebo- ren hatte, die „präventive Entfernung“ des dann „nutzlosen Reproduktionsor- gans“. Andere Kollegen wie der Münch- ner Professor Hans-Jürgen Kümper zo- gen nach und werteten „Angst vor Krebs oder Schwangerschaft“ schon als hinreichende Gründe für eine Hysterek- tomie. Vorteilhaft sei der Eingriff auch, weil sich danach die Frau „dem Mann nicht mehr zu bestimmten Zeiten ver- schließt“. Die Krankenkassen, die für solcherlei Indikationen nicht aufkamen, wurden beschummelt. Die Ärzte schoben ihnen, wie der Freiburger Gynäkologie-Profes- sor Albrecht Pfleiderer 1988 freimütig auf einer Tagung erklärte, „rein prophy- laktische oder nur zur Geburtenkontrol- le vorgenommene Hysterektomien“ un- ter falschen Angaben zur Abrechnung unter. Nachdem Ehret-Wagener, aber auch prominente männliche Gynäkologen wie der Heidelberger Professor Hans Lau („Es wird verdammt viel hysterek- tomiert“) die Ärzteschaft aufgeschreckt hatten, kam der Eingriff auch öffentlich ins Gerede. Dennoch legen die einzigen zur Verfügung stehenden Daten, die von der Abteilung „Epidemiologie“ des Infratest-Instituts ermittelt wurden, na- he, daß trotz aller Kritik „vermutlich die

* Barbara Ehret-Wagener, Irene Stratenwerth, Karin Richter (Hrsg.): „Gebärmutter – das über- flüssige Organ? Sinn und Unsinn von Unterleibs- operationen“. Rowohlt Verlag, Reinbek; 252 Sei- ten; 14,90 Mark. Werbeseite

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WISSENSCHAFT

Weil sie den Verdacht hegte, daß ihr „zu Hause, in Augsburg, gleich alles rausgenommen wird“, ließ sich die 49jährige Barbara Blum wegen eines blutenden Polyps an der Gebärmutter- wand lieber in Kiel operieren: Dort, an der Universitätsfrauenklinik, hat der Gynäkologe Kurt Semm mit endoskopi- schen Techniken mehrere Alternativen zur Radikaloperation entwickelt. Semm, der im Oktober auf dem Münchner Gynäkologen-Kongreß wie- der einmal gegen die „Verstümmelung der Frau und ihrer Geschlechtlichkeit“ wetterte, versucht, schonender zu ope- rieren. Er erhält bei der Gebärmutter- entfernung, anders als sonst üblich, den in die Scheide ragenden, oberen Teil des Gebärmutterhalses mit seinem Nerven- netz und bewahrt damit, wie er meint, „den Frauen die Lust“. Wenn möglich, wird, wie bei Barbara Blum, die Gebär- mutter mit Spezialinstrumenten nur „ausgehülst“; Myome werden per Sicht- rohr zerstückelt und abgetragen – Tech-

K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL niken, die gleichfalls nicht ohne Risiko Ärzte-Kritikerin Nather und noch im Erprobungsstadium sind. „Eingriff oft nicht zwingend“ Einen „Angsthasen“ nannte ein Gy- näkologe die 51jährige Cornelia S. aus Häufigkeit von Hysterektomien gering- Werl, als sie sich nicht gleich zur vorge- fügig zugenommen hat“ (Infratest). schlagenen Operation bereit fand. Der Die „Gebärmutterentfernung ist wohl Grund ihrer Rückenschmerzen, so der die am meisten diskutierte gynäkologi- Arzt, sei die auf die Blase drückende sche Operation“, räumte der Berufsver- band in seinen jüngst herausgegebenen Informationsbroschüren ein. Inzwischen Die Schmerzen sind allerdings, so die beruhigende Bot- geblieben, und der Bauch schaft, werde die Gebärmutter nur noch entfernt, „wenn’s nicht anders ist aufgebläht geht“. Doch operierte Frauen berichten über Gebärmutter. Heute, anderthalb Jahre ganz andere Erfahrungen: Der 37jähri- nach dem Eingriff, würde die Hausfrau gen Sabine B. aus Hannover, die sich die Rückenschmerzen von damals gern zur Sterilisation endoskopisch die Eilei- in Kauf nehmen. Seit der Uterus ent- ter verschmoren lassen wollte, wurde fernt wurde, sagt sie, sei sie „viel schlim- vor zwei Jahren, ohne ihr Wissen, bei mer dran“: Die Schmerzen sind geblie- dem Eingriff die gesunde Gebärmutter ben, zusätzlich ist der Bauch aufgetrie- wegoperiert. Dem Gynäkologen, Beleg- ben – Folgeschäden durch eine Verlet- arzt in einer katholischen Klinik, unter- zung des uterusnahen Darmsystems, die lief obendrein noch ein Mißgeschick, der Operateur jedoch bagatellisiert: das bei Hysterektomien keineswegs sel- „Das gibt sich wieder.“ ten ist: Er verletzte den in der Nähe des Verwachsungsschmerzen, Blasenin- Operationsfeldes gelegenen Harnleiter kontinenz, verfrühter Beginn der Wech- und die Blase. seljahre durch Störungen des Hormon- Trotz zahlreicher Nachfolgeoperatio- haushalts oder auch Depressionen und nen war der Schaden nicht mehr zu re- sexuelle Probleme – mit solchen Begleit- parieren: Die Blase faßt nur noch 50 erscheinungen der Gebärmutterentfer- Milliliter; Sabine kann es außerhalb des nung wird Helga Nather, die selbst be- Hauses kaum wagen, einen Schluck zu troffen ist, in ihrem Arbeitskreis fast trinken. Die vernarbten, verwachsenen täglich konfrontiert. Unterbauchregionen verursachen derart In einem (noch unbeantworteten) starke Dauerschmerzen, daß sie beim Brief an Gesundheitsminister Horst Hinlegen oder Strecken das Gefühl hat, Seehofer notierte sie, daß die großzügig sie werde „zerrissen“. Ihre Sexualität ist verordnete Totaloperation, nach ver- „total eingeschränkt“, die ehemals lei- schiedenen Studien, immerhin eine Le- tende Angestellte hat ihre Berufstätig- talität von 0,2 bis 0,35 Prozent aufweise keit aufgeben müssen. Die Familie halte – das, so rechnet Helga Nather vor, sind zu ihr, sagt Sabine, die jetzt gegen den „jährlich mindestens 400 Frauen, die Operateur klagt, doch ihr Leiden bela- wegen eines oft nicht zwingenden Ein- ste alle. griffs sterben müssen“. Y

DER SPIEGEL 47/1994 221 TECHNIK

lenen (und in vielen modernen Kühl- Kühlsysteme schränken inzwischen gebräuchlichen) Kältemittel Propan und Butan tragen in- direkt zum Treibhauseffekt bei: Auch die damit betriebenen Öko-Kühlschrän- Dampfende ke fressen reichlich Strom. Einen neuen Anlauf für eine energie- sparende Kühlung unternimmt nun der Kälte amerikanische Physiker Steven Garrett. Zur Verblüffung des Laienpublikums Minusgrade aus wummernden Laut- behauptet er, tosenden Lärm in eisige sprechern, Eisblöcke als Abfall Kälte verwandeln zu können. Daß man eine Änderung der Tempe- aus dem Badezuber: Ökofreundli- ratur hören kann, wissen Glasbläser seit che Kältetechnik sucht neue Wege. Jahrhunderten. Geradezu himmlische Töne entstehen, wenn ein in Form ge- blasener glühender Glaskolben allmäh- rämlichbeobachtetederamerikani- lich abkühlt. Erst vor zehn Jahren fan- sche Schriftsteller Henry Thoreau den Waffenforscher im US-Atombom- GinjedemWinter, wiegeschäftstüch- benlaboratorium Los Alamos heraus, tige Unternehmer Eis aus einem zugefro- daß es auch andersherum funktioniert. renen Tümpel herausschlugen und es Physiker Garrett erkannte gleich den portionsweise in der Stadt verscherbel- praktischen Nutzen dieser Entdeckung. ten. „Mitten im strengen Winter“, zürnte Bereits vor zwei Jahren schickte er ei- der Naturfreund und Gesellschaftskriti- nen Prototyp seines akustischen Kühl- ker 1846, werde dem See der „einzige schranks mit der Raumfähre Discovery Rock, ja die Haut selbst“ fortgerissen. in den Weltraum. In zwei Jahren soll ein Ihren Frieden mit dem menschlichen Kühlschrank für den Haushalt marktreif Bedürfnis, Speisen und Getränke zuküh- sein, geeignet auch für Klimaanlagen len, haben Umweltschützer auch 150Jah- oder die Kühlung von Computern. re später noch nicht gemacht. Kraftquelle des Geräts ist ein Laut- Erst führten sie – mit Erfolg – einen sprecher, der am oberen Ende eines mit Feldzug gegen Kühlschränke, in denen Helium oder Argon gefüllten Metallroh- als Kältemittel Fluorchlorkohlenwasser- res angebracht ist. Die Schallschwingun- stoffe (FCKW) zirkulieren, welche die gen, die er ausstrahlt, formen sich zu ei- schützende Ozonschicht über der Erde ner sogenannten stehenden Welle und zerstören. Die als Ersatzstoffe eingesetz- pressen die Gasteilchen an einer Stelle ten Fluorkohlenwasserstoffe (FKW) ge- der 50 Zentimeter langen Röhre zusam- rieten ebenfalls in Mißkredit –weil sie das men, in einem anderen Bereich verdün- Erdklima aufheizen. nen sie das Gas. Und selbst die am Ende der jahrelan- Wird ein Gas zusammengedrückt, gen Kampagne von Greenpeace empfoh- heizt es sich auf – dieser Effekt wärmt

Eis aus dem Boiler Kältetechnik mit Zeolith-Kristallen

2 Boiler Kühlschrank

In dem System wird gleich- Kondensator zeitig Wärme für den Boiler Heißer und Kälte für den Kühlschrank Wasser- erzeugt. dampf 1 Die mit Wasser vollgesogenen Zeolith- Kristalle werden aufgeheizt: Wasserdampf tritt 1 aus und wird zum Boiler geleitet, wo er kon- densiert. 2 Die dabei abgegebene Wärme erhitzt das Boilerwasser. Kammer mit Zeolith-Kristallen 3 Das Kondenswasser rinnt in einen mit Wasser gefüllten Verdampfer, in dem Unter- druck herrscht. Das unter diesen Bedingungen Kalter bereits bei Temperaturen um null Grad Celsius Heizung Wasser- dampf verdampfende Wasser entzieht seiner Umge- Verdampfer bung Wärme. Bei plötzlichem Ansaugen des kalten Wasserdampfs durch die Zeolithe kommt es zu einem Temperatursturz – es bil- det sich Eis. 3 Eis Eiswasser

222 DER SPIEGEL 47/1994 die Luftpumpe, wenn ein Fahrradrei- fen aufgefüllt wird. Umgekehrt kühlt ein Gas ab, wenn es sich ausdehnt. In dem Schallrohr entsteht deshalb an ei- ner Stelle Wärme (die nach außen ab- geführt wird), in einer anderen Zone wird Kälte erzeugt (bis zu minus 100 Grad Celsius), die über einen Wärme- tauscher in einen Kühlschrank geleitet werden kann. Der Frost entsteht allerdings nur dann, wenn der Lautsprecher mit 160 Dezibel wummert – 10 000mal lauter als ein Konzert der Rolling Stones. Der mordsmäßige Krach würde norma- lerweise ausreichen, das menschliche Gewebe in Stücke zu reißen. Doch die hermetisch abgeschlossene Druckkammer läßt keinen Laut nach Physiker Garrett: Tosenden Lärm in Eis verwandelt außen dringen. So nennt Garrett para- doxerweise als einen Vorzug seines wird wärmer, dann springt die Maschi- beit gekommen: Mit 30 Prozent weni- Lärm-Kühlschranks, daß dieser so ne wieder an.“ Dieses Auf und Ab ger Energie, als bislang gängige Geräte schön leise arbeite. „Wir mußten uns zwischen warm und kalt, argumentiert verbrauchen, heizt seine Maschine das von einem Arzt das Stethoskop aus- er, sei nicht besonders effizient. Wasser in einem Boiler auf – und da- borgen“, prahlt der Forscher, „um Eine Menge Strom sparen soll auch bei fällt, ohne zusätzlichen Stromver- festzustellen, ob die Maschine läuft.“ ein neuartiges Kühlaggregat, das die brauch, die Kälte für den Kühlschrank Vor allem spart der krachende Kühl- Münchner Firma Zeo-Tech (mit finan- als Abfallprodukt mit an. schrank Energie: Über die Lautstärke zieller Unterstützung des Freistaates „Einmal heiß Duschen reicht aus“, des Lautsprechers läßt sich eine feste Bayern) entwickelt hat. sagt Maier-Laxhuber, „um eine Woche Temperatur einstellen. „Ein konventio- Auf seine pfiffige Idee war der Phy- lang den Kühlschrank zu betreiben.“ neller Kühlschrank“, erläutert Garrett, siker und Zeo-Tech-Chef Peter Maier- Um Hitze und Kälte gleichsam in ei- „wird überkühlt, schaltet sich ab, es Laxhuber im Verlauf seiner Doktorar- nem Aufwasch zu erzeugen, nutzt der

DER SPIEGEL 47/1994 223 .

TECHNIK

Physiker in einem raffinierten Zyklus zwei Eigenschaften des Wassers aus: Rüstung Beim Verdampfen entzieht es der Um- gebung Wärme, beim Kondensieren gibt es Wärme ab. Herzstück des Aggregates sind mine- Scharfer ralische Kügelchen, sogenannte Zeoli- the, die abwechselnd kalten Wasser- dampf aufsaugen und heißen Wasser- Blick dampf freisetzen (siehe Grafik Seite 222). Braucht Europa ein eigenes Bis die ersten kombinierten Boiler Netz von hochmodernen Spionage- und Eisschränke („Zeolith Kühl-Boi- ler“) auf den Markt kommen, wird es satelliten? noch eine Weile dauern. Die Küchen- gerätebauer zögern noch. Einstwei- m Geld, nicht um klare Worte ver- len rüstet Maier-Laxhuber eine Feri- legen zeigten sich die Emissäre des ensiedlung in Brasilien mit seinen Ufranzösischen Verteidigungsmini- Zeolith-Maschinen aus. Von 1996 an sters. Künftig, so beschieden die Exper- sollen seine Kühlschränke im ICE mit- ten vom Pariser Wehrbeschaffungsamt fahren. eine handverlesene Journalistenschar, Das Verdienst, den ersten echten erwarte Frankreich bei der Entwicklung Öko-Kühlschrank entworfen zu haben, der europäischen Helios-Spionagesatel- muß aber wohl der Wuppertaler Di- liten eine deutsche Beteiligung. plom-Designerin Ursula Tischner zuge- Die französischen Himmelsaufklärer sprochen werden. „Fria“ heißt ihr sind klamm, seit sich die ebenfalls von Kühlaggregat, bei dem ein Ventilator Geldnot geplagten Spanier aus der Ent- die Außenkälte ins Haus bläst. wicklung des Aufklärungssatelliten He- Dazu müßte eine aufwendig gestalte- lios 2 verabschiedet haben. Auch die ita- te Kühlkammer, „die schließlich 100 lienische 14-Prozent-Beteiligung an dem Jahre halten soll“ (Tischner), fest ins Milliardenprojekt ist nicht gesichert. Mauerwerk des Hauses zementiert Jetzt soll die Finanzlücke – fürs erste werden. 50 Prozent der bei herkömmli- fehlen rund 360 Millionen Mark – mit chen Kühlschränken verschleuderten deutschen Steuergroschen geschlossen Energie, behauptet die Erfinderin, werden. könnten auf diese Weise eingespart Seit sich die Bundeswehr auf weltwei- werden. te Blauhelmeinsätze in Krisengebieten Als einen gewissen Nachteil von einrichtet, vermuten die Pariser Militär- „Fria“ könnte man den Preis betrach- experten bei der Bonner Regierung zu ten: 5000 bis 7000 Mark pro Gerät, Recht ein gesteigertes Interesse an Sa- „grob geschätzt“. Und das nur für den tellitenaufklärung in Eigenregie. Das Winter, wenn es schneit. Y Projekt verschaffe den Europäern Infor- L. CHAPERON / LASA AEROSPATIALE / SYGMA Minister Rühe, Spionagesatellit Helios 1 (Zeichnung): Himmelstürmende Pläne Werbeseite

Werbeseite TECHNIK

mationen, welche die Vereinigten Staa- ten „ihnen niemals geben würden“, lockte der Pariser Raumfahrt-Experte Stephane Chenard. Die künftigen Globalstrategen Rühe, Kinkel und Kohl ließen sich nicht lange bitten; schon am 4. Mai hatte der Bun- dessicherheitsrat einer deutschen Be- teiligung grundsätzlich zugestimmt. Schrittweise wollen die Europäer nun das US-Monopol bei der militärischen Weltraumaufklärung der Nato durch- brechen. 1995 soll eine Ariane-Träger- rakete zunächst den französisch-spa- nisch-italienischen Prototyp Helios 1 ins All wuppen. Hardthöhen-Fachleute halten Helios 1 für einen schwachsichtigen Schönwet- terspäher; für die Erdbeobachtung durch geschlossene Wolkendecken taugt

Helios-Empfangsstation in Torrejo´n: Auf

sein optisches Sensorium nicht. Erst das Nachfolgemodell Helios 2 soll, vom Jah- re 2002 an, mit Hilfe von Infrarot-Au- gen auch dichtes Gewölk durchdringen können. An Scharfsicht allerdings wird es auch Helios 2 kaum mit den modernsten US- Satelliten aufnehmen können; nur Ob- jekte mit einer Größe von mehr als ei- nem Meter werden auf den Helios-Fotos zu unterscheiden sein – für CIA-Exper- ten eine klägliche Leistung. Erst wenn die Osiris-Satelliten, Wunschobjekt der deutsch-französi- schen Weltraumtechniker, verwirklicht würden, könnten auch die Europäer im nächsten Jahrtausend Aufklärer mit ver- gleichbarer Sehschärfe in den Himmel hieven: Die Osiris-Spione, gespickt mit ausgeklügelten Radarsensoren, sollen mit den amerikanischen Raumspähern im Auflösungsbereich von Dezimetern konkurrieren. Den deutschen Rüstungs-

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konzernen bieten die himmelstürmen- den Pläne lukrative Aufträge; mit Osi- ris, so hoffen die Ingenieure bei der Deutschen Aerospace, könnte Europa in der Satelliten-Technologie zu den USA aufschließen. Auch die Militärstrategen bei der Westeuropäischen Union (WEU) kön- nen sich für die Himmelsspione begei- stern. Schon 1991 bewilligte die WEU 38,25 Millionen Ecu für den Bau und die Einrichtung einer Bodenstation zum Empfang der künftigen Enthüllungsfo- tos. Die Antennenanlage im spanischen Torrejo´n soll zu einer „Mini-CIA“ aus- gebaut werden, wenn im nächsten Jahr der erste Helios-Spion in über 400 Kilo- metern Höhe den Erdball umrundet. Nicht erst seit dem Balkankrieg ist den europäischen Militärs die Abhän- OLA DE DEFENSA ˜ J. MATA / REVISTA ESPAN Enthüllungsfotos warten

gigkeit von der US-Raumaufklärung schmerzlich bewußt geworden; Exper- ten beklagen, daß die USA Informatio- nen nur gefiltert oder mit absichtlicher Verspätung an die Verbündeten weiter- geben. Davon will das Bonner Verteidi- gungsministerium nichts bemerkt ha- ben: „Bis jetzt“, versichert ein Hardthö- hen-Sprecher, „haben wir noch immer alles von den Amerikanern bekom- men.“ In Wahrheit will die Rühe-Trup- pe nur ihr Interesse an eigenen Satelli- ten-Fotos tarnen; die Militärs fürchten, daß die Kosten der Satellitenpläne dem ohnedies gebeutelten Verteidigungsetat aufgebürdet werden. Bleibt es beim Bonner Einstieg in die Weltraumspiona- ge, sind schon im nächsten Jahr 100 Mil- lionen Mark fällig. Auf rund zwei Milliarden Mark in den nächsten zehn Jahren schätzen Verteidi- gungsexperten den gesamten Finanzie-

DER SPIEGEL 47/1994 227 .

TECHNIK

rungsbedarf. Die französische Addition in China jährlich 2,7 Millionen Fahrzeu- ergab das Fünffache. Schleierhaft ist, ge vom Band laufen. wo soviel Geld aufgetrieben werden Die Konstruktionspläne für einen chi- kann; keines der beteiligten Ressorts nesischen Volkswagen soll das Ausland will zahlen. liefern. 20 Hersteller aus den USA, Die Himmelsspionage diene in erster Asien und Europa stellten vergangene Linie der allgemeinen Lagebeurteilung Woche in Peking ihre Konzepte vor – durch die Bundesregierung, wehrt das fast ausnahmslos Autos, die bereits an- Rühe-Ministerium ab: Da müsse halt derswo in Serie gebaut werden oder als „jeder sein Scherflein beitragen“. Y Prototypen vorgestellt wurden. General Motors bewirbt sich mit dem Corsa von der deutschen Tochterfirma Automobile Opel, Ford tritt mit dem Fiesta an, Chrysler mit dem Neon und Mercedes mit vier Varianten auf der Grundlage der 1993 vorgestellten Kleinwagen-Stu- Geist des die „Vision A“. Eine ganz andere Strategie verfolgt Porsche: In nur vier Monaten ließ Wie- Vertrauens deking den fahrbereiten Prototyp „C88“ entwickeln, ein völlig neues, „auf den Eine Auto-Studie aus Stuttgart chinesischen Geschmack abgestimmtes“ sorgte in Peking für Aufsehen. Fahrzeug. Bescheiden motorisiert (48 PS, 140 km/h), könnte das dreitürige Wird Porsche den Volkswagen Basismodell laut Werksberechnungen für China bauen? für umgerechnet 8000 Mark zur Jahrtau- sendwende auf den Markt kommen. Der China-Porsche wäre keine billige ie Wahl der Worte war mühsam. Kopie eines ausländischen Konkurrenz- Stundenlang hatte Wendelin Wie- fahrzeugs, sondern ein „rein chinesi- Ddeking unter Anleitung einer sches Automobil“ (Porsche-Infotext), in Sprachlehrerin zahlreiche Silben ge- China von Chinesen hergestellt und teil- paukt, die er nicht verstand. Am ver- weise sogar entwickelt. Parallel zum gangenen Montag, auf der „Family Bau der Fabrik in China sollen asiati- Car“-Ausstellung in Peking, hielt der sche Ingenieure in Weissach geschult Porsche-Chef dann seine Ansprache auf werden, um später das Werk in Eigenre- chinesisch. gie leiten zu können. Bei der wortreichen Verbeugung vor Bei den Konkurrenten löst der Mobil- den Regierungsvertretern, die die Auto- machungsplan der Schwaben Skepsis messe organisiert hatten, ging es um ein aus. Während Wiedeking blumig vom Milliardengeschäft. Von 1996 an, ver- „Geist gegenseitigen Vertrauens“ chine- kündeten die Pekinger Machthaber, selte, gingen andere Automanager klar werde das chinesische Volk – derzeit 1,2 auf Distanz. Aus den USA unkte Chrys- Milliarden Menschen mit nur 40 000 ler-Chef Bob Eaton: „Ein Auto für 5000 Autos in Privatbesitz – zügig motorisiert Dollar – ich weiß nicht, wer daran ver- werden. Zur Jahrtausendwende sollen dienen will.“ Y A. BRADSHAW / SABA Porsche-Chef Wiedeking, Studie C88 in Peking: Familienauto für 8000 Mark

228 DER SPIEGEL 47/1994 Werbeseite

Werbeseite . PERSONALIEN

ünter Rexrodt, 53, trotz blüfften Franzosen eine bis- Gheftigen Widerstandes aus her unbekannte Seite seines Wirtschaft und eigener Partei Innenlebens. Der als trocke- wiederernannter Wirtschafts- ner Zahlenmensch geltende minister, erfreute sich nach Politiker schenkte der Repu- seiner Berufung durch den blik einen in der Ichform Kanzler zum Teil zweifelhaf- verfaßten Liebesroman. In ter Gratulationen. „Oh, da dem Werk (Titel: „Le Pas- kommt ja der neue Mini- sage“) paart Giscard seine ster“, begrüßte Grünen- Erfahrungen als Großwildjä- Fraktionschef Joschka Fi- ger („Nichts gleicht der Ma- scher den FDP-Politiker vor jestät eines Hirschen“) mit seiner Vereidigung vergange- zarter Erotik („Sie versan- nen Donnerstag launig im gut ken gemeinsam, lange“). besuchten Bundestagsrestau- Während rechte Blätter wie rant, „meinen Glück- Figaro und Paris Match die wunsch.“ Der überraschte literarische Neuentdeckung und sichtlich um ebensolche der Saison ehrfurchtsvoll in Jovialität bemühte Rexrodt großen Interviews sich selbst fragte zurück: „Von Her- deuten ließen („Ich wollte zen?“ Darauf Fischer: „Von schon immer schreiben“), Herzen natürlich nicht, son- verriß die liberale Tageszei- dern rein formell.“ Und tung Le Monde den „sehr dann, quer über die Tische akademischen Debütanten“. und zur Freude der Umsit- Nur eine „einzigartige Qua- zenden: „Ansonsten wünsch’ lität“, so das Weltblatt, sei ich jeden Mißerfolg.“ dem Romancier nicht abzu- MATRIX / FOCUS sprechen: „Sein totaler ireille Mathieu, 48, Mangel an Originalität.“

M französische Sängerin K. KUEHN / („Akropolis adieu“), machte Biddle Barrows argarita Mathiopoulos, sich als „Sonderbotschafte- M37, Bankdirektorin in rin Frankreichs“ auf den ydney Biddle Barrows, 43, wegen Kuppelei verurteilte ehe- Hannover und einstiger Weg nach Peking – in pro- Smalige Chefin eines New Yorker Callgirl-Rings, bringt ihre Schützling des verstorbe- minenter Begleitung. Die Erfahrungen in einer neuen Tätigkeit ein. Für den TV-Sender nen SPD-Vorsitzenden Willy Schnulzenkünstlerin flog America’s Talking berichtet sie aus dem Gerichtsverfahren ge- Brandt, ist rechthaberisch, vergangenen Montag mit ei- gen die Hollywood-Kupplerin Heidi Fleiss. „Wenn man einen wenn es um eigene Fehler ner Wachsnachbildung des Experten braucht, der einem den Kriegsverlauf darlegen soll“, geht. In der SPD-nahen Mo- verstorbenen früheren fran- erklärt Sydney Biddle Barrows ihren neuen Job, „dann nimmt zösischen Staatspräsidenten man einen pensionierten General.“ Sie sei zwar „kein Gene- Charles de Gaulle in die chi- ral“, schränkt die Schöne ein, die das Gewerbe angeblich nie nesische Hauptstadt. Dort selbst betrieb, „aber auf jeden Fall im Ruhestand“. wird die Puppe als Leihgabe in einem Pekinger Wachs- figurenkabinett ausgestellt werden. Im Gegenzug wol- dern bekamen wortreich im- len die Chinesen dem Pari- mer wieder mitgeteilt, daß ser „Muse´e Grevin“ einen der Chef persönlich am TRANSIT Mao Tse-tung aus Wachs Mikro saß. Pleitgen selbst

zukommen lassen. Mit hatte während seiner Repor- M. RÜCKER / dem Puppentausch begehen tage mit den Tücken zu Mathiopoulos Frankreich und die Volksre- kämpfen, die ihm aus seiner publik China den 31. Jahres- Pennälerzeit, als er sich mit natszeitschrift Neue Gesell- tag der Aufnahme diploma- Sportberichten für die Bün- schaft Frankfurter Hefte hat- tischer Beziehungen. dener Freie Presse das erste te die Bankerin, die schon Zeilengeld verdiente, noch mal als SPD-Sprecherin im ritz Pleitgen, 56, Hörfunk- in Erinnerung hätten sein Gespräch war, behauptet: Fdirektor des Westdeut- müssen: „Ich konnte die „Der Denker Ernst Nolte schen Rundfunks, erfüllte Spieler gar nicht auseinan- hat unlängst die Täter im sich einen „langgehegten derhalten. Die sahen alle so Gefängnis besucht, die sich Traum“. Vom Sportchef sei- gleich aus.“ für den Brand- und Mordan- nes Senders ließ er sich als schlag in Solingen vor Ge- Reporter für die Bundesliga- ale´ry Giscard d’Estaing, richt zu verantworten ha- Begegnung MSV Duisburg V68, vor 13 Jahren von ben.“ Der rechtslastige Hi- gegen den 1. FC Köln eintei- Franc¸ois Mitterrand abgelö- storiker antwortete mit einer len. So erfuhren Hörer der ster Staatspräsident, der Gegendarstellung. In einer Sendung „Tore, Punkte, trotz mäßiger Umfrageer- „Stellungnahme“ an die Re- Meisterschaft“ am vorletzten gebnisse von einer Rück- daktion bekannte die Schrei-

AFP Samstag nicht nur das Neue- kehr in den Elysee´-Palast berin: „Offenbar bin ich ei- Mathieu, de-Gaulle-Puppe ste aus der ersten Liga, son- träumt, enthüllte den ver- ner Falschmeldung aufgeses-

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sen.“ Doch Falschmeldung hin und her, klein beigeben wollte Margarita Mathiopou- Nerv los dann doch nicht: „Nach seinen jüngsten Äußerungen getroffen erscheint eine solche Demon- stration noch denkbarer.“

rnold Schwarzenegger, A47, und Sylvester Stal- lone, 47, Kraftprotze aus Hollywood und Geschäfts- partner, hüten eifersüchtig das Logo ihrer gemeinsamen Firma. Die beiden lassen, so fand die Londoner Times heraus, zwei kleine indische Restaurantbesitzer die Mus- keln spüren. Jamal Miah und sein Bruder Jitu hatten An- leihe genommen an dem Na- men Planet Hollywood, un- ter dem die schwergewichti- gen Männer aus der ameri- kanischen Filmstadt eine weltweite Kette gehobener ohannes Rau, 63, Ministerpräsi- Restaurants einrichten. Die Jdent von Nordrhein-Westfalen Miahs haben eine Betreiber- und derzeit Bundesratspräsident, firma namens Planet Bolly- kann nach der von ihm verlorenen wood gegründet, die dem- Wahl zum Bundespräsidenten wie- nächst in London ein erstes der über sich und andere scher- Restaurant eröffnen will. zen. So gebärdete sich Rau am Bombay, so die Begründung vergangenen Mittwoch in seiner für die Namensgebung, sei Laudatio auf die Preisträger des auch Filmstadt, vielleicht sogar die größte der Karikaturen-Wettbewerbs „Schöne Welt überhaupt. Solche indi- Aussichten“ gewohnt launig. Es schen Schlaumeiereien wol- sei „ein besonderes Gefühl“, wit- len die Schwarzenegger-Stal- zelte Rau im Bonner Haus der Ge- lone-Anwälte nicht gelten schichte, am evangelischen Buß- lassen: „Planet Bollywood und Bettag zum Geburtstag des würde das Ansehen von Pla- Apostolischen Nuntius, Erzbischof net Hollywood ins Lächerli- Lajos Kada, eilen zu müssen, wäh- che ziehen.“ Bollywood muß rend er bei den Cartoonisten an- weg. schließend noch „gutes Kabarett hören“ könnte. Aber als Bundes- ratspräsident und „zweiter Mann im Staat“ habe man seine Ver- pflichtungen, was allerdings kein Trost sei, „wenn man mal der er- ste werden wollte“. Immerhin wer- de er jetzt nicht mehr gefragt, ob er „der kommende Mann“ sei. Ge- winner des Wettbewerbs, der vom „zweiten Mann im Staat“ geehrt wurde, war der Karikaturist der Frankfurter Rundschau, Felix Mus- sil. Der hatte mit einer freundli- chen Zeichnung über den dritten Mann im Staat den Nerv der Jury getroffen: Bundeskanzler Helmut Kohl sitzt auf einem freischweben- den Regierungssessel, der von ei- nem zum Stuhlbein zusammenge- schnurrten Koalitionspartner Klaus Kinkel gestützt wird. ALL ACTION / INTER-TOPICS Stallone, Schwarzenegger

DER SPIEGEL 47/1994 231 .. REGISTER

Gestorben Tennessee als 20. von 22 Kindern und zunächst behindert durch Kinderläh- Lia Wöhr, 83. Gemeinsam mit Bembel- mung – endgültig die Krankheit über- Bajazzo Heinz Schenk machte sie als wunden. Gefeiert wurde sie als „schwar- redselige Ebbelwoi-Wirtin in den sechzi- ze Gazelle“, 1974 wurde sie in die Hall ger und siebziger of Fame der großen Leichtathleten auf- Jahren den „Blauen genommen und herumgereicht als le- Bock“ zum beliebte- bender Beweis für die Aufhebung der sten Freiraum für Rassengrenzen in den USA. „Ich bin hessische Mundart mißbraucht worden“, klagte die Sprinte- im Deutschen Fern- rin später. Doch im vergangenen Jahr sehen. Doch da war ließ sie sich wieder einspannen. Diesmal das Rollenklischee als Olympia-Botschafterin für Berlin, von der Dialekt-Du- als Symbol für das tolerante, neue se schon längst ze- Deutschland. Wilma Rudolph starb am mentiert. In der Se- 12. November in Nashville (US-Staat rie „Familie Hessel- Tennessee) an Krebs. bach“, in schwarz-

weißer TV-Frühzeit, HIPP-FOTO Michael Buthe, 50. Gold und Silber reg- hatte Lia Wöhr die nete es mitunter auf den psychedelisch- forsche Putzfrau Siebenhals gespielt, verspielten Bildern ein typisch hessisches „Schlappmaul“ des deutschen Ma- mit Scheuermittel-Charme und spitzer lers, der sich gern der Zunge. Die Schauspielerin, Tochter ei- glitzernden Verlok- nes Frankfurter Bäckermeisters, war in kung von Kitsch und Wirklichkeit weitaus vielseitiger, als ihr Tand hingab. Aus Image der biederen Volksschauspiele- Kreisen, Spiralen, rin zuließ: Sie inszenierte Opern, war Sternen und Zacken Chansonsängerin auf der Kabarett- schuf Buthe, der früh Bühne, produzierte neben Ballett- und seine Leidenschaft B. KATZ Quizsendungen auch den „Blauen für die islamische Or- Bock“ und die „Familie Hesselbach“ namentik entdeckt hatte, einen flitter- und arbeitete als Redakteurin beim bunten Privatkosmos, in dessen Mittel- Hessischen Rundfunk. Lia Wöhr starb punkt er selbst stand: als orientalischer am Dienstag vergangener Woche in Märchenprinz, als Magier der Farben Frankfurt. und des Lichts. Nach einem erfolgrei- chen Karrierestart – Documenta-Teil- Wilma Rudolph, 54. Sie war schön, lief nahme 1972 – fand Buthe, der im Rhein- spielerisch leicht und verkörperte zu- land und lange Zeit abwechselnd auch in gleich einen überaus harten Willen. Marrakesch lebte, als sanfter Spinner Mit ihren Siegen, den drei Goldme- seinen Stammplatz am Rand der deut- daillen bei den Olympischen Spielen schen Kunstszene. Michael Buthe starb von Rom und ihren fünf Weltrekorden am Dienstag vergangener Woche an ei- hatte Wilma Rudolph – geboren in nem Leberleiden.

Ehrung

Carola Stern, 69. Die Kölner Journali- stin wurde am Sonntag vorletzter Woche in Darmstadt für ihr Engage- ment um verfolgte Schriftsteller mit der Hermann-Kesten- Medaille des west- deutschen Pen-Zen- trums geehrt. In ihrer Dankesrede erinner- te die Publizistin an die mittlerweile 1800

Autoren, die auf- A. SCHIFFER-FUCHS grund der „fürchterli- chen Bedrohung des moslemischen Fun- damentalismus“ gezwungen wurden, ih- re Heimatländer zu verlassen. Sie warn- te auch vor dem kompromißlosen Fest- halten an Dogmen, was immer sichtba- rer würde, etwa im amerikanischen Pro- testantismus, aber auch in den Grund-

TIME LIFE sätzen des Vatikans. Werbeseite

Werbeseite .

21. bis 27. November 1994 FERNSEHEN

MONTAG 1.10 – 2.35 Uhr ARD geheiratet hat, und einen Entwicklung von Individuali- 15.03 – 15.30 Uhr ARD Sohn, der ihm feindselig ge- tät unmöglich macht. Der ge- Nicht fummeln, Liebling! genübersteht. Nach anfäng- spenstische Trip, mehrfach Herzklopfen May Spils zweite Komödie licher Wiedersehensfreude mit Preisen ausgezeichnet, Zweite Staffel einer Flirt- (BRD 1970) mit Werner En- zeigt sich, daß die Auferste- weckt kein falsches Mitleid, show für 13- bis 16jährige: ke gilt als schwaches Remake hung des Totgesagten für alle sondern schockiert. Wer die Kennenlern-Auto- Beteiligten ein Unglück ist. matik des Lebens nicht lernt, Einen Traum erfüllt sich der 23.50 – 1.10 Uhr ZDF braucht die Fernseh-Kuppe- späte Heimkehrer: Er kauft lung. einen blütenweißen Porsche Überall ist es besser, wo Spyder. „Aber“, so die Süd- wir nicht sind 20.15 – 21.50 Uhr 3Sat deutsche Zeitung, „er findet Darum träumt der Pole Jerzy keinen Weg zurück. Wie ein von New York. Aber Berlin Nach uns die Sintflut Sarg wirkt das Gefährt in ist näher und billiger, und in Road-Movie (USA 1989, Re- manchen Momenten. Das ist Berlin trifft er Ewa wieder, gie: Christian Faber) über ein das Entsetzlichste in diesem die er am Tag vor seiner Ab- Gangster-Pärchen, das sich Film: daß nicht einmal Träu- reise in Warschau kennen- schrecklich langweilt und sei- me als Trost taugen.“ lernte. Als sie ihn verläßt, ne Zeit am liebsten im Bett hält es ihn nicht länger in sei- verbringt, selbst wenn drau- ner Asylanten-Baracke. Jer- 20.40 – 21.45 Uhr Arte ßen vor dem Fenster ein zy fährt nach Amerika. In ei- Flugzeug abstürzt. Erst ein Transit ner polnischen Bar in New astronomisches Ereignis York trifft er Ewa, denn In mehreren Beiträgen be- bringt beide auf Trab: Eine „viel weiter westwärts geht es richtet das Magazin über Sonnenfinsternis, die nicht nicht“. Michael Kliers Film- „Osteuropa draußen vor der mehr aufhören will, er- essay von 1989 mit Miroslaw Tür“, auf der Warteliste zum schreckt das Paar zu Tode Baka („Ein kurzer Film über Eintritt in die EU. Eine

und bringt so den Akteuren KINDERMANN das Töten“) bekam viel Lob. Reportage beschäftigt sich (B. J. Spalding, Eszter Ba- Enke, Weitershausen mit der „neuen Mauer“, wel- lint) neues Leben. Die Zeit: che die Grenze zwischen „Der Stil des Films hat etwas von „Zur Sache Schätzchen“. MITTWOCH Deutschland und seinen östli- Unentrinnbares: das Bewußt- Wie im Erstling albert Enke chen Nachbarn darstellt. Der 20.15 – 23.15 Uhr RTL sein, daß alles schon dagewe- „abgelascht“ und ausgebufft Präsident der Tschechischen sen ist. Das enthebt ihn aller durch Schwabinger Cafe´s, Fußball Republik, Va´clav Havel, Bedeutsamkeit, macht ihn zu Mansarden und Betten, legt In der Champions League nimmt in einem Interview zur einem schwerelos-heiteren die doofe Polizei herein und wuchsen bisher die Champi- Zurückhaltung der EU ge- Spiel mit Bildern und Ge- bekennt sich, Zeitkritik muß- gnons der Langweilerklasse genüber Osteuropa Stellung. sten.“ te sein, zu einer Brandstifter- „Unentschieden“ (bisher 12 Kommune. Als philosophie- Stück bei 32 Spielen). Heute 20.40 – 22.25 Uhr Arte render Penner streift er 21.15 – 22.35 Uhr Südwest III treffen die Bayern zu Hause durch den Englischen Garten auf Paris St. Germain. Das Frühlingserzählung und macht für seine Gila Langer Gang Hinspiel verlor die Trapatto- Wie in allen Eric-Rohmer- (Gila von Weitershausen) Yilmaz Arslans Film spielt in ni-Truppe mit 0:2. Filmen haben auch in diesem Männchen im Getreidefeld. einem Rehabilitationszen- (Frankreich 1990) Siechtum trum für körperbehinderte 20.15 – 21.44 Uhr ARD und Tod keinen Platz, auch Kinder und Jugendliche. In die Arbeit ist allenfalls ein DIENSTAG bestürzenden Bildern und Schwarz Rot Gold Konversationsthema. Statt 20.15 – 22.05 Uhr RTL 2 Szenen wird der Zuschauer Zollfahnder Zaluskowski dessen begleitet die Komödie mit einem Ghetto konfron- (Uwe Friedrichsen) im vier Figuren durch vier Woh- Welcome Home – Ein tiert, dessen Größe, Archi- Kampf gegen illegale Videos nungen und dann in ein Toter kehrt zurück tektur und Uniformität die aus Ostasien. Landhaus bei Fontainebleau. An der Premiere seines Films Und wie immer bei Rohmer konnte Regisseur Franklin J. geht es um die Schleichwege Schaffner („Papillon“, „Pla- der Liebe, um gesellschaftli- net der Affen“) nicht mehr che Konventionen – und um teilnehmen. Er starb im Juli die Lust, unendlich viel dar- 1989. Auch in diesem Viet- über zu reden. nam-Heimkehrer-Melodram geht es, wie oft bei Schaffner, 21.00 – 21.40 Uhr ARD um einen Mann, dem im Strom der Geschichte die ei- Report gene Vergangenheit abhan- Aus Baden-Baden. Weißer den gekommen ist. Nach 17 Ring – wieviel Spenden kom- Jahren kommt der über men bei den Opfern an? / Ste- Kambodscha abgeschossene fan Heym – im Zwielicht Pilot Robbins (Kris Kristof- durch neue Vorwürfe / Frau- ferson) in die USA zurück.

enquote: die Konservativen Er findet eine ratlose Ehe- SÜDWESTFUNK auf Emanzentrip. frau, die inzwischen wieder Szenenfoto aus „Langer Gang“

234 DER SPIEGEL 47/1994 .

man bietet mit diesem Film KIOSK (Großbritannien 1987) ein kleines Meisterwerk zwi- schen Komödie und Tragö- Sichtbarer die, das die Süddeutsche be- geisterte: „ ,Hope and Glory‘ Hörfunk ist kein Kriegs-, kein Anti- Drei große Privatsender kriegs- und auch kein Histo- gründen zusammen mit rienfilm. Der Regisseur erin- dem Staatsriesen Tele- nert sich an Bilder, Träume, kom eine Gesellschaft, Phantasien. Nicht an Gewiß- die Radio zum Zuschau- heiten. Mag sein, daß die en entwickeln soll. Die Wahrheit über den Zweiten Deutsche Datenrundfunk Weltkrieg in den Geschichts- GmbH aus Oberhausen büchern steht. Boormans Ki- entwickelt sogenannte no setzt, dazwischen, die Fra- Mehrwertdienste, bei de- gezeichen – und die Gedan-

nen die Hörer parallel NDR kenstriche.“ zum Radiokonsum über Szenenfoto aus „Lipstick On Your Collar“ Monitor oder Drucker bei- spielsweise Plattenco- 22.10 – 23.10 Uhr Nord III Doch die lassen sich über die ver, Börsenkurse, Stel- Lipstick On Your Collar gesamte Länge der schrillen lenanzeigen, Wetterkar- Komödie (USA 1939) nicht ten oder Staunachrichten Dennis Potter, im Juni ver- blicken. Lediglich hinter der lesen können. An der storbener britischer Filmau- Kamera stand einer. Regis- neuen Technikschmiede tor, war Spezialist für Fern- seur George Cukor meinte für digitalen Hörfunk sind sehspiele, in denen es um später über die nervenaufrei- Radio Hamburg, Antenne verschiedene Wirklichkeits- bende Arbeit mit 135 Schau- Bayern und Radio NRW ebenen geht. In „Pennies spielerinnen: „Ein Zirkus beteiligt, eine mächtige from Heaven“ (1981 von war’s, und ich mußte den Lö- Zulieferfirma für die Herbert Ross fürs Kino in- wenbändiger spielen.“ szeniert) versucht, ein No- tenvertreter die Träume, die er verkauft, zu leben, um die DONNERSTAG wirtschaftliche Misere der dreißiger Jahre zu vergessen. 20.15 – 21.15 Uhr ZDF In „The Singing Detective“ Entweder Oder NDR kämpfte der Groschenkrimi- Wer sich überwindet, den Darsteller Sebastian Rice-Edwards Autor Philip E. Marlow mit kann Moderator Fritz Egner Krankheit und Lebenskrise in dieser neuen Show beloh- FREITAG zu populären Liedern der nen. Heute hüpft ein sprung- 20.15 – 21.59 Uhr ARD vierziger Jahre. Dieser sechs- scheuer Schwimmkampfrich- teilige britische TV-Film in ter vom Fünf-Meter-Turm, Gefährliche Spiele Originalfassung mit deut- eine Hausfrau, der sonst Zweiteiler (Fortsetzung: schen Untertiteln (Folge 2: schon im Sessellift schwin- Sonntag 20.15 Uhr) über ei- nächsten Mittwoch) stellt den delt, stürzt sich mit dem Fall- nen Killer (Nathaniel Parker) Abschluß der Trilogie dar. J. EIS schirm in die Tiefe, und ein und eine schöne Geliebte Clement Er spielt kurz vor der Suez- Taxifahrer muß mit der Rik- (Gudrun Landgrebe). Siehe Krise 1956 im Kriegsministe- scha seine Fahrgäste 25 Kilo- Seite 198. nordrhein-westfälischen rium, wo ältere Offiziere und meter durchs Bergische Land jüngere Soldaten Funksprü- Lokalfunkstationen. Ju- transportieren. Die Sieger 20.15 – 22.20 Uhr Sat 1 niorpartner ist die che der Sowjets überwachen. der Prüfungen haben die Münchner Firma Telebild, Soldat Mick Hopper (Ewan Chance, 55 555 Mark zu ge- In Sachen Henry deren Miteigentümer McGregor) träumt von einer winnen. Ein eiskalter New Yorker Er- Eckhart Haas zusammen Karriere als Rockmusiker. folgsanwalt (Harrison Ford) Seine Juke-Box-genährte mit einem Radio-NRW- 21.00 – 21.40 Uhr ARD geht Zigaretten holen, wird Manager die Geschäfts- Phantasie verwandelt den Zeuge eines Raubüberfalls führung übernimmt. Arbeitsplatz gelegentlich in Kontraste und bekommt einen Kopf- Wolfgang Clement, Chef eine Bühne. Dann tanzen die Themen: Die Rolle der KPD schuß, durch den er sein Ge- der nordrhein-westfäli- angegrauten Vorgesetzten im KZ Buchenwald / Brauner dächtnis verliert. Mit rühren- schen Staatskanzlei, will gelenkig zu Melodien von El- Dreck per Video: Nazi-Pro- der Hilfe seiner Familie und das Unternehmen näch- vis Presley, Connie Francis paganda für Jugendliche. lauter netter Leute in der Re- ste Woche persönlich und Fats Domino. ha-Klinik kommt er wieder vorstellen. Die Landesan- 0.50 – 2.40 Uhr ARD auf die Beine. Nicht als An- stalt für Rundfunk hat 23.15 – 1.25 Uhr 3Sat walt, aber als von allem Yup- parallel eine Arbeitsgrup- Hope and Glory – Der pietum geläuterter Mensch. pe zur Nutzung der neuen Die Frauen Krieg der Kinder Die Story von Mike Nichols Dienste gegründet. . . . klatschen und tratschen Krieg aus der Sicht der Kin- Film (USA 1991) klingt nicht natürlich über eins: Männer. der – Regisseur John Boor- nur nach Schnulze, das Stück

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ist eine: Amerika soll – so die lesbisch nähert. Eine scheue Andrews Frau durchgegan- Ideologie – nach den raff- Romanze mit einem älteren gen) in eine tödliche Falle. DIENSTAG süchtigen Reaganomics wie- verheirateten Rabbi endet in Doch der – noch nicht so 23.10 – 23.40 Uhr Sat 1 der eine Familie werden. Unverbindlichkeit. Der Film ganz tot – rächt sich. Ein SPIEGEL TV besticht durch lässigen Tüftelkrimi. REPORTAGE Humor und scheinbar ab- 20.15 – 22.25 Uhr Pro 7 Seit drei Jahren boomt der sichtslose Genauigkeit. 22.25 – 23.40 Uhr ARD neue deutsche Schön- Das Schlafzimmerfenster Happy Birthday, Bavaria! heitswettbewerb „Das Ge- sicht des Jahres“ unter Ein junger Angestellter SAMSTAG Feierliche Gala aus der be- der Leitung eines Ex-Os- (Steve Guttenberg) verbringt 16.10 – 17.10 Uhr ZDF rühmten Münchner Film- sis. Joachim Zielisch, mit der Frau seines Chefs werkstatt mit lauter Matro- Tabaluga & Lilli einst Begründer der Ost- (Isabelle Huppert) in einem nae Bavariae: Hilde Knef, Berliner „Mode-Kommo- Appartement eine Liebes- Zu den 90 ausverkauften Lilo Pulver, Hanna Schygul- de“, hat die Ware Schön- nacht. Die Frau beobachtet Konzerten in Deutschland la, außerdem Götz George heit zur größten Model- vom Fenster aus einen Sexu- pilgerten 650 000 Zuschauer und andere Gratulanten. Show Europas gemacht. almörder. Um einen Skandal jeden Alters. So wurde Pe- zu vermeiden, stellt sich der ter Maffays Rockmärchen junge Mann als Zeuge zur eines der erfolgreichsten SONNTAG MITTWOCH 22.05 – 22.45 Uhr Vox Verfügung, nachdem ihn die Musicals in diesem Jahr. 20.15 – 22.10 Uhr Sat 1 Geliebte gebrieft hat. Doch Dutzende von Broadway- Yukon SPIEGEL TV THEMA Eine heruntergekommene Jenseits der Scham? Erika Bande von Glücksrittern de- Berger, Matthias Frings lektiert sich in der kanadi- und Ernie Reinhardt disku- schen Wildnis an einem bluti- tieren über TV-Sex. gen Ritual: Man hetzt Jagd- hunde aufeinander. Doch FREITAG dann erscheint der unwider- 21.55 – 22.25 Uhr Vox stehlich edle Trapper mit den SPIEGEL TV zusammengekniffenen Au- INTERVIEW gen – gespielt von Charles Bronson, wem sonst? – und Thomas Anders: Zusam- befreit ein verletztes Tier. men mit Dieter Bohlen Die Bösewichte mißgönnen kreierte er das Soft-Pop- dem wilden Tierfreund die Duo „Modern Talking“. gute Tat, stellen ihm eine Seit acht Jahren ist An- Falle, doch der Trapper er- ders Solist. SPIEGEL TV INTERVIEW sprach mit An- U. REIMER schießt einen seiner Verfol- „Schlafzimmer“-Paar Huppert, Guttenberg ger. Das ruft den Polizeiser- ders über Trennungs- geanten Millen (Lee Marvin) schmerz. vor Gericht platzt das Manö- Tänzern wirken in dieser auf den Plan, und der – ge- ver, der falsche Zeuge gerät Geschichte vom kleinen nauso einsamkeitsverliebt SAMSTAG in schwerste Nöte. An Curtis Drachen Tabaluga (gesun- wie die Bronson-Figur – lie- 22.00 – 23.40 Uhr Vox Hansons Film (USA 1986) gen von Peter Maffay) mit, fert sich mit dem Trapper ei- störte die Kritik das dröhnen- der von seinem Vater in die ne spannende Verfolgungs- SPIEGEL TV SPECIAL de Action-Finale, mit dem Welt geschickt wird. Der jagd durch die Polareinöde. Aus dem Innenleben einer der spannende Anfangsplot a` zweite Teil ist am Sonntag Peter Hunt inszenierte diesen Sekte. Sie nennt sich la Hitchcock verschenkt wor- um 16.10 Uhr zu sehen. Da- technisch perfekten weißen „Kinder Gottes“, hat Tau- den sei. vor (15.45 Uhr) läuft ein Western (USA 1980). sende von Mitgliedern Bericht über die Vorberei- und nutzt ihre Gläubigen physisch und psychisch 0.05 – 1.25 Uhr ZDF tungen des Stückes. 23.15 – 0.15 Uhr ARD aus. Girlfriends Tatort Schule 20.15 – 22.00 Uhr Vox Die Geschichte vom Alltag Andrea Morgenthaler inter- Mord mit kleinen Fehlern SONNTAG der jungen New Yorker Fo- viewte in München gewalttä- 21.55 – 22.30 Uhr RTL tografin Susan (Melanie Brillanter Kinospaß (Groß- tige Jugendliche und stellte Mayron) ist Claudia Weills britannien 1972) von Joseph bei ihnen das Gefühl fest, SPIEGEL TV MAGAZIN Erstling (USA 1978). Als ih- L. Mankiewicz nach einem „mit dem Rücken zur Wand Persilschein für Gaddafi? re Freundin Anne aus der ge- Bühnenstück von Anthony zu stehen“. „Nachmittags“, – Streit um einen mit liby- meinsamen Wohnung aus- Shaffer. Zwei Männer sagt die Autorin, „sind diese schen Geldern finanzier- zieht, um zu heiraten, schlägt (Laurence Olivier, Michael Kinder meist sich selbst über- ten Film / Verschleppt, sich Susan mit Aufträgen für Caine) spielen ein „blutiges lassen. Sozialpädagogen tre- vergewaltigt, zur Prostitu- jüdische Hochzeiten und Spiel“: Erst bastelt sich der ten dafür ein, daß die Schule tion gezwungen – der Lei- Bar-Mizwa-Festen durch. soignierte Krimi-Autor An- hier neue, soziale Aufgaben densweg einer Thailände- Perspektivlos treibt sie durch drew (Olivier) ein perfektes übernehmen muß. Aber ge- rin in Deutschland / Ver- den Alltag. Sie nimmt ein Mord-Alibi und lockt seinen rade die Schulen haben mir mißt in Vietnam – auf den Mädchen auf, wirft es aber jüngeren und ärmeren Ne- jede Dreherlaubnis verwei- Spuren einer Legende. wieder hinaus, als es sich ihr benbuhler Milo (er ist mit gert.“

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Aus den BGZ-Nachrichten, herausge- Der SPIEGEL berichtete . . . geben vom Bildungs- und Gesundheits- zentrum: „Ziel ist die Analyse und Pro- . . . in Nr. 43/1994 STRAFVOLLZUG – gnose der Qualifizierungsanforderungen DIE GALEERE DER TERRORISTIN über die zur Vorbereitung konkreter Maßnah- Haft und die bevorstehende Freilassung men im Rahmen dynamischer Program- der früheren RAF-Terroristin Irmgard Möl- mierung sowie die landesweite Vermitt- ler. lung und der Transfer der in den Bil- dungs- und Gestaltungsmaßnahmen ent- Vergangenen Donnerstag hat die Straf- wickelten Modelle und Curricula in vom vollstreckungskammer des Landgerichts Programm angestoßenen, selbsttragen- Lübeck die Freilassung der am längsten den Kooperationsbeziehungen.“ inhaftierten deutschen Terroristin ver- fügt. Entscheidend war für die Lübecker Y Richter die schlechte Gesundheit der seit über 22 Jahren im Gefängnis einsitzen- den Frau sowie deren persönliche Ent- wicklung, „die eine leicht eingeschränk- te, aber erklärbare, ernstgemeinte Ab- kehr von der Gewalt beinhaltet“. Möller war nach einem Sprengstoffanschlag auf das US-Hauptquartier in Heidelberg 1972 wegen dreifachen Mordes zulebens- langer Haft verurteilt worden. Ausführlich setzten sich die Richter in ih- rem Beschluß mit einem Interview aus- einander, das SPIEGEL-Redakteure im Mai 1992 (Nr. 21/1992) mit der Gefange- Aus der Leipziger Volkszeitung nen geführt haben. Darin hatte sie ihre Abkehr von der Gewalt bekundet, aber Y keine Reue erkennen lassen und die Aus der Brigitte: „Denn die Arbeit von RAF-Anschläge als „legitim“ bezeich- Tatjana, dem dicken Andrej, von Swet- net. lana und den anderen gilt als ungeneh- Dennoch zeigten die Richter Verständnis migter Straßenhandel, und der ist in für den „moralischen Rigorismus“ der Rußland verboten.“ Verurteilten. Die Ex-Terroristin, eine Symbolfigur der extremen Linken, stek- Y ke in einer psychischen Zwangssituation. Ein Abschwören würde von ihren Sym- pathisanten als Verrat angesehen, dessen sich die Ex-RAF-Frau nicht bezichtigen lassen wolle. Irmgard Möller wird vor- aussichtlich am 1. Dezember freikom- men, wenn die zuständige Heidelberger Aus dem Amtsblatt des Landes Hessen Staatsanwaltschaft nicht innerhalb einer Woche widerspricht. Y Aus dem Trierischen Volksfreund: . . . in Nr. 45/1994 RUSSLAND – ES BE- „Wegen der Eier überwogen auf Mur- GANN MIT EINEM MORD über die explo- nau unter den Hühnern die Hennen.“ sive Stimmung in den Kasernen und ei- Y ne Sinus-Umfrage für den SPIEGEL. Ver- Aus den Ostfriesischen Nachrichten: teidigungsminister Pawel Gratschow äu- „Beim Jubiläumsgottesdienst hielt Pa- ßerte sich dazu in einem Interview der stor Michael Stanke die Predigt. Er for- Moskauer Fernsehsendung „Itogi“. derte die 64- und 65jährigen Jubilare TV-Redakteur Kisseljow: Sie weigern und die übrigen Anwesenden auf, ihre sich also zu glauben . . . Sexualität nicht ungezügelt auszuleben. Ebenso falsch sei es jedoch, in der Ehe Gratschow: . . . genau . . . vollkommen enthaltsam zu sein oder Kisseljow: . . . daß diese Umfrage über- sich gar scheiden zu lassen. haupt durchgeführt worden ist? Y Gratschow: Ja, ich weigere mich, und ich habe angeordnet, daß ausländische So- ziologen für Meinungsumfragen unter russischen Militärs künftig nicht zu den Einheiten gelassen werden. Wir haben genügend sachkundige Soziologen in Rußland, die nicht schlechter als die Deutschen jede soziologische Forschung Aus dem Pinneberger Tageblatt durchführen können.

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