Plenarprotokoll 12/185

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Deutscher

Stenographischer Bericht

185. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Inhalt:

Gedenkveranstaltung des Deutschen Bun Zusatztagesordnungspunkt 1: destages am 9. November 1993 15951 A Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Klaus Kirschner, Karl Hermann Bestimmung des Abgeordneten Hans Peter Haack (Extertal), Dr. Hans-Hinrich Schmitz (Baesweiler) als ordentliches Mit- Knaape, weiterer Abgeordneter und der glied im Vermittlungsausschuß 15951 B Fraktion der SPD: Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (Drucksa- Erweiterung der Tagesordnung 15951 B che 12/5975)

Absetzung des Punktes 14 b von der Tages in Verbindung mit ordnung 15951 D Zusatztagesordnungspunkt 2: Begrüßung der ungarisch- deutschen Parla- mentariergruppe der Nationalversamm- Beratung des Antrags der Abgeordne- lung der Republik Ungarn 15979 B ten Klaus Kirschner, Karl Hermann Haack (Extertal), Dr. Hans-Hinrich Zur Geschäftsordnung: Knaape, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Einsetzung einer Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . . . 15951D unabhängigen Expertenkommission Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 15953 A (Drucksache 12/5974) Dr. F D P 15954 B Dr. Paul Hoffacker CDU/CSU 15956B Dr. PDS/Linke Liste . . 15954 D Klaus Kirschner SPD 15959A Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15955A Dr. Paul Hoffacker CDU/CSU 15959B, 15978D, 15980B Tagesordnungspunkt 4: Dr. Dieter Thomae F.D.P. . . 15959D, 15969C a) Vereinbarte Debatte: HIV-Infektions- gefährdung durch Blutprodukte Dr. Bruno Menzel F D P 15961 D b) Beratung des Antrags der Abgeordne- Dr. PDS/Linke Liste . . 15964 C ten Dr. , Ul rich Adam, Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE , weiterer Abgeord- GRÜNEN 15966C neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Gisela , Bundesminister BMG . 15968B Babel, , Hans A. Engelhard, (Fürth) F.D.P. . . . . . 15974 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Einsetzung eines Untersu- Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD . . 15974D, chungsausschusses: HIV-Infektionsge- 15982 C fährdung durch Blut und Blutprodukte Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) frak- (Drucksache 12/6035) tionslos 15975 C in Verbindung mit Wolfgang Zöller CDU/CSU 15976 C

II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Gudrun Schaich-Walch SPD 15977 C Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): - Karl Hermann Haack (Extertal) SPD . . 15979C Fragestunde — Drucksache 12/5962 vom 22. Oktober Horst Seehofer CDU/CSU 15980 D 1993 — Verantwortung des iranischen Geheim- Tagesordnungspunkt 5: dienstministers Fallahian für die Morde an iranischen Oppositionellen; Verbesserung Beratung der Großen Anfrage der Abge- der Beziehungen zum Iran nach Aufhe- ordneten , Konrad Gilges, bung der Morddrohungen gegen Salman Gerlinde Hämmerle, weiterer Abgeord- Rushdie neter und der Fraktion der SPD: Situa- tion ausländischer Jugendlicher im Bil- MdlAnfr 17 dungs- und Ausbildungssektor und ihre Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Integrationschancen in unserer Gesell- Antw PStSekr BMJ . . . . 16005 D schaft (Drucksachen 12/2858, 12/4986) ZusFr Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Doris Odendahl SPD 15983 A NEN 16006A ZusFr Norbert Gansel SPD 16006 D Wolfgang Meckelburg CDU/CSU . . . 15984 B ZusFr Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD . 16007B Doris Odendahl SPD 15985 C Gesetzliche Maßnahmen zur Verhinderung PDS/Linke Liste 15985 D einer Diskriminierung von Behinderten durch Reiseveranstalter Cornelia Schmalz-Jacobsen F.D P 15986 C MdlAnfr 19 Dr. , Parl. Staatssekretär Hubert Hüppe CDU/CSU BMBW 15988 B Antw PStSekr Rainer Funke BMJ . . . 16007 B Siegfried Vergin SPD 15989 C ZusFr Hubert Hüppe CDU/CSU 16007 D Margot von Renesse SPD 15989 D ZusFr Lieselott Blunck (Uetersen) SPD 16008B Maria Eichhorn CDU/CSU 15991 B ZusFr Antje-Marie Steen SPD 16008 C Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 15992 B Unterzeichnung des Grundlagenvertrages zur Ausgliederung der DB-Fährlinie „Vo- gelfluglinie Puttgarden" aus dem DB - Bereich; Dienstleistungsüberlassungsver- Tagesordnungspunkt 6: träge für die Beschäftigten durch die Deut- — Zweite und dritte Beratung des von der sche Fährgesellschaft Ostsee Bundesregierung eingebrachten Ent- MdlAnfr 46, 47 wurfs eines Gesetzes zur Neuordnung Antje-Marie Steen SPD des Familiennamensrechts (Familien- namensrechtsgesetz) (Drucksache 12/ Antw PStSekr BMV . 16008D, 3163) 16009 D ZusFr Antje-Marie Steen SPD . . . . 16009A, D — Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Ent- Schwierigkeiten beim Bau der zweiten Kie- wurfs eines Gesetzes zur Reform des ler Kanalbrücke durch Beteiligung auslän- Namensrechts von Ehe, Familie und discher Subunternehmen Kindern (Namensrechtsreformgesetz) MdlAnfr 49 (Drucksachen 12/617, 12/5982) Norbert Gansel SPD Joachim Gres CDU/CSU 15993 C Antw PStSekr Manfred Carstens BMV 16010A Margot von Renesse SPD 15996 C ZusFr Norbert Gansel SPD 16010B ZusFr Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD Burkhard Zurheide F.D.P 15998 C 16010D ZusFr Jürgen Koppelin F.D.P...... 16010D Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) frak- tionslos 15998 D Verhalten des Bundespost- und des Bun- desverkehrsministers gegenüber dem Ver- Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 16000 B kehrsminister von Taiwan anläßlich dessen Herbert Werner (Ulm) CDU/CSU . . . 16001 B Besuchs in Deutschland MdlAnfr 50 Dr. Marliese Dobberthien SPD 16002 B Ortwin Lowack fraktionslos Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Antw PStSekr Dr. Paul Laufs BMPT . . . 16011B Bundesministerin BMJ 16003 B ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos . . . 16011C Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD . . . 16004 B ZusFr Jan Oostergetelo SPD 16012A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 III

Schließung von Postämtern im Zuge der 9. Oktober 1992 zwischen der Bundes- Postreform; Rücknahme von Schließungs- republik Deutschland und den Europäi- plänen aufgrund der Proteste von Kommu- schen Gemeinschaften fiber die Durch- nen und Bevölkerung führung des Artikels 11 des An- MdlAnfr 52, 53 hangs VIII des Statuts der Beamten der (Druck- SPD Europäischen Gemeinschaften sache 12/4468) Antw PStSekr Dr. Paul Laufs BMPT . . 16012C ZusFr Gernot Erler SPD 16012D c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines ZusFr Wieland Sorge SPD 16013 D Gesetzes fiber den Beitritt der Griechi- ZusFr Lieselott Blunck (Uetersen) SPD 16014A schen Republik zur Westeuropäischen ZusFr Susanne Kastner SPD 16014 B Union und fiber die assoziierte Mit- gliedschaft der Republik Island, des ZusFr SPD 16014 D Königreichs Norwegen und der Repu- ZusFr CDU/CSU 16015B blik Türkei in der Westeuropäischen ZusFr CDU/CSU . . . 16015C Union (Drucksache 12/5439) Zusatztagesordnungspunkt 3: d) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- Ersten Gesetzes zur Änderung des desregierung zur Äußerung des Bun- Gesetzes fiber die Nichtanpassung von deskanzlers fiber den „kollektiven Amtsgehalt und Ortszuschlag der Mit- Freizeitpark Bundesrepublik Deutsch- glieder der Bundesregierung und der land" im Hinblick auf drohende Ar- Parlamentarischen Staatssekretäre in beitslosigkeit in den Regionen Main- den Jahren 1992 und 1993 (Drucksache Rhön/Schweinfurt, Thüringen/Zella 12/5830) Mehlis, Leipzig Dr. Uwe Jens SPD 16015D e) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines CDU/CSU 16016D Gesetzes zur Änderung des Verschol- Hermann Rind F.D.P. 16018B lenheitsgesetzes (Drucksache 12/5832) Dr. PDS/Linke Liste . . . 16019B f) Erste Beratung des von der Bundesre- , Bundesminister BK . . 16020 B gierung eingebrachten Entwurfs eines SPD 16021 D Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. Juli 1992 zwischen der Bundesrepu- Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . . 16023A blik Deutschland und dem Königreich Dr. Christoph Schnittler F.D.P. . . . . 16024 A Schweden zur Vermeidung der Doppel- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 16025B besteuerung bei den Steuern vom Ein- kommen und vom Vermögen sowie bei Iris Gleicke SPD 16026 C den Erbschaft- und Schenkungsteuern Heinz-Adolf Hörsken CDU/CSU . . . 16027C und zur Leistung gegenseitigen Bei- Susanne Kastner SPD 16028 D stands bei den Steuern (Deutsch-schwe- disches Steuerabkommen) (Drucksache Volker Kauder CDU/CSU 16029 D 12/5838) Erich G. Fritz CDU/CSU 16031A g) Erste Beratung des von der Bundesre- Hans Büttner (Ingolstadt) SPD (Erklärung gierung eingebrachten Entwurfs eines nach § 32 GO) 16032B Gesetzes zu dem Übereinkommen vom Volker Kauder CDU/CSU (Erklärung nach 18. Juni 1992 zur Revision des Über- § 32 GO) 16032C einkommens fiber die Gründung ei- nes Europäischen Hochschulinstituts Tagesordnungspunkt 17: (Drucksache 12/5839) Überweisungen im vereinfachten Verf ah- ren h) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines a) Erste Beratung des von der Bundesre- Gesetzes zu dem Übereinkommen vom gierung eingebrachten Entwurfs eines 26. Mai 1989 fiber den Beitritt des Gesetzes zur Änderung des Beam- Königreichs Spanien und der Portugie- tenversorgungsgesetzes, des Solda- sischen Republik zum Übereinkommen tenversorgungsgesetzes sowie sonsti- fiber die gerichtliche Zuständigkeit und ger versorgungsrechtlicher Vorschrif- die Vollstreckung gerichtlicher Ent- ten (BeamtVGAndG 1993) (Drucksache scheidungen in Zivil- und Handelssa- 12/5919) chen sowie zum Protokoll betreffend b) Erste Beratung des von der Bundesre- die Auslegung dieses Übereinkommens gierung eingebrachten Entwurfs eines durch den Gerichtshof (Drucksache Gesetzes zu dem Abkommen vom 12/5841) IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 i) Erste Beratung des von der Bundesre- c) Beratung der Beschlußempfehlung gierung eingebrachten Entwurfs eines des Petitionsausschusses: Sammelüber- Dritten Gesetzes zur Änderung des sicht 123 zu Petitionen (Drucksache Landwirtschaftsanpassungsgesetzes 12/5921) (Drucksache 12/5896) d) Beratung der Beschlußempfehlung j) Beratung des Antrags der Abgeordne- des Petitionsausschusses: Sammelüber- ten Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und sicht 124 zu Petitionen (Drucksache der Gruppe der PDS/Linke Liste: Erset- 12/5922) zung des Altschuldenhilfe-Gesetzes e) Beratung der Beschlußempfehlung durch ein Altschuldenübernahme-Ge- des Petitionsausschusses: Sammelüber- setz (Drucksache 12/5677) sicht 125 zu Petitionen (Drucksache k) Beratung des Antrags der Abgeordne- 12/5923) 16034 B ten Dr. Gregor Gysi, Dr. Fritz Schumann Tagesordnungspunkt 7: (Kroppenstedt) und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Privatisierungskrimi- Erste Beratung des von den Abgeordne- nalität (Drucksache 12/5734) ten Ottmar Schreiner, Adolf Ostertag, Gerd Andres, weiteren Abgeordneten 1) Beratung des Antrags der Abgeordne- und der Fraktion der SPD eingebrach- ten Dietmar Schütz, Carl Ewen, Robert ten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- Antretter, weiterer Abgeordneter und rung eines Europäischen Wirtschafts- der Fraktion der SPD: Geschwindig- ausschusses (Europa-Wirtschaftsaus- keitsbeschränkungen in Nationalparks schuß-Gesetz) (Drucksache 12/4620) im Bereich der Nordsee (Drucksache 12/5807) 16032 D Adolf Ostertag SPD 16035 A Peter Keller CDU/CSU 16036C Zusatztagesordnungspunkt 4: Dr. F.D.P. 16037 D Weitere Überweisungen im vereinfachten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Verfahren Linke Liste 16038 C a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Tagesordnungspunkt 8: Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Beratung der Großen Anfrage der Abge- des Gesetzes über den Sozialplan ordneten Horst Sielaff, , im Konkurs- und Vergleichsverfahren Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abge- (Drucksache 12/5985) ordneter und der Fraktion der SPD: Umsetzung der flankierenden Maßnah- b) Erste Beratung des von den Abgeordne- men der EG-Agrarreform in der Bun- ten Dr. Eckhart Pick, Dr. Hans de With, desrepublik Deutschland (Drucksachen Gerd Andres, weiteren Abgeordneten 12/4362, 12/5076) und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anderung Joachim Tappe SPD 16039B der Konkursordnung (Drucksache CDU/CSU 16040 C 12/5995) 16034 A Günther Bredehorn F.D P 16042 C Tagesordnungspunkt 18: Ernst Kastning SPD . . . . 16043C, 16048 B Abschließende Beratungen ohne Ausspra- Jan Oostergetelo SPD 16043 C che Ulrich Heinrich F D P 16044 A a) Beratung der Beschlußempfehlung des Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Haushaltsausschusses zu dem Antrag Linke Liste 16044 D des Bundesministeriums der Finanzen: Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions- Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundes- los 16046A haushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen Liegenschaft Fah- Horst Sielaff SPD 16046 C nenbergplatz 4 in Freiburg/Br. (Druck- Bartholomäus Kalb CDU/CSU 16047 D sachen 12/5292, 12/5818) Günther Bredehorn F D P 16048B b) Beratung der Beschlußempfehlung des F D P Haushaltsausschusses zu dem Antrag 16048 D des Bundesministeriums der Finanzen: Albert Deß CDU/CSU 16049A Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bun- deshaushaltsordnung in die Veräuße- Tagesordnungspunkt 9: rung der bundeseigenen Liegenschaft Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Gendarmerie-Kaserne in Mannheim- gebrachten Entwurfs eines ... Straf- Schönau (Drucksachen 12/5291, rechtsänderungsgesetzes (. . . StrÄndG) 12/5819) (Drucksache 12/4825) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 V

Heidrun Alm-Merk, Ministerin des Landes Dr. Konrad Elmer SPD 16067 D- Niedersachsen 16051 B Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU 16053 B GRÜNEN 16069 B Siegfried Vergin SPD . . . 16054A, 16058 B Andrea Lederer PDS/Linke Liste . . . 16070B Dr. BÜNDNIS 90/DIE CDU/CSU 16071 A GRÜNEN 16054 C Uwe Lühr F D P 16072B Jörg van Essen F D P 16055 A Jürgen Augustinowitz CDU/CSU . . . 16073 C Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 16055 D Jürgen Koppelin F.D.P. 16074 C Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions- los 16056 C Tagesordnungspunkt 12: Jörg van Essen F.D.P 16057 A Beratung der Beschlußempfehlung und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, des Berichts des Ausschusses Treuhand- Bundesministerin BMJ 16057 B anstalt zu dem Antrag des Abgeordne- ten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) Tagesordnungspunkt 10: und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Beratung der Beschlußempfehlung des Beteiligung der Betroffenen am Kon- Petitionsausschusses: Sammelüber- zept zum Erhalt industrieller Kerne sicht 117 zu Petitionen (Luft/Boden- (Drucksachen 12/4429, 12/5283) Schießplatz Wittstock) (Drucksache Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ 12/5735) Linke Liste 16075 B Rosemarie Priebus CDU/CSU 16059A Udo Haschke (Jena) CDU/CSU 16076D Dr. Hans-Hinrich Knaape SPD 16061 B Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . 16077D Uwe Lühr F D P 16062 B Manfred Hampel SPD 16078D Dr. PDS/Linke Liste 16063 B Jürgen Türk F.D.P. 16080A Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 16064 A Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekre tär BMF 16080 C Rosemarie Priebus CDU/CSU 16064 B Dr. Hans Otto Bräutigam, Minister des Lan- Tagesordnungspunkt 13: des Brandenburg 16065 A Beratung der Großen Anfrage des Abge- Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin ordneten Konrad Weiß (Berlin) und der BMVg 16066 C Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Menschenrechtsverletzungen an Kin- Tagesordnungspunkt 11: dern und Jugendlichen in Brasilien (Drucksachen 12/4455, 12/5244) a) Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Dr. Konrad Elmer, Hanna Wolf, Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU 16081 D Erika Simm, weiterer Abgeordneter und Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE der Fraktion der SPD: Umgestaltung des GRÜNEN 16082 B Zivildienstes und Ä nderung der Aner- kennungsverfahren für Kriegsdienst- Dr. Sissy Geiger (Darmstadt) CDU/CSU 16083 D verweigerer (Drucksache 12/3735 SPD 16085 A [neu]) Arno Schmidt (Dresden) F.D.P. . . . . 16086B b) Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Vera Wollenberger, Dr. Klaus-Dieter Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 16087 B Feige, Ingrid Köppe, weiterer Abgeord- Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 16087 D neter und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abschaffung der Wehr- pflicht und des Zivildienstes (Drucksa- Nächste Sitzung 16089 C che 12/5767) Anlage 1 in Verbindung mit Liste der entschuldigten Abgeordneten . 16091' A Zusatztagesordnungspunkt 5: Beratung des Antrags der Abgeordne- ten Andrea Lederer, Dr. Gregor Gysi Anlage 2 und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Vorlage des Entwurfs eines Kostenrechts- Abschaffung der Wehrpflicht (Drucksa- änderungsgesetzes; Anhebung der Sach- che 12/6033) verständigen-Entschädigung VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

MdlAnfr 18 — Drs 12/5962 — Anlage 9 - SPD Nutzung der Erdwärme; Erhöhung des SchrAntw PStSekr Rainer Funke BMJ . . 16091* C Anteils regenerativer Energiequellen; fi- nanzielle Förderung weiterer Geothermie Anlage 3 Heizwerke Abzug von US-Streitkräften aus Mann- MdlAnfr 28, 29 — Drs 12/5962 — heim Klaus Harries CDU/CSU MdlAnfr 20 — Drs 12/5962 — SchrAntw PStSekr Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Egon Jüttner CDU/CSU BMWi 16094* B SchrAntw PStSekr Jürgen Echternach BMF 16091* D Anlage 10 Anlage 4 Begleichung der Kosten für humanitäre Verbrennung von PCP-verseuchten Muni- Hilfsmaßnahmen der Bundeswehr im Aus- tionskisten der US-Streitkräfte auf der US land aus dem Verteidigungshaushalt Mülldeponie Harderbühl MdlAnfr 30 — Drs 12/5962 — MdlAnfr 21 — Drs 12/5962 — SPD Ludwig Stiegler SPD SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 16094* D SchrAntw PStSekr Jürgen Echternach BMF 16092* A Anlage 11 Anlage 5 Kosten des Bundeswehreinsatzes in Soma- Streichung von ca. 170 Stellen für deutsche lia bis voraussichtlich April 1994 im Ver- Zivilbeschäftigte im US-Hospital Landstuhl gleich zu den Kosten der humanitären Hilfe und Besetzung dieser Stellen mit amerika- für das ehemalige Jugoslawien nischen Kräften MdlAnfr 31 — Drs 12/5962 MdlAnfr 22, 23 — Drs 12/5962 — r. Klaus Kübler SPD —D Albrecht Müller (Pleisweiler) SPD SchrAntw PStSekr Jürgen Echternach SchrAntw PStSekr Be rnd Wilz BMVg . . 16095' A BMF 16092' A

Anlage 6 Anlage 12 Klärung der Altlastensituation auf den rund Einführung des EDV-Programms WEBIS II 241 rheinland-pfälzischen militärischen bei den Kreiswehrersatzämtern; Auswir- Liegenschaften; Verantwortung des Bun- kungen der Auflösung von Kreiswehr- des für deren Beseitigung ersatzämtern in Bayern auf das Amt in Weiden MdlAnfr 24 — Drs 12/5962 — Dr. Elke Leonhard-Schmid SPD MdlAnfr 32, 33 — Drs 12/5962 — Simon Wittmann (Tännesberg) CDU/CSU SchrAntw PStSekr Jürgen Echternach BMF 16092* C SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 16095' C

Anlage 7 Vertrag der Treuhandanstalt mit der Thys- Anlage 13 sen Handel Berlin; Frage der Gewinnbetei- Sonderregelung für die zivile Mitnutzung ligung des Militärflugplatzes Laage-Kronskamp MdlAnfr 25, 26 — Drs 12/5962 — MdlAnfr 34, 35 — Drs 12/5962 — Manfred Hampel SPD Dr. SPD SchrAntw PStSekr Jürgen Echternach BMF 16093* C SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 16096* B

Anlage 8 Anlage 14 Herstellung der Rechtseinheit bei grund- Schadensersatzansprüche von fluglärmge- eigenen Bodenschätzen schädigten Bürgern MdlAnfr 27 — Drs 12/5962 — Martin Göttsching CDU/CSU MdlAnfr 36 — Drs 12/5962 — Dr. Elke Leonhard-Schmid SPD SchrAntw PStSekr Dr. Heinrich L. Kolb BMWi 16093' D SchrAntw PStSekr Bernd Wilz BMVg . . 16097* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 VII

Anlage 15 Anlage 21 Benachteiligung der Inselbewohner durch Reaktion der Bundesregierung auf Be- das Gesundheits-Reformgesetz hinsichtlich schwerden über die Schließung von Post- der Fahrkosten zur Konsultation von Fach- ämtern und Poststellen in den alten Bundes- ärzten ländern MdlAnfr 40, 41 — Drs 12/5962 — MdlAnfr 54 — Drs 12/5962 — Karl Hermann Haack (Extertal) SPD Martin Göttsching CDU/CSU SchrAntw PStSekr'in Dr. Sabine Berg- SchrAntw PStSekr Dr. Paul Laufs BMPT . 16099* C mann-Pohl BMG 16097* B Anlage 22 Anlage 16 Aufrechterhaltung des deutschen General- Interpretation der Aussage der Bundes- konsulats in Edmonton/Kanada regierung über die Verkürzung der Kran MdlAnfr 55 — Drs 12/5962 — alter Menschen bei-kenhausverweildauer Ortwin Lowack fraktionslos angemessener Behandlung SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring MdlAnfr 42 — Drs 12/5962 — AA 16099* D Christa Lörcher SPD SchrAntw PStSekr'in Dr. Sabine Berg- Anlage 23 mann-Pohl BMG 16098* A Aussagen der ehemaligen britischen Pre- mierministerin, Lady Margret Thatcher, Anlage 17 bezüglich der Notwendigkeit einer Klärung der deutschen Grenzfragen mit den öst- Übernahme der Kosten nicht zugelassener Arzneimittel durch Krankenkassen lichen Nachbarn MdlAnfr 56 — Drs 12/5962 — MdlAnfr 43, 44 — Drs 12/5962 — Helmut Sauer (Salzgitter) CDU/CSU Klaus Kirschner SPD SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring SchrAntw PStSekr'in Dr. Sabine Berg- AA 16100* A mann-Pohl BMG 16098* B

Anlage 24 Anlage 18 Politische Situation in Burundi nach dem Ergebnis der Fleisch-Untersuchung in Militärputsch; Unterstützung der demokra- deutschen Lebensmittelläden tischen Kräfte MdlAnfr 45 — Drs 12/5962 — MdlAnfr 57 — Drs 12/5962 — Lieselott Blunck (Uetersen) SPD Dr. Klaus Kübler SPD SchrAntw PStSekr'in Dr. Sabine Berg- SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring mann-Pohl BMG 16098* D AA 16100* B

Anlage 19 Anlage 25 Ausbau der Eisenbahnstrecke Oldenburg- Aufnahme von Slowenien in den NATO Wilhelmshaven -Kooperationsrat MdlAnfr 48 — Drs 12/5962 — MdlAnfr 58 — Drs 12/5962 Dietmar Schütz SPD CDU/CSU—Jürgen Augustinowitz SchrAntw PStSekr Manfred Carstens SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring BMV 16099* A AA 16100*D

Anlage 20 Anlage 26 Schließung von Postämtern und Poststellen Reaktionen des Iran zum Anschlag auf den in den Landkreisen Ammerland und Fries- norwegischen Verleger Salman Rushdies land; Stellenreduzierungen MdlAnfr 59 — Drs 12/5962 — MdlAnfr 51 — Drs 12/5962 — Norbert Gansel SPD Dietmar Schütz SPD SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring SchrAntw PStSekr Dr. Paul Laufs BMPT . 16099* B AA 16101' A

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185. Sitzung

Bonn, den 28. Oktober 1993

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin : Guten Morgen, b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Eckhart die Sitzung ist eröffnet. Pick, Dr. Hans de With, Gerd Andres, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Interfraktionell eines Gesetzes zur Änderung der Konkursordnung: — Drucksache 12/5995 — ist vereinbart worden, daß am Dienstag, dem 9. November 1993, um 14.00 Uhr aus Anlaß des 55. Jah- 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer, restages der Reichspogromnacht und des vierten Jah- Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Abschaffung der Wehrpflicht — Drucksache 12/6033 — restages des Falls der Mauer eine Sitzung des Bun- destages stattfinden soll. Anläßlich dieses Gedenkens TOP 14 a) (neuer Titel) wird die Präsidentin des Deutschen Bundestages eine Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Pinger, Ansprache halten. Mit dem Charakter einer solchen Anneliese Augustin, Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- Gedenkveranstaltung sind Anträge, Erklärungen, neten Ingrid Walz, Ulrich Irmer, Dr. Michaela Blunk (Lübeck), Zwischenfragen und das, was ansonsten bei unseren weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Vorrang Bundestagssitzungen stattfindet, nicht vereinbar. — für Eigenverantwortung, Privatinitiative und Selbsthilfe Ich stelle fest, daß es da bei Ihnen Einvernehmen und nach dem Subsidiaritätsprinzip in der Entwicklungspolitik durch Ausbau und Intensivierung der gesellschaftspoliti- Zustimmung gibt. schen Zusammenarbeit — Drucksache 12/5987 — Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, daß der Abge- 6. Aktuelle Stunde: Verhältnis der Bundesregierung zur Irani- ordnete Johannes Nitsch auf seinen Sitz als ordentli- schen Regierung angesichts deren behaupteter Verantwor- ches Mitglied im Vermittlungsausschuß verzichtet. tung für den Anschlag auf vier Iraner in Berlin Als Nachfolger wird der Kollege Hans Peter Schmitz Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, vorgeschlagen. Sind Sie damit einver- (Baesweiler) soweit dies erforderlich ist, abgewichen werden. Sind standen? — Dieses ist der Fall. Dann ist der Kollege Sie auch damit einverstanden? — Auch dieses ist der Hans Peter Schmitz als ordentliches Mitglied im Fall. Dann ist das so beschlossen. Vermittlungsausschuß bestimmt. Des weiteren ist interfraktionell vereinbart worden, Ich mache außerdem darauf aufmerksam, daß der Tagesordnungspunkt 14 als „Vereinbarte Debatte zur die verbundene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktli- Entwicklungspolitik" aufgerufen wird. Der Antrag ste aufgeführt: der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. unter Tages- ordnungspunkt 14a hat einen neuen Titel, den Sie 1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Kirschner, bitte der Zusatzpunktliste entnehmen. Der Tagesord- Karl-Hermann Haack (Extertal), Dr. Hans-Hinrich Knaape, nungspunkt 14b ist abgesetzt. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Einsetzung eines Untersuchungsausschusses — Drucksache 12/5975 — Die Fraktion der SPD hat fristgerecht beantragt, die 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Kirschner, heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Antrags Karl-Hermann Haack (Extertal), Dr. Hans-Hinrich Knaape, auf Drucksache 12/5993 zum Sondergipfel der EG- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Einsetzung Staats- und Regierungschefs sowie zur Europapolitik einer unabhängigen Expertenkommission — Drucksache zu erweitern. Dieser Punkt soll heute mit einer Debat- 12/5974 — tenzeit von zwei Stunden behandelt werden. 3. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zur ÄuBe- rung des Bundeskanzlers über den „kollektiven Freizeitpark Wird zur Geschäftsordnung das Wort gewünscht? — Bundesrepublik Deutschland" im Hinblick auf drohende Ja, das Wort hat die Kollegin Heidemarie Wieczorek- Arbeitslosigkeit in den Regionen Main-Rhön/Schweinfurt, Zeul. Thüringen/Zella Mehlis, Leipzig

4. weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergän- zung zu TOP 17) Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Liebe Kollegin- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und nen und Kollegen! Namens der SPD-Bundestagsfrak- F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- und tion beantrage ich, die Tagesordnung um diesen Vergleichsverfahren: — Drucksache 12/5985 — Punkt — Forderungen an den EG-Sondergipfel der 15952 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Heidemarie Wieczorek-Zeul Staats-und Regierungschefs, der morgen in Brüssel Wir halten das für unerträglich und den Bürgern und- stattfindet — zu erweitern. Bürgerinnen gegenüber für unakzeptabel. Sie wissen, daß für heute eine Europadebatte des Botschaften, wie sie gestern als gemeinsame feierli- Deutschen Bundestages bereits parlamentarisch fest- che Erklärung von Bundeskanzler Kohl und dem gelegt und vereinbart war. französischen Staatschef Mitterrand abgegeben wur- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das stimmt den, haben die Menschen in diesem Land oft genug nicht! Das fängt an mit einer Unwahrheit!) gehört. Sie haben oft genug festgestellt, daß ein krasser Widerspruch zwischen dem, was im geheimen Wir haben dazu einen Antrag eingebracht, der die hinter den verschlossenen Türen der Staats- und Forderungen des Bundestages an den Gipfel festlegt. Regierungschefs bei den EG-Gipfeln beraten wird, Nur so können wir, der Deutsche Bundestag, unsere und den anschließenden feierlichen Erklärungen Haltung zum EG-Gipfel und unsere Forderungen an besteht. Das ist die Art und Weise, wie Sie Europa und die Bundesregierung zum Ausdruck bringen. Die auch Maastricht in Mißkredit gebracht haben. Aktuelle Stunde der letzten Woche gab dazu keine Gelegenheit, weil in diesem Rahmen keine Anträge (Beifall bei der SPD — Peter Kittelmann eingebracht werden können. Deshalb müssen wir [CDU/CSU]: Und das alles unter „Geschäfts- heute die Chance nutzen. ordnung"!) (Beifall bei der SPD) Sie haben daraus aber nichts gelernt; Sie wollen noch immer diese Politik der Geheimdiplomatie Nun entnehme ich der „Süddeutschen Zeitung" von betreiben. Die Bürger und Bürgerinnen werden Ihnen gestern — ich zitiere —: das aber nicht durchgehen lassen. Die Menschen Entgegen der ursprünglichen Planung wird es wollen Taten, keine allgemeinen Erklärungen zu aber vor dem Treffen der zwölf Staats- und diesen Fragen sehen. Regierungschefs am Freitag keine Europade- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der batte im Plenum des Bonner Parlaments geben. F.D.P.) Bundeskanzler setzte sich mit sei- nem Wunsch nach Absetzung der Debatte durch, Wir möchten mit unserem Antrag konkrete Taten weil er offenbar befürchtet hatte, daß im Bundes- einfordern. Dieser Antrag beinhaltet: Es gibt das tag zu hohe Erwartungen an den Europäischen zentrale Thema in Europa, das allen Menschen auf Rat gestellt würden. den Nägeln brennt — das ist die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit und der Rezession. Statt dessen, liebe Kolleginnen und Kollegen, so lesen wir, hat die CDU/CSU-Fraktion Helmut Kohl (Beifall bei der SPD) Direktiven mitgegeben; so ist der Titel dieses A rtikels. Wir stellen hier konkrete Vorschläge vor, wie die Liebe Kolleginnen und Kollegen, in welchem Land Regierungen auf EG-Ebene der Massenarbeitslosig- leben wir eigentlich? Deutschland ist doch kein Ein- keit und der Rezession entgegenarbeiten können. parteienstaat und auch kein Kohl-Staat, in dem einer von oben entscheidet, was der Deutsche Bundestag (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Wie viele debattieren kann, in dem einer entscheidet, wer Minuten reden Sie denn noch nicht zur Bundespräsident wird. Sache?) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Europa braucht die Verteidigung von Arbeitsplät- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zen, keine gemeinsame Verteidigungspolitik, wie sie Wenn sich CDU und F.D.P. über die Frage, wer für gestern von Helmut Kohl angekündigt worden ist. die Außenpolitik zuständig ist, nicht einigen können, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dann darf das nicht auf dem Rücken des Deutschen Bundestages und der Bürger und Bürgerinnen in Meine Güte, was haben wir von der gemeinschaftli- diesem Land ausgetragen werden. chen EG-Verteidigungspolitik? Wir brauchen Arbeits- plätze! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Hier wird die Geschäftsordnung mißbraucht!) Im übrigen ist diese Art des Umgangs eine Mißach- tung auch des Urteils des Bundesverfassungsgerich- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die nach mir tes, das vor zwei Wochen ergangen ist. Das Urteil Redenden von seiten der Koalitionsfraktionen werden besagt, daß der Deutsche Bundestag mehr als bisher sagen, das alles sei nicht so vereinbart gewesen. Wenn auf das Verhalten der Regierungen im EG-Ministerrat das nicht so gewesen wäre, dann hätten Sie jetzt die und in den Ratssitzungen Einfluß nehmen muß. Chance, mit uns zu stimmen und dafür zu sorgen, daß wir hier eine deutliche Debatte und deutliche Äuße- (Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Das ist bit rungen des Bundestages an die Adresse der Bundes- ter, bitter nötig!) regierung haben. Wer das hier verhindert — die Koalitionsfraktionen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wollen das heute tun —, scheut eine öffentliche Auseinandersetzung über die Europapolitik dieser Dann stimmen Sie mit uns dafür, liebe Kolleginnen Bundesregierung. und Kollegen, daß das aufgesetzt wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir haben anschließend eine Debatte über die DIE GRÜNEN) Einsetzung des Untersuchungsausschusses zu dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15953

Heidemarie Wieczorek-Zeul Skandal bezüglich der Blutplasmen, zur Frage nach Jeder, der sich mit dem Thema auseinandersetzt, der HIV-Verseuchung. Wir sind der Meinung, daß das weiß, daß es wichtige, allerdings auch strittige Fragen eine wirklich zentrale Debatte ist. Der Deutsche gibt, die dort behandelt werden, wie etwa die Frage Bundestag wird imstande sein, diese beiden zentralen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, wie Themen mit seinen engagierten Abgeordneten im der Sitz des Europäischen Währungsinstituts, wie die Interessse der Bürger und Bürgerinnen heute hier zu Frage der Erweiterung der EG um die EFTA-Länder behandeln. und wie die Einrichtung von Europol, sprich der (Beifall bei der SPD) Kampf gegen die internationale Kriminalität. Ich fordere Sie dazu auf, diese beiden Themen hier Meine Damen und Herren, wer dies weiß, der weiß entsprechend zu behandeln und unserem Antrag auch, daß es eben nicht einfach ist, auf einer solchen zuzustimmen. Konferenz bei so vielen Partnern zu Einigungen zu Ich danke Ihnen. kommen. Deshalb muß es unser Ziel sein, den deut- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und schen Verhandlungsspielraum so weit zu lassen, wie dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es irgend geht, weil wir zu Ergebnissen kommen wollen, weil wir nicht nur reden, sondern weil wir handeln wollen und weil dafür dieser Gipfel wichtig ist, meine Damen und Herren. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der Kollege Dr. Jürgen Rüttgers. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Weil dies so ist, finde ich, sollten wir am Vortag Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! dieses Sondergipfels nicht versuchen, mit falscher Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Wiec- Kraftmeierei, wie wir es hier gerade erlebt haben, zorek-Zeul, ich bedanke mich verbindlich dafür, daß aufzuwarten. Sie schon vorgetragen haben, was Sie meinen, was ich jetzt sage. Normalerweise pflege ich aber selbst zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. sagen, was ich sagen möchte. Deshalb will ich Ihnen Helmut Haussmann [F.D.P.]) erklären, daß die künstliche Aufregung, die Sie heute Unseren Partnern sind die Positionen bekannt. morgen hier an diesem Rednerpult erzeugen wollten, Meine Fraktion hat sich am Dienstag — und ich bin der Sache überhaupt nicht angemessen ist. froh, daß sich Frau Wieczorek-Zeul darüber sehr (Beifall bei der CDU/CSU) geärgert hat — noch einmal mit diesen Positionen Ich habe Verständnis dafür, daß Sie versuchen, hier beschäftigt. Wir haben das genau definiert. Wir haben eine Form von Dramatik zu inszenieren, vor allen gesagt, was wir wollen. Ich bin auch sicher, daß dies Dingen da Sie schon gestern zu einer Pressekonferenz auf dem Gipfel eine Rolle spielen wird. eingeladen haben, in der Sie mitteilen werden, was passiert, wenn hier das passiert, von dem Sie vermu- Deshalb, finde ich, muß man heute ganz offen ten, daß es passiert. sagen: Es ist falsch, jetzt fordernd vor sich herzutra- gen, was morgen unsere Position erschweren wird. (Heiterkeit im ganzen Hause — Beifall bei Wer in Brüssel den Kompromiß will, der darf keine der CDU/CSU) Hürden, seien es auch nur verbale Hürden, errich- Liebe Frau Wieczorek-Zeul, wenn ich Ihnen hier ten. heute morgen einen Rat geben darf: Verschonen Sie uns mit den Vorbereitungen Ihrer Kandidatur auf dem Deshalb, meine Damen und Herren, glauben wir, SPD-Parteitag, halten Sie die Reden auf dem SPD- daß es nicht richtig ist, heute eine Debatte zu führen, Parteitag und nicht hier! wie sie beantragt worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei Lassen Sie mich noch eine weitere Bemerkung der SPD) machen. Meine Damen und Herren, wir werden uns in Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und den nächsten Tagen — dies ist zwischen den Parla- Kollegen, wir alle in diesem Hause sind froh darüber, mentarischen Geschäftsführern besprochen und ver- daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor einbart worden — sehr intensiv über die Frage der vierzehn Tagen den Weg für die Ratifizierung des Einrichtung des Unionsauschusses und des weiteren Maastrichter Vertrages freigemacht hat. Wir freuen Verfahrens in Europasachen unterhalten müssen. uns alle miteinander darüber, daß am kommenden Dazu gibt es Vorbereitungen der Kolleginnen und Montag der Vertrag über die Europäische Union in Kollegen im Europaausschuß und darüber hinaus. Kraft tritt. Ich will ganz persönlich meine Meinung sagen; dies Deshalb ist es auch richtig und wichtig, daß die gehört zu dem jetzigen Antrag. Es wird auch in Staats-und Regierungschefs auf Drängen des Bundes- Zukunft nicht so sein, daß vor jedem Gipfel hier eine kanzlers morgen zusammenkommen, um zu überle- Debatte stattfindet, in der Positionen beschlossen, gen, wie das, was in diesem Vertragswerk von Maas- festgeklopft werden und die Regierung festgelegt tricht steht, was in Europa ja höchst umstritten war, wird. umgesetzt, mit Leben erfüllt werden kann und auch was wir Deutsche dazu beitragen können, um die (Widerspruch der Abg. Heidemarie Wieczo- Umsetzung des Vertragswerkes konsequent anzuge- rek-Zeul [SPD] und weiterer Abgeordneter hen. der SPD) 15954 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Jürgen Rüttgers Auch das wird in Zukunft nicht so sein. Da können Sie Wir erwarten drittens eine Beschleunigung der- sich aufregen, soviel Sie wollen. Ich könnte Ihnen jetzt Beitrittsverhandlungen mit dem festen Ziel der Erwei- Zitate von bringen, der es immer terung der Gemeinschaft um die willkommenen — übrigens mit Recht — abgelehnt hat, daß vorher im neuen Mitglieder Österreich, Schweden, Norwegen Parlament beschlossen wird, was er nachher in Europa und Finnland zum 1. Januar 1995. umsetzen soll. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Sie müs Das sind die drei Hauptziele, die die F.D.P. vom sen mal in die Verfassung schauen!) morgigen Gipfel erwartet. Ich möchte aber auch ganz — Frau Kollegin, hören Sie doch einfach einmal zu, offen sagen: Die F.D.P. behält sich vor, vor weiteren was ich sage. Wissen Sie, wenn man nur schreit, dann Gipfeln eine Parlamentsdebatte zu führen. geht meistens der Gehörgang zu. Das ist ein Punkt, (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Aha, den man beachten sollte, wenn man sich dauernd mit wenigstens eine Fraktion!) Zwischenrufen in eine Debatte einmischt. Das wollen wir uns hier nicht verbieten lassen. Wir Meine Damen und Herren, es wird auch in Zukunft haben diese Debatte bereits geführt, nicht so sein, daß das Parlament im Detail festlegt, was anschließend jeweils auf einem Gipfel zu geschehen (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Aber hat. Da muß man zu Kompromissen kommen. Weil das ohne Antrag!) so ist, werden wir darüber reden müssen, wie wir das und wir erwarten — verehrte Frau Kollegin, keine machen. Der Unionsausschuß wird da seine zentrale Aufregung —, daß gemäß dem Maastricht-Urteil von Bedeutung bekommen. Darüber wollen wir reden, Karlsruhe eine unmittelbare Information und Diskus- und zwar sehr schnell. sion der Ergebnisse zum frühestmöglichen Zeitpunkt Wir werden heute den Antrag ablehnen, damit wir hier im Deutschen Bundestag erfolgt. hier zu Ergebnissen kommen können. Insofern haben wir keinerlei Probleme mit Ihrem Vielen Dank. Antrag; wir lehnen ihn ab. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ordneten der F.D.P.) ten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat nun Vizepräsidentin Renate Schmidt: Jetzt hat der der Kollege Helmut Haussmann. Abgeordnete Dr. Hans Modrow das Wort.

Dr. Helmut Haussmann (F.D.P.): Frau Präsidentin! Dr. Hans Modrow (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Außenmini- tin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der SPD ster, Herr Kinkel, weiß sehr genau, auch ohne heutige Fraktion fordert die Bundesregierung auf, vor dem Debatte und auch ohne Fraktionssondersitzung, was EG-Gipfel eine grundlegende Debatte zu europäi- die F.D.P.-Fraktion auf dem EG-Sondergipfel von der schen Fragen zu führen. Man müßte sagen: eigentlich Regierung erwartet. Auf Antrag meiner Fraktion hat eine normale Sache, wenn man will, daß das Parla- sich der Deutsche Bundestag bereits zum frühestmög- ment mitspricht. Aber die Bundesregierung verwei- lichen Zeitpunkt nach dem Karlsruher Urteil, in der gert sich. Warum eigentlich? letzten Woche, sowohl mit dem Urteil als auch mit den Die PDS/Linke Liste sieht vor allem folgende Erwartungen an den Sondergipfel beschäftigt. Gründe: Erstens. Auch wenn das Verfassungsgericht (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Es gab den Maastrichter Vertrag abgesegnet hat, bleibt er keine Anträge!) umstritten, und das offensichtlich zu Recht. Der bevor- Wir erwarten erstens, daß Frankfurt am Main Sitz stehende EG-Gipfel wird weitgehende Festlegungen der Europäischen Zentralbank wird. zum Vertrag treffen. Gerade darüber soll nicht disku- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der tiert werden. Wie in EG-Fragen üblich, soll letztlich CDU/CSU sowie des Abg. Karsten D. Voigt nur zur Kenntnis genommen werden, was die Bundes- [Frankfurt] [SPD]) regierung vereinbart. Wenn es irgendwo um Kraft- meierei geht, dann ist das genau hier der Fall. Wenn Das ist eine ganz entscheidende Voraussetzung für dazu noch die Arroganz der Macht kommt, die Zustimmung der Deutschen zu einem zukünftigen stabilen europäischen Geld. Es ist bezeichnend, daß (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Was ist eine Abgeordnete aus Hessen weder heute noch in der denn das? — Weiterer Zuruf von der CDU/ letzten Debatte überhaupt ein Wort zu Frankfurt am CSU: Das ist beschämend, was Sie sagen!) Main gesagt hat. dann wird deutlich, worum es eigentlich geht. (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Dafür Zweitens. Über ein Demokratiedefizit wird im stellen wir den Antrag! Das können Sie heute Zusammenhang mit dem Maastrichter Vertrag schon hier verabschieden! In unserem Antrag steht allgemein viel gesprochen. Selbst hier nimmt sich die das ausdrücklich drin!) Regierungskoalition nicht aus. Was jetzt mit dem Zweitens. Wir erwarten von seiten der F.D.P. Antrag der SPD praktiziert werden soll, ist der klare Fraktion endlich die Konkretisierung energischer Beleg dafür, wie dieses Demokratiedefizit zustande Konvergenzprogramme, die durch Währungsstabili- kommt. tät im Zeitplan bleiben und für die gesamte Europäi- (Zuruf von der CDU/CSU: Oh, oh, das ist sche Gemeinschaft neue Arbeitsplätze schaffen. schon erstaunlich, Herr Modrow!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15955

Dr. Hans Modrow Dann darf man sich nachher auch nicht wundem, EG zugunsten der großen Mitgliedstaaten, wohl inter-- wenn die Bürgerinnen und Bürger die Europapolitik pretierbar als Furcht vor der zukünftigen Erweiterung. der Bundesregierung, da sie sie nicht transparent vor Für diese wiederum fehlen, soweit es die ostmitteleu- sich haben, mit Mißtrauen verfolgen. ropäischen Staaten be trifft, immer noch jegliche zeit- Drittens. Es scheint den Koalitionsparteien darauf liche Vorstellungen oder Stufenprogramme. anzukommen, ein ganz bestimmtes Signal zu set- Das Problem mit der Währungsunion habe ich schon zen: angedeutet. Kein Staat erfüllt alle Bedingungen, meh- (Zuruf von der CDU/CSU: Völker, hört die rere Staaten überhaupt keine. Deutschland liegt hin- Signale!) sichtlich zweier Kriterien abgeschlagen im hinteren Trotz des bekannten Demokratieleitsatzes im Bundes- Mittelfeld. verfassungsgerichtsurteil soll es im Bundestag so Ein anderes Thema hat Frau Wieczorek-Zeul vorhin bleiben — Herr Rüttgers hat dies schon angekün- bereits erwähnt. Darauf brauche ich nicht näher digt —, daß, frei nach Tucholsky, nicht sein kann, was einzugehen. nicht sein darf. Hier sollen künftig auch vor einem Einer Presseerklärung entnehme ich, daß die Union Gipfel Europafragen nicht diskutiert werden. Wir als Hauptproblem deutscher Europapolitik die Festle- haben nur zur Kenntnis zu nehmen. gung des Sitzes der Europäischen Zentralbank in Wir jedenfalls sehen eine zwingende Notwendig- Frankfurt sieht. Glückliches Deutschland! könnte m an keit für eine solche Diskussion vor dem Gipfel und da sagen. Wenn dies tatsächlich das wichtigste Pro- werden deshalb dem Antrag der SPD unsere Zustim- blem der Deutschen ist, dann kann der Kanzler in mung geben. Brüssel beruhigt wegen der gelungenen Ratifizierung sein Glas erheben, und wir Abgeordnete des Deut- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- schen Bundestages könnten jetzt einen längeren lege Gerd Poppe das Wort. wohlverdienten Urlaub antreten. Das Bundesverfassungsgericht allerdings hat das Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau neulich anders gesehen. Es hat auf die besondere Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Abgeord- Verantwortung des Bundestags hingewiesen, der die neten des Deutschen Bundestages wurden in den künftigen Schritte zur Konstruktion, Veränderung letzten Tagen vor allem über die Medien informiert, und Erweiterung der EG begleiten sollte. Kaum welches denn nun die Vorhaben der Bundesregierung gesagt, wird diese Entscheidung schon wieder unter- zum EG-Sondergipfel sein könnten. Wir wurden laufen, indem der Kanzler seiner eigenen Fraktion ermahnt, unsere Erwartungen nicht zu hoch zu einen Europabericht gibt, dem Bundestag jedoch schrauben; bedeutsame Entscheidungen werde es nicht, indem die Koalition ihren Entschließungsantrag wohl nicht geben. Die Ratifizierung der Maastricht zurückzieht, andererseits der SPD-Antrag nicht Verträge solle gefeiert werden. Ansonsten werde es behandelt werden soll. Dies ist eine für deutsche vielleicht einige Impulse zugunsten der Vertiefung Abgeordnete nicht hinnehmbare Zumutung. der Gemeinschaft gegenüber der Erweiterung geben, (Beifall bei der SPD) obwohl gegenwärtig kein Mitgliedstaat in der Lage Richtig verstanden bedeutet das Karlsruher Urteil wäre, die vereinbarten Kriterien für die Währungs- doch nichts anderes, als daß der Bundestag vor union zu erfüllen. wesentlichen Entscheidungen in EG-Fragen gehört Der Bundeskanzler zieht es vor, sich mit den auf den werden muß. Dieses Recht kann nicht durch eine Sondergipfel bezogenen Vorstellungen des deut- nachträgliche Unterrichtung durch die Bundesregie- schen Parlaments nicht auseinanderzusetzen. Dabei rung relativiert werden. Das Verfahren kann nicht in gäbe es aktuelle Fragen von äußerster Dringlichkeit, das Belieben der Bundesregierung gestellt werden, die in Brüssel behandelt werden müßten, für deren wenn wir es mit unserer Kritik am Demokratiedefizit Klärung die Debatte im Bundestag eine unabdingbare der EG ernst meinen. Voraussetzung wäre. Daher kann die Forderung auch von der Gruppe In Anbetracht des Charakters einer Geschäftsord- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur lauten, die seit nungsdebatte kann ich nur in Stichworten andeuten, Wochen vorgesehene Europadebatte heute auf die welche Themen u. a. Gegenstand unserer Debatte Tagesordnung zu setzen. sein müßten. Da wäre z. B. das von Präsident Mitter- rand am Montag geäußerte Vorhaben, dem Sonder- (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zurufe gipfel vorzuschlagen, die Zufahrtswege für Hilfskon- von der CDU/CSU) vois nach Bosnien-Herzegowina gewaltsam öffnen zu lassen, oder die verschiedenen Überlegungen zu einer gemeinsamen Außenpolitik z. B. gegenüber Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- Rußland, Osteuropa, dem Nahen Osten oder die in dungen zur Geschäftsordnung liegen nicht vor. Dann letzter Zeit gerade aus der CDU/CSU-Fraktion kommen wir zur Abstimmung. Wer stimmt für den bekanntgewordenen Forderungen nach einer ge- Aufsetzungsantrag der Fraktion der SPD? — Gegen- meinsamen Verteidigungspolitik, wobei bezeichnen- stimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser derweise weniger von einem europäischen kollekti- Aufsetzungsantrag mit äußerst knapper Mehrheit ven Sicherheitssystem als von der Westeuropäischen (Widerspruch bei der CDU/CSU) Union die Rede ist. — mit äußerst knapper Mehrheit, wie ich mit beiden Debattiert werden müßte auch über die geplante Schriftführern abgestimmt habe — bei einer Enthal- Verschiebung des Stimmengewichts innerhalb der tung aus der Unionsfraktion abgelehnt. 15956 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Vizepräsidentin Renate Schmidt Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die schuß tritt zweimal zu Sondersitzungen zusammen,- Zusatzpunkte 1 und 2 auf: um sich mit der Gesamtproblematik zu befassen. 4. a) Vereinbarte Debatte Umfangreiche Recherchen wurden angestellt. Die ersten Schritte, die der Minister einleiten mußte, HIV-Infektionsgefährdung durch Blutpro- waren die Auflösung der bisherigen Struktur des dukte Bundesgesundheitsamtes und die Suspension eines b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beamten. Die Staatsanwaltschaft wurde eingeschal- Dr. Else Ackermann, , Anne- tet, damit sie von Amts wegen prüft, welche Vernach- liese Augustin, weiterer Abgeordneter und lässigungen aufzudecken sind und wer die Schuldi- der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- gen sein können. ordneten Dr. Gisela Babel, Anke Eymer, Hans A. Engelhard, weiterer Abgeordneter Die letzte Meldung von heute nacht, daß in Rhein- und der Fraktion der F.D.P. land-Pfalz von der Staatsanwaltschaft Recherchen angestellt werden, um möglicherweise kontaminier- Einsetzung eines Untersuchungsausschus- tes Blut sicherzustellen und aus dem Verkehr zu ses: HIV-Infektionsgefährdung durch Blut ziehen, muß uns alle — wenn es stimmt — sehr und Blutprodukte hellhörig machen. — Drucksache 12/6035 — Überweisung svorschlag: Meine Damen und Herren, der Minister hat in Ausschuß für Gesundheit vielen öffentlichen Auftritten vor der Presse versucht, die Öffentlichkeit umfangreich zu informieren. Er hat ZP1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus sich dabei nicht gescheut, sein eigenes Prestige ein- Kirschner, Karl-Hermann Haack (Extertal), zubringen und auf die Waagschale zu legen. Herr Dr. Hans-Hinrich Knaape, weiterer Abgeord- Minister, dafür darf ich Ihnen den Dank unserer neter und der Fraktion der SPD Fraktion aussprechen. Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- — Drucksache 12/5975 — ordneten der F.D.P.) Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit Die Reaktionen in der Öffentlichkeit auf die Vor- gänge der vergangenen Tage waren erschütternd; ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus denn die tatsächlich und vermeintlich neuen Fakten Kirschner, Karl-Hermann Haack (Extertal), haben zu sehr unterschiedlichen Reaktionen geführt. Dr. Hans-Hinrich Knaape, weiterer Abgeord- Die Fassungslosigkeit tatsächlich Be troffener, die in neter und der Fraktion der SPD der ratlosen Frage zum Ausdruck kommt „Wie konnte Einsetzung einer unabhängigen Experten- das geschehen?", sowie die Ängste und Sorgen poten- kommission tiell Betroffener sind vor diesem Hintergrund allzu — Drucksache 12/5974 — verständlich. Es gilt, dem in den kommenden Wochen Dürfte ich Sie bitten, ein kleines bißchen leiser zu und Monaten insbesondere bei den Beratungen im sein? Diejenigen, die dieser Debatte nicht zuhören Untersuchungsausschuß gerecht zu werden. wollen, bitte ich, den Saal möglichst ruhig und schnell Das Echo, das dieses Thema in der Presse gefunden zu verlassen. Diese Bitte ist ernst gemeint, weil wir hat, möchte ich an dieser Stelle nicht im einzelnen dann schneller vorankommen. bewerten. Die Sensibilität der Mate rie, bei der es vor Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für allem um menschliche Schicksale, um Leben und Tod die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgese- geht, kam hier, wie ich meine, zu kurz. hen. Stimmen Sie dieser Debattenzeit zu? — Ich sehe Ich möchte jedoch feststellen, daß mich die Kom- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. mentierung der Ereignisse der vergangenen Wochen Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht der auch in seriösen Blättern teilweise verblüfft hat. Da ist Kollege Dr. Paul Hoffacker. die Rede von „Aufregungswellen", von „Tatarenmel- dungen" und von „Aktionismus". Daran haben sich auch renommierte Blätter, die manche klugen Köpfe Dr. Paul Hoffacker (CDU/CSU): Frau Präsidentin! verdecken, beteiligt. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. beantragen heute die Einset- Meine Damen und Herren, ich finde, daß diese zung eines parlamentarischen Untersuchungsaus- Reaktionen, das gesamte Problem nicht ernst zu schusses mit dem Ziel, die HIV-Infektionsgefährdung nehmen, es auf die leichte Schulter zu nehmen, durch Blut und Blutprodukte umfassend aufzuklären. verantwortungslos sind, d. h., daß es verantwortungs- Es gilt, diesen gesamten Themenbereich sowohl hin- lose Kommentierungen und Meldungen sind. Hier sichtlich dessen, was in der Vergangenheit geschehen werden keine Ängste geschürt, hier wird nicht über oder unterlassen worden ist, als auch hinsichtlich reagiert, sondern hier wird das getan, was notwendig dessen, was in Zukunft geschehen muß, unverzüglich ist, um auch die Einzelheiten aufzudecken. Hätten wir anzupacken. das nicht getan, dann wäre der Schlachtruf der publi- Meine Damen und Herren, erinnern wir uns an die zistischen Matadore gewesen: „Verrat"! Wir wären jüngsten zurückliegenden Ereignisse in den letzten mit Vorwürfen überschüttet worden. etwa sechs Wochen: Medienwirksam aufgemachte Meine Damen und Herren, ich finde, daß am Ende Nachrichten über kontaminierte Blutpräparate er- eines so kurzen Prozesses nichts anderes stehen kann schüttern die Öffentlichkeit. Der Gesundheitsaus- als ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15957

Dr. Paul Hoffacker Dieser parlamentarische Untersuchungsausschuß, Ausschuß konstituieren und sofort mit der Aufklärung der im Grundgesetz eine besondere Position ein- anfangen können. nimmt, ist ein geeignetes und taugliches Instrument, um die Einzelheiten aufzudecken. Es gilt, jeden von Meine Damen und Herren, wenn Sie von „Ver- dem Verdacht freizumachen, er würde in eigener schleppung" sprechen, dann ist es natürlich nicht so Sache recherchieren und könnte möglicherweise — nehmen Sie mir das nicht übel; die Kolleginnen und etwas vertuschen. Kollegen der SPD-Opposition sind gemeint —, als ob wir nicht wüßten, was Sie im Schilde geführt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben. (Zuruf von der SPD: „Im Schilde"?) Daß der Bundesminister der Einrichtung dieses Unter- suchungsausschusses zugestimmt hat, zeigt deutlich, Herr Haack, der sich hier immer mit vorlauten und daß er alles, auch sein eigenes Gewicht, alles was er unpassenden Bemerkungen meldet, hat nämlich 19 getan oder unterlassen hat, mit in die gesamte Unter- sogenannte kritische Fragen an den Minister gestellt. suchung einbeziehen möchte. Die Dynamisierung des Prozesses, wie ihn sich die Meine Damen und Herren, in diesen Tagen ist die SPD oder Herr Haack dachte, war ja, Frage gestellt worden, warum die Koalition die Ein- (Zuruf von der SPD: Dem Prinzip der Aufklä- richtung eines Untersuchungsausschusses beantragt, rung zu folgen!) wo doch ein Untersuchungsausschuß eigentlich das Kampfinstrument der Opposition ist. Natürlich kann erst einmal diese 19 Fragen zu stellen, sie „longe man unter taktischen Aspekten die eine oder andere iateque" zu behandeln und dann zu sagen: Der Meinung vertreten. Ich bin nicht der Meinung, daß Minister hat sie nicht beantwortet. Dann sollte eine dies für diesen Fall ein gerechtfertigtes Argument Expertenkommission gegründet werden. Diese Ex- wäre, in dem es nicht etwa darum geht, die schädliche pertenkommission, die das Instrumentarium, über das Nebenwirkung eines Medikaments aufzudecken, der Untersuchungsausschuß verfügt, eben nicht zur sondern um Leben und Tod von Todgeweihten, die Hand hat, würde sich ebenfalls mit der Aufklärung nicht von einer irgendwie schicksalhaften Krankheit befassen und nach zwei, drei Monaten feststellen, daß betroffen sind, sondern die durch das getroffen sind, man sie im Rahmen einer Expertenkommission nicht was wir aufdecken wollen. leisten kann. Und was steht am Ende? — Der Unter- suchungsausschuß. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. R. We rner Schuster Meine Damen und Herren, daß sich der Gedanke [SPD]) der zeitlichen Nähe zu bestimmten Wahlkämpfen Meine Damen und Herren, der parlamentarische aufdrängt, darf man, finde ich, niemandem, der Profi Untersuchungsausschuß ist von der Verfassung ist, verdenken, und wir tun das auch nicht. Wir wollen gerade als Instrument zur Aufklärung solcher schwie- sofort mit der Untersuchung anfangen. Deshalb lade riger Sachverhalte vorgesehen. Herr Kollege Kirsch- ich Sie herzlich ein, nicht ein irgendwie geartetes ner, die von Ihnen vorgeschlagene Expertenkonunis- politisches Kampfinstrument zu strapazieren, sondern sion des Bundestages bliebe doch letztlich auf den sofort mit der Arbeit zu beginnen. Goodwill einzelner angewiesen. Die Instrumentarien, Wenn von „Verschleppung" die Rede ist, dann muß die der parlamentarische Untersuchungsausschuß der Redlichkeit halber gesagt werden, daß im Deut- bietet, nämlich die Anwendung der Strafprozeßord- schen Bundestag bereits in der vergangenen Woche nung, die Beiziehung der Akten, die Vernehmung von darauf hingewiesen wurde, daß während der sehr Zeugen und die Untersuchung von Firmen, stehen zeitaufwendigen Arbeiten am Gesundheits-Struktur- einer Expertenkommission nicht zur Verfügung. gesetz bereits im August 1992 die interne Arbeit an (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) dem schwierigen Thema AIDS, HIV-Gefährdung durch Blutprodukte, begonnen hat. Ergebnis dieser Dies müssen wir sehen. Ich sage dies ganz leiden- Arbeiten war der im November 1992 vorgelegte schaftslos; denn auch wir haben zu Beginn überlegt, Bericht des Ministeriums zur HIV-Gefährdung durch ob möglicherweise eine Expertenkommission reicht, Blut und Blutprodukte. Zu diesem Be richt wurde am um die einzelnen Vorgänge aufzudecken und zu 3. Februar 1993 im Gesundheitsausschuß eine aus- prüfen. Wir sind zu der Überzeugung gelangt, daß führliche Sachverständigenanhörung durchgeführt. dies nicht ausreicht und daß wir uns der Verantwor- Parallel dazu wurden bereits zu Beginn dieses Jahres tung zu stellen haben, die Öffentlichkeit rückhaltlos in der Koalition die Arbeiten an der 5. AMG-Novelle über alle Einzelheiten aufzuklären. begonnen, so daß im Rahmen dieser Gesamtüberle- gungen auch die Problematik einer Gesetzesände- Es wird bisweilen gesagt, dies sei eine Verschlep- rung im Hinblick auf die Risikoabwehr und auf pung des gesamten Problems, um kritische Fragen im Vorsichtsmaßnahmen ebenfalls angegangen werden Ausschuß mit Mehrheit zurückzudrängen. konnte. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Unerhört!) Meine Damen und Herren, wir haben an die Opfer Das Gegenteil ist der Fall! Wir sollten heute zu der gedacht. Wir haben im Gesundheitsausschuß bereits Entscheidung kommen — ich werbe immer noch bei vor etwa vier Wochen ein Soforthilfeprogramm der Opposition dafür —, daß wir einen gemeinsamen behandelt. Die Koalitionsfraktionen haben einen Antrag stellen, nur einen Ausschuß und nicht zwei Antrag gestellt — der Gesundheitsausschuß hat ihn Ausschüsse einzurichten, damit wir morgen diesen beschlossen —, daß wir uns mit der Entschädigung der 15958 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Paul Hoffacker Opfer befassen wollen und daß die gesamte Fondslö- — Herr Kirschner, bleiben Sie bei dem, was wir- sung eine Weiterentwicklung erfordert. vorgestern nachmittag besprochen haben. Ich denke, daß Ihr Gedächtnis das auch heute noch hergibt. Ich finde, daß alle Vorwürfe der Opposition hin- sichtlich „Verschleppung" oder hinsichtlich dessen, Wir haben besprochen, daß wir Ihren Antrag ohne was hier „Verheimlichung" genannt wurde, oder Kürzung übernehmen, ohne ein Jota oder Komma zu hinsichtlich einer mangelnden Aktivität oder einer streichen, und erwarten von Ihnen, daß Sie unseren mangelnden Sensibilität nicht ziehen. Wenn sich die Teil mit übernehmen. Wenn Sie das nicht wollen, Opposition an Maßnahmen im außerparlamentari- dann erklären Sie bitte der Öffentlichkeit, daß Sie schen Bereich hätte beteiligen wollen, dann hätte sie zwei Untersuchungsausschüsse wollen, die sich mit das in dem vom Minister angebotenen Beirat tun der Vergangenheitsbewältigung befassen, während können. Die Teilnahme an diesem Beirat hat sie für uns an erster Stelle die Sorge um die Kranken, die bereits zu Beginn der vergangenen Woche abgelehnt Entschädigung der Opfer, die finanzielle Sicherheit und es vorgezogen, das zu tun, wovon ich eingangs und wirtschaftliche Sicherheit der Familien steht. sprach, nämlich kritische Fragen zu stellen. Wenn Sie das nicht wollen — das haben Sie vorge- stern deutlich gemacht —, dann erklären Sie der Der Höhepunkt der Schizophrenie ist jetzt, daß auch Öffentlichkeit, warum Sie sich nicht um die Opfer die SPD einen Untersuchungsausschuß beantragt, so kümmern wollen, sondern sich in der Vergangen- daß sie sich in Widersprüche verwickelt, die aufzulö- heitsbewältigung ergehen und die Zukunft außer acht sen nicht unsere Aufgabe ist. Wir fragen: „Was muß lassen. getan werden?", und das tun wir dann. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir haben in unserem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses die Inhalte klar vorgelegt. Meine Damen und Herren — und jetzt werde ich Es gibt drei besondere Schwerpunkte. ernst —, dann stellen Sie sich nicht hin, als ob Ihnen das Schicksal der Menschen so sehr am Herzen liegt, Der erste Schwerpunkt: Wir wollen uns den Opfern während Sie in der Tat hier eine Vergangenheitsbe- und der Entschädigung zuwenden. Es sollen in erster wältigung vornehmen wollen, die wir nicht scheuen, Linie die humanitären Fragen den obersten Stellen- die auch wir wollen. Aber bekennen Sie sich dazu, daß wert bekommen. Es sollen dann die Sicherheit der Sie nicht als Racheengel oder als sonstige Profilneu- Blutprodukte und die Verbesserung der Methoden rotiker in die Geschichte eingehen wollen, die sich mit geprüft werden. Und es sollen selbstverständlich auch dieser Frage befaßt. die Fragen der Vergangenheit aufgerollt werden. (Widerspruch bei der SPD) Meine Damen und Herren, dies ist ein Programm, — Ich verstehe Ihren Widerspruch, Herr Kollege das in kurzer Zeit durch den Untersuchungsausschuß Kirschner, aber Sie müssen vor der Öffentlichkeit auch bewältigt werden kann. Unsere Vorstellungen, erklären, warum Sie das nicht wollen, und müssen zum einen die Opfer zu entschädigen, zum anderen dem Steuerzahler erklären, warum Sie einen zweiten die größtmögliche Sicherheit von Blut und Blutpro- Ausschuß fordern. dukten zu verbessern, sind bereits in den Vorschlägen Meine Damen und Herren, bei der Vergangenheits- zur Arzneimittelgesetznovelle zum Tragen gekom- men, nämlich die Verbesserung der Auflagenbefug- bewältigung und bei dem, was sich manchmal mit nis des Arzneimittelinstitutes, die Einführung der einem — so möchte ich fast sagen — aufklärerischen Quarantänelagerung für Blut und Blutprodukte, die Pharisäismus in der Öffentlichkeit abspielt, muß offen- Einführung eines qualifizierten Importverbotes für gelegt werden — hier zitiere ich Herrn Professor Blutprodukte aus bestimmten Regionen, die Verbes- Habermehl, der als Sachverständiger am 3. Februar serung der ärztlichen Meldepflicht bei unerwünsch- folgendes gesagt hat —, ten Arzneimittelnebenwirkungen sowie schließlich daß die immer wieder vorgebrachten Argumente, der verstärkte Ausbau der Eigenblutversorgung in man habe damals Deutschland. Dies ist notwendig. — das heißt in der ersten Hälfte der 80er Jahre — Meine Damen und Herren, wir wollen auch den schon sehr genau Bescheid gewußt, nicht stim- Teil, den die SPD an erster Stelle in ihrem Antrag men. nennt, nämlich die Vergangenheitsbewältigung, in Und noch ein Zitat: unseren Antrag aufnehmen. Hier schulde ich der Öffentlichkeit die Darstellung der Versuche, die wir In der damaligen Zeit ist die Reaktion aller gemacht haben, alle Prüfungsgegenstände in einem Beteiligten — Wissenschaftler, Industrie, auf- Untersuchungsausschuß zusammenzufassen. sichtsführende Behörde, internationale Wissen- schaftsorganisationen etc. — angesichts dieses Herr Kollege Kirschner, es ist mir bis heute nicht klar schwierigen Kapitels wirklich schnell erfolgt. geworden, warum Sie unser Angebot eines Antrags, der sowohl Ihren Teil wie unseren Teil umfaßt — das Was will ich damit sagen? — Die Aufklärung der heißt, wir machen uns Ihren Antrag zu eigen; mehr, Vergangenheit muß im Lichte dieser Erkenntnis meine ich, können Sie nicht verlangen —, nicht geschehen, damit kein neues Unrecht geschieht. Ich annehmen. bin der Meinung, daß wir keine Vorverurteilungen vornehmen dürfen. Ich bin aber auch der Meinung, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — daß das aufgeklärt werden muß, was in der Vergan- Klaus Kirschner (SPD): Da seid ihr großzü genheit versäumt wurde oder zu kurz gekommen gig!) ist. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15959

Dr. Paul Hoffacker Meine Damen und Herren, ich lade die SPD beraten. Da haben Sie unseren Antrag auf Einstellung- Opposition ein, heute mit uns einen gemeinsamen von 20 Millionen DM in den Entschädigungsfonds Antrag hier einzubringen, über den wir morgen früh abgelehnt und der Zurverfügungstellung eines Betra- ohne Aussprache abstimmen können, damit morgen ges von 2 Millionen DM, wie Sie ihn wollten, zuge- nachmittag die Konstituierung dieses Untersuchungs- stimmt. Man kann doch nicht so tun, als ob wir über ausschusses erfolgen kann und mit der Arbeit begon- Dinge reden oder Dinge untersuchen müßten, die wir nen wird. bereits parlamentarisch beraten haben und auch im Ich bedanke mich. Gesundheitsausschuß bereden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster spricht der Kollege Klaus Kirschner. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage? Klaus Kirschner (SPD): Frau Präsidentin! Meine Klaus Kirschner (SPD): Bitte schön. Damen und Herren! Das, was wir gerade vom Kolle- gen Dr. Hoffacker erlebt haben, zeigt deutlich, daß Dr. Paul Hoffacker (CDU/CSU): Herr Kollege Kir- diese von Ihnen in den Vordergrund gestellte schner, stimmt es, daß Sie unseren Antrag auf Zurver- Gemeinsamkeit auf Ihrer Seite so gar nicht vorhanden fügungstellung von 2 Millionen DM im Ausschuß mit ist. Anscheinend soll Demagogie Argumente erset- tion abgelehnt haben? Ihrer Frak zen. (Zurufe von der SPD) (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Unerhört in dieser Form!) Klaus Kirschner (SPD): Das gehört für mich eben- Sie wollen etwas untersuchen lassen, was bereits im falls unter das Stichwort „Demagogie". Sie wissen Antrag der SPD steht, der am 27. Juli diese Jahres im ganz genau: Wir haben die 2 Millionen DM deshalb Deutschen Bundestag eingebracht und im September abgelehnt, weil Sie unserem Antrag auf 20 Millionen in erster Lesung beraten wurde, und dies geschah DM nicht zugestimmt haben. Wir haben immer gestern auch im Ausschuß. Sie wollen untersuchen gesagt: 2 Millionen DM sind ein Almosen, das nicht lassen, während wir konkret Hilfe für die Betroffenen vertretbar ist. Wir sind nicht bereit, uns nachher für die fordern. Gewährung eines solchen Almosens verantwortlich Ich bitte Sie: Lenken Sie doch nicht von unserem machen zu lassen. Das wird dem Problem und den Antrag, um den es hier gehen muß, nämlich Aufklä- Betroffenen nicht gerecht. rung zu betreiben, ab. Unser Angebot ist folgendes: (Beifall bei der SPD) gemeinsam zu untersuchen, aber nicht Dinge zu untersuchen, die politisch zu entscheiden sind. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es gibt noch das (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Bedürfnis nach einer weiteren Zwischenfrage bei dem Liste) Kollegen Dieter Thomae von der F.D.P. Klaus Kirschner (SPD): Beim Kollegen Dr. Thomae Kollege Kirsch- Vizepräsidentin Renate Schmidt: selbstverständlich. Dann aber bitte ich, meine Rede ner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen fortführen zu dürfen. Hoffacker? Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Herr Kirschner, Sie Klaus Kirschner (SPD): Bitte. haben hier von 2 Millionen DM gesprochen. Korrek- terweise und fairerweise müßten wir bekunden: Die Dr. Paul Hoffacker (CDU/CSU): Herr Kollege Kir- Bundesregierung hat sich zur Bereitstellung von schner, bestreiten Sie, daß ich Ihnen vorgestern nach- 2 Millionen DM bereit erklärt, auch die Länder und die mittag, am Dienstag, das Angebot gemacht habe Pharmaindustrie haben sich bereit erklärt; die Versi- (Karl Hermann Haack [Extertal] [SPD]: 14.45 cherungswirtschaft hat zunächst abgelehnt, aber das Uhr!) Deutsche Rote Kreuz will mitmachen, so daß wir — es war etwas später, Herr Haack —, zunächst für eine Soforthilfe — ich betone: Sofort- hilfe — etwa 10 Millionen DM zur Verfügung haben. — über all diese Fragen parallel, also sowohl im Damit soll — das wissen Sie — auch nach Vorstellung Gesundheitsausschuß als auch im Untersuchungsaus- der Koalition nicht alles für die Personen, die durch schuß, zu reden und sofort zu handeln? Blutübertragungen HIV-infiziert worden sind, abge- golten sein. Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Dr. Hoffacker, ich wiederhole gern noch einmal, was ich Ihnen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das war keine vorher bereits gesagt habe: daß wir nicht etwas Frage. untersuchen wollen, was politisch zu entscheiden ist und was schon in unserem Antrag vom Juli ganz Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Doch. eindeutig zum Ausdruck kommt. Ich sage Ihnen: Sie hätten doch die Entscheidung treffen können; gestern Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, das haben wir im Ausschuß debattiert. war eine Kurzintervention. Es war keinerlei Frage Wir haben in der letzten Woche im Gesundheitsaus- ersichtlich. schuß den Haushalt des Bundesgesundheitsministers (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 15960 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Ich habe den Kollegen — Hören Sie zu! — Danach meldeten die Behring- Hoffacker gefragt, ob er korrekterweise weiß, daß wir werke — also nach dieser Liste, die wir ja alle das festgelegt haben. bekommen haben — 344 von insgesamt 357 in der Zeit von 1986 bis 1993 gemeldeten Fällen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das hatten Sie am Für mich stellt sich die Frage: Stimmt das Melde- Anfang Ihres Redebeitrags vergessen. verfahren, oder wird nicht alles gemeldet? Wie sieht es mit der Kontrolle durch das Bundesgesundheitsamt aus, wenn ausgerechnet die Firma, die meines Wis- Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Dr. Thomae, sens als erste freiwillig ein Inaktivierungsverfahren ich nehme zur Kenntnis, was Sie eben sagten. Nur entwickelte und einsetzte, 95 % der gemeldeten Fälle würde ich dies gerne von Ihnen in Form eines schrift- bei rund 15 % Marktanteil auf sich vereinigt? Geht bei lichen Antrags vorliegen haben, daß das nur eine erste den Meldeverfahren alles mit rechten Dingen zu? Rate sein soll. Ein solcher Antrag liegt dem Deutschen Bundestag bisher jedoch nicht vor. Die Frage nach der politischen Verantwortung für diese Art von Informationspolitik des Bundesgesund- Aber wenn Sie schon von 2 Millionen DM reden heitsamtes geht — das will ich ohne Umschweife — Sie sagten: „korrekterweise" —, dann müssen Sie sagen — an die Adresse des Gesundheitsministers. korrekterweise auch sagen, daß die SPD einen 60- Millionen-DM-Fonds vorschlägt, bei dem wir verlan- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Eine berechtigte gen, daß von seiten des Bundes 20 Millionen DM Frage!) eingezahlt werden und daß sich Pharmaindustrie, Sie, Herr Minister Seehofer, haben dem Gesund- Rückversicherer und Rotes Kreuz den Rest zu teilen heitsausschuß des Deutschen Bundestages am 30. No- haben. vember letzten Jahres einen Bericht zur HIV - Infek- Meine Damen und Herren, ich möchte zu meinem tionsgefährdung durch Blutprodukte zugeleitet. Die- eigentlichen Debattenbeitrag kommen. Der Kollege ser Bericht ist durch die jüngst bekanntgewordenen Dr. Hoffacker hat sich sehr viel Zeit dafür genommen, Verdachtsfälle — so sie sich bestätigen — zur Maku- unseren Antrag auf Einsetzung einer unabhängigen, latur geworden. Sie haben diesen Bericht, den Sie im mit Richtern und Staatsanwälten besetzen-Experten- Vertrauen auf die gelieferten Daten und Fakten des kommission — die aus unserer Sicht schneller und Bundesgesundheitsamtes erstellt haben, offensicht- flexibler die Verantwortung urn die skandalösen Vor- lich ohne Gegenprüfung weitergeleitet. Sie haben gänge über HIV-Verdachtsfälle aufklären kann und sich — das ist der Vorwurf — in den 18 Monaten Ihrer somit eine echte Aufklärung bewirkt — in Abrede zu bisherigen Amtszeit offensichtlich zu wenig um das stellen. Amt gekümmert. Meine Damen und Herren, um was geht es? Zu Es ist auch auffallend — lassen Sie mich auch dies lange zieht sich schon diese Debatte um mögliche, sagen —, daß die Bundesregierung im Bundesgesund- bisher nicht bekannte HIV-Infek tionen hin. Die Angst, heitsamt die meisten Führungspositionen der letzten durch Blutpräparate mit dem HIV-Virus infiziert zu Jahre ohne Ausschreibung besetzt hat. Da drängt sich werden oder zu sein, ist groß. Die Ernsthaftigkeit der Eindruck von Mauschelei geradezu auf. Vielleicht dieses Problems erfordert allerdings, daß weder Panik sind auch darin die Ursachen der Skandalchronik des noch unnötiger Aktionismus erzeugt werden, aber Amtes der letzten Zeit zu suchen. Es ist ja nicht das auch nichts verharmlost wird. Hier hilft nur eines: erste Mal, daß das Bundesgesundheitsamt in das Aufklärung. Es muß endlich Licht in das Dunkel um Kreuzfeuer der öffentlichen Kri tik gerät. die seit Wochen kursierenden Meldungen von bisher nicht bekannten HIV-Verdachtsfällen gebracht wer- (Zuruf des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ den. CSU]) Es muß folgendes aufgeklärt werden: Gibt es inner- — Herr Kollege Zöller, wenn Sie mir sagen, welche der halb der Bundesbehörden Informationsmängel? War Führungspositionen in den letzten Jahren ausge- hier Fahrlässigkeit, fehlendes Pflichtbewußtsein und/ schrieben worden sind, wäre ich Ihnen sehr d ank- oder Schlamperei im Spiel? Wer ist dafür letzten Endes bar. verantwortlich? (Zuruf von der SPD: Ja!) Es ist nach wie vor ungeklärt — das ist auch nicht Ich meine, das alles gilt es aufzuklären. Es gilt durch Ihre Pressemitteilung, Herr Bundesgesund- aufzuklären, ob von der Bundesregierung, dem Bun- heitsminister, vom 22. Oktober ausgeräumt —, inwie- desgesundheitsamt oder den der Rechts- und Fach- weit es bei den 373 Verdachtsfällen vom 5. Oktober aufsicht des Bundesministers für Gesundheit unterste- 1993 zu den 370 Fällen, die von Staatssekretär Wagner henden Ins tituten durch zu spät erfolgte oder ganz am 8. Januar genannt wurden, Überschneidungen unterbliebene Maßnahmen Menschen zu Schaden gibt. Klar ist nur, daß es beim Bundesgesundheitsamt oder eventuell zu Tode gekommen sind. drei verschiedene Erfassungssysteme gibt, die unter- einander nicht abgleichbar sind. Wir sind der Ansicht, daß dies mit der von uns geforderten unabhängigen Expertenkommission Dubios ist auch die in dem Bericht des Bundesge- schneller zu leisten ist als mit einem parlamentari- sundheitsamtes vom 7. Oktober 1993 enthaltene Liste schen Untersuchungsausschuß. Denn wir wissen über die Anzahl der Fallberichte zu HIV-Infektionen genauso wie Sie, daß in einem parlamentarischen von Pharmaunte rnehmen. Untersuchungsausschuß die Mehrheit viele Möglich- (Bundesminister Horst Seehofer: Das stimmt keiten hat, mit der Geschäftsordnung unliebsame auch!) Untersuchungen zu verschleppen. Deshalb geben wir Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15961

Klaus Kirschner der Expertenkommission den Vorzug. Sollten Sie lionen DM vor. Daran hat sich der Bund mit 20 Mil- - diesen Antrag ablehnen, dann geht es Ihnen dabei lionen DM zu beteiligen. Den Rest der Summe haben nicht nur um formale Gründe. Wir werden dann Pharmaindustrie, Rückversicherungen und das Rote selbstverständlich von unserem parlamentarischen Kreuz aufzubringen. Recht Gebrauch machen, einen parlamentarischen (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Und die Län- Untersuchungsausschuß einzusetzen. Es muß jedoch der!) alle hellhörig machen, wenn Sie selbst einen Untersu- chungsausschuß fordern, der die Vorgänge untersu- Es ist erfreulich, Herr Minister, daß Sie — laut chen soll, für die Sie die politische Verantwortung Pressemitteilung von gestern — selbst einräumen, daß die von Ihnen bisher genannten 10 Millionen DM für haben. den Hilfsfonds unzureichend sind. Herr Kollege Dr. Hoffacker, ich will die Institution, (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Das ist kein den Betrieb oder die Einzelperson sehen, die sich Geheimnis!) einer solchen vom Parlament eingesetzten Experten- kommission verweigert. Wir haben an die Spitze Auch wenn Geld die Gesundheit nicht ersetzen kann, dieser Expertenkommission den ehemaligen Präsi- ist es doch das mindeste, was wir aus unserer Verant- denten des Bundesgerichtshofes, Herrn Dr. Pfeiffer, wortung jetzt tun müssen, nämlich materiell so zu vorgeschlagen. helfen, daß es wirklich ein ordentlicher Betrag und nicht nur ein Almosen für die Betroffenen wird. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Rechtliche Dies muß jedoch schnell geschehen, da 95 % der Grundlage!) Infektionen in der Zeit von 1981 bis 1985 stattfanden. Deshalb ist das, was Sie hier in den Raum stellen, ein Zwischen Infektion und Ausbruch der Krankheit lie- Scheinargument. Eine solche Kommission kann gen durchschnittlich zwölf Jahre, und deshalb ist Eile schneller arbeiten und ist parteiunabhängiger. angesagt. Dabei stellt sich für uns insbesondere die Frage: Gibt es — wenn ja, wie viele — noch unent- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das Pro deckte HIV-Infektionen vor 1985, vor allem durch blem ist nur, daß sie unzulässig ist! Einfach Gerinnungsmittel oder sonstige Blutprodukte? unzulässig und in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen!) Ich appelliere an Sie: Helfen Sie mit, daß schnell und ausreichend geholfen wird! Das können Sie mit Ihrer Ich sage dies nicht zuletzt im Hinblick auf die Wahlen, Zustimmung zu unserem Antrag tun. Helfen Sie mit, auf die Sie vorhin, Herr Kollege Dr. Hoffacker, hinge- daß schnell aufgeklärt und nichts unter dem Teppich wiesen haben. Umgekehrt wird nämlich ein Schuh bleibt oder unter den Teppich gekehrt wird! daraus. Vielen Dank. Meine Damen und Herren, wenn Bundesminister (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Inge- Seehofer — ich sage, zu Recht — die organisatori- borg Philipp [PDS/Linke Liste] - Dr. Paul schen und strukturellen Mängel im Bundesgesund- Hoffacker [CDU/CSU]: Richtig!) heitsamt beklagt, dann ist das Spiegelfechterei. Sie selbst sind es, der dafür letzten Endes die Verantwor- tung trägt. Sie sind auch der Adressat, der von Ihnen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der geforderten Verbesserungen der Risikominderung Kollege Dr. Bruno Menzel. bei der Blutversorgung.

Ich frage Sie: Haben Sie in Ihrer bisherigen Amtszeit Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine denn wirklich alles unternommen, um das diagnosti- sehr verehrten Damen und Herren! Die Verabrei- sche Fenster, d. h. das Risiko, so klein wie möglich zu chung von Blut und aus Plasma hergestellten Präpa- halten? raten hat ungezählten Menschen das Leben gerettet (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Können Sie oder konnte zur Heilung von Krankheiten beitragen das denn schließen?) bzw. die Folgen von krankhaften Prozessen wie im Falle der Bluterkrankheit segensreich beeinflussen. Warum wurden die nationale Eigenblutversorgung Um so tragischer ist es, wenn durch solch unverzicht- und die Eigenblutspende nicht konsequent vorange- bare Medikamente die Möglichkeit gegeben ist, uner- trieben, um damit die Importabhängigkeit von Blut- kannt tödliche Krankheiten zu übertragen, wie im produkten und das mögliche, unbekannte Spenderri- Falle Aids nachweislich geschehen. siko zu minimieren? Neben diesem Untersuchungs- Ich denke, nur zu verständlich sind dann die drän- auftrag stellt sich für uns vor allem die Frage: Wie genden Fragen, die an Medizin, staatliche Gesund- kann den Betroffenen finanziell geholfen werden? heitsbehörden und Politik gestellt werden, ob in der Ich sage hier noch einmal deutlich, damit das bei Vergangenheit alles Mögliche getan wurde, um solch dieser Art von Verwirrspiel, das hier offensichtlich verhängnisvolle Folgen zu vermeiden, und welche betrieben wird, Schritte man noch tun kann, um ein bis heute nicht auszuschließendes Restrisiko weiter zu minimieren. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Ja, von Deshalb begrüßt die F.D.P. ausdrücklich die heutige Ihnen!) Debatte zur HIV-Infektionsgefährdung durch Blut nicht untergeht: Wir schlagen in unserem Antrag, der und Blutprodukte, hoffend, daß von ihr und dem zu bereits im September im Bundestag beraten worden beantragenden Untersuchungsausschuß Initiativen ist und dem Gesundheitsausschuß vorliegt — ich sagte ausgehen werden, die den Sicherheitsstandard von dies schon —, einen Hilfsfonds von insgesamt 60 Mil Blut und Blutprodukten entsprechend den heute ver- 15962 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Bruno Menzel fügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen weiter parate, also Bluter, von dem noch unbekannten- verbessern. Krankheitserreger besonders be troffen seien. Meine Damen und Herren, es geht also nicht um Es ist eine Tatsache, daß wirksame diagnostische vorschnelle Schuldzuweisungen oder die Beurteilung und präventive Maßnahmen erst ab dem Zeitpunkt von Verhaltensweisen einzelner, da das der Bedeu- der Erregerisolierung ge troffen werden konnten. Das tung dieses Themas sicherlich nicht gerecht würde. geschah auch, nachdem es in der vergleichsweise Wir wollen auch nicht vom Rednerpult aus die Arbeit kurzen Zeit von nur drei Jahren nach Auftreten der des Untersuchungsausschusses vorwegnehmen. Wir Immunschwächekrankheit gelungen war, den Erre- wollen eine lückenlose Aufklärung aller in letzter Zeit ger der Krankheit zu erkennen und als Virus einzu- aufgetretenen Vorwürfe, und wir wollen vor allem, ordnen. Machen wir uns bitte einmal diese wissen- daß geschehenes Leid gemildert und zukünftiger schaftliche Leistung klar. Zum Vergleich: Der Syphi- Schaden vermieden wird und daß sich die Patienten, liserreger konnte erst 450 Jahre nach dem Auftreten die aus lebenserhaltenden oder lebensverlängernden der ersten Erkrankungen in Europa isoliert werden. Gründen auf Blut angewiesen sind, dieser Behand- Alle Erkenntnisse vor der Erregerisolierung, also lung ohne Angst in Kenntnis des tatsächlichen Risikos, vor allem die Ähnlichkeiten im Infektionsverhalten das letztlich bei jedem medizinischen Eingriff besteht, mit der Hepatitis B, z. B. die Übertragungswege, näm- unterziehen können. lich Sexualkontakte und Blut bzw. Blutprodukte, waren lediglich Analogieschlüsse und klinische Beob- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) achtungen. Alle retrospektiven Bewertungen, inwie- Ich möchte nicht falsch verstanden werden, meine weit solche Feststellungen Eingang in präventive Damen und Herren. Das ist keine Kritik an den Maßnahmen hätten finden sollen, bleiben spekula- Aktivitäten des Bundesgesundheitsministers. Er war tiv. nach Bekanntwerden der Vorfälle gezwungen, Im Dezember 1983 wurde in Deutschland die erste schnell zu handeln und die Öffentlichkeit zu informie- Aids-Erkrankung eines Bluters bekannt. Aber selbst ren. Zwangsläufig ist es dabei zu Verunsicherungen zu diesem Zeitpunkt gingen die Meinungen über die gekommen, zum Teil auch deshalb, weil die genauen ursächlichen Zusammenhänge noch auseinander. Hintergründe und Implikationen noch nicht vollstän- Das Risiko einer unbehandelten Hämophilieerkran- dig bekannt waren. Aber zum Abwarten war ange- kung wurde deutlich höher eingeschätzt als das einer sichts eines potentiellen Risikos wenig Zeit. Es geht HIV-Infektion. letztendlich um zwei Fragen. Erstens: Hätten HIV Infektionen durch Blutprodukte vor dem Hintergrund Noch im Dezember 1984 bezeichneten führende des jeweiligen medizinischen Kenntnisstandes tat- Mediziner einen Zusammenhang zwischen dem für sächlich vermieden werden können? Zweitens: Was Mitte 1985 vorgeschriebenen HTLV-Antikörpertest können wir an zusätzlicher Sicherheit für die Zukunft für Hämophiliemedikamente und der Aids-Erkran- erreichen? kung als nicht gesichert. Das einzige seit 1981 in Deutschland verfügbare inaktivierte Präparat wurde Fakt ist, daß die Forschung im Bereich Aids trotz der zudem von den Behandlern skeptisch beurteilt und noch ausstehenden Entwicklung aktiver Schutzmaß- hätte eine flächendeckende Versorgung aller Patien- nahmen wie beispielsweise eines Impfstoffes binnen ten zu diesem Zeitpunkt auch nicht zugelassen. kürzester Zeit Beachtliches geleistet hat. Man sollte (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Ist das eigent- nicht vergessen, daß Infektionskrankheiten, auch töd- lich unser Problem heute?) lich verlaufende, die Menschheit seit jeher begleiten und bisher mit Ausnahme der Pocken niemals voll- Ich will nicht weiter auf die Chronologie der Ereig- ständig beseitigt werden konnten. Die euphorische nisse eingehen. Es wird aber bei der Be trachtung der Annahme, mit der Entwicklung von Penizillin als Entwicklung im Zeitraum zwischen 1982 und 1986/87 Antibiotikum am Ende der 30er Jahre Herr über deutlich, daß, wie so oft in der Medizin, erheblich sämtliche Ansteckungskrankheiten werden zu kön- divergierende Meinungen über diese neue Krankheit nen, erwies sich als Illusion. Noch immer sterben und ihre Auswirkungen auf Risikogruppen existier- weltweit Hunderttausende Menschen an Infektions- ten.— Das ist natürlich unser Thema, Herr Kollege, krankheiten. Die Viren bilden immer neue Varianten. denn wir reden ja ausschließlich über diese Erkran- Sogar neue, unbekannte Krankheiten, wie eben bei kungen und die möglichen präventiven Maßnahmen, Aids Anfang der 80er Jahre in den USA geschehen, die ergriffen werden konnten. treten auf. (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Aber wir sind Mittlerweile ist erwiesen, daß angesichts des Krank- nicht in einer medizinischen Vorlesung!) heitsverlaufes bereits vor 1980 Infektionen mit dem — Ich denke, das, was ich hier sage, kann auch für Verursacher der Aids-Erkrankung vorhanden waren. Laien verständlich sein. Ich halte keine medizinische Eine Weiterverbreitung der Krankheit auch durch Vorlesung. Es sollte endlich einmal deutlich gesagt infiziertes Blut war also möglich, weil die Erkrankung werden, worum es geht. bzw. ihr Auslöser noch gar nicht bekannt war. Trotz des Auftretens der Erkrankung bei Hämophiliepa- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tienten wurde in Fachkreisen zu diesem Zeitpunkt ein Es ist auch klar, daß das BGA seit 1982 das Problem zwingender Zusammenhang zwischen der Verabrei- einer neuartigen Immunschwächekrankheit und der chung von Blutpräparaten und der Aids-Infektion Morbidität im Bereich der Hämophiliepatienten noch nicht gesehen. Dennoch hatte das BGA bereits kannte und Präventionsmaßnahmen eingeleitet hat. 1982 darauf hingewiesen, daß Empfänger dieser Prä- Eine qualitative Bewertung der Handlungsweise des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15963

Dr. Bruno Menzel BGA muß dabei die wissenschaftlichen und medizini- Krankheit, meine Damen und Herren, bedeutet- schen Rahmenbedingungen der ersten Hälfte der 80er Leid. Eine Krankheit, die stets tödlich verläuft, ist ein Jahre berücksichtigen. besonders schweres Schicksal für die Be troffenen. Wenn diese tödliche Erkrankung durch die Verabrei- Der 1. Oktober 1985 stellt in dieser Hinsicht eine chung von Medikamenten eintritt, von denen sich Zäsur dar. Ab diesem Datum wurde vom BGA die Patienten Heilung erhofften, so ist dies um so tragi- HTLV-Antikörpertestung für jede Blutspende vorge- scher. Es muß daher — ich betone dies ausdrücklich — schrieben. Die meisten Infektionen traten vor diesem trotz aller notwendigen Aufklärungsarbeit im Rahmen Zeitpunkt auf. Konnte man aber tatsächlich davon des Untersuchungsausschusses vor allem darum ausgehen, daß das Risiko einer HIV-Infizierung durch gehen, das Schicksal der Be troffenen zu lindern. Verabreichung von Blutpräparaten oder Transfusio- nen spätestens zu diesem Zeitpunkt weitestgehend (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ausgeschlossen war? Das ist die Frage, denn neben Ich begrüße es im Namen der F.D.P.-Fraktion, daß der Antikörpertestung wurden von den Herstellerfir- von seiten des Bundesgesundheitsministeriums be- men der Blutpräparate durchgängig gemäß ihrer reits vorab eine Entschädigungsregelung gefunden Verantwortung für die ordnungsgemäße Herstellung wurde, die unabhängig von weiteren Maßnahmen in der Arzneimittel Virusinaktivierungsverfahren ver- dieser Richtung den Be troffenen rasche Hilfe zuteil wendet, so daß sich entsprechende Vorschriften werden lassen soll. damals erübrigten. Mehrere Inaktivierungsmethoden waren im Gebrauch, die in ihrer Wirksamkeit vom Daneben müssen Überlegungen breiten Raum ein- BGA ähnlich beurteilt wurden. nehmen, wie die Sicherheit der Blutprodukte weiter verbessert werden kann. Leider — ich weiß dies aus Wir wissen aber mittlerweile, daß keinerlei Sicher- eigener Erfahrung — kann in der Medizin ein mehr heitsmaßnahmen das Risiko einer Infektion — speziell oder minder großes Restrisiko nie ausgeschlossen bei der Verabreichung von Frischblut — zu 100 werden. Dies betrifft auch die Diagnose einer HIV- ausschließen können. Angaben des Deutschen Roten Infektion. Die diagnostische Lücke kann bei Anwen- Kreuzes in meinem Heimatland, nämlich Sachsen- dung aller heute möglichen Teste nicht endgültig Anhalt, zufolge bewegt sich die Wahrscheinlichkeit geschlossen werden. einer Infektion über die Behandlung mit Blut oder (Zuruf von der SPD: Völlig klar!) Blutprodukten zwischen 1: 300 000 und 1 :3 Millio- nen. — Danke, daß Sie mir zustimmen, Herr Kollege. Ich denke, es waren auch weder dieses Risiko noch Auch durch regelmäßige Antigen- und Antikörper- Differenzen über die Dinge, die in der Vergangenheit teste bleibt letztendlich eine diagnostische Lücke oder hätten getan werden können oder unterlassen werden ein diagnostisches Fenster erhalten. müssen, die zur heutigen Debatte und der Beantra- Andererseits bleibt es unbestritten, daß die Immun- gung eines Untersuchungsausschusses geführt ha- schwächekrankheit nach wie vor eine der bedrohlich- ben. Vielmehr hat sich herausgestellt, daß der Bericht sten Krankheiten ist, deren Ausbreitung gegenwärtig des Bundesgesundheitsministers an den Ausschuß für nur durch präventive Maßnahmen eingedämmt wer- Gesundheit des Deutschen Bundestages vom 30. No- den kann. Neben den unbedingt notwendigen For- vember 1992 zur HIV-Infektionsgefährdung durch schungsaktivitäten müssen daher alle Anstrengungen Blutprodukte wohl nicht die ganze Wahrheit enthal- in Richtung einer Vermeidung von Infektionen zielen. ten hat. Im Bereich der medizinischen Behandlung mit Blut oder Blutprodukten müssen deshalb mehrere Maß- (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: So ist es!) nahmen erwogen werden. — Herr Kollege, ich komme schon zu dem Ziel; bloß Meine Damen und Herren, wir haben hier wieder- muß ja jeder verstehen, was hier gesagt wird. Ich holt heute schon von den Meldegewohnheiten und denke jedenfalls, das sind wir den Zuhörern schul- Meldepflichten gehört. Ich denke, das, was unver- dig. zichtbar ist und was dringend überprüft werden muß, ist tatsächlich die Frage: Wie, wann, was und an wen Trotz des eingangs Gesagten läßt sich nun einmal wird gemeldet? Es muß eine absolute Sicherheit nicht leugnen, daß in den letzten Wochen durch das bestehen, daß ein durchgehendes Meldesystem vor- Bekanntwerden weiterer infektiöser Chargen von handen ist, damit jederzeit auch retrospektiv verfolgt Blutpräparaten — lassen wir einmal dahingestellt, mit werden kann, wo welche Charge zu welcher Zeit an welchem Gefährdungspotential — eine große Verun- welchen Patienten unter welchen Bedingungen ver- sicherung der Bevölkerung entstanden ist. Daher ist abreicht worden ist. rückhaltlose Aufklärung dringend geboten. Wenn man sich über die Meldepraktiken unterhält, Um dies zu gewährleisten und weil es sich um ein dann muß man natürlich auch die Frage stellen, ebenso ernstes wie sensibles Thema handelt, bean- welche Möglichkeiten denn dem BGA im Rahmen der tragt die F.D.P. zusammen mit der CDU/CSU die bestehenden gesetzlichen Vorgaben gegeben waren, Einsetzung des Untersuchungsausschusses „HIV was für Meldemöglichkeiten also bestanden. Hier, Infektionsgefährdung durch Blut und Blutprodukte". denke ich, sollten wir natürlich unsere Möglichkeiten Und es ist kein Zufall, daß als erster Punkt eine wahrnehmen, zu prüfen, inwieweit hier Veränderun- Entschädigungsregelung für die durch Blut oder Blut- gen stattzufinden haben. Es bleibt unbes tritten, daß produkte Infizierten und ihre Angehörigen behandelt wir uns mit der Frage beschäftigen müssen: Wie werden soll. können wir Blut und Blutprodukte sicherer machen? 15964 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Bruno Menzel Das heißt, die Frage zu klären, ob es möglich ist, aus einfach schuldig. Die Politik ist dringend gefordert, eigenem Blutaufkommen alles selbst versorgen zu das Vertrauen der Menschen, vor allem aber der können, die Frage zu klären, wie wir mit den Spen- unmittelbar Be troffenen, in die staatlichen Gesund- dern umgehen, welche Sicherungsmöglichkeiten wir heitsinstitutionen wiederherzustellen. Die vorgese- noch haben, die Frage zu klären, inwieweit merkan- hene Umstrukturierung des BGA — dazu bedarf es ja tile Interessen in jedem Fall auszuschließen sind, den noch einer gesetzlichen Regelung — ist sicherlich ein Aufbau stabiler Spenderstämme zu betreiben und in Schritt, dem weitere folgen müssen. letzter Konsequenz den langfristigen Aufbau der Wenn es denn zur Einsetzung eines Untersuchungs- Eigenversorgung im Lande. ausschusses kommt — davon gehe ich aus —, dann Auf ärztlicher Seite ist darauf hinzuwirken, daß sollten wir uns hier von gegenseitigen Vorwürfen, daß strengste Auflagen an die Notwendigkeit der Behand- der eine oder andere vielleicht weniger interessiert ist, lung mit Frischblut gestellt werden und daß die dieses oder jenes aufzuklären, möglichst freihalten. Eigenblutspende wo immer möglich favorisiert Wir alle, die wir den Untersuchungsausschuß wollen, wird. wollen eine lückenlose, schnelle und vorbehaltlose Aufklärung. Dies einander zuzugestehen ist, glaube Auch die Qualitätssicherung im Bereich der Testla- ich, das Recht unter guten Demokraten. Es wäre auch boratorien muß verstärkt werden. Wir müssen uns ein Akt, um die so oft beschworene Politikverdrossen- noch einmal der Frage stellen, ob es heute schon heit ins Positive zu kehren, wenn nach außen hin möglich ist, Chargen von Blut und Blutprodukten sichtbar würde, daß über alle Parteigrenzen hinweg genauso zu behandeln wie solche von Impfstoffen und der gemeinsame Wille besteht, das zu verwirklichen, Sera, damit lückenlos verfolgt werden kann, wo und was wir am heutigen Tage in diesem Hause postulie- zu welchem Zeitpunkt welche Chargen verabreicht ren. wurden. Darüber hinaus muß geprüft werden, ob durch Quarantänelagerung, Verkleinerung der Pools Ich danke Ihnen. und Dokumentationen zur Ermittlung von Empfän- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gern weitere Sicherheitsgewinne erzielt werden kön- nen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächste Ich denke, unverzichtbar ist auch eine Intensivie- spricht Frau Kollegin Dr. Ursula Fischer. rung auf dem Gebiet der Infektionsmedizin, die über Jahre hinweg in Deutschland vernachlässigt wurde. Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tin! Meine Damen und Herren! Durch Blutgerin- nungspräparate, hergestellt überwiegend aus Blut- Das muß bereits im Rahmen des Medizinstudiums plasma US-amerikanischer Herkunft, sind in den sichtbar werden. Dies könnte man z. B. damit begin- alten Bundesländern vor allem in der ersten Hälfte der nen, daß man das Fach der Mikrobiologie nicht in die 80er Jahre fast 2 000 an der Bluterkrankheit leidende Vorklinik legt, sondern in die Klinik, wo nämlich Patienten mit dem Aids - Virus infiziert worden. Hinzu diejenigen, die sich später einmal mit diesem Fach kommen mehrere hundert Fälle von Infektionen, die beschäftigen sollen, auch die Möglichkeit haben, auf Bluttransfusionen zurückzuführen sind. Betroffen Zusammenhänge zwischen Krankheit und dem her- sind also nicht nur Bluter, die die Medikamente zustellen, was sie dort theoretisch geboten bekom- regelmäßig erhalten müssen, sondern auch Men- men. schen, die einmalig im Zusammenhang mit Operatio- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU nen, Geburten oder anderen medizinischen Eingriffen sowie bei Abgeordneten der SPD) Gerinnungspräparate verordnet bekommen haben. Wie viele Menschen dieses Schicksal erlitten haben, Parallel zu diesen Maßnahmen wäre es natürlich ist nicht genau bekannt. Insgesamt handelt es sich um auch angezeigt, die wissenschaftlichen und medizini- ein an Tragik und Leid kaum zu überbietendes schen Voraussetzungen im Bereich der Aids-For- Geschehen, das seit Mitte der 80er Jahre den Betrof- schung und -Bekämpfung auf breiter Ebene zu ver- fenen in seinen ganzem Ausmaß zunehmend bekannt bessern. und bewußt geworden ist. Auch bin ich der Ansicht, meine Damen und Herren, Wer angesichts einer solchen Situation gedacht daß die epidemiologische Forschung in Deutschland hatte, nach gründlichen Analysen, die ja vorliegen, insgesamt dringend verbesserungsbedürftig ist. würden rasch notwendige Schlußfolgerungen gezo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen und erforderliche Hilfsmaßnahmen durchgeführt, wurde schwer enttäuscht. Bis heute sind als richtig Dies hängt natürlich wieder eindeutig damit zusam- und notwendig erkannte Sicherheitsmaßnahmen men, welche Möglichkeiten wir im Meldewesen nicht ins geltende Recht aufgenommen worden. Ich haben. Hier muß man tatsächlich die Interessen des erwähne hier nur eine unzureichende staatliche Char- einzelnen und die Interessen der Gemeinschaft zur genkontrolle, die mangelhafte Chargendokumenta- Bewahrung und Sicherung vor eventuell noch in der tion oder — ein sehr wichtiger Punkt — fehlende Zukunft auftretenden infektiösen Krankheiten abwä- Auflagenbefugnisse der Behörden. Bis heute sind die gen. Opfer nicht entsprechend entschädigt worden, von All diese Detailfragen können an dieser Stelle nur einer sozialen Absicherung ganz zu schweigen. skizziert werden. Man wird sich im Untersuchungs- Was wir allerdings, Kolleginnen und Kollegen, in ausschuß sehr intensiv mit all diesen Aspekten den letzten Wochen erlebt haben, hat mit dem eigent- beschäftigen müssen. Das sind wir der Bevölkerung lichen Problem nur indirekt zu tun und bildet ein Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15965

Dr. Ursula Fischer Kapitel für sich. Wie sich stets rasch herausstellte, man so will, ist es in diesem Punkt der Bundesregie- haben weder eine angeblich plötzlich aufgetauchte rung gar nicht so unähnlich. Schließlich ist beides Liste von 373 Verdachtsfällen noch der zweite ver- systembedingt. meintlich sensationelle Fall einer sogenannten Nicht- Jedenfalls liegt der Verdacht nahe, daß es diese meldung aus dem Jahr 1990 in der Sache etwas Neues Nähe zur Indus trie ist, die das Amt in der Wahrneh- ergeben; auch da sollten wir ehrlich sein. Das Risiko mung seiner im wahrsten Sinne des Wortes lebens- von Blutern und anderen Menschen, sich im Zusam- wichtigen Informations-, Warn- und Aufklärungs- menhang mit Blutprodukten mit dem Aids-Virus zu pflichten immer wieder so eigenartig gelähmt hat. infizieren, ist gegenwärtig zwar weiter reduzierbar, aber eben noch nicht völlig auszuschließen. Seit 1985 Mit der im Schnellschußverfahren angekündigten ist dieses Risiko zum Glück unverändert sehr gering Auflösung des BGA und der Verselbständigung sei- geblieben. ner Teilinstitute ist allerdings noch nichts gewonnen. Eher drängt sich hier der Eindruck einer geradezu In erschreckender Weise hat sich aber etwas bestä- abenteuerlichen Kopflosigkeit auf. Lassen Sie sich tigt, was Insidern seit langem bekannt ist: Die Infor- rechtzeitig warnen, Herr Minister, und überdenken mations- und sonstigen Beziehungen zwischen dem Sie diesen voreiligen Schritt noch einmal in a ller Bundesministerium für Gesundheit und dem Bundes- Ruhe. gesundheitsamt sind offenbar in einem katastropha- len Zustand. Wenn höchstrangige leitende Beamte Es ist doch überhaupt nicht gesagt, vielmehr ziem- beider Institutionen nicht sofort und aus dem Stand lich unwahrscheinlich, daß die richtige Alternative erklären können, was es mit einer bestimmten statisti- zum jetzigen äußerst kritikwürdigen Zustand ausge- schen Liste auf sich hat, wirft das allerdings ein rechnet die simple Auflösung dieses Amtes ist. Dazwi- schlimmes Licht auf die Qualitäten dieser in einem schen stehen bekanntlich weitere Varianten. Jeden- hochsensiblen Bereich tätigen Führungskräfte. Ne- falls rechtfertigen es die genannten Informationsdefi- benbei gefragt: Wer ist eigentlich für ihre Berufung zite und auch die sonstigen Verfehlungen keines- zuständig? Es ist doch wohl noch immer so, daß wegs, eine Institution mit diesem nationalen und langanhaltende Mißstände bei obersten Bundesbe- internationalen Gewicht und mit der Tradition des hörden in die politische Verantwortlichkeit der jeweils BGA über Nacht einfach zu beseitigen. Regierenden fallen. Vieles spricht im Gegenteil dafür, durch eine gründ- Meine Damen und Herren, was ist das unmittelbare lich durchdachte Reorganisation besonders die inter- Ergebnis der jüngsten so skandalträchtigen Enthül- disziplinären wissenschaftlichen Möglichkeiten der lungen? Erstens. Die Öffentlichkeit und auch das Institute richtig auszuschöpfen, statt sie zu erschweren medizinische Personal sind nicht etwa besser infor- oder unmöglich zu machen. Bei den im BGA anste- miert als vorher, dafür aber tief verwirrt und verunsi- henden Forschungen zum Gesundheits-, Umwelt- chert. Zur Zeit lehnen viele Menschen notwendige und Verbraucherschutz wird gerade das in Zukunft Bluttransfusionen ab, verschieben Operationen oder immer wichtiger sein. verweigern sogar irrationalerweise bisher geleistete Blutspenden. Man sieht: Auf solche Weise kann sich Im übrigen würde durch die Auflösung des BGA ein Gesundheitsminister sehr schnell auch einmal auch der öffentliche Gesundheitsdienst einen weite- zum Gesundheitsrisiko wandeln. ren Eckpfeiler seiner Tätigkeit verlieren, was seine ohnehin schon bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Iden- Zweitens. In der Presse hat eine pauschale Verur- tität weiter schwer beschädigen würde. teilung des BGA eingesetzt, die auch dann erschrek- ken muß, wenn man um viele Fehlleistungen und Alles in allem ist gegenwärtig die Gefahr nicht von Probleme dieses Amtes weiß. Den Mitarbeitern wer- der Hand zu weisen, daß die Leistungsfähigkeit des den nun en bloc Unfähigkeit, bürokratische Untätig- BGA auf unverantwortliche Weise gegen Null gefah- keit, Schlamperei, Bestechlichkeit und alle möglichen ren wird. Wichtig ist seine Reorganisation; darüber sonstigen Infamien unterstellt. Nach dem Alles-oder- muß man sich auch unterhalten. nichts-Prinzip, dem absoluten Gegenteil einer diffe- Der gegenwärtig in den Medien ablaufende Aids- renzierten Betrachtung, ist das letzte Vertrauen der Skandal hat allerdings auch sein Gutes. Endlich und Bevölkerung in das BGA erst einmal gründlich zer- erstmalig seit fast zehn Jahren dringt nun das wirkli- schlagen worden. che Problem in das Bewußtsein der Öffentlichkeit. Es Natürlich ist es bitter notwendig, die Fehler und ist die lange vertuschte Wahrheit, daß es auch in Mängel in der Arbeit dieses Amtes aufzudecken. Nur diesem Land eine echte Arzneimittelkatastrophe im so können sie korrigiert werden. Aber das Pannenre- Zusammenhang mit HIV-kontaminierten Blutpro- gister des BGA ist bekanntlich noch wesentlich län- dukten gibt, und zwar in einem bisher unvorstellbaren ger, als jetzt quasi ausschnittartig untersucht werden Ausmaß. Bis heute sind keine Garantien dafür soll. geschaffen worden, daß sich nach menschlichem Ermessen eine ähnliche Katastrophe nicht wiederho- Besonders schwer wiegt zweifellos der Vorwurf der len kann. Deutschen Hämophiliegesellschaft, daß das BGA — ich zitiere — „das Sicherheitsbedürfnis der Patien- Es wurde sehr bald klar, daß der bestehende gesetz- ten ökonomischen Interessen der Hersteller und der liche Rahmen auch für bestimmte Entschädigungslei- pharmazeutischen Industrie untergeordnet hat". Da- stungen, Haftungen usw. nicht ausreichend ist. Das mit ist wohl die allem zugrunde liegende eigentliche bisherige Ergebnis dieses Zustandes ist: Bis heute Krankheit des Bundesgesundheitsamts benannt, haben die Be troffenen, ihre Angehörigen und Hinter- nämlich seine übergroße Nähe zur Industrie. Wenn bliebenen keine auch nur annähernd adäquaten Ent- 15966 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Ursula Fischer schädigungen bekommen — es sei denn, m an will die ganze Menschengruppen diskriminiert und ausge- Almosen, die ihnen die Versicherungen der Phar- grenzt werden? maindustrie bezahlt haben, als solche bewerten. Notwendig ist dagegen weiterhin eine vorrangige Allein den seelischen Schaden durch eine Aids- Präventionspolitik durch eine sinnvolle Aufklärung Infektion bewertet ein französisches Ge richt mit etwa und der Ausbau der Hilfsangebote zur Beratung. Aber 500 000 DM. — Da kann man sich ungefähr vorstellen, schon gibt es große Sorgen, Unsicherheiten und was die ganzen Summen, die hier im Spiel sind, Ängste unter den Betroffenen. bedeuten. — Die Versicherer der deutschen Phar- maindustrie haben es inzwischen auf durchschnittlich Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin 60 000 DM je Opfer gebracht, die Beerdigungskosten Fischer, Ihre Redezeit ist überschritten. makabererweise ausdrücklich inklusive. Dafür muß- ten die Geschädigten dann auch noch auf jegliche Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Ich komme weitere Rechtsmittel verzichten. zum Schluß. — Wir werden uns gegenüber den Auch ein Fonds von 10 Millionen DM, wie er von vorliegenden Anträgen insgesamt enthalten. Wir sind den Koalitionsfraktionen noch im Zusammenhang mit für Expertenkommissionen, und zwar für zwei. Wir der bisherigen Haushaltsdebatte vorgesehen wurde, werden sehen, was nach all den Vereinbarungen reichte wohl, käme er denn zustande, kaum aus, um heute nachmittag herauskommt und wie m an sich auch nur annähernd das Notwendigste zu tun. dann verhalten will. Wir wollen in der Sache nicht Allerdings gab es wenigstens bis vor kurzem die stören; aber wir denken, das ist das falsche Instrumen- tarium. Absicht, schnell zu handeln. Jetzt soll nach dem Willen der Koalitionsfraktionen im beantragten parla- Ich bedanke mich. mentarischen Untersuchungsausschuß über Begrün- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei dung, Art und Höhe einer finanziellen Entschädigung Abgeordneten der SPD) debattiert werden. Auch wenn dies zuerst geschehen soll, sagen wir dazu: Wer wirklich will, daß den Opfern Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht Frau rasch geholfen wird, braucht dafür keinen Untersu- Kollegin Vera Wollenberger. chungsausschuß, sondern vor allem den notwendigen politischen Willen, die erforderlichen Mittel bereitzu- stellen. Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das (Beifall bei der PDS/Linke Liste, der SPD und Problem, das wir heute diskutieren, ist nur die Spitze dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) des Eisberges, der im übrigen keineswegs überra- Natürlich ist es darüber hinaus auch notwendig, alle schend aufgetaucht ist, im Gegenteil. Ein Blick auf nur möglichen Garantien zu schaffen, damit sich eine den CDU-Antrag genügt, um zu wissen, daß der solche Katastrophe nicht wiederholen kann. Ausschuß Erkenntnisse gewinnen soll, die längst vorliegen, die bisher aber noch nicht in die politischen Noch am 13. dieses Monats hielten es der Gesund- Entscheidungsprozesse einbezogen worden sind. heitsminister und Abgeordnete der Koalitionsfraktio- nen für möglich, daß zur nochmaligen Gegenprüfung Die Situation der durch Blut und Blutprodukte HIV-infizierten Personen ist längst bekannt. Dem aller wichtigen Vorgänge eine Arbeitsgruppe mit Gesetzgeber sind bereits etliche brauchbare Vor- einem unabhängigen Beirat an der Seite eingesetzt wird. Ich kann mir den Sinneswandel hin zu einem schläge gemacht worden. Selbst wenn man sich als Laie, wie ich es get an umständlichen parlamentarischen Untersuchungs- habe, nur wenige Stunden mit einem Bruchteil des vorhandenen Mate ausschuß nicht erklären. Denn was ist das andere rials beschäf- gewesen, wenn nicht eine Expertenkommission? tigt, z. B. mit dem Protokoll der 55. Sitzung des Gesundheitsausschusses oder den Stellungnahmen Inzwischen, meine Damen und Herren, haben die zum Bericht des Gesundheitsministers aus dem Ungereimtheiten, Kopflosigkeiten und panikartigen Gesundheitsausschuß des Bundestages zur HIV- Reaktionen der Regierung und der Koalitionsparteien Infektionsgefährdung durch Blutprodukte, kommt für mich teilweise groteske Formen angenommen. Die man schnell zu dem Schluß, daß nicht mehr unter- vorerst letzte Flucht nach vorn heißt nun: Einsetzung sucht, sondern dringend gehandelt werden muß. Ein eines parlamentarischen Untersuchungsausschus- Untersuchungsausschuß, der längst bekannte Tatsa- ses. chen recherchieren soll, blockiert nur den dringenden Folgendes möchte ich noch besonders betonen: politischen Entscheidungsbedarf. Alles im Zusammenhang mit den Blutprodukten Den Anmerkungen von Dr. Fiedler zum oben Geschehene steht in keinerlei Zusammenhang mit der erwähnten Bericht des Gesundheitsministers ent- bisherigen Aids - Politik dieses Landes. Es gibt deshalb nehme ich, daß der Bundesregierung erstens die überhaupt keinen Grund, sie zu ändern und z. B. Bedenken der Wissenschaft gegen die Verwendung Zwangstests einzuführen, Anonymitäten zu beseiti- kommerziellen Plasmas von bezahlten Spendern, gen und auf generelle Meldepflichten zurückzugrei- besonders ausländischer Herkunft, zur Herstellung f en. von Blutgerinnungsfaktor-Konzentraten rechtzeitig vor Ausbruch der HIV-Pandemie bekannt waren; daß (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei die Bundesregierung zweitens gleichwohl nichts Abgeordneten der SPD) unternommen hat, derartige Plasma-Importe einzu- Es muß alarmieren, daß das alles bereits wieder schränken, sondern im Gegenteil gegen die Hersteller diskutiert wird. Sollen denn auch auf diesem Feld inländischen, unentgeltlich gespendeten Plasmas seit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15967

Vera Wollenberger 1981 restriktive Maßnahmen ergriffen hat; daß die Getreide für Nahrungszwecke verwendet werden Bundesregierung drittens auch nach Erkennbarwer- konnte. Kinder, die Produkte aus diesem Getreide den des Ausbruchs der HIV-Pandemie trotz mehrma- aßen, erkrankten in der Folge an Quecksilbervergif- liger Warnung des Europarates die Maßnahmen zur tung. Ich ziehe diese Parallele hier bewußt, um auf das Diskriminierung der Hersteller inländischen, unent- Ausmaß der politischen Verantwortungslosigkeit auf- geltlich gespendeten Plasmas nicht gelockert hat. merksam zu machen. Als Folge dieser Politik der Bundesregierung gehört Die durch verseuchte Gerinnungspräparate verur- die Alt-BRD heute laut WHO zu den vier westeuropäi- sachte Infektion von Hämophilen ist die bisher größte schen Ländern mit der höchsten Aids-Infektionsrate Arzneimittelkatastrophe dieses Jahrhunderts. Das unter den Empfängern von Blutgerinnungsfaktor- muß nicht mehr untersucht werden, das steht bereits Konzentraten. fest. Und die politisch Verantwortlichen müssen zur Bereits vor 20 Jahren wurde die Bundesregierung in Rechenschaft gezogen werden. Minister Seehofer hat einer Kleinen Anfrage im Deutschen Bundestag auf die ersten Schritte in die richtige Richtung getan, aber schwerwiegende seuchenhygienische Bedenken ge- weitere müssen unbedingt folgen. gen den Import ausländischen Plasmas zur Herstel- Meine Damen und Herren, ich habe vorhin gesagt, lung gerinnungsaktiver Blutbestandteile hingewie- daß der HIV-Skandal nur die Spitze des Eisberges ist. sen. Die Bundesregierung trat diesen Bedenken Wenn wir heute schon einen Untersuchungsausschuß damals mit der unhaltbaren Behauptung entgegen, einsetzen, dann sollte er sich Fragen zuwenden, die daß bei den 1974 üblichen Verfahren möglicherweise bisher in der Öffentlichkeit noch nicht diskutiert vorhandene Hepatitis-Viren mit Sicherheit abgetötet worden sind. Zum Beispiel der Frage: Wie hoch sind in werden würden. Die Folge war, daß Bluter in den Blut- und Plasmapräparaten Umweltgifte vorhanden, siebziger Jahren durch verseuchtes Blut mit Hepatitis wie weit sind diese Blut- und Plasmapräparate mit infiziert wurden. Bereits diese Hepatitis-Infektionen Umweltgiften verseucht? durch Gerinnungspräparate bei Hämophilen hätten zu einer längst überfälligen, durch das BGA vorge- Besonders die kommerziellen Spender in der Drit- schriebenen Virus-Inaktivierung führen müssen. ten Welt leben in einer ärmlichen mit Pestiziden und anderen Giften hoch belasteten Umgebung. Viren Spätestens aber Anfang 1983 nach Veröffentli- kann man abtöten, aber Umweltgifte bleiben im chung der Schnellinformation „Unbekannter Krank- Spenderblut. Es wird zwar jetzt endlich über den heitserreger als Ursache von tödlich verlaufenden Ausstieg aus dem Blutimport nachgedacht — übrigens erworbenen Immundefekten" im „Bundesgesund- 20 Jahre zu spät —, aber damit ist das Problem nicht heitsblatt" vom Dezember 1982, wo männliche homo- gelöst. Auch unser Blut ist hoch belastet. sexuelle Einwanderer aus Haiti, Drogenabhängige und Empfänger von Faktor-8-Konzentraten als beson- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern deshalb mit ders Be troffene beschrieben wurden, hätte das BGA allem Nachdruck eine Offenlegung der Daten über den Pharmafirmen Virusinaktivierungsverfahren für Umweltgifte im Spenderblut und danach natürlich die die Präparate vorschreiben und Risikospender von der entsprechenden politischen Maßnahmen. Blut- und Plasmaspende ausschließen müssen. Weiter sind dem BGA und dem aufsichtsführenden Aber nichts geschah. So konnte die Aids-Katastro- Bundesgesundheitsministerium in der Vergangenheit phe ungestört ihren Lauf nehmen. — neben den folgenschweren Versäumnissen bei der Die Versäumnisse gehen aber noch weiter. Immer Bewertung der HIV-Infektionsgefährdung durch Blut wieder wurde darauf hingewiesen, daß die Wahr- und Blutprodukte — auch im Hinblick auf den Schutz scheinlichkeit der Übertragung von Virusinfektionen der Bevölkerung vor gesundheitsschädlichen Stoffen mit der Größe des verwendeten Plasmapools ansteigt. in Produkten sowie aus Produktionsprozessen Das ist eine Erkenntnis, die jedem Laien unmittelbar unsachgemäße, weil nicht am wissenschaftlichen einleuchtet, aber nicht den Beamten des Bundesge- Erkenntnisstand und am Prinzip des vorbeugenden sundheitsamtes. Gesundheitsschutzes orientierte Bewertungen vorzu- halten. Im Wortprotokoll zur 55. Sitzung des Gesundheits- ausschusses und in den Stellungnahmen zum Bericht Genannt seien hier nur die Stichworte: Formalde- des Gesundheitsministeriums kann man nachlesen, hyd, Dioxine, Asbest, Holzschutzmittel. Eklatante Bei- daß von verantwortlicher Seite nach wie vor eine spiele sind die gesundheitliche Bewertung von PVC- Verkleinerung der Poolgröße abgelehnt wird. Es wird haltigen Holzschutzmitteln sowie von Asbestzement. dabei vom Verdünnungseffekt gesprochen, der im Denn in beiden Fällen besteht der konkrete Verdacht, Falle eines größeren Pools wesentlich höher wäre. Daß daß die industriefreundlichen Bewertungen enger mit ansteigender Poolgröße auch die Wahrscheinlich- Zusammenarbeit und personellen Verflechtungen keit steigt, daß infiziertes Blut in den Pool gelangt, zwischen Industrie, Bundesgesundheitsministerium wird glatt unterschlagen. und Bundesgesundheitsamt sowie diversen Kommis- sionen zuzuschreiben sind. Mit dem Verdünnungseffekt, meine lieben Kolle- ginnen und Kollegen, wurde übrigens in der DDR gern Im Hinblick auf Asbest kam der Bundesrechnungs- Politik gemacht. So wurde zum Beispiel hochbelaste- hof 1989 zu der Einschätzung, daß es im Bundesge- tes, mit Quecksilber kontaminiertes Getreide solange sundheitsamt kaum ein Forschungsvorhaben zu verschnitten, bis das Quecksilber nach Ansicht der Asbest gäbe, in das nicht langfristig Gelder der Verantwortlichen soweit verdünnt war, daß das Asbestindustrie geflossen seien. 15968 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Vera Wollenberger Eine rückhaltlose, für die Öffentlichkeit und das nicht mehr zu einer Transfusion zuzulassen. Die Parlament nachvollziehbare Aufklärung der Ver- akute Gefahrenlage gebietet die Sicherstellung flechtung hat nicht stattgefunden. Das Bundesge- der in Frage kommenden, noch vorhandenen sundheitsministerium hielt Informationen gezielt zu- gefrorenen Plasmabeutel auf der Grundlage des rück und gab auf parlamentarische Anfragen und in § 69 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes in Ver- der Fragestunde des Deutschen Bundestages auswei- bindung mit den jeweiligen Polizeigesetzen des chende und zum Teil wahrheitswidrige Auskünfte. betreffenden Landes. Anordnende Behörde ist Die Glaubwürdigkeit des Bundesgesundheitsamtes das Gesundheitsministerium Rheinland-Pfalz in bzw. seiner sechs eigenständigen Nachfolgeinstitute Mainz in Verbindung mit der Bezirksregierung kann nur dann wiederhergestellt werden, wenn in der Koblenz. Nach den sichergestellten Unterlagen Vergangenheit umstrittene Entscheidungen des Bun- kommen folgende Abnehmer in Betracht:.. . desgesundheitsamtes konsequent überprüft werden. Es werden dann 54 Krankenhäuser und Firmen in der Eine derartige Überprüfung ist auch geboten, weil Bundesrepublik Deutschl and namentlich aufgeführt. Empfehlungen und Richtwerte des BGA für den Gesetzgeber und die Rechtsprechung weitgehend Meine Damen und Herren, es handelt sich um die normativen Charakter haben. Sie beeinflussen Ent- Firma, deren Name ich in der ersten öffentlichen scheidungen für Sanierungsmaßnahmen, Produkti- Sitzung des Gesundheitsausschusses nach Bekannt- onsweisen und Produktionszusammensetzungen so- werden dieser Vorgänge am 8. Oktober 1993 als eine wie des Technologiestandards. Sie haben darüber der zweifelhaften Firmen dem Ausschuß schriftlich hinaus für Unternehmen erhebliche Bedeutung, wenn vorgelegt habe. Das ist die Firma, über die das in Produktionshaftungsverfahren auf Untersuchungs- Bundesgesundheitsamt seit 1991 konkrete und auch ergebnisse des BGA Bezug genommen wird. Das zweifelhafte Informationen hatte und diese Informa- geschieht in der Regel zu Lasten der Betroffenen. tionen für sich behalten hat. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatten einen Ände- Wer mich kennt, weiß, daß ich mich nicht leicht rungsantrag für die Aussetzung dieses Untersu- ärgere. Aber manche Kommentare und Veröffentli- chungsausschusses vorbereitet. Da wir aber wissen, chungen der letzten Tage, dies alles aus den letzten daß solche Änderungsanträge sowieso nur abgelehnt Wochen sei Panikmache gewesen und hätte in erster werden, möchte ich an dieser Stelle an die Kollegen Linie der Selbstdarstellung des Ministers gedient, der SPD appellieren, dafür zu sorgen, daß sich dieser haben bei mir, so bedauerlich diese Vorgänge sind, Untersuchungsausschuß nicht nur mit der HIV-Infek- die blanke Wut ausgelöst, die blanke Wut. tionsgefährdung durch Blut und Blutprodukte befaßt, (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und sondern auch mit der Gesundheitsgefährdung durch dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) PCB-haltige Holzschutzmittel, mit der Gesundheits- gefährdung durch Abwitterung von Asbest und even- Denn, meine Damen und Herren, hier geht es nicht um tuell mit ähnlichen Sk andalen. Wenn überhaupt ein eine Selbstdarstellung, hier geht es nicht um ein Untersuchungsausschuß eingesetzt wird, ist dies nur Kopfwehmittel, sondern hier geht es um lebensge- dann sinnvoll, wenn dem ganzen Ausmaß des Skan- fährliche Dinge. Welche Kaltschnäuzigkeit muß sich dals auf den Grund gegangen wird und nicht nur bei manchen Menschen dahinter verbergen, wenn sie Schmalspuruntersuchungen betrieben werden. mir unterstellen, ich hätte dieses ganze Theater in den Vielen Dank. letzten Wochen nur deshalb angezettelt, damit ich mich in der Öffentlichkeit darstellen kann! Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Herr Meine Damen und Herren, das einzige Leitmotiv Bundesminister für Gesundheit, Horst Seehofer, das meines Handelns war der Schutz der Gesundheit der Wort . Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland und nichts anderes. Leider Gottes bekomme ich täglich Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: immer mehr Informationen, die die Richtigkeit meines Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Handelns und die Richtigkeit des Handelns der Koali- Herren! Heute nacht hat mir das Lagezentrum des tion belegen. Bundesinnenministeriums mit dem Betreff „Abwehr Wenn Sie von der politischen Verantwortung von Arzneimittelrisiken — Gefrorenes Frischplasma gesprochen haben, Herr Kirschner: Die Überwachung der Firma UB-Plasma — Labor Koblenz — Strafver- der Blutspendedienste und der Firmen, die Blutpro- fahren der Staatsanwaltschaft Koblenz ..." folgen- dukte herstellen, liegt bei den Ländern, in diesem des mitgeteilt: Falle bei Rheinland-Pfalz. Ich bin sehr dafür, daß wir Auf der Grundlage der bislang geführten Ermitt- uns gemeinsam bemühen, diese Dinge nicht in eine lungen ist der Verdacht gerechtfertigt, daß gefro- parteipolitische Auseinandersetzung zu zerren. renes Frischplasma der Firma UB-Plasma nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ausreichend auf Infektionsparameter (insbeson- dere HIV-Virus, AIDS-Virus) getestet wurde. Es Nur, Herr Kirschner: Wenn Sie ständig die Frage nach kann nicht ausgeschlossen werden, daß bislang der politischen Verantwortung für manches, was ich ausgelieferte Plasmabeutel möglicherweise mit in den letzten Tagen gesagt habe, stellen, wo ich nicht dem HI-Virus infiziert sind. Deshalb ist es drin- von irgend jemand ertappt wurde, sondern die Öffent- gend erforderlich, sofort die nachfolgenden Kun- lichkeit über Dinge informiert habe, die ich selbst den der Firma UB-Plasma, die in 1993 beliefert recherchiert habe, und wenn Sie dies weiter zum wurden, dahin zu informieren, Beutel mit gefro- Gegenstand einer parteipolitischen Auseinanderset- renem Frischplasma der UB-Plasma in Koblenz zung machen wollen, was ich mir nicht wünsche, dann Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15969

Bundesminister Horst Seehofer wird sich eines Tages auch die Frage stellen: Wer hat Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Herr Minister, Sie haben- die politische Verantwortung in Rheinland-Pfalz für eben den Fall UB Plasma von Koblenz dargestellt. Sie die Überwachung dieser Firma in den letzten Mona- sagten, daß 54 Krankenhäuser beliefert wurden, sag- ten und Jahren gehabt? ten aber nicht, in welchem Umfang Blutersatzstoffe an (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — diese Krankenhäuser geliefert wurden. Könnten Sie Zuruf von der SPD: Das ist doch keine partei uns hier bitte nähere Auskunft darüber geben? politische Frage!) Bundesminister für Gesundheit: Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik Horst Seehofer, Herr Dr. Thomae, ich habe noch keine näheren Deutschland sind 60 000 Menschen mit dem Virus Informationen, ich bekam gerade von Rheinland-Pfalz HIV infiziert, die Mitteilung, daß die Geschäftsräume versiegelt (Zuruf von der SPD) worden sind und die Bezirksregierung den Widerruf 10 000 Menschen sind an Aids erkrankt, die Hälfte der Herstellungserlaubnis dieser Firma veranlassen von diesen 10 000 sind inzwischen verstorben. Es wird. Ich habe zur Stunde jedoch keine näheren gehört zur Klarheit und Wahrheit, wenn wir der Informationen über den Umfang der weitergeleiteten Öffentlichkeit sagen: HIV und Aids ist die heimtük- Blutprodukte. kischste Infektionskrankheit unserer Zeit, und es Meine Damen und Herren, Leitmotiv meines H an bleibt bei den Grundlinien der Aidspolitik: Weil diese -delns ist es also, von allen Beteiligten jeden Tag Krankheit nicht geheilt werden kann, weil wir bis zur höchste Aufmerksamkeit abzuverlangen, damit sich Stunde keinen Impfstoff gegen diese Krankheit diese Katastrophe der 80er Jahre nicht wiederholt. haben, sind Aufklärung und Prävention die wichtig- sten Mittel, um eine Infektion zu vermeiden. Ich habe erste Zweifel an der Richtigkeit des Berichts, den ich dem Parlament vorgelegt habe, Zweitens, meine Damen und Herren: HIV-Infektio- bekommen, als ich nach einer Veröffentlichung nen und Aidserkrankungen bringen unsägliches see- bezüglich dieser Firma Anfang September mit eige- lisches und persönliches Leid für die betroffenen nen Recherchen intensiver Art begonnen habe. Leider Menschen. Deshalb muß es unser Bemühen auch in Gottes ist die Angelegenheit in der Öffentlichkeit, der Zukunft sein, den Betroffenen medizinische, auch in vielen Leitartikeln, zu wenig beurteilt worden. soziale und psychologische Hilfe zu gewähren. Wir Man hat sich immer nur allein mit der Informations- müssen weiter eine Politik betreiben, die nicht zu politik und diesen 373 Fällen beschäftigt, hat aber einer Isolation, zu einer Ausgrenzung der Betroffenen völlig übersehen, daß diese Liste dein Ausschuß am führt. Meine Damen und Herren, ich möchte es als 8. Oktober vorgelegt wurde. Aus der Liste ergibt sich, Grundlinie der Aids-Politik auch für die Zukunft in daß diese Firma bereits im Jahre 1991 mit einem dem Satz zusammenfassen: Wir müssen die Krankheit negativen Ergebnis getestet hat, was im Aids-Zen- bekämpfen und dürfen nicht die Kranken bekämp- trum zu einem positiven Ergebnis geführt hat, und daß f en. auf dieser Liste, einer Liste des Bundesgesundheits- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) amtes, der lapidare Satz steht: Soweit bekannt, ist aus Eine der Infektionsmöglichkeiten ist die Behand- dieser positiven Spende keine Transfusion gemacht lung mit Blut und Blutpräparaten. Hier hat es im Laufe worden. der 80er Jahre etwa 1 500 Infektionen von Blutern Ich habe den zuständigen Beamten des BGA gegeben und rund 700 Infektionen von Menschen, die gefragt: Worauf bezieht sich dieser Satz? Woher mit Blutprodukten behandelt wurden. nehmen Sie Ihre Informationen? Er sagte, es handle Ich habe zu diesen Vorgängen schon kurz nach sich um ein Telefonat. Die Frage, ob er das nicht meinem Amtsantritt einen Be richt anfertigen lassen, festgehalten habe, beantwortete er mit Nein. Ich der am 30. November 1992 dem Parlament zugeleitet stellte die Frage: Was sagen Sie eigentlich in ein oder wurde, einen Bericht, der sich insbesondere mit der zwei Jahren, wenn das Telefonat bestritten wird? Frage der Vermeidbarkeit der damaligen Vorgänge, Dann hat sich der zweite Fall herausgestellt. Dabei Sicherheit der Blutprodukte, aber auch mit der Frage handelt es sich um sechs Blutspenden, davon fünf „Entschädigung" befaßt. positiv, drei zwischen der Firma und dem Aidszen- Meine Damen und Herren, nach dieser medizini- trum unterschiedlich getestet. Auf Grund dieser schen Katastrophe der 80er Jahre sollte es einen Kenntnis hat das Bundesgesundheitsamt — dies ist parteiübergreifenden Konsens geben, daß es die Ver- eine Blutspende vom 9. Februar 1993 bis 8. April pflichtung und die Verantwortung aller Beteiligten ist, 1993 — den behandelnden Arzt des Blutspenders und jeden Tag die höchste Aufmerksamkeit einzusetzen, den Seuchenreferenten des Landes Hessen — das ist daß sich in der Bundesrepublik Deutschland eine das Sitzland des Spenders — informiert, hat aber nicht vergleichbare Katastrophe nicht wiederholen möge. das Aufsichtsland der Firma informiert. Dies wäre bei einer Firma, die mehrfach auffällig wird, ja wohl (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) notwendig gewesen. Man hat es für sich behalten. Wenige Tage später wird wieder ein Fall, in Fr ank- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Minister, furt, bekannt, von dem das Bundesgesundheitsamt gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tho- angeblich nichts wußte. Hier hat die gleiche Technik mae? stattgefunden: Irgend jemand hat sich mit dem Kran- kenhaus in Verbindung gesetzt — heute weiß m an nicht mehr, mit wem —, und die Bluttransfusion wurde Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Ja, verabreicht, obwohl bekannt war, daß das Blut ver- bitte. seucht war. 15970 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Bundesminister Horst Seehofer Meine Damen und Herren, es ist doch nicht Aktio- mittelkommission und damit das Bundesgesundheits- nismus oder Panikmache, wenn man in solchen Fällen amt enthält. Dies hat eine ganz andere Qualität. Nur personelle und organisatorische Konsequenzen zieht. aus dieser Liste von 373 Arzneimittelnebenwirkungen Solche Schlampereien kann man als Minister doch können wir ernsthafte Rückschlüsse auf die Risiko- nicht weiterhin dulden, wenn man davon Kenntnis lage bei Blut und Blutprodukten ziehen. Deshalb habe hat. ich soviel Wert darauf gelegt, daß diese Liste spezifi- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und ziert wird. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was in diesem Punkt viel zu wenig in der Öffent- Dies ist eine Firma. Wir sind jetzt mit einer zweiten lichkeit diskutiert wurde, ist, daß das Parlament im Firma beschäftigt, bei der hinsichtlich der positiven November 1992 falsch informiert worden ist. Charge 1990 in manchen Medien schon wieder Ent- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: In der Tat!) warnung gegeben wurde, weil man gesagt hat, das Ausgangsmaterial sei von 1984. Bei dieser Überprü- Herr Kirschner, ist das nicht wichtig? Wir alle sind fung stellte sich heraus, daß es mindestens eine zweite falsch informiert worden. Das können wir doch nicht positive Charge aus den Jahren 1988 und 1989 gibt. durchgehen lassen. Dann könnte ja irgendwann ein- Diese Information hat man im Bundesgesundheitsamt mal eine nachgeordnete Behörde mit dem Parlament einfach abgelegt, weil gesagt wurde, daß zuvor der oder einem Ministerium umspringen wie sie will. Rückruf aller Chargen veranlaßt wurde sowie das (Zurufe von der SPD) Ruhen der Zulassung für PPSB-Chargen. Man hätte Ermittlungen anstellen müssen, hätte rückverfolgen Ich habe seit Anfang September ernsthafte Zweifel müssen, welche Patienten damit behandelt worden daran bekommen, ob all das, was mir immer an sind. Informationen geliefert wurde, richtig ist. Ich habe Meine Damen und Herren, das aber wird in der mich nach sorgfältiger Überlegung und, soweit es um Bundesrepublik Deutschland als Panikmache einge- juristische Dinge ging, auch in enger Abstimmung mit stuft. Ich hätte mal erleben wollen, was passiert wäre, dem Bundesjustizminister für diesen Weg entschie- wenn ich das für mich behalten hätte und die Dinge den. Ich habe zu Beginn meiner Ministerzeit einen Eid vielleicht in zwei bis drei Jahren an die Oberfläche abgelegt und dabei geschworen, Schaden vom Volk gekommen wären. abzuwenden. Auf Grund dieses Eides, aber auch auf Grund meiner tiefen eigenen Überzeugung habe ich (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Kopf ab!) seit Antritt meines Ministeramtes nach zwei Prämis- Es spricht doch schon die Logik dagegen, daß ich die sen gehandelt: Einzelheiten der Liste der 373 Fälle kennen konnte. Erstens. Die Sicherheit von Arzneimittelprodukten Diese wurden mir nach einer neunstündigen Klausur- — Blut gehört dazu — geht vor wirtschaftliche Inter- tagung in einem Termin gegen Mitternacht, zu einer essen. Zweitens. Wir dürfen nicht erst dann h andeln, ungewöhnlichen Zeit, offeriert. wenn eine Gesundheitsgefährdung bereits sicher ist. Auf meine Frage, in welcher Zeit durch welche Wir müssen schon dann handeln, wenn eine gesund- Präparate welcher deutschen Firmen die Infektionen heitliche Gefährdung der Bevölkerung wahrschein- erfolgt seien, konnte man mir keine detaillierte Aus- lich ist. kunft geben. Man sagte mir, daß die größte Zahl der Fälle wohl vor 1985 lag. Aber wie soll ich etwas (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gewußt haben, wenn die zuständigen Beamten, die diese Liste bearbeiten, zwei Tage brauchten, um diese Das verlange ich vom Bundesgesundheitsamt und von Liste so zu spezifizieren, daß sie mir eine Auskunft meinem eigenen Ministe rium. Das war auch der geben konnten? Zunächst haben sie eine ganze Maßstab meines eigenen Handelns in den letzten Woche erbeten, um die Liste so zu erarbeiten, daß sie Wochen. mir Auskunft geben können. Ich kann doch nicht abwarten, bis wir eine kata- Natürlich kenne ich auch die globalen Zahlen über strophale Bilanz zu ziehen haben, bis wir vielleicht in die Bluterinfektionen in der Bundesrepublik Deutsch- 2, 3 oder 5 Jahren wieder eine Katastrophenbilanz zu land. Aber diese Liste von 373 Arzneimittelnebenwir- ziehen haben wie über die achtziger Jahre. Hier muß kungen ist nicht kompatibel mit allen anderen Zahlen, ich auch das Risiko eingehen, daß nicht alles, was mir die wir in der Bundesrepublik Deutschland kennen mitgeteilt wird, letzten Endes erhärtet werden kann. und auch ständig veröffentlicht haben. Aber wenn der Anschein der Wahrscheinlichkeit Warum ist diese Liste so wichtig? — Weil es die dafür spricht und wenn es sich um seriöse Informanten einzige Meldung ist, die wir in Deutschland haben, handelt, kann man nach meiner tiefen Überzeugung aus der man auf das angewandte Präparat, auf den nicht erst abwarten, bis sich das Risiko verifiziert hat. Hersteller, auf die Therapie und auf die Person Ich muß wahrscheinliche Gesundheitsgefährdungen rückschließen kann. Es ist die einzige Liste, die uns die abwenden. rechtliche Möglichkeit gibt, ein auffälliges Produkt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vom Markt zurückzuziehen. Deshalb ist diese Liste der 373 Arzneimittelnebenwirkungen anders zu Sie von der Opposition bestreiten es Gott sei Dank bewerten als ein Laborbericht über anonyme Meldun- nicht. Aber es gibt in der Bundesrepublik Deutschland gen, die man nicht zurückverfolgen kann, oder das genug Kommentatoren und Leitartikler, die mir in den Aidsfall-Register, das freiwillige und anonyme Mel- letzten Tagen ganz andere Dinge unterstellt haben dungen der Ärzte über Aids-Erkrankte an die Arznei- und einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollten, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15971

Bundesminister Horst Seehofer welche Leitziele meiner Politik und der Politik der aufzulösen, richtig. Dieser schwerfällige Tanker kann- Koalition zugrundeliegen. nicht so bleiben, wie er war. Ein zweites Leitmotiv: Meine Damen und Herren, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wir reden so viel über Politikverdrossenheit. Wir reden Wir werden die sechs Institute, die bisher Bestand- so viel über Intransparenz. Nun gehen einmal die teil des Bundesgesundheitsamtes waren, ebenfalls Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie ein reformieren und effizienter gestalten. Möglicherweise Minister zum frühestmöglichen Zeitpunkt an die wird es danach weniger Institute geben. Der Vorwurf, Öffentlichkeit, und dann ist das auch wieder nicht man würde damit Einfluß auf die Wissenschaft neh- richtig. Man kann eine objektive Gefahr nicht durch men wollen, liegt völlig daneben. Ich möchte, daß die Verschweigen eindämmen. Institute noch mehr Verantwortung bekommen und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — noch mehr Eigenverantwortlichkeit zeigen als in der Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: In der Tat!) Vergangenheit. Da helfen nur die Offenheit und die Offensive. Ich (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das muß sein!) habe mich entschlossen, endlich einmal diesen Kurs Ferner möchte ich, daß wir in den Instituten mögli- der Verniedlichung und des Verschweigens zu durch- cherweise zwischen der Wissenschaft und der Büro- brechen. Alle Beteiligten sagen mir immer: Wir haben kratie trennen, doch telefoniert. Das erledigen wir schon; das lösen wir schon auf. Das wird im Bundesgesundheitsamt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gesagt; das wird von Ärzten, Herstellern und Auf- daß die Wissenschaft völlig unabhängig von der sichtsbehörden gesagt. Nur, meine Damen und Her- Politik wirken kann und daß die Verwaltung die ren, hier geht es um tödliche Dinge. Das Verfahren kann man nicht mehr unter „streng geheim" ablaufen Erkenntnisse der Wissenschaft in die Praxis um- lassen. Das ist keine Privatangelegenheit irgendeines setzt. Verantwortlichen. Nein, es ist eine Angelegenheit, die (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Kein Maul die ganze Gesellschaft berührt und bei der Offenheit -korb!) gewährleistet und Öffentlichkeit hergestellt werden muß. — Es gibt keinen Maulkorb für die Wissenschaft und keine politische Einflußnahme, Herr Dr. Thomae, das (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie ist völlig unbestritten. bei Abgeordneten der SPD) Nach meiner Lebenserfahrung kann eine kleinere Ich weiß, daß man damit auch billigend in Kauf Einheit wichtige Dinge wesentlich besser erfüllen als nehmen muß, daß es zu Verunsicherung und auch zu ein großer, unbeweglicher Tanker. Man sollte einer Angst kommt. Nur, wir stellen das Vertrauen der größeren Einheit nichts übertragen, was nicht eine Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit von Behörden kleinere genausogut erledigen kann. und der Politik nur dann wieder her, wenn wir mit diesen Dingen öffentlich und schonungslos umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., dem Die schlimmste und schrecklichste Antwort wäre, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- wenn man, aus welchen Gründen auch immer, die ordneten der SPD) Dinge verniedlichen und verschweigen würde. Ich möchte heute noch einmal den folgenden Appell an die Öffentlichkeit richten. Wir leben in einem Was das Bundesgesundheitsamt betrifft: Ich möchte ausdrücklich attestieren, daß in diesem Amt die weit- Rechtsstaat. Solange die vielen Vorwürfe, die in der Öffentlichkeit erhoben wurden, nicht belegt werden aus größte Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter qualifiziert, motiviert und fleißig sind und ihre Pflich- können — sie können bis zum heutigen Tage nicht belegt werden —, müssen und sollten wir von der ten ordnungsgemäß erfüllen. Unschuldsvermutung bezüglich der Mitarbeiter so- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: So soll es blei wohl im Ministerium wie im Bundesgesundheitsamt ben!) ausgehen. Ich stelle mich deshalb voll vor diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist eine Unge- Das kann uns nicht davon abhalten, dort, wo Fehler heuerlichkeit, daß allgemein gehaltene Vorwürfe aus- passieren und Mängel aufgedeckt werden, konse- reichen, um Mitarbeiter und ein ganzes Amt mit dem quent und schonungslos einzugreifen. Das Bundesge- Vorwurf der Interessenkollision und der Korruption zu sundheitsamt hat darunter gelitten, daß es eine gewal- verunglimpfen, ohne daß Roß und Reiter genannt tige, hierarchisch gegliederte Behörde war, ein werden. Ich stehe zu diesen Mitarbeiterinnen und schwerfälliger Tanker, bei dem Informationen schon Mitarbeitern und lasse es nicht zu, schon aus mensch- innerhalb der Behörde nicht fließen konnten. Gerade licher Fairneß, daß alle in einen Topf geworfen wer- die Informationen über jene Firma, von der ich sprach, den und mit Korruption und ähnlichen Verdächtigun- sind nicht bis an die Spitze des Bundesgesundheits- gen in Zusammenhang gebracht werden. amtes gelangt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wenn man eine Hierarchie und eine Organisation durch Analyse als Ursache für einen Mangel heraus- Es sollte umgekehrt daraus niemand den Schluß gefunden hat, dann reicht es nicht aus, nur zu klagen; ziehen, daß wir irgendetwas vertuschen wollten. Es dann muß man die Ursachen beseitigen. Deshalb ist bleibt trotz dieser Erklärung dabei, daß wir scho- die Entscheidung, daß ich dem Parlament vorschlage, nungslos aufklären. Ich bitte heute das Parlament, das Bundesgesundheitsamt als einheitliche Behörde neben der Vergangenheit meine eigene Person eben- 15972 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Bundesminister Horst Seehofer falls schonungslos in den Vorgang der Aufklärung bekommt, verändert sich das Risikopotential dieser miteinzubeziehen. einzelnen Person schon ganz erheblich. (Zuruf von der SPD: Dann beschweren Sie (Zuruf von der F.D.P.: Da verdoppelt es sich sich aber nicht!) schon!) Meine Damen und Herren, ich frage: Was ist zu tun? Die Analyse, daß wir einen guten Sicherheitsstandard Das Wichtigste ist, daß wir den Sicherheitsstandard haben, ist sicher richtig. Ich weigere mich aber ab bei der Behandlung mit Blut und Blutprodukten, den heute, dies in Zahlen auszudrücken. es in der Bundesrepublik Deutschland gibt, im tägli- Wir müssen außerdem Anstrengungen unterneh- chen Umgang einhalten, und zwar bei allen Beteilig- men, um diesen Sicherheitsstandard noch weiter zu ten. Es nützen die schönsten Paragraphen und Richt- verbessern. Was für mich nicht in Frage kommt, sind linien nichts, wenn sie in der Praxis nicht angewandt ein Zwangstest und eine namentliche Meldepflicht und eingehalten werden. bei Aids. Das sage ich sehr, sehr deutlich. Herr (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) Kirschner, Sie müßten noch einmal Ihre Rede nachle- Deshalb ist dies die wichtigste Sofortmaßnahme. Das sen; möglicherweise haben Sie es im Unterbewußt- zeigt auch der Fall der Firma UB Plasma. Die Vor- sein gesagt. Sie kritisieren heute die Aussagekraft der schriften für die Tests, für die Inaktivierung sind da, Meldung von Arzneimittelnebenwirkungen. aber wenn eine Firma sie in der Praxis nicht einhält, (Klaus Kirschner [SPD]: Nein, kritisiere ich dann nützen die schönsten Vorschriften nichts. Des- nicht!) halb ist das Dringendste und Wichtigste die Einhal- Nach allem, was ich aus der zurückliegenden Aidsdis- tung der Sicherheitsstandards. Das beginnt mit der kussion kenne, war diese Frage, welche Klarheit Spenderauswahl, setzt sich fort beim HIV-Test bis hin durch Meldungen erzielt werden kann, eine gesell- zur Inaktivierung. Das ist die erste Aufgabe. schaftspolitisch höchst umstrittene. Ich habe die Wenn die Sicherheitsstandards eingehalten wer- Ergebnisse der Aids-Enquetekommission, die der Kol- den, haben wir in Deutschland einen guten Sicher- lege Dr. Voigt geleitet hat, noch einmal nachgelesen. heitsstandard bei der Blutbehandlung. Es besteht kein Danach haben Sie auch einen Teil dazu beigetragen, Grund zur Panik. Wenn ich persönlich heute eine daß die Klarheit von Meldungen nicht so ist, wie wir Bluttransfusion bräuchte, würde ich sie mir verabrei- sie uns heute wünschen würden, auch nicht bei den chen lassen. Aber das setzt voraus, daß das, was wir Arzneimittelnebenwirkungen. haben, auch im Alltag umgesetzt wird. Eines geht nicht: In der Vergangenheit politisch Meine Damen und Herren, so sehr mir Hyste rie oder initiativ geworden zu sein, daß die Meldungen und Angst vorgehalten werden: das Positive der Diskus- das, was mit den Meldungen mitgeteilt wird, mög- sion der letzten Wochen ist auch, daß man in allen lichst restriktiv gehandhabt werden, und heute den Bereichen, von der Ärzteschaft bis hin zu den Kran- politischen Vorwurf zu erheben, die Meldeergebnisse kenhäusern und insbesondere bei den Blutspende- reichten nicht aus. Eine solche Doppelzüngigkeit diensten und auch bei den Ländern, plötzlich sorgfäl- lasse ich nicht zu. tiger über diese Dinge nachdenkt, als dies vielleicht viele Monate vorher der Fall war. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich höre, daß die Bereitschaft zur Eigenblutspende massiv zunimmt. Die deutsche Ärzteschaft, die mona- Ich bin gegen namentliche Meldepflicht und gegen telang über die Dokumentationspflicht für Blutpro- Zwangstests. Was wir aber überlegen müssen, ist, ob dukte im Krankenhaus eine Diskussion mit uns wir die Meldung von Arzneimittelrisiken — dazu geführt hat, ist jetzt sehr, sehr aufgeschlossen und gehören auch Blut und Blutprodukte — nicht umfas- sieht es als eine Standespflicht der Ärzte an, eine sender gestalten müssen, als sie jetzt gesetzlich gere- Behandlung mit Blut in den Krankenakten zu doku- gelt sind. mentieren, damit man später zurückverfolgen kann, (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Das haben wer welche Blutprodukte erhalten hat. Sie doch 1990 erst geändert!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir müssen sie umfassender regeln. Denn, meine Meine Damen und Herren, ich hatte letzten Freitag Damen und Herren, das ist die einzige Möglichkeit, ein Gespräch mit den Gesundheitsbehörden der Län- ein bedenkliches Produkt, das auf dem Markt ist, der und stelle fest, daß sich auch dort das Risikobe- wieder von diesem Markt wegzunehmen. Deshalb wußtsein ganz erheblich nach oben bewegt hat. Man bitte ich, daß wir im Parlament möglichst rasch das sollte diese positiven Momente der Entwicklung der wieder ändern, was in den 80er Jahren so verwässert letzten Wochen nicht übersehen. Dies ist alles unter wurde und 1990 in Kraft getreten ist, daß wir kaum der Überschrift „mehr Einhaltung der gegebenen noch einen umfassenden Überblick über die Risiken Sicherheitsstandards " zu sehen. und Nebenwirkungen von Blut und Blutprodukten haben. Ich lehne ganz bewußt ab und werde es auch in der Zukunft nicht mehr tun, das Risikopotential in Zahlen Das ist nicht damit zu verwechseln — wie es mir auszudrücken. Denn für einen Infizierten oder Aids- ständig unterstellt wird —, daß ich für eine namentli- kranken ist es ein relativ schwacher Trost, wenn er von che Meldepflicht und für Zwangstests in der Bundes- der Politik die Botschaft erhält: Das Risiko liegt bei republik Deutschland eintrete. 1 : 1 Million. Ich nehme diese Zahlen nicht mehr in den Zweite Maßnahme: Wir müssen die Bereitschaft zur Mund, denn wenn jemand mehrere Bluttranfusionen Eigenblutversorgung in der Bevölkerung erhöhen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15973

Bundesminister Horst Seehofer Wir müssen — das wird noch einige Jahre dauern — sagt: Alles muß in staatlicher Hand sein. Wenn es in dahin kommen, daß wir uns in der Bundesrepublik staatlicher Hand eine optimale Sicherheit gäbe, hätte Deutschland bei allen Blutprodukten, auch beim der Skandal in Frankreich, wo alles in staatlicher Plasma, selbst versorgen können. Hand war, nicht passieren dürfen. Wir sind — und da hat das Bundesgesundheitsamt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gut gehandelt — wahrscheinlich Ende dieses Jahres der F.D.P.) oder Anfang des nächsten Jahres in der Lage, für nicht Das ist jetzt zu tun. Daneben brauchen wir die Hilfe inaktivierbares Blut die Quarantänelagerung anzu- für die in den 80er Jahren infizierten Bluter und mit ordnen. Das würde bedeuten, daß Blut, das nicht Blutbehandlungen Infizierten. inaktivierbar ist, einige Monate gelagert, der Spender Nun zu den 10 Millionen DM und dem Streit über ein zweites Mal, um das diagnostische Fenster auszu- die Entschädigung. Es geht um Menschen mit einer schließen, getestet und erst dann das Blut verwendet begrenzten Lebenserwartung. Deshalb trete ich dafür wird. ein, daß wir nicht jede letzte juristische Klärung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und abwarten, auch nicht den Untersuchungsausschuß, der F.D.P.) (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]. Hört, hört!) Aber für diesen Vorschlag gilt das gleiche wie für die sondern unabhängig von einer Rechtsverpflichtung anderen Vorschläge. Ich habe Verständnis dafür, oder Verschuldensfrage eine humanitäre Soforthilfe wenn in der Öffentlichkeit gesagt wird: Warum ist das in einer Größenordnung von mindestens 10 Millionen bisher noch nicht gemacht worden? Meine Damen DM gewähren. Das ist der Gedanke. Das nimmt die und Herren, jeder dieser Vorschläge ist mit einem strukturelle Hilfe am Ende des Untersuchungsaus- nicht unbeachtlichen Gegenargument versehen. schusses oder des Gesundheitsausschusses nicht vor- Ich möchte Ihnen das am Beispiel der Quarantäne- weg. Wenn man in den beiden Ausschüssen zu dem lagerung verdeutlichen: Wenn wir bei Blut und Blut- Ergebnis kommt, es gibt eine Entschädigungsver- produkten insgesamt zu einer Quarantänelagerung pflichtung für die Bundesrepublik Deutschland oder kommen würden, würde dies bedeuten, daß wir jeden für andere, die umfassender angelegt sein muß, dann Spender ein zweites Mal testen müssen. Das heißt, er spricht doch dies nicht gegen eine Soforthilfe, die muß ein zweites Mal kommen. Das Deutsche Rote möglichst noch in diesem Jahr entschieden werden Kreuz sagte mir zuletzt am 28. September dieses muß. Jahres: Wenn Sie das für Blutprodukte insgesamt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) machen, müssen wir 60 % der Blutspenden wegwer- fen, weil der Blutspender ein zweites Mal nicht kommt. Das bedeutet, daß noch mehr Blut in die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mini- Bundesrepublik Deutschland importiert werden muß ster, ich möchte Sie daran erinnern, daß es Zeiten und damit tendenziell das Risiko erhöht wird. gegeben hat, wo Sie sich gelegentlich geärgert haben, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wenn ein Minister die Redezeit auf Kosten der Frak- der F.D.P.) tion überschritten hat. Deshalb ist es nicht einfach mit Schwarzweißmale- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der rei getan, sondern man muß jeden einzelnen Vor- F.D.P.) schlag sorgfältig prüfen. Ich möchte vermuten, daß wir Im Interesse der Kolleginnen und Kollegen, die noch zumindest bei den Blutprodukten und Blutbestandtei- reden wollen, möchte ich Sie daran erinnern. len, die nicht inaktivierbar sind, möglicherweise (Zuruf von der CDU/CSU: Wir hören ihm sehr Anfang des nächsten Jahres zu einer Quarantänela- gern zu!) gerung kommen können. Denn im Zweifel sollte die maximale Sicherheit angestrebt werden. Wir sollten überlegen, ob wir die Ringversuche, die Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: jetzt schon in der Praxis durchgeführt werden, daß Hochverehrter Herr Präsident, ich bin gleich am Labors ihre Testergebnisse untereinander austau- Schluß meiner Rede. schen und abgleichen, weil es bei diesen Tests auch Meine Damen und Herren, so ist das zu verstehen. sehr stark auf den Erkenntnisstand und den Erfah- Wenn wir in den nächsten Wochen — ich denke, wir rungswert ankommt, auch gesetzlich flächendeckend müssen im November hier zu einer endgültigen Ent- für Deutschland vorschreiben. scheidung kommen — vielleicht doch dazu kommen, Wir sollten überlegen, ob es Sinn macht, einen daß wir die eine oder andere Million auf diese HIV-Doppeltest mit unterschiedlichem Testaufbau 10 Millionen zusätzlich bekommen, dann werde ich an durchführen zu lassen. der Spitze der Bewegung stehen, daß diese Soforthilfe Das sind alles Überlegungen, die vielleicht noch zu auch umfassender ausgestaltet wird. einer Erhöhung des Sicherheitsstandards führen kön- (Beifall bei der CDU/CSU) nen. Ich betone noch einmal: Wir haben auch jetzt Ich bin froh, daß die Bundesländer ihre grundsätz- schon einen guten Sicherheitsstandard unter der liche Bereitschaft erklärt haben und daß die Herstel- Bedingung, daß er im Alltag eingehalten wird. Darauf ler, die Blutprodukte herstellen, ihre Bereitschaft kommt es an. erklärt haben. Mich bedrückt es sehr, daß sich die Es ist nicht allein mit Kontrolle und Überwachung deutsche Versicherungswirtschaft ablehnend geäu- getan. Es ist auch nicht allein damit get an, daß man ßert hat, sich nicht beteiligen will und wegen zwei 15974 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Bundesminister Horst Seehofer oder drei Millionen DM eine humanitäre Hilfe ver- der SPD und die von der SPD benannten Sachverstän- sagt. digen, die sich vehement gegen eine verläßliche (Zuruf von der F.D.P.: Erstaunlich!) Erfassung gewehrt haben. Selbst gegen das soge- Ich bin auch nicht ganz glücklich darüber, daß sich das nannte „unlinked-testing" gab es Widerstände. Ich Deutsche Rote Kreuz bisher noch nicht eindeutig erinnere mich: Als in Bayern entsprechende anonyme erklären konnte. Aber ich werde nicht von dem Weg Tests vorgenommen wurden, gab es einen Sturm der ablassen: Soforthilfe ja; Überlegen der strukturellen Entrüstung in unserer Presse. Hilfe im Laufe der nächsten Monate. Ich meine also, daß es nicht richtig ist, hier Vorwürfe Meine Damen und Herren, wir sind aus moralischen zu erheben, vor allem nicht gegen den Minister, Gründen verpflichtet, diesen betroffenen Menschen sondern ich glaube, wir sollten das zum Anlaß neh- jetzt nicht mit Paragraphen, sondern mit einer wirksa- men, neu darüber nachzudenken, wie wir zu verläß- men Hilfe zu begegnen. licheren, zu besseren Daten kommen, damit wir diese Katastrophe in Zukunft verhindern können und mehr Ich habe diesen Weg nach reiflicher Überlegung wissen über die Ansteckungswege, mehr wissen über beschritten: Hilfe für Betroffene, Aufklärung in der den Zustand der Durchseuchung unserer Bevölke- Sache und Sicherheit bei der Blutbehandlung. Ich bin rung. bei keiner Angelegenheit ertappt worden, sondern habe von mir aus die Recherchen angestellt und bin in (Zurufe von der SPD: „Durchseuchung"?) die Öffentlichkeit gegangen. Damit hier nicht etwa irgendwelche falschen Vor- würfe kommen: Es ging nie um eine (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt!) namentliche Meldepflicht. Ich rede hier nur von anonymen Verfah- Ich habe auch von mir aus von der Fraktion die ren; es ging nicht um eine namentliche Meldepflicht. Untersuchung durch einen Untersuchungsausschuß Wir sollten dies zum Anlaß nehmen, umzudenken und erbeten, und ich bin der Koalition dankbar, daß sie nach Methoden zu suchen, über die wir mehr wissen. diesen Weg mit beschritten hat. Ich darf nur sagen: Wir wissen nicht einmal, wieviel Ich weiß, daß dieser Weg auch für mich persönlich Prozent durchseucht sind; das sind alles nur Schätz- mit einem politischen Risiko verbunden ist. Aber, zahlen — meine Damen und Herren, ich habe schon bei der

Gesundheitsstrukturreform auch unter Einsetzen mei- Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Herr Ab- ner politischen Existenz für einen aus meiner Sicht geordneter, ich mache Sie freundlich auf die Zeit richtigen Weg gekämpft. Ich bin entschlossen, auch in aufmerksam. den nächsten Monaten ohne Vertuscherei mit aller Kraft an der Aufklärung dieser Sache und an der Hilfe Norbert Eimer (Fürth) (F.D.P.): — das ist mein letzter für die Betroffenen zu arbeiten. Satz —, weil wir im Grunde genommen von dem Bruch Das ist auch mit einem politischen Risiko für mich nur die Zahlen im Zähler kennen, aber nicht die im verbunden. Aber ich könnte es mit meinem Verständ- Nenner. nis von Verantwortung nicht vereinbaren, wenn ich Vielen Dank. zur Vermeidung eines Risikos für mich persönlich (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- meiner Verantwortung nicht gerecht würde. Es soll ten der CDU/CSU) jeder nach einigen Monaten der Untersuchung bei Vorliegen des endgültigen Ergebnisses dann über Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Nunmehr mein Verhalten entscheiden, ob es richtig oder falsch hat das Wort der Abgeordnete Horst Schmidbauer war. Ich bin fest entschlossen, auf diesem Wege die (Nürnberg). Dinge zu einer Lösung zu führen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Herr Präsi- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dent! Meine Damen und Herren! Eine Liste hat uns heute morgen sehr betroffen gemacht. Sie enthält 54 Krankenhäuser, und bei uns in den eigenen Reihen

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Zu einer war natürlich die Sorge: Welche Krankenhäuser Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Nor- berühren unsere Wahlkreise? Welche Folgen können bert Eimer das Wort. aus dem Ganzen für die Opfer entstehen? Das ist kein neuer Vorgang; denn die Frage UB Plasma war ja bereits in den letzten Wochen und Norbert Eimer (Fürth) (F.D.P.): Herr Präsident! Monaten im Gange. Die Frage, die sich an Sie, Herr Meine Damen und Herren! Ich habe mich zu Wort Minister, stellt, ist, ob denn nicht durch eine rechtzei- gemeldet zu dieser Kurzintervention nach dem Bei- tige Anordnung der Quarantänelagerung und durch trag von Herrn Kirschner, in dem er dem Minister einen rechtzeitigen Importstopp auch solche aktuel- vorwarf, daß die Zahlen, die vorliegen, nicht zuverläs- len Fälle hätten vermieden werden können. sig sind. Das Faktum, daß die Zahlen nicht zuverlässig Es geht aktuell weiter; wir brauchen uns nicht mit sind, das ist leider richtig, aber der Adressat, der der Vergangenheit alleine zu beschäftigen. Ich denke Minister, ist falsch. an den Vorgang hinsichtlich der Fixer als Dauerspen- Nach meiner Kenntnis aus meiner Mitarbeit in der der bei der Plasma-Sammelstation der Firma Immuno Enquete-Kommission - da hat mir der Herr Minister in Hamburg oder an die Vorgänge der letzten Tage, schon etwas vorweggenommen, das ich hier nur als bekannt wurde, daß bei der Firma Biotest eine bestätigen kann — waren es tatsächlich die Mitglieder zweite Charge verseucht war. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15975

Horst Schmidbauer (Nürnberg) Man hört es zwischen den Zeilen schon tickern, daß wortungsbewußter Gesundheitsminister längst hätte es damit noch nicht zu Ende ist. Das heißt, wir erleben, in Angriff nehmen müssen. Jetzt muß festgestellt daß scheibchenweise Woche für Woche neue Fakts, werden, wer für diese Katastrophe veantwortlich ist. neue Tatbestände kommen, und jeder fragt sich: Was Jetzt müssen die Beweise für den Sumpf aus Fehlern, kommt als nächstes? Ich denke, alleine das würde Versäumnissen, Fahrlässigkeiten und Verantwor- rechtfertigen, daß wir einen klaren und eindeutigen tungslosigkeit erhoben werden, der sich einer entsetz- Untersuchungsauftrag im Parlament beschließen. ten und wütenden Öffentlichkeit offenbart. Alleine das würde rechtfertigen, daß wir eine aktive, Wie tief ist das schwarze Loch noch, das wir bis in wirkungsvolle Expertenkommission einsetzen. den letzten Winkel ausleuchten müssen? Die schon Mindestens 2 300 Opfer — der größte Arzneimittel- jetzt bekanntgewordenen Fakten lassen auf eine skandal, den wir jemals hatten. Das sind 2 300 Men- französische Dimension dieses Skandals schließen. schenschicksale, die der Angehörigen nicht einge- Die Untersuchung wird hier tiefer graben und durch rechnet. Wenn das nicht ausreicht: ein Bermuda- Beweiserhebung sichtbar machen, daß es nicht nur Dreieck von BGA und Instituten, in denen Informatio- eine Produkthaftung, sondern auf Grund von Amts- nen über Verdachtsfälle ignoriert, vergessen oder als pflichtsverletzungen auch eine Staatshaftung geben Privatbesitz behandelt wurden. Dafür wurde die Ver- wird. pflichtung vergessen, rechtzeitig, vorbeugend und im Zweifelsfall zugunsten der Patientensicherheit zu Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Herr handeln. Wenn das nicht reicht: ein Amt, in dem Abgeordneter Schmidbauer, der Abgeordnete immer diejenigen Mitarbeiter, die warnend den Fin- Dr. Krause (Bonese) möchte gerne von Ihnen eine ger hoben, von den Vorgesetzten einen Maulkorb Frage beantwortet haben. Sind Sie überhaupt bereit, umgehängt bekamen, von den Vorgesetzten, die auf das zu tun? der anderen Seite willfährig nach außen und katzbuk- kelnd nach oben waren. Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Ich bin bereit, ja. Wenn das nicht reicht: Plasma-Hersteller und Plasma-Importeure, die Profitinteressen über den Patientenschutz setzten. Wenn das nicht reicht: ein Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr Kreis von Behandelnden, denen die profitable Aus- Kollege, stimmen Sie mit mir überein, daß der gegen- weitung ihres Therapiekonzepts wichtiger war als die wärtige Gesundheitsminister für die Zeiten seiner Sicherheit der ihnen anvertrauten Patienten. Wenn Vorgänger nicht verantwortlich ist, und — zweitens — das nicht ausreicht: Versicherungsunternehmen, die wie soll nach Ihrer Ansicht die politische Verantwor- kassierten, aber die Opfer erpreßten und mit Almosen tung von Ministern aussehen, die nicht mehr in ihrem abspeisten, während der Staat tatenlos zusah. Wenn früheren Amt tätig sind, aber an anderen herausra- auch das noch nicht ausreicht: Blutspendeorganisatio- genden Stellen weiterhin politische Verantwortung nen, die an der Optimierung des Spendenaufkom- tragen? mens, aber nicht an der optimalen Sicherheit der Empfänger interessiert waren und sich selbst nicht Horst Schmidbauer (Nürnberg) (SPD): Lieber Herr scheuten, gegen die wahrlich seltenen Anordnungen Kollege, die Frage der politischen Verantwortung des BGA gerichtlich vorzugehen. Wenn das noch nicht muß zunächst von jedem einzelnen Minister und reicht: die Reihe von Gesundheitsministerinnen und jedem sonstigen Zuständigen beantwortet werden. -ministern von 1982 bis heute, von denen keiner zu Sie haben in Ihren eigenen Reihen Vorbilder, wie seiner politischen Verantwortung für diese Arzneimit- politische Verantwortung im einzelnen bewertet wird. telkatastrophe steht. Hier gibt es sehr unterschiedliche Dimensionen. Jeder dieser einzelnen Punkte rechtfertigt schon (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wissen Sie einen klaren Untersuchungsauftrag. Alle acht Gründe nicht, daß der bei den Republikanern ist? Auf zusammen umreißen aber die Dimension dieses Skan- diese Feststellung legen wir Wert!) dals. — Entschuldigung. Ich weiß nur, daß er in euren Reihen sitzt. Dem „Rheinischen Merkur" vom 15. Oktober ist nur zuzustimmen, wenn er feststellt: (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nicht jeder, der auf unserem Stuhl sitzt, gehört zu uns!) Endlich dringen all die Menschen, die sich durch — Ich habe ihn in euren Reihen gesehen. Ich bitte um Blutpräparate mit HIV ansteckten, ins Wissen und Entschuldigung. Bewußtsein. Jetzt geht die lang vertuschte Wahr- In der Zwischenzeit schnappt die Verjährungsfalle heit vielen unter die Haut, subkutan wie eine zu. Denn die Opfer müssen spätestens drei Jahre, Injektion. nachdem sie nicht nur über den Schaden, sondern Jetzt also erfährt die Öffentlichkeit endlich, was auch über einen möglichen Schädiger informiert sind, man von leitenden Beamten im Bundesgesundheits- z. B. den Staat, ihre Ansprüche anmelden, wenn sie ministerium und im BGA zu halten hat, auf deren nicht verjähren sollen. So schreibt es das Bürgerliche Urteil und deren Informationen sich der Minister und Gesetzbuch vor. Diese Frist — so die Mehrheit der seine Amtsvorgänger verlassen haben, mit denen man juristischen Experten - läuft im Dezember aus. Das bis vor kurzem engen Schulterschluß gezeigt hat. Jetzt heißt, selbst wenn die Beweiserhebung in einer muß mit einem klaren Untersuchungsauftrag deshalb beschleunigten Untersuchung läuft, kommt sie zu das geleistet werden, was über Jahre versäumt wor- spät. Sie selbst, Herr Minister, haben deshalb in der den ist. Jetzt muß geleistet werden, was ein verant- Öffentlichkeit wiederholt erklärt, daß Sie für eine 15976 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Horst Schmidbauer (Nürnberg) schonungslose, offene Aufklärung sind und daß, was Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile die Rechtsansprüche der Betroffenen angeht, keine nunmehr dem Abgeordneten Wolfgang Zöller das Benachteiligung entstehen darf. Wort. Deshalb appelliere ich an Sie: Wenn Sie diesen Kernsatz weiterhin vertreten wollen, dann sollten Sie Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine nicht nur aufklären, sondern den Betroffenen auch die sehr geehrten Damen und Herren! Bei a ll unseren Chance geben, daß sie ihre Rechtsansprüche weiter- Diskussionen sollten wir eines nicht vergessen: Es hin aufrechterhalten können. Das bedeutet, daß ein geht primär um die Menschen, die unschuldig und eindeutiges Signal kommen muß: Ihr Verzicht auf die ahnungslos infiziert wurden und denen so schnell wie Einrede der Verjährung. möglich geholfen werden muß. Den Betroffenen ist Nehmen Sie etwas von dem Zeitdruck, unter dem eher geholfen, wenn wir ihnen 10 Millionen DM als wir in der Frage der Entschädigung ohnehin stehen! ersten Schritt gewähren, als wenn wir über 60 Millio- Es ist Handeln in zweifacher Hinsicht gefragt: erstens nen DM diskutieren. im Sinne eines klaren Untersuchungsauftrages und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) einer Beweiserhebung in öffentlicher Verhandung, Zum anderen geht es um die wichtige Aufgabe, den zweitens im Sinne des sofortigen Handelns, damit die hohen Sicherheitsstandard von Blut und Blutproduk- richtigen Lehren aus dem Skandal gezogen werden. ten zu gewährleisten und nach Möglichkeit weiter zu Dazu haben wir, die SPD, im Juli einen umfassenden verbessern. Ich glaube, in dieser Einschätzung sind Antrag eingebracht. Darin sind unsere Ziele als Kon- wir alle einer Meinung. sequenz aus der Katastrophe formuliert. Sie heißen: Um so mehr bedauere ich die unterschiedlichsten helfen, lernen, handeln. Er sieht vor allem die Schaf- Veröffentlichungen in jüngster Zeit. Die fung eines Hilfsfonds nach dem Vorbild der Conter- Verunsiche- gan-Stiftung vor. Dazu brauchen wir keine Untersu- rung der Bevölkerung ist kaum zu überbieten. Dem Minister wirft man auf der einen Seite Panikmache chung. Dazu brauchen wir politisches Handeln, und vor, auf der anderen Seite verschweigt und vertuscht zwar sofort. er. Wer die Ausführungen des Ministers jedoch sach- Wir sehen eine monatliche Rente von bis zu 2 000 lich prüft, wird feststellen, daß er den Informationsfluß DM oder wahlweise eine Kapitalisierung in Höhe von kritisierte und seine Äußerungen keinen Anlaß zur etwa 400 000 DM vor, und zwar für alle durch Blut- Panikmache boten. Es müssen sich vielmehr die produkte HIV-Infizierte. Dazu brauchen wir jetzt Personen, die von Tausenden Neuinfizierten spra- allein in diesem Rahmen 60 Millionen DM. Wir sagen, chen, von Tod auf Rezept, geplanten und organisier- das Einstiegsmodell des Ministers mit seiner Sterbe- ten Staatsverbrechen, Regierungskriminalität und prämie — wie es die Betroffenen bezeichnen — ähnlichem diese Frage stellen lassen. Solche verbalen lehnen wir ab. Ungeheuerlichkeiten kann man auch nicht mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung begründen. Aber ich denke, der Schaden hat auch noch andere Dimensionen. Die Opfer und ihre Probleme habe ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aufgezeigt, weil sie auch sichtbar machen, daß sie Ich fordere dazu auf, endlich Roß und Reiter zu natürlich die letzten Hoffnungen auf das Parlament nennen. setzen, damit es ihnen nicht so geht, wie den 400 Man darf natürlich auch nicht die Wirkung unter- bereits Verstorbenen, sondern damit sie die Entschä- schätzen, daß durch solche pauschalen Vorverurtei- digung noch erleben. lungen der überwiegende Teil der Mitarbeiter der Aber zum zweiten sind auch die Krankenkassen Institute in einem Maße diffamiert wird, das unerträg- betroffen, die sich im übrigen ebenfalls mit einem lich ist. Die gleichen Leute, die durch gezielte Veröf- Taschengeld abspeisen ließen. Die Beitragszahler fentlichungen den Minister indirekt zum Rücktritt werden jetzt dafür zur Kasse gebeten. auffordern, schreiben dann scheinheilige Briefe mit der Aufforderung: Herr Minister, bleiben Sie stand- Drittens vergessen wir nicht den Schaden, den eine haft! — Will man einen für bestimmte Interessengrup- weltweit anerkannte deutsche Pharmaindustrie in pen unliebsamen Minister loswerden? ihrer Gesamtheit für das unverantwortliche Verhalten Meine sehr geehrten Damen und Herren, genauso- einiger schwarzer Schafe hinnehmen muß. wenig Verständnis habe ich allerdings auch für jene Viertens die immateriellen Schäden, die in ihrer Personen, die jetzt täglich neue Informationen veröf- Wirkung kaum abschätzbar sind. Es wird Jahre dau- fentlichen, die sie zum Teil schon jahrelang kennen ern, bis der Vertrauensverlust der Bevölkerung in und zurückhalten. unsere Gesundheitsbehörden wettgemacht werden (Zuruf von der CDU/CSU: Zurückhalten!) kann. Ist es das schlechte Gewissen oder haben sie Angst, Fünftens und letztens trifft der Skandal uns alle, die weil jetzt ein Minister endlich durchgreift und auf- Politik insgesamt, ins Mark, oder, wie es der F.D.P.- räumt? Es wird höchste Zeit, daß alle Informationen Bürgermeister von Fulda am 13. Oktober 1993 bei den auf den Tisch kommen, und eine Versachlichung der letzten zwei bekanntgewordenen HIV-Infektionen, Diskussion die UB-Plasma betrafen, bitter kommentierte: Die (Zuruf von der SPD: Wollen Sie eine griechi- Verantwortung trägt das System. Es ist höchste Zeit, sche Tragödie aus dem Augiasstall ma- daß wir uns dieser Verantwortung stellen. chen?) (Beifall bei der SPD) ist notwendig, im wahrsten Sinne des Wortes. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15977

Wolfgang Zöller Ich glaube, es gibt keinen Grund, die AIDS-Politik Ein weiterer Beitrag zur Verminderung des Risikos grundlegend zu verändern. Das Risiko der Verseu- ist auch die Auswahl der Blutspender. Den Fragebo- chung mit aidsinfizierten Blutpräparaten ist Gott sei gen beim Blutspenden halte ich für verbesserungs- Dank nach wie vor gering; ganz auszuschließen ist es würdig. Wenn man das Ziel, Risikogruppen auszu- leider nicht. Aus diesem Grunde sollten wir unsere schließen, erreichen will, muß man bei der Befragung ganze Kraft dafür verwenden, dieses Risiko so gering zu Risikokontakten die Fragen wesentlich klarer her- wie möglich zu halten und nach Möglichkeit ganz ausarbeiten. Ebenso muß auch mit dem Aufzeigen der auszuschließen. Auswirkungen von falschen Angaben das Problembe- wußtsein beim Spender wesentlich gestärkt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich Lassen Sie mich noch ein Thema ansprechen, das in zum Schluß feststellen: Wer den Be troffenen schnell den letzten Tagen immer wieder verstärkt diskutiert und unbürokratisch helfen will, wer die Sicherheit von wurde — die Meldepflicht. Es wurde zum Teil der Blutprodukten verbessern will und wer die Irritation Eindruck erweckt, als könnte man damit das Problem der letzten Zeit schnell aufklären will, muß eigentlich lösen. Hier muß m an sich doch erst die Frage stellen: dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der Welches Ziel will ich mit der Meldepflicht errei- F.D.P. zustimmen. Ich bitte die Kollegen von der SPD chen? recht herzlich, auch hier mit an einem S trang zu Man will Kenntnisse umsetzen, um die richtigen ziehen. Präventionsmaßnahmen ergreifen zu können. Die Herzlichen Dank. Kenntnisse werden um so aussagekräftiger, je mehr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Angaben ich erhalte. Die namentliche Meldepflicht halte ich nicht für den richtigen Weg. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der hat nunmehr die Abgeordnete Frau Gudrun Schaich- SPD) Walch. Gespräche mit Aidsberatungsstellen haben mich überzeugt, daß zur Ermittlung epidemiologischer Gudrun Schaich-Walch (SPD): Herr Präsident! Daten sich die namentliche Meldepflicht im Vergleich Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ein zu anderen Instrumentarien als eher untauglich riesengroßes Problem. Wir haben es mit Menschen zu erweist. tun, die zum Arzt gegangen sind, die von seiten der Medizin Hilfe erwartet haben, die dort aber oft größe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der ren Schaden erlitten haben, als sie vorher hatten, und F.D.P. und der SPD) die trotz allem weiterhin zu diesen Ärzten gehen Alle bisherigen meldepflichtigen Erkrankungen zei- müssen. gen, daß namentliche Meldepflicht die Datenlage Gerade diese Situation, glaube ich, setzt voraus und nicht vervollständigt hat. Zwar scheint niemand macht es notwendig, daß wir sehr verantwortungsvoll genau die Zahlen zu kennen, aber bei Seuchen wird und verantwortungsbewußt mit allen Informationen über eine Dunkelziffer zwischen 15 und 40 und mehr umgehen müssen. Prozent gesprochen, obwohl das Unterlassen der Mel- Ich bin Herrn Zöller sehr dankbar dafür, daß er klar dung als Ordnungswidrigkeit geahndet werden gesagt hat, daß wir den Menschen auch sagen müs- kann. sen: Es gibt ein Risiko, es gab immer ein Risiko; wir Es ist auf Grund der bei HIV und Aids nach wie vor wußten immer, daß es ein Risiko gibt, allein auf Grund nicht auszuschließenden Stigmatisierung der Betrof- des Ausgangsmaterials, das wir in diesem Bereich fenen davon auszugehen, daß die Meldefreudigkeit benutzen; wir werden alles tun, um dieses Risiko klein hier auch nicht größer sein wird. Eine Meldepflicht zu halten. Dies deutlich zu machen ist, glaube ich, in kann demzufolge keine neuen Erkenntnisse brin- der Berichterstattung — dies richtet sich auch an Sie, gen. Herr Minister — zumindest am Anfang ein bißchen vernachlässigt worden. Für viel wichtiger und sinnvoller hielte ich es daher, wenn wir für mehr Meldeklarheit sorgten. Um nur ein Deshalb ist die Verwirrung nach wie vor groß, zu Beispiel zu nennen: Für die Rückverfolgung von welchen Zeiten nach welchem Stand medizinischen Blutzubereitungen ist es unbedingt erforderlich, daß Wissens wer wovon letztlich Kenntnisse hatte. Da es endlich die Chargennummern in die Krankenblätter sich dabei um Vorfälle innerhalb der dem Bundesge- der Patienten eingetragen werden. Darüber hinaus sundheitsamt angegliederten Institute handelt, gibt es soll eine zentral geführte, EDV-gestützte Zuordnung — gerade wegen der vielfältigen Verflechtungen — von Präparat, Chargennummer und exponierten nach unserer Überzeugung eben nur den einen Weg, Patienten erforderlich sein, um eine Identifizierung eine unabhängige Expertenkommission einzusetzen. mit vertretbarem Aufwand nachvollziehen zu kön- Nur so ist unserer Meinung nach gewährleistet, daß nen. unvoreingenommen und ohne Angst vor möglichen politischen Konsequenzen eine Recherche der Vor- Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein Mel- kommnisse wirklich möglich ist. desystem, das mir nur sagt, wieviele Personen infiziert Darauf und auf nichts anderes zielt unser Antrag ab. sind, hilft mir recht wenig, wenn es darum geht, Wir fordern die kompromißlose Offenlegung der Ent- Ursachen zu erforschen und Gegenmaßnahmen ein- scheidungsgrundlagen und Entscheidungsstruktu- zuleiten. ren des Bundesgesundheitsamts sowie die Darlegung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der getroffenen Maßnahmen. Nur wenn man auf 15978 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Gudrun Schaich-Walch diesem Weg konzentriert auch wirklich ermittelt und gebraucht haben, werden in Ihrem Antrag meiner Fragen stellt, sind wir davor gefeit, in der Zukunft Meinung nach nicht genügend berücksichtigt. weitere Fehler zu machen. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ CSU]: Wir haben doch Ihre Fragen aufge- Meiner Meinung nach ist aber auch die Frage nommen!) entscheidend, welche Maßnahmen die Bundesregie- — Sie haben unsere bis jetzt noch nicht aufgenom- rung getroffen hat, um die Unabhängigkeit und men. Diese Fragen müssen geklärt werden. Wenn wir Arbeitsfähigkeit des BGA zu erhalten und dafür Sorge die Fragen geklärt und die Unsicherheit überwunden zu tragen, daß das BGA eine Führungscharge hat, die haben, dann gibt es für uns ein Stück Grundlage, zu den Anforderungen des Verbraucherschutzes, der sagen, daß wir in bestimmten Bereichen handeln Politikberatung und auch der Aufklärung und Sicher- können. heit im Arzneimittelbereich gerecht wird, und in Der nächste Punkt: Sie binden mit diesem Untersu- welcher Form diesem Auftrag die verschiedenen Bun- chungsausschuß ganz wichtige Arbeitskräfte des desgesundheitsminister bei der Personalausstattung, Gesundheitsausschusses, lenken sie dorthin und las- Personalführung und Personalauswahl nachgekom- sen ihn arbeiten und arbeiten. Wir wissen von allen men sind. Untersuchungsausschüssen, wie quälend diese Arbeit ist und wie lange es dauert, bis irgendein Ergebnis Wir befürchten, daß die Unabhängigkeit, die not- erzielt wird. Das liegt nicht nur an uns und unserem wendig ist, um in diesen Fragen auch der Industrie die guten Willen, das liegt auch an den Ressourcen, die Stirn zu bieten, beim BGA nicht immer gegeben war wir zur Verfügung haben. und im Gegenteil das BGA vermutlich durch Einfluß- Deshalb bin ich der Meinung: Dieser Ausschuß nahme von Politik und auch von seiten der Industrie in wäre sinnvoller beschäftigt, wenn wir uns vorrangig eine ausgesprochene Problemlage gekommen ist. Seit um Entschädigungsfragen kümmern würden. Wir 1985 sind diese Probleme bekannt. Seit 1985 wurde müssen in den Bereichen, die schon jetzt gemeinsam unserer Meinung nach aber nicht mit dem nötigen — in den verschiedenen Redebeiträgen, auch in dem Nachdruck für Änderungen gesorgt. Es ist auch völlig des Ministers — gesehen werden, handeln. Ich meine unstrittig, daß die Strukturen des BGA neu überdacht z. B. die Lagerung der Konserven, den Zweittest der werden müssen. Aber wir sind nicht der Meinung, daß Spender. Wir müssen darüber im Gesundheitsaus- ein Bundesgesundheitsamt überflüssig ist. Im Gegen- schuß ganz konsequent diskutieren, diese Arbeit teil, eine unabhängige Behörde, die den Verbraucher- machen und dürfen uns in dieser Arbeit nicht noch schutz wirklich ernst meint und Risikoabschätzungen dadurch behindern lassen, daß wir einen langwieri- trifft, halten wir nach wie vor für unabdingbar und gen, schwerfälligen Untersuchungsausschuß einset- notwendig. Die Aufgabe von Politik wird es sein, eine zen, von dem wir ganz genau wissen, daß er viel solche Behörde arbeitsfähig zu gestalten. Arbeitskraft bindet. In solchen Ausschüssen gibt es immer Interessenskollisionen. Diese Arbeit könnte Neben der Frage, wie das Bundesministerium für eine unabhängige Kommission, meine ich nach wie Gesundheit und das Bundesgesundheitsamt gearbei- vor, in hervorragender Art und Weise lösen. tet haben, ist unserer Meinung aber auch zu klären, (Beifall bei der SPD) warum die Meldepflicht pharmazeutischer Unter- nehmen nach § 29 Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- denn nicht wieder dahin gehend geändert wurde, daß geordnete, der Abgeordnete Hoffacker möchte Ihnen jeder Einzelfall im Verdachtsfall sofort zu melden ist. gerne eine Frage stellen, wenn Sie bereit sind, die- Wir haben eine Diskussion um die Problematik der selbe zu beantworten. Gefährdung des Ausgangsmaterials durch Infektio- nen doch bereits seit 1985. Es war meiner Meinung Gudrun Schaich-Walch (SPD): Ja. nach völlig kontraproduktiv, dies im Jahr 1990 zu verändern. Ich frage mich ganz ernsthaft, warum wir Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte im Gesundheitsausschuß noch nicht die Debatte schön, Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort. geführt haben, dies wieder zurückzudrehen. Späte- stens die Diskussion in Frankreich hätte uns und auch Dr. Paul Hoffacker (CDU/CSU): Frau Kollegin, ist die politische Führung in diesem Lande in dieser Ihnen nicht bekannt, daß wir die Fragen der Entschä- Frage sehr viel sensibler machen müssen. digung selbstverständlich parallel im Bundesgesund- heitsausschuß behandeln können, während die haf- Ich bin der festen Überzeugung, daß wir auch über tungsrechtlichen Rückgriffe, wo Verschuldenstatbe- andere Dinge, die versäumt worden sind, diskutieren stände — genau wie Sie das wollen — aufzuklären müssen. Das heißt, wir brauchen eine Ausweitung der sind, im Untersuchungsausschuß aufgeklärt werden? Pflicht der Ärzteschaft zu melden. Man sollte die Darf ich Sie um Kenntnisnahme bitten, daß wir nicht Meldepflicht nicht auf die Indust rie eingrenzen. Die gehindert sind, diese Fragen auch im Gesundheits- Ärzteschaft ist in dieser Frage s trenger in die Pflicht zu ausschuß des Deutschen Bundestages zu behan- nehmen, als es der Fall ist. Es sind Fragen zu klären deln? und daraus Konsequenzen für die Arbeit des Untersu- chungsausschusses zu ziehen. Da habe ich ein Pro- Gudrun Schaich-Walch (SPD): Erstens halte ich vom blem mit dem Antrag der CDU/CSU- und der F.D.P.- Parallelarbeiten in der Regel nicht viel, weil ich sehe, Fraktion. Diese Fragen der Klärung, warum, wieso, wie ausgelastet die Ausschußmitglieder sind. Deshalb weshalb, warum manche Dinge so lange, Jahre bin ich der festen Überzeugung, wir sollten diese Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15979

Gudrun Schaich-Walch notwendige Arbeitskraft nicht allein in diesem Unter- bzw. der deutsch-ungarischen Parlamentariergruppe suchungsausschuß bündeln. Ich sehe natürlich auch, zu begrüßen. daß man dort zu einem anderen Ergebnis kommen (Beifall) will als in unserem Ausschuß. Ich tue das besonders gern, weil sich der Deutsche Ich wollte aber nochmals unsere Gründe darlegen. Bundestag nach wie vor in großer Dankbarkeit der Sie, Herr Dr. Hoffacker, haben vorhin in Ihrem Rede- Verhaltensweisen des ungarischen Parlaments und beitrag so getan, als wären wir letztendlich an einer der ungarischen Regierung erinnert, als es darum Aufklärung nicht interessiert. Das ist, das muß ich ging, die Grenzen für unsere Landsleute aus der DDR Ihnen ganz klar sagen, nicht unser Anliegen gewe- zu öffnen. sen. (Erneuter Beifall) Ich bin Herrn Zöller sehr dankbar, daß er ebenso wie Ich wünsche Ihnen einen angenehmen und erfolg- der Minister sehr deutlich gemacht hat, daß es eine reichen Besuch und hoffe, daß Sie mit guten Eindrük- Abkehr von der bisherigen Aidspolitik nicht geben ken zurück nach Budapest, nach Ungarn fahren. wird. Ganz gegenläufig dazu war aber, muß ich sagen, Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Karl Her- der Redebeitrag eines anderen Kollegen. mann Haack (Extertal). Infolgedessen möchte ich noch einmal an Sie alle appellieren. Wir haben drei verschiedene Meldever- fahren. Ich denke, es wird bei diesen Meldeverfahren Karl Hermann Haack (Extertal) (SPD): Herr Präsi- bleiben müssen, weil wir einmal Nebenwirkungen dent! Herr Minister! Meine sehr verehrten Damen und gesondert aufnehmen müssen und die Nebenwirkun- Herren! Als letzter Redner möchte ich auf einige gen natürlich in der Infektions- oder Erkrankungsliste Punkte der heutigen Debatte eingehen. ebenfalls erscheinen werden. Das läßt sich nicht Ich möchte versuchen, mich mit Herrn Hoffacker vermeiden. Deshalb kann es nur darum gehen, das auseinanderzusetzen, weil ich denke, er hat die Posi- System zu verbessern. tion seiner Fraktion am besten beschrieben, und Ich muß folglich aber auch fragen, warum nicht, wie möchte das Zitat in Erinnerung rufen, das er zur meine Kollegin sagte, in der Hilfe für die Be troffenen Beschreibung dieses Problems gebracht hat: „Dem nicht sehr viel konsequenter gehandelt wurde. Ich gilt es in kurzer Zeit gerecht zu werden." Der Minister frage mich auch ernsthaft, warum es noch keine hat erklärt, er werde alles daransetzen, diesem Aufklärung der Bevölkerung mit Hilfe von Sachin- gerecht zu werden, und hat gesagt, es sei geboten, formationen gegeben hat, daß die Gefährdung zwar humanitäre Soforthilfe für die Bewältigung dieses da ist, daß sie aber unter Umständen geringer ist, als Problems einzuleiten. wenn man Hilfe verweigert. Ich denke, wenn man solche Worte in die Welt setzt, Warurn gibt es noch nicht das Angebot des kosten- sollte man sich mit dem auseinandersetzen, was Sie in losen anonymen Tests für diejenigen Menschen, die Ihrem Antrag zur Einrichtung eines Untersuchungs- eine medizinische Behandlung über sich haben erge- ausschusses geschrieben haben. Es sind drei Punkte: hen lassen müssen, bei der sie möglicherweise infi- Der erste Punkt betrifft die Entschädigung. Der zweite ziert worden sind? Punkt be trifft die Frage, inwieweit solche Vorfälle zukünftig ausgeschlossen werden können. Der dritte ( [Nordstrand] [CDU/ Punkt ist der eigentliche Punkt, den wir sehen, näm- CSU]: Das ist schon gemacht worden!) lich wer für was verantwortlich war, sowohl im Bun- Es kann doch nicht sein, daß es nach wie vor Zufall desgesundheitsministerium als auch im Bundesge- bleibt, ob das jemand erfährt oder nicht. sundheitsamt. Darüber hinaus ist, glaube ich, auch mit der Ärzte- Ich will Ihnen zunächst einmal etwas zu dem Punkt schaft zu diskutieren, ob es nicht eine Beratungs- „Entschädigung sofort, humanitäre Soforthilfe" — so pflicht für Ärzte geben sollte, mit den Patienten ganz der Minister — sagen. Wir, die SPD, haben am 29. Ju li individuell über ihre Infektionswege, über eine Auf- diesen Antrag eingebracht. Er ist im Deutschen Bun- klärung zu reden, um dadurch dazu beizutragen, daß destag im September dieses Jahres behandelt wor- es die Ärzteschaft den Patienten nahebringt, daß sie den; gestern gab es eine Einführung im Gesundheits- einen Anspruch auf Hilfe haben und daß man diesem ausschuß. Anspruch auf Hilfe gerecht wird. Sie sagen, Sie haben 2 Millionen DM eingestellt, Ich glaube, daß gerade bei Infektionen der Arzt am wollen aber des weiteren noch einige Punkte zur besten darüber aufklären kann, wie die Hilfe gestaltet Situation der Aidsinfizierten, bezogen auf Aids/Blu- ist, die an den jeweiligen Patienten transportiert ter-Probleme, abklären. Was hindert Sie eigentlich werden könnte. Denn es muß uns klar sein: Es geht daran zu sagen: Wir stellen in der zweiten und dritten nicht nur um den Patienten, es geht dabei auch um Lesung des Haushaltes 1994 einen entsprechenden Dritte. Betrag ein, und zwar auf der Basis der SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Denn soweit ich das mitbekommen habe sind diejeni- gen, die der Minister nennt und die bereit wären, etwas zu geben, doch recht zögerlich. Wenn man Soforthilfe will, dann erinnere ich daran, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Es ist mir daß wir in der fünften Novelle des Arzneimittelgeset- eine große Freude, auf der Besuchertribüne eine zes eine Regelung der EG übernehmen, die dem- Delegation der ungarischen Nationalversammlung, nächst die Beweislastumkehr vorsieht und für Phar- 15980 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Karl Hermann Haack (Extertal) mazeutika so etwas wie eine Haftungsverpflichtung Dann möchte ich mich damit auseinandersetzen,- des Staates vorschreibt. Ähnlich hat sich auch der daß der Minister sagt, er will nun diese ganze Ange- Bundesrat in der Novellierung des AMG geäußert. So legenheit aufklären, und hier den Eindruck erweckt wäre unsere Konzeption, die wir im Antrag vom — Sie mögen mir die Wortwahl nachsehen —, daß er 29. Juli dieses Jahres eingebracht haben, gewisserma- darüber beleidigt ist, daß, nachdem er, bezogen auf ßen der vorauseilende Gehorsam oder die vorausei- GSG, als „shooting star" der Koalition gehandelt lende Erledigung eines Problems, das ohnehin worden ist, nun in der Frage der Bewältigung des Gegenstand der nächsten Neufassung des Arzneimit- Problems Aids und Bluter einige kritische Nachfragen telgesetzes sein wird. veranstaltet werden. Man muß etwas zu der Abklärung sagen, wer nun Der „Rheinische Merkur" schreibt: „Ein Minister Geld bekommen soll. Ich will die strittigen Punkte wacht auf. " — Nein, das ist ernst. Denn der Minister ist benennen. Soweit ich die Einlassung der Koalition seit 18 Monaten im Amt und ist spätestens ausweislich verstanden habe, geht es bei Ihnen darum, die aidsin- der Drucksache des ersten Berichtes am 30. November fizierten Bluter in dem Moment zu entschädigen, 1992 seit 12 Monaten damit beschäftigt, dieses Pro- wenn die Aidserkrankung manifest wird, also Berufs- blem administrativ wieder in den Griff zu bekom- unfähigkeit eintritt. men. Ungeklärt ist die Frage, ob die Ehefrau oder der Wir sind eine gemeinsame Wegstrecke gegangen, Lebenspartner, der sich durch den Ehemann oder weil wir der Auffassung waren, dieses Thema ist kein Lebenspartner infiziert hat, eine Entschädigung Thema streitiger Auseinandersetzung. bekommt oder nicht bzw. lediglich auf Witwenrente Der Punkt, wo wir jetzt kritisch nachfragen, ist angewiesen ist; ich habe dazu nichts von Ihnen gehört. folgender: Wir bekommen von dem Minister Berichte Ähnliches trifft für die Kinder zu. Bekommen sie eine mit Angaben von Uhrzeiten, wann wo was gewesen Waisenrente oder nicht? ist, die hinterher wieder korrigiert werden. Und dann Bei uns ist dieses Problem geregelt. Wir beziehen kommt tröpfchenweise eine andere Information. alle Gruppen mit ein. Wir denken, daß das der richtige Ich will dem Minister nicht unterstellen, daß er da Ansatz ist. Man braucht nicht zu untersuchen und etwas verbergen will. Aber Fakt ist: Er macht sich von danach zu fragen, sondern wir müssen im wesentli- einer Bürokratie im BGM und im BGA abhängig, die chen schnell handeln. nicht die Position oder den Weg, den der Minister mit Ich wiederhole das Wort, das Sie nicht hören wollen: uns gehen will, trägt. Wenn man es auf den Punkt bringt, geht es dabei um Dazu will ich zwei Beispiele geben. Man hätte doch eine Gruppe von Menschen, die unter uns leben, aber längst, seit November 1989, Rückrufaktionen nach ihren Totenschein in der Hand haben, wobei das dem Arzneimittelgesetz — § 69 — organisieren kön- Schicksal das Datum noch nicht eingesetzt hat. nen, indem man noch einmal eine Neutestung aller Blutprodukte, aller Chargenbestellungen vorgenom- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr men hätte. Das hätte man machen können. Das ist Abgeordneter Haack, Herr Abgeordneter Hoffacker nicht geschehen. möchte Ihnen eine Frage stellen. Ich nehme an, Sie Ich will noch einen anderen Punkt ansprechen, Herr sind bereit, sie zu beantworten. — Herr Abgeordneter, Minister. Sie haben in der letzten Woche eine Presse- Sie haben das Wort. mitteilung vom 22. Oktober 1993 herausgegeben und klären die Öffentlichkeit darüber auf, daß es drei unterschiedliche Wege im Meldeverfahren gibt. Dr. Paul Hoffacker (CDU/CSU): Herr Kollege Her- Wenn Sie drei Wege des Meldeverfahrens beschrei- mann Haack, ist Ihnen entgangen, daß in dem Unter- ben, möchte ich doch einmal wissen: Warum haben suchungsteil, den wir in den Ziffern 1.1 bis 1.3 in Sie nicht im vergangenen Jahr oder zu Beginn dieses unserem Antrag beschreiben, steht: mit Rückgriff auf Jahres die Initiative ergriffen, zu einer Vereinheitli- das, was juristisch zu prüfen ist, nämlich „die haf- chung des Meldeverfahrens zu kommen? tungsrechtliche Situation der infizierten Personen und ihrer Angehörigen"? (Karl Hermann Haack [Extertal] [SPD]: Rich Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- tig!) geordneter, der Abgeordnete Seehofer möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, dieselbe Zweitens heißt es: die „wirtschaftliche und soziale zu beantworten? Absicherung dieser Personen und ihrer Angehörigen im ausreichenden Maß gewährleistet ist". Ist Ihnen das entgangen? Karl Hermann Haack (Extertal) (SPD): Ja, klar.

Karl Hermann Haack (Extertal) (SPD): Nein, es ist Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das ist der mir nicht entgangen. Als wir am 29. Juli dieses Jahres Fall. — Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort. unseren Antrag eingebracht haben, haben wir exakt über diesen Punkt diskutiert. Sie haben den entschie- Horst Seehofer (CDU/CSU): Herr Kollege Hermann den. Sie wollen ihn untersucht wissen. Das ist der Haack, ist Ihnen bekannt, daß der Rückruf von Unterschied, den habe ich dargestellt. Vielleicht habe bedenklichen Arzneimitteln nach dem zitierten § 69 ich mich nicht präzise genug ausgedrückt. Aber da des Arzneimittelgesetzes eine Aufgabe der Bundes- denke ich, daß wir ein Stück auseinander sind, und länder ist, so daß sich die Frage stellt, warum das in das muß geregelt werden. den Bundesländern Rheinland-Pfalz und Hessen, wo Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15981

Horst Seehofer die beiden Firmen, die aus meiner Sicht besonders zu in Krankenhäusern. Das hätte man alles machen überprüfen sind, sitzen, nicht geschehen ist? können. Ich zähle das nur auf, um deutlich zu machen, Zweitens. Würden Sie auch meine Meinung teilen, daß die Kritik, die wir an dem Minister haben, nicht daß vieles von dem, was Sie heute sagen, sich nicht in Jux und Dollerei ist. Ihrem Antrag befindet, den Sie am 29. Juli dieses (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Viel schlim- Jahres an den Deutschen Bundestag gestellt haben? mer!) Das heißt, daß die Koalition und auch die Bundesre- Wir erwarten, daß er nicht nur eine Darstellung der gierung mit ihren Vorschlägen, die sie schriftlich Aktenlage gibt, sondern daß der Minister nach zwölf dokumentiert haben, sowohl zeitlich wie auch inhalt- Monaten auch einmal deutlich macht, wo er nach der lich Ihren Vorschlägen weit vorauseilen, mit Aus- Beschreibung der administrativen Gegebenheiten nahme der Frage der Entschädigung, aber was die politisch handelt; denn er hat sich selber in diese Arzneimittelsicherheit betrifft, weit vorauseilen? Situation gebracht. Drittens. Könnten Sie sich vorstellen, daß eine (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist an den Information zutrifft, nach der Angehörige Ihrer Frak- Haaren herbeigezogen!) tion durch Überlassung von schriftlichen Materialien über einige Dinge eher informiert wurden als der Zum dritten Punkt, der Überlassung von Informa- Bundesgesundheitsminister? tionen. Wir befinden uns in einem Bermudadreieck unterschiedlich handelnder Personen. Karl Hermann Haack (Extertal) (SPD): Zur ersten (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Beantworten Frage, der Berufung auf den § 69 AMG. Ich denke, Sie meine Frage! — Weiterer Zuruf von der dieses Argument zieht nicht. Es gibt die Einrichtung CDU/CSU: Das ist ein Modewort!) einer ständigen Konferenz der Arbeits- und Sozialmi- — Ich komme darauf. — Ich verweise z. B. auf den Fall nister mit dem Bundesminister, in der auch Probleme des Dr. Moebius. Sie haben selber vorgetragen, wie der Gesundheitspolitik beraten werden. Man hätte die Informationen laufen. Es werden Spekulationen in sich dort selbstverständlich über ein Screening-Pro- die Welt gesetzt; fragt man nach, bekommt man keine gramm auf der Basis des § 69 AMG verständigen Antwort. Es gibt in dieser Szene eben auch Teile, die können. Dann hätten die Länder das durchgezogen. daran interessiert sind, den ganzen Fall hochzuko- Insofern kann ich Ihre Frage nicht verstehen. Das chen. Es wird unsere Aufgabe sein, mit kühlem hätten Sie machen können. Verstand und sachlicher Auseinandersetzung dies Was war Ihre zweite Frage? anzugehen. Ich werde mich nicht daran beteiligen, gewissermaßen von hinten herum zu zinken. Horst Seehofer (CDU/CSU): Die zweite Frage Sie wollten noch eine vierte Frage stellen? betraf folgendes: Wenn ich Ihren Antrag vom 29. Juli nachlese — ich nehme nicht das zum Maßstab, was Sie jetzt mündlich nachschieben —, dann stelle ich fest, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sie haben das Wort zu einer weiteren Zwischenfrage. Ich bitte daß Sie heute vieles vorschlagen, was nicht Gegen- stand dieses Antrags ist. In dem Antrag steht auch aber, in eine Frage nicht gleich drei, vier oder fünf manches, zu dem Sie die Bundesregierung auffordern, Unterfragen zu packen. bis Ende des Jahres 1993 Vorschläge zu unterbreiten. Das heißt: Die Koalition und die Bundesregierung Horst Seehofer (CDU/CSU): Herr Kollege Schmid- eilen mit vielen Vorschlägen zur Erhöhung der Arz- bauer — — neimittelsicherheit sowohl hinsichtlich der zeitlichen (Zurufe von der CDU/CSU: Das ist der Kol- Abfolge als auch hinsichtlich des Umfangs der Vor- lege Haack!) schläge Ihren Vorschlägen voraus. Wie können Sie uns Versäumnisse vorwerfen, wenn Sie diese Dinge — Ja, ich komme aber gleich auf Herrn Schmid- bauer. selber nicht in den Antrag aufgenommen haben? (Heiterkeit) Karl Hermann Haack (Extertal) (SPD): Am 30. No- vember 1992 haben Sie Ihren ersten Bericht gegeben, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- abgestützt durch das Bundesgesundheitsamt und das geordneter Seehofer, bitte keine Dreiecksfrage. Bundesgesundheitsministerium. Sowohl im Vorfeld (Heiterkeit — Zuruf von der CDU/CSU: dieses Termins als auch in der Zeit danach hat es Keine Bermudadreiecksfrage!) Gemeinsamkeiten zwischen der Koalition und der Opposition im Deutschen Bundestag gegeben, was das Verfahren anbetrifft. Wir haben uns dann am Horst Seehofer (CDU/CSU): Da ich den Kollegen 29. Juli mit dem Antrag zu drei Punkten geäußert. Wir Haack schätze, fällt es mir schwer, festzustellen, daß haben die Eigenblutversorgung und die Novellierung die Präzision seiner Antwort nicht der Präzision mei- des AMG gefordert, weil uns das vordringlich ner Frage entsprach. erschien. Sie hätten im Vorgriff auf irgendwelche (Karl Hermann Haack [Extertal] [SPD]: Das gesetzlichen Regelungen durchaus Vereinbarungen ist wegen Ihrer Verständnisschwierigkei- treffen können. ten!) Was das AMG betrifft, so kann ich nur darauf Herr Haack, ich wollte noch einmal folgendes verweisen, daß die Länder Rechtsverordnungen und wissen: Bei der Präsentation des Berichts am 14. De- Rundverfügungen hätten erlassen können, auch zur zember im Ausschuß hat der Kollege Schmidbauer die Dokumentationspflicht bezüglich Bluttransfusionen Richtigkeit der Darstellung schon in Zweifel gezogen. 15982 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Horst Seehofer Er hat anschließend in der Öffentlichkeit gesagt, man sich nun der Abgeordnete Schmidbauer zu einer- könne die Unwahrheit auch durch Verschweigen von Kurzintervention. Kenntnissen sagen. Ich habe ihm daraufhin einen (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Jetzt kommt die Brief geschrieben, er möge mir bitte mitteilen, was ich Offenbarung!) verschweige. Das war im August. Das löst bei mir die Überlegung aus, daß, wenn man mir Verschweigen (Nürnberg) (SPD): Herr Präsi- vorwirft, jemand möglicherweise mehr Informationen Horst Schmidbauer dent! Meine Damen und Herren! Der Herr Minister hatte, als sie mir zur Verfügung standen. Können Sie hat mich ja direkt angesprochen. Ich stehe dazu: Sie denn ausschließen, daß Mitglieder Ihrer Fraktion in haben den Bericht vorgelegt, und Sie selbst haben ja den letzten Monaten bei der Behandlung dieses den Bericht in der Zwischenzeit korrigieren müssen. Berichts von verschiedenen Beteiligten mehr Informa- Ich hatte zu dem Zeitpunkt die Einschätzung und tionen zur Verfügung hatten als der Bundesgesund- Bewertung der Fragen so vorgenommen, wie ich sie heitsminister nach dem politischen Sachverhalt und den Unterla- (Zuruf von der CDU/CSU: Und dies ver gen, die mir zugänglich waren, zu bewerten hatte. Da schwiegen haben!) gab es keine Skandalmeldung, die Ihnen vielleicht und dies nicht der Öffentlichkeit mitgeteilt haben? verborgen geblieben wäre, sondern es ging mir bei meiner Frage und in meinen Ausführungen um die Bewertung Ihres Berichts vom 30. November, den Sie selbst in der Zwischenzeit in aller Gründlichkeit in der (Extertal) (SPD): Herr Mi- Karl Hermann Haack Öffentlichkeit hinreichend korrigiert haben. nister, das ist ein klassischer Fall von Über-Bande- Spielen. (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Sie haben doch von „Verschweigen" gesprochen!) (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Nein!) — Doch, ein klassischer Fa ll von Über-Bande-Spielen. Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Meine Sie haben ein Problem mit meinem Kollegen Schmid- Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen bauer; das habe ich beg riffen. Sie haben ihm einen mir nicht vor, so daß wir zur Abstimmung kommen Brief geschrieben. Der Kollege Schmidbauer hat die- können, und zwar zunächst über den von der Fraktion sen B rief nicht beantwortet. Ich denke, daß der Kol- der SPD eingebrachten Antrag auf Einsetzung einer lege Schmidbauer diesen Punkt jetzt sicherlich zum unabhängigen Expertenkommission. Es handelt sich Anlaß für eine Kurzintervention nehmen wird. Ich jetzt also nicht um die Einsetzung eines Untersu- spiele hier nicht Bande. Sie haben hier erklärt, Sie chungsausschusses. Der Antrag liegt Ihnen auf der seien Manns und kräftig und wollten das alles klären. Drucksache 12/5974 vor. Wer diesem Antrag zuzu- Klären Sie das bitte mit Herrn Schmidbauer selbst! stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. (Beifall bei der SPD) — Wer stimmt dagegen? -- Das war zweifelsohne die Mehrheit. Dieser Antrag ist abgelehnt. Dann möchte ich noch zu einem Punkt kommen, den Sie angeschnitten haben: Reform des Bundesge- Ich lasse nunmehr abstimmen über den Antrag der sundheitsamtes. Ich glaube, daß das, was Ihnen mit Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. sowie den der Auflösung des Bundesgesundheitsamtes als Antrag der Fraktion der SPD auf Einsetzung eines Schnellschuß über die Lippen gekommen ist, noch Untersuchungsausschusses. Diese Anträge liegen einmal deutlich überdacht werden muß. Ihnen auf den Drucksachen 12/6035 und 12/5975 vor und sollen an den Ausschuß für Gesundheit überwie- (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Sie haben es sen werden. Gibt es andere Vorschläge dazu? — Das doch begrüßt!) ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen — Wir haben es begrüßt; das ist richtig. Aber inzwi- worden. schen sagen wir: Die Reform des Bundesgesundheits- amtes kann nicht nach dem Motto gehen: „Wir neh- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: men die Brüder an die Kandare", kann nicht in einer Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- Dequalifizierung seiner Arbeit münden, sondern muß ten Gerd Andres, Konrad Gilges, Gerlinde münden in eine erneuerte Gesundheitspolitik, in ein Hämmerle, weiterer Abgeordneter und der Amt für Gesundheitspolitik, für gesundheitliche Fra- Fraktion der SPD gen, das Forschungsfragen beantwortet, Verbraucher schützt und Politikberatung für den Gesundheitsaus- Situation ausländischer Jugendlicher im Bil- schuß leistet. Sie werden nach meiner Einschätzung dungs- und Ausbildungssektor und ihre Inte- auch nicht darum herumkommen, diesen sechs Insti- grationschancen in unserer Gesellschaft tuten — mit dem Aids-Institut sind es ja inzwischen — Drucksachen 12/2858, 12/4986 — sieben — eine Gesamtleitung zu geben, wie sie bisher Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion bestanden hat, aber mit anderer Aufgabenstellung der SPD vor. und anderer personeller Zusammensetzung. Zunächst habe ich mich zu erkundigen, ob der Vielen Dank. Vorschlag des Ältestenrats „Debattenzeit eine (Beifall bei der SPD) Stunde" akzeptiert wird. (Unruhe — Zuruf von der SPD: Wir verstehen kein Wort!)

Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Gemäß Wenngleich ich den Eindruck habe, daß nicht alle der Aufforderung des Abgeordneten Haack meldet aufgepaßt haben, erhebt sich zumindest kein Wider- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15983

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Spruch, so daß ich das als beschlossen feststellen kann Wir begrüßen es, daß sich die Ausbildungsbeteili- und wir die Debatte eröffnen können. gung ausländischer Jugendlicher in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt hat, doch liegt der Anteil Zunächst erteile ich der Abgeordneten Frau Doris ungelernter bzw. angelernter Arbeitnehmer bei aus- Odendahl das Wort. (Unruhe) ländischen Jugendlichen dreimal so hoch wie bei deutschen. Ich wäre dankbar, wenn diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte nicht zu folgen wün- Nun hat sich das Ausbildungsplatzangebot in den schen, den Saal verließen und ihre Gespräche drau- alten Bundesländern — das betone ich ausdrücklich — ßen fortführten. — Das trifft auch für die Abgeordne- deutlich verbessert. In immer mehr Berufen gibt es ein ten Zöllner und Frau Ackermann zu. größeres Angebot an Ausbildungsstellen als an Bewerbern, was auch zu zusätzlichen Anstrengungen Frau Abgeordnete Odendahl, Sie haben das Wort. vor allem seitens des Handwerks für ausländische Schulabgänger geführt hat, Ihr Zugang zu einer Berufsausbildung ist dennoch Doris Odendahl (SPD): Herr Präsident! Meine nicht leichter geworden. Nach wie vor konzentrieren Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich ausländische Jugendliche auf nur wenige im Juni 1992 eine Große Anfrage zur Situation auslän- Berufe. discher Jugendlicher im Bildungs- und Ausbildungs- sektor und ihre Integrationschancen in unserer Ihre Abbruchquoten sind überdurchschnittlich Gesellschaft an die Bundesregierung gerichtet. Wir hoch. Auch hier stehen die Mädchen wieder einmal wollten wissen, inwieweit der Anspruch aus den auf der Verliererseite. 1990 be trug ihre Ausbildungs- Orientierungsrichtlinien der Bundesregierung vom quote trotz guter Schulabschlüsse nur 30 % gegenüber 19. März 1980 für die Weiterentwicklung der Auslän- 40 % bei den männlichen Jugendlichen. Hier setzt sich derpolitik verwirklicht ist. fort, was Frauen immer wieder zu spüren bekommen: Darin heißt es: Eine Berufsausbildung in einem Wenn es auf dem Arbeitsmarkt und bei der Ausbil- anerkannten Ausbildungsberuf ist einer der wichtig- dung eng wird, sind sie nur noch zweite Wahl. sten Faktoren für die berufliche und soziale Einglie- Nun haben Sie in Ihrer Antwort auf unsere Große derung. Junge Ausländer müssen daher die gleichen Anfrage viele Dinge angesprochen, mit denen die Chancen zur erfolgreichen Wahrnehmung des Ausbil- Bildungs- und die Ausbildungssituation ausländi- dungsplatzangebotes erhalten wie deutsche Altersge- scher Jugendlicher verbessert werden können. Trau- nossen. rig ist nur, daß Sie trotz aller Einsicht in der Praxis das Die Antwort der Bundesregierung ließ fast ein Jahr Gegenteil machen. Die Streichungen in der 10. AFG- lang auf sich warten. Wir hatten erwartet, daß darin Novelle wirken sich für ausländische Jugendliche wenigstens Ansätze für systematische, politische Kon- katastrophal aus. Sie verhindern, daß Schulab- zepte zu erkennen sind, die der Lebenswirklichkeit schlüsse, vor allem der Hauptschulabschluß, nachge- dieser jungen Ausländerinnen und Ausländer ent- holt werden können. Es müßte doch eigentlich in sprechen. Diese Erwartungen wurden nicht erfüllt; die Ihrem Interesse liegen, daß das geschieht. Aufgabe ist heute drängender denn je. Bei der Berufsberatung muß die Beratung ausländi- Die Aufgabe, ausländische Kinder in das Bildungs- scher Jugendlicher und ihrer Eltern verstärkt werden. system und ausländische Jugendliche in das Berufs- Das merken Sie auch an. Sie muß frühzeitig beginnen bildungssystem zu integrieren, trifft nicht nur die und auch während der Ausbildung begleitend ange- zweite und dritte Generation, sondern stellt sich auch boten werden. Nur machen Sie, meine Damen und für die Zukunft. Herren, durch Ihre Kahlschlagpolitik im Bereich der Auch wenn nun im schulischen Bereich seit 1980 Arbeitsverwaltung solche Anstrengungen unmög- der Anteil ausländischer Gymnasiasten und Realschü- lich. ler bis 1990 von ca. 8 % bzw. 6 % auf 16 % bzw. 15 % (Beifall bei der SPD) gestiegen ist, besteht nach wie vor zwischen den deutschen und den ausländischen Schülern ein deut- Ich nehme an, daß Sie öfters das Arbeitsamt in Ihrem licher Unterschied im Niveau der Schulausbildung, Wahlkreis besuchen. Dann wissen Sie, was dort noch der sich in erheblich schlechteren Ch ancen bei der geschehen kann und was nicht mehr möglich ist. Sie Ausbildungsplatzsuche niederschlägt. haben genau die Berufsberater zu Kontrollbeamten gemacht, die hier ansetzen sollten. Wir sollten deshalb, meine ich, noch ein paar andere Zahlen hinzufügen: Einen Hauptschulabschluß hatten Die Benachteiligtenprogramme und Fördermaß- 1990 rund 51 % der ausländischen Jugendlichen; im nahmen in Schule und Ausbildung müssen ausgebaut Vergleich zu 1980 eine Steigerung um 10 %. Ohne werden, um Bildungs- und Sprachdefizite zu mindern Abschluß waren 1980 noch 52 %, im Jahre 1989 — das und vor allem um Ausbildungsabbrüche zu vermei- ist ein Erfolg — nur noch 18 %. Bemerkenswert dabei den. Auch hier geschieht Abbau statt Ausbau. Es ist ist allerdings, daß 1989 lediglich 21,6 % der deutschen nur traurig, daß wir dies schon vorausgesehen haben, Mitschüler den Hauptschulabschluß anstrebten. In als Sie vor einigen Jahren das Benachteiligtenpro- vielen Städten und Gemeinden ist die Hauptschule gramm aus dem Bildungsbereich ausgelagert haben. heute schon die Restschule für Ausländer geworden Daß dann für besondere Hilfen und Angebote für mit einem Anteil der ausländischen Schülerinnen und ausländische Mädchen nicht mehr viel übrig bleibt, ist Schüler von bis zu 80 %, unsere große Sorge. 15984 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Doris Odendahl Wir wollen, daß künftig im jährlich vorzulegenden die Bundesregierung auf diesem Gebiet ihrer Verant-- Berufsbildungsbericht die Bildungs- und Ausbil- wortung nicht gerecht. Auch dies ist natürlich falsch. dungsprobleme ausländischer Jugendlicher stärker Denn der leitende Grundsatz der Bundesregierung, berücksichtigt werden. Dazu wollen wir eine Darstel- Ausländer so gut und so frühzeitig wie möglich zu lung der Modelle und Förderungskonzeptionen sowie integrieren, ist richtig. Es ist in den vergangenen der Finanzmittel, mit denen der Benachteiligung aus- Jahren gelungen, die Bildungssituation der jungen ländischer Jugendlicher entgegengewirkt werden Ausländer stetig zu verbessern. Frau Odendahl hat soll, verbunden mit einer gesonderten Berichterstat- auf die Zahlen bereits hingewiesen. Der Anteil der tung über die Situation ausländischer Mädchen. ausländischen Schüler in den Gymnasien und Die Forderungen in unserem Entschließungsantrag Realschulen hat in den Jahren von 1980 bis 1990 sind ein wichtiger Schritt zu einer modernen, huma- zugenommen, in den Gymnasien von 8 % auf 16 %, in nen Migrationspolitik. Wir müssen die Zusammenar- den Realschulen von 6 % auf 15 %. Die Ausbildungs- beit auf europäischer und internationaler Ebene beteiligung ausländischer Jugendlicher ist in dem suchen und die Erfahrungen anderer L ander für die Zeitraum von 1984 bis 1991 von 49 000 auf 109 000 Gestaltung eines miteinander Lebens und Lernens Auszubildende angestiegen. Diesen Trend, glaube — das sage ich ausdrücklich — in kultureller Vielfalt in ich, wollen und wünschen wir alle. Wir wissen, es unsere Gesellschaft einbeziehen. bleibt dennoch einiges zu tun. Meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik Die Maßnahmen, die dazu geführt haben, sind Deutschland leben 1,9 Millionen ausländische Ju- konsequent und langfristig fortzusetzen. Ich nenne gendliche unter 25 Jahren. Die meisten von ihnen einige Beispiele, vor allem aber ein Modell, das in wurden hier geboren. Alle Jugendlichen haben den Köln läuft, nämlich das von der Bundesregierung gleichen Anspruch auf bestmögliche Förderung. geförderte Modellprojekt für die Arbeitsmarktregion (Beifall bei der SPD) Köln, die Beratungsstelle für die Qualifizierung aus- Für jeden jungen Menschen sind Bildung und Beruf ländischer Nachwuchskräfte. Das Modellprojekt exi- wichtige Voraussetzungen erfolgreicher sozialer Ein- stiert seit 1989 und war zunächst für drei Jahre gliederung. Nur mit einer umfassenden Ausbildung geplant. Wegen seines Erfolges wird das Projekt für kann auch die gesellschaftliche Integration gelingen. weitere drei Jahre, bis 1995, fortgeführt. Ganz neben- Wir müssen helfen, daß ausländische Jugendliche bei: Die Bundesregierung hat ihren Anteil an der diese Chance nutzen und nutzen können. Finanzierung dieses Projekts auf über 30 % erhöht. Damit wir den notwendigen Diskussionsprozeß ein- Die Arbeit der Beratungsstelle zeigt, wie vielfältig leiten und zu einem gemeinsamen Handeln kommen die Schwierigkeiten sind, die bei dem Versuch der können, beantragt die SPD-Fraktion, ihren Entschlie- Integration ausländischer Jugendlicher in die Arbeits- ßungsantrag an den federführenden Ausschuß für welt auftreten können. Die Beratungsstelle versucht, Bildung und Wissenschaft und an die mitberatenden diesen Schwierigkeiten gerecht zu werden, indem Ausschüsse zu überweisen. Ich denke, wir bekommen beim Übergang von der Schule in die Berufswelt die dann eine gute Gelegenheit, das, was notwendig ist, ausländischen Jugendlichen und ihre Eltern infor- zu tun. miert werden. Dabei wird versucht, den Eltern zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vermitteln, daß eine Berufsausbildung ein wichtiger der PDS/Linke Liste) und sinnvoller Abschnitt für die Qualifizierung ihrer Kinder ist. Auf der anderen Seite werden auch die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Ausbilder in den Betrieben durch Information über nunmehr dem Abgeordneten Wolfgang Meckelburg den sozialen Hintergrund potentiell interessierter das Wort. Familien unterstützt. Die Beratungsstelle hat erfolg- reich gearbeitet. Im Kölner Bereich ist von 1989 bis Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Herr Präsident! 1992 der Anteil ausländischer Jugendlicher in der Meine Damen und Herren! Ich will aus Fairneß Berufsausbildung von 5 % auf 10,3 % gestiegen. gegenüber meinen Nachrednern ein wenig Redezeit Ich nenne als weitere Beispiele aus den Antworten einsparen, so daß wir alle die Gelegenheit haben, zu — wir können das ja nachlesen — das Benachteiligten sprechen. programm, berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, Ich möchte zwei Bemerkungen an den Anfang Förderungs- und Grundausbildungslehrgänge, Infor- stellen. mations- und Motivationslehrgänge. Ich nenne auch die Berufsinformation und das Tätigkeitsfeld des Berufsin- Frau Odendahl, Integrationspolitik muß langfristig formators und mache den Hinweis, daß in jedem angelegt sein, und sie umfaßt mehr als bildungspoli- Arbeitsamt mindestens ein Berufsberater als Auslän- tische Maßnahmen. Diese Feststellungen sind not- derbeauftragter benannt ist. All das zeigt: Große Po wendig, damit die heutige Debatte keine falschen litik und Kleinarbeit vor Ort sind notwendig. Erwartungen weckt. Denn der Umfang des Fragenka- talogs der SPD und insbesondere der nachgeschobene Lassen Sie mich abschließend einiges zu dem nach- Entschließungsantrag könnten den Eindruck vermit- geschobenen Entschließungsantrag der SPD sagen. teln, der Schlüssel zur Integration ausländischer (Eckhart Kuhlwein [SPD]: Was heißt denn Jugendlicher liege ausschließlich in der Bildungspoli- „nachgeschoben"? Das ist normal bei einer tik und sie sei von heute auf morgen zu erreichen. Großen Anfrage, so daß m an einen Vorgang Beides ist natürlich nicht zutreffend. hat, auf den man sich im Ausschuß beziehen Gleichzeitig versuchen Sie, meine Damen und Her- kann und über den man weiter diskutieren ren von der SPD, den Vorwurf zu erheben, als werde kann!) Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 19C3 15985

Wolfgang Meckelburg Wissenschaft auf Bundesebene die Aktion „Auslän- — Einverstanden, Herr Kuhlwein. Ich empfinde das derinnen und Ausländer ausbilden" ins Leben geru- jetzt so. fen. (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Er empfindet aber völlig falsch! — Eckhart Kuhlwein Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- [SPD]: Lernen Sie das doch!) geordneter, sind Sie bereit, eine Frage der Abgeord- — Herr Kuhlwein, es handelt sich nicht um einen neten Frau Odendahl zu beantworten? Lernprozeß; ich habe versucht, meine Empfindungen darzulegen, weil ich im nachhinein anhand Ihres Entschließungsantrages, der mir erst seit gestern vor- Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Ich war gerade liegt, meine Position etwas deutlicher machen kann. beim Schlußsatz; ich wollte die eine Minute sparen. Insofern sind Sie vielleicht um so mehr an dem Wenn es denn sein muß, Frau Odendahl: Bitte interessiert, was ich sage. schön. (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Muß sein!) Vor diesem Hintergrund ist der Entschließungsan- trag der SPD zu beurteilen. Die Innovationsleistung, die die SPD von der Bundesregierung in der Integra- Doris Odendahl (SPD): Nachdem Sie das Kölner tionspolitik verlangt, besteht laut ihrem Antrag vor Modell als eine gute Sache bezeichnet haben — auch allem in der Bildung neuer Begriffe: Konzeption einer wir tun das; in der Beantwortung taucht es auf —, interkulturellen Berufsausbildung, bikulturelle Be- wollte ich Sie fragen, Herr Kollege Meckelburg, ob Sie rufsausbildung, ein Pflichtfach „ Migrationspädago- nicht der Meinung sind, daß Modellversuche dazu da gik " oder der Vorschlag, die Betriebe sollten sich als sind, umgesetzt zu werden, und daß die Situation in interkultureller Arbeitsraum verstehen. Köln, die zweifellos dadurch günstig beeinflußt wird, sich dadurch noch nicht auf andere Städte und (Zuruf von der CDU/CSU: Das fehlte Gemeinden niederschlägt, indem man nur das eine noch!) hat und es auch lobt, sondern daß mehr geschehen Ich will gar nicht behaupten, daß diese Begriffe muß. nicht gutgemeint sind. Aber ich möchte fragen: Was steckt hinter diesen so anspruchsvoll klingenden Worten? Sie fordern, meine Damen und Herren von Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Während Sie der SPD, daß Schulabschlüsse nachgeholt werden sich darauf vorbereitet haben, mir die Zwischenfrage können. Aber das dürfen Sie doch bitte nicht der zu stellen, hatte ich mir erlaubt, darauf hinzuweisen, Bundesregierung sagen. Hören Sie doch erst einmal daß das Bundesministerium für Bildung und Wissen- bei den Kollegen in den Ländern nach! Sie haben das schaft auf Bundesebene bereits zu einer Ausweitung eben angesprochen: Es wird von den Ländern aner- dieser Aktion geblasen hat. kannt, daß das Nachholen von Schulabschlüssen Ich wollte zum Schlußsatz kommen. Frau Odendahl, durch die Länder finanziert werden muß. Wir streiten vielleicht können wir uns im Ausschuß darauf einigen, uns an dieser Stelle natürlich immer wieder urn das die Entwicklung des Kölner Modells zu beobachten Geld. und gemeinsam zu überlegen, was man daraus machen kann. Aber ich möchte uns alle davor warnen, (Doris Odendahl [SPD]: AFG!) vom Staat zuviel zu erwarten, was die Integration — Ins AFG gehört es nicht hinein; das wird anerkannt insgesamt angeht. von den Ländern, Frau Odendahl. Schönen Dank. (Doris Odendahl [SPD]: Aha!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) In einigen anderen Punkten läßt sich sicherlich Übereinstimmung herstellen. So fallen in Ihrem Ent- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr schließungsantrag auch ein paar konstruktive Vor- hat die Abgeordnete Frau Ulla Jelpke das Wort. schläge auf. Sie wollen ein Beratungskonzept, in das alle an der Berufswahl und der Ausbildung beteiligten Gruppen eingebunden werden. Berufsberatung muß, Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! so Ihr Antrag, die Beratung ausländischer Jugendli- Meine Damen und Herren! Im Entschließungsantrag cher und ihrer Eltern ausweiten, kooperativ gestalten, der SPD zur Antwort der Bundesregierung heißt es, frühzeitig beginnen und auch während der Ausbil- Berufsorientierung und Berufsausbildung ausländi- dung begleitend angeboten werden. scher Jugendlicher seien Teil einer umfassenden Migrationspolitik. Schön wäre das ja. Ich teile durch- Wenn Sie sich jetzt noch einmal das Kölner Modell aus viele der Forderungen im SPD-Antrag; aber von vor Augen halten, von dem ich gerade gesprochen einer umfassenden Migrationspolitik kann in der habe, dann finden Sie darin Ihre konstruktiven Forde- Bundesrepublik überhaupt nicht die Rede sein. rungen zumindest vom Ansatz her erfüllt. Wie Sie Zuletzt hat die Sachverständigenanhörung zur dop- wissen, hat das Bildungsministerium bereits in die pelten Staatsbürgerschaft doch deutlich gemacht, mit Wege geleitet, daß die positiven Erfahrungen mit dem welcher Blockadementalität auf einer restriktiven Kölner Modell ausgeweitet werden. Um die Arbeit des Handhabung der Einbürgerungsregelungen durch Modells über den Kölner Raum hinaus nutzbar zu die Unionsvertreterinnen und -vertreter beharrt wird. machen, hat das Bundesministerium für Bildung und Es ist geradezu Staatsdoktrin, daß die Bundesrepublik 15986 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Ulla Jelpke kein Einwanderungsland ist, allen realen Entwicklun- renzierten sozialen, kulturellen, religiösen und bil- gen zum Trotz. dungsmäßigen Ansprüche hier im Lande leben und verwirklichen will. (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Bei uns gibt es keine Staatsdoktrin!) Schönfärberisch ist die Antwort der Bundesregie- rung auch deswegen, weil sie über den Zeitraum der Vor diesem Hintergrund müssen die in der Antwort eher fetten Jahre berichtet. Außer acht läßt die Ant- der Bundesregierung schöngeredeten Maßnahmen wort die Streichung der ABM-Gelder und andere gesehen werden. In aller Regel sind es Notprogramme Teile des Sparprogramms für 1994. Ihrem rigiden für sehr spezifische Bereiche. Sie sind nicht nur Sparkurs fallen Bildungs- und Stützmaßnahmen wie finanziell und institutionell nicht genügend abgesi- Sprachunterricht, sozialpädagogische Betreuung und chert, sie unterliegen zudem ständigen Einsparungen, Jugendhilfemaßnahmen für Ausländerinnen und Einschränkungen und Umorientierungen personeller Ausländer als erste dem Rotstift zum Opfer, und zwar und finanzieller Art je nach allgemeiner Konjunktur. im kommunalen Bereich und im Bereich der Bundes- Und sie waren auch in ökonomisch besseren Zeiten regierung. ausgesprochen diskriminierend. Die Folgen für die ausländischen Jugendlichen Die Antwort strotzt nur so von Beispielen dafür, wie werden meiner Meinung nach katastrophal sein. konkrete Ausbildungsprobleme, die eigentlich Folge Danke für Ihre Aufmerksamkeit. genereller Diskriminierung sind, den Be troffenen selbst angelastet werden. Die Bundesregierung findet (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Verständnis dafür, daß 50 % — ich wiederhole: 50 % — der untersuchten Industriebetriebe Inländer bei glei- cher Qualifikation Ausländerinnen oder Ausländer Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile vorziehen. Diese Be triebe werden pauschal von Vor- nunmehr der Abgeordneten Frau Cornelia Schmalz- urteilen oder ausländerfeindlicher Einstellung freige- Jacobsen das Wort. sprochen. Zugestanden wird Ihnen, daß sie „daran interessiert sind, homogene Arbeitsgruppen mit gleichgerichteter Einstellung zur Arbeit zu bilden, um Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Herr Präsi- Reibungsverluste zu vermeiden". dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Bildung und Ausbildung sind sicherlich nicht die einzigen, aber Die Auswahlkriterien der Anbieter von Lehrstellen gehören zu den wichtigsten Faktoren für eine erfolg- werden auch vom Deutschen Institut für Wirtschafts- reiche Integration. Durch die Schule und durch die forschung für den immer noch äußerst geringen Anteil berufliche Bildung erwerben ausländische Kinder und ausländischer Jugendlicher an den 1,4 Millionen Jugendliche Qualifikationen, die ihnen Perspektiven Auszubildenden in der Bundesrepublik mit verant- für ihre berufliche Zukunft und damit für ihren gesam- wortlich gemacht. Unter anderem dürfte es auf solche ten Lebenszuschnitt schaffen. Mechanismen zurückzuführen sein, daß im Dezember Weit über zwei Drittel der in Deutschland lebenden 1991 doppelt so viele Türken arbeitslos waren wie Kinder und Jugendlichen sind hier geboren. Die Italiener, Griechen, Spanier, Portugiesen und Jugo- Bundesrepublik, und nicht das Herkunftsland ihrer slawen zusammengenommen. Eltern, ist ihre Heimat. Die Bezeichnung „Ausländer" Das sind die Erfahrungen von Kindern und Jugend- trifft vor allem für ihren rechtlichen Status zu. lichen bzw. deren Eltern, und genau auf diesem Weg (Dr. [F.D.P.]: Sehr wahr!) wird Kindern und Jugendlichen das Ausländerdasein andressiert, wie es die Berliner Ausländerinnen- und An diesem Status aber darf sich die berufliche Zukunft Ausländerbeauftragte, Frau John, nannte. Es ist schon dieser Generation nicht entscheiden. Die Ausbil- makaber, wenn in der Antwort der Bundesregierung dungssituation für Jugendliche mit ausländischem immer und immer wieder Defizite der jugendlichen Paß hat sich gerade im letzten Jahrzehnt ganz ent- Ausländer angeführt werden, die ihre Integration scheidend verbessert. Das darf uns jedoch nicht den angeblich erschweren. Blick dafür trüben, daß der Vergleich ihrer Situation mit der der entsprechenden deutschen Altersgruppe Besonders deutlich wird das an der Situation aus- immer noch weit auseinanderklafft. ländischer Mädchen. Die Kollegin Odendahl hat das Es wäre jedoch ebenso falsch, die Erfolge, die wir hier schon angesprochen. Trotz oftmals höherer for- haben, kleinzureden. Man muß sie vielmehr analysie- maler Qualifikation als bei vergleichbaren männli- ren, um darauf weiter aufzubauen. chen Jugendlichen wachsen ihre Schwierigkeiten, weiterführende Ausbildungsplätze oder entspre- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) chende Arbeitsplätze zu finden. Das ausschließlich Es ist enorm viel und auch enorm Vielfältiges familiären, religiösen und anderen Traditionen in die gemacht und erreicht worden. Es hat hier ganz große Schuhe zu schieben, ist meiner Meinung nach Anstrengungen gegeben. Zu den Erfolgen haben zynisch. Es gibt keine unverrückbare türkische Tradi- ganz gewiß die zahlreichen Angebote des Bundesmi- tion, die Mädchen in den Friseurinnenberuf zwingt. nisteriums für Arbeit beigetragen, Dinge, die die Die Antwort der Bundesregierung führt einen gan- Länder gemacht haben, wie auch das große Engage- zen Wust von Maßnahmen auf, die an sich schon völlig ment vieler Leute, die in den Bereichen Bildung und unzureichend sind. Darüber hinaus entsteht ihre prak- Ausbildung tätig sind. tische Notwendigkeit allzuoft nur deshalb, weil sich Weitere Verbesserungen sind jedoch ohne jeden die Mehrheitsgesellschaft nicht darauf einrichten Zweifel notwendig. Der Anteil der ausländischen will, daß eine millionenstarke Minderheit ihre diffe- Jugendlichen, die eine Ausbildung im dualen System Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15987

Cornelia Schmalz-Jacobsen machen, ist nur halb so groß wie die entsprechende Eine Barriere für die Jugendlichen kann die deut-- Quote deutscher Jugendlicher. Der Anteil der un- und sche Sprache sein. Allen muß klar sein — ich will das angelernten ausländischen Jugendlichen ist mehr als ganz deutlich sagen —: Die Basis für eine gute dreimal so hoch wie bei der deutschen Vergleichs- Integration und eine berufliche Zukunft ist die Beherr- gruppe. Und es fällt auf, daß der Anteil arbeitsloser schung der Landessprache. junger Ausländer — das ist ja dann in dieser Konse- quenz kein Wunder — deutlich höher liegt, als dies bei Viele jedoch können längst perfekt Deutsch. Aller- den jungen Deutschen der Fall ist. dings ist die Tatsache, daß da jemand noch eine weitere Sprache beherrscht, ein Pluspunkt. Das ist Wenn man die beiden Gruppen in ihrer schulischen eine Stärke, gerade für uns als Exportnation. Dies Ausbildung betrachtet, fallen auch hier sehr große sollte auch so gesehen und einbezogen werden. Unterschiede auf, am krassesten bei den Sonderschu- len. Meine Damen und Herren, das kann ja wohl nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- daran liegen, daß ausländische Kinder nur halb so ten der CDU/CSU und der SPD) begabt sind wie ihre deutschen Spielgefährten. In der vorliegenden Antwort wird an verschiedenen Stellen immer wieder von den kulturellen Unterschie- (Beifall des Abg. Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.] den gesprochen. Das klingt ein bißchen vage. Ich sowie bei der SPD und der PDS/Linke richte das an uns alle: Wir sollten uns davor hüten, daß Liste) das zur Ausrede wird bzw. als Ausrede gebraucht Das alles zeigt, daß Integrationsmaßnahmen sehr wird. frühzeitig einsetzen müssen und viele Lebensberei- Es gibt viele Ungereimtheiten. Die Wirtschaft che umfassen sollten. Das bedeutet, Angebote schon beklagt offene Lehrstellen, aber ausländische Ju- im Kindergarten zu machen, damit spätere Maßnah- gendliche finden dennoch keinen Ausbildungsplatz. men überflüssig werden. Mir ist auch die allgemeine Da darf man nicht resignieren. Da müssen auch neue Misere im Kindergartenbereich bekannt. Nur, man Konzepte im Bildungs- und Ausbildungsbereich muß auch ins Auge fassen, daß hier für die ausländi- gefunden werden. schen Kinder etwas gemacht wird. (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Alle an der Bildung und Ausbildung Beteiligten sind Abgeordneten der CDU/CSU) gefordert: die Schule, die Berufsberatung, die Ausbil- dung, die Eltern und natürlich auch die Jugendlichen Ich tippe hier nur einmal das Thema „interkulturel- selbst. les Lernen" an — was das ist, darüber kann man im Ausschuß ja sprechen — oder auch die binationalen In der Beantwortung der Großen Anfrage ist immer Ausbildungsprojekte des BMA. Vielleicht könnte m an wieder von den Eltern die Rede und davon, wie ja Bausteine solcher erfolgreichen Projekte in die wichtig gerade ihre Beteiligung ist. Hier gibt es häufig Regelausbildung übernehmen. Schwierigkeiten — nicht nur für die Töchter, aber für sie ganz besonders. Es ist übrigens interessant, wer eigentlich ausländi- sche Jugendliche ausbildet. Die absolute Spitze bildet Die Eltern hegen oftmals hohe Erwartungen an die das Handwerk. Hier ist ein Lob und ein Dankeschön beruflichen Ziele ihrer Kinder, und 80 von 100 halten angebracht. eine berufliche Ausbildung für wichtig. Aber einmal sind die Eingangsvoraussetzungen für diese Kinder (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der schlechter, zum anderen spielt die mangelnde Kennt- SPD) nis der Eltern über das deutsche Bildungssystem und In diesem Zusammenhang frage ich auch einmal gerade über die duale Ausbildung eine Rolle. Diese wieder: Wo wären wir eigentlich ohne unsere Hand- Ausbildung ist in den Herkunftsländern weitgehend werksbetriebe? Ich war in diversen Kammerbezirken, unbekannt, und häufig wird zwischen dem angelern- und ich kann nur sagen, hier gibt man sich wirklich ten Arbeiter und dem Facharbeiter nicht unterschie- enorm große Mühe. den. Ich sage es einmal salopp: Arbeiten, die in einem „Blaumann" verrichtet werden, haben in den Augen Platz zwei, allerdings mit einigem Abstand, halten vieler Eltern kein sehr hohes Prestige. Industrie und Handel. (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions Beklagenswert sind dagegen die Ausbildungsange- los]: Leider! Leider!) bote für ausländische Jugendliche im öffentlichen Dienst. Die Information der Eltern und die Zusammenar- beit mit ihnen ist der erste und entscheidende Schritt (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) zur Verbesserung des Bildungsstandes ihrer Kinder. Ich rede hier selbstverständlich nur von solchen Plät- Aber es gibt auch andere Gründe für die Benachteili- zen, die Ausländern offenstehen. Gerade der öffentli- gung ausländischer Jugendlicher, wie in einer che Dienst, der sich so gern als Vorreiter beschreibt, SINUS-Studie ermittelt wurde. Selbst dann, wenn gerade die von öffentlichen Stellen an die Wirtschaft diese Jugendlichen die Leistungskriterien erfüllen, gerichteten Appelle zur verstärkten Ausbildung „un- äußern Betriebe Skepsis. Sie befürchten soziale Kon- serer jungen Ausländer" machen hier eine peinliche flikte zwischen Deutschen und Ausländern oder zwi- Kluft zwischen Worten und Taten deutlich. schen Ausländern verschiedener Nationalität oder auch negative Reaktionen der Kundschaft und der (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Das ist leider Geschäftspartner. sehr wahr!) 15988 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Cornelia Schmalz-Jacobsen Nicht einmal — hören Sie gut zu! — jeder 50. Auszu- sche Kinder und Jugendliche in allen Bereichen bildende hier ist Ausländer. unseres Bildungssystems unterstützt. Dabei geht es (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Das von der Zielrichtung her darum, den jungen Auslän- kann so nicht bleiben!) dern die gleichen Rechte und, soweit eben möglich, auch die gleichen Chancen für eine qualifizierte Damit hinkt der öffentliche Dienst mehr als zehn Jahre Berufsausbildung wie ihren deutschen Altersgenos- hinter der Wirtschaft her. sen zu verschaffen. An diesem Ziel hat sich nichts (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Wie immer!) geändert. Richtig ist, daß dieses Ziel sicher noch nicht Gerade hier könnte man so etwas wie Normalität der erreicht ist. Richtig ist aber auch, daß wir uns heute in Begegnung möglich machen. einer günstigeren Situation befinden, als das noch vor Ich finde es auch bemerkenswert, daß nicht einmal einigen Jahren der Fall war. die Bundesanstalt für Arbeit von diesem Trend Die Bundesregierung hat dazu erhebliche Maßnah- abweicht, obwohl die Dienstleistung für ausländische men ergriffen, die in der Antwort im einzelnen doku- Arbeitslose und Arbeitsplatzbewerber bei den Ar- mentiert sind und hier nicht wiederholt werden müs- beitsämtern doch einen Schwerpunkt einnimmt. Wie sen. Es versteht sich fast von selbst, daß sie dies wäre es mit der Ausbildung von Ausländern im natürlich auch in Zukunft tun wird, gerade weil, wie eigenen Hause, bei der Arbeitsverwaltung? der bisherige Verlauf der Debatte gezeigt hat, nie- (Beifall bei der F.D.P., der SPD und der mand bei allen erreichten Erfolgen übersehen wird, PDS/Linke Liste) daß wir das gemeinsame Ziel sicher noch nicht in befri Es gibt, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine logi- edigendem Umfang erreicht haben. sche Kette: Beruflich qualifizierte Jugendliche haben Ich will allerdings darauf aufmerksam machen, daß es leichter, einen Arbeitsplatz zu finden. Wo die dies alleine durch die Bundesregierung — ich könnte betriebliche Integration funktioniert, da gibt es auch im übrigen auch sagen: alleine durch Politik — nicht in anderen Lebensbereichen kaum Probleme. Diese zu erreichen ist. Dies ist überhaupt nur dann zu Jugendlichen sind ein Teil unserer jungen Generation bewältigen, wenn es von allen politischen und gesell- und keine Fremden. Es liegt im gemeinsamen Inter- schaftlichen Kräften als eine Gemeinschaftsaufgabe esse, Unterschiede bei den Startchancen für ihre begriffen wird, d. h. nicht nur intellektuell begriffen, Zukunft zu überwinden. sondern auch angepackt wird. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Es liegt in der Logik einer solchen Debatte, daß die hat nunmehr der Parlamentarische Staatssekretär einen eher auf die in der Zwischenzeit erreichten Norbert Lammert. Erfolge und die anderen eher auf die noch vorhande- nen Defizite hinweisen. Es ist im übrigen sicher gut, daß es, unabhängig von der Präzision der Rollenver- Dr. Norbert Lamme rt, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Herr teilung, die dabei auch immer zum Ausdruck kommt, Präsident! Meine Damen und Herren! Die Antwort der den Hinweis auf das eine wie auf das andere gibt; denn beides ist ja wahr. Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD- Fraktion gibt uns gemeinsam Gelegenheit, über ein Ich denke, es ist auch vernünftig festzuhalten, daß Thema zu sprechen, das weder ein Randthema der die Situation ausländischer Jugendlicher in unserem Bildungspolitik noch ein Randthema unserer Gesell- Bildungssystem ganz gewiß nicht perfekt ist. Aber es schaftspolitik ist und sein darf, das vielmehr gerade ist sicher auch fair, darauf hinzuweisen, daß die diese beiden Bereiche in einem ganz offensichtlich Situation ausländischer Jugendlicher in unseren Bil- engen und nicht auflösbaren Zusammenhang dar- dungseinrichtungen heute deutlich besser ist, als das stellt. vor zehn oder gar vor 20 Jahren der Fall war. Über zwei Drittel der ausländischen Kinder und (Widerspruch der Abg. Do ris Odendahl Jugendlichen sind in Deutschland geboren. Vermut- [SPD]) lich der größte Teil von ihnen wird auf absehbare Zeit, wenn nicht auf Dauer, in Deutschland bleiben. Allein Das gibt uns, Frau Kollegin Odendahl, miteinander dieser zunächst einmal ganz vordergründige Ge- die Motivation, dieses Thema nicht nur für ein ernst- sichtspunkt beschreibt hinreichend die Größe und die haftes Problem zu halten, sondern auch gemeinsam Bedeutung einer Aufgabe, die von der Bundesregie- davon überzeugt zu bleiben, daß dann, wenn man sich rung und allen relevanten politischen und gesell- darum bemüht, Schritt für Schritt die Erfolge erreicht schaftlichen Kräften seit vielen Jahren engagiert ver- werden können, die Ihnen wie mir aus den genannten folgt wird. Es gibt unter uns allen ganz gewiß über- Gründen besonders wichtig erscheinen. haupt keinen Zweifel darüber, daß die soziale und Hier ist darauf hingewiesen worden, daß sich in den berufliche Integration ausländischer Jugendlicher in vergangenen Jahren etwa der Anteil der ausländi- diesem Zusammenhang ein besonders wichtiges Ziel schen Gymnasiasten verdoppelt hat, daß ihr Anteil an ist und bleibt. Dies war wohl auch der eigentliche Realschülern auf das mehr als Zweieinhalbfache den Anlaß für diese Große Anfrage und ihre Beantwor- gestiegen ist, daß auch die Zahl der ausländischen tung. Auszubildenden mehr als verdoppelt werden konnte. Die Bundesregierung hat seit langem Maßnahmen Gleichwohl ist richtig, daß die entsprechenden Zahlen zur Verbesserung der Bildungschancen für ausländi- immer noch — zum Teil deutlich — hinter den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15989

Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert Vergleichszahlen deutscher Jugendlicher zurücklie- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr gen. Das macht auf der einen Seite die Strecke Staatssekretär, erstens habe ich den Wunsch nach deutlich, die wir schon hinter uns gebracht haben, und Beantwortung einer Zwischenfrage vorliegen. es zeigt auf der anderen Seite die Strecke, die wir Zweitens möchte ich darauf aufmerksam machen, miteinander noch gehen müssen. daß Sie zu Recht gesagt haben, in einer solchen Allerdings dürfen wir dabei bitte auch nicht überse- Debatte sei es ganz natürlich, daß der eine Defizite und der andere Erfolge aufweise. Offensichtlich sind hen, daß für das unterschiedliche Bildungsverhalten Sie bei diesem Thema so engagiert, daß Ihnen nicht von Jugendlichen, insbesondere auch von ausländi- schen Jugendlichen, die Erfahrungen, die Gewohn- auffällt, daß Sie Ihre Redezeit schon deutlich über- schritten haben. Darauf möchte ich Sie aufmerksam heiten, die Lebensplanungen und die Wertorientie- machen. rungen der jeweiligen Familien und Elternhäuser eine beachtliche Rolle spielen, die wir mit politischen Ich bitte darum, die Zwischenfrage zu stellen. Mitteln nur begrenzt beeinflussen können und — so füge ich hinzu — auch nur begrenzt beeinflussen Siegfried Vergin (SPD): Herr Staatssekretär, wie dürfen. bewerten Sie aus der Sicht der Bundesregierung, nachdem Sie sich eben zum Handwerk und zur Das verdeutlicht die Gratwanderung und die Sensi- Industrie geäußert haben, das Verhalten des öffentli- bilität, die wir bei dieser Gratwanderung miteinander chen Dienstes, das von Frau Schmalz-Jacobsen sehr aufbringen müssen, weil das Erreichen eines überzeugend und leider mit unseren Erfahrungen bestimmten statistischen Gleichstandes nicht die übereinstimmend beurteilt worden ist? alleinige Meßlatte für die Bildungspolitik für auslän- dische Jugendliche sein darf, um die wir uns ganz Dr. Norbert Lammert, Parl. Staatssekretär beim gewiß auch in den nächsten Jahren miteinander Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Ange- bemühen wollen. sichts der mir in meiner Rolle als Staatssekretär abverlangten Freundlichkeit der Formulierung, Ich bestätige Ihnen, Frau Odendahl, gerne: Die die nicht nur mit beachtlichen Mit- meine ich sagen zu müssen, daß das, was der öffent- Modellversuche, in diesem Aufgabenbereich vorzuzeigen teln, sondern auch mit persönlichem Engagement von liche Dienst hat, zumindest unbef riedigend, vielleicht sogar Menschen durchgeführt werden, machen nur dann Sinn, wenn sie nicht anschließend samt Erfahrungsbe- beschämend ist. richt in den Akten verschwinden, sondern wenn sie Ich habe ja im übrigen deswegen vorhin aus guten von all denjenigen, die in diesem Bereich unmittelbar Gründen darauf hingewiesen, daß hier eine ganz oder mittelbar Verantwortung tragen, als Orientie- offensichtlich unterschiedliche Bereitschaft zur Wahr- rungs- und gleichzeitig als Kreativitätshilfe für den nehmung dieser Aufgaben in unserer Gesellschaft einen oder anderen zusätzlichen Ansatz tatsächlich — auch aus den Daten, die die Bundesregierung aufgegriffen werden. selber vorlegt — deutlich zu erkennen ist und daß die Debatte über solche Sachverhalte nur dann Sinn Ich nutze gerne die Gelegenheit — auch im macht, wenn man auch bereit ist, daraus gemeinsam Anschluß an das, was unmittelbar vor mir die Kollegin Konsequenzen zu ziehen. Schmalz-Jacobsen gesagt hat —, vor allen Dingen Daß der Präsident an dieser Stelle bei mir ein denjenigen im Bereich der Wirtschaft zu danken, die besonderes Engagement vermutet, freut mich. Es mehr als andere sowohl verstanden haben, daß wir rechtfertigt vielleicht die eine Minute, die ich gegen- hier eine Gemeinschaftsaufgabe lösen müssen, als über der zugestandenen Redezeit überschritten offensichtlich auch gemerkt haben, daß es in ihrem habe. eigenen Interesse liegt, sich dieser Aufgabe zu stellen. Das gilt mehr als für jeden anderen Wirtschaftsbereich Mit dem ausdrücklichen Dank an all diejenigen, die erstens dieses Thema auf die Tagesordnung gebracht für das Handwerk. haben und die sich zweitens über solche Debatten Man hat gelegentlich in solchen Zusammenhängen hinaus um die Bewältigung der damit verbundenen den Eindruck, daß bestimmte Bewußtseinsprozesse Aufgabenstellungen bemühen, möchte ich daher die- einschließlich der damit verbundenen ökonomischen sen Beitrag abschließen. Chancen in den großen Wirtschaftsbereichen und den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. ganz großen Betrieben unseres Landes offensichtlich sowie bei Abgeordneten der SPD) viel länger brauchen als in den kleinen und mittleren Unternehmen, deren Leistungsfähigkeit man im all- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile gemeinen aus der anderen Warte manchmal etwas nunmehr der Abgeordneten Frau Margot von Renesse herablassend beurteilt. das Wort. Ich halte ausdrücklich fest: Die Lösung des Pro- blems der Integration ausländischer Jugendlicher Margot von Renesse (SPD): Herr Präsident! Meine liegt nicht nur im Interesse einer gelingenden gesell- sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, ich teile Ihre Auffassung, daß dies eine schaftlichen Integration, sie liegt auch ganz gewiß im gemeinsame Aufgabe ist, die wir uns alle vornehmen ökonomischen Interesse der Betriebe, die sich, soweit sie das noch nicht im gleichen Umfang tun, dieser müssen. Dabei ist die Frage, ob das Glas halbvoll oder Aufgabe stellen müssen. halbleer ist, sicherlich unter verschiedenen Rollenvor- stellungen — von denen wir hoffen, daß sie 1994 (Abg. Siegfried Vergin [SPD] meldet sich zu umgekehrt werden —, unter verschiedenen Gesichts- einer Zwischenfrage) punkten zu sehen. 15990 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Margot von Renesse Aber einen realen, meßbaren Erfolg hat unsere Wir sind auf sie angewiesen. Mit ihnen so zu Große Anfrage schon gehabt, und darüber herrscht arbeiten, daß sie die Verantwortung für diese unsere bei uns Jubel und Heiterkeit. So war nämlich das von Gesellschaft tragen können, daß sie die Stafetten von Ihnen ja auch in der Beantwortung unserer Großen der jeweils ausscheidenden oder noch aktiven Gene- Anfrage genannte Projekt in Köln bis zum vergange- ration übernehmen wie unsere eigenen Kinder, nen Jahr in seiner Weiterförderung äußerst gefährdet. unsere „guten deutschen" Kinder auch, ist eine Not- Nunmehr ist es offensichtlich ein Glanzpunkt der wendigkeit, vor der wir stehen. Diese Notwendigkeit Politik der Bundesregierung und hat große Aussicht verbietet es uns, darauf zu hoffen, daß sich so etwas darauf, daß es noch länger leben wird, als ursprüng- naturwüchsig abspielt. lich erwartet. In der Tat, Integration wird über die Jahre, über die Dasselbe gilt im Prinzip auch für die regionalen Jahrzehnte, über die Jahrhunderte stattfinden. Wir Beratungsstellen in meinem heimatlichen Bundes- leben aber in einer Zeit, in der wir nicht darauf warten land Nordrhein-Westfalen, die auch in der Beantwor- können, was sich sozusagen pflanzlich entwickelt. Wir tung unserer Großen Anfrage besonders herausge- müssen dies fördern, wir müssen dies bewirken. Dafür stellt werden und die gerade auch das Engagement, gibt es Instrumente. Auch in Ihrer Antwort auf unsere das in Nordrhein-Westfalen gegenüber ausländi- Große Anfrage finden sich ja einige sehr brauchbare, schen Mitbürgerinnen und Mitbürgern herrscht, deut- sehr interessante Erfahrungen, die wir dem zugrunde lich unterstreichen. legen können, was wir in Zukunft tun müssen. Dies ist schon einmal ein Erfolg. Das, was Sie gesagt Meine Damen und Herren, ich will die Debatte über haben — daß Sie denen danken, die dieses Thema auf die Frage „Einwanderungsland Deutschland ja oder die Tagesordnung gesetzt haben —, beziehen wir nein?" an dieser Stelle nicht aufwärmen; ich will nur deshalb ganz deutlich auf uns, die Opposition. Denn auf eins hinweisen. Wir alle wissen, daß sich Einwan- dieses Thema ist weiß Gott des Schweißes der Edlen derung vollzogen hat und vollzieht, wie immer wir mit wert. rechtlichen oder sonstigen Instrumentarien darauf reagieren. Das heißt, wir leben in einer Gesellschaft, Wir beschäftigen uns ja mit diesem Problem nicht in der auch andere als die von uns gewohnten nur, weil es eine moralische Bringschuld ist, die Kulturen, Sprachen und Hintergründe existieren und unsere Gesellschaft gegenüber denen hat, die unter sich entwickeln. „Benachteiligtenprogrammen" firmieren, sondern wir tun es deshalb, weil uns die schiere Notwendigkeit Wer sagt eigentlich, wer hat eigentlich zum Gesetz im eigenen Interesse allmählich dazu veranlassen erhoben — an einer Stelle scheint dieses alte Vorurteil muß. Wir haben eine Enquete-Kommission „Demo- auch in Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage graphischer Wandel", und wir wissen aus den Hoch- aufzuscheinen —, daß etwa auf einem islamischen rechnungen unterschiedlichster Organisationen — so Hintergrund bestimmte Tugenden der Arbeitshal- der Bundesanstalt für Arbeit, so der Rentenversiche- tung, die wir für deutsch ausgeben, nicht auch existie- rer —, daß wir auf diejenigen, die zum Glück inzwi- ren? Man fahre einmal in die Türkei und sehe sich an, schen bei uns leben und arbeiten, angewiesen sein wie Leute arbeiten, mit welchem Fleiß, mit welcher werden. Selbstverständlichkeit, mit welchem Verantwor- tungsbewußtsein. Von dieser Vorstellung, daß m an Frau Schmalz-Jacobsen wies auf die eigentümliche kulturellen Hintergrund Deutschlands brauche, den Diskrepanz hin, die zwischen den offenen Lehrstellen um ein anständiger Arbeitnehmer, eine anständige auf der einen Seite und der Tatsache, daß junge Arbeitnehmerin — verläßlich, fleißig, pünktlich Ausländer und Ausländerinnen bei uns Lehrstellen usw. — zu sein, müssen wir uns allmählich verabschie- suchen, besteht. Es gibt andere mehr. den. Nun haben Gott sei Dank einige Betriebe — insbe- (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) sondere im Bereich des Handwerks; das ist richtig — Wir haben — ich möchte das, weil zu meinem daraus Konsequenzen gezogen. Sie öffnen sich ihren eigenen Hintergrund auch solche Erfahrungen gehö- eigenen Notwendigkeiten wie dem Bedarf der Aus- ren, noch einmal in Erinnerung rufen; manchmal länderinnen und Ausländer. Dabei habe ich auch scheint es mir im Westen in Vergessenheit zu gera-

Probleme mit dem Wort Ausländer, Ausländerin bei ten — multikulturelle Traditionen der Deutschen. Die Leuten, die Kölsch oder bayerische Dialekte reden, riesigen Ströme von Deutschen, die insbesondere in wie ich das nie könnte, und die so einheimisch sind den Osten gezogen sind und, ohne daß Hans nun wie nur was, so daß man sich fragt, ob das Wort Janusz werden mußte oder Iwan, dort mit den Kultu- Ausländer, Ausländerin überhaupt noch angemessen ren, die um sie herum waren, gelebt und gearbeitet ist, ob wir nicht längst andere Unterscheidungsmerk- haben, mit ihnen im Austausch gewesen sind, sind ein male finden müssen, um die zu kennzeichnen — und Beispiel dafür. Davon könnten wir partizipieren. darum geht es ja bei dieser ganzen Debatte —, die zu uns gehören. Selbstsicherheit der eigenen Identität und Akzep- tanz dessen, was um einen herum ist, schließen sich (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke nicht wechselseitig aus. Man muß nur mit offenen Liste) Augen sehen, was andere haben und was wir ihnen nicht erst beibringen müssen. Sie kenntlich zu machen mit anderen Kriterien ist vielleicht auch eine rechtspolitische Aufgabe. An der Gewiß, es gibt Schwierigkeiten in diesen Bereichen. arbeiten ja auch gerade Sie und wir ebenfalls, wie Sie Sie sind aber doppelter Natur. Was wir insonderheit gut wissen. angehen müssen, sind die Schwierigkeiten, die bei Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15991

Margot von Renesse uns liegen, die eine Mischung aus Vorurteilen, zum handeln, der leicht und einfach auszuüben ist. Für Teil auch genährt durch manche politische Debatte Eltern aus bestimmten Herkunftsländern darf der — Vorsicht bei den Zungenschlägen, Vorsicht davor, Beruf nicht unweiblich und muß auch in moralischer solche Vorurteile nicht auch noch zu füttern —, Hinsicht unzweifelhaft sein. darstellen, die auch aus Nichtwissen resultieren. Bei einer Repräsentativbefragung von Ausländerin- Ich denke, daß hier viel zu tun ist. Ich finde sehr nen und Ausländern im Alter von 15 bis unter 30 Jah- interessant, was Sie, Frau Schmalz-Jacobsen, beson- ren wurde festgestellt: Der Ausbildungsanteil junger ders erwähnten: die vielleicht demnächst zahlreiche- Ausländerinnen liegt noch weit unter dem Anteil ren Erfahrungen aus binationalen Projekten. Wenn deutscher Jugendlicher. Zwei D rittel der deutschen, Menschen erfahren, daß das, was sie hier lernen, auch aber nur ein Drittel der ausländischen Schulabgänge- in ihrem Herkunftsland angewendet werden kann, rinnen befinden sich in einer beruflichen Ausbildung. daß das austauschbar ist — hier liegt in der Tat eine Ausländerinnen sind wesentlich häufiger von Berufs- große Aufgabe der Bundesregierung, die da natürlich losigkeit betroffen als deutsche Frauen. Junge Aus- auch die besseren Kontakte herstellen kann —, dann länderinnen ohne deutschen Schulabschluß haben mag es auch sein, daß das für sie und für ihre Eltern fast keine Chance auf eine berufliche Qualifizierung. von noch größerem Interesse ist. Ich denke, daß man Dieses Los trifft in besonderer Weise die türkischen auch aus solchen Projekten sehr viel lernen kann. Ausländerinnen. Von ihnen bleibt mehr als die Hälfte Meine Damen und Herren, es gab einmal einen der 20- bis 25jährigen ohne Ausbildung. Bei den Menschen, dessen Bedeutung in einer Vielzahl von anderen Nationalitäten ist jede dritte Frau betrof- Weltreligionen unbest ritten ist. Das war der Prophet fen. Jesaja, der seinem Volk, dem Volk Israel, ein Wort Eine Analyse zeigt, daß sich nur 15 % der berufslo- zurief, als sie sich im babylonischen Exil befanden, sen Ausländerinnen um eine Lehrstelle beworben nämlich: „Suchet der Stadt Bestes." Er meinte damit haben. Welche Gründe gibt es hierfür? Ein Drittel der nicht die Hauptstadt Israels, Jerusalem; er meinte jungen Ausländerinnen ohne Ausbildung ist meist damit die Stadt, in der sich das Volk Israel zu diesem nach dem 16. Lebensjahr nach Deutschland gekom- Zeitpunkt befand, nämlich Babylon. men und hat hier keine allgemeinbildende Schule Er meinte — ich denke, das werden wir unseren besucht. Diese jungen Frauen hatten meistens eine ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern auch andere Lebensperspektive. Sie waren vielleicht schon sagen müssen —: Nehmt die Umwelt, in der ihr lebt, jung verheiratet. Nur knapp die Hälfte stand bei ihrer ernst. Ihr braucht Euch nicht aufzugeben; ihr könnt die Einreise dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Jede sein, die ihr seid. Aus Hassan muß nicht Hans, aus zehnte hat sich dennoch um einen beruflichen Ein- Kahir nicht Karl werden, aber nehmt die Verantwor- stieg bemüht. Einen Ausbildungsplatz haben jedoch tung und die Möglichkeit ernst, die ihr in diesem Land nur 2 % gesucht. habt, nämlich mit uns gemeinsam zu leben und zu arbeiten. Wir warten auf euch. Zwei Drittel der berufslosen Ausländerinnen haben eine allgemeinbildende Schule in der Bundesrepublik (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und der besucht. Ein großer Teil, immerhin 43 %, war an einer PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der beruflichen Ausbildung zumindest interessiert. Jede CDU/CSU) fünfte hat sich um eine Ausbildung bemüht, aber nur jede dritte war erfolgreich. Da sie im Vergleich zu Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort deutschen Ausbildungsplatzbewerberinnen oft weni- hat nunmehr die Abgeordnete Frau Maria Eichhorn. ger qualifizierte Schulabschlüsse haben, resignieren sie von vornherein. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Fast jede Ausländerin mit abgeschlossener Berufs- Damen und Herren! Unser Bildungssystem hat eine ausbildung verfügt — ich denke, das ist bemerkens- wichtige Aufgabe bei der Integration ausländischer wert — über einen deutschen Schulabschluß; 61 % Jugendlicher zu erfüllen. Die Eingliederung junger über einen Hauptschul-, 37 % über einen Realschul- Menschen anderer Nationalitäten und anderer Spra- abschluß. Ein gutes Deutsch ist natürlich selbstver- chen in unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem ständlich. erfolgt in erster Linie über Schule und Betrieb. Ausländische Mädchen entschieden sich wie auch Unter den knapp über 200 000 ausländischen die deutschen Kolleginnen vorwiegend für soge- Jugendlichen in den alten Bundesländern, die sich nannte Frauenberufe, allerdings zu einem noch 1991 in einer beruflichen Ausbildung befanden, erheblich stärkeren Prozentsatz; denn über 62 % der waren 40 % weibliche Auszubildende. Statistiken weiblichen ausländischen Auszubildenden wurden sagen uns, daß junge Frauen ausländischer Herkunft als Friseurin, Sprechstundenhelferin, Bürofachkraft trotz erheblicher Verbesserungen in den letzten Jah- oder Verkäuferin ausgebildet. Für die Friseurausbil- ren mehr als alle anderen von fehlender beruflicher dung entschieden sich besonders viele türkische und Qualifikation und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Es italienische Mädchen, was zur Folge hat, daß viele stellt sich die Frage: Woran liegt das? derjenigen, die einen bestimmten Frauenberuf Ausländische Eltern wünschen sich für ihre Kinder gelernt haben, hernach besonders leicht arbeitslos unabhängig vom Geschlecht einen Beruf, der für die werden. Familie Ansehen bringt, selbständig ausübbar ist und bei einer Rückkehr in das Heimatland verwertbar ist. (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) Bei Mädchen soll es sich — das ist heute schon einmal Eine abgeschlossene Berufsausbildung ist Voraus- angesprochen worden — um einen „sauberen" Beruf setzung, um eine Stelle mit qualifizierter Tätigkeit zu 15992 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Maria Eichhorn erhalten. Berufliche Qualifikation schützt allerdings möchte mich bei der Opposition bedanken, daß sie auch junge Ausländerinnen nicht vor Arbeitslosig- diese sehr fundierte Große Anfrage eingebracht hat. keit. Jede dritte Ausländerin mit oder ohne Ausbil- Sie hat uns Anlaß gegeben, einen sehr interessanten dung war im Verlauf ihres Erwerbslebens mindestens Bericht der Bundesregierung zu diskutieren. Ich einmal arbeitslos. Doch lag der Arbeitslosenanteil der meine, es war eine sehr gute Debatte. Diese Debatte berufslosen über dem der beruflich qualifizierten werden wir im Ausschuß fortsetzen, und wir werden jungen Frauen. diesen Antrag natürlich sehr gründlich beraten. Viel- Welche Schlußfolgerungen sind aus den Erkennt- leicht gelingt es uns, einen gemeinsamen Antrag nissen zu ziehen? Ausländische Eltern unterstützen in daraus zu machen. Auf jeden Fall freue ich mich auf der Regel die beruflichen Pläne ihrer Töchter, soweit die Beratungen im Ausschuß. diese nicht im Widerspruch zu den Wertvorstellungen Ausländische Kinder und Jugendliche: Ich stolpere der Familie stehen. Daher ist es sinnvoll, sie möglichst immer über das Wort „ausländische". Ich komme aus früh in die Berufswahlvorbereitung mit einzubezie- einem Wahlkreis ganz im Süden. Da ist die Schweiz hen und bestehende Informationsdefizite abzu- ganz in der Nachbarschaft, und die Österreicher sind bauen. dort. Es gibt österreichische und schweizer Kinder, die Bei der Berufsberatung in den Abschlußklassen bei uns, und Kinder von uns, die drüben lernen. Ich muß die Situation der ausländischen Mädchen beson- habe noch nie gehört, daß die Ausländereigenschaft ders berücksichtigt werden. An Schulen mit höherem dieser Kinder irgend etwas für ihren Lernerfolg in Ausländeranteil kann durch Gruppenarbeit außer- positiver oder negativer Hinsicht bedeutet hätte. halb des Unterrichts die berufliche Orientierung gezielt erfolgen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions- Um Lern- und Verständnisschwierigkeiten in der los]) Berufsschule zu begegnen, kann eine besondere didaktische Aufbereitung der theoretischen Lehrin- Was die Sprache anlangt, müßte das — sehr bald halte für den Berufsschulunterricht ausländischer zumindest — für zwei D rittel der hier lebenden Schüler hilfreich sein. Für Lehrer an Berufsschulen mit Ausländerkinder ebenfalls gelten, nämlich für dieje- hohem Ausländeranteil sollte die Möglichkeit beste- nigen, die hier geboren sind und die sprachliche hen, an geeigneten Fortbildungsmaßnahmen, insbe- Sozialisation im Kindergarten sowie in der Grund- sondere Sprachkursen, teilzunehmen. schule gehabt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Der einzige Grund, warum das in dem umfassenden In verschiedenen Städten und Gemeinden gibt es Sinne noch nicht der Fall ist, ist der, daß meist noch Initiativen, Arbeitskreise und Projekte der Ausländer- eine Elterngeneration vorhanden ist, die diese Inte- sozialarbeit mit sozialpädagogischen Angeboten für gration nicht erfahren hat. Deshalb muß das Hauptziel ausländische Mädchen. Die Erfahrungen zeigen, daß bei der Beratung dieser Elterngeneration liegen, dort, sich vor allem eine Mischung aus offenen Angeboten wo die Schwierigkeiten sind. sowie schulischen und beruflichen Förderungsmaß- Ich meine, mit das Wichtigste liegt in der Elternmit- nahmen gut bewährt hat. wirkung dort, wo sie ihren Kern hat, nämlich in der Für Jugendliche, die in Deutschland keine Schule Klasse, in der Klassenpflegschaft. Da müssen diese besucht haben, sind Sprachkurse zur Förderung der Gespräche geführt werden. Integration dringend erforderlich. Sie sind Vorausset- zung für eine erfolgreiche berufliche Nachqualifizie- Dafür gibt es ganz einfache Mittel. Natürlich kommt rung. niemand, wenn er die Sprache nicht kann. Aber wenn man einlädt und Dolmetscher mit anbietet, dann hat Junge Frauen ausländischer Herkunft konnten in das eine ganz andere Chance. Ich habe in Experimen- den letzten zehn Jahren — so haben wir heute ten bereits gesehen, daß so etwas möglich ist und daß gehört — ihren Anteil an der beruflichen Erstausbil- dann plötzlich die Eltern solcher Kinder in großer dung erheblich steigern. Anzahl kommen.

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Eichhorn, Mir hat eines in dem Be richt zu denken gegeben. Zu Ihre Redezeit ist abgelaufen. der Beratung gehört auch die Beratung im Rahmen der Berufsbildung. Wenn tatsächlich 60 % der Jugendlichen diese Beratung und noch einmal 24 % Maria Eichhorn (CDU/CSU): Doch bestehen zum weitere Beratungsmöglichkeiten in Anspruch neh- Teil noch große Defizite. Die Integration junger Aus- men, dann aber trotzdem nicht einmal 40 % eine länderinnen in das Bildungs- und Ausbildungssystem Berufsausbildung aufnehmen, dann ist da irgendein erfordert daher weiterhin eine besondere Unterstüt- Fehler. Der Fehler muß nicht unbedingt bei den zung. Jugendlichen, die die Berufsbildung nachfragen, lie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen; sondern vielleicht sollten wir prüfen, ob die Berufsbildung tatsächlich dem entspricht, was von ihr Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem erwartet wird. Kollegen Graf Waldburg-Zeil. Die schwierigste Gruppe — das ist gar keine Frage — besteht aus denen, die nach der Grundschule Alois Graf von Waldburg-Zeil (CDU/CSU): Herr kommen, und vor allem aus denen, die erst nach der Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Pflichtschule hierherkommen. Das ist das ganze Feld, Als letzter Redner möchte ich mich bedanken. Ich in dem das Benachteiligtenprogramm greifen muß, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15993

Alois Graf von Waldburg-Zeil wo berufsschulvorbereitende Maßnahmen durchge- (Familiennamensrechtsgesetz — führt werden müssen, vor allem Sprachunterricht, FamNamRG) Sprachunterricht und nochmals Sprachunterricht. — Drucksache 12/3163 — Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich (Erste Beratung 113. Sitzung) möchte eine Gruppe ansprechen, die heute noch nicht erwähnt wurde. Bei der Beratung im Ausschuß müs- — Zweite und dritte Beratung des von der sen wir wahrscheinlich auf diese Gruppe zurückkom- Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs men. Das ist die Gruppe der Kinder von anerkannten eines Gesetzes zur Reform des Namens- Asylbewerbern und von solchen, die hier geduldet rechts von Ehe, Familie und Kindern werden; sie sind langfristig hier. (Namensrechtsreformgesetz) Wir haben im Jahre 1989 hier einen Antrag beraten, — Drucksache 12/617 — der den entwicklungspolitischen Beitrag zur Lösung (Erste Beratung 31. Sitzung) von Weltflüchtlingsproblemen be traf. Wir haben in Beschlußempfehlung und Bericht des diesem Antrag darauf hingewiesen, daß es eine ganz Rechtsausschusses (6. Ausschuß) bedeutsame Rolle spielt, was solche Kinder beruflich lernen — ob sie hierbleiben wollen, ob sie weiterwan- — Drucksache 12/5982 — dern wollen oder ob sie irgendwann in ihre Heimat- Berichterstattung: länder zurückkehren wollen. Abgeordnete Joachim Gres Dr. Eckhart Pick Es gibt im Moment ein ganz schlagendes Beispiel Burkhard Zurheide dafür, wie wichtig das ist: Das ist E ritrea. Nach E ritrea ist eine ganze Menge von hier lebenden Flüchtlingen Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die zurückgekehrt. Diejenigen, die hier etwas gelernt Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen haben, haben etwas daraus gemacht, bis hin zu erhebt sich ganz offensichtlich kein Widerspruch. Firmengründungen. Das ist ein entwicklungspoliti- Dann ist das so beschlossen. scher Effekt, der sich aus der hier in der Bundesrepu- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- blik gewonnenen Bildung ergeben hat. Ich möchte auf gen Joachim Gres das Wort. diesen Faktor gerne hinweisen in der Hoffnung, daß uns im Ausschuß noch einiges dazu einfällt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Joachim Gres (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Debatte ist mehrfach angesprochen worden, daß es sehr geehrten Damen und Herren! Im Familienna- auch Erfolge gegeben hat, daß es hinsichtlich der mensrecht geht heute ein langer Gesetzgebungspro- Zielzahlen zwar noch immer Unterschiede gibt, daß zeß zu Ende. Vor zwei Jahren hat das Bundesverfas- man aber immerhin ein gutes Stück vorangekommen sungsgericht festgestellt, daß der Gesetzgeber von ist, so weit, daß man im Grunde genommen hochrech- 1976 — das war damals die sozialliberale Koalition aus nen könnte, bis wann ein endgültiger Erfolg gegeben SPD und F.D.P. — mit der damaligen Namensrechts- sein wird. regelung gegen die Verfassung verstoßen hatte. Ehe- Das zeigt, daß wir in diesem Felde nicht sozusagen partner konnten sich seit dem Jahre 1976 zwar frei alles neu erfinden müssen, sondern eine ganze Menge entscheiden, ob sie als Ehenamen den Namen des bewährter Ins trumente weiter einsetzen, vertiefen, Mannes oder den der Frau führen wollten. Konnten sie durchdenken sollten. Wenn wir auf diesem Wege sich aber vor dem Standesbeamten nicht einigen, konsequent weitergehen, kann der Erfolg auf die wurde der Name des Mannes als Ehename eingetra- Dauer nicht ausbleiben. gen. Ich bedanke mich. Diese gesetzliche Regelung aus dem Jahr 1976 verstieß nach dem Urteil des Bundesverfasssungsge- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie richts gegen den Gleichheitsgrundsatz und war damit bei Abgeordneten der SPD) nichtig. Eine gesetzliche Neuregelung des Familien- namensrechts wurde damit zwingend notwendig, wenn die vom Verfassungsgericht vorgesehene Inte- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- rimslösung nicht zu einer Dauerlösung werden che. Es ist beantragt worden, den Entschließungsan- sollte. trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5989 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Bei der notwendigen Erarbeitung der von der Bun- Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und zur desregierung und von den Koalitionsfraktionen jetzt Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozial- vorgeschlagenen Lösung galt es, das Spannungsfeld ordnung, an den Ausschuß für Frauen und Jugend zwischen verschiedenen Grundsätzen und Prinzipien sowie an den Ausschuß für Familie und Senioren. zu beachten. Da war einmal der Gleichheitsgrundsatz Besteht darüber Einverständnis? — Dies ist offensicht- und auch das mit dem Namen verbundene Persön- lich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- lichkeitsrecht der einzelnen Ehepartner zu wahren. sen. Andererseits ging es um den Schutz von Ehe und Familie, aber auch um grundsätzliche staatliche Ord- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: nungsprinzipien. — Zweite und dritte Beratung des von der Die von den anderen Seiten dieses Hauses vorge- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs schlagenen vermeintlich einfachen Lösungen haben eines Gesetzes zur Neuordnung des Fami- sich, wie so oft, bei näherem Hinsehen als nicht liennamensrechts tauglich erwiesen. Das gilt zunächst einmal für den 15994 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Joachim Gres scheinbar einfachen, aber, wie ich meine, pseudolibe- daß Menschen, die über viele Jahre in der Gesell- ralistischen Ansatz, es doch einfach den Ehepartnern schaft oder im Beruf aufgetreten sind, sich dort einen völlig freizustellen, wie sie in der Ehe heißen wollen; Namen gemacht haben und sich erst spät zu einer Ehe also Beibehaltung des Geburtsnamens in der Ehe oder entschließen, sich doch sehr schwer damit tun, ihren Beibehaltung des zum Zeitpunkt der Eheschließung Namen zugunsten des anderen Ehepartners aufzuge- geführten Namens in der Ehe oder beliebige Bildung ben. Hier ist ein Stück Persönlichkeitsrecht und von Doppelnamen aus den Namen beider Ehepartner, Namensidentität im Spiel, das von der Rechtsordnung auch wenn diese Namen aus Zweit- oder Drittehen nicht ohne weiteres unberücksichtigt bleiben sollte, stammen. Dies alles freiweg nach dem Motto von zumal sich die individuellen Lebensentwürfe der Goethe: Gefühl ist alles, Name ist Schall und heutigen Generationen in den letzten Jahrzehnten Rauch. von dem traditionellen Rollenverständnis von Frau und Mann doch entfernt haben. Auch diesen Lösungs- Das alles würde in kurzer Zeit, in den nächsten ansatz hat die Koalition für den heute vorliegenden Generationen, zu einem völligen Namenswirrwarr mit Gesetzentwurf daher nicht aufgegriffen. allen ordnungspolitischen Konsequenzen führen und ohne Not die in Deutschland traditionell vorgesehene Statt dessen sieht der Gesetzentwurf der Bundesre- Außendokumentation einer Ehe aufheben. gierung in der Fassung der Vorschläge der Koalitions- fraktionen ein Konzept vor, das einerseits an der Der grundsätzliche konzeptionelle Fehler dieses bewährten und in der Bevölkerung verankerten Lösungsansatzes zeigt sich aber insbesondere bei dem. Rechtstradition der Namenskontinuität festhält, ande- Problem der Namensgebung für Kinder, die aus rerseits aber dem Gleichheitsgedanken und dem diesen Ehen hervorgehen. Durch die überwiegende Persönlichkeitsrecht — und der Name eines Men- Bildung von Doppelnamen würden komplizierte schen gehört zum Persönlichkeitsrecht — Rechnung Namensfindungsprozeduren notwendig, bei denen trägt. im Extremfall durch das Los ermittelt werden müßte, aus welchen Namensbestandteilen sich der Name des Das Konzept der Gesetzesvorlage vereinfacht Kindes schließlich zusammensetzen soll, wenn man schließlich die einzuhaltenden Verfahren ganz erheb- drei- oder viergliedrige Geburtsnamen verhindern lich, nimmt Abstand von Detailperfektionismus und will. uferlosen Namenskombinationsmöglichkeiten, die auf lange Sicht zu erheblichen administrativen und Abgesehen von dem unwürdigen Verfahren, daß auch familiären Problemen führen würden. über den Namen eines Kindes das Los geworfen wird, wäre dies der Abgesang auf die identitätsstiftende Lassen Sie mich zusammengefaßt kurz die wichtig- Namenskontinuität innerhalb der einzelnen Familien. sten Grundsätze der heute von uns zu treffenden Kinder der nächsten Generationen müßten genealogi- Regelung des Familiennamensrechts skizzieren. sche Handbücher bemühen, um überhaupt noch fest- Erstens. Der Regierungsentwurf und der Gesetzent- stellen zu können, mit wem sie verwandt sind. wurf der Koalitionsfraktionen halten zunächst einmal Dieser Lösungsweg war und ist aus unserer Sicht als Regelfall an dem einheitlichen Familiennamen nicht gangbar. Dieser Weg wäre eine Sackgasse, an fest. Der Regelfall soll sein, daß die Ehepartner vor deren Ende einerseits der völlig beliebige Name und dem Standesbeamten den Geburtsnamen des Mannes andererseits die digitalisierte persönliche Kennziffer oder den Geburtsnamen der Frau als gemeinsamen stehen würde, die allein es den Behörden dann noch Ehenamen bestimmen. Dieser Ehename ist dann der erlauben würde, die Identität der Bürgerinnen und Familienname auch für die Kinder, die aus der Ehe Bürger verläßlich festzustellen. Es sage keiner, daß hervorgehen. Diese grundsätzliche Regelung ent- dies Schwarzmalerei ist. In Schweden hat genau diese spricht einer alten Rechtstradition in Deutschland. Sie Entwicklung stattgefunden, und in Schweden bemüht wird von der weit überwiegenden Mehrheit der man sich, davon wieder wegzukommen. Bevölkerung akzeptiert und auch praktiziert. Hiervon abzugehen besteht kein Anlaß. Der andere scheinbar einfache Lösungsansatz wäre, Ehepartnern, die sich auf keinen gemeinsamen Demgegenüber will der Gesetzentwurf der SPD als Ehenamen einigen können, in Form eines Ehehinder- Regelfall festschreiben, daß die Ehepartner in der Ehe nisses schlicht die Eheschließung zu verweigern, da es ihre Geburtsnamen beibehalten und nur auf besonde- mit der Haltbarkeit einer Ehe wohl nicht sehr weit her ren Antrag hin einen gemeinsamen Familiennamen sein kann, wenn sich die Ehepartner zu Beginn der bestimmen können. Diese Umdrehung des Regel- Ehe noch nicht einmal auf einen Ehenamen oder auf Ausnahme-Verhältnisses halten wir für falsch. Es soll einen Familiennamen für ihre Kinder einigen können, dabei bleiben, daß in der Regel die Ehepartner ihre so daß deswegen diese Ehe von vornherein erst gar Eheschließung auch nach außen durch einen einheit- nicht geschlossen werden soll. Einen Gesetzesvor- lichen Namen dokumentieren. schlag, der diesen Gedanken aufgreift, hat z. B. das (Zuruf von der SPD: Konservativ!) sozialdemokratisch geführte Land Hamburg im Bun- desrat eingebracht. Nur in den Fällen, in denen sich die Ehepartner — möglicherweise aus gutem Grund — nun partout Die Einführung eines absoluten Ehehindernisses nicht auf einen gemeinsamen Ehenamen einigen wäre aber, eben gerade wegen des besonderen Schut- können, sollen die Ehepartner in der Ehe ihren bishe- zes der Ehe und der Familie in der Verfassung, wohl rigen Namen beibehalten können. doch bedenklich. Auch die Grundargumentation wegen des zu schützenden Persönlichkeitsrechtes ist (Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink [F.D.P.]: nicht unbedingt zwingend. Es ist durchaus denkbar, Sehr gut!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15995

Joachim Gres Diese Regelung ist verfassungsrechtlich unbedenk- ler-Schmidt" bei einer Ehe zwischen Herrn Müller lich, sie verletzt weder das Gleichberechtigungsgebot und Frau Schmidt nach außen die Tatsache der noch das Verfassungsgebot des besonderen Schutzes Eheschließung dokumentiert und auch Kinder mit von Ehe und Familie. diesem Doppelnamen ihre Abstammung von den beiden Ehepartnern nach außen verdeutlichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink [F.D.P.]: Bei näherem Hinsehen hat aber die Zulassung von Der einzige Vorteil dieses Gesetzes!) Doppelnamen als Ehenamen ganz erhebliche Nach- Zweitens. Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktio- teile, die nach wenigen Generationen das Namensge- nen sieht ferner vor, daß zum gemeinsamen Ehena- füge in Deutschland grundlegend ändern würden, da men nur der Geburtsname des Mannes oder der sich Doppelnamen als Ehenamen eben automatisch Geburtsname der Frau gewählt werden kann und auf die Kinder übertragen würden. Die Probleme entstehen dann, wenn Träger von Doppelnamen spä- damit als Familienname auf die Kinder, die aus der Ehe hervorgehen, übertragen wird. Der Gesetzent- ter heiraten und sich zur Vermeidung von drei- oder wurf der Koalitionsfraktionen nimmt damit die vorge- viergliedrigen Namen jeweils erst auf die Einzelna- sehene Regelung des Regierungsentwurfs nicht auf, mensbestandteile für sich und für die Kinder verstän- daß auch ein in einer Erstehe angenommener Name digen müssen. eines Ehepartners auf eine zweite oder dritte Ehe als (Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink [F.D.P.]: Ehe- oder Familienname übertragen werden kann. Das sind Sorgen!) (Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink [F.D.P.]: Nach wenigen Generationen hätten die so wie in Das muß ja auch nicht sein!) einem Puzzle zusammengesetzten Namen alle Ele- Eine derartige Übertragung von erheirateten Namen mente des Beliebigen. auf Zweit- oder Drittehen verträgt sich nach unserem Auf die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten Verständnis nicht mit dem Sinn der Ehe und würde bei der Ehe von Trägern von Doppelnamen ist in der nur die Gefühle des vormaligen Ehepartners bzw. Presse, auch in der Fachpresse zur Genüge hingewie- dessen Familienangehöriger verletzen. sen worden. Teilweise sind die bis zu 160 Kombina- (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause tionsmöglichkeiten und die entsprechenden gesetzli- [Bonese] [fraktionslos]) chen Regelungen als „chaotisch" und „geradezu lachhaft umständlich" dargestellt worden. Eine Notwendigkeit hierzu ergibt sich nicht. Das Ergebnis der Sachverständigenanhörung im Rechts- Deshalb haben sich die vom Rechtsausschuß ange- ausschuß war ganz eindeutig: Die weit überwiegende hörten Sachverständigen nach Abwägung aller Argu- Mehrheit der Gutachter hat die Tradierung erheirate- mente mit großer Mehrheit dafür ausgesprochen, ter Namen auf Zweit- oder Drittehen abgelehnt. Es Doppelnamen aus ordnungspolitischen Gründen scheint mir auch kaum eine vernünftige Begründung nicht zur Regel werden zu lassen, zumal sich die gern dafür zu geben, daß sich die Ehepartner in einer als Beleg für die Sinnhaftigkeit von Doppelnamen als Zweit- oder Drittehe einen Familiennamen geben Regelnamen herangezogenen Beispiele aus dem Aus- wollen, der aus einer früheren Ehe eines der Ehepart- land bei näherer Betrachtung als nicht stichhaltig ner mit einer dritten Person stammt. herausgestellt haben. In der öffentlichen Diskussion ist den Koalitions- Es bleibt daher bei dem Geburtsnamen des Mannes fraktionen unterstellt worden, daß sie mit dieser oder dem der Frau als Möglichkeit für den gemeinsa- Abweichung vom Regierungsentwurf insbesondere men Familiennamen. Wenn einer der Ehepartner Träger von adligen Namen schützen wollen. Eine dabei mit seinem Geburtsnamen nicht zum Zuge solche Unterstellung ist ganz unsinnig. Soweit diese kommt, kann er seinen Namen dem gemeinsamen Unterstellung aus den Reihen der SPD kommt, kann Ehenamen anfügen oder voranstellen. Dies wird in ich nur vermuten, daß sich die Träger adliger Namen fast allen Fällen dem Persönlichkeitsrecht der Ehe- mit Erfolg an die SPD-Fraktion gewandt haben. Denn partner Rechnung tragen und ausreichend sein, um genau diese Regelung, die die Koalitionsfraktionen ihre Identität auch in der Ehe zu wahren. heute dem Parlament zur Beschlußfassung vorschla- Viertens. Die Tauglichkeit des neuen Ehenamens- gen, steht auch in dem ursprünglichen Gesetzentwurf rechts beweist sich aber insbesondere bei der Frage, der SPD-Fraktion, der heute ebenfalls zur Abstim- welchen Namen die Kinder aus einer Ehe tragen mung steht. Wir sollten in dieser Frage, so meine ich, sollen, wenn die Eltern keinen gemeinsamen Famili- den Mut haben, einheitlich votieren zu können, weil ennamen gewählt haben. Der ursprüngliche Gesetz- damit offenbar fraktionsübergreifend ein vernünftiger entwurf der Bundesregierung und der Gesetzentwurf Vorschlag gemacht wird. der SPD sehen vor, daß dann, wenn sich die Eltern (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht haben einigen können, der Geburtsname des Kindes zwingend aus den Bestandteilen der Namen Drittens. Der ursprüngliche Regierungsentwurf und beider Eltern zusammengesetzt werden soll, wobei der Entwurf der SPD sehen als vermeintlich vermit- die Reihenfolge der Namensbestandteile und die zu telnde Lösung zwischen Ehepartnern, die sich nicht berücksichtigenden einzelnen Namensteile von Trä- auf den Namen der Frau oder den Namen des Mannes gern von Doppel- bzw. Dreifachnamen gegebenen- als gemeinsamen Ehenamen einigen können, die falls mehrfach durch das Los zu ermitteln wären. Bildung von Doppelnamen als Ehe- und Familienna- men vor. Diese Idee hat bei erster Betrachtung durch- Derartige Lotteriespiele würden nach unserer Mei- aus etwas Bestechendes, weil der Doppelname „Mül- nung die Kindeswürde verletzen. Wir stimmen diesem 15996 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Joachim Gres Vorschlag nicht zu. Die Koalitionsfraktionen sind Kindesnamens verhindert und schließlich in liberaler- nicht bereit, diesen Vorschlag als Dauerlösung in das Form den Ehepartnern, die sich auf keinen gemeinsa- Gesetz zu schreiben. In der Regel dürften Ehen, bei men Ehe- oder Familiennamen einigen können, das denen sich die Ehepartner noch nicht einmal auf den Recht einräumt, in der Ehe ihre Geburtsnamen fortzu- Geburtsnamen des Kindes einigen können, schon führen. halbwegs gescheitert sein. In dieser Situation z. B. per Insgesamt bieten wir mit der jetzt erarbeiteten Zufall einem Kind den Namen eines Ehepartners gesetzlichen Regelung eine praktikable, liberale und zuzuwürfeln, der gerade den anderen Ehepartner und im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung verankerte das gemeinsame Kind verlassen hat, ist aus unserer Lösung an, die Detailperfektionismus vermeidet und Sicht nicht akzeptabel. die Ehe und die aus ihr hervorgehenden Kinder als Die Koalitionsfraktionen sehen daher vor, daß in identitätsstiftende Lebensgemeinschaft nach außen diesen Fällen das Namensbestimmungsrecht von dem zu dokumentieren offenläßt. Vormundschaftsrichter auf einen Elternteil übertra- Ich bitte um Ihre Zustimmung. gen werden kann, nachdem zuvor der Versuch einer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gütlichen Einigung zwischen den Ehepartnern vor dem Richter gescheitert ist. Diese Lösung ist sachge- recht, sie entspricht der langjährigen Regelung bei der Vizepräsident Hans Klein: Ich kann nur hoffen, daß Nichteinigung der Ehepartner auf den Vornamen des die Stenographen mitbekommen haben, an welcher Kindes und wird ebenfalls von der überwiegenden Stelle unsere Kollegin Dr. Margret Funke-Schmitt- Mehrheit der angehörten Sachverständigen befür- Rink fröhlichen Beifall gespendet hat. wortet. Ich erteile unserer Kollegin Margot von Renesse das Wort. Fünftens sieht der Gesetzentwurf der Koalitions- fraktionen vor, daß sich die Ehepartner innerhalb von fünf Jahren nach der Eheschließung entschließen Margot von Renesse (SPD): Herr Präsident! Meine können, einen gemeinsamen Ehenamen zu führen, sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß mich in wenn sie sich hierfür zu Beginn der Ehe nicht gleich zweierlei Hinsicht sofort entschuldigen. Erstens: Ich haben entscheiden können. Damit wird den Ehepart werde nicht während der ganzen Debatte anwesend nern insbesondere für den Fall, daß Kinder aus der sein können; ich bin eingesprungen. Zweitens: Ich Ehe hervorgehen, die Gelegenheit gegeben, im Inter- werde — wiederum aus dem Grund, daß ich einge- esse dieser Kinder noch einen gemeinsamen Famili- sprungen bin — nur begrenzt zu den Technika des ennamen zu wählen. Allerdings sollte eine derartige Namensrechts Stellung nehmen. Ich bitte von daher Wahlmöglichkeit nicht innerhalb eines beliebigen meine verehrten juristischen Kollegen um Nachsicht, Zeitraums nach der Eheschließung eingeräumt wer- daß es jetzt nicht um alle Einzelheiten der gesetzli- den. Wir meinen, daß hierfür eine Befristung notwen- chen Regelung, wie Sie sie vorsehen, geht. dig und ein Zeitraum von fünf Jahren ausreichend und Einige grundsätzliche Bemerkungen vorzutragen geboten ist. Wer sich innerhalb von fünf Jahren nicht habe ich nun aber die Möglichkeit; ich tue das mit dazu entschlossen hat, einen gemeinsamen Ehe- und Genuß. Wirrwarr, Chaos stehen gegen Tradition, Familiennamen zu führen, wird dies später auch nicht Ordnung und genealogische Klarheit. Manchmal tun und gegebenenfalls später nur aus sachfremden möchte man meinen, es gebe Leute, die bedauern, daß Erwägungen auf den Gedanken kommen, möglicher- das Verfassungsgericht — vielleicht sogar zum Bedau- weise den gemeinsamen Ehenamen noch zu ern einiger Senatsmitglieder — den Grundsatz der ändern. Gleichberechtigung auf dieses Namensrecht anwen- Sechstens. Schließlich ist uns vom Bundesverfas- den mußte. Es blieb ihm nichts anderes übrig. sungsgericht aufgegeben worden, auch für heute Die bisherige Regelung verankerte noch immer den bestehende Altehen Anpassungsregelungen vorzu- Vorrang des Mannesnamens: Wir wissen, daß, wenn sehen, damit auch Ehepartner aus früher geschlosse- sich die Ehegatten nicht auf einen Namen einigen nen Ehen innerhalb einer kurz bemessenen Über- konnten, der Standesbeamte den Mannesnamen ein- gangsfrist von den Modifizierungsmöglichkeiten des tragen mußte. Es war für jeden, der die Verfassungs- Gesetzes Gebrauch machen können. Dies sieht der gerichtsentscheidungen, z. B. die Stichentscheidun- Gesetzentwurf vor. Allerdings stellen wir durch den gen und dergleichen, ein bißchen kennt, klar, daß Koalitionsgesetzentwurf sicher, daß eine Änderung dieses vor dem Verfassungsgericht keinen Bestand des Ehenamens in einer bestehenden Altehe keine haben konnte — egal, ob man dieses Ergebnis bedau- automatische Auswirkung auf die heute in der Regel erte oder freudig begrüßte. längst volljährigen Kinder aus diesen Ehen hat. Kin- (Joachim Gres [CDU/CSU]: Ihre Regelung! der, die älter als 14 Jahre, aber noch nicht volljährig Das hat die SPD damals beschlossen!) sind, müssen sich einer Namensänderung ausdrück- lich anschließen. Lange Zeit wurde in der Diskussion um das Namensrecht der Angriff insbesondere von Frauen Meine Damen und Herren, insgesamt enthält der nach den Erfahrungen, die sie mit ihm machen muß- Gesetzentwurf in der jetzt vorgeschlagenen Fassung ten, nach dem Gesichtspunkt zurückgewiesen — mit- eine Namensrechtsregelung, die auf der einen Seite unter scheint auch das in der Diskussion immer wieder die deutsche Rechtstradition des gemeinsamen Ehe- durch —: Was kann denn schon ein Name sein? namens aufgreift, ein Namenschaos durch die Bildung Namen sind Schall und Rauch, Namen haben reine von Doppel-, Dreifach- oder Vierfachnamen vermei- Ordnungsfunktion, sie haben doch nichts mit so etwas det, unwürdige Lotteriespiele bei der Bestimmung des wie Gleichberechtigung zu tun. Die umgekehrte Mög- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15997

Margot von Renesse lichkeit aber, die es dann gab — nach der Verfas- einen, und zwar einen sehr silbenreichen. Es muß ihr - sungsgerichtsentscheidung um so mehr —, schmerzt gutes Recht sein. mehr, als es manche Leute zugeben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der In der Diskussion über das Namensrecht wird viel F.D.P.) weniger rational argumentiert als „ex hohlo bau Auch wenn ich diese Meinung nicht teile, würde ich cho". niemals versuchen, den berühmten Satz „De gustibus (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der non est disputandum" in der Art und Weise umzuset- F.D.P.) zen, daß ich mit einem Gesetz dagegen verstoße. Sie aber tun das. Sie machen sich zum Arbiter des Das Gewohnte ist immer auch das Richtige und Geschmacks — und das als Gesetzgeber, ohne verfas- Bewährte. Es darf doch nicht alles anders werden. sungsrechtliche Legitimation. Meine Herren von der Koalition, Herr Kollege Gres, Zum Ehedoppelnamen: Mir erscheint eine öffentli- wenn wir uns die Traditionen des Namensrechts che Position als sehr wichtig, und das ist die Namens- ansehen — lassen Sie mich hinzufügen: insbesondere kontinuität. Es muß sich nicht nur der einzelne selbst, dessen unter den adeligen Kreisen —, dann sehen wir sondern es muß ihn oder sie auch die Umgebung am ein Wirrwarr, ein Chaos, ein Mosaik. Dies beginnt Namen erkennen können. Das spricht für Kontinui- schon bei den Wappen: Dort feiern die Doppelwap- tät. pen, die Vierfachwappen, die Zwölf- und Sechzehn- Eine andere, verfassungsrechtlich ebenso ge- fachwappen durch das ganze Mittelalter hindurch schützte Position ist Art. 6 des Grundgesetzes. Ein fröhliche Urständ. großes biographisches Ereignis, welches die Ehe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schließung, aber auch die Geburt eines Kindes ist F.D.P.) — Familie, auch Art. 6 —, muß es möglich machen, daß man den Namen entgegen der an sich gewünschten Auch das Namensrecht der westfälischen Bauern Kontinuität ändert. Die Option des gemeinsamen — „Schulze, genannt Sowieso" — hat im 19. Jahrhun- Ehenamens als Doppelname ist eine Möglichkeit, dert existiert und existiert bis heute. beides zu verbinden. Ihre Argumente dagegen sind nur: Tradition, Ordnung und genealogische Klarheit. Die genealogische Klarheit ist nie verlorengegan- Ich bitte Sie! Wo finden Sie gegen diese grundrecht- gen. Sie ging nicht einmal bei den Frauen unter, die lich geschützte Position eine entsprechend starke häufig ihren Namen verloren. Es ist mir, die ich den grundrechtlich geschützte Gegenargumentation? Es Namen meines Mannes trage, kein Problem, meine gibt sie nicht. Vorfahren festzustellen. (Zuruf von der SPD: Nirgends!) Im übrigen: Wenn Sie meinen, daß dies durch die Namensklarheit möglich sein müsse, dann gab es Sie verbieten diese Option, ohne einen Grund für diese Namensklarheit für Sie in der Vergangenheit diesen Eingriff in die Freiheit der Menschen nennen nur für Männer. zu können, sich entsprechend ihren grundrechtlich geschützten Rechten zu verhalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD) Der ist kein solches Problem. Es Für Frauen war die Frage, ob sie sich mit ihrer Kindesdoppelname gibt Rechtskreise, in denen ein solcher existiert. Sie Namensgleichheit in ihren Generationsketten wie- wissen damit umzugehen. Die Möglichkeit, die ein derfanden, offensichtlich nie ein Problem, durfte es Standesbeamter bei zwei Doppelnamensträgern hätte auch nicht sein. — dagegen ist nichts einzuwenden —, ist die: Einigt Jetzt komme ich doch zu einigen Punkten, die mich euch, oder ihr behaltet eure Namen — und seien es besonders bedrücken. Verfassungsrechtlich ge- Doppelnamen. Das ist doch kein Problem! Auf diese schützt sind zwei Positionen, nämlich die Kontinuität Weise begrenzen wir, was zu begrenzen ist, damit die des eigenen geführten Namens, der zu einer Identi- Computer der Registerbeamten nicht unter der Last tätsfindung in einer ganz bestimmten Art, wie man von Sechsfach- oder Zwölffachnamen zerspringen. sich selber als Dreijähriger in der dritten Person und Sie erlauben auch nicht — das liegt auf der gleichen später sozusagen mit jeder Unterschrift kenntlich Ebene — die Weiterführung oder die Übertragung des machte, sich erlebte und erfuhr, beigetragen hat. sogenannten angeheirateten Namens — sei es der (Uta Würfel [F.D.P.]: Stellen Sie sich einmal eines verwitweten Ehegatten, sei es der eines geschie- vor, das Kind hieße Würfel!) denen Ehegatten — auf eine erneute Eheschlie- ßung. Zum zweiten ist es der Schutz, der nach Art. 6 des Meine Damen und Herren, ich habe Erfahrungen Grundgesetzes Ehe und Familie — ich betone: Fami- mit der Diskussion in meiner eigenen Familie. Merk- lie — zugesprochen wird. würdigerweise begrüßen alle weiblichen Angehöri- Tradition, Ordnung und genealogische Klarheit gen der Familie diese Möglichkeit, alle männlichen sind keine verfassungsrechtlich geschützten Positio- Angehörigen dieser Familie finden sie abscheulich. nen, schon gar nicht der Geschmack. Ich führe keinen Hier muß doch irgendwo ein Problem liegen, das man Doppelnamen; es entspricht nicht meinem Ge- offensichtlich geschlechtsspezifisch differenzieren schmack. Unsere verehrte Justizministerin führt kann. 15998 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Margot von Renesse Seltsamerweise hat der Gesetzgeber, dem manch- Ruhmesblatt für die Koalition und keine Grundlage, mal Weisheit zu Gebote steht, schon einmal entschie- mit der wir uns befreunden können. den, daß die nichteheliche Mutter mit einem Ehena- Die SPD lehnt deshalb die Ausschußfassung ab und men ihren angeheirateten Namen an ihr nichteheli- wird ihre Änderungsvorschläge aus dem Rechtsaus- ches Kind weitergeben kann, was früher anders war. schuß in die zweite Lesung einbringen. Der Gesetzgeber hat also das Problem, daß der Name Ich danke Ihnen. übertragen wird, ohne daß die Chromosomen und die Erbanlagen eines Kindes irgendeine Beziehung zu (Beifall bei der SPD) dem ursprünglichen Namensträger haben, schon ein- Vizepräsident Hans Klein: Nun erteile ich dem mal gelöst. Kollegen Burkhard Zurheide das Wort. Nun taucht plötzlich wieder der Begriff „angeheira- teter Name" auf. Meine Damen und Herren, ich heiße Burkhard Zurheide (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Frau von Renesse, seitdem ich geheiratet habe. Das ist Damen und Herren! Wer sich mit dem Namensrecht mein Name. Das ist nicht mein angeheirateter Name. beschäftigt, läuft Gefahr, daß ihm entgegengehalten Dies ist mein Name, mit dem ich inzwischen kenntlich wird: Laß mich doch mit diesen Kinkerlitzchen, mit bin vor mir selbst und anderen. Habe ich Kinder, will diesem Kleinkram in Ruhe! — Und schon bei der ich sie so nennen können. Ich bin sicher, auch Kinder zweiten Bemerkung kommt derselbe Mensch und sagt: Was habt ihr eigentlich vor? Was soll geändert werden sich gern nach beiden, nach Vater und Mutter, nennen. werden? — Das muß damit zusammenhängen, daß jeder von uns einen Namen trägt. Das ist so interessant Ich halte Ihre Position für verfassungsrechtlich wie Schulpolitik, weil jeder in der Schule war oder bedenklich. Ich kann mir schon vorstellen, daß es zumindestens jemanden kennt, der dort gewesen ist. sowohl Eltern als auch Kinder gibt, die sich in ihrem Deswegen hat offensichtlich das Namensrecht — ent- Recht beeinträchtigt fühlen, sich in ihrer jeweiligen gegen dem ersten Anschein — doch eine gewisse generativen oder generationsmäßigen Kette kennt- Bedeutung. lich zu machen und sich weiter kenntlich zu machen in Es geht — um verständlich zu machen, worum es ihren Kindern. Ich bin sicher, daß es Verfassungsbe- sich bei diesem Gesetzentwurf handelt — um die schwerden geben wird. Ich bin nicht sicher, daß Ihr Frage, ob die Verpflichtung von Eheleuten, einen Gesetzentwurf insoweit Bestand hat. gemeinsamen Familiennamen zu tragen, abgeschafft Ähnliches gilt für Stiefkinder und Kinder aus werden soll. In der Antike gab es keinen Familienna- geschiedenen Ehen. Warum um alles in der Welt soll men. Erstmalig wurden im Preußischen Allgemeinen dieses mitunter ernsthafte Leid weitergetragen wer- Landrecht 1794 detaillierte Regelungen über den den, wo wir doch als Gesetzgeber die Möglichkeit Familiennamen getroffen. Auch dort war es nicht etwa hätten, dadurch zu helfen, daß sich Kinder, die in einer so, daß die Frau automatisch den Namen des Mannes anderen als der ursprünglichen, durch eine Ehe übernehmen mußte. Das war nur dann der Fall, wenn begründeten Familie ihrer leiblichen Eltern aufwach- die Frau, wie das damals meistens üblich war, in den sen, zumindest durch einen Doppelnamen als zugehö- Hof, oder in das Haus des Mannes einheiratete. Aber rig kennzeichnen können? Wir sehen das anders als wenn es ausnahmsweise umgekehrt war, dann hatte Sie; entsprechend ist unser Änderungsantrag. der Mann sogar den Namen der Frau anzunehmen. Insofern ist das, über was wir heute entscheiden, nicht Was ich nun überhaupt nicht verstehe, ist folgendes. etwas so gravierend Neues. Erst mit der Entstehung Wenn Sie der Meinung sind, daß der Richter entschei- des Bürgerlichen Gesetzbuches wurde die Tradition den sollte und nicht das Los, wenn Eltern verschie- — wenn es denn eine gibt — begründet, einen dene Namen haben und sich über einen gemeinsa- gemeinsamen Familiennamen verpflichtend vorzu- men Namen ihres Kindes nicht zu einigen vermögen: schreiben. — Dies geschah übrigens zunächst aus rein Warum um alles in der Welt nehmen Sie dann wieder praktischen Gründen. — Die Entwicklung setzte sich einmal den Vormundschaftsrichter? Warum greifen dann bis in die 50er Jahre dieses Jahrhunderts fort, als Sie nicht vor und denken weiter, auch an eine Kind- plötzlich in Teilen der Rechtswissenschaft die Auffas- schaftsreform, die, so hoffen wir alle, eines Tages vom sung vertreten wurde, der Vorrang des Ehemannes Justizministerium als Gesamtentwurf vorgelegt wird, ergebe sich aus dem Naturrecht. Das war in der Tat und machen nicht sofort das Ge richt dafür zuständig, der Höhepunkt. das Familienkonflikte zu handle-n weiß, nämlich das Familiengericht? Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Zurheide, Meine Damen und Herren, wir halten den Gesetz- Kollege Krause würde gern eine Zwischenfrage stel- entwurf der Koalition für verfassungsrechtlich nicht len. unbedenklich. Wir halten ihn vor allem aber nicht für Burkhard Zurheide (F.D.P.): Wenn es nicht ange- die Ausschöpfung dessen, was das Verfassungsge- rechnet wird. richt uns an Leid ersparenden Regelungen ermöglicht hat, die der Gesetzgeber hätte aufzeigen können. Das Vizepräsident Hans Klein: Natürlich nicht. Verfassungsgericht bestimmt immer nur das, was nicht geht. Was geht und womit man menschliches Burkhard Zurheide (F.D.P.): Dann gern. und der Humanität verpflichtetes Recht schafft, das ist Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege eine Frage an den Gesetzgeber. Sie setzen die Vorga- Krause. ben des Verfassungsgerichts unwillig und nörglerisch um, oft an der Grenze dessen, was gerade noch Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr verfassungsrechtlich zulässig erscheint. Das ist kein Kollege, Ihnen ist doch sicher bekannt, daß bei den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 15999

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) römischen dreiteiligen Namen der zweite Name Deswegen nehmen wir mit diesem Gesetzentwurf - immer der Gentilname war. Würden Sie mir darin eine wirklich absolute Neuerung vor. Der obligatori- zustimmen, daß es also auch vor dem 19. Jahrhundert sche gemeinsame Familienname gehört der Vergan- bereits solche Regelungen gegeben hat? genheit an. (Beifall der Abg. Dr. Margret Funke-Schmitt- Rink [F.D.P.]) Burkhard Zurheide (F.D.P.): Herr Kollege, da ich in den letzten Monaten das Vergnügen hatte, mich mit Niemand, keine Frau und kein Mann, kann in Zukunft den Feinheiten des Namensrechts zu beschäftigen, ist mehr gezwungen werden, einen gemeinsamen Fami- mir das selbstverständlich nicht unbekannt. Ich wollte liennamen zu führen, aber man kann einen gemein- hier nur keine Vorlesung über die Geschichte des samen Familiennamen führen. Namens halten. Ich habe ja darauf hingewiesen, daß es in den letzten Jahrhunderten und Jahrtausenden (Georg Gallus [F.D.P.]: Das ist wichtig!) die verschiedensten Traditionen gegeben hat. Aber Der Gesetzgeber sollte hier auch keine eigene Wert- der Höhepunkt dieser Entwicklung, nämlich die entscheidung treffen. Diese Entscheidung muß den Annahme des naturrechtlich begründeten Vorrangs Eheleuten und den Verlobten überlassen bleiben. des Ehemannes — womit dann der verpflichtende Ich halte es auch nicht für richtig, dem Vorschlag der gemeinsame Familienname begründet wurde —, war SPD zu folgen, bei dem im übrigen viel Ideologie erst in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts mitwabert, verpflichtend festzuschreiben, daß es kei- erreicht. nen gemeinsamen Familiennamen gibt und ein sol- Dann kam das Gleichberechtigungsgesetz, das cher nur in Ausnahmefällen zulässig ist. Wir wollen Frauen erstmals erlaubte, ihren sogenannten Mäd- eine liberale Lösung. Wir wollen eine völlige Ferne chennamen dem Familiennamen voranzustellen. Erst von staatlicher Bevormundung. Die Eheleute sollen seit 1976 — dies muß man sich immer wieder in das selbst entscheiden und niemand sonst. Bewußtsein zurückrufen — besteht überhaupt die Möglichkeit, daß der Name der Frau der gemeinsame (Beifall der Abg. Dr. Margret Funke-Schmitt- Familienname sein kann. Für den Konfliktfall, dann, Rink [F.D.P.]) wenn sich die Eheleute nicht auf einen gemeinsamen Meine Damen und Herren, die Regelung geht also Namen verständigen konnten, sah das Gesetz damals weit über das hinaus, was das Verfassungsgericht uns vor, daß automatisch der Name des Mannes gemein- vorgegeben hat. Die bestehenden Möglichkeiten hat samer Familienname wird. Dies — nicht mehr und der Kollege Gres zutreffend dargelegt. Es gibt einen nicht weniger — hat das Bundesverfassungsgericht Punkt, bei dem wir uns von der Opposition zumindest mit seiner Entscheidung vom März 1991 für verfas- im Ergebnis unterscheiden. Das ist die Frage, ob sungswidrig erklärt, weil nämlich in der Tat 1976 noch zukünftig ein gemeinsamer Familienname in Form immer nicht die männliche Dominanz im Namens- eines Doppelnamens geführt werden kann. Dies wol- recht beseitigt worden war. Dies holen wir allerdings len wir nicht. Ich räume ein, daß es gute Argumente heute mit diesem Gesetzentwurf nach. Heute ziehen dafür gibt — Frau von Renesse hat sie vorgetragen —, wir auch hierunter einen Schlußstrich. es gibt aber auch jede Menge Argumente dagegen. (Beifall der Abg. Dr. Margret Funke-Schmitt Das für mich gravierende Argument dagegen ist: Was Rink [F.D.P.]) passiert in der zweiten Generation, wenn zwei Dop- pelnamenträger aufeinandertreffen und dann nur Meine Damen und Herren, es ist in der Öffentlich- einen zweigliedrigen Familiennamen haben dürfen? keit von vielen immer wieder behauptet worden, das Was sollen sie tun? Sie können sich einen Familien- Verfassungsgericht habe den obligatorischen ge- namen aus vier Bestandteilen in beliebiger Reihen- meinsamen Familiennamen für verfassungswidrig folge zusammensetzen. Sie können ihn sozusagen erklärt. Dies ist falsch, genau dies hat das Verfas- auswürfeln. Dies hielte ich für eine etwas fragwürdige sungsgericht nicht getan. Das Gericht hat ausdrück- Lösung, und aus diesen ganz praktischen Gründen lich gesagt, der Gesetzgeber könne bei einer Neure- haben wir uns entschieden, den Doppelnamen als gelung auch die Verpflichtung, einen gemeinsamen gemeinsamen Familiennamen nicht zuzulassen. Familiennamen zu führen, aufrechterhalten, wenn eine geschlechtsneutrale Auffangregelung getroffen Meine Damen und Herren, das Abendland und die werde. westliche Kultur werden nicht untergehen, wenn wir in Deutschland den obligatorischen gemeinsamen (Zuruf von der SPD: Er kann es, muß es aber Familiennamen abschaffen. Es gibt viele Länder in nicht!) Europa, die seit Jahrzehnten, ja seit Jahrhunderten — Natürlich ist das so. Lesen Sie doch bitte die unterschiedliche Namen der Eheleute zulassen. Was Entscheidung des Verfassungsgerichts! Das hilft in anderen Ländern geht, sollte in Deutschland auch immer weiter. Dann reden wir auch endlich einmal möglich sein. Deswegen sollten wir diese Diskussion über die Fakten. Dies ist eindeutig so. etwas weniger ideologiebehaftet führen. Ich glaube, Wir hätten also den gemeinsamen Familiennamen das täte der Diskussion sehr gut. festschreiben und den Standesbeamten im Zweifel Ein zweites Problem, mit dem wir uns beschäftigen durch Los entscheiden lassen können. Aber ich mußten, war die Frage, welchen Namen ein Kind möchte nicht, daß Ehepartner gezwungen werden, erhalten soll, wenn Eheleute unterschiedliche Namen einen Namen zu führen, den sie durch einen Losent- tragen. Natürlich könnte der Standesbeamte in sol- scheid erhalten haben. chen Fällen durch Los entscheiden. Dies hielte ich für (Zuruf von der F.D.P.: Mal was Neues!) verkehrt. Ich halte es nicht für richtig und auch für 16000 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode - 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Burkhard Zurheide unwürdig, wenn es Kinder gibt, die einen zugelosten Von 1900 bis 1958 galt: Die Frau erhält den Famili-- Namen haben. Nein, hier darf der Standesbeamte ennamen des Mannes. Seit dem 1. Juli 1958 — also nicht entscheiden, und der Standesbeamte darf auch immerhin fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des in der Sache nicht entscheiden. Gleichberechtigungsgebotes zum 1. April 1953 — (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) konnte die Frau dem Namen ihres Mannes ihren Geburtsnamen hinzufügen. Dabei blieb es immerhin Niemand anderes als die Eltern soll entscheiden noch bis 1976. dürfen welchen Namen ihr Kind haben soll. li 1976 konnten die Eheleute (Beifall der Abg. Dr. Margret Funke-Schmitt Erst seit dem 1. Ju Rink [F.D.P.]) entscheiden, welcher Geburtsname der gemeinsame Ehename wird, wobei, wenn eine solche Bestimmung Auch die Anwendung des Grundsatzes der alpha- nicht getroffen wurde, noch immer der Geburtsname betischen Priorität macht keinen Sinn. Das spräche des Mannes Ehename wurde. sozusagen schon gegen meinen eigenen Namen. Auch die Lösung, daß die Mädchen den Namen des Dies wurde schließlich vor nunmehr fast drei Jahren Vaters und die Jungen den der Mutter erhalten oder für verfassungswidrig erklärt. Es hat also mehr als 40 umgekehrt, kommt nicht in Frage. Jahre gedauert, bis dieses Land zu einem dem Gleich- berechtigungsgebot des Grundgesetzes adäquaten Auch Doppelnamen halte ich für die Kinder nicht für Ehenamensrecht gekommen ist — und auch dies sinnvoll. Wenn sich Eheleute entschieden haben, letztlich nur unter dem Druck des Bundesverfassungs- keinen gemeinsamen Namen zu führen, welches gerichts. Interesse haben sie dann daran, ausgerechnet bei den Kindern deutlich machen zu wollen, daß diese Kinder Das Problem der Gestaltung eines solchen Ehena- ihnen durch den Namen besonders eng verbunden mensrechts hat die öffentliche Meinung relativ stark werden? Ich halte es für richtig, den Eltern die beschäftigt. In ernster und heiterer Form wurden die Entscheidung zu überlassen; entweder wollen sie verschiedenen possierlichen Möglichkeiten durchge- einen gemeinsamen Familiennamen mit der Folge, spielt, die sich aus der Führung und Kombination von daß auch die Kinder einen solchen haben, oder sie Doppelnamen ergeben können. sagen: Der Name hat für uns keine familienidentitäts- Seit die „Nötigung zum gemeinsamen Ehenamen" stiftende Wirkung. Dann sollen sie aber auch das, was weggefallen ist, steigt die Zahl derjenigen, die bei der sie bei Eheschließung nicht wollten, bei den Kindern Eheschließung keinen gemeinsamen Ehenamen be- hinterher nicht verlangen. stimmen, dramatisch an. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sage ich: Der Rechtsausschuß hatte eine Anhörung, die, wie Auch zukünftig ist der Doppelname bei Ehepartnern Sie wissen, bis zu den fundamentalen Fragen vorge- möglich. Derjenige Ehegatte, dessen Name nicht der drungen ist: ob uns Namen überhaupt mehr sind als gemeinsame Familienname wird, kann seinen Namen Schall und Rauch; ob man in der Ehe Teile seiner voranstellen, demnächst sogar hinten anhängen. Inso- Identität aufgibt oder nicht und welche Rechtsgüter weit, Frau Kollegin Funke-Schmitt-Rink, brauchen sich beim Ehenamensrecht eigentlich im Raume sto- Sie überhaupt keine Sorgen zu haben. Sie werden ßen. Nicht alle diese Fragen wurden endgültig beant- auch weiterhin so heißen dürfen, wie Sie heißen, und wortet, aber es stellte sich — das ist auch heute das dies gilt auch für nachfolgende Generationen. Ergebnis — heraus, daß alle vorgeschlagenen Rege- lungsvarianten verfassungskonform sind. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Zurheide, Sie sind schon ein Stück über Ihre Zeit. Insofern steht es uns frei, einem der Entwürfe zu folgen. Soweit es zwischen den Gesetzentwürfen nennenswerte juristische und inhaltliche Unter- Burkhard Zurheide (F.D.P.): Entschuldigung, ich schiede gibt, neige ich zu den ehefreundlicheren habe nur noch einen abschließenden Satz. Varianten. In diesem Sinne bin ich ein Wert-Konser- Das vorgelegte Gesetz ist fortschrittlich, emanzipa- vativer. Dies wird von den Mitgliedern meiner Abge- torisch und wird Art. 3 GG in besonderer Weise ordnetengruppe nur teilweise mitgetragen. — Im gerecht. Es entlastet das Namensrecht von letztem übrigen gibt es nach meinem Ermessen wich tigere ideologischen Ballast, ohne dabei Beliebigkeit zuzu- Fragen, bei denen ich mir von den radikalen Ehekri- lassen oder praktische Unanwendbarkeit zu bewir- tikern mehr Radikalität wünschen würde. ken. Der Koalition ist mit diesem Gesetz eine im Wortsinne liberale Lösung gelungen. Im einzelnen: Ich meine schon, daß die Ehegatten einen gemeinsamen Ehenamen tragen sollten — bei Vielen Dank. aller Freiheit, sich auch anders zu entscheiden. Alle (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Entwürfe sind in dieser Frage völlig liberal, und ich begrüße das. Es besteht für die Beteiligten zunächst Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege keinerlei Zwang zu handeln. Aber ich teile schon die Dr. Uwe-Jens Heuer. Meinung eines der Sachverständigen, der — in Umkehrung einer Formulierung des Handelsgesetz- buches — gesagt hat: Der Ehename ist so etwas wie Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- dent! Meine Damen und Herren! § 1355 BGB ist eine die gemeinsame Firma, unter der wir Eheleute ab jetzt von den grundgesetzwidrigen Regelungen, zu deren auftreten. Änderung sich der Gesetzgeber offenbar nur sehr Ich meine weiterhin, daß die Ehegatten, wenn sie widerwillig verstehen konnte. Herr Zurheide hat dar- den gemeinsamen Ehenamen nicht bei der Eheschlie- auf schon hingewiesen. ßung bestimmen, dies innerhalb der angemessenen Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16001

Dr. Uwe-Jens Heuer Frist von fünf Jahren nach Eheschließung tun sollten, Gruppe wird der Mensch hineingeboren, und in dieser- um den heranwachsenden Kindern den Namens- Gruppe findet er sich zunächst selbst in seiner eigenen wechsel zu einem späteren Zeitpunkt zu ersparen. Die Identität. Er sucht Geborgenheit. Er sucht Selbstent- Sachverständigen haben mehrfach darauf hingewie- faltung im Miteinander und im Gegeneinander. Dazu sen, daß ein Namenswechsel für die Identität von gehört eben auch — das ist vorhin schon vom Kollegen Kindern wesentlich schwerer wiegt als für die Identi- Gres angesprochen worden —, daß er innerhalb dieser tät Erwachsener. Gruppe Klarheit findet. Klarheit findet er auch ver- Hinsichtlich der Doppelnamen teile ich die Auffas- deutlicht durch den einheitlichen Familiennamen, der sung, daß hier lediglich das Problem auf die nachfol- darauf hinweist, daß diese Menschen zunächst eine gende Generation verlagert wird, und zwar in zweifa- Einheit darstellen. cher Hinsicht: einmal, weil spätestens dann, wenn Diese Namenklarheit hat natürlich eine Ord- Herr Müller-Lüdenscheid und Frau Funke-Schmitt nungsfunktion — nicht nur eine Ordnungsfunktion, Rink heiraten, Entsagung auf irgendeiner Seite nötig aber auch eine Ordnungsfunktion. Deswegen ist es ist, und außerdem, weil — wie ein Sachverständiger richtig, daß der Rechtsausschuß nachdrücklich darauf zutreffend gesagt hat — ein Kind schon genug mit Wert gelegt hat, daß auch bei der Weitergabe eines einem Einzelnamen zu tun hat. Ich neige also auch Namens auf das gemeinsame Kind vorrangig ein hier zu der vom Rechtsausschuß vorgeschlagenen gemeinsamer Name — ich betone: ein Name — Variante. vermittelt wird. Bedenken habe ich allerdings immer noch gegen Nun haben wir vorgesehen — der Rechtsausschuß die in § 1616 Abs. 3 BGB vorgesehene Regelung, daß hat dies ausdrücklich so geregelt —, daß sowohl der das Vormundschaftsgericht bei fehlender Einigung Name der Ehefrau als auch der des Ehemannes der Eltern über den Familiennamen des Kindes das gewählt werden kann. Wird er gewählt, dann gilt er Namensbestimmungsrecht einem Elternteil übertra- auch für das Kind. gen kann. Es gibt sicher Fälle, in denen sachliche Anknüpfungspunkte eine sachgerechte Entschei- Ich meine, es ist schon richtig, was Kollege Gres dung ermöglichen. Ich sehe das Problem allerdings in gesagt hat, daß es eben auch der Klarheit dient — und den Kriterien für den Vormundschaftsrichter, für seine damit zum Bewußtsein der Zusammengehörigkeit Entscheidung. Ich weiß auch, daß das Losverfahren innerhalb dieser Gruppe von Menschen, innerhalb weitgehend abgelehnt wird, und man kann auch dieser Familie gehört —, wenn man im Hinblick auf vieles gegen das Losverfahren sagen. Hier ist es die Weitergabe des Namens an das Kind oder die mehrfach als unwürdig bezeichnet worden. Kinder einen Namenswirrwarr mit zusätzlichen Dop- Ich meine aber, daß in jenen Fällen, in denen es pelnamen vermeidet. sachliche Anknüpfungspunkte für eine Entscheidung Ich möchte jetzt ein bißchen paradox reden. Ange- nicht gibt, der Losentscheid vom unterlegenen Eltern- nommen, Funke-Schmitt-Rink — mit Verlaub, Sie teil eher zu tragen wäre als eine richterliche Entschei- sehen es mir nach — würde Meyer-Mü ller-Lüden- dung, zwar nach Anhörung, aber ohne Begründung scheid heiraten und wir würden jetzt aus diesem und unanfechtbar. In einer Ehesituation, in der sich Sechsfachnamen Kombinationen auswählen, dann die Beteiligten schon nicht über den Namen des wäre es nach der Vorstellung der SPD durchaus Kindes einigen können, trägt eine solche richterliche möglich, daß beide Ehepartner unter Umständen Entscheidung wohl eher zur Streitverschärfung als zur unterschiedliche Teilnamen aus dieser Sechser- Streitbeilegung bei. Doch dies mag die Praxis zei- gruppe auswählten. Wiederum wäre es aus dem gen. Selbstverständnis des gemeinsamen Kindes von sei- Ich stimme der Beschlußempfehlung zu. nem Persönlichkeitsrecht durchaus möglich, daß es Danke schön. aus der getroffenen Kombination seinerseits eine eigene Kombination wählen würde. (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktionslos]) Man mag sagen: Halt, so etwas ähnliches gibt es z. B. im spanischen Raum. Das gibt es ansatzweise auch in anderen Rechtsräumen. — Ich möchte das gar Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem nicht zur Seite fegen. Nur, es vermochte mir bisher Kollegen Herbert Werner. niemand zu verdeutlichen, daß dies alles der Klarheit dient. Ich muß da ja erst mein Ahnenbuch oder meine Herbert Werner (Ulm) (CDU/CSU): Herr Präsident! Geburtsurkunde mit den entsprechenden Stamm- Meine Damen und Herren! Ich möchte die Frage bucheintragungen herausziehen. zunächst und vor allem aus dem Blickwinkel des (Elke Ferner [SPD]: Welcher Mann mußte das Familienpolitikers angehen und vorab sagen, daß wir denn bisher?) sicher alle darin übereinstimmen, daß der eigene Name zum Wesen und zur Identität eines jeden Dies ist zwar durchaus möglich, aber es verhilft in Menschen gehört und daß dieser Name in der Regel keiner Weise zu mehr Klarheit und zur Zusammenge- von den Eltern bei Geburt bzw. nach Geburt vermittelt hörigkeit. wird. Deswegen begrüße ich es, daß es so ist, daß dann, Der Geburtsname weist zunächst auf die Zusam- wenn sich Ehepartner auf einen gemeinsamen Ehena- mengehörigkeit einer Gruppe von Menschen hin, die men nicht einigen können und darüber hinaus — das im engeren Sinne, ursprünglich blutsmäßig, bestimmt ist geradezu die notwendige Folge — auch nicht auf ist, aber auch anders bestimmt sein kann. In diese einen Geburtsnamen des gemeinsamen Kindes, das 16002 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Herbert Werner (Ulm) Vormundschaftsgericht ein sogenanntes Bestim- men. Mit der Heirat verschwand der Frauenname so mungsrecht einem der beiden Elternteile zuweist. aus der Öffentlichkeit und die Frau im Haushalt. Dieser Elternteil entscheidet dann. Ich finde, dies ist Doch mit der Verbesserung der Berufsausbildung würdiger als das reine Losverfahren, das ursprünglich und mit steigendem eigenen Einkommen wuchs bei im Gesetzentwurf der Bundesregierung und auch in Frauen der Wunsch, ihren Namen trotz Heirat beibe- dem Entwurf der SPD vorgesehen wurde. halten zu dürfen — für jeden Mann bisher eine In derselben Art und Weise soll sich dies auch dann Selbstverständlichkeit. vollziehen, wenn Kinder adoptiert werden. Auch dann wird in Zukunft nicht automatisch der Name einfach (Elke Ferner [SPD]: Wohl wahr!) auf das angenommene Kind übertragen. — Was wäre Dem entsprach das Bundesverfassungsgericht vor denn dies? — Aber es muß natürlich dann die Mög- zweieinhalb Jahren, als es die Dominanz des Männer- lichkeit geben, daß sich die beiden Elternteile, die ein namens im Streitfall verwarf. Bis dahin galt als „nor- Kind annehmen, auf einen Namen einigen. Wenn mal", daß der Mannesname Familienname wurde. Unstimmigkeiten auftreten, dann wird das Kind mit Bestand die Frau dennoch auf ihrem Geburtsnamen, seiner eigenen Meinung unter Respektierung seines war es ihr immerhin gestattet, ihn dem Familienna- in den Entscheidungsprozeß Persönlichkeitsrechts men voranzustellen. So blieb sie wenigstens für ihre mit einbezogen. Schulfreundinnen im Telefonbuch auffindbar, aller- dings nur als kostenpflichtiger Nebeneintrag. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege We rner, Sie sind schon ein gutes Stück über das Ende Ihrer Aber auch Kinder hatten das Nachsehen. Beide Redezeit. Elternnamen konnte ein Kind nie erhalten. Den Mut- ternamen bekam es nur bei Nichtehelichkeit.

Herbert Werner (Ulm) (CDU/CSU): Die Einbezie- Für die meisten Frauen beinhaltet der Namens- hung des Kindes vor dem Hintergrund seines Persön- wechsel einen Identitätswechsel. Die gebürtige Frau lichkeitsrechtes ist, Herr Präsident, richtig. In Stufen Ziegenfuß läuft nämlich dann fortan als die Frau des soll das Kind bei einer Namensübertragung vermehrt Herrn Sowieso durchs Leben. Lebensleistung muß sie mitwirken. Dies ist richtig und aus der Sicht von von vorne beginnen, sollte zur Geltung kommen, was Familie und Kind zu begrüßen. Auch aus diesem Schiller schon meinte: Wenn der Leib in Staub gefal- Grund sind wir der Auffassung, daß das ganze Haus len, lebt der große Name noch. dieses Gesetz in der heute vorliegenden Beschluß- Mit der Einführung von Doppelnamen — so wie in empfehlung annehmen sollte. 107 Staaten dieser Erde auch — hätte dem Wunsch Vielen Dank. nach Namensidentität aller Familienmitglieder stär- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ker Rechnung getragen werden können. Doch obwohl das Bundesverfassungsgericht einen Doppelnamen für Kinder gestattet, vermochten die Koalitionsfraktio- Vizepräsident Hans Klein: Ich bin bei diesen ausge- nen nicht, sich zu einer frauen- und kinderfreundli- zirkelten Debatten, wenn das rote Licht aufleuchtet, chen Regelung durchzuringen. immer in der schwierigen Situation, dem Redner entweder gleich ins Wort zu fallen — dann besteht die (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zuruf Chance, daß er relativ früh endet — oder zu glauben, von der F.D.P.: Was?) er sähe das rote Licht selbst und würde allmählich aufhören. Aber am Schluß ist es dann über eine Sie ließen sich darüber hinaus viel Zeit. Minute mehr — und das bei fünf Minuten Redezeit. Ich (Zuruf von der F.D.P.: Ist doch gar nicht bitte also alle herzlich, die beiden Lichter selber zu wahr!) beachten. Wenn das gelbe Licht aufleuchtet, ist noch genau eine Minute Zeit. Während die SPD bereits zwei Monate nach jenem Jetzt hat die Kollegin Dr. Marliese Dobberthien das Urteil einen eigenen Gesetzentwurf präsentieren konnte, der den Eheleuten ein umfassendes Selbstbe- Wort. stimmungsrecht gewährt,

Dr. Marliese Dobberthien (SPD): Herr Präsident! (Zuruf von der CDU/CSU: Schnell, aber Meine Damen und Herren! Der Name ist mehr als schlecht!) Schall und Rauch. Eindringlich darauf hingewiesen benötigte das Justizministerium mehr als zwei Jahre. hat schon Altmeister Goethe —Zitat —: Über diesen Entwurf wurde, kaum lag er vor, koali- ... der Eigenname eines Menschen ist nicht etwa tionsintern weiterhin noch endlos gezankt. Hardliner ein Mantel ..., sondern wie die Haut selbst ihm torpedierten die Reform. Mal grämte sich das blaue über und über angewachsen, an dem man nicht Blut ob der Vererbbarkeit des Adelstitels, mal grauste schaben und schinden darf, ohne ihn selbst zu es erzkonservativen Fundamentalisten vor einem verletzen. „Anschlag auf die Familie", nur weil der Zwang zum Gemeint war natürlich der Männername. Der Frau- gemeinsamen Familiennamen aufgegeben wurde. enname dagegen galt bei Heirat als disponibel. An (Zuruf von der SPD: Wie furchtbar!) ihm durfte geschabt werden; er wurde verbannt. Bis zur Namensrechtsreform 1976 verlangte eine Heirat Den vom Bundesverfassungsgericht erlaubten Los- von der Frau stets Verzicht. Sie und ihre Kinder entscheid brandmarkten sie als „Verachtung des mußten qua Gesetz den Namen des Mannes anneh- Menschen". Es ist ja auch bezeichnend, daß heute Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16003

Dr. Marliese Dobberthien keine Frau aus den Koalitionsfraktionen hier reden — Überhaupt nicht. Gerade das wird auch künftig darf. möglich sein, weil mit den hier zur Entscheidung (Elke Ferner [SPD]: Warum denn nicht?) vorliegenden Beschlußempfehlungen an bestehen- Nach enervierenden Auseinandersetzungen konn- dem Guten nicht gerüttelt wird. ten sich die Hardliner in der Koalition nun weitgehend (Zustimmung bei der F.D.P.) durchsetzen. So steht hier ein Entwurf zur Debatte, der Es wird deutlich, daß über wenige Fragen in der höchstens den Namen „Reförmchen" verdient. Eine Rechtspolitik so engagiert und mit soviel Elan gestrit- Chance ist vertan. Kein Doppelname wird zugelassen, ten worden ist wie über das Ehenamensrecht, weil weder für die Ehepartner noch für das Kind. Zu nämlich fast alle von uns persönlich betroffen sind befürchten steht, daß in der Regel kraft Tradition und oder künftig auch betroffen sein können. alter Rollenmuster der Mannesname wieder Familien- name wird und damit dieser an die nachfolgende (Zuruf von der SPD: Weil die Männer etwas Generation weitergegeben wird: alles wie gehabt. zu verlieren haben!) Damit fällt der vorliegende Gesetzentwurf weit Das erklärt auch, daß Engagement, Elan, Emotion und hinter die Intention des Urteilsspruchs aus Karlsruhe möglicherweise auch Vorurteile in der Diskussion zurück. Denn obwohl die Erfahrungen der Standes- eine Rolle spielen. ämter mit der durch das Bundesverfassungsgericht Aber entgegen den Worten meiner Vorrednerin erlassenen Übergangsregelung zeigen, daß die Libe- muß ich sagen, daß die Diskussion in den letzten ralisierung des Namensrechts von der Bevölkerung Wochen und Monaten ja nicht in der Form einer gewünscht und der Doppelname zunehmend gera- kriegerischen Auseinandersetzung stattgefunden hat, dezu als Ausdruck der Verbundenheit der Ehepartner sondern man hat die unterschiedlichsten Argumente gewertet wird und dies in der Anhörung des Rechts- ausgetauscht. Es gibt unterschiedliche Argumente, ausschusses auch zum Ausdruck gekommen ist, lie- die sich auch sehr gut vertreten lassen. Von daher, ßen sich die Koalitionsfraktionen nicht umstimmen. meine ich, sollten wir jetzt nach den Worten meiner Die Bemühungen um ein richtungweisendes Namens- Vorrednerin wieder zu einem versöhnlicheren Um- recht, das auch in der Handhabung dem Anspruch auf gang mit diesem schwierigen Thema kommen. Gleichberechtigung gerecht wird, müssen wir als (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gescheitert betrachten. Der kleinste gemeinsame Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsge- Nenner der Koalitionsfraktionen ist eben noch keine richtes vom 5. März 1991 ist ja die Tür zur Ehe ohne Reform. Ehenamen geöffnet worden. Die einen haben das als Wer Gleichberechtigung ernst nimmt, darf eine Ausblick in neue Freiräume empfunden, die anderen wirkliche Namensrechtsreform nicht dem Verlangen sahen das Gebäude der Ehe in Gefahr. Bundesregie- nach männlicher Dominanz, die stillschweigend wei- rung und Bundestag eint — folgt man den heute ter fortlebt, opfern. Ich bitte Sie daher, den Ände- vorgelegten Empfehlungen des Rechtsausschusses — rungsanträgen der SPD zuzustimmen und Ihren Ent- die Vorstellung, den gemeinsamen Ehenamen nicht wurf zu erweitern. aufzugeben, ihn andererseits aber auch nicht gegen Danke schön. den Wunsch der Ehepartner vorzuschreiben. Über (Beifall bei der SPD — Gerlinde Hämmerle den Weg, wie man das am besten erreichen kann, läßt [SPD]: Das machen die nicht! — Elke Ferner sich streiten. Das haben wir getan. Vor- und Nachteile [SPD]: Die sind uneinsichtig!) aller denkbaren Lösungen sind auch in der heutigen Debatte deutlich geworden. Ich möchte das alles jetzt nicht noch einmal nachvollziehen. Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort der Aber eines möchte ich hier tun, nämlich den Bundesministerin für Justiz, Sabine Leutheusser- Berichterstattern im Rechtsausschuß für ihre Arbeit Schnarrenberger. danken, die nicht allzu leicht gewesen ist, bis dann von der Koalition dieser Kompromißvorschlag vorge- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- legt worden ist, der sehr vielen Bedenken Rechnung nisterin der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und trägt; und es ist — ein Anliegen generell in der Herren! Erstens. Sollte in der Koalition ein Frauende- Rechtspolitik — ein schlanker, vereinfachter Entwurf fizit bestehen, mache ich es in dieser Sekunde wett. vorgelegt worden, nicht überladen mit zu vielen Regelungen und Regelungsvorgaben. (Beifall des Abg. Herbert Werner [Ulm] [CDU/CSU]) Ich darf hier drei Punkte aus meiner Sicht hervor- heben; ich möchte dabei nicht auf gesetzestechnische Zweitens. Mein Name zeigt, Details im einzelnen eingehen. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Wie schlimm Eine traditionell von Männern bestimmte Welt hat das Thema ist!) die Ehefrau — bis vor kurzem zumindest — faktisch daß auch vor der Entscheidung des Bundesverfas- dazu gezwungen, mit der Eheschließung auf ihren sungsgerichts nach dem alten Recht sehr wohl ein angestammten Namen zugunsten des Namens des Doppelname möglich ist: durch Voranstellung des Mannes zu verzichten. Dieser Verzicht ist vielen eigenen Namens. Aber das war mit Sicherheit keine Frauen nicht leichtgefallen. Wer Kompromisse suchte, zufriedenstellende Regelung aus der Sicht der mußte sich manchmal als „Bindestrich-Frau" bespöt- Frauen. teln lassen. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Aber Ihr Name Die nunmehr vom Gesetz eröffnete Möglichkeit zeigt den Regelungsbedarf!) beider Ehegatten, ihren angestammten Namen auch 16004 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in der Ehe fortzuführen, befreit von unnötigem Zwang genannt wird und die Dame Gräfin. Ich möchte dann und ist ein Stück mehr Gleichberechtigung. gern haben, daß sich dies auch bei den bürgerlichen Im Entwurf der Bundesregierung war eine weitere Namen ausdrückt, so daß m an dann am Namen Öffnung vorgesehen, nämlich den Doppelnamen erkennt, ob es eine Frau oder eine Dame ist. auch als Ehenamen zuzulassen, nicht vor dem Hinter- (Heiterkeit) grund, daß wir Chaos anrichten wollten, sondern um — Entschuldigung, ob es ein Mann oder eine Dame mit dieser versöhnlichen Möglichkeit den Weg zu ist. einer Entscheidung für einen gemeinsamen Ehena- (Anhaltende Heiterkeit) men zu eröffnen. Wir haben uns nach langer Diskus- sion auf die jetzt hier vorliegenden Empfehlungen verständigt. Ich glaube, das macht deutlich, wie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- kompromißbereit auch in diesem Punkt gerade die nisterin der Justiz: Ich glaube, es ist gerade Ausdruck F.D.P. ist, die ja einige andere Vorstellungen zurück- von liberalem Verständnis, daß wir hier nicht heran- gestellt hat. gegangen sind. Das stand auch nie zur Diskussion. (Beifall bei der F.D.P.) Warum soll nicht gerade bei Adelsnamen, die nun Im Namensrecht bewahrheitet sich der alte Satz: Im bestehen, die Freiheit vorhanden sein, diesen Adelsti- ersten seid ihr frei, im zweiten seid ihr Knecht. Wer die tel als Zusatzprädikat zu verwenden oder nicht? In Ehegatten vom Zwang zum Ehenamen befreit, muß unseren eigenen Reihen haben wir ja Vorbilder, die nämlich die Frage beantworten, wie denn die Kinder gesagt haben: Ich verwende ihn nicht. Warum sollen heißen sollen, deren Eltern keinen Ehenamen füh- nicht andere das gute Recht haben, daran festzuhal- ren. ten? Von daher haben wir uns aus guten Gründen mit Unsere Nachbarn in Europa tun sich mit dieser dieser Frage im Zusammenhang mit dem Gesetzge- Frage kaum schwer. Soweit sie keinen Ehenamen bungsvorhaben nicht beschäftigt. kennen, knüpfen sie den Kindesnamen zwanglos an (Beifall bei der F.D.P.) den Vater- oder den Mutternamen an, ein Weg, der Ich möchte noch einen letzten Punkt erwähnen. uns vom Bundesverfassungsgericht wohlweislich ver- Familienrecht muß stärker als jedes andere Recht im sperrt worden ist. Bewußtsein des Volkes verwurzelt sein. Eine zeitge- Der zur Beschlußfassung vorliegende Entwurf ver- mäße Familienrechtspolitik muß sich deshalb recht- traut auf die Verständigkeit der Eltern. Sie sollen den zeitig auf soziale Änderungen einstellen, ohne dem Kindesnamen einvernehmlich bestimmen. Wo solches Rechtsbewußtsein der Bevölkerung zuviel an Verän- Einvernehmen nicht erzielt werden kann, soll das derungen zuzumuten. Die Ihnen vorliegenden Be- Vormundschaftsgericht einem Elternteil das alleinige schlußempfehlungen erfüllen diese Voraussetzun- Namensbestimmungsrecht übertragen. Das Bundes- gen, weil sie in einem Teilbereich die Entwicklung verfassungsgericht und der Regierungsentwurf hatten vom Familienideal des 19. Jahrhunderts zur Realität dieser forensischen Lösung den Losentscheid vorge- von Ehe und Familie am Ende des 20. Jahrhunderts zogen. Ich kann verstehen, daß ein grundsätzliches konsequent nachvollziehen. Unbehagen dagegen besteht, einen Namen durch Los Meine Bitte um Unterstützung der Ihnen zum zu bestimmen. Aber für mich ist in dieser Frage Namensrecht vorliegenden Beschlußempfehlungen eigentlich am wichtigsten, daß solche Streitentschei- verbindet sich aber mit dem Wunsch, auch anderen dungen gerade im Interesse der Kinder möglichst notwendigen Gesetzgebungsvorhaben zur Verbesse- selten notwendig sind. Das sollte hier unser Anliegen rung der Stellung nichtehelicher Kinder und der sein. Angleichung der Stellung nichtehelicher Kinder an (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die von ehelichen Kindern genauso offen gegenüber- zustehen und sie so konstruktiv mitzutragen, wie das Vizepräsident Hans Klein: Frau Ministerin, Sie hoffentlich gleich bei der Beschlußfassung über den haben nur noch acht Sekunden Redezeit. Trotzdem hier vorliegenden Entwurf der Fall sein wird. bin ich gehalten, zu fragen, ob Sie eine Zwischen- Vielen Dank. frage, die selbstverständlich auch der Verlängerung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der Redezeit dient, zulassen wollen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- nisterin der Justiz: Ich bin dazu bereit und werde che. anschließend versuchen, mich kurz zu fassen. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Dieter-Julius Cronenberg hat eine persönli- Vizepräsident Hans Klein: Bitte sehr, Herr Kollege che Erklärung gemäß § 31 Abs. 1 der Geschäftsord- Klejdzinski. nung des Deutschen Bundestages zur Abstimmung über das Familiennamensrechtsgesetz abgegeben. Nicht ihres Inhalts, sondern der eher ungewöhnlichen Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD): Frau Ministerin, darf ich Sie, da Sie sehr für eine Gleichberechtigung Form wegen will ich sie dem Haus nicht vorenthalten. im Namensrecht gestritten haben und ich das auch Der Kollege Cronenberg hat formuliert: anerkenne, fragen, warum Sie nicht die Chance Es war gewiß nicht ganz gerecht genutzt haben, das sogenannte Adelsprädikat beim Der Name nach dem alten Recht. Namensrecht abzuschaffen. Inbesondere dort gibt es Doch was wir jetzt geschaffen haben immer noch den Unterschied, daß der Herr Graf In vielen schönen Paragraphen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16005

Vizepräsident Hans Klein Ist das gerechter, liebe Leut? — Er ist verhindert, Herr Kollege Gallus. Deswegen - Hört, wie es gehen könnt mit der Zeit: habe ich das Gedicht vorgelesen. — Ein Paar, das noch ganz unbefangen (Zuruf von der CDU/CSU: Der macht gerade Zum nächsten Standesamt gegangen, eine Dichterlesung! — Heiterkeit) Um zu bestell'n das Aufgebot, Wer enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist Ist schon sehr bald in großer Not. angenommen. Ihm machte die Befragung Pein: Wie soll denn Euer Name sein? Unter Buchstabe b) seiner Beschlußempfehlung auf Ob Schmidt — so heißt die junge Frau, Drucksache 12/5982 empfiehlt der Rechtsausschuß, Ob Maier — wie der Mann genau, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Druck- Schmidt-Maier für die Frau vielleicht? sache 12/617 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für Die Wahl fällt jetzt schon nicht mehr leicht. diese Beschlußempfehlung? Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Die Beschlußempfehlung ist Dann kommt die nächste Va riante, angenommen. die ihnen vorschlägt der Beamte: Sie bleibt bei Schmidt, er bleibt bei Maier, Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: So lebt es sich vielleicht noch freier. Doch einigen müßten sie sich dann, Fragestunde Wie wohl der Nachwuchs heißen kann. — Drucksache 12/5962 — Auch hier geht's wieder Schlag auf Schlag: Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- Was vorgesehen der Bundestag nisters der Justiz. Zur Beantwortung der Fragen steht Für diesen Fall, den Fall der Fälle, uns der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Liest vor aus der Gesetzesquelle Funke zur Verfügung. Der Herr Beamte ohne Zaudern. Ich rufe Frage 17 des Kollegen Gerhard Poppe Doch die Verlobten packt ein Schaudern. auf: Das Aufgebot, es ist vergessen. Inwieweit treffen Medienberichte zu, wonach die US-Regie- Man ist nur noch darauf versessen, rung unter Verweis auf CIA-Informationen vor Ali Fallahians Die Flucht zu suchen und zu finden, Besuch über dessen direkte Verantwortung für Morde an exi- lierten iranischen Oppositionellen die Bundesregierung unter- Um alsbald draußen zu verkünden: richtet habe und wonach das Begehren der Bundesanwaltschaft, Bei diesen vielen Möglichkeiten, Ali Fallahian noch während dessen Besuch zu verhaften, vom Da lassen wir die Heirat bleiben. Bundesministerium der Justiz zurückgewiesen worden sei, und Drum die Moral von der Geschieht': wie rechtfertigt die Bundesregierung die Kontakte mit Ali Fallahian angesichts der Vereinbarung auf dem EG-Gipfel im Mein Ja zu diesem Vorschlag kriegt ihr nicht. Dezember 1992, verbesserte Beziehungen zum Iran sollten von einer Aufhebung der iranischen Morddrohungen gegen Salman Dieter-Julius Cronenberg Rushdie abhängig gemacht werden? (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich bitte um SPD, der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE Beantwortung. GRÜNEN — Norbert Gansel [SPD]: Drum prüfe, wer sich ewig bindet, bis er zu seinem Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Namen findet!) ministerin der Justiz: Herr Kollege, mit dem ersten Teil Wir kommen zur Einzelberatung und Abstim- Ihrer Frage fragen Sie danach, ob Medienberichte mung über den von der Bundesregierung einge- zutreffen, wonach die US-Regierung unter Verweis brachten Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des auf CIA-Informationen die Bundesregierung noch vor Familiennamensrechts, Drucksachen 12/3163 und dem Besuch des iranischen Nachrichtendienstmini- 12/5982. sters über dessen Verantwortung für Morde an irani- schen Oppositionellen unterrichtet habe. Diese Teil- Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der frage beantworte ich dahin, daß solche Medienbe- SPD vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt richte nicht zutreffen. Entsprechende Informationen für den Änderungsantrag auf Drucksache 12/5991? — hat es nicht gegeben. Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Soweit Sie danach fragen, ob Medienberichte zutreffen, wonach das Bundesministerium der Justiz Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der das Begehren der Bundesanwaltschaft, Minister Fal- Ausschußfassung zuzustimmen gedenken, um das lahian noch während seines Deutschlandbesuchs zu Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält verhaften, zurückgewiesen habe, so treffen auch diese sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Berichte nicht zu. Beratung angenommen. Die Bundesanwaltschaft hatte am 6. Oktober 1993 Damit treten wir in die beim Bundesministerium der Justiz unter Bezug- dritte Beratung nahme auf das Strafverfahren gegen Youssef Amin und andere um Auskunft gebeten, in welcher Eigen- und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte die schaft Minister Fallahian die Bundesrepublik Kolleginnen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf Deutschland besuche. zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt Das Bundesministerium der Justiz hat das Bundes- dagegen? kanzleramt und das Auswärtige Amt hierzu am selben (Georg Gallus [F.D.P.]: Wo ist Herr Cronen Tage befragt. Das Auswärtige Amt hat auf Grund von berg jetzt?) Auskünften durch das gastgebende Bundeskanzler- 16006 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Parl. Staatssekretär Rainer Funke amt und nach Erläuterung der Rechtslage durch das hat die Bundesrepublik dem Iran in den vergangenen Bundesministerium der Justiz mitgeteilt, es gehe Jahren, also seit dem Beschluß des Europäischen davon aus, daß die Ausübung inländischer Gerichts- Rates in Edinburgh, zu welchen Zwecken geliefert? barkeit gegenüber Minister Fallahian gemäß § 20 Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes unzulässig Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Sie fragen mich sei. Dies wurde der Bundesanwaltschaft mitgeteilt. als Vertreter des Bundesjustizministeriums. Dazu Den letzten Teil Ihrer Frage, nämlich wie die kann ich Ihnen sagen, daß das Bundesjustizministe- Bundesregierung die Kontakte. zu Fallahian ange- rium keinerlei Hilfe gegeben hat. Soweit das andere sichts der Vereinbarung auf dem EG-Gipfel im Ministerien betreffen könnte, kann ich Ihnen diese Dezember 1992 rechtfertige, verbesserte Beziehun- Frage, die nicht implizit in Ihrer ursprünglichen Fra- gen zum Iran von einer Aufhebung der iranischen gestellung enthalten ist, nicht beantworten. Hierzu Morddrohungen gegen Salman Rushdie abhängig zu bedarf es gegebenenfalls einer weiteren Frage von machen, beantworte ich dahin, daß sich die bestehen- Ihnen. den Beziehungen zum Iran nach Auskunft des Aus- wärtigen Amtes innerhalb des Rahmens halten, der Vizepräsident Hans Klein: Sie wäre genaugenom- vom Europäischen Rat am 12. Dezember 1992 festge- men als Zusatzfrage unzulässig gewesen, Herr Kol- legt worden ist. lege, weil sie sich nicht auf den Inhalt der ersten Frage Über Einzelheiten der nachrichtendienstlichen Be- bezieht. ziehungen ist die Parlamentarische Kontrollkommis- sion ausführlich unterrichtet worden. Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Doch! Nein. Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Herr Kol- Vizepräsident Hans Klein: lege Poppe. Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie bezieht sich auf den Begriff „verbesserte Beziehun- Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für Ihre Antwort, wobei gen" in meiner Frage. natürlich nicht nach dem Auswärtigen Amt gefragt war, sondern nach den Kontakten von Herrn Schmid- Vizepräsident Hans Klein: Entschuldigung, diese bauer. Art von Themenausweitung ist im Regelwerk der Fragestunde eben nicht vorgesehen. Ich habe eine Zusatzfrage: Wie geht die Bundesre- gierung mit der Tatsache um, daß der Staatsminister Weitere Zusatzfragen dazu? — Herr Kollege Gan- im Bundeskanzleramt Schmidbauer erhebliche Ver- sel. wirrung nicht nur bei der Berliner Justiz durch seine auf die Verantwortlichkeit für den Mykonos-Anschlag Norbert Gansel (SPD): Herr Staatssekretär, nach- bezogene Äußerung: „Wer die Details kennt, kommt dem die Bundesregierung meine Fragen zum Besuch zu ganz anderen Ergebnissen" gestiftet hat, welche des iranischen Geheimdienstministers Fallahian da- nun wohl zu seiner Zeugenvernehmung vor dem hin gehend beantwortet hat, daß zentrales Anliegen Gericht in Berlin führen wird? dieses Besuches humanitäre Fragen gewesen seien und daß es keinerlei Zusammenhang mit dem Myko- nos-Prozeß gegeben hat, und in Anbetracht des Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Poppe, das Landgericht Berlin hat die Schlußfolge- Umstandes, daß es nunmehr Presseberichte gibt, die rung gezogen und hat ihn gebeten, zu der von Ihnen darauf hinweisen, daß im Zusammenhang mit diesem aufgeworfenen Frage als Zeuge zu erscheinen. Ich Besuch der Mykonos-Prozeß doch eine Rolle gespielt habe das nicht zu kommentieren. Die Gerichte sind hat, möchte ich Sie fragen, ob die Bundesregierung unabhängig. hier ihre Antwort aus der letzten Fragestunde mir gegenüber korrigieren will oder ob Sie an der Darstel- Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage. lung festhalten, daß der Mykonos-Prozeß in keiner Weise Gegenstand der Gespräche gewesen ist, und Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist wer in der Bundesregierung die Verantwortung über- jetzt nicht die zweite Frage, sondern meine Frage nimmt, wenn diese Auskunft gegenüber dem Parla- eben lautete, wie die Bundesregierung damit umgeht, ment falsch sein sollte. — Sie haben die Chance zum aber nicht, wie das Berliner Landgericht damit Korrigieren. Überlegen Sie es sich gut, Herr Kol- umgeht. lege.

Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Die Bundesre- Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege gierung hat das insoweit überhaupt nicht zu kommen- Gansel, ich sah nur deswegen kurz zum Präsidenten, tieren. Die entsprechenden Erklärungen hierzu sind weil ich erneut keinen Zusammenhang mit der der Parlamentarischen Kontrollkommission mitgeteilt ursprünglichen Frage feststellen kann. Sie haben worden. diese Frage vor einer Woche dem Kollegen Schmid- bauer gestellt. Er war Gesprächsteilnehmer. Ich war Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann nicht Gesprächsteilnehmer. Ich halte das im Hinblick hätte ich eine zweite Zusatzfrage. Sie bezieht sich auf die gestellten Fragen für schlicht unzulässig. ebenfalls auf Informationen in der Presse: Welche (Dr. Karl-Heinz Klejdzinski [SPD]: Aber Sie Ausbildungs- und Ausstattungshilfen oder sonstige vertreten doch die Bundesregierung!) Unterstützung außer den in Pressemitteilungen schon erwähnten Computern und Schulungspersonalhilfen Norbert Gansel (SPD): Der Zusammenhang ist da. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16007

Vizepräsident Hans Klein: Herr Parlamentarischer nicht ausschließen. In diesem Sinne hält auch die- Staatssekretär, das, was Sie geantwortet haben, ist Bundesregierung das Urteil des Amtsgerichts Flens- zwar plausibel, sicherlich auch für den Kollegen burg für verfehlt und hat in öffentlichen Verlautbarun- Gansel; allerdings ist im Gegensatz zu der zweiten gen wiederholt ihr Befremden zum Ausdruck Zusatzfrage des Kollegen Poppe hier natürlich ein gebracht. Zusammenhang gegeben, weil man sich mit der Frage Der einfachrechtliche Begriff des „Fehlers" als nach der Verantwortung für Morde an exilierten maßgebliche Voraussetzung reisevertraglicher Ge- iranischen Oppositionellen erkundigt. Ihre Auskunft währleistungsansprüche, wie es in § 651 c BGB mit dem Hinweis auf die direkte Verbindung zwi- formuliert ist, ist im Lichte der objektiven Wertord- schen dem Kollegen Gansel und dem Kollegen nung der Grundrechte auszulegen. Bei der gebotenen Schmidbauer ist aber natürlich akzeptabel. Auslegung unter Berücksichtigung der verfassungs- rechtlichen Garantie der Menschenwürde und des Norbert Gansel (SPD): Nein, Herr Präsident, ich allgemeinen Gleichheitssatzes kann nach Auffassung frage die Bundesregierung! der Bundesregierung die Anwesenheit Behinderter am Urlaubsort oder im Hotel nicht als „Fehler" einer Gut, Herr Kollege Gan- Vizepräsident Hans Klein: Reise eines nichtbehinderten Mitreisenden angese- sel, und die Bundesregierung antwortet. Ob Ihnen, ob hen werden. Behinderte sind ebenso wertvolle Men- uns die Antwort gefällt oder nicht: Wir müssen sie schen wie die nichtbehinderten Mitbürger. hinnehmen. Soweit der in der Frage zitierte Zusatz im Katalog Norbert Gansel (SPD): Die Bundesregierung kann eines Reiseveranstalters auf die „neueste deutsche nicht sagen, ich solle einen anderen Minister fra- Rechtssprechung" Bezug nimmt, erweckt er - ver- gen. mutlich ungewollt - den unzutreffenden Eindruck, (Dr. Karl-Heinz Klejdzinski [SPD]: Wir fragen daß das Flensburger Urteil eine allgemein verbreitete nicht den Staatssekretär!) und anerkannte Rechtsprechung wiedergebe. Tat- sächlich sind aber das Flensburger Urteil und das über Vizepräsident Hans Klein: Aber der Parlamentari- 13 Jahre zurückliegende, in ähnliche Richtung wei- sche Staatssekretär hat geantwortet. Ich kann jetzt in sende Urteil des Landgerichts Frankfurt absolute keinen Dialog eintreten. Sie haben eine Frage gestellt, Einzelfälle geblieben und werden ganz überwiegend und Herr Funke hat geantwortet. Daß Ihnen die mit Nachdruck abgelehnt. Deshalb sind derartige Antwort nicht gefällt, ist eine andere Sache. Zusätze weder üblich noch vor dem Hintergrund des geltenden Rechts geboten. (Norbert Gansel [SPD]: Es war keine Ant wort!) Die Bundesregierung leitet aus den vereinzelt gebliebenen beiden Urteilen keine Notwendigkeit für Herr Kollege Klejdzinski, Sie haben die nächste gesetzliche Maßnahmen ab. Zusatzfrage.

Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD): Herr Staatssekre- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hüppe, eine tär, wenn ich Sie als Bundesregierung frage, antwor- Zusatzfrage. ten Sie mir dann, Sie seien nur ein Teil der Bundesre- gierung? Hubert Hüppe (CDU/CSU): Da, wie Sie, Herr Staats- sekretär, schon richtig gesagt haben, es sich schon um Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Klejdzinski, das zweite Urteil dieser Art handelt, würde Ihr Mini- das ist keine Zusatzfrage zu dieser Frage. sterium nicht ausschließen können, daß man durch Gibt es weitere Zusatzfragen zu dieser Frage? — einen Verfassungszusatz zur Gleichstellung von Das ist nicht der Fall. Behinderten oder darunter, unter Verfassungsrang, Die Frage 18 des Abgeordneten Ludwig Stiegler z. B. durch ein Antidiskriminierungsgesetz, wie es in wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als den USA verabschiedet worden ist, solche Urteile in Anlage abgedruckt. Zukunft verhindern könnte? Dann kommen wir zur Frage 19 des Abgeordneten Hubert Hüppe: Rainer Funke Parl. Staatssekreär: Herr Kollege, Sie wissen, daß in der Gemeinsamen Verfassungskom- Im Hinblick auf die Tatsache, daß das sogenannte ,,Flensbur- ger Urteil", nach dem Urlaubern eine Reisekostenminderung mission diese Frage gründlich diskutiert worden ist. zugestanden wurde, weil sie mit einer Gruppe Behinderter Wie jede Verfassungsänderung sollte auch diese nur zusammen in einem Hotel untergebracht waren, im Katalog in Angriff genommen werden, wenn hierfür ein ein- eines Reiseveranstalters zu dem wörtlichen Zusatz führte: „Be- deutiger Handlungsbedarf besteht. Angesichts der hinderte: Aufgrund der neuesten deutschen Rechtsprechung müssen wir leider diesen Zusatz neu aufnehmen; auch Behin- selbstverständlichen Geltung des allgemeinen derte haben ein Recht auf Urlaub. Deshalb kann es sein, daß Sie Gleichheitssatzes, nämlich Art. 3 Abs. i Grundgesetz Behinderten im Hotel begegnen.", frage ich die Bundesregie- auch für Behinderte sowie der sich aus dem Sozial- rung, welche Möglichkeiten sie sieht, ggf. durch gesetzliche staatsgebot ergebenden Pflicht des Staates zur Hilfe Maßnahmen derartige, behinderte Mitmenschen diskriminie- für Behinderte ist ein solcher Handlungsbedarf nach rende Vorgänge zu verhindern und Gerichtsentscheidungen wie die von Flensburg unmöglich zu machen? Ansicht der Bundesregierung nicht zu bejahen. Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Die von den Befürwortern einer Grundgesetzände- rung erhoffte Signalwirkung könnte im übrigen— das Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, die haben wir auch in der Gemeinsamen Verfassungs- verfassungsmäßig garantierte Unabhängigkeit der kommisson diskutiert — in das Gegenteil umschlagen, Gerichte kann Kritik an einer Einzelentscheidung wenn die Verfassungsänderung keine tatsächliche 16008 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Parl. Staatssekreär Rainer Funke Verbesserung in der Lebenssituation Behinderter Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon nach sich zöge. Konkrete Verbesserungen lassen sich aus, daß die Länder entsprechende Fortbildungsmaß- durch eine Änderung des Art. 3 des Grundgesetzes nahmen der Richter in die Wege leiten. Das wird in wohl kaum erzielen. Die Änderung muß in der Gesell- jedem Land, insbesondere auch nach solchen Urtei- schaft selbst vollzogen werden. len, getan. Da habe ich überhaupt keine Zweifel.

Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Steen, Sie haben die nächste Zusatzfrage. Hubert Hüppe (CDU/CSU): Geben Sie mir denn recht, daß das Gutachten, das von dem Behinderten- Antje-Marie Steen (SPD): Herr Staatssekretär, ich beauftragten der Bundesregierung in Auftrag gege- möchte Ihre Aussage, daß sich die Gesellschaft in ihrer ben worden ist, genau das Gegenteil von dem sagt, Auffassung gegenüber Behinderten geändert hat, was sie gerade sagen, und daß ansonsten, wenn es korrigieren. Ist der Bundesregierung bekannt, daß keine Änderung gibt, jedes Reiseunternehmen trotz- gerade in der jüngsten Vergangenheit die Ausschrei- dem Gefahr läuft, ähnlichen Schadenersatz zahlen zu tungen und die Mißhandlungen Behinderter zuneh- müssen wie bei den Urteilen, die es nun einmal mend um sich greifen? Halten Sie es unter diesem gegeben hat und die nicht irgendwie noch rechtlich zu Eindruck nicht für geboten, ganz deutlich, auch in der beanstanden sind und für die Be troffenen natürlich Verfassung, etwas zu ändern? eine Tragödie darstellen? Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, wir stellen mit großem Entsetzen fest, daß es zuneh- Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, ich mend Gewalt gegen Ausländer, aber auch gegen habe, glaube ich, deutlich gemacht, daß das Flensbur- Behinderte gibt. Das haben wir auch in diesem Hohen ger Urteil von uns durchaus negativ beurteilt wird. Es Hause mehrfach beklagt. Trotzdem haben wir in der ist ein Einzelfall geblieben, auch wenn Sie sagen, da Gemeinsamen Verfassungskommission, in der diese gibt es ein zweites Urteil, das immerhin dreizehn Frage intensiv beraten worden ist — gerade heute war Jahre zurückliegt. Angesichts dessen, daß die Gesell- die letzte Sitzung dieser Gemeinsamen Verfassungs- schaft, was die Einstellung gegenüber Behinderten kommission —, zu Recht gemeint, daß eine besondere angeht, sich Gott sei Dank sehr gewandelt hat, meine Hervorhebung der Behinderten in Art. 3 Abs. 1 GG ich, daß hier kein Handlungsbedarf gegeben ist. eher nachteilig für die Behinderten sein könnte als Wenn wir auf Grund jedes Fehlurteiles, das gefällt vorteilhaft. Dies habe ich auch in meiner ursprüngli- wird — auch Richter sind Menschen —, immer gleich chen Antwort deutlich gemacht. Gesetze ändern würden, wären wir hier im Bundestag kräftig beschäftigt. Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen dazu werden nicht gestellt. Herr Parlamentarischer Vizepräsident Hans Klein: Nächste Zusatzfrage, Staatssekretär, ich bedanke mich für die Beantwor- Frau Kollegin Blunck. tung. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers Ueselott Blunck (Uetersen) (SPD): Herr Staatsse- der Finanzen auf. Im wesentlichen geschieht dies aber kretär, Sie haben ganz klar festgestellt, daß dies eine für das Protokoll, um mitzuteilen, daß die Fragen 20 Diskriminierung ist. In diesem Zusammenhang bis 26 schriftlich beantwortet werden sollen. Die möchte ich wissen, was die Bundesregierung, ange- Antworten werden als Anlagen abgedruckt. sichts des Gebotes, daß keiner in diesem L and diskri- miniert werden darf, zu tun gedenkt, um dem entge- Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers genzutreten. Sind Sie mit mir der Meinung, daß sich für Wirtschaft auf. Auch hier verhält es sich so. Die die Bundesregierung dort nicht einfach heraushalten Fragen 27 bis 29 sollen schriftlich beantwortet wer- kann, sondern dies ahnden muß, und sei es in Form der den. Die Antworten werden als Anlagen abge- Gewährung von Fortbildungsstellen — es gibt ja eine druckt. gemeinsame Bund-Länder-Akademie — für die ent- Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers sprechenden Richter? der Verteidigung auf. Die Fragen 30 bis 36 sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten wer- Rainer Funke, Parl. Staatssekretär: Als Sie eben den als Anlagen abgedruckt. telefonierten und mir vielleicht nicht ganz aufmerk- Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers sam zuhören konnten, habe ich dem Kollegen Hüppe für Verkehr auf. Zur Beantwortung steht uns der hierauf bereits eine Antwort gegeben. Wir halten Parlamentarische Staatssekretär Manfred Carstens dieses Flensburger Urteil in der Tat für nicht richtig. zur Verfügung. Die Fortbildung von Richtern ist nicht Angelegenheit Ich rufe die Frage 46 auf, die unsere Kollegin der Bundesregierung, sondern, wie Sie unschwer Antje-Marie Steen gestellt hat: erkennen können, Angelegenheit der jeweiligen Län- Kann die Bundesregierung Auskunft geben, warum bis heute der. keine Unterzeichnung des Grundlagenvertrags zur Ausgliede- rung der DB-Fährlinie „ Vogelfluglinie Puttgarden" aus dem (Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Nein, DB-Bereich erfolgte, und wann dieser vertragslose Zustand wenn ich auch nicht zugehört habe, so haben beendet wird? Sie--!) Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.

Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Frau Kolle- Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- gin, Sie haben nicht das Wort. desminister für Verkehr: Wegen des Sachzusammen- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16009

Parl. Staatssekretär Manfred Carstens hangs, Herr Präsident, schlage ich vor, daß ich die ausgesprochen werden konnte, weil erhebliche Sach- Fragen 46 und 47 gemeinsam beantworte. fragen zu klären waren und weil parallel auch noch die Gesamtentwicklung „Bahnreform" mit einzube- Vizepräsident Hans Klein: Wenn die Kollegin Steen ziehen war. Insofern meine ich, daß wir froh darüber damit einverstanden ist. sein können, daß nun die Genehmigung erteilt wer- den konnte. Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Es ist ja ein Ihre eigentliche Zusatzfrage möchte ich gern Sachzusammenhang. Sie kann ja dann trotzdem vier schriftlich beantworten, weil die Antwort einen Fragen stellen. Umfang annehmen müßte, der von der Zeitdauer her eine Fragestunde mit Sicherheit überfordert. Auch Antje-Marie Steen (SPD): Herr Präsident, es gibt sollen Sie bis zu den letzten Einzelheiten genaue zwar einen äußeren Sachzusammenhang, aber einen Auskunft darüber haben, was Sie wissen möchten. inneren nicht. Denn der Grundlagenvertrag beinhal- tet etwas ganz anderes als der Dienstleistungsüberlas- Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage. sungsvertrag. Ich würde es gern getrennt beantwortet haben. Antje-Marie Steen (SPD): Ist mit diesem Grundla- genvertrag auch verbunden, daß das Fährschiff „War- Parl. Staatssekretär: Zu Frage 46 Manfred Carstens, nemünde" mit Personal nach Fehmarn verlegt wird also: Die grundlegende Vereinbarung zwischen der und dafür das Fährschiff „Theodor Heuss" aus dem Deutschen Bundesbahn/Deutsche Reichsbahn und Verkehr gezogen wird? Auch das, wenn Sie möchten, der Deutschen Fährgesellschaft Ostsee konnte nach schriftlich. Auffassung der Deutschen Bundesbahn vor Genehmi- gung der Gründung der Deutschen Fährgesellschaft Parl. Staatssekretär: Das muß Ostsee nicht abgeschlossen werden. Das Bundesmini- Manfred Carstens, schon sein, weil ich das jetzt gar nicht beantworten sterium für Verkehr hat im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen die Gründung der könnte. Deutschen Fährgesellschaft Ostsee inzwischen ge- nehmigt. Vizepräsident Hans Klein: Ich rufe die Frage 47 auf, die ebenfalls die Kollegin Steen gestellt hat: Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage. Kann die Bundesregierung Auskunft geben, warum bisher keine Dienstleistungsüberlassungsverträge für die Beschäftig- ten durch die „Deutsche Fährgesellschaft Ostsee" erfolgten, Antje-Marie Steen (SPD): Eine Zusatzfrage, bitte. obwohl das als Voraussetzung für die Übernahme des Betriebs Herr Staatssekretär, Ihnen ist bekannt, daß diese vereinbart ist, und welche Konsequenzen leitet sie daraus für die Gesellschaft bereits am 1. April 1993 ihren Dienst Rechtsfähigkeit des Vertrages ab? aufgenommen hat, wir heute den 28. Oktober schrei- ben und bis vor zwei oder drei Tagen dieser Grund- Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Hier kann lagenvertrag nicht unterschrieben war? Das nur ein- ich wegen des Sachzusammenhangs ganz kurz ant- mal zur Klarstellung, daß ein sehr langer Zeitraum worten. Gleiches wie für die Vereinbarung gilt auch verstrichen ist, bis er überhaupt zur Wirkung kam. für die Dienstleistungsüberlassungsverträge. Ich frage Sie in diesem Zusammenhang: Ist mit der Unterschrift unter diesem Vertrag jetzt auch die Auf- Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Frau Kolle- teilung der Aufgaben und der dazugehörigen Wirt- gin. schaftsgüter endgültig entschieden und in welcher Form? Antje-Marie Steen (SPD): Herr Staatssekretär, ich würde gern wissen, ob damit die Zusicherung für die Vizepräsident Hans Klein: Herr Parlamentarischer Beschäftigten — Beamte wie Angestellte und Arbei- Staatssekretär, ich muß noch einmal etwas zu der Art ter — verbunden ist, daß sie weiterhin nach den und Weise sagen, wie wir die Fragestunde abwickeln. Tarifen des öffentlichen Dienstes und nicht nach den Nicht die Abgeordneten informieren die Bundesregie- Tarifen der deutschen Seeschiffahrt bezahlt werden, rung, sondern die Bundesregierung antwortet auf nachdem die Übernahme am 1. Januar 1994 erfolgt. Fragen der Abgeordneten, und die Fragen sollen unkommentiert bleiben — das geht noch an die Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Der jetzige Adresse der Kollegin Blunck —, selbst wenn Sie einen Stand ist in etwa so — gegriffen, aber ziemlich genau Kommentar abgeben wollen, der eine Tatsache gegriffen —, daß es insgesamt 1 000 Beschäftigte gibt, beschreibt. Ich bitte also herzlich, sich auf die Fragen davon etwa die Hälfte bei der Vogelfluglinie. Von zu beschränken. dieser Hälfte bei der Vogelfluglinie sind wiederum Bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. 50 % Beamte, die anderen 50 % sind Tarifkräfte. In den anderen Fällen — u. a. auch Rostock — geht es Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Ich habe auf darum, daß die Tarifverträge fortgeführt werden. diese Frage — wenn ich das einmal erwähnen darf, verehrte Kolleginnen und Kollegen — eben sehr Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage. präzise geantwortet, und bin auch gern bereit, auf die weitergehenden Fragen präzise zu antworten. Das, Antje-Marie Steen (SPD): Ist der Bundesregierung was Sie eingangs erwähnt haben, verehrte Kollegin bekannt oder haben Sie Kenntnis darüber, daß diese Steen, war ja Veranlassung dafür, daß es eine etwas Fährlinie eventuell als zweites Schiffsregister betrie- längere Zeit gedauert hat, bis die Genehmigung ben werden soll? 16010 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das kann Falls es aber so sein sollte, wie Sie es sagen, sollte ich Ihnen auf Anhieb nicht beantworten, will ich Ihnen man sich in Zukunft bemühen, daß dies anders aber gerne mitteilen. läuft. (Antje-Marie Steen [SPD]: Danke!) (Lachen bei der SPD)

Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage. Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen zu Frage 47? — Das ist nicht der Fall. Norbert Gansel (SPD): Herr Präsident, ich habe Die Frage 48 des Abgeordneten Dietmar Schütz soll, immer gewußt, daß die Fragesteller mehr wissen als Herr Parlamentarischer Staatssekretär, schriftlich die Regierungsmitglieder, die uns antworten. beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage (Heiterkeit bei der SPD — Parl. Staatssekre- abgedruckt. tär Manfred Carstens: Was ich gelegentlich Ich rufe Frage 49 auf, die der Kollege Norbert bezweifle!) Gansel gestellt hat: Deshalb bin ich eigentlich nicht hierhergekommen. Welche Schwierigkeiten hat es beim Bau der zweiten Kieler Kanalbrücke im Verlauf der B 503 durch die Beteiligung Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Gansel, ausländischer Subunternehmen gegeben, und ist der Zeitplan bitte stellen Sie eine Frage. eingehalten worden? Norbert Gansel (SPD): Herr Staatssekretär, dann Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Der Auf- möchte ich Sie noch einmal fragen, ob sichergestellt tragnehmer für die Straßenhochbrücke in Kiel-Holte- ist, daß die Holtenauer Hochbrücke planmäßig zum nau ist ein deutsches Bauunternehmen, das als zuver- 21. Juni 1995, also zum hundertjährigen Jubiläum des lässig und leistungsfähig bekannt ist. Vertragsgrund- Kanals, in Betrieb genommen werden kann und daß lage sind deutsche Bauvorschriften mit hohen Anfor- sie ohne Gefahr für Leib und Leben, entsprechend den derungen der Qualitätssicherung und Kontrollen deutschen Sicherheitsvorschriften, durch Personen durch anerkannte Sachverständige. Gleiches gilt für und Fahrzeuge überquert werden kann. die Fertigung und Montage des Stahlüberbaus — das sind etwa 30 % der Bauleistung —, die durch auslän- Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Das konnte dische Subunternehmer ausgeführt werden. meiner ersten Antwort entnommen werden, die ich noch einmal bestätige. Schäden, die bisher auf Grund von Qualitätskon- Allerdings steht auf meinem Zettel der letzte Satz trollen vor Einbau festgestellt worden sind, können noch nachlesbar: Nach derzeitigem Stand werden die ohne Qualitätsverlust für die fertige Brücke behoben Vertragsfristen (Endtermin) eingehalten werden. werden. Sie liegen im Erfahrungsvergleich mit ande- ren Hochbrückenneubauten über dem Nord-Ostsee- Vizepräsident Hans Klein: Kollege Klejdzinski. Kanal im üblichen Rahmen. Auf den Bund kommen keine zusätzlichen Kosten zu, da der Auftragnehmer Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD): Herr Staatssekre- die Mängel zu verantworten und auf seine Kosten zu tär, bei einem Angebot dieser Größe ist normalerweise beheben hat. nicht nur zu prüfen, ob es preiswert ist. Gleichzeitig ist Nach derzeitigem Stand werden die Vertragsfri- von der vergebenden Behörde grundsätzlich die Lei- sten, Endtermin, eingehalten werden. stungsfähigkeit der Anbieter zu überprüfen. Gehen Sie nach Ihrer bisherigen Einschätzung davon aus, daß dieses sachgerecht erfolgt ist? Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Herr Kol- lege Gansel. Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- lege, das ist das Entscheidende an diesem Sachver- Norbert Gansel (SPD): Herr Staatssekretär, trifft es halt, daß man durchaus politische Gründe haben zu, daß, nachdem der Auftrag für den Bau der Holte- kann, sich gegen die Art und Weise, wie dort gebaut nauer Hochbrücke an einen deutschen Generalunter- worden ist, auszusprechen. Aber was die Sache nehmer gegeben wurde, der sich eines belgischen angeht, kann festgehalten werden: Die Arbeiten sind Subunternehmers bediente, der einen südafrikani- in einer Qualität ausgeführt worden, so daß keine schen Subunternehmer einsetzte, der dafür in Kiel Veranlassung besteht, sich darüber zu mokieren. Die tschechische Arbeitnehmer beschäftigte, nun in Kiel Preise werden eingehalten, die Termine werden ein- die ersten Brückenbauteile nach einem Transport von gehalten, und die Qualität wird eingehalten. Insofern 10 000 km aus Südafrika eintreffen und diese entwe- ist die Bauausführung nicht zu bemängeln. der zu kurz oder zu lang oder beschädigt sind oder Schweißnähte nicht nach den deutschen Bauvor- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Koppelin. schriften aufweisen? Halten Sie das für einen norma- len Vorgang in Anbetracht des Umstandes, daß von Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Staatssekretär, kön- der heimischen Stahlbaubranche angeboten wurde, nen Sie mir noch einmal erklären, aus welchen die Brücke vor Ort durch Fachkräfte zu errichten? Gründen die Bundesregierung bei solchen großen Aufträgen keinen Wert darauf legt, daß z. B. ein Stahlüberbau durch ein örtliches Unternehmen — ich Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Der Sach- nenne als Beispiel HDW — hergestellt wird? stand ist mir nicht so genau bekannt wie offensichtlich Ihnen. Ich kann ihn weder bestätigen noch dementie- Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär: Es ist eine ren. durchaus verständliche Auffassung, daß man sich so Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16011

Parl. Staatssekretär Manfred Carstens verhalten könnte, wie Sie es durch Ihre Frage zum kurzfristig aus gesundheitlichen Gründen von Mini- Ausdruck bringen. Wenn es aber ein deutsches Bau- ster Liu Chao-Shivan abgesagt. unternehmen als Auftragsnehmer gibt, der als zuver- lässig und leistungsfähig bekannt ist, der garantiert, Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Herr Kol- daß die Qualität stimmt und daß der Endtermin lege Lowack. eingehalten wird, geht es nach unserer Auffassung der sozialen Marktwirtschaft und auch mit Blick auf Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Kollege Laufs, die zur Zeit laufenden GATT-Verhandlungen recht sind Sie nicht der Auffassung, daß sich die Bundesre- weit, dem auch noch weitergehende Vorschriften gierung international gesehen mit diesem Verhalten machen zu wollen, indem z. B. vorgeschrieben wird, lächerlich macht, weil Frankreich ebensowenig diplo- daß HDW genommen werden muß. Wie sonst wollen matische Beziehungen zu Taiwan unterhält, aber der Sie sicherstellen, daß es so erfolgt? zuständige Minister für Verkehr bereit war, seinen Kollegen aus Taiwan in seinem Dienstzimmer zu empfangen und mit ihm über die Lieferung des TGV Vizepräsident Hans Klein: Gibt es weitere Zusatz- zu sprechen, während sich der deutsche Verkehrsmi- fragen dazu? — Das ist nicht der Fall. Herr Parlamen- nister in dieser Art und Weise verhalten hat? Grund- tarischer Staatssekretär, ich danke Ihnen für die lage war das Angebot, sich nur auf dem Flughafen in Antworten. einem Restaurant zu treffen, und daß noch dazu der Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers Verkehrsminister Taiwans die Kosten übernimmt. für Post und Telekommunikation auf. Zur Beantwor- Dies hat dazu geführt, daß er sich zu krank gefühlt hat, tung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär um nach Stuttgart zu kommen. Dr. Paul Laufs zur Verfügung. Ich rufe die Frage 50 Ich möchte Sie gern fragen: Kann nicht die Ein- auf, die der Kollege Ortwin Lowack gestellt hat. China-Politik der Bundesregierung bei all ihrer Frag- Warum hat der Bundesminister für Post und Telekommunika- würdigkeit zugunsten eines kommunistischen dikta- tion den Verkehrsminister Taiwans Liu Chao-Shiuan Ende Juli torischen Regimes auch so pragmatisch gehandhabt lediglich in einem Hotel und der Bundesminister für Verkehr werden — — seinen Amtskollegen nur am Flughafen in Stuttga rt sprechen wollen, während der französische Minister für Transpo rt, Ver- kehr und Industrie den gleichen Minister in Paris in allen Ehren Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Lowack, in im Dienstzimmer mit Stander der Republik China zu einem unserem Regelwerk steht auch, daß wir nicht kom- eingehenden Gespräch empfangen und ihm vor allem auch das mentieren, wenn wir Fragen stellen. Dies ist ein Interesse Frankreichs an der Lieferung des TGV dargelegt hat, der in Konkurrenz zu dem von deutscher Seite angebotenen ICE, Leitartikel, den Sie vortragen. einem Projekt von ca. 17 Mrd. DM, steht, und wie erklärt sich das Verhalten beider Bundesminister angesichts der Tatsache, daß Ortwin Lowack (fraktionslos): Ein Leitartikel ist der frühere Bundesminister für Post und Telekommunikation, nicht das Schlechteste auf der Welt. Dr. Christian Schwarz-Schilling, bereits ein Jahr zuvor zwei Minister des Kabinetts der Republik China in seinen Diensträu- men in Bonn empfangen hat, ohne daß dies in irgendeiner Weise Vizepräsident Hans Klein: Es kommt auf die Zeitung die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu anderen an. Staaten in Frage gestellt hätte? Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Ortwin Lowack (fraktionslos): Darf ich meine Frage zu Ende stellen? — Glauben Sie nicht, daß auch die Ein-China-Politik, die Sie hier gerade propagieren, es Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- zulassen würde, sich dann pragmatisch zu verhalten, nister für Post und Telekommunikation: Herr Kollege wenn es um die Interessen der deutschen Wirtschaft Lowack, die Bundesregierung verfolgt eine konse- geht? Was bedeuten denn eigentlich Ein-China-Poli- quente Ein-China-Politik, das heißt, sie betrachtet tik und ihre Notwendigkeit? Taiwan nicht als Völkerrechtssubjekt. In der Praxis bedeutet dies, daß die Beziehungen zu Taiwan unter- Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege halb der Schwelle der völkerrechtlichen Anerken- Lowack, die vielfältigen, in Ihrer langen Frage unter- nung zu pflegen sind. Diese Schwelle würde über- stellten Bewertungen teile ich nicht. Ich darf aber schritten, wenn ein Minister der Bundesrepublik hinzufügen, daß die Politik der Bundesregierung Deutschland eine Amtsperson Taiwans offiziell in bisher nicht zu Einbußen auf dem wirtschaftlichen seinen Amtsräumen empfängt. Zu notwendigen Kon- Sektor geführt hat. Die Bundesrepublik Deutschland takten gleich welcher Art müssen daher Möglichkei- ist der größte Handelspartner Taiwans in Europa. ten gefunden werden, die keinen amtlichen Charak- Allerdings muß die Einschränkung gemacht werden, ter haben. daß die Handelsbeziehungen zu Taiwan den Export Der Bundesminister für Post und Telekommunika- von Rüstungsgütern ausschließen, was für Frankreich, tion hat daher dem Gesprächswunsch des taiwanesi- da Sie Frankreich hier genannt haben, nicht zutrifft. schen Verkehrsministers nur außerhalb des Ministe- riums und lediglich in seiner Funktion als Abgeordne- Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage. ter des Deutschen Bundestages stattgegeben. Seine Handlungsweise entspricht damit voll der Grundlinie Ortwin Lowack (fraktionslos): Sehr verehrter Kol- der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. lege Laufs, darf ich fragen, ob auch Sie durch Presse- Der Bundesminister für Verkehr hatte mit der taiwa- berichte darüber informiert wurden, daß z. B. die nesischen Seite unter Hinweis auf seine Gesamtter- Entscheidung des Bundessicherheitsrats vom 28. Ja- minplanung ein längeres Gespräch am 22. Juli 1993 in nuar durchaus die Lieferung von Waffenteilen, näm- Stuttgart fest vereinbart. Das Gespräch wurde aber lich solchen bei Raketen, zuließ? Würden Sie mir nicht 16012 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Ortwin Lowack zustimmen, daß die Bundesregierung auf Grund des In wie vielen Fällen ist es bei der Ankündigung der Schließung Textes bei der Aufnahme diplomatischer Beziehun- von Postämtern zu Protesten der Kommunen und der Bevölke- rung gekommen, und in welchen konkreten Fällen hat dieser gen zu Rotchina am 11. Oktober 1972 gerade die Protest zur Rücknahme der Schließungspläne geführt? Aufnahme normaler Beziehungen auch zur Republik China auf Taiwan nicht ausgeschlossen hat, d. h. daß Ich bitte Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, uni Ihre Antwort. wir völkerrechtlich überhaupt nicht in der Weise gebunden sind, wie wir uns aufführen? Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Laufs, diese Erler, von den insgesamt 22 000 Postämtern und Frage brauchen Sie nicht zu beantworten; sie ist keine Poststellen werden weniger als 5 %, das sind knapp Zusatzfrage zu der gestellten Frage. unter 1 000 Amtsstellen, im Zuge der Filialnetzanpas- sung in Städten über 20 000 Einwohnern geschlossen. Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Vielen Dank, Weil vor allem kleine Filialen mit wenigen Kunden Herr Präsident. geschlossen werden, sind nach Aussage der General- direktion Postdienst nur 2 % der Postkunden direkt Vielleicht darf ich noch einmal betonen, daß die betroffen. In der Regel wurden die be troffenen Kom- Haltung des Bundesministers für Post und Telekom- munen vor der beabsichtigten Schließung informiert. munikation mit dem Auswärtigen Amt abgestimmt In Einzelfällen hat es allerdings an der rechtzeitigen war und in der Tat der Grundlinie der Außenpolitik Mitteilung durch die örtlichen Vertreter des Post- der Bundesrepublik Deutschland entsprach. dienstes gemangelt. Die Bekanntgabe der Schließung ist mit der Veröffentlichung in den Städten Wuppertal Vizepräsident Hans Klein: Eine weitere Zusatzfrage und München am 21. Oktober abgeschlossen worden. des Kollegen Jan Oostergetelo. Die Realisierung wird bis Ende dieses Jahres weitge- hend vollzogen sein. Jan Oostergetelo (SPD): Herr Staatssekretär, darf Es sind zahlreiche Beschwerden und Proteste aus ich Sie fragen, ob man das Verhalten der Bundesre- dem kommunalen Bereich und der Bevölkerung vor- gierung in diesem Fall, wenn ich an die Bilder, die uns getragen worden. Im Postministerium und der Gene- damals vom sogenannten Platz des Himmlischen raldirektion Postdienst sind insgesamt ungefähr Friedens übermittelt wurden, zurückdenke, über- 200 Unterschriftenlisten abgegeben worden, deren haupt noch in moralischen Kategorien unterbringen Sammlung in der Regel von der Deutschen Postge- kann, oder ist nicht doch die ökonomische Sichtweise werkschaft organisiert worden ist. Aber es wurde auch der Dinge dominierend gewesen? Verständnis für die Maßnahmen der Deutschen Bun- despost Postdienst geäußert, zumal auch bei den Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Oosterge- Kommunen vielfach einschneidende Kosteneinspa- telo, es ist schon sehr problematisch, hier einen rungen notwendig sind. Zusammenhang zur Frage zu sehen. Beschwerden und Protesten wurde von der Deut- schen Bundespost Postdienst im Einzelfall sorgfältig Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, in Dr. Paul Laufs, nachgegangen. Insbesondere der Zeitraum zwischen der Tat ist die ursprüngliche Frage nicht darauf der Publizierung der Standorte, die nach dem Ergeb- angelegt, moralische Katego rien unserer Handelsbe- nis der Filialnetzüberprüfung entbehrlich waren, und ziehungen im Zusammenhang mit dem Verhalten des der tatsächlichen Schließung — in der Regel sechs Bundesministers für Post und Telekommunikation zu Wochen — wurde häufig benutzt, um noch einmal diskutieren. Ich würde Ihnen empfehlen, diesen Fra- Argumente auszutauschen. Dieser Informationsaus- genkomplex an anderer Stelle vorzutragen. tausch hat aber bisher nicht dazu geführt, daß der Postdienst seine Entscheidungen hätte revidieren Vizepräsident Hans Klein: Weitere Zusatzfragen müssen. dazu? — Das ist nicht der Fall. Die Frage 51 soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Kol- lege Erler, Sie haben jetzt theoretisch vier Zusatzfra- Wir kommen zur Frage 52 des Kollegen Gernot gen. Erler. (SPD): Herr Präsident, ich habe auch Parl. Staatssekretär: Herr Präsident, Gemot Erler Dr. Paul Laufs, praktisch vier Zusatzfragen. gestatten Sie bitte, daß ich die beiden Fragen des Kollegen Gernot Erler wegen des Sachinhalts zusam- Meine erste lautet: Herr Staatssekretär, Sie haben menfassend beantworte, wenn der Kollege damit davon gesprochen, daß bei den Schließungsabsichten einverstanden ist. die Kommunen in der Regel informiert worden seien. Halten Sie es für ein gutes Verfahren, bei so einem Vizepräsident Hans Klein: Bitte. Vorgang, der die Lebensqualität in den Kommunen, die Versorgung der Bevölkerung mit dem wichtigen Wir kommen damit zu den Fragen 52 und 53 des Postdienst be trifft, einfach nur eine Information statt- Kollegen Gernot Erler. finden zu lassen? Wäre es nicht besser gewesen, wie Über die Schließung wie vieler Postämter im Zuge der das in den allgemeinen Verwaltungsordnungen vor- sogenannten „Filialkonzentration" in der Bundesrepublik Deutschland hat die Generaldirektion POSTDIENST bisher geschrieben ist, sich ins Benehmen zu setzen, und was verfügt, und in wie vielen Fällen ist dabei das Benehmen mit den hätte es denn geheißen, wenn man das wirk lich betroffenen Kommunen hergestellt worden? gemacht hätte? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16013

Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege chen Schließungen im Rahmen der Filialnetzanpas- Erler, zunächst unterstreiche ich durchaus Ihre sung waren die Postämter mit Verwaltung vor Ort, die Bemerkung, daß Mängel im Einzelfall bei der Unter- regionalen Direktionen und die Generaldirektion richtung der kommunalen Verwaltungen sehr bedau- beteiligt. Während des Abstimmungsprozesses gab es erlich sind. in einer ganzen Reihe von Städten — so auch in Ins Benehmen setzen heißt, daß rechtzeitig über die Würzburg, aber nicht nur in Würzburg — unterschied- beabsichtigten Maßnahmen unterrichtet wird und liche Bewertungen und Änderungen hinsichtlich der den Kommunalverwaltungen die Möglichkeit der zunächst beabsichtigten Schließungen. Stellungnahme eingeräumt wird, bevor endgültig Nach der endgültigen Festlegung und offiziellen entschieden wird. In der Regel ist so verfahren wor- Bekanntmachung der zu schließenden Amtsstellen den. In den Fällen, in denen bei der Unterrichtung der wurden die Entscheidungen der Deutschen Bundes- Öffentlichkeit Mängel aufgetreten sind, ist bis jetzt post Postdienst nicht mehr revidiert, auch nicht in nicht festgestellt worden, daß auch in der Sache selbst Würzburg. Mängel vorliegen, so daß es nicht zu Revisionen gekommen ist. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ihre vierte Zu- satzfrage, Herr Kollege Erler. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zweite Zusatzfrage. Gemot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, darf ich daraus schließen, daß es zwei verschiedene Verfahren Gemot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, der Post- gegeben hat? Ich hatte nämlich zu einem anderen dienst ist doch dabei, sich in eine weltweite Konkur- Zeitpunkt Gelegenheit, Sie schon einmal nach den renz zu begeben. Insofern entspricht es doch wohl der Schließungsabsichten in meinem Wahlkreis zu fra- Logik, daß man sich auch auf eine anständige Weise gen. Darauf habe ich die Antwort bekommen, das um den Kunden bemüht. Entspräche es nicht dieser würde geprüft und dann bekanntgegeben. So ist es Logik, daß in den Fällen, in denen es zu keinem bei uns auch gewesen. Wir haben nur eine endgültige Benehmen mit den Städten gekommen ist, nicht Bekanntgabe der Schließungsabsichten bekommen. einmal zu einer Informa tion — ich komme aus einer Danach gab es keine Möglichkeit mehr, darauf zu solchen Stadt, das ist die Stadt Freiburg mit immerhin reagieren. 190 000 Einwohnern —, das Vertrauen dadurch wie- Ich stelle hiermit fest und halte daran so lange fest, derhergestellt wird, daß die Schließung der betroffe- bis Sie es widerlegen, daß es offenbar einige bevor- nen Postämter ausgesetzt wird und nachträglich die- zugte Städte gibt, in denen es zunächst einmal vorläu- ses Benehmen mit den Kommunen hergestellt wird? fig bekanntgegeben wurde und später endgültig die (Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt) Schließung durchgeführt wurde. Das scheint dann für Würzburg zuzutreffen. Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Erler, wo diese Mängel aufgetreten sind, ist von seiten Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege der Deutschen Bundespost Postdienst noch einmal im Erler, es gab dadurch einige Ir ritationen, daß Zwi- einzelnen dargelegt worden, aus welchen Gründen schenergebnisse dieses Abstimmungsprozesses öf- die Schließung erforderlich geworden ist. Der Infor- fentlich gemacht worden sind und nicht abgewartet mationsaustausch hat in diesen Fällen in der Tat etwas wurde, bis die Festlegung dieser Standorte endgültig verspätet stattgefunden. beschlossen worden war. Dadurch ist ein Eindruck Wie ich schon gesagt habe, hat dieser ins einzelne entstanden, wie Sie ihn gerade dargestellt haben. Das gehende Informationsaustausch nicht dazu geführt, Verfahren ist jedoch in allen Fällen so gelaufen, wie daß die Entscheidung in der Sache selbst hat revidiert ich Ihnen das vorher geschildert habe. werden müssen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Der Kollege Wie- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die dritte Zusatz- land Sorge hat eine weitere Zusatzfrage. frage, Herr Kollege Erler. Wieland Sorge (SPD): Herr Staatssekretär, gibt es Gemot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, Sie haben bei diesen Protestschreiben — Sie sagten, es waren in Ihrer doppelten Antwort vorhin auch angeführt, daß ungefähr 200 — deutliche Unterschiede zwischen den es bisher nicht zu einer Korrektur trotz der Vorlage Eingaben aus den neuen und alten Bundesländern, von 200 Protestvorgängen mit Unterschriften usw. und wenn ja, worauf führen Sie das zurück? gekommen ist. Mir liegen nun Informationen vor, daß in dem Bereich der Stadt Würzburg zunächst die Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Schließung von vier Postämtern in Ang riff genommen mir liegen keine Unterlagen, die Unterschiede dar- worden ist, daß dann aber nach Protesten diese stellen, vor. Mir selbst sind eine ganze Reihe von Maßnahme bei zwei Postämtern wieder rückgängig Unterschriftenlisten überreicht worden, die alle aus gemacht wurde. den alten Bundesländern kamen. Ich bin im Augen- Können Sie — insbesondere in Anbetracht des blick überfragt, ob es Unterschiede zwischen den interessanten Umstandes, daß dies der Wahlkreis von alten und neuen Bundesländern gibt. Ich kann jedoch Herrn Dr. Bötsch ist — dem Hohen Haus mitteilen, ob dieser Frage nachgehen und Sie darüber unterrich- diese Informationen real oder nicht richtig sind? ten.

Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Erler, am Verfahren zur Bestimmung der erforderli- Zusatzfrage der Kollegin Lilo Blunck. 16014 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Lieselott Blunck (Uetersen) (SPD): Herr Staatsse- Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, kretär, haben in irgendeinem Stadium dieser ver- ich muß zunächst noch einmal in aller Deutlichkeit schiedenen Verfahren Verbrauchergesichtspunkte, darauf hinweisen, daß die Filialnetzanpassung nicht und zwar qualitative Verbrauchergesichtspunkte, vom Bundesminister für Post und Telekommunikation eine Rolle gespielt? Mit wem sind diese festgelegt ausgeht, sondern in der unternehmerischen Zustän- worden, und in welcher Form sind sie umgesetzt digkeit und Verantwortung der Deutschen Bundes- worden? post Postdienst liegt, (Lachen bei der SPD) Pari. Staatssekretär: Frau Kollegin Dr. Paul Laufs, und zwar auf der Grundlage des Postverfassungsge- Blunck, die Kriterien, die in all diesen Verfahren setzes der Postreform I, die 1989 hier in diesem einheitlich angewandt worden sind, sind die Kriterien, Deutschen Bundestag verabschiedet worden ist. die der Deutsche Bundestag am 2. Dezember 1981 beschlossen hat. Sie sind selbstverständlich auch an (Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Warum den Verbraucherwünschen und an dem Infrastruktur- brauchen wir eigentlich einen Postminister auftrag zur Sicherstellung einer ausreichenden und und einen Staatssekretär?) angemessenen Versorgung der Bevölkerung mit Post- Diese Filialnetzanpassung ist in der Tat in der Verant- dienstleistungen orientiert. wortung der Deutschen Bundespost, folgt aber den Kriterien, die der Deutsche Bundestag im Jahre 1981 Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere beschlossen hat. Zusatzfrage der Kollegin Blunck. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin Lieselott Blunck (Uetersen) (SPD): Herr Staatsse- Kastner, da es hier zwei Fragen waren, gibt es für Sie kretär, ich hatte die Frage nach dem qualitativen die Möglichkeit, noch eine Zusatzfrage zu stellen. Die Verbraucherschutz gestellt. Ich kann sehr wohl aner- haben Sie hiermit. kennen, daß es dieser Regierung sehr fern liegt, sich darunter etwas vorstellen zu können. Deswegen Susanne Kastner (SPD): Herr Staatssekretär, kann möchte ich noch einmal fragen, ob Behinderte, Alten- ich Ihrer Antwort jetzt weiterhin entnehmen, daß der heime und Behindertenheime in der Umgebung eines Postminister und damit auch der Herr Staatssekretär Postamtes eine Rolle gespielt haben, ob das einmal in dieser Regierung überflüssig sind? unter diesem Gesichtspunkt geprüft worden ist. Noch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) einmal konkret nachgehakt: Wer hat diese Standards mit Ihnen besprochen? Wen haben Sie da gefragt? Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Den Zusam- menhang mit der ursprünglich gestellten Frage sehe Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, ich nicht, aber ich beantworte Ihre Frage mit einem die Überprüfung des Filialnetzes ist vor Ort von den klaren Nein. Postämtern mit Verwaltung durchgeführt worden. (Lachen bei der SPD) Man hat dies ausdrücklich nicht etwa am grünen Tisch in Bonn gemacht, und selbstverständlich sind auch Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit kommen diese Gesichtspunkte, die Sie hier gerade genannt wir zur nächsten Zusatzfrage des Kollegen Walter haben, in der Prüfung berücksichtigt worden; Kolbow. (Lieselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Ich wußte schon immer, daß Sie von Verbraucherpolitik Walter Kolbow (SPD): Herr Staatssekretär, in keine Ahnung haben!) Bezugnahme auf die Fragen des Kollegen Erler ganz abgesehen davon, daß es eine Vielzahl von möchte ich Sie fragen, ob Sie sich nicht auch des Beispielen gibt, wo die Post alternative Vertriebs- Eindrucks einer Einflußnahme des Herrn Bundespost- wege gerade dort, wo Sie hier einen besonderen ministers mit seinen Amtsmöglichkeiten in seinem Bedarf sehen, eingeführt hat und auch in Zukunft Wahlkreis erwehren können, wenn er nach eindeuti- einführen wird, etwa in Alten- oder in Behinderten- gen Berichterstattungen in der Presse die Postämter heimen. Frauenland und Grombühl in Würzburg wieder der Öffnung zugänglich gemacht hat und zweitens die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich habe jetzt Schließung des Postamtes Grombühl vor sehr vielen noch drei Fragesteller. Ich sage dies nur, damit klar ist, Besuchern eines Sommerfestes bekanntgegeben daß ich alle gesehen habe. Zuerst die Kollegin Kast- hat? ner, dann der Kollege Kolbow und dann der Kollege Kauder. Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Frau Kollegin Kastner. Kolbow, mir sind die Sachverhalte, die Sie vortragen, nicht bekannt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß in Susanne Kastner (SPD): Herr Staatssekretär, darf meiner Kreisstadt ein Postamt und eine Poststelle ich Ihrer Antwort entnehmen, daß es richtig ist, daß geschlossen werden auch behindertengerechte Postämter von Ihnen (Gudrun Weyel [SPD]: Nur eine? — Susanne geschlossen worden sind, und darf ich Ihrer Antwort Kastner [SPD]: Der Postminister macht, was entnehmen, daß dieses der Bundesregierung vom er will!) grünen Tisch aus egal war? — ja, mit vielen Protesten, die damit zusammenhän- (Beifall der Abg. Lieselott Blunck [Uetersen] gen —, daß diese Entscheidung von dem Unterneh- [SPD]) men Deutsche Bundespost Postdienst ge troffen wor- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16015

Parl. Staatssekretär Dr. Paul Laufs den ist und daß ich überhaupt keine Möglichkeit hatte Jochen Feilcke (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, - und auch nicht daran gedacht hatte, hier Einfluß zu darf ich Sie so verstehen, daß Sie die Absicht haben, nehmen. die Postdienste zu sanieren, indem Sie Serviceleistun- gen einschränken und es insofern, also zu einer Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- Attraktivitätsminderung kommt: Wann haben wir frage des Kollegen Kolbow. denn mit der Vorlage zu rechnen, daß der Kunde in Zukunft seine Pakete und B riefe selbst abzuholen hat? Walter Kolbow (SPD): Sind Sie mit mir der Meinung, daß es nicht nur einem guten demokratischen Stil, (Beifall bei der SPD — Heiterkeit) sondern auch einer selbstverständlichen demokrati- schen Pflicht entspricht, wenn man die Parlamentskol- Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege legen, die sich mit um eine solche Entscheidung, wie Feilcke, die Entwicklung und Einführung alternativer sie gefallen ist, bemüht haben, zeitgerecht unterrich- Vertriebswege sind natürlich ein Anliegen, dem wir tet? uns mit großem Interesse zuwenden. Im ländlichen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bereich werden viele hundert Versuche mit Postagen- turen gemacht, im städtischen Bereich noch nicht. Wir Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Ich glaube, daß müssen hier vorsichtig sein, um nicht den verbleiben- alle Anfragen, die aus diesem Hohen Hause an den den Amtsstellen Konkurrenz zu machen. Wir haben in Bundespostminister gerichtet worden sind, diesem Bereich ja eine Beamtenschaft, die weiterhin (Lothar Fischer [Homburg] [SPD]: Scheinhei Arbeit haben muß. Man muß also mit Augenmaß an lig beantwortet wurden!) das Ganze herangehen. Das Ziel ist in der Tat, die Post sofort und der Wahrheit entsprechend beantwortet kundenfreundlicher zu machen, worden sind. (Gudrun Weyel [SPD]: Das ist ja ganz neu!) ( [CDU/CSU]: Dafür ist der die Dienstleistungen in ihrer Qualität noch zu verbes- Wolfgang Bötsch bekannt! Das ist wahr! Das sern macht der Wolfgang Bötsch!) (Susanne Kastner [SPD]: Besonders auf dem Der Briefverkehr hat einen riesigen Umfang ange- Land!) nommen. und verschiedene neue Formen des Angebots zu erproben. Das ist eine Aufgabe, die uns sehr beschäf- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun eine Zusatz- tigt. frage des Kollegen Kauder.

Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, ist Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit sind wir am es richtig, daß die Entscheidung, Postämter zu schlie- Ende der Fragestunde angekommen. Herzlichen ßen, auf eine Entscheidung des sozialdemokratischen Dank, Herr Staatssekretär. Postministers Matthöfer zurückgeht und daß die Kri- terien noch viel enger gewesen sein sollen als die Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: heutigen? Aktuelle Stunde Dr. Paul Laufs, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Haltung der Bundesregierung zur Äußerung Kauder, das kann ich so nicht bestätigen. des Bundeskanzlers über den „kollektiven Freizeitpark Bundesrepublik Deutschland" im (Lachen bei der SPD) Hinblick auf drohende Arbeitslosigkeit in den Die Schließung der Postämter jetzt ist eine Entschei- Regionen Main-Rhön/Schweinfurt, Thürin- dung der Deutschen Bundespost Postdienst ange- gen/Zella Mehlis, Leipzig sichts einer dramatischen Entwicklung, die auf der Die Fraktion der SPD hat diese Aktuelle Stunde einen Seite gekennzeichnet ist durch den Rückgang beantragt. der Verkehrsmengen um etwa ein Drittel und auf der anderen Seite durch die Steigerung der Kosten um Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster 50 %. Da in § 37 des Postverfassungsgesetzes das der Kollege Dr. Uwe Jens. Unternehmen gesetzlich verpflichtet ist, seine Dienst- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ist er denn der leistungen kostendeckend zu erbringen, und da das freizeitpolitische Sprecher der SPD?) Postfilialnetz im Jahr Kosten von 4,5 Milliarden DM verursacht, die nur noch zur Hälfte durch Einnahmen gedeckt sind, war eine Anpassung dieses großen Dr. Uwe Jens (SPD): Frau Präsidentin! Meine Filialnetzes unumgänglich, unabhängig von Ent- Damen und Herren! In seiner Regierungserklärung scheidungen des früheren Ministers Matthöfer. zur Standortdebatte im Deutschen Bundestag äußerte der Bundeskanzler den Vorwurf: Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die letzte Zusatz- ... wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, frage des Kollegen Feilcke, und dann sind wir am daß wir unser Land als einen kollektiven Freizeit- Ende der Fragestunde angekommen. park organisieren. (Susanne Kastner [SPD]: Schade! Herrn (Beifall des Abg. Jochen Feilcke [CDU/CSU] Laufs hätten wir gerne noch ein bißchen — Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Sehr gute befragt!) Rede!) 16016 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Uwe Jens Er fügte hinzu: einmal die Fahrer beim Deutschen Bundestag, was- diese Leute empfinden, wenn sie vom Bundeskanzler Wir müssen in allen Bereichen unserer Ökonomie hören, sie lebten in einem kollektiven Freizeitpark! die notwendigen Voraussetzungen für eine grundlegende Umkehr schaffen. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das hat er nicht gesagt!) Doch was heißt das wirklich konkret? Zu Ende gedacht lautet der Vorschlag von Bundeskanzler Welches Maß an Zynismus will dieser Bundeskanz- Kohl: Die Massenarbeitslosigkeit muß noch weiter ler in der Wirtschaftspoli tik eigentlich noch anschla- steigen. Die Aussage vom „kollektiven Freizeitpark" gen? Der Bundeskanzler hat diese schlimmen und ist deshalb aus unserer Sicht dumm, töricht und unentschuldbaren Worte bei einer Versammlung der absurd. Arbeitgeberverbände vor kurzem wiederholt. Es war (Beifall bei der SPD) also nicht etwa ein Mißgriff: Nein, hier steckt Strategie dahinter. Die ökonomischen Rezepte des Bundeskanzlers — das füge ich aus voller Überzeugung hinzu - sind (Heinz-Adolf Hörsken [CDU/CSU]: So ist außerdem noch naiv. das! Sehr richtig!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das war sehr Der Bundeskanzler ist eifrig dabei, den wich tigsten flach!) Standortfaktor der Bundesrepublik Deutschland, den sozialen Konsens in unserer Gesellschaft, kaputtzure- Was soll denn eigentlich konkret produziert werden? den. Für die Produkte, die wir kennen, sind die Kapazitäten in unserer Wirtschaft nur zu 75 % ausgelastet. Die (Heinz-Adolf Hörsken [CDU/CSU]: Den zer- Massenarbeitslosigkeit hat ein unerträgliches Aus- redet ihr doch!) maß angenommen. Wer in dieser Situa tion mehr Diese Strategie muß möglichst schleunig beendet Arbeit propagiert, muß sagen, wo die Mehrproduktion werden! abbleiben soll. In Wirklichkeit führt der Vorschlag (Beifall bei der SPD) nach Mehrarbeit zwingend zu mehr Arbeitslosig- Wir Sozialdemokraten sind zutiefst davon über- keit. zeugt: Wir werden die Herausforderung der Zukunft (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Quatsch mit nur dann bewältigen, wenn wir mehr Konsens in Soße!) unserer Gesellschaft organisieren. Dazu gehört auf Bundesebene in erster Linie eine konzertierte Aktion. Das wird die sozialdemokratische Partei niemals mit- Die Bundesbank hat einen deutlichen Schritt in Rich- machen. tung Diskontsenkung zu machen. Die Bundesregie- (Beifall bei der SPD) rung muß sich verpflichten, bei einer Wiederbelebung In Wahrheit hätte der Bundeskanzler sagen müssen: der Konjunktur die Neuverschuldung deutlich abzu- Die deutschen Arbeitnehmer sollen in Zukunft mehr senken. arbeiten und erheblich weniger verdienen. Das hätte Wir brauchen aber auch auf regionaler Ebene mehr noch eine gewisse Logik für sich. Genau das steckt Verantwortung für die Wirtschaftsentwicklung. hinter der Aussage des Bundeskanzlers über den kollektiven Freizeitpark. Aber dazu hat er offenbar Die Worte, meine Damen und Herren, vom „kollek- nicht den entsprechenden Mut gehabt. Schließlich ist tiven Freizeitpark" sind unentschuldbar. Diese Worte der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen sind eine Beleidigung und Verhöhnung von Millionen seit 1982 kontinuierlich um 6 % gesunken. Keine von Arbeitslosen und Arbeitnehmern, die in Beruf und Regierung hat den Arbeitnehmern mit Steuern und Tätigkeit sind. Wir fordern den Bundeskanzler auf: Abgaben so tief in die Tasche gegriffen wie die Nehmen Sie diese Worte zurück! Ändern Sie Ihre Regierung Kohl. Die Aussage über den kollektiven wirtschaftspolitische Strategie! Freizeitpark ist und bleibt dumm, töricht und absurd. Die Regierung ist wirklich eifrig dabei, unser L and Ich wiederhole es aus voller Überzeugung. in ein Chaos zu stürzen. Anstatt Arbeitnehmer und (Beifall bei der SPD) Arbeitslose zu diffamieren, organisieren Sie endlich eine vernünftige Strategie zur Schaffung von Beschäf- Dieser Bundeskanzler hat keine Ahnung von den tigung in diesem L ande! wirklichen Arbeitsbedingungen in unserem Lande. Fragen Sie einmal die Bergleute im Ruhrgebiet, die (Beifall bei der SPD) unsere Energieversorgung auch in Krisen sicherge- stellt haben! Sie haben noch nichts davon gemerkt, daß sie in einem kollektiven Freizeitpark leben. Fra- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- gen Sie einmal die Krankenschwestern oder die lege Michael Glos das Wort. Polizeibeamten, die im Schichtdienst Tag und Nacht für unsere Gesundheit oder die öffentliche Sicherheit sorgen, ob sie sich in einem kollektiven Freizeitpark Michael Glos (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine wähnen! sehr verehrten Damen und Herren! Der ansonsten sehr ruhige und sachliche Kollege Jens hat offenbar (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: So ein Schmar etwas in den Tee bekommen, weil er am Beginn so ren!) ganz scharf war und hier mit sehr harten Worten Fragen Sie einmal die Millionen Menschen, die tag versucht hat, den Bundeskanzler in eine Ecke zu täglich hart und fleißig arbeiten, die immer mehr stellen. Angst um ihren Arbeitsplatz haben! Fragen Sie nur (Zuruf von der SPD: Furchtbar!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16017

Michael Glos Dem Bundeskanzler vorwerfen zu wollen, er diskrimi- In einem Freizeitpark entsteht kein Innovations- - niere Arbeitnehmer oder gar Arbeitslose, wie das aus klima. Weil Deutschland aus den meisten Ihren Reihen geschehen ist, ist, wie ich meine, eine Zukunfstechnologien ausgestiegen ist, wird die Unverschämtheit und grenzt an eine Diskriminie- Erwerbslosigkeit zunehmen. rungskampagne (Susanne Kastner [SPD]: Ist das der Reden- (Beifall bei der CDU/CSU) schreiber vom Herrn Bundeskanzler?) bzw. es ist Desinformationsstrategie. Wer in der Vergangenheit zu Arbeitszeitverkürzun- (Zuruf von der SPD: Ihre Tee-Bemerkung gen bei vollem Lohnausgleich gewarnt hat, wurde von war auch außerhalb der guten Kinder Ihnen diffamiert. stube!) (Dr. Gregor Gysi [PDS/Linke Liste]: Zu Richtig ist, daß in den letzten Jahren Freizeitdenken Recht!) bei uns in Deutschland zu sehr in den Vordergrund Bei der Jahresarbeitszeit liegt Deutschland mit gerückt worden ist. Freizeitparks an sich sind ja nichts 1 700 Stunden deutlich hinter den USA mit 1 900 Schlimmes, nichts Verwerfliches. Dort kann jeder Stunden und Japan mit 2 100 Stunden. Wir Deutschen seine Zeit verbringen, das richtet sich sicher auch leisten uns den längsten Jahresurlaub und gehören zu nach seinem Geldbeutel, und sie schaffen zum Teil den Spitzenreitern bei Krankheits- und Fehlzeiten. Arbeitsplätze, Herr Kollege. Und genau diese ungesunde Entwicklung hat der (Beifall bei der F.D.P.) Bundeskanzler zu Recht am 21. Oktober angespro- chen. Wir beanstanden ja Freizeitverhalten nicht pau- schal. So gestehen wir dem saarländischen Minister- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) präsidenten Lafontaine zu, daß er südfranzösischen Meine sehr verehrten Damen und Herren, genauso- Wein und die Toskana in den Mittelpunkt seiner wenig wie Löhne und Gehälter aus einem Geldauto- Betrachtungen rückt maten kommen oder sich Arbeitsplätze durch Demon- (Susanne Kastner [SPD]: Reden Sie doch zum strationen schaffen lassen, lösen überflüssige Debat- Thema! Das ist doch furchtbar!) ten wie diese im Deutschen Bundestag Probleme. und daß er sich vor allen Dingen einen Koch mit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ministerialratsgehalt hält, um seine Freizeit in Bonn zu verschönen. Die Lohntüten der Arbeitnehmer können nur gefüllt und Arbeitsplätze nur erhalten werden, wenn wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — wettbewerbsfähige Unternehmen haben, die ihre Widerspruch bei der SPD) Kosten auf den nationalen und internationalen Märk- Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, ten erwirtschaften. Tatsache ist auch, Der Beschluß des SPD-Präsidiums, aus der Ke rn (Anhaltende Zurufe von der SPD) -kraft auszusteigen und die sichersten Kernkraftwerke der Welt abzuschalten, ist ein aktuelles Beispiel, wie — seien Sie doch wieder ruhig —, daß wir Deutsche man Arbeitsplätze vernichten und Ideologie auf dem zum Freizeitweltmeister geworden sind. Rücken der Arbeitnehmer durchsetzen wi ll, meine (Zuruf von der F.D.P.: Richtig!) sehr verehrten Damen und Herren. Und es ist auch Tatsache, daß in Deutschl and mehr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Arbeitszeit durch Jubiläen und Feiern verloren- Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Es gibt geht — leider keinen Entlohnungspark!) (Susanne Kastner [SPD]: Das schicken wir Die Tarifpartner haben die Lohnpolitik zu stark mal an die Arbeitnehmer von Schweinfurt!) ausgereizt. Die Lohnkosten je Arbeitsstunde belaufen woran sich auch Politiker und Beamte beteiligen — als sich in der westdeutschen Wirtschaft auf 42 DM, in durch Streiks. Japan auf 30 DM, in Frankreich auf 27,80 DM, in den USA auf 24,80 DM. Wenn der Bundeskanzler jetzt (Zurufe von der F.D.P.: Zuhören! — Eduard dazu aufruft, diese Entwicklung zu stoppen und das Oswald [CDU/CSU]: Frau Präsidentin, m an arbeitszeitpolitische Ruder herumzureißen, dann ist hört ja nichts vom Redner!) das kein Affront. Im Gegenteil. Nun kann man sich freuen, daß bei uns im Lande so Ich bedauere, daß die Region Schweinfurt und die wenig gestreikt wird, nur Konflikte über die Lohnhöhe Region Thüringen, die von Arbeitslosigkeit auch aus und die Lohnkosten sind meiner Ansicht nach nicht strukturellen Gründen sehr stark be troffen sind, als sachgerecht ausgetragen worden. Begründung für diese Aktuelle Stunde herhalten (Anhaltende lebhafte Zurufe von der SPD) müssen. Ich nutze die Gelegenheit der Bundesregie- rung, vertreten durch Bundesminister Bohl, sehr zu Franz Thoma — Frau Präsidentin, ich bitte, zumin- danken, daß er in Schweinfurt zugesagt hat, die dest die Zeit, in der gestört wird, nicht auf meine Auswirkungen des Strukturwandels nach besten Redezeit anzurechnen — schreibt in der „Süddeut- Kräften sozial abzufedern. schen Zeitung" vom 24. Oktober unter der Überschrift „Die deutsche Krankheit" — jetzt hören Sie bitte (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der zu: SPD) 16018 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Michael Glos Bedauerlicherweise betätigt sich die SPD vor Ort als Wir müssen insbesondere unseren kollektiven Vor-- Bremser. So wird dort z. B. der geplante Bau der A 81 schriftenpark entrümpeln, der Investitionen behin- von Franken in den thüringischen Wirtschaftsraum dert. torpediert. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Frau Präsidentin, ich hätte gerne noch all das Wir müssen neuen Technologien eine Entwicklungs- aufgezählt, was der bayerische Ministerpräsident chance geben. Wir müssen die Privatisierung der Stoiber für Schweinfurt zugesagt und auf den Weg Staatsunternehmen vorantreiben, die Flexibilisierung gebracht hat. Es ist so viel, daß es viele Seiten füllt. Ich der Maschinenlaufzeiten, die Verkürzung von Schul- weiß, Frau Präsidentin, es ist auf Grund der Geschäfts- und Abschlußzeiten und Studienzeiten und all diese ordnung sehr schwer, das zu Protokoll zu geben. Da Dinge mehr. Das sind Maßnahmen, die im Interesse Sie aus Bayern sind und wissen, was Herr Stoiber für des Standortes Deutschland dringend geboten sind. Bayern tut, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie prüfen könnten, ob wir es ausnahmsweise zu Protokoll Wenn die SPD hier bei fast all diesen Fragen immer nehmen können. Ansonsten bedaure ich, daß die die Position des Beharrens auf dem alten Besitzstands Arbeitslosen in Schweinfurt und die Sorge um den denken während der letzten 40 Jahre einfordert und Arbeitsplatz für ein billiges parteipolitisches Süpp- wenn immer dann als einziges Argument die Forde- chen, wie Sie es heute kochen wollten, mißbraucht rung nach mehr Geld kommt, ohne zu sagen, woher worden sind. dieses Geld eigentlich genommen werden soll, dann Danke schön. muß ich sagen: Fehlanzeige bei der SPD bei der Bewältigung der Zukunftsaufgaben, vor denen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) stehen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, es Und wehe, wenn einer von Ihnen, wie Oskar Lafon- tut mir fürchterlich leid. Ich weiß natürlich, daß Ihnen taine oder der niedersächsische Ministerpräsident Parteipolitik vollkommen fremd ist, aber ich kann Schröder, einmal Lockerungsübungen macht. Sie dennoch dies nicht zu Protokoll nehmen, denn es hätte werden gnadenlos zurückgepfiffen und mit großem die fünf Minuten, auch wenn Sie gar nichts anderes Getöse niedergemacht. Das ist die Realität innerhalb gesagt hätten, überstiegen. Insoweit geht das nicht. der SPD. (Michael Glos [CDU/CSU]: Dann lesen Sie es (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sich wenigstens mal durch!) — Zuruf von der SPD: Woher wissen Sie — Ich freue mich immer, wenn mir Kollegen interes- das?) sante Lektüre empfehlen. Herzlichen Dank, Herr — Ich kann doch Zeitung lesen. Ich weiß doch, wie Kollege Glos. sich Herr Schröder gestern auf Weisung Ihres Präsidi- Nun kommt der Kollege Hermann Rind zu Wort, und ums hin verhalten mußte. zwar für fünf Minuten. (Zuruf von der SPD: Die Realität in unserem Land können Sie nicht erkennen!) Hermann Rind (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht um das Kolleginnen und Kollegen! Umsteuern des Staatsschiffs, das über Jahrzehnte ... wir können die Zukunft nicht dadurch sichern, hinweg gut Kurs gehalten hat. Aber die See, das daß wir unser Land als einen kollektiven Freizeit- Wetter hat sich geändert, und da müssen ein Kapitän park organisieren. Wir müssen in allen Bereichen und eine Mannschaft wie die der Koalition bereit zum unserer Ökonomie die notwendigen Vorausset- Umsteuern sein. Dazu bekennen wir uns. zungen für eine grundlegende Umkehr schaf- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) fen. Ich lebe in einer Gegend — ich bin do rt auch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) geboren —, die von dieser Krise besonders schwer Ich habe das noch einmal bewußt — wie Sie, Herr betroffen ist. Ich spreche von der in Ihrem Antrag Kollege Jens — vorgelesen, weil ich glaube, daß Ihre angesprochenen Region Schweinfurt. Sie verfügt Betonung, die Akzente, die Sie gesetzt haben, mit dem über drei Großunternehmen, die Zulieferbetriebe für Wehleiden von den schwer arbeitenden Menschen, die Automobilindustrie und den Maschinenbau sind. die überhaupt nicht gemeint sind — das wissen Sie Es fehlen weitgehend eine mittelständische Struktur genauso gut wie ich —, nicht richtig sind. und insbesondere Be triebe in anderen Wirtschafts- zweigen, die Schutz vor Krisenanfälligkeit gewähren (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) könnten. Der Prozeß des Aufholens jahrzehntelanger Wenn wir davon sprechen, daß Deutschland als Versäumnisse in dieser Region — dies gilt auch für Industrienation in einer Strukturkrise steckt, wie andere Regionen — in Zeiten einer wirtschaftlichen viele andere Industrienationen auch, dann ist eine Rezession und bei von mir eingangs geschilderten, Umkehr notwendig, um der Herausforderung gerecht noch nicht geänderten, sondern erst zu ändernden zu werden, die aus Mittel- und Osteuropa, aus dem Rahmenbedingungen wird zumindest mehrere Jahre südostasiatischen Raum kommen und wo immer auf benötigen. In der Zwischenzeit bemühen wir uns, den der Welt sich Länder aufmachen, in Wettbewerb mit Niedergang der Region für die Menschen sozial alten Industrienationen zu treten, um dort zu beste- abzufedern und mit gezielten Maßnahmen des L an hen. Da darf es keine Tabus geben. Wir müssen -des und den Komplementärmitteln des Bundes den entrümpeln. Unternehmen in der Region, die alle in den Sog der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16019

Hermann Rind Krise zu geraten drohen, das Überleben zu ermögli- zugenommen hat, im Grunde genommen an die- chen und den Bestand der bestehenden Arbeitsplätze Grenze des psychisch und physisch Erträglichen her- zu sichern und neue zu schaffen. anreicht. Wir würden jedoch den Menschen in Ost- wie in Wenn Sie dann diesen Menschen sagen, daß sie Westdeutschland etwas vormachen, wenn wir so eigentlich in einem kollektiven Freizeitpark leben, ist täten, als ob der Staat die dringend benötigten das eine Verhöhnung, ist das zynisch und ist auch Arbeitsplätze schaffen könnte. beleidigend. Im übrigen bezeichnen Sie als große (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Patrioten damit das ganze deutsche Volk als faul. — Susanne Kastner [SPD]: Aber Rahmenbe Auch das ist nicht besonders sinnreich, zumindest dingungen kann er schaffen!) nicht im Sinne Ihrer Ideologie. — Frau Kollegin Kastner, genau bei den Rahmenbe- Ich füge hinzu, daß im übrigen die Zahlen gar nicht dingungen verweigern Sie sich. Ich habe Ihnen in stimmen. Sie sollten sich das alles einmal ganz genau dieser kurzen Rede heute Beispiele dazu genannt. ansehen. Sie argumentieren ausschließlich mit der Der Staat kann ein Stück weit bei der sozialen Arbeitszeit. Sie vergessen Schichtsystem, Sie verges- Abfederung helfen, er kann ein Stück weit den sen vieles andere, was dazugehört. Unternehmen helfen, die Probleme zu meistern. Aber (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das vergißt hier Arbeitsplätze schaffen können nur die Unternehmen keiner!) unter entsprechenden Rahmenbedingungen. Dafür setzen wir uns ein, dem gilt unsere Arbeit. Ich glaube, Aber Sie vergessen auch die wirklichen Entwicklun- wir haben hier den richtigen Kurs eingeschlagen. Das gen in der Wirtschaft dieser Bundesrepublik Deutsch- Wort des Kanzlers, in diesem Sinne des Umlenkens, land. des Umsteuerns verstanden, ist genau das richtige Von 1970 bis 1972 hat die Produktivität in der Wort zur rechten Zeit gewesen. Bundesrepublik Deutschland um 85 % zugenommen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Nun frage ich Sie: Wer hat das eigentlich erarbeitet? (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die Produktion hat in dieser Zeit um 70 % zugenom- men. Wissen Sie, daß von 1980 bis 1992 die Nettoge- winne in der Bundesrepublik um 132,01 % gestiegen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster sind, die Nettolöhne dagegen nur um 47,5 %? Wer hat spricht nun Kollege Dr. Gregor Gysi. denn eigentlich diese Nettogewinne erarbeitet? Jene, (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Freizeit statt denen Sie vorwerfen, daß sie in einem Freizeitpark Sozialismus!) leben würden? Das ist wirklich ziemlich ungeheuer- lich.

Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Der Anteil der Löhne der abhängig Beschäftigten ist Meine Damen und Herren! Wenn es schon um Zitate von über 70 % am Gesamteinkommen inzwischen auf geht, muß man schon darauf hinweisen, daß der 67 % heruntergegangen, ist wieder auf das Niveau der Bundeskanzler von einer Umkehr sprach. Umkehr 60er Jahre zurückgefallen. bedeutet aber, daß wir den „kollektiven Freizeitpark Ob nun Steuern, ob Gewinne, ob Löhne, ob Lohn- Bundesrepublik Deutschland" schon haben; sonst nebenkosten — das alles wird von den Arbeitnehme- müßte man keine Umkehr befürworten. rinnen und Arbeitnehmern erarbeitet, die lediglich Wer in der Situation, in der sich unser Land befindet, darum streiten, welchen Anteil sie von dem bekom- von einem „kollektiven Freizeitpark Bundesrepublik men, was sie selber an Wertschöpfung leisten. Deutschland" spricht, beleidigt meines Erachtens vor- Angesichts dieser Zahlen den Beschäftigten vorzu- sätzlich Millionen Arbeitslose und Millionen Arbeit- werfen, daß sie in einem Freizeitpark lebten, ist nehmerinnen und Arbeitnehmer. wirklich ungeheuerlich und verkennt im übrigen die (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von Realitäten. der CDU/CSU: Erst einmal sagen, was er gesagt hat! — Weitere Zurufe von der CDU/ Dann komme ich einmal zu den Arbeitslosen: Wir CSU) rechnen nun mit 5 Millionen Arbeitslosen. Haben Sie sich einmal überlegt, was ein Arbeitsloser — ob in Ost — Ich werde Ihnen das gleich begründen. — Ich oder West — eigentlich dabei empfinden muß, wenn würde gern einmal wissen, wann der Bundeskanzler ihm vorgeworfen wird, in einem kollektiven Freizeit- und wann Sie das letztemal z. B. in einem Kohlerevier park Bundesrepublik Deutschland zu leben? waren, wann Sie das letztemal in einem Stahlwerk waren und warm Sie das letztemal vielleicht in einer (Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört! Das tut Textilfabrik waren und sich einmal angesehen haben, doch keiner!) unter welchem Leistungsdruck die Frauen dort arbei- — Aber Sie haben sich an die gesamte Bevölkerung ten. gewandt. Da können Sie doch 5 Millionen Arbeitslose, (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei die wir im nächsten Jahr haben werden, nicht aus- Abgeordneten der SPD) klammern. Den vielen Menschen, die gegen ihren Ich sage Ihnen noch eines. Durch die Arbeitszeit- Willen in den Vorruhestand geschickt werden, und verkürzung gibt es tatsächlich ein gewisses Problem. vielen anderen mehr sagen Sie, sie lebten in einem Dieses Problem besteht darin, daß der Leistungsdruck kollektiven Freizeitpark. Die fragen Sie, wann sie innerhalb der verbliebenen Arbeitszeit beachtlich endlich arbeiten dürfen, aber Sie werfen ihnen vor, 16020 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Gregor Gysi daß sie nicht arbeiten. Das ist doch der Gipfel an weit hier in der Debatte an den Herrn Bundeskanzler Zynismus. Ich muß das so deutlich formulieren. gerichtet wurden, völlig absurd und mit Entschieden- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei heit zurückzuweisen. Abgeordneten der SPD — Zuruf von der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) CDU/CSU: Wirklichkeitsverdrängung erster Güte!) Was Sie angeht, Herr Kollege Gysi, wäre das alles, was Sie hier vortragen, sehr viel glaubwürdiger, wenn Ich habe die Reaktion auch auf diesen Beg riff im Sie vor Jahr und Tag schon gegen den Freizeitpark Osten schon bei Veranstaltungen gespürt. Ich kann Wandlitz mit gleicher Entschiedenheit gestritten hät- Ihnen nur sagen: Die Leute sind zum Teil richtig ten. betroffen. Sie fühlen sich wirklich beleidigt. Sie sagen: Ich renne jeden Tag zum Arbeitsamt, ich versuche (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) alles, um irgendeine Tätigkeit zu bekommen, und Der Bundeskanzler hat am 21. Oktober in dieser dann wirft mir diese Regierung mit ihrem Kanzler an Debatte, nachdem er über die Arbeitszeit und den der Spitze vor, daß ich mich in einem kollektiven Urlaub in unserem Land vorgetragen hatte, wörtlich Freizeitpark aufhalte. Das ist eine tiefe Demüti- gesagt: gung. Dennoch scheint es für viele nichts Wichtigeres zu Es kommt hinzu, daß die Freizeiteinrichtungen geben, als über mehr Freizeit nachzudenken. zumindest im Osten — jetzt beginnt es auch im Westen — kollektiv schließen. Die Jugendklubs wer- Meine Damen und Herren, wir können die den geschlossen, die Kulturhäuser werden geschlos- Zukunft nicht dadurch sichern, daß wir unser sen. Ich weiß gar nicht, was Sie unter einem „kollek- Land als einen kollektiven Freizeitpark organi- tiven Freizeitpark" verstehen, wahrscheinlich irgend- sieren. eine Art Rummel. Aber da gab es schon sinnvollere Das war das, was der Bundeskanzler gesagt hat, das Möglichkeiten, seine Freizeit zu verbringen, übrigens war der Ansatzpunkt. Er hat nicht von Arbeitslosen auch mit Weiterbildung. Alle diese Möglichkeiten gesprochen, er hat nicht von den leistungsbereiten sind reduziert worden. Es stimmt also auch in dieser Arbeitnehmern gesprochen, sondern davon, daß Hinsicht nicht. viele, die nach mehr Freizeit drängen, diesen für den Nein, in diesem Lande wird nicht zuwenig gearbei- Wettbewerb so wichtigen Sachverhalt bedenken soll- tet, sondern das Hauptproblem besteht darin, daß in ten. diesem Lande die finanziellen Mittel viel zu ungerecht Daß die Empörung der SPD mit einer gewissen verteilt werden. Trauen Sie sich doch endlich einmal Verzögerung auftritt, belegen folgende Tatbestände. an die 700 Milliarden DM vagabundierendes Kapital Nach dem Bundeskanzler hat Ministerpräsident heran. Damit könnten Sie Arbeitsplätze schaffen. Lafontaine gesprochen. Wenn das das zentrale, epo- Schließen Sie nicht die Postämter, sondern akzep- chale Ereignis für diesen Deutschen Bundestag gewe- tieren Sie, daß auch in einem Dorf ein Postamt sein sen wäre, hätte man annehmen dürfen, daß er sich muß! Auch das schafft Arbeitsplätze und ist kunden- gleich zu Beginn darüber echauffierte. freundlich. (Zuruf von der SPD: Sehr spitzfindig!) (Beifall bei der PDS/Linke Liste) — Nein, Herr Ministerpräsident Lafontaine hat von Ein Postamt im Dorf rechnet sich nie; das ist wahr. Bahnreform, von Genehmigungsverfahren, vom Aber nicht alles im Leben muß sich rechnen: weder die Hochschulbau, von vielem anderen gesprochen. Graphik noch der Dokumentarfilm, noch das Postamt. Das sind wichtige Grundsätze. (Zuruf des Abg. Walter Kolbow [SPD]) Hören Sie auf, die Bevölkerung zu beleidigen! — Entschuldigen Sie, ich lese im Protokoll z. B. nicht, Machen Sie lieber eine Wirtschaftspoli tik, die tatsäch- Herr Kolbow, daß Sie, als der Bundeskanzler vom lich zu Arbeitsplätzen führt, anstatt die Arbeitslosen Freizeitpark gesprochen hat, Widerspruch angemel- und die Arbeitenden in diesem Lande zu verunglimp- det haben. Keiner, kein einziger. Das ist völlig unter- fen! gegangen. Danke schön. (Zuruf von der SPD: Unerhört!) (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei — Es ist doch etwas ganz anderes. Im Ollenhauerhaus Abgeordneten der SPD) haben Sie überlegt: Was können wir jetzt los treten, damit wir eine Kampagne haben? Das ist die Wahr- heit. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat Herr Bundesminister Friedrich Bohl. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Was hat Herr Lafontaine gesagt? Er hat gesagt, der ri Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf- Beg ff „kollektiver Freizeitpark" könne auch mißver- gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Frau Präsi- standen werden. Ich will es nicht polemisch gegen Sie dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die wenden. Selbst Herr Lafontaine — das muß m an sich leistungsstarke deutsche Wirtschaft ist nicht denkbar vorstellen — spricht allenfalls davon, daß es mißver- ohne die Einsatzbereitschaft und den Leistungswillen ständlich sein könnte. Dafür gibt es also gar nichts der Arbeitnehmer in unserem Lande. Die Bundesre- her. gierung achtet diese großartige Leistung unserer Ich muß Sie auf folgendes hinweisen. In seiner Arbeitnehmer. Deshalb sind alle Vorwürfe, die inso- Erklärung vom 25. März dieses Jahres vor diesem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16021

Bundesminister Friedrich Bohl Hohen Hause hat der Herr Bundeskanzler ebenfalls Dann kommt hinzu, was hier schon zum Energie- den Begriff des „kollektiven Freizeitparks" gewählt konsens gesagt wurde. Da sind Sie auch nicht in der und gesagt: Lage, das zu tun, was für die 90er Jahre geboten ist. Bei Ihnen macht ja jeder, was er will. Wahr ist auch, daß sich eine erfolgreiche Indu- strienation nicht als kollektiver Freizeitpark orga- (Widerspruch bei der SPD) nisieren läßt. Bei Ihnen, Herr Kolbow, macht jeder, was er will. Von März bis jetzt: kein Ton. Was steckt dahinter? Sie Insofern ist der Fraktionssaal der SPD der dichtbesie- suchen nur Wahlkampfmunition. Das ist der Punkt. deltste Freizeitpark der Republik. Das ist die Wahr- heit, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Das ist unglaubwürdig bis do rt hinaus! der F.D.P. — Widerspruch bei der SPD) Meine Damen und Herren, daß es unglaubwürdig Nun muß ich Ihnen folgendes sagen: Die Konkur- ist, hat man auch daran gesehen, wie lange Sie renz schläft nicht, und der inte rnationale Wettbewerb gebraucht haben, um die genaue Formulierung für honoriert keine guten Absichten oder schöne Wo rte. Ihre Aktuelle Stunde zu finden. Wir haben im Laufe Noch haben wir eine wirtschaftlich starke Stellung. der Woche ständig Wasserstandsmeldungen gehabt. Wer sich aber auf den Lorbeeren der Vergangenheit Zuerst war Schweinfurt dabei, dann kam noch die ausruht, hat die Zukunft schon verloren. Region Thüringen/Zella Mehlis, dann kam noch Leip- Wir sind kein Zwergstaat, der mit Nischenproduk- zig, dann wurde Leipzig weggenommen, dann kam ten überleben kann. Eine Industrienation mit 80 Mil- dazu, jetzt ist Bremen wieder weg. Sie wollen lionen Einwohnern ist nur als Produktionsstandort doch nur Anlässe schaffen, um Stunk zu machen. Das denkbar. Grundvoraussetzung ist hohe Leistungsbe- müssen wir der Bevölkerung deutlich sagen. reitschaft, die den Deutschen in der Vergangenheit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nie gefehlt hat. Das ist das Entscheidende. Darauf setzen wir. Darauf werden wir bauen. Das ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist, daß in unserem Lande — Gott sei Dank, sage ich — viele Menschen Wenn sich die SPD weiterhin in die Ecke manö- Freizeit haben. Das wollen wir auch. vriert, ist das ihr Problem. Die Regierungsfähigkeit hat sie sich damit selbst abgesprochen. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Wir müssen natürlich auch die Voraussetzungen dafür Vielen Dank. schaffen, daß wir diesen Wohlstand und diese Freizeit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) weiter genießen können. Darum geht es. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- Gutes Image ist heute mit einem schnellen Verfalls- lege Ottmar Schreiner das Wort. datum versehen. Deshalb geht es darum, daß wir (Zuruf von der CDU/CSU: Der versteht von Deutschland ni c h t als kollektiven Freizeitpark orga- Freizeit nichts!) nisieren, sondern als leistungsbereite und innova- tionsfähige Gesellschaft. Ich glaube, hieraus abzulei- ten, dies solle die Arbeitslosen als Angehörige eines Freizeitparks diffamieren, ist wirklich bösartig. Das ist Ottmar Schreiner (SPD):. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es lohnt wenig, sich mit ein Produkt abstruser Phantasie. Das muß hier mit dem Kollegen Glos auseinanderzusetzen. Sie sind ja Deutlichkeit gesagt werden. Mühlenbesitzer. Wenn Sie in Ihrer Mühle so viel (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) leeres Stroh dreschen wie hier in den Parlamentsde- Wir lassen das nicht zu. batten, ist mir angst um die Wettbewerbsfähigkeit Ihrer Mühle, Herr Glos. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Zuruf Sie, meine Damen und Herren von der SPD, stem- von der CDU/CSU: Der weiß nicht, daß in der men sich gegen alle Veränderungen. Das ist Ihr Mühle nicht gedroschen wird! — Michael Problem. Sie nehmen die wirtschaftlichen Grundbe- Glos [CDU/CSU]: Der Mann ist schön dingungen, unter denen wir leben, nicht zur Kenntnis. dumm!) Alles, was zur Verbesserung der Wettbewerbsfähig- Nun zum Kollegen Bohl. Kollege Bohl hat soeben keit der deutschen Wirtschaft, auf die wir dringend versucht, hier zu erläutern, es sei dem Bundeskanzler angewiesen sind, unternommen werden soll, wird von in Wahrheit um die vielen gegangen — — Ihnen torpediert. (Zurufe von der CDU/CSU) Wie ist es denn z. B. mit dem Gentechnikgesetz? Da haben wir doch ein klassisches Beispiel. Alle Welt — Können Sie diesen Haufen einmal zur Ordnung weiß, daß das Gentechnikgesetz sein muß, damit die bringen, Frau Präsidentin? Man ist ja erstaunlich Genehmigungsverfahren in der chemischen und der aufgemuntert. pharmazeutischen Indust rie verbessert, verkürzt und (Zuruf von der CDU/CSU: Wie kann der hier beschleunigt werden. Und was machen Sie im Bun- sprechen, wenn er von Produktion keine desrat zum Beispiel? Sie legen sich quer. Sie haben die Ahnung hat!) Zeichen der Zeit nicht erkannt. Das ist das Problem. Kollege Bohl hat gesagt, der Kanzler habe eigent- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lich diejenigen im Blick gehabt, die nach mehr Frei- 16022 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Ottmar Schreiner zeit drängen. Nun frage ich Sie: Wer drängt eigentlich selfaktor Arbeitszeit mit einzusetzen, um Beschäfti- nach mehr Freizeit? gung zu schaffen, Der Kanzler müßte spätestens 1985, als er die (Jürgen Koppeln [F.D.P.]: Das stimmt doch damaligen Bemühungen der Gewerkschaften, die gar nicht!) Arbeitszeiten zu reduzieren, als dumm und töricht der verhält sich so unverantwo rtlich, wie man sich denunziert hatte, oder spätestens in den Jahren unverantwortlicher nicht verhalten kann. danach gemerkt haben, daß die Arbeitszeitverkür- (Beifall bei der SPD) zungen, die die Gewerkschaften durchgesetzt hatten, der einzige wirkliche beschäftigungspolitische Bei- Wir brauchen eine Reihe von Bausteinen zur Neu- trag der gesamten 80er Jahre gewesen sind. verteilung der Arbeitszeit. Wir brauchen den Aus- gleich von Überstunden durch mehr Freizeit — rein (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der rechnerisches Volumen: eine Million Arbeitsplätze. CDU/CSU) (Hermann Rind [F.D.P.]: Bei vollem Lohnaus- Wir hätten heute viele hunderttausend Arbeitslose gleich?) mehr, wenn wir das gleiche Wochenarbeitszeitvolu- — Es käme für die Unternehmen viel billiger, wenn men hätten, wie wir es 1984 noch hatten. Insoweit sie, anstatt finanzielle Zuschläge zu zahlen, Freizeit- besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Neu- ausgleich in einem angemessenen Zeitraum organi- gestaltung der Arbeitszeit und den Chancen der sieren würden. Haben Sie das nicht kapiert? Arbeitslosen, wieder Beschäftigung zu finden. (Hermann Rind [F.D.P.]: Ich kapiere, daß Selbst die EG-Kommission hat in den letzten Tagen Fachkräfte fehlen!) mehrfach darauf hingewiesen. Die Bundesregierung Arbeitszeitverkürzungen dienen den Unternehmen, in Gestalt des Bundeskanzlers hat den Kopenhage- weil sie die Produktivität steigern. Ich könnte Ihnen nern EG-Ratsbeschlüssen vom Juni 1993 zugestimmt. vieles andere mehr nennen. Dort heißt es: „Produktivitätszuwächse sollten künftig Diejenigen, die sich gegen weitere Arbeitszeitver- zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Schaf- kürzungen wehren, haben in Wahrheit überhaupt fung neuer Arbeitsplätze eingesetzt werden. Dieses kein Interesse an einer wirklichen Bekämpfung der dynamische Konzept beeinhaltet, daß durch die Ver- Massenarbeitslosigkeit. teilung der Arbeit zusätzliche Arbeitsplätze geschaf- fen werden. " So die Kopenhagener Ratsbeschlüsse (Jürgen Koppeln [F.D.P.]: Unsinn!) mit Zustimmung des sehr verehrten Herrn Bundes- Sie haben kein Interesse an einer Verbesserung der kanzlers. Arbeitssituation. Das, was die Bundesregierung in Gestalt dieses Veteranenclubs täglich der Öffentlich- Ja, was gilt denn jetzt eigentlich? Das, was in keit präsentiert, erinnert an die Vorstellung, die Dino- Kopenhagen vereinbart wurde, oder die anschließend saurier im Museum König — einige Meter weit von hier öffentlich vorgenommene Denunziation einer hier entfernt — hätten wieder Fleisch und Blut ange- dringend notwendigen Neuverteilung der Arbeitszeit, nommen und sich in diese Bundesregierung einge- um mehr Beschäftigung zu schaffen. Was gilt eigent- schlichen, um Rezepte zu verkünden, die vielleicht lich? vor 80 Jahren noch wirksam gewesen wären. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Da müßte die (Beifall bei der SPD) SPD doch mal Beifall klatschen!) Ein weiterer Punkt. Ohne eine gerechtere Vertei- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Schrei- lung von Arbeit sind die Beschäftigungsprobleme ner, Sie sind am Ende Ihrer Redezeit angekommen. nicht lösbar. Meinen Sie wirklich, die IG Bergbau würde aus reiner Freude die Vier-Tage-Woche vor- Ottmar Schreiner (SPD): Diese Bundesregierung schlagen, wenn nicht die tiefgreifende Sorge um erinnert einen immer mehr an eine Mischung aus Massenentlassungen im Bergbau das zentrale Motiv Budalas und Glupans. wäre? Wieso kann der Bundeskanzler vor diesem Ich will zum Schluß sagen: In der heutigen Ausgabe Hintergrund all diese Bemühungen, die davon der „Zeit" heißt es — — geprägt sind, Massenarbeitslosigkeit nicht noch wei- ter dramatisch steigen zu lassen, öffentlich als „Frei- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege zeitpark" denunzieren? Wie ist das in dieser Republik Schreiner, Sie sind am Ende Ihrer Redezeit angekom- möglich? men. Ich habe vor mir einen Zeitungsartikel aus dem „Handelsblatt" liegen. Überschrift: „Beten für den Ottmar Schreiner (SPD): Darf ich den Satz noch zu Arbeitsvertrag". Ich zitiere Ihnen die ersten Sätze: Ende führen? Die junge Frau, eine alleinerziehende Mutter, die ihren Namen nicht nennen wollte, schrie fast: Ich Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ja. bete jeden Tag, daß ich endlich wieder Arbeit habe. Sie gehört zu den gegenwärtig etwa 13 000 Ottmar Schreiner (SPD): In der „Zeit" heißt es —ich Bürgern Leipzigs, die auf Sozialhilfe angewiesen zitiere —: sind. Der frühere Bonner Wirtschaftsstaatssekretär Wer vor diesem Hintergrund öffentlich Stimmung Otto Schlecht macht gegen diejenigen, die versuchen, den Schlüs- — der Ihnen ein Begriff sein müßte — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16023

Ottmar Schreiner hat in seiner „Ethik der sozialen Marktwirtschaft" Und nun fällt für Sie von der SPD eine Welt zusammen.- geschrieben: Sie gründet sich auch auf die Das ist die tatsächliche Situation. Sie haben sich viel Akzeptanz einer Wirtschaftsordnung, die soziale zu spät an der Standortdebatte beteiligt Sicherheit, Abbau von sozialen Schranken sowie — Verteilungsgerechtigkeit voraussetzt. Nur wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Walter Kolbow [SPD]: Sie ruinieren Deutsch- der soziale Konsens zerbricht, ist das Modell land, und wir sind schuld!) Deutschland am Ende. Sozialer Konsens ist wichtiger als diese Bundesregie- und gehen jetzt in diese für unser Land so entschei- rung. Wir brauchen eine neue Regierung. dende Zeit ohne jede Antwort auf die neuen Fragen hinein. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Zukunft kann nicht ständig auf Parteibeschlüsse Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat der SPD warten. der Kollege Hans-Joachim Fuchtel das Wort. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Leider wahr!) Hier steht auf dem Spiel, ob wir als Wirtschaftsstandort Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Frau Präsiden- künftig unter „Ferner liefen" rangieren oder unsere tin! Meine Damen und Herren! Die SPD wäre nicht die bisherige Position wahren können, die unter der Toskana-Fraktion, würde sie beim Thema „Freizeit- Regierungsverantwortung von CDU, CSU und F.D.P. park" nicht unruhig werden. die beste soziale Absicherung für die Hilfsbedürftigen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) in unserem Land gebracht hat. Meine Damen und Herren, Sie sollten trotzdem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — darauf verzichten, ganz bewußt und vorsätzlich völlig Lachen bei der SPD) unhaltbare und falsche Vorwürfe an die Adresse des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschl and zu Eng damit zusammen hängt für Sie ein zweites richten. Das Gemeine an dieser Art und Weise ist, daß Problem: Ihnen fehlt jede politische Führung. Sie Sie dazu noch das Schicksal der Arbeitslosen und der bieten von Woche zu Woche neue Beispiele dafür: bei Hilfsbedürftigen einbeziehen. dem Gerangel um UN mit Klose, bei der Energiepoli- tik mit Schröder; (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Uwe Jens [SPD]: Sie diffamieren dies, und wir sind (Zurufe von der SPD) schuld! — Weiterer Zuruf von der SPD: Aus vorgestern wurde bei der Pflegeversicherung selbst gerechnet Sie sagen dies!) Scharping Opfer der parteitaktischen Notbremse. — Sie mixen die Dinge zusammen, nicht wir. Das muß man hier einmal ganz deutlich festhalten. Was hier (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — heute von Ihnen veranstaltet wird, könnte genausogut Susanne Kastner [SPD]: Vor der eigenen Tür in einem Lehrbuch der linken Agitation stehen. Dies kehren!) gilt auch für das, was der Kollege Schreiner gerade Meine Damen und Herren von der SPD, Ihre Füh- gesagt hat. rungscrew besteht inzwischen aus Spagatkünstlern, Man muß sich fragen, warum Sie das eigentlich die vor allem damit beschäftigt sind, Maßnahmen zu machen. Der erste Grund: Es ist meiner Meinung nach ergreifen, damit die politische Hose nicht platzt. eine latente Verzweiflungsaktion. Sie werden jetzt nämlich von dem eingeholt, was Sie den Menschen (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und alles erzählt haben: Man brauche die Veränderungen der F.D.P. — Renate Rennebach [SPD]: Pas- in der Welt nicht zur Kenntnis zu nehmen, und man sen Sie auf Ihre eigene Hose auf!) könne die Besitzstände ohne Ausnahme wie eine Bei Lafontaine war dies bezüglich seiner Äußerungen heilige Kuh hüten. Richtung Ostdeutschland bereits der Fall. (Susanne Kastner [SPD]: So ein Quatsch!) (Zurufe von der SPD) Dies ging so lange gut, solange wir nicht Arbeitsplätze statt Produkte exportiert haben. Wir haben lange Davon mit solchem Scheintheater abzulenken ist Ihr gewarnt, daß es einmal so weit kommen könnte. Sie eigentliches, drittes Ziel. Aber wir lassen Sie nicht aus haben es aber nicht hören wollen. der Verantwortung. Außerdem ist jetzt die Zeit gekommen, wo auch Sie (Ottmar Schreiner [SPD]: Völlig tote Hose bei der viel zu hohen Staatsverschuldung nicht mehr Ihnen!) ausweichen können. Es darf nicht vervespert werden, was die vor uns unter (Zuruf von der SPD: Wer hat die zu verant größter Entbehrung aufgebaut haben. worten?) Wir nehmen die Probleme der Arbeitslosen, der Gleichzeitig ist den Sozialdemokraten als den Jün- Familien, der Sozialhilfeempfänger ernst. gern der Demoskopie klar, daß keine Gruppe bei sich selbst Einbußen oder Belastungen hinnehmen (Zuruf von der SPD: Das haben wir erst eben möchte. wieder gesehen, wie Sie sich bedienen!) (Susanne Kastner [SPD]: Aber die Arbeitslo Unter Bundeskanzler Helmut Kohl wurde z. B. soviel sen?) Geld für aktive Arbeitsmarktpolitik eingesetzt, wie 16024 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Hans-Joachim Fuchtel Sie in Ihrer Regierungszeit nicht einmal zu träumen Ihnen die Betriebe aufzählen und Ihnen sagen, wie- wagten. dramatisch dort die Beschäftigungszahlen zurückge- (Renate Rennebach [SPD]: Unglaublich!) gangen sind. Wir verlangen in dieser Zeit Solidarität der Arbeitbe- (Iris Gleicke [SPD]: Wir auch!) sitzenden mit den Arbeitslosen, der gut Verdienenden Ich kann Ihnen die offiziell errechnete Arbeitslosig- mit den Bedürftigen. keitsquote nennen; sie beträgt 14 % oder 15 %. Das ist (Renate Rennebach [SPD]: Wer hat denn die in den neuen Ländern immer noch ein sehr moderater Arbeitslosen in unserem Land verursacht?) Wert. Wenn Sie ein Stückchen weitergehen, zum Meine Damen und Herren, dem trägt Ihre angezet- benachbarten Kreis Ilmenau, stellen Sie fest: Dort sind telte Debatte in keinster Weise Rechnung. Sie liegen es schon 22,3 %. Schweinfurt ist mit 9,6 % da noch mit dieser Art der Diskussion weit unterhalb der ganz gut dran. Minimalanforderungen an eine ernstzunehmende Natürlich, meine Damen und Herren, diese Arbeits- Opposition. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Helmut losen wollen in ihrer überwiegenden Mehrzahl arbei- Kohl! ten, die Thüringer allemal. Was noch schlimmer ist: (Lachen bei der SPD) Ganze Jahrgänge meiner Altersgruppe wollten nach Geistige Führung heißt in dieser Zeit: wachrütteln, um der Wende noch einmal in die Speichen greifen. Sie die Herausforderungen für die erfolgreiche Gestal- mußten in der Mehrheit in den Vorruhestand tung einer hum anen Gesellschaft von morgen zu gehen. bestehen. Das und nichts anderes will Helmut Kohl. (Walter Kolbow [SPD]: Handeln Sie doch!) Und wir werden ihn weiterhin in diesem Bemühen Aber, meine Damen und Herren von der SPD, wenn unterstützen. Sie uns in dieser Aktuellen Stunde darauf aufmerksam (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — machen wollen, daß die Arbeitslosigkeit das Haupt- Zurufe von der SPD) problem in Deutschland ist, können Sie das lassen. Dies wissen wir genausogut wie Sie. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der lege Prof. Dr. Christoph Schnittler das Wort. CDU/CSU — Renate Rennebach [SPD]: Han- deln Sie entsprechend!) Wenn Sie mit einer Bemerkung, die Sie aus diesem (F.D.P.): Frau Präsidentin! Dr. Christoph Schnittler Text herausgreifen, Wahlkampf machen wollen, so ist Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Deut- dies Ihre ureigenste Sache. Was aber die Menschen schen östlich des Eisernen Vorhangs haben die alte von Ihnen wissen möchten, sind Ihre Lösungen und Bundesrepublik zumeist mit Bewunderung betrach- Ihre Konzeptionen. Da ist doch nichts. tet: Ständig steigende Löhne bei sinkender Lebensar- beitszeit, Wohlstand für alle oder doch für fast alle, (Iris Gleicke [SPD]: Wer stellt denn die Regie- Reisen in alle Welt, ein unermeßliches Waren- und rung?) Freizeitangebot, und das bei nahezu Vollbeschäfti- Sie lassen doch selbst Ihren eigenen Kanzlerkandida- gung. ten im Regen stehen, wenn er zu unvoreingenomme- (Zuruf von der SPD: Und soziale Asymme nen Gesprächen über die Pflegeversicherung antre- trie!) ten will. Eine Wohlstandsinsel in dieser Welt — das war sie, die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — alte Bundesrepublik. Ein „Freizeitpark"? Wir hätten Susanne Kastner [SPD]: Sie lassen die wohl nicht widersprochen. Arbeitslosen im Regen stehen!) Inzwischen gibt es keinen Eisernen Vorhang mehr Sie lassen doch Ihren Parteifreund oder Genossen, wie und mit der Wiedervereinigung Deutschlands Sie sagen, Schröder im Regen stehen, wenn er zu (Zurufe von der SPD: Das genau ist der einem vernünftigen Konsens über die Kernenergie in Punkt!) Deutschland kommen soll. ist auch die aus der DDR übernommene Wirtschaft (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — zusammengebrochen. Susanne Kastner [SPD]: Wir wollen nicht, daß (Renate Rennebach [SPD]: Das ist ja wohl die Arbeitslosen im Regen stehen; verdammt unglaublich! — Gegenruf des Abg. Jochen noch mal! — Weitere Zurufe von der SPD) Feilcke [CDU/CSU]: Ich glaube, die Frau — Ich rede hier über das, was ich für richtig halte. Kollegin braucht einen Arzt!) Ich frage Sie: Wie ist denn Ihre Antwort auf die Ich weiß, daß wie ein Keulenschlag viele Menschen wirkliche Gefährdung durch die Kernenergie in das Schicksal ge troffen hat, welches sie nie erwartet Tschernobyl? Wie ist denn Ihre Antwort auf das haben: das Schicksal der Arbeitslosigkeit. Problem, das entsteht, wenn wir aus der Kernenergie (Zuruf der SPD: Kommt der Manchesterkapi aussteigen? Dann nämlich hören wir auch auf, die talismus wieder?) Sicherheit in der Welt mitzubestimmen. Dann legen Meine Damen und Herren von der SPD, Sie spre- wir die Sicherheit unserer Kinder und Enkel aus- chen die Lage in Schweinfurt, Zella Mehlis und schließlich in fremde Hände. Leipzig an. Ich kenne die Situation in dem thüringi- Jetzt will ich auf Herrn Lafontaine eingehen, der schen Städtchen Zella Mehlis sehr genau; ich kann den Anstieg der Löhne, Gehälter und Renten — ich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16025

Dr. Christoph Schnittler wiederhole: und Renten — in den neuen Ländern keine Arbeitszeitverkürzung beseitigen. Es ist ein- stoppen will. Davon können sich meine Landsleute Einbahnstraßendenken, wenn man glaubt, allein auf nichts kaufen. Herr Schreiner, Sie rufen nach einer dem Wege der Arbeitszeitverkürzung aus der Tal- neuen Bundesregierung. Bieten Sie uns Herrn Lafon- sohle herauszukommen. Dies ist ein kontraprodukti- taine als Wirtschaftsminister an, dann bekommen ves Denken. Es lenkt davon ab, daß unsere Hauptauf- meine Landsleute schon heute eine Gänsehaut. gabe die ist, neue Produkte und neue Verfahren zu (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — erfinden. Iris Gleicke [SPD]: Auch ich habe Gänse Wenn Sie schon Arbeit verteilen, dann auch Lohn. haut!) So einfach ist es nicht. Denn wäre die Strategie der Ihre Genossen in den neuen Ländern tun mir manch- Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich der mal leid; das muß ich Ihnen hier sagen. Königsweg, wäre null Arbeit bei vollem Lohnaus- gleich der Weg aus der Arbeitslosigkeit. Sie können (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Und der aus diesem Irrsinn schon erkennen, daß man dieses Schreiner kommt auch aus dem Saarland!) Einbahnstraßendenken überwinden muß. Meine Damen und Herren, manche Leute glauben auch heute noch, es gebe so etwas wie ein Naturge- Wenn heute bei VW eine Vier-Tage-Woche ohne setz, nach dem sich in Deutschland der Wohlstand, die Lohnausgleich vorgeschlagen wird, halte ich das für Sicherheit und die Freizeit gleichzeitig unbeschränkt die Überwindung eines Tabus, das Sie sehr lange steigern ließen und nach dem alte Ansprüche beliebig aufrechterhalten haben. in die Zukunft fortgesetzt werden könnten. Es gibt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aber kein solches Gesetz; das will Ihnen das Standort- papier dieser Bundesregierung sagen. In dem Stand- Wenn heute die IG Bergbau — das sage ich mit ortpapier bilden im übrigen liberale Ideen einen sehr großem Respekt — Arbeitszeitverkürzung ohne wichtigen Beitrag; auch das hat Ihnen der Bundes- vollen Lohnausgleich vorschlägt, empfinde ich eine kanzler in seiner Regierungserklärung dargelegt. große Bewunderung für die hohe Verantwortung dieser Gewerkschafter. Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, sollten endlich diese Lage begreifen Lieber IG-Metall-Kollege, ich habe 1988 einmal und besser mit uns zusammenarbeiten, so daß wir Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich gemeinsam diese Strukturkrise in Deutschl and über- vorgeschlagen. 1988 habe ich einmal gesagt: Wer winden können. Arbeit teilen will, muß auch den dazugehörigen Lohn Danke. teilen. Damals bin ich von der Organisation, der wir beide angehören, als Arbeiterverräter beschimpft (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) worden. Wie kann sich denn der Herr Schreiner heute als Vorreiter hinstellen, obwohl er ewig Nachzügler Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat war? Die Nachzügler stellen sich heute als Vorreiter der Herr Bundesminister Dr. Norbert Blüm das hin. Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der CDU/CSU: Mach sie platt! — Ich glaube, daß das Hauptthema im Rahmen der Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der Arbeitszeit eher die Maschinenlaufzeiten sind. Das ist SPD) das eigentliche Thema, nämlich eine intelligente Arbeitszeitverteilung, die in einer hochkapitalisierten Wirtschaft das Potential besser nutzt, als es heute Bundesminister für Arbeit und Dr. Norbert Blüm, genutzt wird. Sozialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde die heutige Debatte sehr hilfreich, Wenn der Bundeskanzler vor der Mentalität eines denn ich glaube, der größere Teil der Wachstums- Freizeitparks gewarnt hat, meine lieben Kolleginnen hemmnisse ist in den Köpfen stationiert. Wir haben in und Kollegen, sollten wir nicht übersehen, daß dieses der Tat eine wirtschaftliche Krise, aber nicht zum Wohlstandsland, das Westdeutschland während des ersten Mal. Deutschland mußte aus Schutt und Asche Wirtschaftswunders geschaffen hat, doch sehr stark aufgebaut werden. Hier waren 15 Millionen Flücht- von Illusionen geprägt ist oder geprägt wurde, daß es linge und Vertriebene. Erfolg ohne Anstrengung gebe. Wir haben sehr viel Wissen Sie, was man von den Leistungen der Kreativität auf die Freizeit verwandt. Generation, die das Wirtschaftswunder vollbracht hat, Wir sind das Land mit 40 Tagen Urlaub inklusive heute noch lernen kann? — Sie hat sich weniger um Feiertagen. Das gibt es sonst auf der ganzen Welt nicht die Wohlstandsverwendung gekümmert als zunächst mehr. Die Jahresarbeitszeit beträgt 1 519 Stunden. einmal um die Wohlstandserstellung. Dies ist die Die Schweizer arbeiten 242 Stunden mehr; das sind eigentliche Mitteilung der Kohlschen Warnung. Wir 30 Tage mehr im Jahr. In den USA wird 338 Stunden sollen unsere Phantasie und Kreativität weniger auf mehr im Jahr gearbeitet; das sind 42 Tage mehr die Verwendung, weniger auf die Freizeit konzentrie- Jahresarbeit. M an muß das ja immer in Tage umrech- ren als darauf, Arbeit zu schaffen. Das ist die erste und nen. In Japan wird 488 Stunden mehr im Jahr gear- wichtigste Aufgabe. beitet als in Deutschland; das sind umgerechnet (Beifall bei der CDU/CSU) 61 Tage. Das Manko, daß beispielsweise in Jap an ein Pkw in Glauben Sie denn, meine Damen und Herren, wir der Hälfte der Produktionszeit hergestellt wird, die in können unseren Spitzenplatz auf dem Weltmarkt Deutschland aufgewendet wird, werden Sie durch halten und damit Arbeit schaffen, wenn wir nur in den 16026 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Kategorien von Freizeit denken? Insofern darauf hin- Meine Damen und Herren, wer die Fleißigen schüt- zuweisen entsprang der Sorge für die Arbeitslosen. zen will und wer die Arbeitslosen vor dem Verdacht Das war die Sorge, die der Bundeskanzler hatte. schützen will, sie seien alle solche, die den Sozialstaat mißbrauchen, muß uns vor denjenigen schützen, die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — unsere Gesellschaft als einen Freizeitpark verstehen Zurufe von der SPD) und den Sozialstaat ausnutzen. Davor hat der Bundes- Wenn ich noch die Fehlzeiten nennen darf, so muß kanzler gewarnt; das ist im Interesse der Arbeitneh- man feststellen: Wir sind auch dort Spitzenreiter. Es mer. sind im Durchschnitt 146 Stunden im Jahr; das sind (Ottmar Schreiner [SPD]: Dann mal los!) 18 Tage. Jetzt rechnen Sie einmal zusammen: Bei Das ist im Interesse der Arbeitslosen. Insofern bin ich 52 Sonntagen, 52 Samstagen — bei den meisten ist es für diese Debatte dankbar. Sie ist mehr als eine ja auch noch der Samstag —, 40 Urlaubstagen, samt Debatte über Paragraphen; sie ist eine Debatte über Feiertagen und 18 Fehltagen kommt man auf das Denken. 162 Tage, die arbeitsfrei sind. Es ist im Durchschnitt Ich finde, die größten Hemmnisse bei einem Auf- fast jeder zweite Tag. So werden wir unseren Spitzen- schwung bestehen im verkrusteten Denken. Ihre platz nicht halten können. Wer diesen Zustand vertei- Reaktion zeigt es heute wieder: Sie haben den Schuh digt, der schädigt die Arbeitslosen. Darum geht es. am falschen Fuß angezogen. Sie zeigt, daß Sie sich in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Positionen Ihrer alten Vorurteile so eingebaggert haben, daß man mit Ihnen nicht ganz ruhig über die Es handelt sich um eine Gesellschaft, in der die Gefahren in unserer Gesellschaft reden kann, auch Arbeitsplatzbesitzer an ihren P rivilegien festhalten über Mentalitätsgefahren. Denn wir brauchen Unter- wollen und nicht daran denken, wie wir Arbeit auch nehmer und nicht Unterlasser, und vor allem brau- für diejenigen schaffen können, die arbeitslos sind. chen wir weniger Besprecher und mehr Bearbeiter. (Susanne Kastner [SPD]: Tut doch etwas! Ihr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — seid doch an der Regierung!) Zurufe von der SPD) Denn Arbeit gibt es in unserem Land doch genug. Wir brauchen Wohnungen. Wir brauchen Straßen. Ich Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat die sehe auch im Pflegebereich viel Arbeit. Nur, bezahl- Kollegin Iris Gleicke. bar muß sie sein. Darauf wollte Helmut Kohl aufmerk- sam machen. Deshalb finde ich die Diskussion gut. Iris Gleicke (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr (Zurufe von der SPD) verehrten Damen und Herren! Ich muß mich schon einigermaßen wundern, Herr Bohl: — Die Kuh schlachten und melken wollen: So dumm ist kein Bauer. Ich bin sicher, so dumm ist ebenfalls (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Es war auch kein Arbeiter, und deshalb wird er auf diese Parolen wunderbar! — Hans-Joachim Fuchtel [CDU/ auch nicht hereinfallen. CSU]: Sie kommen so selten!) Sie waren neulich in Suhl, haben mit den Betriebsrä- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ten der „Jagdwaffe" gesprochen, aber Sie scheinen Ich bleibe dabei, daß wir in der Tat auch darüber offensichtlich das Problem nicht mit hierhergenom- reden müssen, daß es in dieser Wohlstandsgesell- men zu haben und nicht zur Lösung beitragen zu schaft nicht nur die Fleißigen gibt. Von ihnen rede ich wollen. mit großem Respekt. Ich weiß, daß nicht nur Millionen Herr Schnittler, Sie mahnen die SPD im Bundestag, von Arbeitnehmern treu und brav ihre Pflicht erfüllen daß sie eine Lösung anbieten solle, die Ihr Wirtschafts- — wir wollen hier nicht in diesen traditionellen minister in Thüringen, Herr Bohn, nicht leisten kann. Kategorien reden — und mit großem Engagement Das ist doch wohl nicht in Ordnung; das ist doch wohl arbeiten. Hier ist von Polizisten gesprochen worden. nicht wahr. Es ist lächerlich, und das zeigt auch, daß Ich rede auch einmal von den Beamten und den Sie weder Interesse daran haben noch dazu in der Mitarbeitern in den Bundesministerien, die Hervorra- Lage sind, das Problem zu klären. gendes in Sachen deutsche Einheit geleistet haben. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingeborg Ich habe großen Respekt vor ihnen allen. Philipp [PDS/Linke Liste]) Aber es gibt nicht nur solche, sondern es gibt auch Während wir hier über die Vorstellungen des Bun- jene, die den Sozialstaat ausnutzen und ihn ausbeu- deskanzlers von kollektiver Freizeit debattieren, wird ten. Wer Solidarität richtig versteht, muß den Sozial- ein ganzer Industriezweig im Osten Deutschlands staat vor denjenigen schützen, die die Gesellschaft mit vernichtet. Morgen werden die letzten vier Werke der einem Freizeitpark verwechseln. Davor muß die Deutschen Kugellagerfabriken in Sachsen und Thü- Gesellschaft geschützt werden. ringen ihre Produktion einstellen. Es waren einmal acht. 1 900 Männer und Frauen, die meist seit ihrer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Lehrzeit in diesem Betrieb gearbeitet haben, verlieren Wollen Sie das bestreiten? Auf 8 Millionen Meldeauf- morgen ihre Arbeit. Sie bekommen noch drei Monats- forderungen der Bundesanstalt für Arbeit in den gehälter als Abfindung, und dann werden sie nicht ersten neun Monaten dieses Jahres haben sich mehr gebraucht. 611 000 Personen überhaupt nicht gemeldet. Das sind In Thüringen befinden sich schätzungsweise 50 7,6 %. 253 000 Arbeitslose haben sich abgemeldet. mittelständische Betriebe in Konkurs. Das Schicksal Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16027

Iris Gleicke so bedeutender Firmen wie der Suhler „Jagdwaffe" man auf der Treuhandschiene überhaupt noch erhal- oder der Rudolstädter Faser AG ist nach wie vor ten könnte. ungewiß. In Thüringen haben sich weitere 300 Diese Bundesregierung hat bei uns im Osten kaum bedrohte Betriebe zu einem Aktionsbündnis zusam- noch ein Ansehen, das sie verspielen könnte. Das alles mengeschlossen. Dieses Aktionsbündnis hat erst am läuft nach der Devise: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt's vergangenen Dienstag wieder landesweite Protestak- sich gänzlich ungeniert. Der Elefant kann im Porzel- tionen unter dem Motto „Fünf vor zwölf " durchge- lanladen fröhlich und ungestört herumtrampeln und führt. Die Betriebsräte führen einen verzweifelten herumtrompeten, weil das Geschirr längst zerdeppert Kampf. Sie legen die Konzepte vor, um ihre Unterneh- ist. Ich gebe zu, daß der Vergleich ein wenig hinkt, men oder wenigstens Teile der Produktion zu ret- weil die meisten Menschen im Osten den Bundes- ten. kanzler nicht als Elefanten titulieren. Ich fordere die Bundesregierung auf, hier endlich zu Sie greifen mittlerweile zu ganz anderen Bezeich- helfen und bei der thüringischen Landesregierung nungen. Aber lassen wir das lieber. Ich möchte Ihnen darauf zu dringen — Herr Professor Schnittler, da einige deutliche und unschöne Worte und mir einen können Sie mir helfen —, daß sie ihr Versprechen Ordnungsruf ersparen. wahrmacht und endlich die Landesbeteiligungsge- Schönen Dank. sellschaften einrichtet. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke (Beifall bei der SPD und bei der PDS/Linke Liste) Liste)

Ministerpräsident Vogel steht hier im Wort. Aber den Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat nun Worten müssen endlich auch Taten folgen. der Kollege Heinz-Adolf Hörsken. Vor allem fordere ich den Bundeskanzler dazu auf, etwas für die Menschen zu tun, statt die Be troffenen Heinz-Adolf Hörsken (CDU/CSU): Frau Präsidentin! auch noch zu verhöhnen. Sein Geschwafel vom kol- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bun- lektiven Freizeitpark ist in Intention und Formulie- desrepublik Deutschland lebt vom Fleiß ihrer Arbeit- rung ebenso zynisch wie abstoßend. Was soll denn nehmer. Sie lebt von der Risikobereitschaft unserer dieser unsägliche Unfug angesichts der Schlangen vor Unternehmer, und sie lebt noch davon, daß wir einen den Arbeitsämtern? Das Schlangestehen sind wir wissenschaftlichen Standard haben, der es möglich Leute aus DDR-Zeiten gewohnt. Aber früher beim macht, Produkte zu fertigen und zu verkaufen. Bäcker oder beim Fleischer hat man in der Regel etwas bekommen. Das Anstehen hat sich gelohnt. Das Sie von der SPD haben heute die Aktuelle Stunde ist beim Arbeitsamt nun nicht mehr der Fall. beantragt, um die Äußerung des Bundeskanzlers zu hinterfragen. Ich bin überhaupt nicht mehr über- (Zurufe von der CDU/CSU: Oho!) rascht, daß Sie nun mit allen möglichen Mitteln versuchen, diese Aussage des Bundeskanzlers zu — Wie oft waren Sie einkaufen? mißbrauchen. Der Kanzler hat den Menschen im Osten blühende Die Äußerung des Bundeskanzlers — das wissen Sie Landschaften versprochen. Und in der Tat grünt und ganz genau — steht überhaupt nicht im Zusammen- blüht es überall auf stillgelegten Bahngleisen; in hang mit den von Ihnen angeführten Arbeitslosen. Firmenhöfen leuchtet der Klatschmohn, und der Efeu rankt sich um einstmals rauchende Schornsteine. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gelungen ist dieses Begrünungsprogramm selbst Das müßten Sie begreifen, und Sie haben es auch dort, wo Firmen ausgezeichnete Marktchancen begriffen. Das macht diese Aktuelle Stunde so gehabt hätten. Möglich wurde dieser schöne Erfolg schlimm. Da Sie es aber nicht begreifen wollen, ist Ihr der Bundesregierung durch ihr blindes Vertrauen in Verhalten eine sehr windige und durchsichtige Ange- die Marktkräfte, durch eine gnadenlose Verram- legenheit. schungspolitik der Treuhandanstalt und die unge- Im Rahmen der Regierungserklärung zur Zukunfts- nierte Selbstbedienungsmentalität ihrer Mitarbeiter. sicherung des Standorts Deutschland hat der Bundes- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ingeborg kanzler folgendes gesagt — ich sage es ganz langsam, Philipp [PDS/Linke Liste]) weil Sie wahrscheinlich schlecht lesen können —: Immer kürzere Arbeitszeit bei steigenden Lohn- Das stinkt mehr zum Himmel als alle ehemaligen kosten, immer mehr Urlaub: Das sind keine Braunkohleschlote zusammen. Der von uns durchge- Voraussetzungen für eine Verbesserung der setzte Untersuchungsausschuß wird sehr viel zu tun Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Wir ha- haben. ben in Deutschland im Durchschnitt 6 Wochen Einmal in diesem Jahr hat der Kanzler Handlungs- Urlaub und 12 Feiertage pro Jahr. Bei der fähigkeit demonstriert. Er hat uns nämlich verspro- wöchentlichen Arbeitszeit liegen wir gleichzeitig chen, daß wenigstens die industriellen Kerne erhalten mit durchschnittlich 37,5 Stunden niedriger als bleiben sollen. Bei mir zu Hause weiß kein Mensch, alle unsere Konkurrenten. Dennoch scheint es für welche Kerne er eigentlich erhalten will. An dieser viele nichts Wichtigeres zu geben, als über mehr Stelle noch einmal zum Mitschreiben für alle, die es Freizeit nachzudenken. Meine Damen und Her- immer noch nicht begriffen haben: Eine von der ren, wir können die Zukunft nicht dadurch Treuhand einmal privatisierte Firma ist kein industri- sichern, daß wir unser L and als einen kollektiven eller Kern, und deshalb gibt es nicht mehr viel, was Freizeitpark organisieren. 16028 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Heinz-Adolf Hörsken Soweit der Redeausschnitt aus dem Plenarprotokoll Betriebsräte reagieren, und Sie machen hier Popanz. 12/182 vom 21. Oktober 1993. Popanz führen Sie hier vor. (Zurufe von der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) — Sie selber beklagen doch mit mir an anderer Stelle in dieser Gesellschaft die Null-Bock-Mentalität vieler Schauen Sie sich das an, was die Arbeitnehmer in Menschen in unserem Lande. Rüsselsheim machen, was bei VW gemacht wird, was die IG Bergbau jetzt vorschlägt! Das ist Verantwor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — tung und nicht das, was Sie hier be treiben. Was Sie Zurufe von der SPD) von der SPD hier versuchen, ist empörend und beschä- Gehen Sie doch in die Versammlungen der Par- mend zugleich. teien, der Gewerkschaften und der Kirchen! Wo sind (Beifall bei der CDU/CSU) die Menschen denn da? Sie wissen so gut wie alle anderen, daß mit der Sie sind nicht bereit, Verantwortung mit zu über- Aussage vom kollektiven Freizeitpark nicht die Viel- nehmen. Lassen wir uns doch alle miteinander gleich- zahl der arbeitslosen Menschen gemeint ist. Sie gehen zeitig den Versuch unternehmen, die Leute wieder zu hin und zerschlagen jede Zukunftsoption. Das letzte motivieren! Aber verunsichern Sie nicht durch den Beispiel haben Sie vor ein paar Tagen mit der Ke rn Frust, den Sie erzeugen wollen, die Menschen wei- -energie gezeigt. ter! (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht der F.D.P.) darum, unsere Arbeitszeiten, die sozialen Errungen- schaften und weitere Standortfaktoren auf den Prüf- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie schon nicht zuhören wollen, dann hätten Sie zumin- stand zu stellen, damit wir dem Wettbewerbsdruck standhalten. Dazu müssen wir die dest nachlesen sollen. Glauben Sie vielleicht, daß Sie Kosten senken. mit dieser Aktuellen Stunde den Bürgerinnen und Überlegen Sie doch einmal, wovon Sie reden. Die Bürgern draußen im L ande Mut machen? Das ist doch Kosten müssen wir senken — das ist unser Problem —, weil wir sonst nicht mehr verkaufen können, weil wir viel zu fadenscheinig, was Sie hier vortragen. Das Gegenteil ist der Fall. zu teuer sind. Das ist doch die Lage. Damit wir in Zukunft soziale Sicherheit garantieren Sehr verehrte Damen und Herren, hören Sie mit können, fordere ich Sie auf: Beenden Sie Ihre Spiel- diesen Mätzchen auf! chen, die Sie be treiben, und beteiligen Sie sich an der (Walter Kolbow [SPD]: Was Sie sagen, sind Verantwortung. Mätzchen! Eine sehr traurig stimmende (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Rede!) ordneten der F.D.P.) Wollen wir die Augen vor den Realitäten dieses Landes verschließen? Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat nun (Renate Rennebach [SPD]: Wer spielt hier die Kollegin Susanne Kastner. Blindekuh?) Sie können jammern und lamentieren, doch dadurch Susanne Kastner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe wird der Industriestandort Bundesrepublik Deutsch- Kollegen! Liebe Kolleginnen! In der vergangenen land nicht besser. Woche haben sich rund 50 Be troffene aus der Region Main-Rhön zu Fuß auf den Weg nach Bonn gemacht, Zur Jahresarbeitszeit: Bundesarbeitsminister Blüm um den Hilferuf der Region in die Köpfe der politisch hat gerade die Beispiele genannt. Wenn Sie wollen, Verantwortlichen zu bringen. Es waren Vertreter der kann ich das fortführen. In der Bundesrepublik IG Metall aus Schweinfurt und der gesamten Region, Deutschland wird weniger als in jedem anderen L and die sich auf dem Weg Blasen und Knochenhautent- der Welt gearbeitet. Erhalten wir in der Bundesrepu- zündungen geholt haben, weil sie keinen anderen blik Deutschland — — Ausweg mehr sahen, um auf ihre Situation auch ( [SPD]: So etwas kann man überregional aufmerksam zu machen. nur sagen, wenn man über die Landesliste Sie haben dies getan im Namen von rund 3 000 kommt!) Langzeitarbeitslosen und von 20 000 Arbeitslosen in — Ach, das ist doch dummes Zeug. Das ist doch dieser Region. Sie haben dies auch getan für die absolut dummes Zeug. Da dürften auch Ihre Kollegen, Ruheständler, die mit 57 Jahren von der Kugellager- die über die Liste hereingekommen sind, nicht reden. industrie in den Vorruhestand geschickt wurden, die Das ist doch dummes Zeug. Arbeitslosengeld beziehen, aber laut Statistik ja keine Arbeitslosen mehr sind. Auch die Gewerkschaften und die Betriebs- räte — — Sie marschierten aber auch für die über 15 000 (Zurufe von der SPD) Kurzarbeiter der Region. Dies ist übrigens prozentual gesehen eine der absoluten Höchstzahlen von Kurzar- — Ich weiß, daß das weh tut. beitern in den alten Bundesländern. Auch die Gewerkschaften und die Betriebsräte Sie marschierten auch im Namen der Noch-Arbeit- haben das längst eingesehen und reagieren darauf nehmer der drei Großbetriebe in Schweinfurt und der verantwortungsbewußt. Die Gewerkschaften und elektrotechnischen Industrie in der Region. Sie waren Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16029

Susanne Kastner in Bonn auch im Namen der Zivilbeschäftigten, die Mißmanagement von Unternehmen arbeitslos wur- durch den Abzug der US-Ame rikaner und den Abbau den und dann den menschenverachtenden Satz vom der Bundeswehr in dieser Region ohne Arbeit sind kollektiven Freizeitpark Deutschland hören? oder bald sein werden. Sie waren in Bonn aber auch im (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Namen all der ABM-Beschäftigten, die durch die Liste) Kürzungen dieser Bundesregierung ihren zeitweisen Arbeitsplatz verloren haben. Erklären Sie als Verantwortliche jenen Menschen doch einmal diese verhängnisvolle Politik. (Walter Kolbow [SPD]: Hört! Hört!) (Michael Glos [CDU/CSU]: Diese Debatte ist Sie waren auch in Bonn im Auftrag aller Menschen doch lange vorbereitet!) der Region, besonders auch der alleinerziehenden — Sparen Sie sich Ihre Worte, Herr Glos. Frauen, die durch die Fehlentscheidung der Bundes- regierung und dieses Bundeskanzlers in die Sozial- George Bernard Shaw sagte einmal, Urlaub ohne hilfe abgedrängt worden sind oder demnächst abge- Unterlaß sei ein gutes Training für den Aufenthalt in drängt werden. der Hölle. Damit beschreibt er sehr treffend die mentale und psychische Situation der arbeitslosen (Michael Glos [CDU/CSU]: Durch die falsche Menschen, von denen sich diese Regierung schon Tarifpolitik!) längst abgewandt hat. In solch einer Situation sind Die IG-Metaller wurden vor einer Woche im Kanz- gemeinsame arbeitsmarktpolitische Kraftakte not- leramt von Herrn Minister Bohl empfangen, wenige wendig, die diesen Krisenstandorten helfen. Stunden nachdem der Herr Bundeskanzler hier (Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr richtig!) erklärt hatte, daß die Arbeitnehmer dieser Republik Es müssen endlich Zeichen der Hoffnung gesetzt zu niedrige Wochenarbeitszeiten, zu viele Feiertage werden. Dazu sind Sie als Verantwortliche in der und zuviel Urlaub hätten, dann angeprangert hatte, Regierung leider noch immer nicht bereit. Im Gegen- daß es für viele nichts Wichtigeres zu geben scheine, teil: Ihre letzten einschneidenden Sozialkürzungen zu als über ihre Freizeit nachzudenken, und die ange- Lasten der Kommunen haben dies sehr deutlich sichts der tatsächlichen Situation im Land zynischen gezeigt. Allein die Stadt Schweinfurt muß durch Ihr Worte gesprochen hatte, daß wir unsere Zukunft nicht am Freitag beschlossenes Sparkonzept in den näch- dadurch sichern könnten, daß wir unser Land als sten Jahren mehr als dreimal so viel Sozialhilfe kollektiven Freizeitpark organisierten. auszahlen wie heute. Bei der Bezirksumlage wird mit Herr Kollege Hörsken, ich sage Ihnen: 120 000 einer Verdoppelung der jetzigen Beiträge gerechnet. Bauarbeiter auf der Hofgartenwiese in Bonn empfan- All dies muß die Stadt Schweinfurt bei sinkenden den das heute genauso als Zynismus, wie wir das Einnahmen finanzieren. Damit wird der Stadt jegliche empfunden haben. Möglichkeit einer gezielten Industrieansiedlungspoli- tik genommen, und zwar für etliche Jahre. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Michael Glos [CDU/CSU]: Aufgehetzt von Hermann Hesse stellte einmal fest: „Wir müssen der Gewerkschaft!) nicht hinten beginnen bei den Regierungsformen und kritischen Methoden, sondern wir müssen vorn anfan- Diese Worte haben ein weiteres Mal bewiesen: gen beim Bau der Persönlichkeiten, wenn wir wie- Dieser Bundeskanzler hat jeglichen Sinn für die der ... Männer" — und natürlich auch Frauen — Realität im Land verloren. Weiß er, wissen Sie, liebe „haben wollen, die uns Zukunft verbürgen." Diese Kolleginnen, liebe Kollegen von der Koalition, eigent- Erkenntnis, verehrter Herr Kollege Glos, ist bei den lich noch, was ein Facharbeiter in der Region Main- betroffenen Menschen in der Region längst vorhan- Rhön monatlich verdient? den. Die Bundesregierung handelt aber genau umge- (Michael Glos [CDU/CSU]: Natürlich!) kehrt und verspielt damit mutwillig das beste Kapital, das dieses Land zu bieten hat. Es wird Zeit, daß Sie — Herr Glos, ich zweifle manchmal daran. —1 800 bis mehr Zeit bekommen, über Ihre Fehler nachzuden- 2 200 DM haben diese Menschen in der Regel nach ken, nämlich auf den Oppositionsbänken. allen Abzügen am Monatsende in der Tasche, und dies angesichts weiter steigender Gebühren der Kom- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste munen und einer Miete bis zu 1 000 DM. — Widerspruch bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Kann von Ihnen überhaupt noch jemand nachvoll- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der ziehen, was diese Menschen empfinden, wenn sich Kollege Volker Kauder das Wort. der Bundeskanzler und seine Minister hier hinstellen und sagen, diese Arbeitnehmer würden mit zuviel Lohn zuwenig arbeiten? Volker Kauder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe (Michael Glos [CDU/CSU]: Das hat er doch mir diese aktuelle Debatte nun mehr als eine Stunde gar nicht gesagt! Bleiben Sie doch bei der lang angehört. Die Verantwortung für diese Debatte Wahrheit!) trägt die SPD-Fraktion. Wenn ich sehe, was die Hat der Bundeskanzler noch den Funken eines wichtigsten Themen in unserem L and sind, nämlich Gefühls dafür, was die Arbeitslosen empfinden, wenn wie wir die Arbeitslosigkeit überwinden können und sie durch die allgemeine Strukturkrise, durch Fehlent- wie wir einen Beitrag dazu leisten können, daß die scheidungen der Bundesregierung und durch das Wirtschaft wieder floriert, dann müssen all die Men- 16030 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Volker Kauder schen, die arbeitslos sind, das, was Sie heute hier Herr Kollege Fuchtel hat in seiner wirklich hervor-- gemacht haben, als Hohn empfinden. ragenden Rede vielleicht nur einen falschen Satz (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gesagt: Wir entlassen Sie nicht aus der Verantwor- tung. Nein, wir müssen alles daransetzen, daß Sie erst Sie haben überhaupt keine Antwort darauf gege- gar nicht in die Verantwortung kommen, ben, was Sie tun wollen, (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Sie soll ten antworten!) weil Sie kein Konzept haben, weil Sie nicht wissen, wie es vorangehen soll. Das einzige, was Sie beherr- sondern Sie haben einen Satz des Bundeskanzlers, der schen, ist, die Menschen aufzuhetzen und auf die in einer bedeutenden Rede zum richtigen Zeitpunkt falsche Fährte zu setzen. gesagt worden ist, bewußt mißinterpretiert. Sie versu- Jetzt will ich Ihnen ein paar Grundwahrheiten chen, eine Diskussion vom Zaun zu brechen, die niemanden in diesem Land weiterführt. sagen, die einige bei Ihnen erkannt haben, aber aus parteitaktischen Gründen nicht sagen dürfen. Denn (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — die Parteitaktik steht bei Ihnen noch immer über den Iris Gleicke [SPD]: Eine Unterstellung!) wahren Verhältnissen. — Ja, ich kenne das schon: Diejenigen, die getroffen (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das müssen sind, schreien am lautesten, weil sie denken, dann gerade Sie sagen!) hört man denjenigen nicht, der den Finger in die Wir wollen die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Das offene Wunde legt. Aber so können Sie nicht argu- mentieren. geht nur, indem die Wirtschaft wieder wächst. Was der Kollege Schreiner vorhin gesagt hat, glaubt er ja Meine Damen und Herren von der Opposition, das, selber nicht: Wir müßten die vorhandene Arbeit weiter was wir in über 40 Jahren miteinander erreicht haben, umverteilen. Das ist der große Irrtum von Gewerk- ist eine große Gemeinschaftsleistung von Unterneh- schaften wie auch von Ihnen. Wir müssen dafür mern und von Arbeitnehmern. Dies haben wir immer sorgen, daß wir wieder mehr Arbeit haben, wieder betont, und dies hat auch der Bundeskanzler klipp und klar und deutlich gesagt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P. — Zurufe von der SPD: (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Und das Dann macht es doch!) macht diese Regierung jetzt kaputt!) und dürfen nicht unseren ganzen G rips darauf ver- — Herr Kollege Büttner, Sie meinen ja immer, Sie wenden, wie wir Arbeit, die da ist, nur immer weiter seien so ein großer Arbeiterführer. umverteilen. Es ist das zweifelhafte Verdienst der Opposition, Sie, die SPD-Opposition, lassen keine Gelegenheit daß sie Arbeitslose in einen Zusammenhang mit aus, Arbeitsplätze zu vernichten. Freizeit und Faulheit gebracht hat. (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) SPD — Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das Dies kommt nicht von uns. Dagegen verwahre ich ist so dumm!) mich ganz energisch. Niemand in der ganzen Debatte — Die Wahrheit ist schwer zu ertragen; ich weiß das. am vergangenen Donnerstag, in der es um den — Sie blockieren beim Gentechnikgesetz. Sie lassen Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland ge- auch diejenigen in der SPD, die guten Willens sind, gangen ist, hat auch nur einen einzigen Zusammen- nicht einmal darüber diskutieren, ob wir sichere hang zwischen Arbeitslosigkeit und Freizeitpark her- Kernkraftwerke bauen können, und vernichten damit gestellt. zukunftsträchtige Arbeitsplätze. (Uwe Lühr [F.D.P.]: So ist es!) (Susanne Kastner [SPD]: Waren Sie schon Ich sage Ihnen, warum Sie, wenn Sie überhaupt einmal in einem Kernkraftwerk? Sie haben nachgedacht haben, eine solche Aktuelle Stunde keine Ahnung!) beantragt haben: Sie haben ganz genau gespürt, wen Das einzige, was Sie draufhaben, ist die alte L ang- der Bundeskanzler gemeint hat. spielplatte, obwohl es inzwischen neue, hochaktuelle (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wen denn? CDs gibt: ständig nur das umverteilen, was da ist, und — Weitere Zurufe von der SPD) sich überhaupt nicht darum kümmern, wie man die — Sie haben es ganz genau gespürt, und da sind auch Wirtschaft wieder zum Laufen bringen kann. Sie gemeint. (Arne Fuhrmann [SPD]: Dann machen Sie (Widerspruch bei der SPD) doch etwas! — Susanne Kastner [SPD]: Sind Sie an der Regierung?) — Ja, schreien Sie nur. Die Menschen spüren schon, daß ich den Finger auf die richtige Stelle lege. Herr Kollege Büttner, nehmen Sie einmal Nachhil- feunterricht beim baden-württembergischen Wirt- Sie haben, weil Sie gespürt haben, wen der Bundes- schaftsminister. Von ihm können Sie noch sehr viel kanzler gemeint hat, versucht — dies ist Zynismus, um lernen. nicht zu sagen: Gemeinheit —, von sich abzulenken, und stellen diese unglaubliche Beziehung zwischen Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Freizeitpark und Arbeitslosen her. Opposition, aus dem, was Sie heute gemacht haben, werden wir Sie nicht entlassen. Da machen wir nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mit. Anstatt darüber im Deutschen Bundestag eine Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16031

Volker Kauder Aktuelle Stunde zu beantragen, wie wir die Probleme diese Richtung zielen die Aussagen des Kanzlers,- bewältigen können, haben Sie dazu beigetragen, nichts anderes. Arbeitslose zu verunglimpfen. Sie täten besser daran, nicht solche Aktuellen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Stunden zu beantragen, sondern sich in der Zeit Susanne Kastner [SPD]: Fünf Minuten Kau zusammenzusetzen und Ihre Konzepte für mehr derwelsch! — Hans-Eberhard Urbaniak Arbeitsplätze zu entwickeln. [SPD]: Vor Herrn Kauder kriegt man ja (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da kommt bei Angst!) denen auch nichts heraus!) Weil Sie gerade bei Herrn Kauder so gelacht haben, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der sage ich es noch einmal ganz langsam zum Mitschrei- Kollege Erich Fritz. ben: Die SPD ist eines der Hauptinvestitionshinder- nisse in Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Erich G. Fritz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Widerspruch bei der SPD) sehr verehrten Damen und Herren! Machen wir einen Strich unter diese Aktuelle Stunde, dann stellen wir Das Vorgehen der SPD bei den Konsensgesprächen fest: Es lohnt sich immer, über Zitate des Bundeskanz- über die Energiepolitik zeigt ganz deutlich, was ich lers zu diskutieren. meine: Je länger der Konsens auf sich warten läßt und je länger Unsicherheit in den Fragen des Energiemi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) xes besteht, desto länger werden Investitionen hin- Deswegen sollten wir eigentlich jede Woche eine ausgeschoben. Arbeitsplätze entstehen gar nicht oder Aktuelle Stunde machen, in der wir ein Kanzlerzitat in wesentlich später. Mit Exportchancen verbundene den Mittelpunkt stellen. Die SPD kann dabei immer Entwicklungen von Energietechniken können nicht etwas lernen. marktreif gemacht werden. Das ist Arbeitsplatzver- (Beifall bei der CDU/CSU) hinderungsstrategie! Ich habe mit großer Aufmerksamkeit dem ersten (Zustimmung bei der CDU/CSU) SPD-Redner zugehört, dem sympathischen Professor Wenn die SPD die Pflegeversicherung boykottiert, Jens. Er hat eine Eigenschaft, die ich besonders an ihm werden Arbeitsplätze im Pflegebereich nicht entste- schätze: Er kann nicht besonders gut reden — er ist hen oder wesentlich später entstehen. Das ist Arbeits- leider nicht mehr da; ich hätte es ihm gerne selber platzverhinderungsstrategie. gesagt —, wenn er nicht dahintersteht. Heute ist mir aufgefallen: Beim dritten Satz wurde er bereits hei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ser. Solange die SPD nicht bereit ist, bürokratischen (Michael Glos [CDU/CSU]: Das stimmt!) Wildwuchs und überwuchernde Planungs- und Genehmigungsverfahren in den Ländern und Ge- Das zeigt für mich, daß diese Diskussion sehr aufge- meinden zu beschneiden, so lange werden Arbeits- setzt ist. plätze nicht bei uns entstehen, sondern im Ausland. Man muß schon sehr zynisch denken können, um Das ist Arbeitsplatzverhinderungsstrategie. aus den Worten des Bundeskanzlers herauszuhören, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mit dem Bild des kollektiven Freizeitparks sollten Arbeitslose verhöhnt werden. Dieser Vorwurf fällt auf Je länger die SPD Deregulierung fürchtet wie Sie zurück, meine Damen und Herren von der SPD. Teufelswerk, werden Arbeitsplätze nicht entstehen. Auch das ist Teil dieser Strategie. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Je länger Sie gegen das Sie haben hier über eine Stunde lang mit dem Schick- Einsparpaket Sturm laufen sal von Menschen polemisiert, die arbeiten möchten und damit verhindern, daß die wesentliche Grundlage und keinen Arbeitsplatz finden. Das wird man Ihnen für neue Arbeitsplätze gesichert wird, nämlich Geld- wertstabilität und gesunde Haushalte der öffentlichen so nicht abnehmen. Hand, desto länger werden Unternehmen und werden (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Heute darf Arbeitnehmer mit Belastungen im Steuer- und Abga- der Fritz reden!) benbereich belegt sein, die Arbeitsplätze verhindern. Ihre Aufzählung regionaler arbeitsmarktpolitischer Auch das gehört zu Ihrer S trategie. Problemregionen, die Sie in den Titel hineingepackt Je länger sich die SPD gegen längere Arbeitszeit im haben, so daß ihn keiner mehr versteht, erweckt den öffentlichen Dienst wehrt, desto höher wird der Per- Eindruck, als seien die Probleme in erster Linie Fragen sonalkostenanteil an den kommunalen Haushalten. regionaler Strukturschwäche. Dabei wissen Sie, daß Das Geld fehlt bei den Investitionshaushalten, es fehlt das nicht der Fall ist. Die Ursachen liegen viel tiefer. für Arbeitsplätze. Das ist Arbeitsplatzverhinderungs- Rezession, strukturelle Schwächen, veränderte Be- strategie. dingungen des Wettbewerbs in Europa und weltweit, auch hausgemachte Innovationsprobleme und Inve- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- stitionshemmnisse führen zu einem Problembündel, ordneten der F.D.P.) das nicht durch einfache Rezepte alter Art beseitigt Solange vor Ort in SPD-regierten Gemeinden über werden kann. Vielmehr ist eine Grundinventur nötig Bebauungspläne nur geredet wird, werden keine und eine Rückbesinnung auf Prinzipien, die Deutsch- Wohnungen gebaut. Solange in diesem Bereich keine land schon öfter nach vorne gebracht haben. Genau in wesentliche Beschleunigung stattfindet, wird es keine 16032 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Erich G. Fritz Arbeitsplätze zusätzlich geben. Das alles ist Arbeits- Ich bitte deswegen, Herr Kauder, künftig solche- platzverhinderungsstrategie. Beleidigungen zu unterlassen. Selbst wenn Sie eines plötzlichen Tages vom öko- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke nomischen Saulus zum Paulus würden, wären damit Liste) die strukturellen Änderungen, die wir auch brauchen, noch lange nicht durchgeführt, um die Wettbewerbs- fähigkeit deutscher Produkte auf dem Weltmarkt Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich weiß zwar abzusichern. nicht, ob all das im Rahmen dessen ist, was üblich ist. Aber da ich ein gerechter Mensch bin, bekommt auch Dem genau widmet sich das Standortpapier der der Kollege Kauder zu einer kurzen Erwiderung Bundesregierung. Hinsichtlich dieser Frage entschei- außerhalb der Tagesordnung das Wort. det sich, ob Deutschland den Herausforderungen gewachsen ist, ob wir weiter unsere wirtschaftliche Rolle in der Welt spielen und auf Dauer Wohlstand Volker Kauder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Ich und Vollbeschäftigung erreichen und sichern kön- danke Ihnen für diese Großzügigkeit. nen. Der Kollege Büttner hätte jetzt die unglaubliche (Zurufe von der SPD) Chance gehabt, in seinem Wahlkreis zu sagen, daß ihn In diesem Zusammenhang hat der Kanzler selbst- der Kanzler persönlich kennt. Die ist natürlich jetzt verständlich recht — Frau Kollegin, wenn Sie so hinüber; denn natürlich hat der Kanzler nicht an Sie freundlich wären, gehen Sie mal raus; ich glaube, Ihr persönlich das Wort gerichtet, Herr Kollege Büttner. Manta steht im Parkverbot, Sie müssen immer reden Auch ich habe nicht an Sie persönlich das Wort —, wenn er sagt, daß neue Orientierungen jenseits gerichtet. Ich habe vielmehr die SPD angeschaut, d. h. von Freizeit in den Mittelpunkt rücken müssen, damit sie und die Funktionäre in den Gewerkschaften in wir Zukunft gewinnen. Er meint damit nicht ein besonderer Weise gemeint. konkretes Verhalten bestimmter Leute, sondern Wert- Der Bundeskanzler hat all diejenigen gemeint entscheidungen. Er meint die Bereitschaft, sich selbst — dazu gehören Sie —, die keinen Beitrag dazu in Frage zu stellen als Gesellschaft und zu neuen Ufern leisten, daß Arbeitslosigkeit überwunden werden aufzubrechen. Immer dann, wenn die Union in der kann. Lage war, solche Signale zu geben, hat Deutschland (Rudolf Bindig [SPD]: Eine Frechheit!) etwas davon gehabt. Das wird auch nach dieser Er hat mit seinem Satz über den kollektiven Freizeit- Entscheidung so sein. park darauf hingewiesen, was getan werden muß, um Herzlichen Dank. Arbeitslosigkeit zu überwinden. Das hat er ausdrück- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — lich gesagt. Nicht mit immer weniger Arbeit, mit Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Gute Nacht, immer mehr Lohn und mit kürzerer Lebensarbeitszeit Deutschland!) können wir das Problem bewältigen, sondern das bedarf anderer Maßnahmen. Dazu müssen Sie Ihren Beitrag leisten. Den Beweis, ob Sie das tun wollen, können Sie in den Tarifrunden der nächsten Monate Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zu einer Erklä- erbringen. rung außerhalb der Tagesordnung nach § 32 der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Geschäftsordnung erhält der Kollege H ans Büttner das Wort. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit befinden wir uns wieder in der Tagesordnung. Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Liebe Kolleginnen! Wir sind am Ende der Aktuellen Stunde angekom- Liebe Kollegen! Herr Kollege Kauder hat mich vorhin men. in seiner Rede persönlich angesprochen und behaup- tet, die Äußerungen des Kanzlers seien u. a. auf mich Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 17a bis 1 sowie gemünzt. Diese Äußerungen weise ich aufs entschie- den Zusatzpunkt 4 a und b auf: denste zurück. 17. Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Beifall bei der SPD — Jochen Feilcke [CDU/ a) Erste Beratung des von der Bundesregie- CSU]: Der kennt Sie doch gar nicht!) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Für die Arbeitsplätze ist die Bundesregierung dieser zes zur Änderung des Beamtenversor- Republik seit mehr als elf Jahren verantwortlich. Sie gungsgesetzes, des Soldatenversorgungs hat dazu beigetragen, daß 6 Millionen Menschen gesetzes sowie sonstiger versorgungs Arbeit suchen. Daß nicht noch mehr Menschen rechtlicher Vorschriften (BeamVGÄndG arbeitslos sind, haben allein Leute aus den Gewerk- 1993) schaften durch ihre Tarifpolitik in den letzten Jahren — Drucksache 12/5919 — bewirkt, indem sie durch Arbeitszeitverkürzung Überweisungsvorschlag: 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen Innenausschuß (federführend) haben. Leute wie ich haben sich verantwortungsvoller Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung verhalten als die Mitglieder dieser Regierung, die Verteidigungsausschuß nicht in der Lage waren, für die Arbeitslosen auch nur Ausschuß für Gesundheit einen zusätzlichen Arbeitsplatz bereitzustellen. Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16033

Vizepräsidentin Renate Schmidt b) Erste Beratung des von der Bundesregie- g) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 9. Oktober zes zu dem Übereinkommen vom 18. Juni 1992 zwischen der Bundesrepublik 1992 zur Revision des Übereinkommens Deutschland und den Europäischen Ge- über die Gründung eines Europäischen meinschaften über die Durchführung des Hochschulinstituts Artikels 11 des Anhangs VIII des Statuts der — Drucksache 12/5839 — Beamten der Europäischen Gemeinschaf- ten Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft — Drucksache 12/4468 — (federführend) Auswärtiger Ausschuß Überweisungsvorschlag: Innenausschuß (federführend) h) Erste Beratung des von der Bundesregie- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Haushaltsausschuß zes zu dem Übereinkommen vom 26. Mai c) Erste Beratung des von der Bundesregie- 1989 über den Beitritt des Königreichs rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Spanien und der Portugiesischen Republik zes über den Beitritt der Griechischen zum Übereinkommen über die gerichtliche Republik zur Westeuropäischen Union und Zuständigkeit und die Vollstreckung ge- über die assoziierte Mitgliedschaft der richtlicher Entscheidungen in Zivil- und Republik Island, des Königreichs Norwe- Handelssachen sowie zum Protokoll be- gen und der Republik Türkei in der West- treffend die Auslegung dieses Überein- europäischen Union kommens durch den Gerichtshof — Drucksache 12/5439 — — Drucksache 12/5841 — Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß Auswärtiger Ausschuß (federführend) Verteidigungsausschuß EG-Ausschuß i) Erste Beratung des von der Bundesregie- Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO rung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Landwirt- d) Erste Beratung des von der Bundesregie- schaftsanpassungsgesetzes rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten — Drucksache 12/5896 — Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Nichtanpassung von Amtsgehalt und Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ortszuschlag der Mitglieder der Bundesre- (federführend) gierung und der Parlamentarischen Staats- Rechtsausschuß sekretäre in den Jahren 1992 und 1993 i) Beratung des Antrags der Abgeordneten — Drucksache 12/5830 — Dr. Ilja Seifert, Dr. Gregor Gysi und der Überweisungsvorschlag: Gruppe der PDS/Linke Liste Innenausschuß (federführend) Ersetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO durch ein Altschuldenübernahme-Gesetz e) Erste Beratung des von der Bundesregie- — Drucksache 12/5677 — rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Überweisungsvorschlag: zes zur Änderung des Verschollenheitsge- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau setzes (federführend) Rechtsausschuß — Drucksache 12/5832 — Haushaltsausschuß Überweisungsvorschlag: k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rechtsausschuß Dr. Gregor Gysi, Dr. Fritz Schumann (Krop- f) Erste Beratung des von der Bundesregie- penstedt) und der Gruppe der PDS/Linke Liste rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 14. Juli 1992 Privatisierungskriminalität zwischen der Bundesrepublik Deutschland — Drucksache 12/5734 — und dem Königreich Schweden zur Vermei- Überweisungsvorschlag: dung der Doppelbesteuerung bei den Steu- Ausschuß Treuhandanstalt (federführend) ern vom Einkommen und vom Vermögen Rechtsausschuß sowie bei den Erbschafts- und Schenkung- Ausschuß für Wirtschaft steuern und zur Leistung gegenseitigen Bei- 1) Beratung des Antrags der Abgeordneten stands bei den Steuern Dietmar Schütz, Carl Ewen, Robert Antret- (Deutsch-schwedisches Steuerabkommen) ter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion — Drucksache 12/5838 — der SPD Geschwindigkeitsbeschränkungen in Na- Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß (federführend) tionalparks im Bereich der Nordsee Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO — Drucksache 12/5807 — 16034 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Vizepräsidentin Renate Schmidt Überweisungsvorschlag: d) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti-- Ausschuß für Verkehr (federführend) tionsausschusses (2. Ausschuß) Sportausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz Sammelübersicht 124 zu Petitionen und Reaktorsicherheit — Drucksache 12/5922 — Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus ZP4 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der e) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- tionsausschusses (2. Ausschuß) Sammelübersicht 125 zu Petitionen wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Sozialplan im Konkurs- — Drucksache 12/5923 — und Vergleichsverfahren Es handelt sich zunächst um zwei Beschlußempfeh- — Drucksache 12/5985 — lungen des Haushaltsausschusses zur Veräußerung Überweisungsvorschlag: bundeseigener Liegenschaften in Freiburg und Rechtsausschuß (federführend) Mannheim auf den Drucksachen 12/5818 und Ausschuß für Wirtschaft 12/5819. Wenn Sie damit einverstanden sind, lasse ich Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung über beide Beschlußempfehlungen gemeinsam ab- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten stimmen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dr. Eckhart Pick, Dr. Hans de With, Gerd Dann können wir so verfahren. Andres, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des eines Gesetzes zur Änderung der Konkurs- Haushaltsausschusses? — Gegenprobe! — Enthaltun- ordnung gen? — Die Beschlußempfehlung ist damit bei Nicht- teilnahme der meisten Mitglieder des Hauses so — Drucksache 12/5995 — angenommen. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß (federführend) (Widerspruch des Abg. Clemens Schwalbe Ausschuß für Wirtschaft [CDU/CSU]) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen — Es ist so. Herr Kollege, wenn Sie sich einmal an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse umdrehen, dann werden Sie feststellen, daß es auch in zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? Ihrer Fraktion nicht sehr viel anders ist. — Dann ist die Überweisung so beschlossen. Darm kommen wir zum Tagesordnungspunkt 18 c bis e. Hierbei handelt es sich um Beschlußempfehlun- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18a bis e gen des Petionsausschusses auf den Drucksachen auf: 12/5921 bis 12/5923. Das sind die Sammelübersich- Abschließende Beratungen ohne Aussprache ten 123 bis 125. Wer stimmt für diese Beschlußemp- a) Beratung der Beschlußempfehlung des fehlungen? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem — Damit sind auch diese Beschlußempfehlungen Antrag des Bundesministeriums der Finan- einstimmig so angenommen. zen Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt auf- Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundes- rufe, weise ich darauf hin, daß nach einer Vereinba- haushaltsordnung in die Veräußerung der rung im Ältestenrat die morgige Plenarsitzung bereits bundeseigenen Liegenschaft Fahnenberg um 8.30 Uhr beginnt. Ich bitte Sie, die Kollegen, die platz 4 in Freiburg/Br. jetzt nicht anwesend sind, hierüber zu informieren. — Drucksachen 12/5292, 12/5818 — Berichterstattung: Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf: Abgeordnete Dr. Nils Diederich (Berlin) Hans-Werner Müller (Wadern) Erste Beratung des von den Abgeordneten Werner Zywietz Ottmar Schreiner, Adolf Ostertag, Gerd An- dres, weiteren Abgeordneten und der Fraktion Beratung der Beschlußempfehlung des b) der SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset- Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu dem zes zur Einführung eines Europäischen Wirt- Antrag des Bundesministeriums der Finan- schaftsausschusses zen (Europa-Wirtschaftsausschuß-Gesetz) Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundes- haushaltsordnung in die Veräußerung der — Drucksache 12/4620 — bundeseigenen Liegenschaft Gendarme- Überweisungsvorschlag: rie-Kaserne in Mannheim-Schönau Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Wirtschaft — Drucksachen 12/5291, 12/5819 — Rechtsausschuß Berichterstattung: Ausschuß für Post und Telekomunikation Abgeordnete Dr. Nils Diederich (Berlin) EG -Ausschuß Hans-Werner Müller (Wadern) Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Werner Zywietz Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es c) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- dagegen irgendwelche Einwände? — Das ist nicht der tionsausschusses (2. Ausschuß) Fall. Dann ist das so beschlossen. Sammelübersicht 123 zu Petitionen Ich eröffne die Aussprache und erteile zuerst dem — Drucksache 12/5921 — Kollegen Adi Ostertag das Wort. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16035

Adolf Ostertag (SPD): Frau Präsidentin! Meine Weil es die soziale Dimension des Binnenmarktes Damen und Herren! Der Bundesarbeitsminister — er faktisch nicht gibt, wäre eine von der EG-Kommission ist leider gegangen — hat in der vorhergehenden vorgeschlagene Richtlinie über die Einsetzung euro- Debatte gesagt — ich finde das beachtenswert —: Wir päischer Betriebsräte eine wichtige längst überfällige brauchen weniger Besprecher, wir brauchen mehr Maßnahme. Dem Ziel, den Binnenmarkt sozial zu Bearbeiter. Ich kann ihm nur empfehlen, daß er jeden gestalten, könnten wir damit ein Stückchen näher Tag selber in den Spiegel sieht und sich das selbst kommen. Der Entwurf einer Richtlinie für europäische sagt; denn es gilt wohl vor allen Dingen für die Betriebsräte bleibt jedoch in Brüssel vor allem wegen Sozialpolitik, daß mehr gehandelt, also mehr bearbei- der ablehnenden britischen Haltung in der Schwebe. tet werden muß und nicht soviel Schönrednerisches Allerdings ist das heute keine Entschuldigung mehr, aus seinem Mund kommt. denn nach Maastricht könnte unter den neuen Bestim- mungen die Richtlinie auch ohne Großbritannien Diese Bundesregierung redet vor allen Dingen auch verabschiedet werden. viel über die EG-Sozialpolitik. Die konkreten Ergeb- nisse sind allerdings äußerst mager. Mit dem heute zur Jetzt kann der Bundesarbeitsminister seinen vielen parlamentarischen Beratung anstehenden Europa- Worten wirklich auch Taten folgen lassen. Wir brau- Wirtschaftsausschuß-Gesetz ergreifen wir Sozialde- chen und wollen auf nationaler Ebene den Europa- mokraten deshalb die Initiative, weil bisher weder der Wirtschaftsausschuß und die EG-Richtlinie. Es wäre Ministerrat noch diese Regierung zu Problemlösun- ein erster Schritt in die richtige Richtung zu einer gen fähig waren. besseren Zusammenarbeit der Arbeitnehmervertreter in Europa. Wir wollen eine immer größer werdende Lücke Der Bundestag hat am 30. Ap ril 1992 einen Beschluß schließen, die im Interesse der Arbeitnehmerinnen gefaßt, in dem es heißt: und Arbeitnehmer dringend gesetzlich ausgefüllt werden muß. Für VW, Siemens, die Allianz oder Der Deutsche Bundestag begrüßt den Richtli- Mannesmann — um nur vier Konzerne zu nennen — nienvorschlag der EG-Kommission zum Europäi- wird die Welt immer mehr zu einem globalen Dorf; schen Betriebsrat und fordert die Bundesregie- nationale Grenzen und Gesetze werden für sie immer rung auf, eine zügige Verabschiedung der Richt- unbedeutender. Aber längst sind es nicht mehr nur die linie anzustreben. Multis, sondern auch viele mittelständische Unterneh- Allerdings ist nichts geschehen. Der zuständige EG- men, die ihre Produktion und Arbeitsteilung in bisher Ministerrat hat einen erforderlichen Beschluß nicht nicht gekanntem Ausmaß internationalisieren. gefaßt, die Bundesregierung wurde nicht initiativ und Während die nationalen wirtschaftlichen Schran- scheint entgegen ihrer Propaganda auch nicht an ken längst gefallen sind und die Unternehmen inter- einer schnellen Regelung interessiert zu sein. Damit national operieren, haben Arbeitnehmer und ihre verweigert sie sich letzten Endes einer sachgerechten Vertreter in Betriebsräten oder auch in Aufsichtsräten Lösung. in den nationalen Unternehmen nach wie vor nur Wie lange sollen die Arbeitnehmerinnen und beschränkte nationale Rechte. Die Firmenleitungen Arbeitnehmer und ihre Interessenvertreter eigentlich geben meist nur nationale Teilinformationen weiter. noch vertröstet werden? Also, Herr Bundesarbeitsmi- Deshalb können Entscheidungen und Vorgehen des nister, hier muß man wirklich sagen: Wir brauchen Managements kaum wirksam nachvollzogen, ge- keine Besprecher, wir brauchen wirklich Bearbeiter. schweige denn beeinflußt werden. Das Machtun- Gehen Sie zügig daran, das Ganze umzusetzen. gleichgewicht verschiebt sich immer weiter und Da diese Bundesregierung ihr Versprechen offen- immer schneller zu Lasten der Arbeitnehmer und ihrer sichtlich nicht einlösen will, ergreifen wir in Zusam- Vertreter. Nationale Betriebsräte verlieren immer menarbeit mit dem DGB und der IG Metall die mehr Handlungsspielraum, den das Betriebsverfas- Initiative und legen einen entsprechenden Gesetzent- sungsgesetz eigentlich garantieren sollte. wurf vor. Damit soll für die Arbeitnehmerinnen und Natürlich wissen wir alle in diesem Parlament — ich Arbeitnehmer und ihre Interessenvertreter in Europa glaube, das ist in den letzten Wochen deutlich gewor- ein soziales Zeichen gesetzt werden. Wir meinen, das den — um die schleichende Entwertung von Arbeit- ist eine Chance, die Einstellung der Arbeitnehmerin- nehmerrechten. Von daher ist dringender Handlungs- nen und Arbeitnehmer zu Europa ein bißchen positi- bedarf gegeben. So fordert z. B. der DGB in Art. 8 ver zu beeinflussen. Daran könnten eigentlich wir alle seiner gewerkschaftlichen Anforderungen für soziale mitarbeiten. Grund - und Mindestnormen in der EG, daß sicherzu- Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir die Zusam- stellen sei, daß „Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte menarbeit der europäischen Arbeitnehmervertreter unmittelbar gegenüber der jeweils entscheidenden erleichtern. Deutsche Konzernbetriebsräte können Stelle im Unternehmen oder Konzern ausgeübt wer- dann einen Wirtschaftsausschuß bilden und in diesen den können, auch wenn diese sich in einem anderen auch ausländische Arbeitnehmervertreter berufen, Land der Gemeinschaft befinden". wenn in den Tochterunternehmen mindestens 100 Wie gesagt, trotz schöner Versprechungen folgt Beschäftigte sind; diese Begrenzung ist natürlich dem Europa der Konzerne noch lange nicht das eingebaut. Europa der Menschen. Da rin, daß Entscheidungspro- Ich möchte am Rande bemerken, daß die Einbezie- zesse undemokratisch und nicht mehr transparent hung ausländischer Arbeitnehmervertreter auch ein sind, liegt meines Erachtens ein Grund für die vielzi- positives Zeichen gegen die in unserem Land zuneh- tierte Europamüdigkeit. mende Fremdenfeindlichkeit wäre. Ich glaube, es 16036 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Adolf Ostertag wäre in der Tat ein guter Schritt und ein wichtiges Es ist eben wieder so viel über den Standort Signal gegenüber unseren ausländischen Mitbürge- Deutschland diskutiert worden. Lassen Sie mich rinnen und Mitbürgern, wenn diese Initiative Erfolg abschließend sagen: Das gilt auch für die soziale hätte. Dimension in Europa. Wer heute die Nase vorn haben (Beifall bei der SPD) will, kommt an einer grenzüberschreitenden Einbe- ziehung der Arbeitnehmer an Entscheidungsprozes- Die für diese Initia tive notwendige Änderung der sen in Unternehmen nicht vorbei. Deswegen sollten §§ 106 und 107 des Betriebsverfassungsgesetzes ent- Sie sich diesem Vorhaben anschließen. Wir fordern spricht bereits heute vertretenen Rechtsmeinungen Sie auf, unserer Ini tiative zuzustimmen. und läßt sich auch mit wenig Aufwand vornehmen. Wir sollten sie schnellstens realisieren, damit das Vielen Dank. bewährte Betriebsverfassungsgesetz nicht weiter (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke durch die sich beschleunigende Entwicklung ausge- Liste) höhlt wird. Mit der von uns vorgeschlagenen Erweiterung des Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächstes hat Wirtschaftsausschusses wäre Deutschland vorbildlich nun der Kollege Peter Keller das Wort. innerhalb der EG. Gleichzeitig würde dadurch Unter- nehmen ein Signal gegeben, die Arbeit europäischer Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter und -gre- Peter Keller (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Mein mien vertraglich zu erleichtern, sie in der Tat ein lieben Kolleginnen und Kollegen! Nach der Rede des Stückchen zu motivieren. Kollegen Ostertag könnte man dem vorliegenden Entwurf der SPD zur Einführung eines Europäischen Im Wirtschaftsausschuß muß das Unternehmen Wirtschaftsausschusses fast zustimmen wollen. über alle wirtschaftlichen Fragen unterrichten und (Beifall bei der SPD) darüber beraten. Hierzu zählen beispielsweise die Finanz- und Absatzlage, Investitions- und Rationali- Die Betonung liegt natürlich auf „fast"; Sie müssen sierungsvorhaben, die Verlegung oder der Zusam- erst einmal zuhören. menschluß von Betrieben sowie alle für die Arbeitneh- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Zunächst wird mer bedeutsamen wirtschaftlichen Vorgänge, so wie überwiesen, dann diskutieren wir in Ruhe!) es im jetzigen § 106 des Betriebsverfassungsgesetzes Das liefe dann nach dem Motto: Deutschland im zum Wirtschaftsausschuß schon festgeschrieben ist. Alleingang, entschlossen zur längst überfälligen Ver- Bisher geschieht das nur auf der Ebene der Gesamt- besserung der Arbeitnehmermitbestimmung in betriebsräte und nicht auf der internationalen Kon- grenzüberschreitenden Unternehmen. Es ist sicher- zernebene. Vor allem dort ist aber eine europäische lich richtig, Herr Kollege Ostertag — ich versuche, Regelung sinnvoll. auch das Gemeinsame herauszuarbeiten —, daß die Mitbestimmung zum Kern der sozialen Partnerschaft Mit unserer Gesetzesinitiative machen wir den in unserer Sozialen Marktwirtschaft gehört. Im Ziel dringend erforderlichen ersten Schritt. Mit unserem stimme ich Ihnen zu, nur ist der Weg des SPD-Antrags Vorschlag würde man praktisch die EG-Richtlinie im nach meiner Meinung falsch. Vorgriff für Deutschl and verankern. Als Arbeitnehmervertreter — ich war früher selbst Betriebsrat und im Wirtschaftsausschuß eines großen Unsere Initiative ersetzt allerdings nicht die euro- Konzerns — sowie als Sozialpolitiker bin ich mit den päischen Betriebsräte. Sie wären als zweiter Schritt Kolleginnen und Kollegen der SPD sicherlich auch ebenso notwendig. darüber einig, daß der europäische Binnenmarkt Wir brauchen die Vereinheitlichung und Europä- nicht nur ein gemeinsamer Wirtschaftsraum sein darf, isierung betriebsverfassungsrechtlicher Grundstruk- sondern daß in gleichem Maße auch die soziale turen; denn selbst wenn die europäische Richtlinie Dimension mitentwickelt werden muß. verabschiedet wird, brauchen wir danach auch die Ich meine, Europa muß mehr sein als eine reine nationale Umsetzung. Hier können wir mit der vorge- Wirtschaftsgemeinschaft. Europa darf nicht nur ein schlagenen Ergänzung des Betriebsverfassungsgeset- Europa der Unternehmer und der Banker sein, son- zes wichtige Erfahrungen sammeln. dern dieses Europa muß auch ein Europa der Arbeit- nehmer sein; deshalb diese soziale Dimension. Dazu Wenn es Ihnen, meine Damen und Herren von den gehören nicht nur unsere Forderungen nach sozialen Regierungsparteien, mit der sozialen Dimension des Mindeststandards, die von der . Bundesregierung Binnenmarktes wirklich ernst ist, dann stimmen Sie gemeinsam mit den deutschen Sozialpartnern verein- unserer Initiative zu. Unsere langjährigen Erfahrun- bart worden sind, sondern dazu gehört auch ein gen mit der deutschen Mitbestimmungspraxis zeigen, unverzichtbares Mindestmaß an Mitbestimmungs- daß die Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen rechten. für das jeweilige Unternehmen positiv ist. Unsere Forderung lautet: Europaweit tätige Unter- Es ist auch nicht einzusehen, warum aus Unterneh- nehmen brauchen eine europäische Arbeitnehmer- mersicht europaweite inte rnationale Kontakte und vertretung. Das gebietet schon die Chancengleich- Kooperationen von Führungskräften und Fachleuten heit. Während nämlich der Informationsfluß bei den erwünscht sind und nur der soziale Dialog mit den grenzüberschreitenden Unternehmen schon heute Betriebsräten an den nationalen Grenzen haltmachen gar keine Frage mehr ist, stehen die Arbeitnehmer soll. noch im Abseits. Ich frage mich aber auch: Was nützt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16037

Peter Keller ein hervorragendes nationales Recht, wenn es an der Im Gegensatz dazu könnte ein deutsches Vorpre- Grenze aufhört? schen, so wie Sie es wollen, zum jetzigen Zeitpunkt als ein Signal der Resignation verstanden werden, daß sie Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der diese europäischen Betriebsräte gar nicht mehr for- SPD, nun zu der Frage, warum wir Ihrem Vorschlag dern wollen, weil die Deutschen allein die Brech- bzw. diesem Weg nicht zustimmen können. Der stange sind, um hier etwas zu erreichen. Gesetzentwurf der SPD erfaßt nur die Unternehmen und Konzerne, die ihren Sitz, ihre Zentrale in Vor diese Situation, meine lieben Kolleginnen und Deutschland haben. Ist die Zentrale in einem europäi- Kollegen, möchte ich wirklich im Interesse der Mitbe- schen Nachbarland angesiedelt, läuft das Gesetz ins stimmung, die wir für die europäischen Arbeitnehmer Leere. wollen, nachdrücklich warnen. Denn gerade uns (Zuruf von der F.D.P.: So ist es!) Deutschen kommt bei der Gestaltung des Europäi- schen Sozialraums eine Vorreiterrolle zu. Diese dür- Es wäre nur eine deutsche Vorreiterrolle. fen wir nicht verspielen; das wollen wir auch nicht Es ist zu befürchten — das ist zumindest meine tun. Sorge —, daß sich europaweit, ja weltweit operierende Ich meine, wir sollten uns alle einig sein, daß wir Unternehmen diese Rechtslage zunutze machen dringend Regelungen zur Mitwirkung der Arbeitneh- könnten und — ich sage es juristisch — „auswan- mer in grenzüberschreitenden Unternehmen brau- dern", um dieser Regelung zu entgehen. Gerade im chen. Wir sollten deshalb weiterhin alle Kraft darauf Hinblick auf die Diskussion über den Wirtschafts- konzentrieren, hier gleich zu einer in ganz Europa standort Deutschland halte ich ein einsames Vorpre- verbindlichen Lösung zu finden, nämlich der Lösung schen Deutschlands in dieser Frage für nicht hilfreich; über den europäischen Be triebsrat. Ein nationaler ich halte es sogar für politisch bedenklich. Alleingang wäre nur ein Stückwerk und könnte sich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) als weiterer Wettbewerbsnachteil für den Industrie- standort Deutschland auswirken. Eine solche einseitige, nur für Unternehmen mit Deshalb können wir Ihrem Vorschlag zur Einfüh- Zentralsitz in Deutschland geltende Regelung könnte rung eines Europäischen Wirtschaftsausschusses sich möglicherweise als weiterer Wettbewerbsnach- nicht beitreten. Wir wollen uns aber verstärkt für die teil auswirken; das wollen wir nicht. Schaffung eines europäischen Betriebsrates einset- So soll nach den Vorstellungen der SPD in jedem zen. Ich meine, der europäische Betriebsrat wird auch Konzern — auch ohne ausländische Tochterfirma — dazu beitragen, den sozialen Frieden in den Bet rieben ein Wirtschaftsausschuß gebildet werden. Bisher ging zu sichern. das nur auf der Unternehmensebene. Damit wird Wichtig ist deshalb die harte und klare deutsche natürlich auch eine zusätzliche kostenträchtige Verhandlungslinie. Ich richte diese Aufforderung Arbeitnehmervertretung geschaffen. gerade an unseren Bundesarbeitsminister. Wir sollten Nun zu der Frage, meine lieben Kolleginnen und hinter unserem Arbeitsminister stehen und als Parla- Kollegen, was wir für den richtigen Weg halten. Wir ment, ganz gleich ob als Koalition oder Opposi tion, die sind uns sicherlich einig, daß wir eine einheitliche Bundesregierung tatkräftig unterstützen. Ich fordere EG-Regelung, die für alle europäischen Länder gel- Sie auf, darauf unsere gemeinsame Kraft zu verwen- ten muß, mit gleichen Rechten für alle Arbeitnehmer den. brauchen. Hierfür gibt es bereits den Entwurf einer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) EG-Richtlinie zur Einsetzung europäischer Betriebs- räte. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat die Kolle- Meine Damen und Herren, ich weiß, es gibt natür- gin Dr. Gisela Babel das Wort. lich Grund, darüber zu murren — und ich murre mit —, daß wir hier noch nicht weitergekommen sind. Wir Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine wissen alle, woran es liegt: nicht an uns, nicht an der Damen und Herren! Die Mitwirkung von Arbeitneh- Bundesregierung, nicht an Deutschland, sondern an mern an Entscheidungen innerhalb eines Unterneh- Großbritannien, das sich unrühmlich aus der Sozial- mens erfolgt nach deutschem Betriebsverfassungs- union Europas verabschiedet und hier eine eindeutige recht im Betriebsrat. Es fehlen aber Regelungen für Bremserrolle übernommen hat. Damit ist nach dem die Arbeitnehmer in ausländischen Tochtergesell- jetzigen Stand der ratifizierten Verträge von Maas- schaften deutscher Unternehmen. Wie sind ihre Mit- tricht Gott sei Dank endgültig Schluß, weil das Ein- wirkungsrechte, und wo können sie diese ausüben? stimmigkeitsprinzip nämlich nicht mehr gilt. Jetzt Nationale Bestimmungen gelten für die Arbeitneh- können wir mit qualifizierter Mehrheit arbeiten. mer dieser Konzerntöchter im Ausland nicht. Im Diese Richtlinie für europäische Betriebsräte kann Interesse aller Arbeitnehmer ist es, möglichst gleiche nun im Rat der Arbeits- und Sozialminister der EG Mitbestimmungsrechte in ihren Ländern herzustel- notfalls auch mit entsprechender qualifizierter Mehr- len. Das ist auch im Interesse der deutschen Arbeit- heit verabschiedet werden. Das heißt, es ist keine nehmer, weil sich doch auch deutsche Firmen der Einstimmigkeit mehr erforderlich. Ich meine, wir unbequemen Mitbestimmung nicht durch Verlage- sollten das auch durchsetzen. Die EG-Kommission hat rung ins Ausland entziehen sollten. bereits angekündigt, entsprechend den Protokollen Nun gibt es Bemühungen, zumindest im Wirt- über die Sozialpolitik verfahren zu wollen und die schaftsraum der Europäischen Gemeinschaft eine Verabschiedung zügig — Kollege Ostertag: zügig — Richtlinie über die Einrichtung europäischer Betriebs- voranzutreiben. räte zu schaffen. Selbst im Interesse deutscher Unter- 16038 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Gisela Babel nehmen müßte eine solche Richtlinie sein, um auch Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat dem Wettbewerb gleiche Chancen zu geben; denn der Kollege Dr. Fritz Schumann das Wort. auch soziale Standards sind Standortfaktoren. Die Verhandlungen in Brüssel mögen zäh und langwierig sein. Hier ist schon darauf hingewiesen Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke worden, daß sie durch den Maastricht-Vertrag unter Liste): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! neuen und anderen Bedingungen weitergeführt wer- Die Redner, zumindest die beiden ersten dieser den. Aber ich habe den Eindruck, die SPD hat einfach Debattenrunde, haben übereinstimmend festgestellt, nicht soviel Geduld und prescht jetzt vor, um einen daß Europa nicht nur ein Wirtschafts- und Handels- deutschen Sonderweg vorzuschlagen. Nichts anderes standort sein kann, sondern daß es darüber hinaus ist das, was Sie hier vorgelegt haben. auch um soziale Dimensionen geht. Dem kann m an sich eigentlich nur anschließen. Wenn man sich ver- Die deutschen Unternehmen und Konzerne sollen gegenwärtigt, daß die Gründungsväter eines gemein- bei dem nach § 106 Betriebsverfassungsgesetz gebil- samen Europas sicher sehr viele politische Ansätze deten Wirtschaftsausschuß auch Arbeitnehmervertre- verfolgt haben, so muß man heute feststellen, daß die ter aus den ausländischen Tochterunternehmen auf- politischen und vor allen Dingen die demokratischen nehmen und mitwirken lassen. Das sieht auf den Ansätze arg ins Hintertreffen geraten sind. Neben ersten Blick vielleicht sogar ganz einnehmend aus. Wirtschaft, Landwirtschaft und Handel haben vor Aber man erweist den Verhandlungen in Brüssel allen Dingen Banken und Versicherungen, die Finan- dadurch einen Bärendienst. Es handelte sich, wenn zen allgemein, Europa erobert. Die politische Dimen- wir dem folgen würden, um einen unabgestimmten sion ist hier einfach nicht nachgekommen. Alleingang von deutscher Seite und würde ganz deutlich auch als solcher empfunden werden. Wir sehen die Wirtschaftsdemokratie als einen Teil der wichtigen politischen Dimension an, die es in Schlimmer ist in meinen Augen aber etwas anderes, diesem Zusammenhang weiterzuentwickeln gilt. Nun meine Damen und Herren: Deutsche Unternehmen ist bekanntermaßen — dies ist hier zum Ausdruck werden aus diesem Vorschlag herausgenommen und gebracht worden — die EG-Initiative zur Bildung benachteiligt; denn nur sie müßten ja ausländische gemeinsamer Betriebsräte in Europa auf der Strecke Arbeitnehmer heranreisen lassen — dies ist auch nicht geblieben. Auch die Ursachen sind genannt worden. ganz ohne Kosten — und sie in ihren Gremien Darin kommt zum Ausdruck, daß man den politischen beteiligen. Ausländische Unternehmen aber blieben Aufgaben nicht gewachsen ist. davon völlig frei. Wir begrüßen den Gesetzentwurf der SPD, weil, wie Dieses Ergebnis ist besonders unannehmbar, wenn wir glauben, damit ein Beitrag geleistet wird, diese Sie die deutschen Arbeitnehmer berücksichtigen, die EG-Initiative wieder in Gang zu bekommen. Ich hielte heute in Deutschl and in Zweigunternehmen auslän- es auch für gut, wenn Deutschland dabei eine Vorrei- discher Konzerne arbeiten. Sie haben nämlich schon terrolle spielen würde, auch wenn sich meine unmit- heute gegenüber ihren Kollegen in deutschen Unter- telbare Vorrednerin dagegen ausgesprochen hat. Ich nehmen weniger Chancen, von ihrer ausländischen möchte dies mit zwei Ansätzen begründen. Konzernspitze über langfristige Firmenpläne etwas zu Erstens. Der Kollege Keller von der CSU hat eben erfahren. Sie werden oft sehr plötzlich vor sehr harte gerade gesagt, Bet riebsräte und Wirtschaftsdemokra- Entscheidungen gestellt, die ihren eigenen Arbeits- tie seien wesentliche Bestandteile der Sozialen platz betreffen. Für diese Gruppe der Arbeitnehmer in Marktwirtschaft, d. h. auch ein Stück Motor der Sozia- ausländischen Firmen auf deutschem Boden haben len Marktwirtschaft. Warum also sollte dies auf euro- Sie überhaupt keine Lösung. Die vorgeschlagene päischer Ebene kein Motor zur Weiterentwicklung Möglichkeit gibt es ja dann nicht. der Sozialen Marktwirtschaft sein? Wieso wird immer Ich glaube, das macht ganz deutlich, daß der Weg, der Gedanke ins Spiel gebracht, daß ein deutscher den Sie vorschlagen, kein gangbarer Weg ist, sondern Alleingang in Richtung eines Betriebsrats auf euro- daß es darauf ankommt, daß wir in allen Unternehmen päischer Ebene eventuell zur Bremse werden könnte? dazu ermutigen, Informations- und Konsultationsver- Das ist für mich nicht so recht verständlich, wenn es so fahren einzuführen. Dies sieht die europäische Richt- ist, wie es der Kollege Keller hier zum Ausdruck linie auch vor. So, wie sich der Entwurf der SPD nennt gebracht hat. — Entwurf eines Europa-Wirtschaftsausschuß-Geset- Zweitens. Ein solches Vorgehen kann doch auch ein zes —, ist das nämlich nicht zutreffend. Er ist der Beitrag dazu sein, daß Europa nicht nur für Großkon- Entwurf eines „ Deutschland-Wirtschaftsausschuß- zerne, Großbanken und Regierungsvertreter erlebbar Gesetzes "; er ist ein Entwurf, in dem eine deutsche gemacht wird. Wir beklagen allgemein, daß es in der Sonderregelung vorgeschlagen wird. Er nährt den Bevölkerung eine große Politikmüdigkeit gibt. Diese fürchterlichen Verdacht der ehemaligen britischen betrifft wohl die Europapolitik noch stärker als die Premierministerin Thatcher, daß es den Deutschen Politik hier im Lande. Uns müßte also daran gelegen nicht darum geht, Deutschland in Europa aufgehen zu sein, diese Müdigkeit durch eine Initiative auf zubes- lassen, sondern Europa in Deutschland. sern. (Beifall bei der F.D.P.) Was den Gesetzentwurf im besonderen anlangt, so Ich glaube, wir sollten uns vor solchen Gefahren muß ich den vorliegenden Vorschlag zu § 106 Abs. 1 hüten. Wir lehnen den Gesetzentwurf daher ab. hoffentlich nicht so verstehen, daß ein Wirtschaftsaus- schuß auf internationaler Konzernebene bedingt, daß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dann Wirtschaftsausschüsse auf Betriebsebene weg- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16039

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) fallen. Ich glaube, daß es für beide ganz spezifische Es gibt keinen Prozeß in der Menschheitsge-- Aufgaben gibt. schichte, der innerhalb nur einer einzigen Generation Danke. so nachhaltige Veränderungen und so negative Aus- wirkungen erzeugt hat wie die verfehlte Agrarkultur (Beifall bei der PDS/Linke Liste) der letzten 30 Jahre. Ich will das in fünf Punkten exemplarisch verdeutlichen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- dungen liegen mir nicht vor. Ich schließe dann diese Erstens. Technikeinsatz und Chemisierung in der uns offensichtlich alle ungeheuer mitreißende Aus- Landwirtschaft haben zu einer beispiellosen Intensi- sprache und komme zur Abstimmung. vierung — mit allen umweltrelevanten Problemen — Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz- und zu einer riesigen Überproduktion geführt. Wäh- entwurfs auf Drucksache 12/4620 an die in der Tages- rend dadurch in den Industriestaaten ein Überfluß an ordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an Nahrungsmitteln vorhanden ist und die Übersätti- den EG-Ausschuß vorgeschlagen. Besteht dazu Ein- gung zu Gesundheitsproblemen geführt hat, verhun- verständnis? — Dies scheint der Fall zu sein. Dann ist gern in anderen Regionen der Erde Menschen zu die Überweisung so beschlossen, und wir kommen Millionen. dann irgendwann zu einer zweiten und dritten Zweitens. In den letzten Jahrzehnten ist die L and- Lesung, die uns vielleicht mehr mitreißen wird. wirtschaft einseitig unter das Diktat der Ökonomie (Zurufe) gestellt worden, und dabei ist die Ökologie unter die — Ich habe recht; ich weiß schon, warum ich das sage. Räder gekommen. Das kann m an auch daran ablesen, daß an den landwirtschaftlichen Fakultäten die Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf: Anzahl der Lehrstühle für Agrarökonomie alle ande- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- ren Forschungsdisziplinen dieses Bereiches majori- ten Horst Sielaff, Brigitte Adler, Hans Gottf ried siert. Bernrath, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ich war vor drei Tagen in meiner Heimatstadt beim tion der SPD Festakt aus Anlaß der Errichtung des ersten Lehr- Umsetzung der flankierenden Maßnahmen stuhls in Deutschland für Tierethologie und artge- der EG-Agrarreform in der Bundesrepublik rechte Tierhaltung, mit dem deutschlandweit der erste Deutschland und bisher auch einzige Studiengang für ökologi- — Drucksachen 12/4362, 12/5076 — schen Landbau komplettiert worden ist. Das macht auf Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der einen Seite Hoffnung, auf der anderen Seite läßt es der SPD vor. mich verzweifeln, wenn ich bedenke, daß eigentlich and Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die jede landwirtschaftliche Fakultät in Deutschl einen solchen integrierten Studiengang anbieten Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu anderweitige Vorstellungen? — Das ist nicht der Fall. müßte. Dann ist das so beschlossen. Eine einseitig auf Ökonomisierung der Landwirt- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem schaft ausgerichtete Politik hat dazu geführt, daß seit dem Kollegen Joachim Tappe das Wort. der Jahrhundertwende die Hälfte aller Haustiere ausgestorben ist. Es gibt gerade noch 770 verschie- Joachim Tappe (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- dene Rassen Pferde, Rinder, Schafe, Ziegen, leginnen und Kollegen! Es wird sicherlich niemanden Schweine und Hühner. 70 % unserer europäischen verwundern, wenn ich gleich zu Beginn namens Milcherzeugung stammt von den Schwarz-Bunten, meiner Fraktion feststelle: Die Antwort der Bundesre- ebenso hoch ist der Anteil der Schweinefleischpro- gierung auf unsere Große Anfrage ist eine armselige, duktion aus der Kreuzung des deutschen L and- kurzatmige und technokratische Darstellung der schweins mit dem Piètrainschwein. Nicht-Lösungskompetenz der Bundesregierung an- Auf 80 % der europäischen Anbauflächen wachsen gesichts eines der drängendsten Probleme unserer gerade noch vier verschiedene Körner. Mehr als die Zeit. Die Antwort, ohne Perspektive und Orientierung Hälfte aller erzeugten Äpfel in Europa gehört zur über den Tag hinaus, macht deutlich, daß die Fehlein- Sorte Golden Delicious. schätzung der Bundesregierung bei der Situation in der Landwirtschaft genauso groß ist wie bei anderen Vom Ackersalat bis zur Zwiebel, vom Rind bis zum Politikbereichen. Schwein haben wir stromlinienförmig Hochertrags Einzelfragen wird der Kollege Sielaff im Begrün- sorten und -rassen gezüchtet. Der daraus resultie- dungszusammenhang unseres Entschließungsantrags rende Artenschwund ist dramatisch. hier noch behandeln. (Georg Gallus [F.D.P.]: Das ist kein Arten- Ich möchte heute das tun, was der Bundeskanzler in schwund!) seiner Regierungserklärung zur Sicherung des Wirt- Die einzige Antwort auf dieses Phänomen ist die schaftsstandorts Deutschl and in der vorigen Woche Errichtung zentraler Genbanken. Dorthin wird die von dieser Stelle aus eingefordert hat, nämlich eine natürliche Vielfalt verbannt — in eine künstliche anregen, allerdings hier speziell für Generalinventur Umwelt also —, damit in freier Natur Platz für patent- den Bereich der Landwirtschaft und der Landwirt- geschützte Produkte der Saatgutkonzerne und der schaftspolitik. Ich will nach mehr als 30 Jahren EG- Tierzuchtanstalten ist. Agrarpolitik aus meiner Sicht ein paar grundsätzliche Anmerkungen zu dieser zu erstellenden Bestandsauf- Drittens. Die milliardenschweren Landwirtschafts- nahme machen. subventionen ohne ausreichende Marktregulierung 16040 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Joachim Tappe und ohne durchgreifende soziale Flankierung haben Marktes, die Bestimmungen des EG-Agrarrechts und das Höfesterben nicht verhindern können. die föderalen Verantwortlichkeiten die Umsetzung (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause mancher positiver Einsichten erschweren. Dies darf [Bonese] [fraktionslos]) dennoch kein Grund dafür sein, daß die nationalen Nischen und Möglichkeiten nicht genutzt werden. Wir Noch vor 40 Jahren gab es in meinem ländlichen brauchen ein geschlossenes landwirtschaftliches Wahlkreis mehr als 10 000 landwirtschaftliche Anwe- Konzept mit Perspektive und Orientierung für sen, heute sind es weniger als 2 000. Weitere Hun- Mensch und Natur. Eine solche Orientierung von der derte von Landwirten müssen in den nächsten Jahren Bundesregierung zu erfahren war das Hauptmotiv aufgeben. Mit den dörflichen Strukturen — unsere unserer Anfrage. Die gegebene Antwort hat mehr Dörfer sind zu Schlafstätten und „Altersheimen" Fragen aufgeworfen als beantwortet. Ich finde das degeneriert — verkümmern auch die ländlichen schade. Räume. (Beifall bei der SPD) Hinzu kommt die Zerschlagung regionaler Verar- beitungsstrukturen. Der Wegfall ortsnaher Molke- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der reien und Schlachthöfe macht nun Transportrituale in Kollege Ulrich Junghanns. einem Umfang erforderlich, der auch nega tive Folgen für den Tierschutz hat. Ich denke hierbei besonders an die barbarische Situa tion bei den Schlachtviehtrans- Ulrich Junghanns (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau porten. Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durch meinen Vorredner sind wir durch die schwärzeste Viertens. Auch die wissenschaftlich ausgerichtete Globalinterpretation bereichert worden, aber keinen Forstbewirtschaftung hat nicht verhindert, daß unser Schritt vorwärtsgekommen. Ich möchte auch gern Wald in einem dramatischen Tempo zugrunde geht. solche Globaldiskussionen führen, aber dann, wenn Ich bin überzeugt davon: Wenn unsere Wälder sie aufgerufen sind. Heute wollte die SPD doch über schreien könnten, wir würden unsere eigenen Worte die flankierenden Maßnahmen reden. Ich spreche nicht mehr verstehen. jetzt zur Sache. Ich glaube, daß dies ein dienlicher Fünftens. Die auf industrielle Produktionsmethoden Umgang miteinander ist. ausgerichtete Landwirtschaft hat Monokulturen ge- Die heute hier in Rede stehenden flankierenden schaffen, in denen die Natur zum Produktionsfaktor Maßnahmen kennzeichnen in besonderer Weise die degradiert wurde. Dadurch ist zwar eine ungeheure Komplexität der Agrarreform für die Zukunft der Vielfalt eines bezahlbaren Nahrungsmittelangebots Landwirtschaft, der L andschaft und der ländlichen geschaffen worden, die uns aber zugleich ärmer und Räume: in Europa im allgemeinen und in Deutschl and leider auch weniger gesund macht. Das ist der hohe im speziellen. Die Antwort der Bundesregierung auf Preis der vielgepriesenen Vielfalt. die Große Anfrage gibt hierzu im einzelnen Auskunft. Die folgenschwere Armut als Resultat verfehlter Deshalb möchte ich — auch um einige Anmerkungen Landwirtschaftspolitik zeigt sich besonders da rin, daß meines Vorredners wieder vom Kopf auf die Füße zu die Einmaligkeit und die Unersetzlichkeit der Natur stellen — hier nur einige kurze allgemeine Ausfüh- und unserer ländlichen Naturräume zerstört werden. rungen machen und dann zu den Einzelthemen kom- Uns muß jedoch klar sein: Für Unersetzliches gibt es men. keinen Preis, es sei denn den der Vernichtung. Mit den flankierenden Maßnahmen werden der (Beifall bei der SPD) auslösende Faktor, nämlich die Marktanpassung der landwirtschaftlichen Produk tion und ihre sozialen Über Hunderte von Genera tionen waren die Men- Folgen, und die Konsequenzen für eine umweltge- schen auch Opfer der Natur. Heute sind wir ihre rechte Landbewirtschaftung eng und konstruktiv mit- Feinde. Es ist unbestritten, daß die Natur für uns einander verknüpft. Die Bundesregierung hat die Menschen auch einen Nutzwert hat. Aber bei allen flankierenden Maßnahmen nicht nur von Anfang an Handlungen — hier liegt die ausschließliche Aufgabe maßgeblich unterstützt, sondern sie sieht darin auch vorausschauender Politik — dürfen wir nicht überse- ein wichtiges agrarpolitisches Gestaltungsfeld für hen, daß das Schicksal künftiger Generationen unab- Bund und Länder gleichermaßen, auf dem wesentlich dingbar mit dem Schicksal der Natur und der Umwelt über die Akzeptanz der Reform sowohl unter den verbunden ist. beteiligten und betroffenen Bauern als auch unter der Wenn ich nun diese — sicherlich nicht vollständi- Bevölkerung überhaupt entschieden wird. gen — Anmerkungen zu der eingeforderten General- Der Sachstand der bisherigen Umsetzung in den inventur betrachte, komme ich zu der Feststellung: drei Regelungsbereichen — ich möchte sie in S tich- Die Anwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage worten nennen: Vorruhestand, Aufforstungsmaßnah- ist ein unübertroffenes Dokument dafür, wie es nicht men und Extensivierung — ist, entgegen der falschen sein sollte. Das Desaster wird nur verwaltet und trägt Darstellung im SPD-Entschließungsantrag, Beleg für zu der allseits beklagten Verdrossenheit bei, weil die zielstrebige Arbeit der Bundesregierung. Ich keine ausreichenden Problemlösungen angeboten möchte das jetzt im einzelnen nachweisen. und weil falsche Prioritäten gesetzt werden. Die Erstens zum Vorruhestand: Bei dem großen Gestal- ungenügende Ausgestaltung der Gemeinschaftsauf- tungsspielraum der Mitgliedstaaten in diesem Bereich gabe zeigt das. können wir in Deutschland auf das bereits geltende Ich gestehe gern zu — damit komme ich zum Gesetz über die Förderung der Einstellung der l and- Schluß —, daß die Mechanismen des sogenannten wirtschaftlichen Erwerbstätigkeit verweisen. Weil es Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16041

Ulrich Junghanns sich in dieser Form bewährt hat und den Zielvorgaben Mit den Kulturlandschaftsprogrammen wird kom- der neuen EG-Verordnung genügt, wird dieses petenterweise, so meinen wir, von den Ländern die Gesetz nunmehr im europäischen Beihilfeverbund engere Verknüpfung der Agrarstrukturpolitik mit den weiter angewandt. Lediglich ergänzend wird diese örtlich spezifischen Belangen der Landschaftspflege, Regelung im Zuge der Reform der agrarsozialen des Umwelt- und Naturschutzes stimuliert und orga- Sicherung auch in unseren jungen Bundesländern nisiert. Den Bauern wird eine Leistung honoriert eingeführt. Bis dahin stehen dort spezielle Maßnah- — mein Kollege Deß wird darüber im einzelnen aus men zur Verfügung, die den Besonderheiten der dem Blickwinkel Bayerns sprechen —, wodurch auch Erwerbsstruktur entsprechen, z. B. Altersübergangs- die öffentliche Akzeptanz für den Mitteleinsatz geld, Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung, Fortbil- wächst. dung und Umschulung. Der zweite Ansatzpunkt ist nach Art. 3 Abs. 4 der Zweitens zur Aufforstung: Es ist — in aller Beschei- EG-Verordnung die Schaffung von Beihilferegelun- denheit — ein Hinweis auf das Niveau der agrarpoli- gen für Extensivierungsmaßnahmen, die wegen ihres tischen Instrumentarien in Deutschland, wenn auch unmittelbaren Bezugs zur Agrarmarktentlastung und für diesen Bereich festgestellt werden kann, daß die zur Agrarstrukturverbesserung einheitlich für das Umsetzung der neuen EG-Verordnung vollzogen ist. gesamte Bundesgebiet wirksam werden sollen. Nahe- Das Förderziel Aufforstung war bereits Inhalt des liegend ist dafür wiederum das Instrument der Rahmenplans der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse- Gemeinschaftsaufgabe. rung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes". Im Gesetz zur Änderung der Gemeinschaftsaufgabe Somit galt es, diesen Fördergrundsatz mit den verbes- haben Bundestag und Bundesrat — ich möchte das serten gemeinschaftlichen Konditionen zu verknüp- betonen — mit der Aufnahme des Fördergegenstan- fen, was kurzfristig mit Wirksamkeit vom 1. Januar des „markt- und standortangepaßte Landbewirtschaf- 1993 im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe geschafft tung " die erforderliche Rahmenregelung ge troffen. wurde. Gemeinsames Anliegen ist, damit auch eine gewisse Es gibt nunmehr, je nach Standortbedingungen, einheitliche Basiskonzeption der Extensivierung zu Aufforstungsprämien über 20 Jahre zwischen 500 DM schaffen, wodurch mögliche Wettbewerbsverzerrun- und 1 400 DM pro Hektar, die im Normalfall zu 50 % gen zwischen den Ländern verhindert werden sollen. und in den sogenannten Ziel-1-Gebieten, zu denen Für die Realisierung stehen jedoch nach unseren alle jungen Bundesländer zählen, zu 75 % von der Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen entgegen frü- Gemeinschaft aufgebracht werden. heren Annahmen weniger GA-Mittel im Jahre 1994 zur Verfügung, so daß nicht einfach draufgesattelt Hier sei angemerkt: Wenn es heute mitunter Hin- werden kann. weise auf Aufforstungsfälle gibt, die agrarstrukturel- len Zielvorstellungen widersprechen, dann liegt das Unsere Auffassung ist deshalb, daß jetzt in den überhaupt nicht am guten Instrument der Auffor- Ländern die Abwägung ge troffen werden muß zwi- stungsförderung selbst. Das weist vielmehr auf Män- schen den landesspezifischen Kulturlandschaftspro- gel bei der Koordination der Mittelverwendung zwi- grammen einerseits und der Finanzierung von Exten- schen den Beteiligten in den Ländern hin, die wie- sivierungsmaßnahmen in der Gemeinschaftsaufgabe derum nur in den Ländern beseitigt werden können bei Abgleichung mit den Erfordernissen der einzelbe- und müssen. trieblichen Förderung, der Dorferneuerung oder der wasserwirtschaftlichen Maßnahmen andererseits. Drittens zum Bereich der Extensivierung: Bei der Ratsam erscheint, neben den Kulturlandschaftspro- Umsetzung der EG-Verordnung für umweltgerechte grammen der Länder, vorsichtig und schrittweise in und den natürlichen Lebensraum schützende land- der Gemeinschaftsaufgabe mit der Finanzierung von wirtschaftliche Produktionsverfahren gibt es zwei Extensivierungsmaßnahmen zu beginnen. Ansatzpunkte, wobei beide Male die Länder mit in der Verantwortung stehen. Deshalb ist es falsch, wenn die Wir verstehen, daß die Länder innerhalb ihres SPD in ihrem Antrag fordert, die Bundesregierung Haushaltsrahmens eigenverantwortlich die Prioritä- solle Voraussetzungen schaffen, ... Ich glaube, selbst ten für den Mitteleinsatz treffen wollen. Derartig die SPD-regierten Länder würden es sich nicht gefal- weitgehende Flexibilität gebietet natürlich, daß die len lassen, mit einseitigen Bundesvorgaben konfron- Länder ihre Schwerpunktsetzung auch auf der Kür- tiert zu werden. zungsseite offensiv vertreten und dort nicht jedesmal versuchen, dem Bund den Schwarzen Peter zuzu- Der erste Ansatzpunkt ist nach A rt. 3 Abs. 1 der schieben. EG-Verordnung die Umsetzung in gebietsspezifische (E st Kastning [SPD]: Er hat ihn aber Mehrjahresprogramme der Bundesländer. Alle Bun- rn desländer haben bereits ihre — ich verwende dafür doch!) einmal den gängigen Sammelbegriff — Kulturland- — Das stimmt nicht. — Dabei sollte aus verständlichen schaftsprogramme in Brüssel notifizieren lassen. Gründen die einzelbetriebliche Förderung, insonder- heit die einzelbetriebliche Investitionsförderung, von Für die Länder Bayern, Baden-Württemberg, Mittelkürzungen durch die Länder verschont bleiben. Rheinland-Pfalz, Sachsen und Thüringen sind auch Unter diesen Aspekten halte ich eine Entscheidungs- schon die Konformitätsprüfungen abgeschlossen. Für findung im PLANAK am 15. November für dringend die anderen soll das vor Jahresfrist erfolgen, so daß geboten. dann die erforderlichen Grundlagen für den Beihilfe- fluß von der Gemeinschaft direkt in die Bundesländer Nun noch von meiner Seite zu einer Frage der geschaffen sind. EG-Agrarreform, die für die Bauern unserer jungen 16042 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Ulrich Junghanns Länder schon zur „Gretchenfrage" der europäischen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol-- Agrarpolitik geworden ist, zur Korrektur des soge- lege Günther Bredehorn das Wort. nannten beihilfefähigen Grundflächenplafonds. Der Konflikt mit der Kommission ist sehr tief, vor Günther Bredehorn (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe allem, weil sie, entgegen aller sachlich begründeten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Tappe, Änderungsversuche des Bundesministers Borchert, zunächst ein Wort zu Ihnen. Ich schätze Sie ansonsten nunmehr einen völlig unakzeptablen Bestrafungsmo- sehr. Aber was Sie in der Grundsatzdiskussion, die Sie dus auf den Weg geschickt hat. Danach müßten im begonnen haben und die sicherlich ganz wichtig ist Maße der Überschreitung der Grundflächen alle Aus- und die man sicher einmal führen muß — was ich jetzt gleichszahlungen 1993 um 17 % gekürzt werden. 1994 gern tun möchte —, müßten 17 % der Fläche zusätzlich stillgelegt werden; (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) 15 % stehen reformbedingt ohnehin zur Stillegung an. hier vorgestellt haben, war so einseitig und strotzte so Rund ein Dri ttel von Mecklenburg-Vorpommern von Halbwahrheiten, daß man das nicht so stehenlas- würde damit brachliegen. sen kann. Ich möchte nur zwei oder drei Punkte (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions aufgreifen. los]: Unerhört!) Sie haben unsere Nahrungsmittel angesprochen und gesagt, sie seien vielleicht nicht mehr so gesund, Dies ist für unsere jungen Bundesländer, die mitten in wie man sich das vorstellt. — Es ist nachweisbar, daß einer tiefgreifenden Umstrukturierung stecken, völlig es noch nie in der Geschichte der Menschheit so viele unzumutbar. qualitativ hochwertige Nahrungsmittel, eine so große (Georg Gallus [F.D.P.]: Jawohl!) Vielseitigkeit an hygienisch einwandfreien und gesunden und für die Verbraucher preiswerten Nah- Die landwirtschaftlichen Betriebe beginnen langsam rungsmittel gegeben hat wie heute. Fuß zu fassen. Die Anwendung solcher Regelungen ist existenzbedrohend. Deshalb möchte ich an dieser (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Stelle, gerichtet an die Kommission, mit aller Deutlich- ten der CDU/CSU) keit hervorheben: Die Landwirte trifft keinerlei Lieber Herr Kollege Tappe, wenn Sie sagen, Men- Schuld an der Misere, deshalb darf sie auch keine schen wurden Opfer der Natur, dann ist das richtig. Bestrafung treffen. Ich wohne an der Nordseeküste und kann das selber bestätigen. Dann haben Sie gesagt: Heute sind Men- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge schen zum Teil Feinde der Natur. — Das mag ja sein. ordneten der F.D.P.) Ich will Ihnen jedoch als Bauer aus meiner Erfahrung Natürlich müssen Ursachen, Fehler und vermeidbares heraus sagen: Wenn Sie einen landwirtschaftlichen Fehlverhalten lückenlos aufgeklärt werden, aber das Betrieb erfolgreich führen wollen, wenn Sie in all den kann letztlich keinen Sanktionsmechanismus gegen- Jahren eine gute Ernte haben wollen, dann geht das über den Bauern rechtfertigen. nur mit der Natur und nie gegen die Natur. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die Agrarpolitiker und viele andere Kollegen der CDU/CSU-Fraktion unterstützen die von Bundes- Sie haben auch gesagt — das soll auch das letzte kanzler Kohl mitgetragene feste Verhandlungsposi- sein —, daß an den Hochschulen und Universitäten tion unseres Bundeslandwirtschaftsministers zur Ä n- Einseitigkeit von Forschung und Lehre herrscht. — derung der Grundflächenbemessung. Wir fordern, Das sollten Sie dann eigentlich auch beweisen müs- um es konkret zu sagen, eine Korrektur der Entschei- sen. Es kann doch wohl nicht so sein, daß sich dung aus dem Jahre 1992 und damit eine Erhöhung Forschung und Lehre darin ausdrückt, daß Professo- der Grundflächen in den neuen Bundesländern um ca. ren und Studenten p rivate Felder der KWS, auf denen 350 000 ha, das sind ca. 10 % der derzeitigen Grund- Versuche mit Zuckerrüben und Kartoffeln stattfinden, fläche. besetzen, wie es in Einbeck und Northeim über sechs Wochen hinweg geschehen ist. Ich muß Ihnen sagen, Wir erwarten eine politische Entscheidung, auch das hat nichts mit Freiheit von Forschung und Lehre zu mit dem Hinweis darauf, daß es von der Kommission tun, sondern das, was dort verfochten wurde, war seinerzeit eine politische Lösung des italienischen, schon eher Ideologie. Das möchte ich nicht gern an spanischen und portugiesischen Milchquotenpro- unseren Hochschulen haben. blems gab, obwohl dort über Jahre gegen EG- Wir müssen uns mit dem Problem der Gentechnik, Verordnungen verstoßen wurde. gerade im Bereich der Landwirtschaft, auseinander- In allen EG-Ländern hat sich die Reform auf stati- setzen. Das ist überhaupt keine Frage. Ich muß jedoch stische Angaben aus langjähriger Zusammenarbeit auch feststellen: Wir haben in Deutschland — der stützen können, in den neuen Bundesländern auf zwei Versuch in Northeim und Einbeck ist nach einem sehr gegriffene Jahre, 1989/90, die noch weitgehend plan- langen Verfahren genehmigt worden — in diesem wirtschaftlichen Ursprungs waren. Hier muß es eine Bereich nur drei genehmigte Versuche. In Belgien einmalige, sinnvolle Korrektur geben, wenn die allein gibt es über 50 Versuche. Das müssen wir auch Agrarreform für unsere jungen Länder nicht insge- sehen, wenn wir vom Standort Deutschl and und der samt sinnlos werden soll. Qualität von Lehre und Forschung reden. Das muß man dann ein bißchen relativieren. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das mag genügen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16043

Günther Bredehorn Ich freue mich und finde es gut, daß wir heute diese vom Kollegen Kastning und vom Kollegen Jan Ooster- Debatte führen. Es ist nämlich an der Zeit, über die getelo. Sie lassen sie zu? Möglichkeiten - von daher war die Anfrage auch in Ordnung und durchaus zu begrüßen — der flankie- Günther Bredehorn (F.D.P.): Bitte. renden Maßnahmen der EG-Agrarreform zu disku- tieren und damit auf europäischer Ebene auch neue Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wunderbar. agrarpolitische Schwerpunkte zu setzen. Daß die flankierenden Maßnahmen in der agrar- Ernst Kastning (SPD): Herr Kollege Bredehorn, da politischen Diskussion bisher keine besondere Rolle Sie wissen, daß ich einige Ihrer gedanklichen Ansätze spielen, mag daran liegen, daß zwei der drei von sehr schätze, gerade was Sie soeben ausgeführt Brüssel vorgegebenen Maßnahmen — die Auffor- haben, frage ich Sie: Sehen Sie in absehbarer Zeit eine stung und die Vorruhestandsregelung, bei uns FELEG Chance, diese Denkansätze, die Sie vorgetragen genannt — bereits in nationales Recht umgesetzt sind haben, auch einmal innerhalb der Koalition mehr- und von unseren Landwirten gut angenommen wer- heitsfähig zu machen? den. Die flankierende Maßnahme „umweltgerechtere landwirtschaftliche Produktion", die Anreize für eine Günther Bredehorn (F.D.P.): Darüber diskutieren umweltgerechtere Landbewirtschaftung schaffen soll, wir in der Koalition. Ich gehe davon aus, daß die ist bei uns leider bisher nicht umgesetzt, auch deshalb Entwicklung, die auf uns zukommt, einfach dazu nicht, weil sich Bund und Länder bisher nicht einigen zwingen wird, hier auch zu neuen Ansätzen zu kom- konnten, aber auch sicherlich deshalb nicht, weil die men. dazu nötigen Finanzmittel bisher im Haushalt fehlen bzw. man nicht den Mut hatte — vielleicht auch keine Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun Kollege Mehrheiten —, neue Schwerpunkte zu setzen. Oostergetelo. Die notwendigen Einsparbeträge, die selbstver- ständlich auch im Haushalt des Bundeslandwirt- Jan Oostergetelo (SPD): Herr Kollege, ich denke, schaftsministeriums erbracht werden müssen, gingen Sie wissen als Bauer genausogut wie ich, daß die neue leider überwiegend zu Lasten der Gemeinschaftsauf- Agrarpolitik Wirkung zeigt, egal, wie ich sie ein- gabe. Der Plafond der Gemeinschaftsaufgabe wird schätze. Ob ich dies positiv oder negativ sehe, sie zeigt weiter heruntergezogen, und gleichzeitig werden in Wirkung. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. den Aufgabenkatalog neue Aufgaben hineingescho- Der Traum, man könne bei hohen Preisen weniger ben. Damit steigt natürlich der Druck im Kessel. produzieren, ist ausgeträumt. Aber Sie haben zu Recht gesagt, daß wir die begleitenden Maßnahmen nicht Wenn Bundeslandwirtschaftsminister Jochen Bor- umgesetzt haben. chert — völlig zu Recht und von uns voll unterstützt — Nun tragen Sie diese Regierung mit. Was können die Förderung wettbewerbsfähiger, marktorientierter wir denn tun — es soll an uns nicht liegen —, um die landwirtschaftlicher Betriebe als ein agrarpolitisches begleitenden Maßnahmen überhaupt zu finanzieren, Ziel herausstellt, so kann das kaum gelingen, wenn wenn wir die wie Sie zu die finanziellen Engpässe und die Überhänge an Gemeinschaftsaufgabe — Recht gesagt haben — an allen Ecken und Enden Förderanträgen laufend zunehmen. plündern? Dann müssen wir doch auch bereit sein, Vor diesem Hintergrund ist eine erfolgreiche irgendwelche Titel zu streichen, damit wir hier Luft Umsetzung der flankierenden Maßnahme „extensive bekommen. Agrarproduktion" kaum möglich. Das bedaure ich. Ich meine auch, es ist agrarpolitisch unvernünftig, Günther Bredehorn (F.D.P.): Schönen Dank für die die bestehenden verschiedenen Gießkannenmaßnah- Frage, Herr Kollege Oostergetelo. Ich werde auf men zu heiligen Kühen zu erklären und sich den einiges davon gleich noch eingehen. Aber eines Spielraum für eine gezielte Agraranpassungspolitik möchte ich Ihnen vorweg sagen: Von den begleiten- auf diese Weise einzuengen. den, von den flankierenden Maßnahmen haben wir (Beifall bei der F.D.P.) bereits — das ist durchaus sehr positiv zu sehen, auch mit Blick auf Europa — zwei umgesetzt. Das Auffor- Es wird auf Dauer nicht alles möglich sein. Wir stungsprogramm läuft, ebenso das Vorruhestands- können nicht auf der einen Seite die Ausgaben für programm. Aber ich habe hier ja durchaus kritisch eine sinnvolle und notwendige Agrarsozialpolitik angemerkt, daß wir uns hier — auch mit den Län- maximieren, gleichzeitig die Gießkannenhilfen auf dern — noch zusammenraufen müssen. hohem Niveau halten und entwicklungsfähige Be- triebe durch Investitionshilfen fördern. (Zuruf von der CDU/CSU: Vor allem mit den Ländern!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Länder sind da auch gefordert. Es geht nur mit den Unsere Strukturdefizite im EG-Vergleich sind nicht Ländern; wir sind dabei. wegzudiskutieren. Wir sollten nicht — auch nicht vor Ich habe natürlich auch auf das Manko der knappen einer langen Serie wichtiger Wahlen — den Eindruck Mittel hingewiesen. Hier müssen wir dann in Zukunft erwecken, wir könnten mit der Aufrechterhaltung neue Schwerpunkte setzen, wenn wir es denn wol- zahlreicher Einkommenstransfers die weitere Anpas- len. sung der Landwirtschaft verhindern.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Bre- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Brede- dehorn, lassen Sie auch noch eine Zwischenfrage aus horn, es gibt zwei Zwischenfragenwünsche, nämlich Ihrer eigenen Fraktion zu? 16044 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Günther Bredehorn (F.D.P.): Bitte. der kürzlich sagte, von den 130 Millionen ha landwirt- schaftlicher Nutzfläche der EG müßten 15 Millionen Ulrich Heinrich (F.D.P.): Herr Kollege Bredehorn, ha auf dem Wege freiwilliger Betriebsstillegung aus würden Sie mir beipflichten, daß man angesichts der der Produktion ausscheiden, weil die EG-Agrarreform finanziellen Situation, in der sich die Landwirtschaft das Überschußproblem bislang nicht in den Griff derzeit befindet, über Streichungen von Fördermaß- bekommen habe. Das ist ja leider so. nahmen aktuell nicht reden darf? Wie schon gesagt, braucht man nicht — und wi ll ich nicht — so weit gehen, wie Professor Wolffram es tut. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich wette, er Aber das Problem müssen wir lösen. Hierbei bin ich pflichtet Ihnen bei. für eine möglichst breitgefächerte Vielfalt von Maß- nahmen, die den Bedürfnissen der Landwirte in Günther Bredehorn (F.D.P.): Ich habe ja ganz deut- Europa, die sich anpassen wollen, entsprechen. Wir lich gesagt, daß wir auch im Bereich Agrarhaushalt sollten also alle vernünftigen Optionen eröffnen und einige schmerzliche Kürzungen vornehmen mußten. sie EG-weit anbieten. Trotzdem bin ich der Meinung, wir müssen die Dis- Die flächengebundenen Einkommensübertragun- kussion weiterführen, um die knapper werdenden gen erweisen sich, weil sie eben doch Produktionswir- Mittel noch optimaler zugunsten unserer betroffenen kungen haben, als zu wenig wirksam. Ich meine, wir Landwirte einzusetzen. müssen einmal diskutieren, ob nicht direkte perso- Meine Damen und Herren, mit flankierenden Maß- nengebundene Einkommensübertragungen als wei- nahmen wollen wir auch einen geordneten und sozial- tere Option hinzukommen sollten. Denn mehr als die verträglichen Übergang ermöglichen. Mit flankieren- Hälfte der rund acht Millionen EG-Bauern ist älter als den Maßnahmen können wir Strukturbrüche, Exi- 55 Jahre. Drei Millionen von ihnen bewirtschaften stenz- und Vermögensverluste vermeiden. weniger als 5 ha. Viele von ihnen würden lieber heute Flankierende Maßnahmen sollen Umorientierung als morgen aufhören, wenn sie denn eine Alte rnative bewerkstelligen und Neubeginn erleichtern. Die flan- hätten. Wir sollten ihnen das Ausscheiden erleichtern kierenden Maßnahmen liegen an der Nahtstelle zwi- und ein Angebot machen. Ich stelle mir dies als eine schen dem derzeitigen Zustand und einem Ziel, das Weiterentwicklung der Vorruhestandsregelung auf wir erreichen wollen. Ein vorrangiges Ziel muß dabei europäischer Ebene vor. Den noch wirtschaftenden sein, daß unsere Landwirtschaftsbetriebe wettbe- Betriebsleitern macht man ein entsprechendes Ange- werbsfähig bleiben oder werden. bot. Es könnte als fairer Einkommensausgleich ausge- Bundeslandwirtschaftsminister Borchert weist im- zahlt und auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt mer wieder darauf hin, wo wir bereits Marktanteilver- werden. Eine Kapitalisierung des Anspruchs sollte luste hinnehmen mußten und wo uns dies künftig möglich sein. droht — und dies vor dem Hintergrund, daß der (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro- Standortwettbewerb zwischen den Agrarregionen der nenberg) EG an Härte zunimmt. Hinzu kommt, daß sich die EG Mit diesem Konzept kann man denen, die nicht in einer Erweiterungsphase befindet und zusätzlich mehr weiter wirtschaften wollen, den Ausstieg aus der die Staaten Mittel- und Osteuropas auf unseren kauf- Landwirtschaft erleichtern. Für andere erweitert sich kräftigen Markt drängen. Auch die klassischen Agrar- der unternehmerische Spielraum. Als Finanzierungs- exportstaaten aus Übersee werden nicht aufhören, die quellen hierfür sehe ich die dann geringer werdenden Festung Europa zu belagern. Der Wettbewerb bei der Marktordnungsausgaben, den Bereich der Exportsub- Produktion von Agrarrohstoffen wird weiter an Inten- ventionen oder die Ausgleichszulage, die man dann in sität zunehmen. Hierfür müssen wir uns mit vernünf- eine gezielte strukturelle Hilfe umwandeln könnte. tigen Maßnahmen fit machen; denn wir sind es, die hier über weite Strecken Nachholbedarf haben. Meine Damen und Herren, ich weiß sehr wohl: Diese Vorschläge bergen durchaus Sprengstoff; aber Die flankierenden Maßnahmen müssen in Zukunft die ungelösten Probleme der EG-Agrarpolitik sind ein stärkeres agrarpolitisches Gewicht erhalten. Dar- meines Erachtens viel brisanter. Als Liberaler möchte über, glaube ich, sind wir uns einig. Wenn die Brüs- ich lieber nach neuen Wegen suchen und neue Wege seler Vorgaben für eine umweltgerechtere Landwirt- eröffnen, als mich hinter ideologischen Scheuklappen schaft vernünftig umgesetzt werden, können sie zu verstecken. Ich hoffe und wünsche, daß wir uns durchaus in die richtige Richtung wirken und neue dieser Aufgabe gemeinsam stellen. Chancen ermöglichen. Wir müssen aber, meine ich, mehr tun, als dort vorgesehen ist, wenn wir zu Ich danke Ihnen. vernünftigen Rahmenbedingungen für eine wettbe- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) werbsfähige, extensive Landwirtschaft in Gegenden kommen wollen, die nicht die besten natürlichen Voraussetzungen haben. Wirtschaftlichkeit und Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Der Abge- Wettbewerbsfähigkeit werden sich dort nur ergeben, ordnete Dr. Fritz Schumann hat das Wort. wenn sich der angemessene Einkommensanspruch auf größeren Einheiten befriedigen läßt. Dazu gilt es, Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke z. B. die rechtlichen Hemmnisse des Bodenrechts Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In abzubauen. der Antwort der Bundesregierung auf die Große Aber auch neue Ansätze für die strukturelle Ent- Anfrage der SPD zur Wirkung der flankierenden wicklung können sinnvoll sein. Ich möchte nicht so Maßnahmen der EG-Agrarreform wird deutlich, daß weit gehen wie der Bonner Agrarprofessor Wolffram, es bisher sehr wenig Faßbares gibt — darüber waren Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16045

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) sich einige der Vorredner einig —, sieht man davon regierung noch in dieser Legislaturperiode entspre- ab, daß es eine Reihe von Gesetzen und Regelungen in chend der Antwort auf die Frage 10 der Großen der Bundesrepublik bereits vor der EG-Agrarreform Anfrage vorgelegt werden. Ich erwarte, daß darin gab, die in diese Richtung wirken, wie z. B. das Gesetz insbesondere für die inzwischen strukturarmen bis zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftli- fast strukturlosen Gebiete in ländlichen Räumen der chen Erwerbstätigkeit oder Regelungen zur Auffor- fünf neuen Länder, besonders in Mecklenburg-Vor- stung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe. pommern, in Brandenburg sowie in Südthüringen, Vorschläge enthalten sind, die den Erhalt der Kultur- Die EG-Agrarreform wirkt aber schon seit diesem landschaft einschließen, einer Kulturlandschaft, in der Jahr. Es ist nicht zu verkennen, daß sich die Landwirte auch produziert wird und in der es sich auch für junge darauf eingestellt haben. Insbesondere in den neuen Menschen wieder zu leben lohnt. Bundesländern — das kann ich hier sagen — wurde sehr schnell und sehr konsequent auf die veränderten Eine Alternative dazu bietet sicher auch die Produk- ökonomischen Bedingungen reagiert. So sind es tion nachwachsender Rohstoffe, die wir viel stärker weniger die flankierenden Maßnahmen zur EG- als bisher forschungsseitig, produktionsseitig und Agrarreform, die aber bitter notwendig wären, als die überhaupt in unsere Förderprogramme einschließen gesunkenen Preise für die Produkte selbst, die eine müssen. Wir waren mit einer kleinen Delegation im Extensivierung der Produktion herbeiführen. Das ist Sommer dieses Jahres in Frankreich und konnten uns auch überhaupt nicht zu beklagen. Vielmehr war es davon überzeugen, daß es dort kaum stillgelegte gewollt, daß mit der Preisreduzierung auch eine Flächen gibt. Denn in Frankreich ist per Gesetz z. B. Extensivierung einhergeht. Nur sollten die flankie- die Beimischung von Bioalkohol oder Rapsmethyl- renden Maßnahmen eben diesen rein ökonomischen ester zum Treibstoff geregelt, ebenso eine entspre- Prozeß, der sich gegenwärtig vollzieht, begleiten und chende Steuerbefreiung. So werden Weizen oder vorrangig der umweltgerechten, nach Möglichkeit Raps auf Flächen angebaut, die eigentlich stillgelegt flächendeckenden und landschaftserhaltenden Pro- werden sollten. Genau das fehlt uns. Es gibt offenbar duktion Rechnung tragen. Eben das passiert im sehr große Schwierigkeiten, das wirk lich durchzuset- Moment nicht. zen. Das wäre eine Initiative wert. Daß die im Verhältnis zum Vorjahr drastisch gesun- Es geht nicht nur um die Land- und Ernährungswirt- kenen Erzeugerpreise für Getreide, Ölfrüchte und schaft. Vielmehr müßten wir die Gesamtentwicklung Eiweißfrüchte auch eine Reduzierung von Aufwen- auf dem Land als komplexes Programm von Wirt- dungen insbesondere für Dünge- und Pflanzenschutz- schafts-, Landwirtschafts- und Sozialentwicklung mittel nach sich ziehen, ist im Interesse der umwelt- betrachten. Mit der gegenwärtigen Verfahrensweise, gerechten Produktion sehr zu begrüßen und zeigt ländliche Räume als Anhängsel der Agrar- und Raum- einmal mehr, daß Bauern auch rechnen können. ordnungspolitik zu betrachten, ist dieses Problem Ich sehe jedoch auch Gefahren in dieser Entwick- sicher nicht zu lösen. lung. Die Annäherung der Erzeugerpreise in der EG an die Weltmarktpreise wird trotz Ausgleichsleistun- Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Die Ant- gen den Druck darauf erhöhen, nur noch dort zu wort zu Frage 28 hinsichtlich der Übertragung des produzieren, wo es nach den natürlichen Bedingun- Gesetzes zur Förderung der Einstellung der landwirt- gen am besten möglich ist. Das ist zwar ökonomisch schaftlichen Erwerbstätigkeit auf die neuen Bundes- vielleicht sinnvoll, entspricht aber nicht dem Ziel der länder ist ja mit der Agrarsozialreform, wie angekün- Erhaltung der Kulturlandschaft und birgt für mich ein digt, umgesetzt worden. weiteres Problem in sich: Ökologisch sinnvoll Nah- Regelungen rungsmittel zu produzieren kann sich nicht allein Unbefriedigend bleibt dennoch, daß es von Gesellschaftern in darin erschöpfen, Dünge- und Pflanzenschutzmittel zum vorzeitigen Ruhestand Genossenschaften und anderen juristischen Personen zu reduzieren, sondern muß immer auch eine Produk- nicht gibt. Gerade in Genossenschaften, in denen tion in regionalen Kreisläufen sein. Gerade in der Nahrungsmittelproduktion, aber auch in anderen Eigentümer und Produzenten in hohem Maße iden- Wirtschaftszweigen sind regionale Kreisläufe von Pro- tisch sind und ein immenser Struktur- und Formwan- del in den nächsten Jahren ebenso ansteht wie in der duktion und Verbrauch immer mehr unabdingbar. übrigen Landwirtschaft, wäre eine diesbezügliche Der gegenwärtige Zustand, daß durch halb Europa Regelung sehr wünschenswert. Mit dem Wegfall der Grundnahrungsmittel hin- und hergefahren werden, Vorruhestandsregelung ergeben sich eben erneut ist in vielerlei Hinsicht nicht mehr zu verantworten. erhebliche soziale Probleme, die nicht bewältigt Das schließt natürlich überhaupt nicht aus, daß es sind. regionale Besonderheiten gibt, deren Produktion ohnehin auf das ganze Land oder auch in Europa Hinweisen möchte ich auch noch darauf, daß es verteilt werden kann. So wächst zum Glück nicht einer dringenden Regelung der Basisflächen bedarf. überall Wein und Braugerste. Ebenso gibt es bei Das Vertrauen der Landwirte in die Politik wird in Gemüse und Saatgut Spezialregionen, in denen nur erheblichem Maße gestört, wenn es hier zu keiner bestimmte Früchte wachsen. Aber Fleisch, Brot, But- Regelung kommt. ter und Milch lassen sich nahezu in jeder Region erzeugen. Danke. Zur Entwicklung ländlicher Räume in ihrer (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Gesamtheit soll ein „Konzept zur Weiterentwicklung Abgeordneten der SPD — Zurufe von der und Förderung ländlicher Räume" durch die Bundes- CDU/CSU: Das stimmt! — Da hat er recht!) 16046 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort erteile ich nun dem Abgeordneten Rudolf Krause hat nunmehr der Abgeordnete Horst Sielaff. (Bonese).

Horst Sielaff (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Junghanns, Sie haben mit Ihrer Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr Rede unseren Verdacht bestätigt: Präsident! Meine Damen und Herren! Drei flankie- rende Maßnahmen stehen zur Diskussion. (Zuruf von der CDU/CSU: Das kann doch nicht sein!) Erstens: Vorruhestand und Entwicklung des ländli- chen Raumes. Ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Die Bundesregierung ist offensichtlich bei der ganzen Erwerbsleben ohne Hofnachfolge führt zum Ausster- EG-Agrarreform nur Zuschauer; wo Fehler gemacht ben des Bauernstandes. Ziel verantwortlicher natio- worden sind, sind lediglich die Länder schuld. naler Politik muß aber die Erhaltung unseres Bauern- (Zuruf von der CDU/CSU: Und die SPD!) standes sein. Deutschland ohne Bauern wäre ein Ich kann den Agrarministern in den neuen Bundes- anderes Land. ländern nur raten, Ihre Rede von heute sehr genau Zur Entwicklung des ländlichen Raumes: Für keine durchzulesen, ländliche Region gibt es konkrete Entwicklungspläne, (Zuruf von der CDU/CSU: Das machen die die folgende Fragen beantworten: Was soll im ländli- bestimmt!) chen Raum produziert werden? Für welchen Markt? denn die Minister, Ihre Minister, kriegen von Ihnen Zu welchen Kosten? Gegen welche nationale und die Schuld in die Schuhe geschoben. internationale Konkurrenz? Es gibt nirgendwo solche regionalen Konzeptionen. Konzeptionslosigkeit aber (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ist für die Be troffenen Hoffnungslosigkeit. Meine Damen und Herren, die flankierenden Maß- Zweitens zur Aufforstung: Alle Industrielander nahmen der EG-Agrarreform sind für uns ein ganz haben eine Verantwortung für den Erhalt der Wälder wesentlicher Teil der überfällig gewesenen Agrarre- auf unserem Pl aneten. Das heißt: keine Billigimporte form. Die Ziele dieser Reform begrüßen wir ausdrück- aus Ländern, die in großem Maße Wälder zerstören, lich, nämlich durch extensive Landwirtschaft und vor allem nicht aus solchen Flächen, die von Waldzer- Produktionsverfahren und durch die Umwidmung von störungen herrühren. Flächen umweltbelastende Auswirkungen abzu- bauen bzw. zu verringern und gleichzeitig die unsin- Schlußfolgerung muß also sein: auch kein deutsches nige Überproduktion einzudämmen, um damit den Geld für globale Umweltzerstörer. Das muß das Ziel Markt zu entlasten. einer weltweiten Umweltpolitik sein. Ebenso positiv bewerten wir die Förderung der (Zuruf von der CDU/CSU: Was verstehen Sie Erstaufforstungen dort, wo sie sinnvoll sind, und die darunter?) Möglichkeit für den Landwirt, den Übergang zum Drittens: Grundsatzfragen ökologischer Landwirt- Vorruhestand leichter zu vollziehen. schaft. Schutz des natürlichen Lebensraumes kann Mit unserer Großen Anfrage wollten wir auf die doch wohl nur weltweit gemeint sein. Nicht nur die Bedeutung der flankierenden Maßnahmen hinweisen Umwelt in Deutschland, sondern das globale Ökosy- und die Umsetzung beschleunigen. Ich freue mich, stem muß geschützt werden. Herr Bredehorn, daß Sie offensichtlich dies ja auch Die deutsche Landwirtschaft darf dabei ökologisch begrüßt haben, und wir hoffen, daß wir jetzt vielleicht nicht eigendiskriminiert werden. Was heißt das? Was doch einiges mehr in Gang setzen können. in Deutschland verbraucht werden darf, muß auch in Auf der EG-Ebene wird durch die Reform die Deutschland produziert werden dürfen. Möglichkeit eröffnet, Agrarstrukturpolitik und Agrar- (Zuruf von der SPD: Apfelsinen! — Zuruf von umweltpolitik institutionell zu verklammern. Diese der CDU/CSU: Bananen! — Kaffee!) gesellschafts- und umweltpolitisch wichtigen Ziele sind für uns ein zentraler Teil der EG-Agrarreform. Sie Nationale Regelungen haben den Verbraucher zu sollten auch durch den vielfachen bürokratischen schützen und nicht einseitig den deutschen Produzen- Unsinn und die Schwerfälligkeit bei der Umsetzung ten zu diskriminieren. — Diese höhnischen Bemer- nicht vermischt werden. kungen werden den badischen Bauern nicht befriedi- gen, der sich einer unlauteren Konkurrenz aus Frank- Jetzt haben wir also mit dieser Reform und ihren reich gegenübersieht. flankierenden Maßnahmen die Möglichkeit, Agrar- strukturpolitik und Umweltpolitik miteinander zu ver- (Zuruf von der CDU/CSU: Deshalb habe ich binden. Leider wird diese Chance nicht voll „Bananen" gesagt!) genutzt. Es nützt der Umwelt auf diesem Pl aneten nicht, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wenn str eng reglementierte Produkte aus Deutsch- Agrarstrukturpolitik ist für uns nämlich mehr als l and vom internationalen und vom nationalen Markt nur die Verbesserung der Produktions-, Arbeits- und verdrängt werden, wenn deutsche Standorte verlo- Marktbedingungen landwirtschaftlicher Betriebe, so rengehen. Der Schutz der deutschen Standorte, der wichtig diese Voraussetzungen auch sind. Agrar- Schutz der deutschen Landwirtschaft ist immer noch strukturpolitik muß mehr leisten. Wesentlich ist ihr der beste Beitrag zu einem globalen Umweltschutz. Beitrag zum Schutz aller natürlichen Lebensgrundla- Ich danke für die Aufmerksamkeit. gen und zur Sicherung und Entwicklung der Funktio- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16047

Horst Sielaff nen unserer ländlichen Räume. Hieran müssen die dazu beitragen, die Unsicherheit bei den Landwirten- Landwirte arbeiten, und die Politik muß sie dazu in die nicht noch größer werden zu lassen. Lage versetzen und ihnen langfristige und verläßliche (Beifall bei der SPD) Rahmenbedingungen vorgeben. Der siebente Entwurf zur Umsetzung der flankie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) renden Maßnahmen liegt dafür auf dem Tisch. Seit über einem Jahr wird verhandelt, angesetzte Termine Wie es mit der Umsetzung dieser Agrarreform, die ja werden kurzfristig abgesetzt oder nicht eingehalten. auch der Weg zu einer umweltgerechten Agrarpolitik Die eingetretenen Verzögerungen bei der Umsetzung sein soll, aussieht, haben wir beispielsweise gestern in dieses Teils der EG-Agrarreform hat die Bundesregie- der gemeinsamen Sitzung mit dem Agrarausschuß rung alleine zu verantworten. des Europäischen Parlaments wieder deutlich erfah- (Beifall bei der SPD) ren. Davon, daß wir von harmonisierten Umwelt- schutzmaßnahmen sprechen können, sind wir, glaube Unstimmigkeiten zwischen dem Landwirtschaftsmi- ich, weit entfernt. nister und dem Umweltminister, zwischen dem L and- wirtschaftsminister und dem Finanzminister über die Ich nenne einige Beispiele. Ich erinnere daran, daß Ausrichtung und Ausgestaltung der Agrarumwelt- in Frankreich immer noch die Quecksilberbeizung bei politik und die Finanzierungsmöglichkeiten sind die Getreide erlaubt ist, die bei uns der Vergangenheit Ursachen dafür. Der tiefere Grund liegt jedoch in der angehört, weil verboten. Konzeptionslosigkeit und der Führungsschwäche die- ser Bundesregierung. (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der Abg. Lisa Peters [F.D.P.]) (Beifall bei der SPD) Die Verzögerungen umfassen inzwischen eine Ich erinnere daran, daß wir eine Richtlinie zum ganze Vegetationsperiode und reihen sich in die Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln von Pannen und Peinlichkeiten des übrigen Brüsseler 1991 haben. 1993 ist sie immer noch nicht umge- Geschäfts dieser Bundesregierung ein. Herr Brede- setzt. horn, ich nenne hier nur die verpaßte Absicherung Ich denke an den Bereich Pflanzenbehandlungsmit- landwirtschaftlicher Interessen beim Währungs- tel, in dem die gesetzlichen Voraussetzungen in den beschluß am 2. August dieses Jahres und die viel zu Mitgliedstaaten mehr als unterschiedlich sind. späte und undiplomatische Inangriffnahme und Behandlung der Basisflächenüberschreitung auf dem (Zustimmung bei der CDU/CSU — Siegfried Brüsseler Parkett. Hornung [CDU/CSU]: Und die Bremser sit (Beifall bei der SPD) zen in Ihrer Partei!) Wir hoffen, daß es dem Agrarminister gelingt, diese Ich habe Verständnis dafür, daß die Landwirte Fehlentscheidungen in Brüssel zu korrigieren. Wir insbesondere in den Grenzbereichen mit Recht über wünschen ihm dazu Erfolg. Zu späterem Zeitpunkt diese Entwicklung verärgert sind. wird Gelegenheit sein, über Art und Weise der Ver- handlungen ausführlicher zu diskutieren. (Lisa Peters [F.D.P.]: Nicht nur im Grenzbe Dagegen werden Gießkannenförderungen — auch reich!) Herr Bredehorn hat das angesprochen — kaum ange- — Aber da im besonderen Maße, liebe Kollegin, weil tastet, und zwar trotz grundlegender Änderungen in dort natürlich erkennbar ist, daß man mit dem Last- der agrarpolitischen L andschaft. wagen das, was bei uns verboten ist, herüberfahren (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Was wollen Sie kann. Ich meine, niemand kann dies wollen. denn alles streichen?) (Lisa Peters [F.D.P.]: Die Unkosten sind über Die knappen Haushaltsmittel führen zu Einsparungen all gleich!) bei der Förderung von Investitionen zur Herstellung wettbewerbsfähiger Betriebe und lebenswerter Dör- Meine Damen und Herren, Agrarumweltpolitik fer. Für die umwelt- und marktentlastenden flankie- darf sich auch nicht auf eng begrenzte Gebiete allein renden Maßnahmen steht praktisch keine müde Mark beschränken. Sie muß mit Hilfe der flankierenden zur Verfügung. Die Bundesregierung will die Umwid- Maßnahmen flächendeckend ausgerichtet sein. Inso- mung bzw. die langfristige Stillegung von Ackerflä- fern ist es falsch, wenn hier von der CDU gesagt wird, chen für Zwecke des Umweltschutzes, die zugegebe- die Länder sollten das allein machen. nermaßen teuer sind — wir haben es von Herrn Junghanns wieder gehört —, den Ländern überlassen (Zurufe von der CDU/CSU: Das hat keiner und nicht in die Gemeinschaftsaufgabe aufnehmen. gesagt! — Sie müssen besser zuhören!)

Ich meine, daß hier der Bund nach wie vor in der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Verantwortung steht. geordneter Sielaff, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? — Bitte sehr. Abgesehen von den in der Gemeinschaftsaufgabe bereits verankerten Aufforstungsmöglichkeiten gibt es bis heute keinen Beschluß zur Umsetzung der Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Herr Kollege Sie- übrigen flankierenden Maßnahmen. Hier hat der laff, würden Sie mir bitte aufzählen, welche Förder- Agrarminister seine Hausaufgaben noch nicht ge- maßnahmen Sie als Gießkannenförderung bezeich- macht. Hier könnte die Bundesregierung effektiv nen? 16048 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das darf das eingeführt hat, was sie zehn Jahre lang bekämpft aber nicht länger dauern als die ganze Redezeit von hatte. Herrn Sielaff. (Georg Gallus [F.D.P.]: Das ist doch ein (Heiterkeit) Fortschritt! — Heiterkeit) Da die Aufzählung zu lange dauert, sage ich nur ein Horst Sielaff (SPD): Lieber Herr Kalb, ich habe das befürchtet. Wir haben vor wenigen Tagen darüber Beispiel: Könnten Sie sich vorstellen, daß die Subven- gesprochen. Wir meinen, daß wir überall dort heran- tionierung der Milchkontrolle durchaus entfallen gehen sollten, wo Förderungen gegeben werden, kann, wenn die Kuh schon bei 10 0001 ist? (Zuruf von der CDU/CSU: Wo?) (Lisa Peters [F.D.P.]: Nein! — Heiterkeit) die nicht einkommensabhängig sind, nicht umweltge- recht sind und anderes mehr. Da können die sozio- Horst Sielaff (SPD): Ich kann, lieber Herr Kollege strukturellen Einkommensausgleichszahlungen ge- Jan Oostergetelo, dem nur zustimmen. Lernfähigkeit nannt werden. Ich könnte weitere nennen, wenn mir bei der Bundesregierung und insbesondere, wie ich der Präsident jetzt noch zehn Minuten zur Verfügung heute gehört habe, auch bei Herrn Bredehorn kann stellen würde. man nur begrüßen. Insofern hoffe ich, daß sie unsere (Zuruf von der CDU/CSU: Das war eine ganz Vorstellungen auch in anderen Bereichen eines Tages präzise Antwort!) intensiv unterstützen werden — vielleicht in einer anderen Koalition, als sie heute hier in Bonn regiert. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Die Abge- ordneten Bredehorn und Oostergetelo haben einen Ich möchte zum Abschluß daran erinnern, daß das ähnlichen Wunsch und möchten eine Zwischenfrage ganze Verhalten dieser Bundesregierung daran zu stellen. messen ist, daß sie in den Koalitionsvereinbarungen (Zuruf des Abg. Ulrich Heinrich [F.D.P.]) für die zwölfte, also für die laufende Legislaturperiode angekündigt hat — so wieder geschehen bei der Beantwortung der Großen Anfrage, ich zitiere —, ein (SPD): Aber nicht in diesem Jahr, Herr Horst Sielaff „integriertes Konzept zur Weiterentwicklung und zur Heinrich, da sind sie nicht gestrichen. Sie streichen sie Förderung des ländlichen Raumes" vorzulegen. Wir ab 1995. Das war ja das falsche Spiel, das Sie mit den warten immer noch auf dieses Konzept. Landwirten getrieben haben. (Zustimmung bei der SPD) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Wir sind gespannt, wann Sie es vorlegen. geordneter Sielaff, wenn Sie vielleicht erst die Frage Zu fragen ist, was ein solches Konzept überhaupt hören und dann die Antwort geben. Bitte schön, Herr noch soll, wenn es nicht jetzt, bei völlig geänderten Abgeordneter Bredehorn. Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft, vor- liegt. (F.D.P.): Herr Kollege Sielaff, Günther Bredehorn Ich fürchte, dieses Konzept wird erst am Ende dieser Sie kritisieren hier so vehement die Bundesregierung, Legislaturperiode vorgelegt werden und wird dann daß sie die flankierenden Maßnahmen zur extensiven lediglich für Wahlkampfzwecke und für unverbindli- Landbewirtschaftung nicht umsetzt. Sie wissen doch che Absichtserklärungen verwendet werden. hoffentlich, daß das im Rahmen der Gemeinschafts- aufgabe nur zusammen mit den Ländern — im Rah- Nur, wir alle sollten wissen, daß die Landwirte nicht men des PLANAK — geschehen kann. Sehen Sie nicht mehr länger auf klare Konzepte warten können. auch, daß hier die Länder ihre Verantwortung wahr- Helfen Sie endlich mit, daß die Bauern in unserem nehmen müssen? Lande wissen, woran sie sind. Sie müssen wissen, daß diejenigen, die marktgerecht produzieren und mutig Horst Sielaff (SPD): Lieber Herr Bredehorn, Sie an neue Aufgaben herangehen, eine Ch ance haben. wollen doch jetzt nicht etwa auch bestätigen, daß Sie müssen wissen, was sie zu erwarten haben. diese „starke Bundesregierung" in der EG so schwach Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ist, daß sie ihre eigenen Vorstellungen in keinem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Punkt durchsetzen kann? Ich meine, daß hier die der PDS/Linke Liste) größere Verantwortung, die die Bundesregierung hat, erkennbar sein muß. Natürlich muß man das auch im Einvernehmen mit den Ländern machen. Da gebe ich Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer Ihnen recht. kurzen Kurzintervention erteile ich dem Abgeordne- (Beifall bei der SPD) ten Georg Gallus das Wort.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Auch der Georg Gallus (F.D.P.): Herr Kollege Tappe, Sie Abgeordnete Oostergetelo ist noch wissensdurstig. haben in einem Rundumschlag die Agrarpolitik so (Zurufe von der CDU/CSU: Er bringt jetzt ein dargestellt, wie es meines Erachtens überhaupt nicht Beispiel! — Ja, jetzt kommt das Beispiel!) realistisch ist. Ich glaube, Sie wollen die Arbeitslosenprobleme in Jan Oostergetelo (SPD): Herr Kollege Sielaff, muß Deutschland dadurch lösen, daß die Landwirtschaft man nicht für diese Regierung Verständnis haben? wieder in Hand- und Spanndienste zurückgeführt Immerhin muß man doch akzeptieren, daß sie alles wird und daß die Ausgaben für Nahrungsmittel um Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16049

Georg Gallus 50 % und damit so weit gesenkt werden, wie sie vor 40, Aber auch der Bund leistet seinen Beitrag im 50, 60 Jahren gewesen sind. Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe. Die Vorausset- Sie müssen doch der Ehrlichkeit halber zugeben, zungen für eine finanzielle Beteiligung des Bundes an daß der Strukturwandel in der Landwirtschaft nicht flankierenden Maßnahme einer der Umsetzung der von der Landwirtschaft selber ausgegangen ist, son- umweltverträglicheren landwirtschaftlichen Produk- dern von den höheren Löhnen in der Indust rie, tionsweise sind weitgehend geschaffen. Der Förde- wodurch auf der anderen Seite eine Lawine in Gang rungskatalog des Gesetzes über die von Bund und gesetzt worden ist. Ländern durchgeführte Gemeinschaftsaufgabe ist um extensive Produktionsweisen und ökologische An- Ich kann nur vor einem warnen: Auch wenn wir in bauverfahren erweitert worden. Im Rahmen verfüg- Europa im Augenblick Überschüsse haben, werden barer Haushaltsmittel müssen hier Prioritäten gesetzt wir bei einer wachsenden Menschheit und bei Erhal- werden. Entscheidend ist, einen Anfang zu setzen, tung der Schöpfung — da, wo Wildtiere sind, können damit die Landwirte Fördermittel vor allem für exten- nämlich keine Nahrungsmittel für die Menschen sive Acker- und Grünlandnutzung in Anspruch neh- wachsen — sogar in den Entwicklungslände rn, wo ich men können. gerade gewesen bin, eine Intensivierung auf den Flächen brauchen, die heute zur Verfügung stehen. (Horst Sielaff [SPD]: Jetzt nennen Sie mal die Sonst entsteht die Situation, daß kein Regenwald und Prioritäten, Herr Deß!) überhaupt nur noch wenig Wald auf der Welt übrig- — Ich komme darauf, Herr Kollege Sielaff. bleiben. Man sollte die Dinge nicht so einseitig darstellen, Wenn Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der wie Sie das getan haben. SPD, feststellen, daß die Umsetzung der flankieren- den Maßnahmen in nationales Recht zu zögerlich (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) angepackt wird, so meinen Sie anscheinend vor allem die Bundesländer, in denen die SPD in der Regie- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort rungsverantwortung steht. erteile ich nunmehr dem Abgeordneten Albert Deß. In Bayern werden in nächster Zeit bereits Gelder an meine Berufskollegen ausbezahlt, die sich an Exten- sivierungsmaßnahmen im heurigen Jahr beteiligt Albert Deß (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr haben. verehrten Damen und Herren! Ich habe mich gerade (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) darüber gefreut, daß der Kollege Sielaff festgestellt hat, wir hätten eine starke Bundesregierung. Ich hoffe, Das neue bayerische Kulturlandschaftsprogramm, das daß er damit in seiner Partei keine Probleme flächendeckend angeboten wird — das haben Sie ja bekommt. gefordert —, hat die EG-Kommission am 22. Septem- ber 1993 genehmigt. Damit hat der Freistaat Bayern (Horst Sielaff [SPD]: Ich habe gesagt, daß die als eines der ersten Länder die Voraussetzungen für Bundesregierung in der EG ja nicht so eine landesweite Umsetzung der EG-Vorgaben für schwach sein kann, wie sie sich gibt! Das ist eine noch umweltgerechtere Landwirtschaft geschaf- ein Unterschied!) fen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dem heute zur Debatte stehenden Antrag der SPD geht es (Horst Sielaff [SPD]: Herr Deß, haben Sie darum, daß wir feststellen, wie die Agrarpolitik der Wahlen in Bayern?) Bundesregierung im Bereich der ergänzenden Maß- — Nein, nicht früher als der Bundestag. nahmen der EG ausschaut. Der SPD-Antrag geht in seiner Argumentation in weiten Bereichen an der Beim Agrarreformpaket ist beschlossen worden, Realität vorbei. daß der Mitfinanzierungssatz der EG für Förderpro- Beim Vorruhestand kann die bisherige Regelung, gramme zur noch umweltgerechteren Landbewirt- die sich bewährt hat, in den alten Bundesländern schaftung 50 % beträgt. Ich bedanke mich bei Ignaz weiterlaufen und nach einer Übergangszeit auf die Kiechle, daß er dies mit durchgesetzt hat. neuen Bundesländer ausgedehnt werden. Die Pro- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) duktionsaufgaberegelung hat bisher einen wichtigen Beitrag zur sozialen Abfederung des Strukturwandels Dies ist meiner Ansicht nach eine gute Voraussetzung geleistet. Die Aufforstung wird seit dem 1. Januar dafür, daß die Agrarreform in den Mitgliedsländern 1993 in verbesserter Form angeboten. umgesetzt werden kann. Was die Umsetzung der Förderung von noch Die EG-Mitfinanzierung für das neue bayerische umweltgerechteren und den natürlichen Lebensraum Kulturlandschaftsprogramm ist gesichert. Diese Zu- schützenden landwirtschaftlichen Produktionsverfah- sage konnte der bayerische Landwirtschaftsminister ren anbelangt, gibt es zwei Anhaltspunkte. Grund- Reinhold Bocklet deshalb erreichen, weil der bayeri- sätzlich sind hierfür die Bundesländer zuständig, weil sche Ministerpräsident Dr. seine Umwelt- und Naturschutz nach unserer Verfassung Zusage eingehalten hat, daß die freiwerdenden L an zum Aufgabenbereich der Lander gehören. Daß hier -desmittel aus dem soziostrukturellen Einkommens- entsprechende Rahmenbedingungen vorhanden ausgleich erhalten und einkommenswirksam für die sind, zeigt die Tatsache, daß in verschiedenen Bun- bayerische Landwirtschaft eingesetzt werden. Damit desländern bereits eigene Länderprogramme ange- wurde eine solide finanzielle Basis für das neue boten werden. Programm geschaffen. 16050 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Albert Deß Das rot-grün regierte Hessen z. B. tut sich natürlich einzelnen Ämtern für Landwirtschaft erfahren habe,- schwer, freiwerdende Landesmittel aus dem sozio- findet das Programm sehr starken Anklang, vor allem strukturellen Einkommensausgleich zu verwenden. auch deshalb, weil das bayerische Angebot viele Wer den Länderanteil an seine Landwirte nicht Kombinationsmöglichkeiten zuläßt. Es ist sozusagen bezahlt hat, hat natürlich auch keine freiwerdenden auf die Praxis zugeschnitten. Mittel. Wir diskutieren hier oft die Ungleichbehand- Wenn die SPD in ihrer Anfrage wissen will, ob mit lung der Landwirtschaft innerhalb der Europäischen den flankierenden Maßnahmen eine flächendek- Gemeinschaft. kende Landbewirtschaftung eher durchzusetzen ist, (Horst Sielaff [SPD]: Mit Recht!) muß ich darauf hinweisen, daß man eine flächendek- Ich meine, wir sollten hier einmal über die Ungleich- kende Landbewirtschaftung nicht durchzusetzen behandlung der Landwirte in den einzelnen Bundes- braucht, denn die haben wir Gott sei Dank zur Zeit ländern diskutieren. noch. Es geht vielmehr darum, diese zu erhalten. Durch den Preisverfall für landwirtschaftliche Pro- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge dukte ist diese flächendeckende Landbewirtschaf- ordneten der F.D.P.) tung mehr gefährdet. Die fl ankierenden Maßnahmen Die SPD sollte für eine landwirtschaftsfreundliche können nur auf Teilflächen einen direkten Einfluß Politik dort eintreten, wo sie in der Regierungsverant- haben. wortung steht, statt im Deutschen Bundestag Schein- Wenn die SPD fordert, daß Mittel im Bundesagrar- anträge zu stellen. haushalt zugunsten der flankierenden Maßnahmen Durch das von der Bayerischen Staatsregierung — umgeschichtet werden, weiß sie anscheinend nicht, merken Sie bitte auf — angebotene Kulturland- daß ein großer Teil dieser Mittel gebunden ist. schaftsprogramm erhalten die Landwirte, die sich Die eingeplanten Finanzmittel sind entweder zu freiwillig am bayerischen Programm beteiligen, in 80 % für bereits früher genehmigte Zinsverbilligungs- den nächsten fünf Jahren über eine Milliarde DM an maßnahmen notwendig oder zu 100 % für die Aus- Ausgleichsleistungen. Über 500 Millionen DM kom- gleichszulage in von der Natur benachteiligten men aus Brüssel und über 500 Millionen DM stellt das Gebieten. An dieser Ausgleichszulage darf nicht Land Bayern zur Verfügung. gerüttelt werden. In den benachteiligten Gebieten Beteiligen kann sich fast jeder bayerische Landwirt, gibt es einen hohen Dauergrünland- und Ackerfutter- der bestimmte Voraussetzungen erfüllt. Er muß die anteil. Der Landwirt erhält für das Dauergrünland und Fläche bereits seit mindestens einem Jahr selbst einen großen Teil der Ackerfutterflächen aus Brüssel bewirtschaften. Diese F rist sollte meiner Ansicht nach im Rahmen der Agrarreform eben keine Ausgleichs- verlängert werden. Der Antragsteller muß sich ver- zahlungen. Deshalb muß die Ausgleichszulage im pflichten, den Betrieb oder die eingezogenen Flächen benachteiligten Gebiet erhalten bleiben, gerade weil mindestens fünf Jahre nach den vorgeschriebenen durch diese Ausgleichszahlungen die flächendek- Kriterien zu bewirtschaf ten. kende Landbewirtschaftung in diesen Gebieten erhal- ten bleibt. Die Förderung dient im wesentlichen dem noch besseren Schutz der Umwelt sowie der Erhaltung, der Im SPD-Antrag wird die Forderung erhoben, daß Pflege und der Gestaltung der Kulturlandschaft. sowohl die Investitionen zur Schaffung wettbewerbs- Gefördert werden die Umstellung und die Beibehal- fähiger Betriebe erhalten und zusätzlich vorn Bund tung extensiverer Bewirtschaftungsweisen in der entsprechende Mittel für die flankierenden Maßnah- Landwirtschaft. Hierunter fallen insbesondere die men bereitgestellt werden. Auch die SPD weiß, daß im Förderung der ökologischen Landbewirtschaftung, Bundeshaushalt gespart werden muß und die einge- der extensiven Grünlandnutzungen und extensiven sparten Mittel des soziostrukturellen Einkommens- Ackernutzungen. ausgleichs längerfristig vorrangig im Agrarsozialbe- reich eingesetzt werden solle. Ihr Antrag, meine Mit dem bayerischen Programm wird auch eine Kolleginnen und Kollegen, ist in diesem Bereich — um Grundförderung für umweltschonendere Landbewirt- mich vorsichtig auszudrücken — unsolide. Nicht das schaftungsmethoden und landespflegerische Leistun- Wünschenswerte ist zur Zeit finanzierbar, sondern nur gen angeboten. Diese Grundförderung können das unbedingt Erforderliche. Betriebe erhalten, die sich verpflichten, kein Grün- land in Ackerland umzuwandeln, keinen höheren Ich finde es positiv, daß der Bund nur einen Rahmen Viehbesatz als 2,5 GV je Hektar zu halten und die vorgibt, innerhalb dessen sich die Länder nach ihren Empfehlungen des Programms „Umweltgerechter Bedürfnissen das aussuchen können, was sie für Pflanzenbau in Baye rn " im Betrieb umzusetzen. richtig und sinnvoll erachten. Mit diesem Angebot hat Bayern den Einstieg in die (Beifall bei der CDU/CSU) Honorierung der landespflegerischen Leistungen Die SPD befindet sich auf einem Irrweg, wenn sie unserer Landwirtschaft geschaffen. In anderen Bun- glaubt, daß mit einer Extensivierung der Landwirt- desländern, wo Sie in der Verantwortung sind, ist hier schaft eine flächendeckende Landbewirtschaftung noch sehr wenig vorhanden. erhalten werden kann. Die angebotenen Ausgleichs- Das bayerische Kulturlandschaftprogramm im Rah- zahlungen für extensivere landwirtschaftliche Wirt- men der von der EG beschlossenen flankierenden schaftsformen können eben nur flankierende Maß- Maßnahmen ist ein Angebot an die bayerischen nahmen sein. Damit eine flächendeckende Landbe- Landwirte. Jeder Bauer kann selbst entscheiden, ob wirtschaftung erhalten wird, ist es notwendig, daß bei das Angebot für Ihn interessant ist. Wie ich von den GATT - Verträgen ein entsprechender AuBen- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16051

Albert Deß schutz verankert werden kann und Produktionsalter- Die Länder Hamburg, Hessen und Rheinland-Pfalz nativen neben der Nahrungsmittelerzeugung ge- sind dem Antrag beigetreten. Der Bundesrat hat ihn schaffen werden. am 12. Februar 1993 auf Grund einstimmiger Empfeh- Hier wäre es meiner Ansicht nach notwendig, durch lung seiner Ausschüsse beschlossen. Heute, acht Umschichtungen im Bundeshaushalt zusätzliche Mit- Monate später, findet nun endlich, so darf ich sagen, tel für Anschubfinanzierungen im Bereich nachwach- die erste Lesung statt. Acht Monate sind vergangen, in sende Rohstoffe zur Verfügung zu stellen. In meinem denen unsere Strafverfolgungsbehörden und Ge- Landkreis wurde im Herbst ein Biomassekraftwerk richte weiterhin an die meines Erachtens zu eng mit 15 Megawatt Heizleistung in Betrieb genommen. gefaßten §§ 86a und 130 Strafgesetzbuch gebunden Damit haben Landwirte bereits die Möglichkeit einer waren — Produktionsalternative auf ihren Stillegungsflächen. (Siegfried Vergin [SPD]: Sehr richtig, das ist Viele hoffnungsvolle Ansätze gibt es bei den nach- ein Skandal, acht Monate so etwas liegenzu- wachsenden Rohstoffen. In Amerika werden die Zei- lassen!) tungsverleger demnächst einen großen Teil der Druckerschwärze auf Sojaölbasis verwenden. Bei acht Monate, in denen Extremisten ihre Hetzschriften Verpackungen werden entsorgungsfreundliche Pro- ohne großes strafrechtliches Risiko weite rverbreiten dukte angeboten. In der Verlustölschmierung können konnten. Ole auf Biobasis einen Beitrag zum Umweltschutz (Rudolf Bindig [SPD]: Pfui!) leisten. Wir sollten auch nicht darauf setzen, daß wir auf Wir sollten gemeinsam darauf drängen, daß eine Reform der Strafvorschriften verzichten könnten, umweltfreundliche Produkte aus nachwachsenden nur weil vielleicht in den letzten Monaten gräßliche Rohstoffen in den Markt eingeführt werden. Dies Anschläge wie die von Mölln und Solingen ausgeblie- bringt der Landwirtschaft mehr als das, was die SPD ben sind. Die Berichte unserer Staatsanwaltschaften mit ihrem Antrag heute fordert. Ich glaube, wir sollten zeigen sehr deutlich, daß wir von einem Rückgang ihn deshalb auch ablehnen. extremistisch motivierter Gewalttaten eben gerade (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht ausgehen können. In Niedersachsen z. B. wer- den die Vorjahreszahlen der anhängenden Ermitt- lungsverfahren wegen Vergehens gegen §§ 86a, 130, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine 131 StGB — insgesamt 686 — bereits von den Ver- Damen und Herren, damit sind wir am Ende der gleichszahlen des ersten Halbjahres 1993, nämlich Debatte. Ich lasse nunmehr über den Entschließungs- schon 715, übertroffen. antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/5990 abstimmen. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- Während wir aber im S trafrecht immerhin über trag der SPD? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltun- Gesetze verfügen, die uns entschiedenes Eingreifen gen? — Bei einer Enthaltung ist dieser Entschlie- gegen Gewalttäter ermöglichen, sind uns teilweise ßungsantrag mit den Stimmen der CDU/CSU und der die Hände gebunden, um gegen die Hetzer vorzuge- F.D.P. abgelehnt. hen, die die Schläger und Brandstifter zu ihren Schandtaten motivieren. Genau hier setzt der Geset- zesantrag des Bundesrates an. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach- Zunächst wollen wir erreichen, daß § 86a StGB ten Entwurfs eines ...Strafrechtsänderungsge- nicht nur das Verwenden von Kennzeichen verfas- setzes (. . . StrÄndG) sungswidriger Organisationen mit Strafe bedroht; — Drucksache 12/4825 strafbar soll auch das Verwenden zum Verwechseln ähnlicher Kennzeichen sein. Ich weiß, daß die Bun- —Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß (federführend) desregierung diesem Vorschlag zustimmt. Aber ich Innenausschuß sage es hier sehr deutlich: Wir wollen mehr. Wir Ausschuß für Frauen und Jugend wollen in § 86a StGB das Werben mit den verbotenen Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von Kennzeichen unter Strafe stellen. Jede Einlassung der 45 Minuten vor. Das Haus ist offensichtlich damit Beschuldigten, Sie hätten nicht mit der Weitergabe einverstanden. Dann kann ich der Justizministerin des durch die Empfänger gerechnet, führt bisher regelmä- Landes Niedersachsen, Frau Alm-Merk, das Wort ßig zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Die- erteilen. Frau Ministe rin, Sie haben das Wort. sem Mißstand will der Gesetzesantrag begegnen, indem künftig auch das Werben mit verbotenen Kennzeichen strafbar sein soll. Ministerin Heidrun Alm-Merk (Niedersachsen): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor knapp Ganz wichtig ist mir aber auch die Reform des § 130 einem Jahr hat Niedersachsen einen Antrag in den StGB. Diese Vorschrift wird von der Rechtsprechung, Bundesrat eingebracht, dessen Zielrichtung von gestützt auf Überlegungen des Gesetzgebers aus dem Ihnen allen, wie ich weiß, unterstützt wird. Er will Jahr 1960, viel zu eng ausgelegt. Die Hetze muß sich, extremistische Propaganda entschieden bekämpfen wie Sie wissen, gegen die Menschenwürde richten, und ihr eine deutliche Absage erteilen. Es geht um die um vom § 130 erfaßt zu werden. Die Rechtsprechung Frage der Änderung der Straftatbestände des Ver- zu § 130 StGB sieht die Menschenwürde eben nur wendens von Kennzeichen verfassungswidriger Or- dann als verletzt an, wenn der Mensch im Kern seiner ganisationen, § 86 a Strafgesetzbuch, und der Volks- Persönlichkeit getroffen wird, indem er unter Mißach- verhetzung, § 130 Strafgesetzbuch. tung des Gleichheitssatzes als unterwertig dargestellt 16052 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Ministerin Heidrun Mm-Merk (Niedersachsen) und ihm das Lebensrecht in der Gemeinschaft bestrit- verhetzung. Warum ist das keine Volksverhetzung? ten wird. Dem müssen wir entgegentreten. Im Klartext bedeutet das folgendes: Wenn aufgefor- Wir wollen also mit diesem Gesetzesantrag die dert wird, Menschen zu vergasen, wenn sie als Unter- notwendige Öffnung des § 130 StGB herbeiführen. menschen, als Ungeziefer dargestellt werden, greift Man mag einwenden, daß dieses Ziel nicht dadurch § 130 StGB ein. Wenn aber — und diese Fälle kennen erreicht werden könne, daß man nur das Wort „Men- Sie alle — von „Asylschwindlern, Schmarotzern, schenwürde" in § 130 StGB durch das Wort „Würde" Betrügern, Teilen einer multikriminellen Gesell- ersetzt. Ich bin da anderer Ansicht. Wir kommen weg schaft, ausländischen Schweinen, potentiellen Mör- von dem engen, auf den Kern der Persönlichkeit dern des deutschen Volkes, elenden Schändern der bezogenen Rechtsbegriff und machen deutlich, daß germanischen Menschenrasse, Asylverbrechern und jede Beeinträchtigung der Würde von Teilen unserer Gesindel" gesprochen wird, sind wir — und das ist Bevölkerung ausreicht, um künftig nach § 130 bestraft entsetzlich — in der Regel machtlos. zu werden. Ich jedenfalls kann nicht verstehen, warum diesem Ziel politischer Widerstand entgegen- Das, meine Damen und Herren, was ich hier in gesetzt wird. wenigen Worten — entsetzlichen Worten, die in den Mund zu nehmen mir schwerfällt — ausgesprochen Um die Formulierung des Gesetzestextes mag man habe, ist nur ein winziger Ausschnitt dessen, was uns kräftig streiten. Daß aber gerade die Bundesministe- allen täglich begegnet. Richten sich die Schmähungen rin der Justiz in mehreren an mich gerichteten Schrei- gegen einzelne Menschen, greifen die Beleidigungs- ben die Notwendigkeit der Reform bestreitet, hat tatbestände ein. Aber das Schlimme ist: Richten sie mich, gelinde gesagt, sehr verwundert. Auf ihre Bitte sich gegen eine Vielzahl von Personen, dann versagt hin erfassen die Länder seit Anfang 1993 alle einschlä- unser Strafrecht. gigen Ermittlungsverfahren. Die Bundesministerin der Justiz müßte deshalb wissen, daß § 86a und § 130 Ich habe soeben Beispiele aus der Begründung reformbedürftig sind. Gleichwohl ist sie der Ansicht, meines Gesetzesantrags und aus der des Entwurfs des lediglich § 86a müsse, wie sie sagt, auf zum Verwech- Bundesrates zitiert. Einigen von Ihnen, meine Damen seln ähnliche Kennzeichen ausgedehnt werden. Das und Herren Abgeordneten, habe ich vor einiger Zeit greift einfach zu kurz. weitere Beispiele vorgelegt. In meinem Haus habe ich ca. 50 Ermittlungsverfahren auswerten lassen, die Deshalb bin ich meinem Kollegen Caesar aus innerhalb eines Vierteljahres angefallen waren und Rheinland-Pfalz sehr dankbar, daß er sich in den die extremistische Propaganda zum Gegenstand hat- zwischen mir und Frau Leutheusser-Schnarrenberger ten. Die Auswertung der Verfahrensakten habe ich geführten Schriftwechsel eingeschaltet hat und nach- den Mitgliedern des Rechtsausschusses übermittelt. drücklich für eine Strafbarkeit des Werbens mit ver- Sie hat mich in meiner Überzeugung bestärkt, daß botenen Kennzeichen und für eine Erweiterung des § 130 StGB dringend reformiert werden muß. § 130 eingetreten ist. Lassen Sie mich aus dem Brief von Herrn Caesar Insbesondere rechtsextremistische Propaganda ist vom 16. Juli 1993 zitieren. Er führt zu § 130 folgendes durch eine Verrohung der Sprache und Verunglimp- aus: fung von Teilen der Bevölkerung in Wort und Schrift gekennzeichnet. Sie knüpft unverhohlen an den Hier sind ganz schlimme Pamphlete in Umlauf, Nationalsozialismus an und steht der damaligen Pro- denen mit gegenwärtiger Gesetzesfassung des paganda in nichts, aber auch nichts nach. Solchen Tatbestandes der Volksverhetzung nicht beizu- Erscheinungen, so meine ich, müssen wir insgesamt kommen ist. Obwohl die Notwendigkeit einer und alle unmißverständlich entgegentreten. Strafsanktion meines Erachtens gar nicht zu bestreiten ist, bereiten sie doch den Nährboden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ für schwerwiegende ausländerfeindliche Über- DIE GRÜNEN) griffe. Wir können es eben nicht hinnehmen, daß Asylsu- Zur Notwendigkeit, in § 86a StGB auch das Werben chende als „fremdländische Eindringlinge, als mit verbotenen Kennzeichen unter S trafe zu stellen, 2,5 Millionen illegale ausländische Nichtstuer" schreibt er mir: geschmäht werden, „die sich vom Schweiß des deut- schen Arbeiters mästen". Gegen Flugblätter, die von Ich meine, wir können es uns nicht erlauben, „meineidigen Volksvertretern, korrupten Feinden des abzuwarten, bis diese Gesetzeslücke vermehrt deutschen Volkes, fremdrassigen Betrügern und Mil- und in ganz Deutschland genutzt werden, um uns lionen von Schwindelasylanten" sprechen, muß mit erst dann wieder Gedanken zu machen, ob sie zu § 130 vorgegangen werden. Wir dürfen keine Aufkle- schließen sind. Zu einer Bekämpfung ausländer- ber dulden, die Aussagen wie „Frauen, schützt euch feindlicher und rechtsextremistischer Übergriffe vor dem Ausländer- und Asylantenpack!", „Auslän- gehört auch, daß der Gesetzgeber den Anfängen derpack gleich Dealerpack! " enthalten. wehrt. Die enge Auslegung des Begriffs der Menschen- (Zuruf von der SPD: So ist es!) würde durch die Strafgerichte steht einer Verfolgung Ich hielte es — auch hier bin ich mit meinem dieser Hetze nach § 130 immer noch entgegen. Dieses Kollegen Caesar einig — für ein sehr bedrückendes Ergebnis können wir unseren Bürgern nicht mehr Ergebnis, wenn ich auf entsprechende Fragen der an verständlich machen. Das erlebe ich in regelmäßigen dem Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens sehr Schreiben der Bürger, die sagen: Das ist doch Volks- interessierten Öffentlichkeit, wann die Bekämpfung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16053

Ministerin Heidrun Alm-Merk (Niedersachsen) volksverhetzender, rechtsextremistischer und auslän- Gebrauch nationalsozialistischer Symbole auch in derfeindlicher Pamphlete sowie die Werbung mit verfremdeter, aber leicht wiedererkennbarer Form verbotenen Kennzeichen nach § 86a umfassend auch ein Bekenntnis zu solchen Verbrechen oder deren mit strafrechtlichen Mitteln erfolgen kann, antworten ostentativer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung dar. müßte: Entsprechende, vom Bundesrat vorgeschla- Mit Rücksicht auf die Geschichte dieses Jahrhunderts gene gesetzliche Verbesserungen drohten am Ein- ist die demonstrative Darstellung nationalsozialisti- spruch der Bundesregierung, der Bundesjustizmini- scher Anschauungen oder gar das Werben dafür eine sterin, zu scheitern. Das, meine Damen und Herren, offene Kampfansage an alle sittlichen Grundlagen würde nach den Debatten, die auch hier bei vollem jeder menschlichen Gesellschaft, die diesen Namen Hause geführt worden sind, niemand mehr verste- verdient, und kann daher nicht anders als mit strafbe- hen. wehrten Verboten beantwortet werden. (Zuruf von der SPD: So ist es!) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Ich bin aber zuversichtlich — das gehört zu den der F.D.P.) Aufgaben der Politik —, daß ich diese Antwort den Andere Begründungen der Strafbarkeit wie etwa Bürgerinnen und Bürgern in absehbarer Zeit nicht die Verführbarkeit junger Menschen, die Beunruhi- geben muß. gung der Öffentlichkeit, Kampf gegen menschliche Meine Damen und Herren Abgeordneten, der Unbelehrbarkeit, zunehmende rechtsradikale Um- Gesetzesantrag ist einstimmig, über alle Parteigren- triebe in Deutschland in jüngster Zeit und das Anse- zen hinweg — das ist eine außerordentliche Selten- hen der Bundesrepublik im Ausland halte ich demge- heit —, vom Bundesrat angenommen worden, weil es genüber für nachrangig. für notwendig befunden wurde, den demokratischen Der weitere Vorschlag, auf den die Frau Ministerin Rechtsstaat vor seinen Feinden entschlossen zu ver- auch eingehender zu sprechen gekommen ist, näm- teidigen, und zwar nicht zu spät, sondern gerade noch lich den Anwendungsbereich des Straftatbestandes rechtzeitig. Ich würde es begrüßen, wenn die Diskus- der Volksverhetzung dadurch zu erweitern, daß für sion und die Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Bestrafung zukünftig nicht nur ein Angriff auf ebenso verlaufen würden. Ich danke Ihnen für die den Menschen im Kern seiner Persönlichkeit erforder- Aufmerksamkeit und wünsche mir, daß Sie dieser lich ist, sondern ein Ang riff auf seine allgemeine Beratung nicht mehr zu viel Zeit widmen. Würde ausreicht, sollte heute aus unserer Sicht in der (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste ersten Runde noch nicht abschließend beurteilt wer- sowie des Abg. Dr. Dietrich Mahlo [CDU/ den. CSU]) Der Schutz des unflätig Angegriffenen und Beschimpften ist abzuwägen gegen die durch Art. 5 Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Grundgesetz garantierte Freiheit der Meinungsäuße- hat der Abgeordnete Dr. Diet rich Mahlo. rung, die auch das Recht auf maßlose, überzogene, unsachliche Kritik einschließt. Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Präsident! Die Behauptung, schwarzafrikanische Mitbürger Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Gegen- seien kulturlos oder unterentwickelt — wie als Bei- stand unserer heutigen Debatte ist zunächst eine spiel in der Vorlagebegründung angeführt ist —, bestehende Gesetzeslücke. Wie Sie, Frau Ministerin, unterscheidet sich in ihrer Abwegigkeit und Aggres- zutreffend vorgetragen haben, ist es so, daß national- sivität nicht wesentlich von landläufigen Angriffen sozialistische Kennzeichen im Sinne des § 86 a StGB gegen andere Gruppen, z. B. Politiker, andere Täter- zwar nicht in authentischer, wohl aber in einer zum gruppen und andere Täterziele, die im Plädoyer von Verwechseln ähnlichen Form gebraucht werden, um Ihnen, Frau Ministerin, nicht ins Auge gefaßt worden einerseits die Täter der Strafbarkeit zu entziehen und sind, aber gleichwohl nach der gleichen Vorschrift zu andererseits gleichwohl und beabsichtigt den Ein- bestrafen wären. druck des Nazi-Symbols hervorzurufen und den damit Ich las in der letzten Woche eine Zuschrift in einer verbundenen Symbolgehalt zum Ausdruck zu brin- bürgerlichen Zeitung, die die Feststellung enthielt, gen. Politiker werde man heute ausschließlich noch wegen In Übereinstimmung mit dem Bundesrat, der Bun- der damit verbundenen Pfründe. Weiter erinnere ich desregierung und allen Teilen dieses Hauses erachten mich an eine Äußerung eines Talk-Show-Teilneh- wir ein solches Verhalten ohne Einschränkung für mers, der erklärte, das einzige, was man einem strafwürdig. Wer Kennzeichen nationalsozialistischer deutschen Abgeordneten glauben könne, sei seine Organisationen, wenn auch nur, um strafrechtlicher Kontonummer. So unerträglich diese Äußerungen Verfolgung zu entgehen, geringfügig abgewandelt erscheinen mögen, es stellt sich doch die Frage, ob verwendet, bekennt sich zu nationalsozialistischem man ihnen mit dem Strafgesetzbuch begegnen soll Gedankengut bzw. wirbt dafür. Da die abgeänderten und darf. Kennzeichen an die authentischen Kennzeichen, denen sie nachgebildet sind, erinnern und erinnern sollen und deren Sinngehalt transportieren sollen, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Dr. sind sie diesen in der Aussage gleichzusetzen. Mahlo, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beant- Angesichts der Tatsache, daß mit dem Nationalso- worten? zialismus Massenverbrechen unvorstellbaren Ausma- ßes verbunden sind, die in Deutschland erdacht und von Deutschen ausgeführt wurden, stellt der Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Bitte schön. 16054 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Siegfried Vergin (SPD): Herr Kollege Mahlo, sehen sozialistischen Anschauungen anhängen. Das ist nicht Sie nicht den entscheidenden Unterschied zwischen dasselbe. Ihren beiden Beispielen darin, daß das eine in die Welches ist der objektive Erklärungsgehalt einer historische Abteilung Rassismus fällt, während das solchen Fahne? Wir werden auch hier im Ausschuß andere eine Auseinandersetzung mit einer Gruppie- sorgfältig abzuwägen haben, welches die richtige rung, einer Berufsgruppe, darstellt? Meinen Sie nicht, Reaktion darauf ist, nämlich ob das Banner verboten daß dort auf Grund unserer historischen Erfahrungen gehört oder die Bannerträger. Es ist zweifelhaft, ob wir entscheidende Unterschiede, auch strafrechtlicher dauerhaft zulassen sollen, daß sich der Rechtsradika- Art, greifen müßten? lismus in Deutschland entgegen der historischen Wahrheit beliebig Kennzeichen oder auch Gestalten Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Herr Kollege, ich der deutschen Geschichte herauspickt, die wir dann gebe Ihnen bei dem, was Sie sagen, in der Sache recht. zum Anathema erklären müssen. Was machen wir, Die Vorschrift unterscheidet nicht in der Weise, wie wenn den Neonazis einfällt, eine besonders prächtige Sie das eben in Ihrer Frage getan haben. Wenn wir die Ausgestaltung der schwarz-rot-goldenen Fahne zu Vorschrift ändern würden, wie es vorgeschlagen wor- ihrem Banner zu erheben? den ist, würde sie sich auf einen ganz anderen Täterkreis und einen ganz anderen Opferkreis Auch in diesem Punkt wollen wir das Urteil nicht erstrecken, als Sie und Ihre Fraktion sie möglicher- vorwegnehmen, sondern es uns auf Grund der Erör- weise jetzt im Blickwinkel haben. Deswegen halte ich terung im Ausschuß erst noch bilden. es nicht für ganz abwegig, darauf hinzuweisen. Aber Ich danke Ihnen. ich sage Ihnen ferner, daß wir über diese Frage offen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mit Ihnen im Ausschuß diskutieren werden und kei- neswegs festgelegt sind. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Siegfried Vergin (SPD): Ich habe jetzt ausdrücklich nunmehr dem Abgeordneten Dr. Ullmann das Wort. danach gefragt, Herr Kollege Mahlo, weil ich Angst davor habe, daß dieses Beispiel, das Sie genannt Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben, in der Öffentlichkeit völlig mißverstanden NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die werden kann und daß als Folge unserer Debatte eine Zielsetzung dieser Gesetzesinitiative wird von mir Gleichsetzung eingeführt wird, die wir auf keinen Fall uneingeschränkt bejaht. Alles, was in der Begrün- zulassen können. Ich bin kein Jurist. Ich kann das nur dung über ihren Anlaß gesagt wird, kann ich vollin- als jemand, der sich tagtäglich mit diesen Phänome- haltlich unterschreiben, auch in der Form, wie es die nen für die Fraktion auseinandersetzt, politisch Frau Ministerin noch einmal vorgetragen hat. Ich bewerten. möchte darum an dieser Stelle dem Bundesrat, insbe- sondere dem Land Niedersachsen und seiner Justiz- Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Gut, Herr Kollege. ministerin, für diese wichtige Initiative danken. Ich ergreife gern die Gelegenheit, zu betonen, daß ich das Problem, das Sie und Ihre Vorrednerin angespro- (Beifall bei der SPD) chen haben, nicht verharmlosen will, indem ich Bei- Kopfzerbrechen, Frau Ministerin, verursachen mir spiele heranziehe, die Ihnen und uns allen eigentlich nun aber die vorgeschlagenen Lösungen, in ähnlicher weniger kritikwürdig als das, was Sie zitiert haben, Richtung, wie sie der Kollege Mahlo vorgetragen hat. erscheinen. Nicht die vorgeschlagene Schließung der Strafbar- Nicht enthalten in der Vorlage des Bundesrates, keitslücke im Bereich des Verbreitens bereitet mir aber gleichwohl Gegenstand von Erörterungen im Kopfzerbrechen; das leuchtet mir sofort ein und ist, Zusammenhang mit den vorher genannten Themen denke ich, sachgemäß und unter uns wohl unstrittig. ist die Frage, ob m an die Verwendung der sogenann- Das Problem liegt für mich in dem Versuch, die ten Reichskriegsflagge verbieten oder unter Strafe Umgehung der Strafbarkeit durch Modifikation von stellen soll, die offizielles Hoheitszeichen der deut- Symbolen dadurch zu verhindern, daß ein Begriff aus schen Kriegsmarine von der Kaiserzeit bis 1935 gewe- § 132a StGB, wo es um Mißbrauch von Titeln, Berufs- sen ist und sie von einem Teil der Neonazis als eine Art bezeichnungen und Abzeichen geht, eingeführt wird. Erkennungszeichen und Kampfmittel gebraucht oder Ist das mit diesem „zum Verwechseln ähnlich" wirk- eigentlich mißbraucht wird. Allerdings geht es hier lich ein guter Gedanke? Mir schwebte hier eine begrifflich um einen anderen Sachverhalt als bei der Wortwahl vor, wie sie der Kollege Mahlo vorgetragen Verwendung von nationalsozialistischen und quasi- hat, etwa „unwesentlich verändert" oder etwas der- nationalsozialistischen Kennzeichen. Dort wird die gleichen, denn es kommt nach meiner Meinung Nutzung eines Symbols oder seiner unmaßgeblichen darauf an , daß wir den Tätern, die wir hierbei im Auge Abänderung unter S trafe gestellt, weil dieses Symbol haben, die Definitionsmacht wegnehmen über das, der Verherrlichung von Verbrechen dient, mit denen was „ähnlich" oder „zum Verwechseln ähnlich" und es unlösbar verbunden ist und an die es reuelos oder dergleichen mehr ist. Da sehe ich ein Problem, aber es sogar affirmativ erinnert; hier dagegen soll die Nut- ist durchaus lösbar. zung einer Fahne unter Verbot gestellt werden, die, Ein anderes Problem habe ich mit § 130, der was man ihr ansieht, in der Kaiserzeit ihren Ursprung Ersetzung von „Menschenwürde" durch „Würde" hat — was wiederum manche mögen und andere schlechthin. Mit diesem Wort erreicht man natürlich nicht —, die aber an sich historisch nicht auffällig deutlich eine Normerweiterung, aber eben eine belastet ist, jedoch von Personen als Erkennungszei- höchst abstrakte, die zu solchen Fragen führt, wie sie chen genutzt wird, die offenbar erneut alten national- Herr Mahlo gestellt hat. Es geht Ihnen aber doch ganz Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16055

Dr. Wolfgang Ullmann offensichtlich in der Initiative um die persönliche kale auf Grund der bisher engeren Strafgesetze habe Würde. Dann könnte man es doch auch sagen. einstellen müssen. Eine weitergehende Lösung wäre, in den Vierzehn- Insbesondere bei der Verbreitung von in den USA ten Abschnitt des Strafgesetzbuches überzugehen. hergestellten Hakenkreuzaufklebern habe ich mich Dann wären wir im Bereich des § 186, und wir könnten oft der Einlassung stellen müssen, daß die Überlas- dann in einem neuen Tatbestand von „rassistischer sung nur für den nächsten Gesinnungsfreund und Herabwürdigung" sprechen. Ich sehe dabei natürlich seine persönliche Verwendung, nicht aber zur Über- das juristische Problem, daß wir von den Offizialdelik- lassung an beliebige Dritte erfolge. Die Einstellung ten zu den Antragsdelikten kommen. Das könnten wir war die Konsequenz aus dieser Einlassung. durch eine Änderung im § 194 lösen, aber das ist dann Die Rechtsprechung hat zu Recht die Auffassung vielleicht kompliziert. entwickelt, der Begriff der Menschenwürde sei enger Sie sehen, es gibt Stoff für Diskussionen im Rechts- als der der Würde des Menschen, wie ihn Art. 1 Abs. 1 ausschuß. Wenn wir uns darüber einig wären, daß es GG enthält. Bei einer Lagefeststellung kommt m an nicht zu sehr darauf ankommt, Normen zu erweitern nicht umhin zu konstatieren, daß die rechtsextreme als zu präzisieren, dann finden wir eine Lösung. Das Propaganda doch seit langem mit unglaublichen sollte — ich stimme Ihnen zu — so bald wie möglich Äußerungen — wir haben hier einige Beispiele von geschehen. Ihnen gehört, Frau Ministerin — in schwerwiegender Vielen Dank. Weise gegen den inneren Frieden verstößt, ohne daß die Angegriffenen — insbesondere Ausländer — als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, unterwertig dargestellt werden und ihnen das der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.) Lebensrecht in der Gemeinschaft bestritten wird. Eine Strafbarkeit nach § 130 StGB alter Fassung scheidet damit aus. Eine strafrechtliche Prüfung unter dem Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr Gesichtspunkt der Beleidigung wiederum scheitert hat der Abgeordnete Jörg van Essen das Wort. häufig an der Pauschalität der Schmähung. — Sie haben das richtig dargestellt. Ich neige deshalb wie der Bundesrat zu der Auffas- Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sung, daß hier eine Strafbarkeitslücke gegeben ist. Damen und Herren! Wir beraten heute über Vor- Wir sollten aber offen den Weg, diese Lücke zu schläge des Bundesrates, die lediglich ein Teilaus- schließen, prüfen. Ich halte auch den im Bundesjustiz- schnitt der vielfältigen Bemühungen sind, der Gewalt ministerium angedachten Weg einer Zusammenfas- und der Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft sung von § 130 und § 131 StGB für eine mögliche entgegenzuwirken. Lösung. Der Bundesrat stellt zu Recht die Änderung des Wir werden uns bei unseren Beratungen nicht mit § 86a StGB an die Spitze seiner Vorschläge. Im diesen Teilaspekten begnügen können. Wir müssen rechtsradikalen Bereich machte und macht man sich auch die weiteren Vorschläge der Bundesregierung doch geradezu einen Sport daraus, durch sehr gering- einer Erweiterung des § 225 StGB, der leichteren fügige Änderungen von Nazi - Symbolen der notwen- Inhaftnahme wegen Wiederholungsgefahr gegen rei- digen Strafbarkeit zu entgehen. Was macht es in der sende Gewalttäter, insbesondere im rechten Bereich, äußeren und auch beabsichtigten Wirkung schon an der Ergänzung des Zuständigkeitskatalogs des Gene- Unterschied, wenn beim Hitlergruß nicht alle Finger ralbundesanwalts und der Einrichtung eines staatsan- beieinanderliegen, sondern einige gekrümmt wer- waltlichen Informationssystems — was mir persönlich den. besonders wichtig ist — in die Überlegungen einbe- Die Zustimmung der F.D.P. zu dieser Änderung ist ziehen. selbstverständlich; wir haben sie selbst seit langem Die Bundesjustizministerin hat in den vergangenen gefordert. Monaten mehrfach — und ich danke ihr dafür — auf Zurückhaltender hat sich die Bundesregierung zu die Notwendigkeit dieser Änderungen hingewiesen. den beiden anderen Zielen des Gesetzentwurfes Sie hat recht, die Zeit drängt. Wir können nicht länger geäußert. Sie will sowohl bei der Erweiterung des warten. § 86 a StGB um die Tathandlung des Werbens als auch Vielen Dank. bei der beabsichtigten Ersetzung des Begriffs „Men- schenwürde" durch „Würde" in § 130 StGB die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Erforderlichkeit einer Änderung sorgfältig prüfen. In der Schrift „Offensive gegen Gewalt und Frem- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile denfeindlichkeit" vom März 1993 vertritt die Bundes- nunmehr dem Abgeordneten Professor Uwe-Jens regierung sogar die Auffassung, daß die Einschrän- Heuer das Wort. kung der Strafbarkeit durch den Beg riff „Menschen- würde" in § 130 StGB bei der Rechtsanwendung nicht zu Schwierigkeiten geführt habe. Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Ich selbst bin bei beiden Vorschlägen offener. Das dent! Meine Damen und Herren! Ich stimme dem liegt daran, daß ich während meiner Dienstzeit als Gesetzentwurf des Bundesrates zu. Allerdings werfen staatsanwaltlicher Dezernent für Strafsachen mit poli- der Entwurf und seine Begründung eine Reihe von tischem Hintergrund und auch in der Staatsschutzab- Fragen auf, die dringend eine Antwort erfordern, teilung verschiedene Verfahren gegen Rechtsradi- wenn eine wirkliche Änderung der Lage gewollt wird, 16056 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Uwe-Jens Heuer die mich ebenso besorgt macht wie den Antragstel- Nun will man die kriminellen Geister, die man rief ler. und die hinsichtlich der Änderung des Asylrechts ihre Schuldigkeit getan haben, wieder loswerden. Wir Es geht übrigens nicht nur um den politischen wollen sie auch loswerden. Das ist kein Streitpunkt. Frieden und das Ansehen der Bundesrepublik Aber wir möchten doch auf diesen Zusammenhang Deutschland, wie es in der Begründung des Bundes- hinweisen. rates heißt, sondern es geht auch um die Rettung von Menschenleben. Nach den uns vorliegenden Zahlen Ich bin gegen die Verschärfung des Strafrechts zur sind seit dem Beitritt 79 Menschenleben als Opfer Bewältigung sozialer Probleme. Ich verstehe auch den rechtsextremer und ausländerfeindlicher Tötungsde- vorliegenden Gesetzentwurf nicht als eine Verschär- likte zu beklagen. fung, sondern eher als eine Klarstellung, die die Strafverfolgungsbehörden, die ja im bürgerlichen Die Verschärfung der sozialen Widersprüche, die Deutschland in historischer Erfahrung auf dem rech- Anhäufung sozialen Sprengstoffes in der Gesellschaft ten Auge etwas sehschwach waren, zwingt, hinzuse- der Bundesrepublik haben die Virulenz rechtsextre- hen und zu handeln. mer Kräfte enorm verschärft. Das Gift war immer Insofern stimme ich dem vorliegenden Gesetzent- vorhanden, aber unter den jetzigen Bedingungen der wurf zu. Über die Formulierung im einzelnen werden Massenarbeitslosigkeit, der zunehmenden Massen- wir diskutieren. Ich warne nur vor der Illusion, daß verelendung wird es stärker freigesetzt. Natürlich damit mehr geleistet werden kann als eine Eindäm- besteht kein monokausaler Zusammenhang zwischen mung der Symptome. Wir sollten unsere gemeinsa- der Verschlechterung der sozialen Lage großer Teile men Besorgnisse in weitergehende Diskussionen ein- des Volkes und dem Aufschwung der rechtsextremen münden lassen. Kräfte. Es gibt ein ganzes Bündel von Ursachen. Dazu zählt nicht zuletzt der Versuch der Bundesrepublik, Danke schön. aus dem langen Schatten des Holocaust herauszutre- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) ten und die wiedererlangte volle Souveränität zur Gewinnung einer Großmachtrolle zu nutzen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- Wie soll man auf diese Lage reagieren? Wie soll man teile ich dem Abgeordneten Dr. Krause (Bonese) das an die Ursachen des Übels herangehen? Durch eine Wort. Verschärfung der Strafgesetze? Ich bin grundsätzlich gegen eine Verschärfung der Strafgesetze. Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr Wie alle Mitglieder des Rechtsausschusses habe Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist angespro- auch ich einen offenen Brief von Herrn Schafgans, chen worden, daß das Strafrechtsänderungsgesetz Bürger dieses Landes und in Deutschland geborener zwei verschiedene Punkte beinhaltet. Zum Verbot der Jude, bekommen. Herr Schafgans stellt in diesem täuschend ähnlichen Kennzeichen möchte ich nur Brief richtig fest, daß nach Verbrechen wie in Solingen hinzufügen: Es muß öffentlich bekanntgemacht wer- viele Politiker sagen, die vorhandenen Gesetze reich- den, was eine täuschend ähnliche Kennzeichnung ist ten aus, um mit den rechtsextremistischen Straftaten und daß diese verboten ist. Es darf nicht sein, daß es in fertig zu werden, wenn man sie richtig anwende. eine willkürliche Ermessensentscheidung einzelner Wenn dies zuträfe, so schreibt Herr Schafgans, dann Gerichte gelegt wird, heiße das eben nur, daß Justiz und Polizei etwas blind seien, und dann müsse man das eben ändern. (Zurufe von der SPD und der PDS/Linke Liste) Im gleichen Sinne wird in der Begründung des was rückwirkend als ähnlich be trachtet wird und was Bundesrates hinsichtlich des § 130 StGB gesagt, daß nicht. Das sind wir auch den Jugendlichen schuldig, die Norm von Rechtsprechung und Lehre zu eng die nicht verführt werden dürfen und deren Verfüh- begrenzt werde. Das klingt dort wie die Beschreibung rung wir verhindern müssen. eines Naturgesetzes. Ich möchte aber hinzufügen, daß es eine ganze Warum wird das von Rechtsprechung und Lehre so Reihe von Symbolen gibt, die in der Geschichte, auch gehandhabt? Ergibt sich das aus zwingenden Rechts- in der jüngeren Geschichte, Verbrechen gekenn- prinzipien — aus positivem oder überpositivem Recht? zeichnet haben; ich denke nur an Symbole der kom- Oder ist das Ausfluß eines bestimmten K limas, in dem munistischen Verbrechen von Stalin und seiner Orga- einer der prominentesten Verfassungskommentato- nisatoren, aber auch von Völkermord und Vertrei- ren jahrelang als intimer Ratgeber des DVU-Vorsit- bung in diesem Jahrhundert und auch in vergangenen zenden und Kolumnenschreiber der „National-Zei- Jahrhunderten. tung" agierte? Ich möchte gerade auch christlichen Politikern Es gibt in diesem Land eine rechte Szene, aus der immer wieder sagen: Wir im protestantischen Mittel- heraus schwere Straftaten verübt werden und die deutschland und im protestantischen Norddeutsch- auch über Sympathisanten in der politischen Klasse land sind in unserer Kindheit auch noch mit der verfügt. Man kann doch nicht übersehen, daß der Tradition der Inquisition sehr eng vertraut gemacht Aufschwung derjenigen, deren Symbole jetzt zu Recht worden. verboten werden sollen, zu einem Zeitpunkt stattfand, (Zuruf von der F.D.P.: Was?) als einzelne Angehörige der politischen Klasse öffent- Man muß also, wenn man den zweiten Schritt eines lich über die „Durchrassung" und die „multikrimi- Weges tut, auch bedenken, wohin dieser Weg führen nelle Gesellschaft" nachdachten. kann. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16057

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Dr. Erstens. Die Würde aller Menschen, deutscher und Krause, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beant- ausländischer Herkunft, in Deutschland ist zu schüt- worten? zen, und danach richten wir unsere Bestimmungen aus. (Beifall im ganzen Hause) Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Ja, bitte. Zweitens. Unsere Gerichte fällen keine willkür- lichen Entscheidungen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte (Beifall im ganzen Hause) schön, Herr van Essen. Sie wenden die geltenden Gesetze an, konsequent der Fortentwicklung durch (F.D.P.): Herr Kollege, wenn Sie die und auch ausgerichtet an Jörg van Essen lles andere trifft als Vorwurf Rückwirkung beklagen: Ist Ihnen bekannt, daß es im die Rechtsprechung. A nicht zu. deutschen S trafrecht ein Rückwirkungsverbot gibt? Meine Damen und Herren, vor mehr als zwei Jahren Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Es ist begann eine Welle von Brandanschlägen und gewalt- mir bekannt, daß es ein Rückwirkungsverbot gibt. tätigen Ausschreitungen gegen Asylbewerber und Deswegen soll auch öffentlich gemacht werden: Was ausländische Mitbürger, von Zerstörungen in Ge- ist ein ähnliches Symbol und unterliegt darum dem denkstätten und auf jüdischen Friedhöfen, aber auch Verbot? Das soll möglichst weitgehend sein, um eben von haßerfüllter Propaganda gegen Menschen, die in 14-, 15-, 16jährige vor solchen Taten auch wirksam zu den Augen der Täter anders sind. Nicht zuletzt durch schützen. diese Ereignisse ist der Rechtsextremismus zu einer der großen gegenwärtigen Herausforderungen der Nun zum § 130 StGB: Ich begrüße diese Änderung Rechtspolitik geworden. ausdrücklich, daß hier die Würde des Menschen umfassender strafrechtlich bewehrt wird, als dies Dem Haß, der Gewalt und der Menschenverach- vorher war. Aber gleichzeitig weise ich natürlich tung, die in den Anschlägen wie Mölln und Solingen, darauf hin, daß nach dem Grundgesetz alle Menschen aber auch in Liedertexten sogenannter Skinhead- gleich sind. Es ist also auch die Würde aller deutschen Rockgruppen und rechtsradikalen Pamphleten zum Menschen, auch aller deutschen Politiker, in gleicher Ausdruck kommen, können wir nicht nur mit Betrof- Weise zu schützen. Wenn also in Salzwedel durch fenheit begegnen. linke Chaoten in bekannter Handsch rift " Zusammen- Nach einer Umfrage, die das Bundesministerium legung von Kohl und Rohwedder" an die Wand der Justiz beim Generalbundesanwalt und bei den gesprüht wird, dann ist auch das eine extremistische Landesjustizverwaltungen durchgeführt hat, wurden Entwicklung, die vom Schutz der Würde des Men- im Jahr 1992 12 030 Ermittlungsverfahren wegen schen getragen werden muß. rechtsextremistischer oder fremdenfeindlicher Straf- Lassen Sie mich in eigener Sache sagen: Ich kenne taten eingeleitet. Während 2 194 dieser Verfahren jetzt Tausende von Republikanern persönlich, Gewaltdelikte zum Gegenstand hatten, betrafen über (Uwe Lühr [F.D.P.]: Ach!) 7 000 Verfahren die sogenannten Propagandadelikte, grundanständige, fleißige und gesetzestreue Men- also Tatbestände wie die Verwendung von Kennzei- schen. Ich wehre mich auch dagegen, daß hier die chen verfassungswidriger Organisationen, Volksver- Würde von Teilen unserer Bevölkerung bisher straf- hetzung oder Beleidigung. Gerade mit einigen dieser frei verleumdet, geringgeschätzt, mißachtet und mit Tatbestände beschäftigen wir uns auf Grund der Kundgaben des Hasses überzogen werden durfte. Vorlage des Bundesratsentwurfs. Polizei und Justiz haben — das zeigen die Zahlen — Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- die Herausforderung angenommen; aber auch der geordneter, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Gesetzgeber muß sich ihr stellen. Grundsätzlich steht meiner Auffassung nach den Strafverfolgungsbehör- den zwar ein weitgefächertes, in aller Regel ausrei- Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Ich erhoffe mir von diesem Gesetz eine Änderung dieses chendes Instrumentarium zur Bekämpfung der straf- bisher rechtlosen Zustandes. rechtlichen Auswüchse fremdenfeindlicher Aus- schreitungen zur Verfügung; aber auch ich halte in Ich danke für die Aufmerksamkeit. Randbereichen gesetzgeberische Ergänzungen für (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist ja angezeigt. Ausschreitungen und haßerfüllte Propa- nicht zu ertragen! — Gerlinde Hämmerle ganda gegen Asylbewerber, ausländische Mitbürger [SPD]: Nur mit Schokolade!) und Minderheiten geben uns Anlaß, zu prüfen, ob die geltenden Strafgesetze strafwürdigen Verhaltenswei- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort sen immer gerecht werden können und ob vorgese- hat nunmehr die Justizministerin Frau Sabine Leut- hene Strafrahmen ausreichen. Der Bundesratsentwurf heusser-Schnarrenberger. will Änderungen der §§ 86a und 130 des Strafgesetz- buches vornehmen und damit erreichen, daß besser vorgegangen werden kann. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes- ministerin der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen In einem Punkt sind wir uns alle — auch das haben und Herren! Zunächst zwei Bemerkungen zu Ihnen, die Vorredner deutlich gemacht — einig: den § 86a, Herr Krause. was die Verwendung ähnlicher, verwechselbarer 16058 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Kennzeichen betrifft, zu ergänzen, um mit dieser Vor- den sollen, nicht herauskommen, indem wir uns schrift besser gegen Anhänger nationalsozialistischen — nach meiner Auffassung: endlich — dem Thema Gedankenguts vorgehen zu können, die leicht abge- eines Antidiskriminierungsgesetzes zuwenden, um wandelte Symbole dieser Organisationen verwenden so viel mehr zu erfassen als das, was im Augenblick und die damit alle dieselbe Zielrichtung verfolgen. durch Änderung zweier Paragraphen des Strafgesetz- Hinsichtlich der weiteren Vorschläge — meine buches geschieht? Kollegin Frau Mm-Merk hat es deutlich gemacht —, bei dem Werben in § 86 a des Strafgesetzbuches und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- bei der Änderung des Begriffs der Menschenwürde in nisterin der Justiz: Ich greife die Worte meiner Kolle- den Begriff der Würde in § 130 StGB, war zunächst gin Alm-Merk auf, die beklagt hat, daß schon viele nicht unmittelbar zwingend gesetzgeberischer Hand- Monate vergangen sind, bis über den anderen Vor- lungsbedarf angezeigt. Auf Grund von Umfragen des schlag beraten wird. Ich glaube, wenn wir die Diskus- Justizministeriums bei den Bundesländern wurden sion in diesem Punkt mit noch sehr vielen anderen aus einigen Ländern konkrete Fälle genannt, bei Vorschlägen verbinden, die weitergehen — so habe denen aus deren Sicht ein Bedürfnis nach diesen ich Ihre Fragestellung verstanden —, dann wird im Änderungen herzuleiten war. Eine Sachverständi- Zweifel noch sehr viel mehr Zeit vergehen, bis wir das, genanhörung — auf solche beziehen wir uns alle gern worauf wir uns möglicherweise relativ schnell ver- im Zusammenhang mit Änderungen von Strafbestim- ständigen können, verabschiedet und im Bundesge- mungen — am 19. April 1993 vor dem Innenausschuß setzblatt stehen haben. Deshalb, so meine ich, sollten hat deutlich gemacht, daß von Strafrechtswissen- wir uns auf diese Punkte beschränken. Ich glaube, schaftlern, von dem Vorsitzenden der Polizeigewerk- dann können wir auch deutlich machen, daß bei dieser schaft und vom Präsidenten des Bundesamtes für Diskussion und für diese Forderung eine breite Mehr- Verfassungsschutz eine Änderung der beiden Bestim- heit im Bundestag gegeben sein wird. mungen in dem hier vorgeschlagenen Sinne nicht für Ich möchte an dieser Stelle aber noch einen zule- zwingend notwendig erachtet wurde. gen, wie es mein Kollege Herr van Essen schon Das heißt: Auch wenn wir schon jetzt vorgehen angedeutet hat: Ich glaube, daß wir uns in diesem können, bin ich sehr wohl offen — das hat die Zusammenhang auch mit einer Erhöhung des Straf- Bundesregierung in ihrer Stellungnahme auch deut- rahmens für die schwere Körperverletzung beschäf- lich gemacht — gegenüber Überlegungen, ob wir tigen sollten. Wir sind nicht der Auffassung, daß nicht Handlungsspielräume für die geistigen Brand- Strafrahmen generell zu erhöhen sind, weil unser stifter noch verengen müssen. Das hat natürlich die Strafrecht im wesentlichen sehr ausgewogen ist. Aber Auswirkung — Herr Mahlo, Sie haben das darge- an diesem Punkt stimmt das Verhältnis zu den Dieb- legt —, Art. 5 unseres Grundgesetzes, die Meinungs- stahls- und Eigentumsdelikten nicht mehr. Deshalb freiheit, einzuengen. Aber in dem Abwägungsprozeß, wollen wir dort eine Erhöhung. Wir wollen im Bereich in dem wir uns befinden, müssen wir wirklich ernst- des Haftgrunds der Wiederholungsgefahr eine Ände- haft untersuchen, ob das notwendig und tatsächlich rung vornehmen, ein staatsanwaltschaftliches Infor- auch geboten ist. mationssystem einführen, und damit Instrumente Ich stelle mir dabei vor, den § 130 und den § 131 des schaffen, die den stark belasteten Ermittlungsbehör- Strafgesetzbuches, also Volksverhetzung und Aufsta- den eine möglichst effektive Arbeit sichern. chelung zum Rassenhaß, in einem einzigen Tatbe- Neben allen strafrechtlichen repressiven Maßnah- stand zuammenzufassen und dort deutlich zu machen, men müssen wir uns — nicht an dieser Stelle, aber bei daß sich jemand, der zum Haß gegen Teile der vielen anderen Gelegenheiten — auch immer Gedan- Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt oder Willkür- ken machen, wie wir im Bereich der Prävention und maßnahmen gegen sie auffordert, und zwar in einer der Ursachenbekämpfung mit diesen Entwicklungen Weise, die den öffentlichen Frieden zu stören geeignet fertigwerden und gegensteuern können. ist, strafbar machen kann, ohne daß in jedem Fall bei Vielen Dank. dieser einen Tatbestandsgestaltung das Erfordernis (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- erfüllt sein muß, daß damit eine Verletzung der ten der CDU/CSU und der SPD) Menschenwürde einhergeht. (Abg. Siegfried Vergin [SPD] meldet sich zu Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damit einer Zwischenfrage) sind wir am Ende der Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfes auf Druck- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Mi- sache 12/4825 an die in der Tagesordnung aufgeführ- nisterin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulas- ten Aussschüsse vor. sen? Ich nehme an, daß das Haus damit einverstanden ist, denn andere Vorschläge werden nicht gemacht. — Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- Dann ist die Überweisung so beschlossen. nisterin der Justiz: Jawohl. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr. Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuß) Sammelübersicht 117 zu Petitionen Siegfried Vergin (SPD): Frau Ministe rin, könnten wir aus den Abwägungen, die Sie jetzt anstellen und die (Luft/Boden-Schießplatz Wittstock) in die Zusammenlegung zweier Paragraphen einmün- — Drucksache 12/5735 — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16059

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der diese Erklärung des Ministerpräsidenten ist nie- SPD vor. erfolgt; die letzte Gelegenheit — — Der Ältestenrat schlägt eine Debattenzeit von einer (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE halben Stunde vor. Ist das Haus damit einverstanden? GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) — Das ist offensichtlich der Fall. Ich eröffne die — Hören Sie erst einmal zeitmäßig zu! Aussprache und erteile zunächst der Abgeordneten Frau Rosemarie Priebus das Wort. Die letzte Gelegenheit, dieses Doppelspiel aufzulö- sen, wäre eine Stellungnahme am Tage der Entschei- dung über das Truppenübungsplatzkonzept im Bun- destag am 14. Januar 1993 gewesen. Nein, statt Rosemarie Priebus (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr dessen mußten die Bürger in der Presse im Februar Präsident! Meine Damen und Herren! Die aufgeru- folgende sarkastische Bemerkung entgegennehmen: fene Petition wendet sich gegen die militärische „Wir haben das versäumt! Weder unsere Bonner Nachnutzung des Truppenübungsplatzes durch die Vertretung noch die Staatskanzlei hat gewußt, daß Bundeswehr. Der Petitionsausschuß schlägt hierzu das Konzept an diesem Tage im Bundestag behandelt vor, das Petitionsverfahren abzuschließen. werden sollte. " Es steht außer Frage, daß die Bundesrepublik Deutschland in einer Welt, in der ein friedliches Miteinander der Völker auf lange Sicht unmöglich Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten scheint, eine moderne schlagkräftige Armee unterhal- Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß? ten muß. (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Gegen wen?) (CDU/CSU): Nein, ich gestatte Ebenso steht fest, daß diese Armee üben und ausbil- Rosemarie Priebus keine Zwischenfrage. den muß. Also steht auch fest, daß Truppenübungs- plätze in Ostdeutschland nachgenutzt werden müs- (Siegfried Vergin [SPD]: Das ist aber sen. schade!) (Zuruf von der F.D.P.: Richtig!) Veranlassen den Ministerpräsidenten die Meinungs- Damit das Hohe Haus eine Vorstellung von der Lage umfragen zu seiner Akzeptanz zu einer derartigen dieses Truppenübungsplatzes bekommt, möchte ich Aussage? die Region kurz vorstellen. (Siegfried Vergin [SPD]: Das wird Ihnen doch (Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) nicht auf die Redezeit angerechnet!) Der Platz liegt in einer Region mit einer Bodenwert In der Januarsitzung des Landtages mußte Herr zahl von durchschnittlich 28, in einer landschaftlich Linde, Chef der Staatskanzlei des L andes Branden- schönen, aber wirtschaftlich armen Region mit einer burg, deshalb zugeben, daß das Truppenübungsplatz- derzeitigen Arbeitslosenquote von 20 % und einer konzept zumindest billigend in Kauf genommen Bevölkerungsdichte von über 40 Einwohnern pro wurde, da die brandenburgische Landesregierung die Quadratkilometer. Gelegenheit nicht genutzt hatte, im Bundestag zum Sehe ich die wirtschaftliche Entwicklung der Region Thema „Ruppiner Heide" zu intervenieren. realistisch, dann kann ich den Ministerpräsidenten Wie zu erfahren war, wurde dieses Spiel auch von des Landes Brandenburg verstehen, wenn er intern den SPD-Vertretern im Verteidigungsausschuß be- schon im September 1992 Zweifel am regionalen trieben. Alle Hochachtung, in dieser Frage waren sich Tourismuskonzept äußerte und zum Ausgleich der die Genossen einig! Belastung durch die militärische Nachnutzung des Entweder votierte man für die militärische Nach- Truppenübungsplatzes die Stationierung von Solda- nutzung des Platzes, oder es erfolgte keine Stellung- ten begrüßte. Also schon ab September 1992 war das nahme dazu. Mir ist allerdings nicht bekannt, daß die Doppelspiel des Ministerpräsidenten in der SPD auf Interessen der Bürgerinitiative für eine zivile Nach- allen Ebenen voll im Gange. nutzung von der SPD im Verteidigungsausschuß arti- Ich zitiere aus einer Dokumentation der Bürgerin- kuliert wurden. itiative Freie Heide: Mir wurde nur bekannt, daß das Truppenübungs- 1. September 1992: Reise einer Delegation zu Mini- platzkonzept wegen der Colbitz-Letzlinger Heide von sterpräsident , um eine klare Ableh- der SPD abgelehnt wurde. Um Schadensbegrenzung nung der Landesregierung im Schießplatzprojekt zu betreiben, hat man sich im November auf dem Wittstock anzumahnen. Herr Stolpe ermunterte zu Parteitag der SPD flugs gegen die militärische Nach- weiteren öffentlichkeitswirksamen Aktionen und nutzung ausgesprochen. Lippenbekenntnisse sind sagte die Unterstützung der Landesregierung zu. einfach; wird es jedoch konkret, dann ist es für die SPD Weiter: Besuch von Vera Wollenberger, Mitglied im immer schwierig. Verteidigungsausschuß, vor Ort. Sie meinte, daß eine Wie soll der Petent verstehen, daß sich die SPD klare Haltung des Ministerpräsidenten sehr wohl eine mehrheitlich enthalten hat, als Frau Wollenberger am Entscheidungsgrundlage für den Verteidigungsaus- 14. Januar 1993 einen Antrag für die zivile Nutzung schuß und für den Minister, Herrn Rühe, wäre. Aber der Heide einbrachte? Enthaltungen gleichen dem 16060 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Rosemarie Priebus vergeblichen Versuch, einen Pudding an die Wand zu Hektar umfassenden Wittstock hinkt in dem gleichen nageln. Maße wie der Vergleich von Äpfeln mit Birnen. Bei meinem Bekenntnis für die militärische Nach- (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) nutzung am 14. Januar war ich mir der psychologi- Nun zum Vorwurf des Petenten, die Bundeswehr schen Ausgangssituation der Bürger meines Wahl- habe schon 1990 ihr Desinteresse an der Nachnutzung kreises voll bewußt, zumal ich seit 1978 ungefähr gezeigt. Dies entspricht nicht der Tatsache. Sie war 200 m neben der sowjetischen Liegenschaft Flieger- von Anfang an um Einvernehmen mit dem L and horst Alt-Daber lebe. Ich bin also ebenfalls eine bemüht. Das gegenteilige Schreiben einer nachge- unmittelbar Be troffene. ordneten Behörde des Bundesministeriums der Ver- teidigung kann für die Regierung nicht ausschlagge- Das Truppenübungsplatzkonzept spiegelt meiner bend sein. Meinung nach ausgewogen die Interessen der Streit- kräfte und der Gesamtbevölkerung Deutschlands, Ich bin froh, jetzt die Gelegenheit zur Klarstellung also West- und Ostdeutschlands, wider. bezüglich der Eigentumsproblematik zu haben. Von den 12 654 Hektar Fläche des Truppenübungsplatzes Wenn wir in Ostdeutschland einheitliche Lebens- Wittstock stehen nur noch 210 Hektar im Eigentum verhältnisse einfordern, dann sind wir auch verpflich- Dritter. Der Rest ist entweder auf Grund von Ver- tet, hinsichtlich der Belastungen zu teilen. Wir weisen zichtserklärungen, Verkaufsverträgen bzw. Enteig- manchmal auch zu Recht auf den Egoismus der nungen nach § 10 des Verteidigungsgesetzes in eine westlichen Länder hin. Das gibt uns aber nicht das andere Rechtsform übergegangen. Beispielsweise Recht, nach dem Grundsatz zu verfahren „Wie du mir, erfolgte vor Jahren an H and der Flurkarten die so ich dir" . Deshalb kann es nicht zu einem völligen Bewertung des Waldes, auf Grund deren eine entspre- Verzicht auf Übungsplätze kommen, selbst wenn die chende Entschädigung gezahlt wurde. Ankäufe wur- extensive Nutzung durch die Streitkräfte der früheren den bis zum Jahr 1987 getä tigt; teilweise wurden hohe Sowjetunion oder der Nationalen Volksarmee dafür Summen dafür gezahlt. zu sprechen scheint. (Zuruf des Abg. Konrad Weiß [Berlin] Die GUS-Streitkräfte nutzten den Platz ohne Rück- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sichtnahme auf die dortige Bevölkerung. Künftig sind — Ich weiß schon, weshalb ich das hier erwähne, Herr folgende reduzierte Betriebszeiten geplant: Luftwaffe Weiß. — Unter anderem liegen mir zwei Kaufverträge bis 30 Stunden pro Woche und Heer ca. 40 Stunden vom August 1987 mit einer Verkaufssumme von rund pro Woche, also etwa die Hälfte der früheren Nut- 63 000 Mark für 19 ha und 15 000 Mark für 5 ha zungsintensität, samstags allerdings nur auf Einzelan- vor. trag in begründeten Ausnahmefällen mit Genehmi- gung des Heeresamtes. An Sonn- und Feiertagen Im Bundesvermögensamt Potsdam ist bislang auf findet kein Schießbetrieb statt. Auch während der Grund verfahrenstechnischer Schwierigkeiten die Hauptferienzeit ist eine mehrwöchige schießfreie Zeit Bewertung von nur etwa einem D rittel der Gesamtflä- geplant. Ferner werden nur 3 000 Einsätze im Jahr che abgeschlossen, die aber dennoch aussagekräftig geflogen. Das entspricht etwa einem Sechstel des für die Restfläche ist. vorherigen Aufkommens. Das Land will nun Anspruch auf fast die gesamte Fläche als Preußenvermögen erheben. Fakt ist aber, An Ihre Adresse und an Ihre mathematischen Fähig- daß 21 % Bodenreformfläche sind, also auf Neusiedler keiten gerichtet, Herr Landrat Gilde, SPD: Was ist ein aufgeteilt wurden. Wahrscheinlich ist, daß für die Flugeinsatz? — Ein Flugeinsatz ist der Flug eines Restfläche das gleiche gilt. Hier liegt deshalb die Flugzeuges vom Start bis zur Landung. Eine Vierer- Vermutung nahe, daß der Schlingerkurs der SPD im formation umfaßt somit vier Einsätze; wenn jeder Landtag hinsichtlich der Unterstützung der Bürgerini- Tornado drei bis vier Runden dreht, entspricht das bei tiative mit einer Klage darin begründet ist, daß auch 3 000 Runden maximal also 9 000 bis 12 000 Einsätzen die Landesregierung von den tatsächlichen Eigen- — nicht 48 000 pro Jahr, wie Sie, Herr Gilde, kühn tumsverhältnissen unterrichtet ist. nach Ihrem Aufenthalt in Siegenburg verbreiten! Zu dem Vorwurf des Petenten, das Bundesministe- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: rium der Verteidigung sei auf Besorgnis und Ein- Dann ist das ja nicht der Rede wert!) wände von Anwohnern des Truppenübungsplatzes nicht eingegangen, unterstütze ich die Antwort des Auf Grund der Lage, der geringen Bevölkerungs- Petitionsausschusses nur teilweise. Sie besagt, daß es dichte und vor allem der Eignung für Standard- und zu einem noch intensiveren Meinungsaustausch hätte taktische Einsatzübungen entschied man sich für kommen müssen. Im Gegenzug ist aber auch zu Wittstock. Damit verfolgt die Luftwaffe das Ziel, eine verlangen, daß der Andersdenkende, sprich: Befür- möglichst gleichmäßige Verteilung der Lärmlast zu worter der Nachnutzung, seine Argumente wenig- erreichen. Dies bedeutet eine Entlastung der Region stens anbringen darf, ohne daß er bereits vorab daran Siegenburg und Nordhorn. gehindert wird. Beschuldigungen, wie „Lügnerin", Dazu gleich eine Bemerkung zu den Falschmeldun- kenne ich da aus eigener Erfahrung, ohne daß ich den gen vor Ort. Die Tornados fliegen in Siegenburg Mund vorher aufmachen durfte. ausschließlich über bewohntem Gebiet mit viel höhe- Es stimmt einfach nicht — das möchte ich hier im rer Bevölkerungsdichte als Wittstock. Der Vergleich Hohen Haus nachdrücklich bekunden —, daß bei der des 300 Hektar großen Siegenburg mit dem 13 000 Bevölkerung keine Akzeptanz der Bundeswehr vor- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16061

Rosemarie Priebus handen sei. Es gibt mindestens genauso viele Befür- Bisher war ich davon ausgegangen, daß — er-- worter. stens —, wenn schon Luft/Boden-Schießübungen der (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der Luftwaffe im Tiefflug notwendig sind, diese auch auf F.D.P.: Mehr!) deutschem Boden und nicht nur im Ausland durchge- führt werden sollten. — Ich habe gesagt: mindestens. Ich zitiere aus einem nicht veröffentlichten B rief Zweitens. Die Verteilung auf drei statt bisher auf vom Februar 1993, deren es viele gibt — die Presse zwei Übungsplätze in Deutschland vermindert die weigerte sich, diesen B rief zu drucken; leider ein unvermeidbaren Belästigungen in den betroffenen Dauerzustand —: Gebieten erheblich, besonders wenn die Anzahl der Flüge nicht erhöht wird. (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt leider kein Zentralorgan Drittens hatte ich mich dafür eingesetzt, daß die mehr!) Anzahl der stationierten Soldaten im Wittstocker Warum wird immer so getan, als ob die Entschei- Raum erhöht wird, was als wirtschaftlicher Faktor dung noch nicht gefallen wäre, als ob es keinen bedeutsam gewesen wäre. Bundestagsbeschluß gäbe? Diese Ansichten halten der Argumentation und dem Zweitens. Man tut so, als ob alle Bürger geschlos- eindringlich bekundeten Willen der Bürgerinitiative sen gegen die Nachnutzung des Truppenübungs- im Raum Wittstock nicht Stand. Die SPD-Fraktion ist platzes auftreten würden. Mit welchem Recht? überzeugt, daß durch eine rücksichtslose Enteignung Drittens. Tatsache ist, daß alle Ferien- und Frei- von Acker und Wald 1948, 1949 und später durch die zeitobjekte unter den Bedingungen des Schieß- Sowjetarmee — ein Einspruch wurde nicht zur Kennt- platzes entstanden sind. nis genommen oder abgewiesen — brutal und nach- haltig in die Befindlichkeit der Bevölkerung einge- (Regina Kolbe [SPD]: Die haben auch darun griffen wurde. ter gelitten!) — Wenn Sie mitgehört hätten, dann hätten Sie verfol- Diese Wunden — das haben wir hier in Bonn gen können, daß seit 1978 auch ich Betroffene bin. verkannt — sind nicht vernarbt, sondern im Gegenteil auch noch in der Gegenwart offen. Es wächst jetzt ein Gefühl von Heimat und Zusammenhang in dieser Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- Region. zeit ist abgelaufen. Rücksichtslos, ohne auf Naturzerstörung, gesund- heitsgefährdende Lärmbelästigung oder Beschädi- Rosemarie Priebus (CDU/CSU): Ja. — gung von Häusern zu achten, wurde der Bombenab- Schließlich: Es ist bedauerlich, daß dieses Thema wurfplatz langjährig zu jeweils nicht angekündigten schon jetzt als Wahlkampfthema benutzt wird. Zeiten durch die Sowjetarmee mit scharfen Bomben So viele Fragen, wer gibt die Antworten? und Bordwaffen genutzt. Ende des Zitats. Zwar bestand auch schon vor dem Zweiten Welt- krieg in der Region ein Truppenübungsplatz. Er Vizepräsident Hans Klein: Bitte nur noch einen wurde aber nicht so intensiv genutzt und zerstörte Satz. nicht den Mischwald und die Heide. Wir erkennen, daß das Rechtsempfinden der Bür- Rosemarie Priebus (CDU/CSU): Ich unterstütze ger nachhaltig tief verletzt wurde. Der emotionale deshalb den Vorschlag des Petitionsausschusses, die- Protest, durch Versammlungen, Demonstrationen und ses Verfahren einzustellen. Mein dringlichster Wanderungen vierlerorts zu Recht bekundet, muß von Wunsch ist, daß die Bürger über die wirklichen Dinge uns Politikern akzeptiert werden und ist bei der der Bundeswehr unterrichtet werden und die weitere Entscheidung zu beachten. Diskussion um den Truppenübungsplatz Wittstock diesem Charakter endlich entspricht. Ebenso wie wir als SPD-Fraktion und auch ich persönlich die Ansicht und Haltung zum Schießplatz (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wittstock ändern, indem ich mich dem Änderungsan- trag zur Sammelübersicht 117, den wir eingebracht Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem haben, anschließe, fordere ich auch die Regierungs- Kollegen Dr. Hans-Hinrich Knaape. koalition und die Bundesregierung auf, eine Revision (Rudolf Bindig [SPD]: Jetzt hören wir uns über den Luft/Boden-Schießplatz unter den bekunde- einmal an, wie es wirklich war!) ten Aspekten zu überdenken und den Appellen der dort wohnenden Bevölkerung nachzukommen. Es müssen andere Wege einer Lösung gefunden wer- Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Herr Präsident! den. Meine Damen und Herren! Werte Frau Priebus! Heute an dieser Stelle muß ich auch eine persönliche Hal- Ich möchte Sie bitten, dem Antrag der SPD zuzu- tung korrigieren, indem ich zum Antrag der SPD- stimmen. Es geht nicht nur um eine Abwendung einer Fraktion über die Unterstützung der Bürgerinitiative unzumutbaren Beeinträchtigung der Lebensqualität Freie Heide, den Luft/Boden-Schießplatz Wittstock im in der Region Wittstock. Es geht in diesem Falle auch Land Brandenburg für die Nutzung durch die Bundes- um eine Korrektur, die das Ziel hat, das deutsch- luftwaffe aufzugeben, spreche. deutsche Zusammenwachsen zu harmonisieren und 16062 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Hans-Hinrich Knaape zum gegenseitigen Verständnis der Belange beizutra- Boden-Einsätze, der relativ geringen Bevölkerungs-- gen. dichte, wegen der Größe und der wegen der Größe des Es geht auch darum, daß in der Bevölkerung der Platzes zu erwartenden geringen Fluglärmbelastung Region trotz Bemühungen durch die Bundesregierung der Anliegergemeinden. und auch die Bundeswehr die Bedenken gegen diesen Die GUS-Streitkräfte nutzten Wittstock montags bis Truppenübungsplatz nicht zerstreut werden konn- freitags von 9 Uhr bis 24 Uhr und samstags von 9 Uhr ten. bis 15 Uhr mit Kampfflugzeugen und Hubschraubem. Politik kann aber, wenn sie für den Bürger verständ- Hierbei wurden ausschließlich scharfe Waffen, u. a. lich und glaubhaft bleiben soll, nicht gegen den Willen Bomben bis 500 kg, gelenkte und ungelenkte Raketen der Wähler gemacht werden. Wenn die Akzeptanz sowie Bordmunition bis 30 mm eingesetzt. Täglich fehlt, muß nach Kompromissen gesucht werden. wurden 450 Einsätze — das entspricht 20 000 bis Die SPD des Landes Brandenburg steht hinter der 25 000 jährlichen Einsätzen — ohne Rücksichtnahme Bevölkerung der Region Wittstock, wie auch die auf die Bevölkerung durchgeführt. Mehrheit des Landtages in Brandenburg. (Zuruf von der F.D.P.: Unerhört!) Zugeben müssen wir, daß hier im Bundestag die Die Fraktion der SPD — im Grunde sind es die Fehler Luftwaffe plant den Einsatz in Wittstock mit dem einzelner gewesen — diese klare Haltung bei zurück- Tornado zu Betriebszeiten, die in den Vormittags- und liegenden Abstimmungen nicht hat erkennen lassen. Nachmittagsstunden liegen. An Samstagen, Sonnta- Wir korrigieren diese Haltung jetzt. Das tun wir offen. gen und gesetzlichen Feiertagen soll der Schießplatz Das ist kein Grund zur Häme, sondern zum Nachden- geschlossen sein. Während der Sommerfe rien ist eine ken — zum Nachdenken, um Abhilfe zu schaffen. mehrwöchige schießfreie Zeit geplant. Weiterhin kommen keine scharfen Waffen, sondern ausschließ- Ich glaube, es ist auch nicht die Zeit der starken lich Übungsbomben — 2,5 bis 12,5 kg — mit Rauch- Worte und der gegenseitigen Anschuldigungen. Es ist zündung zum Einsatz. aber die Zeit der Besinnung, wie wir Deutsche in Ost und West miteinander umgehen sollten. Der geplante Nutzungsumfang beinhaltet demzu- folge 3 000 Einsätze pro Jahr, also weniger als ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sechstel der durch die ehemaligen GUS-Streitkräfte der PDS/Linke Liste) geflogenen Einsätze. Die Bundeswehr beabsichtigt Wir müssen die Emotionen aus der Diskussion als Ausgleich, nunmehr im Raum Wittstock rund 1 000 herausnehmen, die Argumente versachlichen und, Soldaten zu stationieren. wie im Antrag von uns gefordert, der Bundesregie- rung erneut Zeit geben, ihr Konzept für Wittstock zu (Rosemarie Priebus [CDU/CSU] 1 500!) überdenken. — Sogar 1 500? Mir ist die Zahl 1 000 bekannt. Ebenso wäre aber auch die Bürgerinitiative Freie Heide aufgefordert, ihre starken Worte zu mäßigen Damit verbunden wären zivile Dauerarbeitsplätze und ebenfalls in einen sachlichen Dialog überzuge- sowie Aufträge, vornehmlich in die lokale Wirtschaft, hen. von mehr als 50 Millionen DM pro Jahr. Ich danke Ihnen. Diese Stationierung macht Investitionen von mehr als 100 Millionen DM erforderlich, da neu gebaut (Beifall bei der SPD) werden muß. Auch bei diesen Aufträgen soll, soweit dies möglich ist, vorrangig die regionale Wirtschaft Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege berücksichtigt werden. Hinzu kommen die Ausgaben Uwe-Bernd Lühr. für Altlastensanierung. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat eine Privatfirma mit der Uwe Lühr (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr Erfassung und Erstbewertung der Altlasten auf den verehrten Damen und Herren! Die F.D.P.-Bundes- WGT-Truppenübungsplätzen, darunter auch Witt- tagsfraktion stimmt der Beschlußempfehlung des Peti- stock, beauftragt. Die Ergebnisse liegen meiner tionsausschusses zu. Kenntnis nach noch nicht vor, so daß wir hier noch Der Truppenübungsplatz Wittstock ist im Truppen- keine Aussagen über Art und Umfang von Sanie- übungsplatzkonzept des BMVg für eine gemeinsame rungsmaßnahmen machen können. Nutzung durch Heer und Luftwaffe vorgesehen. Die Luftwaffe realisiert mit der Einbeziehung Wittstocks Gegen eine militärische Anschlußnutzung wendet zwei Ziele, erstens die Verringerung des Übungsbet- sich eine Bürgerinitiative mit dem Konzept einer riebs auf den beiden westdeutschen Plätzen Nordhorn zivilen touristischen Nutzung, für das angeblich und Siegenburg durch Hinzunahme eines ostdeut- bereits ein Investor bereitsteht, der 70 Millionen DM schen Platzes, zweitens analog zu den Flügen im investieren will. niedrigen Höhenband eine möglichst gleichmäßige Wir gehen davon aus, daß hinter den Beschlüssen Verteilung der mit den Luft/Boden-Einsätzen verbun- der zuständigen gewählten Entscheidungsgremien denen Belastung. vor Ort nicht persönlicher Eigennutz steht, sondern Bei der Untersuchung der in den neuen Bundeslän- eine verantwortungsvolle, zukunftsweisende Struk- dern von der NVA und WGT genutzten Luft/Boden- turentscheidung, die der Region, in der eine Arbeits- Schießplätzen empfahl sich der Übungsplatz Witt losenrate von mehr als 20 % zu verzeichnen ist, eine stock auf Grund der Lager, der Eignung für Luft/ positive wirtschaftliche Entwicklung sichert. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16063

Uwe Lühr Wenn sich der Wittstocker Bürgermeister, Herr — Aber das muß man auch mal sagen. - Scheidemann, mit der dringenden Bitte an das Vertei- digungsministerium wendet, endlich konkrete Infor- Freud und Leid der Einheit müssen gerecht verteilt mationen zum Stationierungskonzept „Fliegerhorst werden. — So Volker Rühe bei einem Besuch des Wittstock" zu erhalten, damit man zweckgerichteten Schießplatzes Nordhorn-Range in Niedersachsen. Zur Horrorszenarien angeblich beabsichtigter extremer Freude vieler Wittstocker, Neuruppiner, Kyritzer und Nutzung ebenso entgegentreten kann wie den reali- anderer Brandenburgerinnen und Brandenburger tätsfernen Wunschvorstellungen über einen phanta- über die Öffnung der Grenzen 1989 kam die große stischen Freizeit- und Naturpark, dann kann die Hoffnung, daß nun auch endlich Schluß sei mit der F.D.P.-Fraktion diese Forderung nur unterstützen. verheerenden Verbombung der Heide bei Wittstock. Immerhin wurden durch die russischen Streitkräfte (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne täglich bis zu 450 Einsätze mit scharfen Waffen ten der CDU/CSU) durchgeführt. Die Befürworter einer militärischen Anschlußnut- zung sind nirgendwo in unserer Republik in einer Die Hoffnung auf ein Ende des Bombodroms wurde, sonderlich komfortablen Situation, erst recht nicht wie so viele andere Hoffnungen, nach dem Anschluß dort, wo die vorangegangene Nutzung die Bevölke- bitter enttäuscht. Natürlich haben die Bürgerinnen rung extrem belastete. Hier ist auch die Bundeswehr und Bürger jetzt das Recht, ihren Protest öffentlich zu gefordert. Sie könnte der Agitation mit Übertreibung bekunden. Sie können Unterschriften sammeln, Mär- und dem Schüren von Ängsten vor Fortsetzung der sche und Kundgebungen veranstalten, Mahnsäulen extremen Belastung ein Ende setzen. aufstellen. Was aber bringt das am Ende? Welche Warum ist die Luftwaffe eigentlich nicht längst Erfahrungen müssen sie sammeln? unangekündigte Übungseinsätze geflogen, die mei- nes Erachtens von den wenigsten Anwohnern über- Mit derselben Arroganz, mit der in der DDR offener haupt bemerkt worden wären? Die Behauptung, daß Widerstand unterdrückt wurde, erklärt der Verteidi- nur geringe Belästigungen auftreten, ließen sich so gungsminister, er sei durch Proteste nicht zu beein- zutreffend beweisen. drucken. Ähnliches wird auch den 120 000 Bauarbei- tern passieren, die heute hier in Bonn gegen die Die Zusage der Bundeswehr, nach Wittstock zu Streichung des Schlechtwettergeldes protestiert ha- kommen, muß schleunigst in konkrete Plandaten ben. umgesetzt werden, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Briefe aus der Wittstocker Region, in denen mit damit auch vom örtlichen Handwerk und Gewerbe sachkundigen Argumenten versucht wurde, die Bun- sichere Investitionsentscheidungen getroffen werden desregierung aufzuklären, wurden entweder ignoriert können. Für das devastierte Gebiet kann das Konzept, oder nichtssagend — quasi auf Formblatt — beantwor- das auf den besonderen touristischen Reiz des Gegen- tet. satzes von verwüstetem und kultiviertem Gelände So wies u. a. die Seniorin der Bürgerinitiative „Freie setzt, keine ernsthafte Nutzungsalternative sein. Heide" Frau Annemarie Fried rich auf die Verwand- lung der Heide in eine trostlose Wüste hin, die Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Lühr, die nachweisbare Auswirkungen auf Klima und Grund- Redezeit! wasserspiegel hatte. Traditionelle Verkehrsverbin- dungen zwischen den Anliegergemeinden wurden Uwe Lühr (F.D.P.): Ich komme zum letzten Satz, gekappt. Ein künftiges Fremdenverkehrskonzept für Herr Präsident. die Region steht und fällt mit der Entscheidung über Mit einer militärischen Anschlußnutzung eröffnen die Weiternutzung des Bombodroms. All das schert sich realistische Perspektiven der wirtschaftlichen Herrn Rühe nicht. Zukunft einer der ärmsten Regionen unserer Repu- Nach sehr langem Nachdenken hat sich nun endlich blik, die nicht zugunsten vager Träume zunichte die Landesregierung Brandenburg gegen den weite- gemacht werden sollte. ren Betrieb ausgesprochen. Auch das geht offenkun- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dig an Herrn Rühe glatt vorbei. Jetzt soll eben rechts- staatlich zementiert werden, was Jahrzehnte — zu- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dr. Dagmar mindest nach Ihrer Auffassung — Unrecht war. Enkelmann, Sie haben das Wort. So setzt der Verteidigungsminister sein Konzept gegen alle Bedenken und Sorgen der Be troffenen in Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr den Regionen durch; und das bet rifft Wittstock in Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Priebus, Brandenburg ebenso wie Nordho rn-Range in Nieder- ich gestehe, daß Sie mir direkt ein bißchen leidtun. sachsen. Wären Sie bereit, dem Hohen Haus auch mitzuteilen, was Sie gegen die Weiternutzung des Truppen- Ja, der Verteidigungsminister verschafft sich auch übungsplatzes alles getan haben? lch denke an Fern- noch Lorbeer, indem er die eine Region gegen die sehsendungen, an Zeitungsartikel usw., usf. Warum andere, den Westen gegen den Osten ausspielt. Es ist sind Sie plötzlich umgekippt? Ich kann nur sagen: Sie schon mehr als zynisch, wenn Minister Rühe bei tun mir leid. seinem Besuch in Nordhorn gönnerhaft verspricht: (Zuruf von der CDU/CSU: Sie braucht Ihnen Für Nordhorn wird es erträglich, wenn Wittstock doch nicht leidzutun!) kommt. 16064 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Dagmar Enkelmann Freude und Leid sollen gerecht verteilt werden? Für Aber das paßt natürlich völlig zu dem, was Sie den die „Freude" am Bombodrom Wittstock danken wir Funktionsträgern der CDU-Kreisverbände in Kyritz recht herzlich. und Neuruppin geschrieben haben. Ich zitiere aus Ich danke Ihnen. Ihrem Brief vom 25. Februar 1993, in dem Sie rheto- risch fragen: „Wollen Sie es verantworten, daß die (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Landkreise Wittstock und Neuruppin zum Truppen- Abgeordneten der SPD) übungsplatz für Autonome werden?" Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Konrad (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das Weiß, Sie haben das Wort. ist doch eine gute Frage!) Sie beziehen sich dabei auf die Protestwanderungen Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): von Betroffenen, von friedlichen Bäuerinnen und Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Bauern, von Märkern aus Brandenburg und engagier- Kolleginnen und Kollegen von der SPD! In der Bibel ten Bürgerinnen und Bürgern aus Berlin, heißt es: Im Himmel ist mehr Freude über 99 Sünder (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Es als über einen einzigen Gerechten. waren auch noch ein paar andere da!) (Zurufe) die Monat für Monat in Wittstock zusammenkommen, um gegen den Einmarsch der Bundeswehr in Witt- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Weiß, Sie haben die Zahl etwas hoch gegriffen. stock zu protestieren. Die können Sie doch nicht als autonome Chaoten bezeichnen. Wenn Sie auch nur einmal an diesen friedlichen Protestwanderungen Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, es sind nicht so viele anwesend. Auf jeden Fall teilgenommen hätten, wo wir gemeinsam gesungen, freue ich mich mit den Engeln über die Entscheidung wo wir getanzt und gebetet haben, wo wir nachge- der SPD, ihre im Petitionsausschuß vertretene Auffas- dacht haben über die f riedliche Nutzung von Witt- sung gegen die Bürgerinitiative zu revidieren. stock, dann wüßten Sie, wie diese „autonomen Chao- ten" aussehen. Das sind handfeste, ortsgebundene, Frau Kollegin Priebus, was Sie hier dem Hohen bodenstämmige Leute, die dort diesen Protest gegen Hause vorgetragen haben, ist einfach unerhört. den Truppenübungsplatz durchführen. (Zuruf von der F.D.P.: Besonders was Herr Meine Damen und Herren, es gibt nur eine Mög- Kolbow gesagt hat!) lichkeit. Nach 40 Jahren der Zerstörung dieses Land- Am 19. Februar 1993 hat auf einer Veranstaltung, zu striches muß dieses Gebiet, das den Leuten von der auch Sie eingeladen waren, an der Sie aber nicht stalinistischen Terroristen mit Hilfe der SED und ihrer teilgenommen haben, in Anwesenheit vieler Bürge- Blockparteivasallen weggenommen worden ist — rinnen und Bürger aus dem Gebiet — übertragen vom Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg, aufgezeichnet vom „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" und Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Weiß — — wiedergegeben in einer großen Dokumentation — u. a. der Ministerpräsident von Brandenburg dreimal Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): erklärt, auf die Nachfrage von Vera Wollenberger und — ich komme zum Ende, Herr Präsident —, diesen von mir, daß er sich eindeutig gegen die militärische zurückgegeben werden. Weiternutzung von Wittstock ausspricht. Ich denke, Die Bundesregierung selbst sagt — Frau Priebus, Minister Bräutigam wird darauf auch noch einmal vielleicht fragen Sie einmal die Damen und Herren eingehen. von der Bundesregierung —, daß für mehr als 210 Hektar Rückübertragungsansprüche von Privat- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Weiß, personen bestehen — gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Weiß, bitte Aber selbstverständlich! nur noch einen Schlußsatz! Bitte, Frau Priebus. Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Rosemarie Priebus (CDU/CSU): Herr Weiß, ist — und daß noch nicht geklärt ist, wieviel öffentliche Ihnen bewußt, daß sich meine Aussage zur Haltung Körperschaften ebenfalls Ansprüche auf diese Rück- des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg auf übertragung gestellt haben. die Zeit bis zur Entscheidung, also bis zum 14. J anuar Ich danke Ihnen für Ihre Geduld, Herr Präsident. 1993 bezogen hat? Sie erwähnten jetzt ein Datum im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Februar 1993. der SPD und der PDS/Linke Liste) Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrte Kollegin, es gehört doch zumindest zur Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Weiß, das Fairneß dazu, wie wir als Parlamentarier miteinander ist keine Frage meiner Geduld, es ist eine Frage der umgehen sollten, dann auch die Haltung des Minister- Fairneß gegenüber den Kollegen, mit denen die präsidenten nach diesem Datum deutlich zu ma- Redezeiten ausgemacht sind. chen. Ich erteile das Wort dem Minister der Justiz des (Beifall bei der SPD) Landes Brandenburg, Herrn Dr. Hans Otto Bräuti- Was ist denn das für ein Stil? gam. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16065

Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg): — Nein, den kenne ich zwar nicht, aber, bitte, hören- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Sie zu! Herren Abgeordnete! Die Landesregierung von Bran- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: denburg unterstützt ganz nachdrücklich die Petition, Das mache ich gerade!) mit der die Bürger von Wittstock und Umgebung die Schließung des Truppenübungsplatzes Wittstock ver- Ich habe zu diesem Punkt noch mehr zu sagen. Ich langen. rede auch über die Bombenabwürfe, und die haben — so meine ich in der Tat — in der gesamten (Beifall bei der SPD, und der PDS/Linke Liste Bundesrepublik heute nichts mehr zu suchen. und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD — Dr. Wolfg ang Weng Einige von Ihnen werden wissen, daß Anfang der [Gerlingen] [F.D.P.]: Ach ja?) 50er Jahre dieses früher einmal land- und forstwirt- schaftlich genutzte L and ohne angemessene Entschä- Die beteiligten Kreistage, der Landtag und die digung für militärische Zwecke der sowjetischen Landesregierung haben sich mit eindeutigen Be- Besatzungsmacht enteignet worden ist. Seitdem schlüssen für eine zivile Nutzung ausgesprochen. Der haben die sowjetischen Streitkräfte den Truppen- Ministerpräsident, liebe Frau Priebus, hat dazu ganz übungsplatz für Bombenabwürfe genutzt. Die Übun- eindeutig Stellung genommen, nicht wie aus der gen erfolgten ohne Vorwarnung bei Tag und bei Pistole geschossen, sondern nach einer sorgfältigen Nacht. Häufig durchbrachen Flugzeuge im Tiefflug Prüfung, und dann ganz eindeutig. Sie müssen das die Schallmauer. Die Lebensqualität der Menschen in lesen, wenn Sie es bisher nicht getan haben. An den der Umgebung ist dadurch schwer beeinträchtigt Veranstaltungen, bei denen er war, haben Sie ja in worden. Ich denke, Frau Priebus, Sie werden uns aller Regel gar nicht teilgenommen. bestätigen können, daß auch Ihre Lebensqualität (Beifall bei der SPD — Widerspruch der Abg. früher beeinträchtigt worden ist. Viele Häuser in den Rosemarie Priebus [CDU/CSU]) umliegenden Dörfern sind durch die Detonationen in Die Bundeswehr hat sich — das trifft zu — von den Mitleidenschaft gezogen worden. Demonstrationen und Stellungnahmen bisher nicht Seit der Wende 1990 haben die Menschen in und um beeindrucken lassen. Sie hat zwar eine Stationierung Wittstock die Hoffnung, daß diese Kriegsübungen ein von 1 500 Soldaten in Wittstock in Aussicht gestellt, Ende haben. Sie stellten sich auf eine zivile Perspektive aber auch das hat die be troffenen Menschen nicht von ein, und wer die Prignitz kennt, weiß, daß sich die so ihrer Ablehnung abb ringen können. Es ist eine Tatsa- reizvolle Heidelandschaft für eine touristische Erschlie- che, daß es für diesen Truppenübungsplatz in der ßung geradezu anbietet. Darauf sind die Menschen in Bevölkerung keine, aber auch gar keine Akzeptanz dieser Region heute, nach dem Niedergang der Land- gibt. wirtschaft, auch dringend angewiesen. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Aber wenn dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es ein Bombenabwurfplatz war, können Sie Es ist leicht, das zu kritisieren. Die Abgeordnete doch niemanden darauflassen! — Rosema rie Priebus hat uns eine Kostprobe gegeben, wie man das Priebus [CDU/CSU]: Also: Zwischen Muni machen kann. Sie hat es in ganz polemischer Form tion fühlen wir uns wohl?) getan, mit Polemik gegen Personen. Ich glaube, das — Natürlich muß das in Ordnung gebracht werden. Das hat der Sache nicht gedient. Aber Sie müssen wissen, ist überhaupt keine Frage. Das ist eine Verantwortung wie Sie diese Auseinandersetzung führen wollen. Sie des Landes Brandenburg, und es ist auch und insbeson- können diese Auseinandersetzung über die Sache dere eine Verantwortung der Bundesregierung. Dar- führen, und Sie können diese Auseinandersetzung über sind wir uns ja einig. Hoffentlich sind wir uns dann gegen Personen führen. Sie müssen das wählen. Bitte, auch darin einig — und dazu ist es nur ein kleiner das ist Ihre Entscheidung. Schritt —, daß dies in Zukunft aufzuhören hat. Zunächst sah es ja auch so aus, als würde die Bundeswehr davon Abst and nehmen, die bisher von Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mini- den sowjetischen Streitkräften in Anspruch genom- ster, die vereinbarte Redezeit wäre jetzt zu Ende. menen Liegenschaften weiterhin für militärische Zwecke zu nutzen. Im Falle Wittstock ist diese Erwar- tung dann bitter enttäuscht worden. Das 1992 vorge- Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg): legte Truppenübungsplatzkonzept sieht vor, daß der Ich bitte, Herr Vorsitzender, Platz Wittstock durch Luftwaffe und Heer erneut, und zwar für Bombenabwürfe, genutzt werden soll. Die (Zuruf von der CDU/CSU: „Herr Präsi- zivile Entwicklungsperspektive für diese Region wird dent" ! ) damit praktisch zunichte gemacht. daß Sie mir noch einen Augenblick Zeit geben, weil Die ganz große Mehrheit der Bevölkerung in die- ich zu einem wichtigen Punkt kommen möchte. Ich sem Raum lehnt eine militärische Nutzung dieses werde dann aber schnell zum Schluß kommen. Truppenübungsplatzes ab. (Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [F.D.P.]: (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Wir kennen diese Art Reden hier!) GRÜNEN]: Sehr richtig! — Dr. Wolfgang Alle Teile der Bundesrepublik Deutschl and haben Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Kennen Sie einen für die Landesverteidigung Opfer zu bringen. Dar- Raum, wo das anders ist?) über, denke ich, kann es in diesem Hause keine 16066 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg) Meinungsverschiedenheiten geben. Das gilt selbst- letzter Zeit ausgiebig Gebrauch gemacht. Wir haben- verständlich auch für die neuen Länder. Auch Bran- deshalb eine Abmachung getroffen, daß diese Rede- denburg ist dazu bereit. Ich unterstreiche das ganz zeiten jeweils den Fraktionen zugerechnet werden. ausdrücklich. Daran kann überhaupt kein Zweifel Wenn nun ein Landesminister spricht, nachdem bestehen. Eine ganze Reihe von Truppenübungsplät- seine Fraktion bereits gesprochen hat, ihr also keine zen, die die Bundeswehr für eine Weiternutzung in Redezeit mehr abgezogen werden kann, und sich Erwägung gezogen hat, sind von der Bevölkerung dann nicht an die Vereinbarung hält — — bereitwillig und mit Verständnis akzeptiert worden. Daß die meisten Plätze dann doch aufgegeben werden (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Dafür krie- sollen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Schon gen wir dann was! Wir verzichten aber; es daraus kann man erkennen, daß die Ablehnung des lohnt sich nicht! — Siegf ried Vergin [SPD]: Truppenübungsplatzes Wittstock nicht mit einer all- Wenn ein Minister spricht, hat er etwas zu gemeinen Aversion gegen die Bundeswehr zu tun sagen!) hat. — Entschuldigung, ich will nur verdeutlichen, wie (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Sehr richtig!) kompliziert diese Situation für mich ist, und begrün- den, warum ich dem Kollegen rechtzeitig ins Wort Für die Bombenabwürfe aber, die für die Menschen eine schwere Beeinträchtigung bedeuten, gibt es gehen muß, zumal dieses fabelhafte System schon keine Akzeptanz; das ist der Unterschied. wieder dazu geführt hat, daß die Lichter am Redner- pult nicht aufleuchten. (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der F.D.P.) (Heiterkeit — Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Insistieren der Bundeswehr auf dieser Nutzung bringt nun die Gefahr mit sich — ich bitte in diesem Ich erteile der Parlamentarischen Staatssekretärin Punkt um Ihre Aufmerksamkeit —, daß sich die im Bundesministerium der Verteidigung, unserer Kol- positive Einstellung zur Bundeswehr im L ande insge- legin Michaela Geiger, das Wort. samt ändert und in Mitleidenschaft gezogen wird. Das beunruhigt die Landesregierung in einem außeror- dentlichen Maße. Die fehlende Akzeptanz in Witt- Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin beim Bun- stock und die damit verbundenen psychologischen desminister der Verteidigung: Herr Präsident! Meine Probleme haben die Landesregierung veranlaßt, ihre sehr verehrten Damen und Herren! Die in der Sam- Bedenken auch in Bonn mit großem Nachdruck vor- melübersicht 117 vom Petitionsausschuß behandelten zutragen. Es steht hier mehr auf dem Spiel als ein drei Petitionen betreffen, wie schon festgestellt, das Die Truppenübungsplatz. Truppenübungsplatzkonzept der Bundeswehr. Petenten wenden gegen eine nach ihrer Auffassung Ich möchte hier nicht näher auf die Frage eingehen, flächenmäßig überproportionale Nutzung des L andes ob die Bundeswehr in der Nachfolge der sowjetischen Brandenburg für Truppenübungsplätze und insbe- Streitkräfte überhaupt rechtlich befugt ist, dieses sondere gegen den Truppenübungsplatz Wittstock. früher enteignete Land weiterhin für militärische Zwecke in Anspruch zu nehmen. Nach Auffassung der Das Truppenübungsplatzkonzept der Bundeswehr Landesregierung ist das aus Rechtsgründen außeror- wurde am 14. Januar 1993 ausführlich im Deutschen dentlich zweifelhaft. Die Landesregierung wird zu Bundestag beraten. Danach haben die Abgeordneten dieser Frage ein Rechtsgutachten einholen und behält in namentlicher Abstimmung mehrheitlich diesem sich rechtliche Schritte vor. Konzept zugestimmt. Der Entscheidung vorausgegan- gen sind sehr gründliche Beratungen mit den Landes- regierungen und den kommunalen Körperschaften Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Herr Mini und eine breite öffentliche Debatte. ster; Sie sprengen jetzt jeden Rahmen. Wichtig für alle, die trotzdem noch anderer Mei- nung sind, ist: Für uns ist damit der Dialog mit den Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg): Bürgern nicht beendet. Wir werden in den dafür Gut, dann bitte ich, nur noch einen Satz sagen zu eingerichteten Arbeitsgruppen versuchen, Vorbe- dürfen. halte abzubauen und Einzelheiten der vorgesehenen Ich appelliere an Sie, meine sehr verehrten Damen Nutzung weiter zu erörtern. und Herren, für die strapazierten Nerven und die Auch der Truppenübungsplatz Wittstock wird in verletzten Gefühle der Menschen in dieser Region einer — gegenüber früher — nicht vergleichbaren, Verständnis aufzubringen. Bitte fordern Sie die Bun- deutlich reduzierten Art, die sich an den Belangen der desregierung auf, von diesem politisch fragwürdigen Bevölkerung, der Ökologie und des Umweltschutzes Projekt Abstand zu nehmen! orientiert, genutzt werden. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Frau Parlamentarische Liste) Vizepräsident Hans Klein: Staatssekretärin, der Kollege Konrad Weiß würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie Vizepräsident Hans Klein: Verehrter Herr Bräuti- die zu? gam, Sie bringen mich in eine schwierige Situation. Die Bundesregierung und der Bundesrat haben, wie es die Verfassung vorsieht, jederzeit Rederecht. Nun Michaela Geiger, Parl. Staatssekretärin beim Bun- wird davon vor allem auch seitens des Bundesrates in desminister der Verteidigung: Ich möchte jetzt bitte Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16067

Parl. Staatssekretärin Michaela Geiger weiterreden. Es waren Kollegen, die mir bedeutet Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Peti- haben, ich solle jetzt weitermachen. tionsausschusses? — Gegenprobe! — Danke. Enthal- tungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung ange- (Siegfried Vergin [SPD]: Sie wollten mit der Bevölkerung in Kontakt bleiben!) nommen. Meine Damen und Herren, bevor ich den nächsten An Sonntagen und Feiertagen wird kein Schießbe- Tagesordnungspunkt aufrufe, weise ich nochmals trieb stattfinden. Während der Hauptferienzeit — das darauf hin, daß nach einer Vereinbarung im Ältesten- zum Thema Tourismus — ist eine mehrwöchige rat die morgige Plenarsitzung bereits um 8.30 Uhr schießfreie Zeit vorgesehen. Sie sehen also schon, beginnt. Dies sage ich an die Adresse der Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, die die an den Lautsprechern in ihren Büros mithören, und Zustände auf den Truppenübungsplätzen, die von der auch mit der Bitte an Sie, es den anderen Kollegen Bundeswehr genutzt werden, lassen sich in keiner mitzuteilen. Weise mit den Zuständen der Truppenübungsplätze der früheren DDR vergleichen. Bei uns herrschen ganz andere Regeln. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b sowie den Zusatzpunkt 5 auf: (Beifall bei der CDU/CSU) 11. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Es darf auch nicht übersehen werden, daß die in Dr. Konrad Elmer, Hanna Wolf, E rika Simm, diesem Zusammenhang vorgesehene große Garnison weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Wittstock erhebliche wirtschaftliche Impulse in die SPD Region einbringen und zahlreiche Arbeitsplätze schaffen wird. Umgestaltung des Zivildienstes und Än- derung der Anerkennungsverfahren für (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Kriegsdienstverweigerer Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Konrad — Drucksache 12/3735 (neu) — GRÜNEN]: In der DDR war das auch so!) Überweisungsvorschlag: — Herr Weiß, ich möchte Ihnen eines sagen: Es Ausschuß für Frauen und Jugend (federführend) wurde vorhin gesagt, daß niemand einen Truppenü- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung bungsplatz möchte. Das ist nicht richtig. Ich höre Verteidigungsausschuß derzeit von zahlreichen Bürgerinitiativen pro Truppe- Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Bildung und Wissenschaft nübungsplätze, und zwar dort, wo wir vielleicht wel- che schließen müssen. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Vera Wollenberger, Dr. Klaus-Dieter Feige, (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Ingrid Köppe, weiterer Abgeordneter und GRÜNEN]: Gehen Sie doch dort hin!) der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Menschen, die die Verhältnisse auf unseren Abschaffung der Wehrpflicht und des Zivil- Truppenübungsplätzen schon kennen, z .B. auf Gra- dienstes fenwöhr und anderen Truppenübungsplätzen, wollen — Drucksache 12/5767 — an ihren Truppenübungsplätzen festhalten. Überweisungsvorschlag: (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Verteidigungsausschuß (federführend) GRÜNEN]: Wunderbar!) Innenausschuß Ausschuß für Frauen und Jugend Die Belastung der Bürger des Landes Brandenburg wird wegen der vergleichsweise geringen Bevölke- ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer, Dr. Gregor Gysi und der rungsdichte nicht stärker sein als in anderen Bundes- ländern. Voraussichtlich werden wir zusätzlich auf Gruppe der PDS/Linke Liste einen der beiden Truppenübungsplätze Lehnin und Abschaffung der Wehrpflicht Jüterbog, abhängig vom zukünftigen Standort des — Drucksache 12/6033 — Großflughafens Berlin-Brandenburg, und zusätzlich Überweisungsvorschlag: auf den Truppenübungsplatz Wünsdorf verzichten, Verteidigungsausschuß (federführend) was zu einer weiteren Entlastung des Landes Br an Ausschuß für Frauen und Jugend -denburg beitragen wird. Ich erteile dem Kollegen Konrad Elmer das Wort. Ich bitte deshalb um Unterstützung der Beschluß- empfehlung des Petitionsausschusses. Dr. Konrad Elmer (SPD): Meine Damen und Herren! (Beifall bei der CDU/CSU) Ich möchte nicht mit unserem Antrag beginnen, sondern mit dem vom BÜNDNIS 90. Die Frage der Abschaffung der Wehrpflicht steht auf der Tagesord- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- nung. Es ist sicher kein Geheimnis, daß in allen che. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar Fraktionen über diese Problematik — Wehrpflicht, zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der Freiwilligenarmee, Berufsarmee — diskutiert wird. Es SPD auf Drucksache 12/5970. Wer stimmt für den liegt in der Natur der Sache, daß sich eine kleinere Änderungsantrag? — Bitte halten Sie einen Moment Gruppe hier schneller auf ein Konzept einigen kann Ihre Hände oben, damit wir zählen können, weil das als eine große Volkspartei wie die der Sozialdemokra- Ergebnis relativ knapp ist. — Wer stimmt dagegen? — ten. Wer enthält sich? — Damit ist der Änderungsantrag Deshalb kann ich hier nur sagen, daß ich persönlich abgelehnt. Respekt vor diesem Antrag habe und denke, daß er 16068 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Konrad Elmer spätestens nach den nächsten Wahlen — nach denen Wehrübungsplätze zugrunde legt. Aber wir sind groß-- das BÜNDNIS 90 vielleicht sogar mit in der Regie- zügig und sagen: Okay, zwölf Monate und eine rungsverantwortung ist — Woche. Dann können wir auch den Fall berücksichti- (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Das gen, daß es tatsächlich mal etwas mehr werden wäre schlimm! Dann würde der Weiß Mini könnte. ster!) Nun aber dauert der Zivildienst immer noch drei mit noch ganz anderem Nachdruck auf die Tagesord- Monate länger. Die Begründung ist in der Regel — wir nung kommen wird. Aber im Moment kann ich leider werden sie auch nachher hören — die sehr viel im Blick auf unsere Fraktion nur sagen, daß der stärkere Belastung durch den Wehrdienst im Ver- Diskussionsprozeß anhält und daß wir abwarten müs- gleich zum Zivildienst, z. B. durch die Wehrübungen. sen, nach welcher Seite sich die Waage neigt. Wie gesagt, für sie ist eine Dauer von 2 Tagen anzusetzen. Vizepräsident Hans Klein: Eine Sekunde, Herr Kol- Vor allen Dingen, so sagt man, komme die Verfü- lege Elmer. — Es sind reichlich Sitzplätze vorhanden. gungsbereitschaft hinzu. Was hat es denn mit der Ich darf also die Kollegen bitten, sofern sie an dieser Verfügungsbereitschaft auf sich? Das letzte Mal, als Debatte teilnehmen wollen, Platz zu nehmen. diese Verfügungsbereitschaft Wirklichkeit wurde, das war vor fast einem Vierteljahrhundert, bei der tragi- schen Niederschlagung des Prager Frühlings, der uns Dr. Konrad Elmer (SPD): Der eigentliche argumen- tative Ausgangspunkt des Antrags von BÜNDNIS 90 damals, in der DDR, besonders schwer getroffen hat. Damit wollen Sie heute noch eine zusätzliche Bela- ist das Problem der Wehrgerechtigkeit. Genau hier setzt unser Antrag zur Umgestaltung des Zivildienstes stung begründen, wo wir von Freunden umzingelt sind? Die eine Hälfte davon ist in unserem Bündnis, und zur Änderung der Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer an. Die Wehrgerechtigkeit und die andere Hälfte wäre lieber heute als morgen im Bündnis. Nein, ich kann diese Auffassung nicht tei- ist in der Tat ein Problem geworden und wird es immer len. mehr, je geringer die Zahlen des Bedarfs der Bundes- wehr an Soldaten werden. Es ist ja kein Zufall, daß erst Sie werden sich nachher auf das Verfassungsgericht kürzlich, wie ich hörte, 12 000 Einberufungsbescheide berufen, das Ihnen einen Freibrief gegeben hat, den für Oktober aufgehoben werden mußten, Zivildienst bis zu einem D rittel länger dauern zu (Jürgen Augustinowitz [CDU/CSU]: Sie wur lassen. Aber das ist ja nur eine Möglichkeit. Ob Sie sie den nicht aufgehoben!) wahrnehmen oder nicht, liegt in Ihrer und unserer Verantwortung. Deswegen müssen wir über die weil ein entsprechender Bedarf nicht vorhanden Gründe reden, warum wir eine so viel längere Zivil- war. dienstzeit haben wollen. Meine Vermutung ist: Sie Es mag sein, daß diese Information korrigiert wer- möchten mit den drei Monaten weiterhin einen den muß, wie Sie es mir zurufen; aber so war es Abschreckungseffekt für den Zivildienst behalten, jedenfalls verlautbart worden. weil Sie immer noch Angst haben, es könnten am Ich will nur sagen: Für mich ist schon deswegen klar, Ende zu wenige Wehrpflichtige sein. Diese Angst ist daß der Bedarf mehr als gedeckt wird, weil sich die aber völlig unbegründet. Regierung ja immer noch administrative Ausnahme- Ich habe gelesen, daß man angesichts der steigen- regelungen leistet, die gar nicht gesetzlich abgesi- den Zahl von Zivildienstleistenden die chert sind, wie z. B. die Dritte-Brüder-Regelung und Gewissensprü- fungen verschärfen müßte. Da kann ich nur fragen: die Väterregelung. Das ist alles sinnvoll; aber das Was ist das für ein Grundrechtsverständnis? Als ob die müßte endlich gesetzlich geregelt werden, weil es sich Wahrnehmung eines Grundrechts davon abhängig hierbei um Eingriffe in erhebliche Persönlichkeits- gemacht werden könnte, wie viele Personen es wahr- rechte handelt und die Ausnahmen nicht einfach der nehmen! Ich kann nur sagen: Ich war froh, in den Exekutive überlassen bleiben können. Daß Sie das Bereich von Grundrechten zu treten, wo eine solche dennoch tun, zeigt, daß es noch Rese rven gibt. Argumentation eigentlich längst ausgeschlossen sein Im übrigen wird in den Statistiken immer nur die sollte. Jahrgangsstärke verwendet, aber nicht bedacht, daß es bei uns in jedem Jahr 200 000 Zuwanderer gibt, von Ein kürzerer Zivildienst würde außerdem natürlich denen etwa die Hälfte junge Leute sind und davon Geld einsparen, und wir würden bei der von uns wieder die Hälfte junge Männer, so daß man mit vorgeschlagenen Verkürzung genau das Geld sparen, zusätzlichen 50 000 Wehrpflichtigen rechnen darf, bei was Sie jetzt so schmerzlich durch Kürzungen der denen man überhaupt nicht weiß, wo sie bei der Zuschüsse einzutreiben versuchen. Diese könnten Bundeswehr unterzubringen sind. dadurch also rückgängig gemacht werden. Auch dies wäre doch wohl sehr zu empfehlen. Deswegen und vor allen Dingen wegen der Gerech- tigkeit erheben wir unsere Forderung, in der Zukunft Ich erwähne von den vielen Verbesserungsvor- die tatsächliche durchschnittliche Dauer des Wehr- schlägen in diesem Bereich, die Sie nachlesen kön- dienstes auf die Dauer des Zivildienstes zu übertra- nen, hier im wesentlichen die Verlagerung aller gen. Dies würde nach unseren Berechnungen bedeu- Anerkennungsverfahren zum Bundesministerium für ten: zwölf Monate und drei Tage. Denn eine längere Frauen und Jugend, und zwar schriftlich und nach Dauer kommt mit Berücksichtigung der Wehrübun- Aktenlage, und unseren Vorschlag, junge Menschen, gen nicht zustande. Ja, es kann gar keine längere die in Pflegeberufe gehen, vom Zivildienst und Wehr- Dauer zustande kommen, wenn man die Kapazität der dienst freizustellen, und zwar nicht nur, um den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16069

Dr. Konrad Elmer Pflegenotstand zu beheben, sondern um für die, die Dieses Haus hat sich leider bisher mehrheitlich noch bei der Diskussion an eine Abschaffung der Wehr- nicht entschließen können, diese Tatsache zur Kennt- pflicht denken, überhaupt erst die Möglichkeit zu nis zu nehmen. Das sieht selbst Herr Feldmeyer von schaffen, einen Übergang vom Zivildienst zu einer der FAZ so, der nun wahrlich kein Parteifreund von normalen Versorgung des Pflegebereichs zu kom- mir ist. men. Allerdings kann ich heute mit Freude feststellen, Aber auch für die, die die Wehrpflicht beibehalten daß die Front der Wehrdienstbefürworter bereits wollen, ist unser Antrag eine wichtige Hilfe, weil die merklich bröckelt. Niemand glaubt mehr ernsthaft, Wehrgerechtigkeit länger erhalten werden kann, die Bundeswehr könne oder müsse auf einem St and wenn mehr junge Männer zum Zivildienst gehen und von 370 000 Mann gehalten werden. Doch bisher der Rest dann wirklich eingezogen werden kann. weigert sich die Führung der Bundeswehr, die Pla- Ich möchte nicht verschweigen, daß wir bemerkt nung für die notwendige Verkleinerung anzugehen. haben, daß einige unserer Forderungen, die merk- Dieses Festhalten an überholten politischen Positio- würdigerweise schon seit einem Jahr auf die Beratung nen, dieses Klammern an Dogmen ist mir aus anderen warten und erst heute an die Reihe gekommen Zeiten nur zu gut bekannt. sind, (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Na, na, (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Diesen Frau Wollenberger!) Angriff auf die Geschäftsordnung weise ich zurück! — Lachen bei der SPD) Bekannt ist aber auch, daß es am Ende nicht hilft, die Augen vor der Realität zu verschließen. Die Realität von der Regierung in vorauseilendem Gehorsam in ist, daß es keine Alternative zu einer schnellen Ver- Angriff genommen wurden, nämlich z. B. die Berück- kleinerung der Bundeswehr und zur Abkehr von sichtigung der Benachteiligung junger Männer durch militärischen Lösungen für die Probleme dieser Welt DDR-Unrecht oder durch einigungsbedingte Schwie- gibt. rigkeiten in der Ausbildung. Hier ist es in der Tat zur Anerkennung besonderer Härten gekommen. Doch schon jetzt ist die Wehrpflicht nicht zu halten. (Zuruf von der F.D.P.: Ist die Redezeit nicht Von Wehrgerechtigkeit kann schlechthin keine Rede schon urn?) mehr sein, wenn von Jahrgängen mit durchschnittlich 320 000 tauglichen Wehrpflichtigen nicht einmal Ich möchte abschließend noch erwähnen, daß mir mehr 100 000 zur Bundeswehr eingezogen werden. ein Passus im Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN — II 2 b) aa — sehr wichtig zu sein scheint, daß Zivildienst, Ersatzdienste und Wehrdienstausnah- wir nämlich beschließen, uns dafür einzusetzen, daß men können dieses Defizit nicht ausgleichen. Ein im gesamten Bereich der KSZE ein den Menschen- Lotteriespiel Wehrdienst ist aber weder politisch noch rechten entsprechendes Wehrdienstverweigerungs- juristisch vertretbar. recht verwirklicht wird. Ich möchte an dieser Stelle Völlig inakzeptabel sind die Pläne der Regierungs- noch einmal die Bundesregierung auffordern, vor koalition, den Bundesgrenzschutz mit Wehrpflichti- allen Dingen im eigenen Bereich der Europäischen gen aufzufüllen oder gar die Polizeien der Länder mit Gemeinschaft tätig zu werden und in Griechenland einzubeziehen. Die Unionspläne, dies unter Berufung immer wieder anzuklopfen, wo es immer noch keine auf die Notstandsgesetze per Zwangsverpflichtung zu geregelte Kriegsdienstverweigerung gibt. Vielleicht tun, können nicht ernst gemeint sein; jedenfalls sind eröffnen sich durch die Regierungsveränderungen sie unhaltbar. dort neue Möglichkeiten. Auf welchen Notstand will man sich berufen? Die Summa summarum: Mehr Zivildienstleistende, die mangelnde Attraktivität des BGS soll so möglichst es vielleicht tatsächlich gäbe, wenn die Abschrek- billig behoben werden. Das ist ein Schritt zur Milita- kungsmaßnahme „drei Monate mehr" nicht mehr risierung des Polizeidienstes, der nicht hingenommen besteht, würden die Wehrgerechtigkeit verbessern werden kann. Zudem ist es nicht wünschenswert, die und damit die Chancen für die, die die Wehrpflicht Polizei des Bundes weiter auszubauen, denn das beibehalten wollen; und die, die sie abschaffen wol- bedeutet eine Beschränkung von Länderkompeten- len, könnten mit unserem Vorschlag, im Pflegebereich zen. einen Anreiz für mehr Jugendliche zu geben, diesen Beruf zu ergreifen, den Übergang gestalten, so daß ich Das Ende der Wehrpflicht ist mit solch abenteuerli- eigentlich keinen Grund sehe, warum man unserem chen Vorhaben nicht mehr zu verhindern. Der Zivil- Antrag nicht zustimmen sollte. dienst und seine oft behauptete Unverzichtbarkeit sind jedenfalls keine ausreichende Begründung für Vielen Dank. die Beibehaltung der Wehrpflicht. Es gilt die Faustre- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke gel: Je kürzer die Dienstzeiten, desto teurer wird der Liste) Einsatz von Zivildienstleistenden im Verhältnis zum Einsatz von Profis. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin Auf dieser Basis lohnt sich auch keine allgemeine Vera Wollenberger. Dienstpflicht. Allein die Kostenunterschiede würden in Bälde das Ende der Wehr- und Ersatzdienstpflicht erzwingen. Denn bereits jetzt ist der Zivildienst volks- Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wirtschaftlich teurer als die Bezahlung tariflich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die bezahlter Arbeitskräfte, wie Untersuchungen der Uni Abschaffung der Wehrpflicht gibt es vielerlei Gründe. Bremen und der TH Darmstadt ergeben haben. 16070 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Vera Wollenberger Zudem würde der Einsatz hauptberuflicher Kräfte Sie, Herr Elmer, haben ja angedeutet, wie Sie sich die anstelle der Zivildienstleistenden einen wesentlichen Lösung vorstellen könnten. Ich hoffe, Ihre Fraktion Beitrag zur Entlastung des Arbeitsmarktes und der folgt dem in der nächsten Legislaturperiode. Sozialversicherung leisten. Ich will auf ein Hauptmotiv für unseren Antrag zu Auch nach Abschaffung der Wehrpflicht ist das sprechen kommen, weil sich in den drei Minuten umfassende Grundrecht auf Kriegsdienstverweige- Redezeit ein Bündel von Motiven nicht vollständig rung mit und ohne Waffe abzusichern. In diesem nennen läßt, und zwar ist das ein Argument, das für Sinne sollen auch Dienstverpflichtungen, etwa auf mich gerade in der aktuellen Auseinandersetzung um Grund des Arbeitssicherstellungsgesetzes sowie des die künftige — auch militärische — Rolle Deutsch- Katastrophenschutzergänzungsgesetzes, ausge- lands eine erhebliche Bedeutung hat. schlossen bleiben. Wir wenden uns gegen jegliche Überlegung für Wie Sie wissen, lehnen wir jegliche Auslandsein- eine allgemeine Dienstpflicht. sätze der Bundeswehr ab. Unsere Kritik und unser Widerstand gelten der Politik der Bundesregierung in dieser Frage. Wollen Sie allen Ernstes jungen Män- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Wollenber- nern gegenüber verantworten, zwangsweise an den ger! militärischen Abenteuern der Bundesregierung teil- nehmen zu müssen? Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich bin sofort fertig. — Diejenigen, die vom Grund- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Den Unsinn recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch ge- glaubt keiner mehr!) macht haben, sind vor Nachteilen aus ihrer Entschei- Ich garantiere Ihnen, daß es eine Frage lediglich dung zu schützen. Insbesondere ist eine Amnestie für kurzer Zeit ist, daß Wehrpflichtige nicht mehr gefragt Totalverweigerer erforderlich, die sie vor Strafverfol- werden — gung bewahrt, auch schon bevor die Wehrpflicht endgültig abgeschafft ist. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Nein, den Unsinn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN glaubt keiner mehr! Es hat noch nie jemand sowie bei Abgeordneten der SPD) zwangsweise teilnehmen müssen!) — hören Sie bitte einmal kurz zu —, ob sie wollen, Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin sondern gezwungen sein werden, an Auslandseinsät- Andrea Lederer. zen teilzunehmen. Das ist lediglich eine Frage der Zeit und eine Frage, in welcher Geschwindigkeit Sie Ihre Politik weiter durchsetzen können. Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich sollte es heute (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Muß man sich so nur um den Antrag der SPD gehen, der eine gerech- etwas antun?) tere und sozial verbesserte Lage für die Zivildienstlei- stenden fordert. Ich weiß, daß dem oft das Argument entgegenge- setzt wird, damit würde man eine Berufsarmee fordern Ich finde den Antrag gut, und wir werden ihn sowohl oder in Kauf nehmen. Allerdings glaube ich, eine in den Ausschüssen als auch in der zweiten und der solche Unterstellung ist demagogisch. Unser Antrag dritten Beratung unterstützen. beweist das Gegenteil. (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Das ist schon gefährlich! — Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was Natürlich muß die Abschaffung der Wehrpflicht haben wir da falsch gemacht?) verbunden sein mit einer weitgehenden Reduzierung der Bundeswehr, mit Konversion und mit professio- — Sie müssen sich überlegen, was in den Anträgen nellem Ersatz der Arbeitsplätze, die Zivildienstlei- steht. Ich finde es eigentlich nicht schlecht, wenn wir stende zur Zeit einnehmen, was übrigens finanziell einmal in einem Punkt einer Meinung sind. auch möglich ist, wie die Kollegin Wollenberger Aber — und deshalb finde ich es auch richtig, daß erwähnt hat. die beiden Anträge der Gruppen PDS/Linke Liste und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Abschaffung der (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das hätten Sie Wehrpflicht mitbehandelt werden — der Antrag der einmal früher in der DDR erzählen sollen!) SPD geht einfach am eigentlichen Problem vorbei. Sie muß vor allem verbunden sein mit einer generel- Und das ist eben die Aufrechterhaltung der Wehr- len Abkehr von der Militarisierung der Außenpolitik pflicht, die heute gar nicht mehr so allgemein ist, wie und einer intensiven Konzentration auf nichtmilitäri- sie immer genannt wird. sche Konfliktlösung und Konfliktursachenbekämp- Sowenig Wehrgerechtigkeit besteht — ich glaube, fung. da sind wir uns sogar fraktions- und gruppenübergrei- fend einig —, so wenig Gerechtigkeit besteht dann (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Schön, daß Sie erst recht gegenüber den Zivildienstleistenden, die heute so etwas erklären können!) eben zu 100 % ihren Dienst zu verrichten haben. Der Wegfall einer tatsächlichen oder angeblichen Wenn Sie von der SPD — wie ich jetzt in Ihrem Bedrohung, die von Ihnen auch nicht mehr allen Leitantrag zu Ihrem November-Parteitag gelesen Ernstes behauptet werden kann, rechtfertigt, einen habe — so lange wie möglich an der Wehrpflicht ersten und vor allem auch symbolträchtigen Schritt zu festhalten wollen, dann müssen Sie auch Fragen nach gehen, in eine Richtung, die tatsächlich etwas mit dieser Art von Ungerechtigkeit beantworten können. Friedensdividende zu tun haben könnte. Ich kann mir Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16071

Andrea Lederer nur wünschen, daß wir in den Beratungen in dieser auch der Forderung nach Erweiterung der Kapazität Frage weiterkommen. der Zivildienstschulen wird bereits entsprochen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sehr gut! — Dr. Konrad Elmer [SPD]: Aber in welcher Höhe? Das ist das Problem!) Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Claudia Nolte, Sie haben das Wort. Ich habe bei meiner Wahlkreisarbeit häufig Anfra- gen bezüglich der Zurückstellung auf Grund tei- lungsbedingter Benachteiligung von Zivildienst- Claudia Nolte (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr pflichtigen erhalten. Dabei habe ich regelmäßig fest- geehrte Kolleginnen und Kollegen! Erst vor kurzem gestellt, daß einem Zurückstellungsantrag Rechnung haben wir im Ausschuß für Frauen und Jugend zwei getragen wird, wenn glaubhaft gemacht werden Anträge zur Änderung des Zivildienstgesetzes bera- kann, daß der Zivildienstpflichtige aus den neuen ten. Mich wundert es schon, liebe Kolleginnen und Ländern im Verhältnis zu demjenigen in den alten Kollegen der SPD, daß Sie nicht versucht haben, Ihren Bundesländern erheblich benachteiligt wird, so z. B. heute zur Debatte stehenden Antrag in diesem durch die Folge von Unrechtsmaßnahmen der Behör- Zusammenhang mitberaten zu lassen. Man gewinnt den der ehemaligen DDR, durch Verwaltungsschwie- den Eindruck, daß Sie selbst an Ihren eigenen An trä- rigkeiten im Zusammenhang mit der Wiedervereini- gen kein Interesse haben. gung Deutschlands oder durch die wirtschaftliche (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei Lage in den neuen Bundesländern, etwa wenn der der SPD) Ausbildungs- oder Arbeitsplatz durch den Zivildienst- antritt in Gefahr gerät bzw. das Unternehmen auf den Ein Blick in die Vorlage verstärkt den Eindruck Zivildienstleistenden nicht verzichten kann. Die noch. Reihe bereits erfüllter Forderungen könnte in dieser Sie fordern Dinge, die längst Praxis sind und auch Weise fortgeführt werden. schon vor einem Jahr waren, Herr Kollege Elmer, und Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Antrag suggerieren damit, daß es große Versäumnisse der SPD ist für die CDU/CSU aber insbesondere gebe. deshalb absolut inakzeptabel, da er verfassungsrecht- (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Wir wollen Sie ja lich gesicherte Grundvoraussetzungen der Kriegs- nur zweimal vorführen!) dienstverweigerung und des Zivildienstes in Frage Das ist unredlich, meine Damen und Herren. stellt. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aha!) So können bereits, um nur ein Beispiel zu nennen, Zivildienstleistende, die zum Einsatz in der individu- Sie wissen doch, daß nach der Rechtsprechung des ellen Pflege von Schwerstbehinderten einberufen Bundesverfassungsgerichts eine Anerkennung als und dorthin versetzt werden, nach je zwei Monaten Kriegsdienstverweigerer nur erfolgen darf, wenn hin- tatsächlicher Dienstleistung einen Zusatzurlaub von reichend sichergestellt ist, daß eine nach Art. 4 Abs. 3 einem Arbeitstag in Anspruch nehmen. Eine ebensol- des Grundgesetzes geschützte Gewissensentschei- che Regelung beim mobilen sozialen Hilfsdienst wäre dung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe vorliegt. nicht gerechtfertigt, da keine vergleichbare Dienst- Das eigentliche Ziel Ihres Antrags ist es doch, daß auf belastung besteht. den Nachweis der Ernsthaftigkeit der Gewissensent- Ein anderes Beispiel ist Ihre Forderung, Dienststel- scheidung bei der Anerkennung als Zivildienstver- len zu einer psychologischen Begleitung zu verpflich- weigerer prinzipiell verzichtet wird. ten, wenn Zivildienstleistende in seelisch belastenden (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Das ist eine Unter- Tätigkeitsfeldern eingesetzt werden. Sie müßten es stellung!) eigentlich wissen: Das Bundesamt für den Zivildienst Ihre Forderung nach gleicher Dauer des Wehr- und bezahlt bereits seit Jahren Zuschüsse für Seminare Zivildienstes ist im gleichen Zusammenhang zu unter Leitung von Psychologen und anderen Fachleu- sehen; denn die Inkaufnahme der längeren Dauer des ten, die von den Dienststellen und Verbänden initiiert Zivildienstes durch den Kriegsdienstverweigerer ist werden. mit als tragendes Indiz für die Ernsthaftigkeit seiner (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Aber es sind keine Gewissensentscheidung anzusehen und insofern un- Pflichtstationen! Das ist der Punkt!) verzichtbar. Die Hilfestellung gibt es in jedem Fall, in dem die (Beifall des Abg. Jürgen Augustinowitz Dienststelle die Notwendigkeit solch einer psycholo- [CDU/CSU] — Zuruf von der CDU/CSU: gischen Begleitung erkennt oder der Zivildienstlei- Sehr gutes Argument!) stende sie verlangt. Wann die Tätigkeit eine seelische Belastung hervorruft, kann nicht abstrakt vom Gesetz- Wer die längere Zivildienstdauer abschaffen will, geber festgelegt werden. Die Regelung, dies im Ein- fordert im Ergebnis, Herr Kollege, die Einführung zelfall durch die Dienststelle entscheiden zu lassen, einer Wahlmöglichkeit zwischen Wehrdienst und hat sich bewährt. Zivildienst. Diese Wahlmöglichkeit aber ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, worauf auch das Bun- Die Haushaltsmittel zum Ausbau der Kapazität der desverfassungsgericht wiederholt ausdrücklich hin- Zivildienstschulen und der von den Verbänden ange- gewiesen hat. botenen Lehrgänge im Einführungsdienst der Zivil- dienstleistenden sind von 1992 bis 1993 von 67 Millio- (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Sie müssen sich auf nen auf 73,5 Millionen DM erhöht worden. Das heißt, das Gewissen berufen!) 16072 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Claudia Nolte Wenn Sie hier von einer Abschreckung sprechen, die Jahrgangsangehörigen verteilen lasse, so daß die Herr Kollege Elmer, muß man Ihr Verfassungsver- allgemeine Wehrpflicht keinen Bestand haben könne. ständnis schon hinterfragen. Eine Berufsarmee müsse her oder die allgemeine (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Bitte lesen!) Dienstpflicht, um die allgemeine Wehrpflicht zu ret- ten. Das sind Ansichten, die ich nicht teilen kann. Wer es mit der Wehrpflicht ernst meint, muß bei der Ausgestaltung des Zivildienstes auch berücksichti- Den Antrag der SPD-Fraktion auf Umgestaltung des gen, daß so manche Unannehmlichkeit, die ein Wehr- Zivildienstes und Änderung der Anerkennungsver- pflichtiger auf sich nimmt, wie Uniform und Kaserne, fahren für Kriegsdienstverweigerer verbindet mit dem ein Zivildienstleistender nicht hat. Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine innere Logik, die der Ältestenrat intuitiv gespürt (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Vor allem nicht den haben muß, da er eine verbundene Debatte für Gammeldienst im letzten Drittel!) angezeigt gehalten hat. Allerdings — das muß ich den Auch dafür steht als Ausgleich die längere Dienst- Kollegen von der SPD sagen — halte ich den Antrag zeit. von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für ehrlicher und Es wird häufig von der Wehrungerechtigkeit stringenter. gesprochen. Gemeint ist die Dienstungerechtigkeit, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die Tatsache, daß es zu viele junge Männer gibt, die Folgte der Deutsche Bundestag den SPD-Vorschlä- weder Wehr- noch Zivildienst leisten. gen etwa nach Abschaffung der längeren Dauer des (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Ja, was wollen Sie Zivildienstes, bedeutete das im Ergebnis die freie denn da machen?) Wahl zwischen Wehrdienst und Zivildienst. Die freie Diesem Umstand sollte unseres Erachtens nicht noch Wahl führte aber — das wissen Sie auch — im mehr Vorschub geleistet werden. Befreiungen bzw. Ergebnis zur Minimierung der Zahl von Wehrdienst- Nichtheranziehungen dürfen nur in Ausnahmefällen leistenden und zur Maximierung der Zahl solcher statthaft sein. Deshalb sehen wir eine Verletzung der Zivildienstleistenden, denen ein Zivildienstplatz nicht Dienstgerechtigkeit, wenn Sie Angehörige von Pfle- angeboten werden kann. geberufen generell vom Wehrdienst befreien wollen. Natürlich ist das Gewissen nicht überprüfbar. Aber Aus bekannten Gründen gelten nur für Geistliche und die Inkaufnahme der längeren Dauer ist ein deutliches für Polizeivollzugsbeamte berufsbezogene Ausnah- Indiz für die Ernsthaftigkeit der Gewissensentschei- men. dung. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Ihr Antrag bringt uns nicht weiter. Der Wehr- dienstverweigerer leistet seinen Dienst für die Gesell- schaft im Rahmen des Zivildienstes. Im Interesse von Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Lühr, mehreren Hunderttausend Zivildienstleistenden bitte gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen ich Sie: Lassen Sie uns bei der jetzigen Regelung Elmer? bleiben. Danke. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Uwe Lühr (F.D.P.): Nein, ich gestatte nicht, weil ich mit meiner Zeit sehr knapp bin. Daher erkannte auch das Verfassungsgericht die- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege sen Weg als einen verfassungskonformen Ausweg aus Uwe Lühr. dem Dilemma an. (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Habt ihr denn Wer heute eine Grundgesetzänderung verlangt, die keine Leute? Immer derselbe!) die gleiche Dauer von Wehr- und Zivildienst festlegt, will in Wahrheit entweder keine Bundeswehr oder ein Berufsheer. Uwe Lühr (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Unterstellungen verehrten Damen und Herren! Manchmal hat man am laufenden Band!) eben einen Großkampftag. Das ist heute so, und deshalb bin ich wieder dran. Aber dann sollte er es auch wirklich so sagen. (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Ausbeutung!) In den grundsätzlichen Überlegungen über Umfang und Struktur der Streitkräfte werden — leider auch Die sogenannte Friedensdividende sollte nicht nur von Experten; immerhin haben die meisten SPD- in der Reduzierung und Auflösung von Verbänden Mitglieder des Verteidigungsausschusses den Antrag und Standorten und damit in der Absenkung der gezeichnet — wichtige Fakten und Aspekte überse- Ausgaben in Einzelplan 14 erkennbar werden, son- hen und Entwicklungen nicht erkannt. Wehrgerech- dern auch in der geringeren Inanspruchnahme der tigkeit und Dienstgerechtigkeit waren Probleme der persönlichen Lebenszeit eines Jugendlichen durch überstarken Musterungsjahrgänge der Bundesrepu- die allgemeine Wehrpflicht. Das sind Wünsche, die ich blik der 80er Jahre. Das Bewußtsein dieser Zeit durchaus zu teilen vermag. bestimmt noch heute die öffentliche Diskussion, Parallel dazu wird darauf verwiesen, daß durch die obwohl sich die Realität umgekehrt hat. Die Muste- Reduzierung der Streitkräfte ein geringerer Bedarf an rungsjahrgänge der 90er Jahre sind so schwach, daß Wehrpflichtigen bestehe, der sich nicht gerecht auf der Personalbedarf der Bundeswehr nur gedeckt wer- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16073

Uwe Lühr den kann, wenn in Zukunft nicht mehr als ein Viertel Die Änderung der Wehrform würde wiederum die- eines Jahrgangs freigestellt wird. Ausplanung einer völlig neuen Personalstruktur und eine erneute Umgliederung und Umstationierung (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Und die 200 000 erforderlich machen und damit ein weiteres Jahrzehnt Zuwanderer? Wo sind die?) der inneren Belastung und Instabilität der Streitkräfte Gelingt diese wesentlich höhere Ausschöpfung der einleiten. Musterungsjahrgänge nicht, droht den Streitkräften Deshalb wird die F.D.P.-Fraktion allen drei An trä- nach 1995 ein hohes Fehl an Grundwehrdienstleisten- gen mit Sicherheit nicht ihre Zustimmung geben. den. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Der Grund für diese Entwicklung liegt in einem extremen Anstieg der Kriegsdienstverweigerung seit Anfang 1991 und in einem wesentlich höheren Ergän- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege zungsbedarf der Polizeien und des Zivil- und Katastro- Jürgen Augustinowitz. phenschutzes nach Beitritt der neuen Länder. Für die Streitkräfte bedeutet die höhere Ausschöp- Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Herr Präsident! fung, daß sich der Anteil eingeschränkt Tauglicher Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bürger stark erhöhen wird. Die Bedarfsdeckungsprobleme hat nicht nur Rechte, der Bürger hat auch Pflichten. der Streitkräfte werden dadurch verschärft, daß auch (Zurufe von der SPD: Hurra!) die ausreichende Bedarfsdeckung mit Freiwilligen für den Dienst als Zeit- oder Berufssoldat ernsthaft — Schön, daß auch die Sozialdemokraten dem zustim- gefährdet ist. men. Meine Damen und Herren, der Verteilungskampf (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Kommen noch um die Berufsanfänger aus den schwachen Jahrgän- mehr solche Banalitäten?) gen zwischen Wirtschaft und öffentlichem Dienst hat — Hören Sie gut zu, Sie haben einiges zu lernen. voll eingesetzt und wird andauern. Anders als in der Gerade in einer Zeit, in der zunehmend nur noch Vergangenheit werden Grundwehrdienstleistende von Rechten die Rede ist, verwundert es nicht, daß als Ersatz für fehlende Längerdienende nicht zur eine der wichtigsten Pflichten des Bürgers gegenüber Verfügung stehen. dem Staat, die Wehrpflicht, in Frage gestellt wird. Es wird auch häufig nicht erkannt, daß unser (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Wir sind doch ein Bündnisbeitrag die Fähigkeit zur Mobilmachung aus- Rechtsstaat!) reichend starker Landstreitkräfte, einer hinlänglichen Dem steht energisch entgegen, daß es eine der grund- Luftverteidigung und einer Küstenschutzkomponente legenden Pflichten des Staates ist, seine Bürger vor auf Dauer verlangt. Das setzt aber neben einer um- äußeren Gefahren zu schützen. fangreichen Basis- und Ausbildungsorganisation im Frieden ein starkes Reservistenpotential für die (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Vor allem den Mobilmachung voraus. Freunden überall um uns herum gegen- über!) (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Wir sind kurz vor dem Einsatz!) Jetzt dürfen Sie das Wort mit etwa 200 000 Mann Vizepräsident Hans Klein: Eine Freiwilligenarmee „Banalität" aber nicht mehr in den Mund nehmen! wäre möglicherweise anzuwerben und aus den Umfangseinsparungen auch zu finanzieren. Eine sol- che Armee, der nach und nach ein ausreichendes Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Diese Ver- Reservistenpotential fehlen würde, wäre jedoch nicht pflichtung ist schon in Art. 1 des Grundgesetzes mehr zur Erfüllung der Hauptaufgabe, nämlich der festgeschrieben: „Die Würde des Menschen ist unan- Fähigkeit zur Landesverteidigung nach Mobilma- tastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflich- chung im Rahmen des Bündnisses, geeignet, tung aller staatlichen Gewalt." (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause Der Staat schützt also seine Bürger. Diesem Privileg [Bonese] [fraktionslos]) des Bürgers steht seine Pflicht gegenüber, als Teil dieses Staates am wäre nicht mehr Stabilitätsfaktor in Mitteleuropa, Erhalt der äußeren Sicherheit mitzuwirken; denn äußere Sicherheit ist auch heute, sondern eine reine Interventionsstreitmacht. nach dem Kollaps des Warschauer Vertrages, keines- Der organisatorische und finanzielle Aufwand, der falls ohne Sicherheitsvorsorge erhältlich. mit der grundlegenden Änderung einer Personal- (Dr. Konrad Elmer [SPD]: 1 Million unter struktur verbunden ist, wird gern unterschätzt. Die Waffen in Europa!) Reduzierung, Umgliederung, Umschulung und Um- stationierung der Streitkräfte in den kommenden Der Bürger erfüllt seine Pflicht gegenüber dem Staat, Jahren hat eine Dimension, die fast mit der Aufstel- indem er sich für einen gewissen Zeitraum in den lung der Bundeswehr vor 35 Jahren gleichzusetzen ist. Dienst der bewaffneten Streitkräfte stellt. Nur quantitativ wird sich die Reduzierung bis 1994 Bundeswehr und allgemeine Wehrpflicht stehen durchführen lassen. Strukturgerechte Verhältnisse für die erfolgreiche Abschreckung einer kommunisti- werden nicht vor Ende des Jahrzehnts herzustellen schen Aggression und die Überwindung des Ost sein. West-Konfliktes, die die friedliche Kooperation mit 16074 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Jürgen Augustinowitz den Staaten Mittel- und Osteuropas heute erst mög- matnah verwandt wird, keiner Kasernierung unter-- lich macht. liegt, das Verpflegungsgeld in der Regel ausgezahlt (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Und die Engländer bekommt usw. Ich könnte Ihnen viele Dinge nennen, ohne Wehrpflicht?) die eine Benachteiligung für die Wehrdienstleisten- den bedeuten. An dieser Stelle möchte ich den vielen Millionen Wehrpflichtigen danken, die ihren Dienst in der Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine Zwi- Bundeswehr geleistet und damit einen wich tigen schenfrage des Kollegen Koppelin? Beitrag zum Erhalt von Frieden und Freiheit geleistet haben. Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Selbstverständ- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der lich. SPD) Die allgemeine Wehrpflicht ist Ausdruck der Mit- Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Kollege Augustino- verantwortung eines jeden für seine eigene Sicherheit witz, kommen Sie in Ihrer Rede noch darauf, daß und die seiner Mitbürger. Sie verbindet die beiden Holland und Belgien gerade die Wehrpflicht abge- Begriffe „Wehrhaftigkeit" und „Demokratie" zu der schafft haben? Idee der wehrhaften Demokratie, in der wir leben und (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr die sich bewährt hat. Die allgemeine Wehrpflicht ist interessant! — Vera Wollenberger [BÜND- eine der entscheidenden Grundlagen der deutschen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind doch auch Verteidigungspolitik. Niemand darf daher leichtfertig wehrhafte Demokratien!) die allgemeine Wehrpflicht in Frage stellen. (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Richtig!) Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Herr Kollege, daß sich andere Staaten anders verhalten, bedeutet Die allgemeine Wehrpflicht ist die personifizierte für uns nicht, daß auch wir uns hierüber Gedanken zu Verbundenheit des Volkes mit seinen bewaffneten machen hätten. Vielmehr geht es darum, daß wir Streitkräften. Verantwortung tragen für die deutschen Streitkräfte. (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Vor allem in Insofern bleibt es bei dem, was ich gesagt habe. China!) Welche Wehrform könnte ein größeres Vertrauen der Vizepräsident Hans Klein: Sind Sie bereit, eine Bevölkerung in seine Streitkräfte erzeugen als die zweite Zwischenfrage zu beantworten? — Bitte. allgemeine Wehrpflicht, in der die Bevölkerung selbst diese Streitkräfte bildet? Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Kollege Augustino- witz, wie beurteilen Sie dann die Äußerung Ihres (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Die armen Ameri Fraktionskollegen Zierer, der gesagt hat, die Wehr- kaner, kann man da nur sagen!) pflicht werde das Jahr 2 000 nicht mehr erreichen, es Das hervorragende Verhältnis zwischen Bundes- sei ein auslaufendes Modell? wehr und Bevölkerung ist nicht zuletzt dem Prinzip (Freimut Duve [SPD]: Eine Zierde der CDU/ der allgemeinen Wehrpflicht zu verdanken. Es CSU!) besteht daher für mich kein Zweifel, daß die deutsche Bundeswehr auch in Zukunft eine Wehrpflichtarmee bleiben muß. Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU): Herr Kollege, Sie sehen, wie vielfältig die Meinungsbildung auch in (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wer sagt das der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist. denn?) (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) Haupteinwand gegen die Wehrpflicht ist der hohe, Daß einzelne Kollegen eine andere Meinung vertre- wie ich finde, zu hohe Anteil von jungen Männern, die ten, brauche ich Ihnen als Liberalem doch nicht als angeblich nicht wehrdienstfähig sein sollen, besonderes Zeichen von Liberalität vorzuweisen. (Dr. Konrad Elmer [SPD]: In der Tat!) Meine Damen und Herren, mein letzter Satz war, daß Zivildienstleistende gegenüber Wehrdienstlei- immerhin 20 bis 25 % eines Jahrganges. Diesen Miß- stenden enorm bevorzugt werden. Der Zivildienst ist stand wollen wir durch eine Änderung des Wehr- längst nicht mehr die lästige Alternative, die er pflichtgesetzes beseitigen. Zusätzlich wollen wir, daß eigentlich sein sollte. Wir fordern die Bundesregie- die Wehrpflicht zukünftig quotiert auch bei einer rung daher auf, endlich geeignete Maßnahmen einzu- freiwilligen Polizeireserve und vor allem beim Bun- leiten, die die Besserstellung der Zivildienstleistenden desgrenzschutz mit Blick auf die notwendige Grenz- gegenüber den Wehrdienstleistenden beseitigen. sicherung abgeleistet werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause Bei der Infragestellung der allgemeinen Wehr- [Bonese] [fraktionslos] — Zuruf von der CDU/ pflicht ist deutlich das Bestreben zu erkennen, das CSU: Sehr gut! Die Menschen an der Grenze Modell der arbeitsteiligen Gesellschaft auch auf den werden es danken!) Verteidigungsbereich anzuwenden und zu einer Art Ein weiterer Aspekt, meine Damen und Herren, ist GmbH für Verteidigung zu kommen. Dahinter ver- die erschreckende Ungleichbehandlung von Wehr- birgt sich der Versuch, bei denjenigen in unserem und Zivildienstleistenden, die sich z. B. dadurch Volk auf Stimmenfang zu gehen, die eine Übernahme ausdrückt, daß ein Zivildienstleistender generell hei- von Pflichten für die Gemeinschaft ablehnen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16075

Jürgen Augustinowitz Ich möchte mit einem Zitat des früheren US manchmal das Finanzministerium schon mit Arbeit- Präsidenten John F. Kennedy abschließen, der in eindecke, wenn die Informationen nicht zu laufen. seiner Antrittsrede am 20. Januar 1961 folgendes Was ist nach unserer Meinung zu tun? Erstens gesagt hat müssen nach meiner Auffassung die Unternehmens- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr leitungen durch die Treuhandanstalt klar und exakt zeitgemäß! Über 30 Jahre her!) informiert werden. Das ist die Voraussetzung für eine — ja, ich bin sehr zeitgemäß; hören Sie genau zu —: Beteiligung der Betroffenen. Nach Feststellung des Bundesrechnungshofes erhielten die Unternehmens- Liebe Landsleute; fragt nicht, was Euer Land für leitungen häufig keine Stellungnahme der Treuhand- Euch tun kann, sondern fragt, was Ihr für Euer anstalt zu ihren Unternehmenskonzepten. Land tun könnt! Vielen Dank. Wie sollen sie sich Gedanken über industrielle Kerne machen, wenn sie nicht wissen, woran sie sind? (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. In Verkaufsverhandlungen werden sie ohnehin nicht Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions einbezogen. Das kann man natürlich differenziert los]) sehen, aber über die Ergebnisse solcher Absprachen sollte man schon etwas erfahren, wenn m an Verant- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- wortung tragen soll und will. che. Ich fordere im Namen der Be troffenen das Bundes- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf finanzministerium, das ja die Fach- und Rechtsauf- den Drucksachen 12/3735 (neu), 12/5767 und 12/6033 sicht zur Treuhandanstalt hat, auf, ordnungsgemäße an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Informationsbeziehungen zu dieser Frage herzustel- vorgeschlagen. Besteht damit Einverständnis? — Dies len. Das ist die Voraussetzung dafür, daß die Unter- ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisun- nehmensleitungen ihrer Informationspflicht nach- gen so beschlossen. kommen und insbesondere Belegschaften von Anfang an in die Entwicklung einbeziehen können. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf. Viel Unruhe hätte vermieden und viel Kraft hätte Beratung der Beschlußempfehlung und des auf vorwärts gerichtete Diskussionen und Aktionen Berichts des Ausschusses Treuhandanstalt gerichtet werden können, wenn dieser Grundsatz (25. Ausschuß) zu dem Antrag des Abgeordne- immer Beachtung gefunden hätte. Ich erspare mir hier ten Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) und der Beispiele, die wir auch in diesem Hause umfangreich Gruppe der PDS/Linke Liste und ausführlich diskutiert haben. Beteiligung der Betroffenen am Konzept zum Die zweite Säule für die Beteiligung der Betroffenen Erhalt industrieller Kerne sind die Betriebsräte. Die Betriebsräte verfügen über — Drucksachen 12/4429, 12/5283 — umfangreiche Sachkompetenz für die in vielen Betrie- Berichterstattung: ben wichtigste Frage: Wie können Arbeitsplätze wett- Abgeordnete Paul K. Friedhoff bewerblich so strukturiert werden, daß sie erhalten Hinrich Kuessner werden? Gegenwärtig finden die Betriebsräte in den Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die neuen Ländern einfach keine Partner, um ihre Ideen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die anzubringen. Zahlreiche Anfragen gibt es dazu, ob Gruppe PSD/Linke Liste zehn Minuten erhalten soll. ein Betrieb privatisiert sei oder nicht, ob die Treuhand Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. — Dann ist nach dem Nachweis von be trügerischen Handlungen das so beschlossen. bei der Privatisierung den Betrieb zurücknehme oder Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. F ritz Schu- nicht. mann. Die Betriebsräte finden einfach keinen, der ihnen diese Fragen klipp und klar beantwortet. Daß wir Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke immer den Weg über parlamentarische Anfragen zu Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesem Thema nehmen, kann einfach nicht der ein- der Ausschußberatung unseres Antrages haben die zige Weg sein. Ich meine, daß die Bundesregierung Kollegen von der CDU/CSU und F.D.P. festgestellt, auf die aktive Einbeziehung der Beschäftigten bei der daß der Antrag abzulehnen sei, da die Forderung nach Ausgestaltung industrieller Kerne nicht verzichten Beteiligung der Betroffenen bereits realisiert sei. sollte. Klare Information, Mitwirkung und Mitbestim- mung fördern das Engagement des einzelnen. Das ist Nach dem, was im Wahlkreisbüro und in Bonn ein Gut, auf das bei einer modernen Gestaltung der täglich an mich herangetragen wird, sind viele Produktion keiner verzichten kann. Betriebsräte, Unternehmensleitungen, Kommunen und Länder — vielleicht nicht alle — aber ganz Drittens. Fragen industrieller Kerne lassen sich anderer Auffassung. Ich habe diese Fragen jeweils nicht in einzelnen Betrieben lösen. Die umliegende auch an das Bundesfinanzministerium und die Treu- Region spielt eine entscheidende Rolle. Hier reichen handanstalt weitergegeben oder im Treuhandaus- die wenigen Regionalberatungen, die wenige Stun- schuß zur Sprache gebracht. Es dürfte also bekannt den dauern, nicht aus. Territo riale Lösungen erfordern sein, daß es sehr, sehr viele andere Auffassungen gibt, eine umfangreiche Kleinarbeit von Wirtschaftsförder- als sie die Koalitionsparteien zum vorliegenden gesellschaften, Entwicklungsgesellschaften und die Antrag geäußert haben. Herr Staatssekretär Grüne- Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort. wald weiß, daß ich zu den eifrigen Fragern gehöre und Förderprogramme wollen vor Ort so verknüpft sein, 16076 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) daß ein größtmöglicher Effekt für den industriellen die den Erhalt industrieller Kerne ablehnen. Angeb-- Kern erreicht wird. Es geht um Fragen der Infrastruk- lich würde die Erneuerung gegen den Markt erfolgen. tur, der Verkehrsanbindung. Ein umfangreiches gei- Dem sollte auch seitens der Bundesregierung ener- stiges Potential dafür ist — leider, muß m an sagen — gisch widersprochen werden, Oder hat sich der Bun- vorhanden: Zehntausende Forscher mit konkreten deskanzler etwa geirrt, als er vor einem Jahr in Kenntnissen der Region und auch Regionalplaner sind Mecklenburg-Vorpommern über die Erhaltung indu- inzwischen ohne Arbeit. Sehr viele wären bei gerin- strieller Kerne gesprochen hat? gem Aufwand bereit, ihre Kenntnisse vor Ort zu Die Möglichkeit, Arbeit zu finden, ist in den neuen diesem Thema einzubringen. Ländern weiterhin überaus begrenzt. Ohne industri- Viertens. Für die Erneuerung industrieller Kerne ist elle Kerne wird es keine wirtschaftliche Belebung die Knüpfung von Verbindungen der Unternehmen geben. Auch der vielbeschworene Mittelstand kann innerhalb der Branchen und zu vor- und nachgelager- ohne industrielle Kerne kaum exis tieren. Sie erleben ten Produktionsstufen, zu Dienstleistungs- und For- jetzt selbst, was passiert, wenn z. B. die Autoriesen schungseinrichtungen erforderlich. Warum soll diese Beschäftigung abbauen und Produktionskapazitäten schwierige Aufgabe nur von den Unternehmenslei- zurückfahren, welch immenser Druck insbesondere tungen und der Treuhandanstalt betrieben werden? auf mittelständische Zulieferbetriebe ausgeübt wird. Die Gewerkschaften z. B. verfügen dazu über ganz Es gibt also einen engsten Zusammenhang. konkrete Erfahrungen. Warum will man sie nicht Zweitens möchte ich die Bundesregierung auffor- einbeziehen? Ich sehe keinen plausiblen Grund dern, die Betroffenen an der Ausarbeitung und dafür. Gestaltung teilnehmen zu lassen. Viele sind bereit, ihr Fünftens. In den Verwaltungen gibt es viele Hemm- Engagement für die Schaffung von Arbeitsplätzen nisse. Auch die Treuhandanstalt und die Treuhandun- auch ehrenamtlich einzubringen. Greifen Sie das ternehmen klagen darüber. Eine ganz konkrete Aufbauprogramm für Ostdeutschland des Wirt- Beschleunigung der Bearbeitung der Vorgänge schafts- und Sozialwissenschaftlichen Ins tituts des könnte erreicht werden, wenn m an den Bürgerinnen Deutschen Gewerkschaftsbundes auf. und Bürgern vor Ort sagen würde: In eurer Stadt, in Drittens. Mit der Erneuerung industrieller Kerne eurer Region wird alles unternommen, einen industri- sollen Arbeitsplätze geschaffen, wirtschaftliche Ent- ellen Kern zu erneuern. Die Beteiligung der Bürgerin- wicklungen in Gang gesetzt und Ausgaben für die nen und Bürger und der —im positiven Sinne — Druck Finanzierung von Arbeitslosigkeit eingespart werden. auf die Verwaltungen würden mit großer Wahrschein- Es geht mit Sicherheit nicht um die Konservierung lichkeit zu einer Beschleunigung führen. Die Kom- fossiler Mammutunternehmen, sondern es geht um mune könnte ganz konkret ihr eigenes Interesse an vielfältige schöpferische neue Lösungen, wie die Wirt- einer schnelleren Bearbeitung erkennen. schaft wieder in G ang gebracht werden kann, wie an bestimmten Stellen indust ri Voraussetzung ist, daß sich die Bundesregierung elle Kerne neu geschaffen, klar bekennt: Hier ist ein industrieller Kern, und vor erhalten und vor allen Dingen im Interesse der Schaf- Ort alle Beteiligten zusammenfaßt, um Ideen zu ent- fung weiterer Arbeitsplätze ausgebaut werden kön- nen. wickeln, wie dieser Kern den größtmöglichen Effekt für die Region bringen kann. Darüber hinaus muß ein Vielleicht können sich die Kolleginnen und Kolle- solcher Prozeß auch für potentielle industrielle Kerne gen der CDU/CSU und auch der F.D.P. einmal bei in Gang gesetzt werden; denn es geht nicht nur — wie Herrn Lothar Späth in Jena umschauen. Auch dort ist uns immer vorgeworfen wird — um die Erhaltung alter ein Betrieb abgerissen worden, aber an gleicher Stelle fossiler Mammute. meiner Meinung nach ein industrieller Kern, der schon einmal vorhanden war, wiederentstanden, und In den alten Bundesländern funktioniert dieser zwar erheblich erneuert. Prozeß doch ganz ausgezeichnet. Die Unternehmen sind untereinander — und sei es nur in den Aufsichts- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. räten — durch Geschäftsbeziehungen usw. verbun- (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der den. In vielfältiger Weise gibt es Beziehungen mit den SPD) Kommunen. In den neuen Ländern sind Anstöße erforderlich, um solche Verbindungen nutzbringend Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Udo auch für die Region herzustellen und letzten Endes Haschke, Sie haben das Wort. Arbeitsplätze zu sichern. Wir schlagen in unserem Antrag vor, die Bereitschaft der Betroffenen dazu zu nutzen. Udo Haschke (Jena) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich, Kollege Zusammenfassend fordere ich die Bundesregierung Schumann, verzichtet die Bundesregierung nicht auf auf, sich erstens der Erfordernisse der Förderung von das Mitwirken und Mitdenken der Be troffenen. Kernen des produzierenden Gewerbes in den neuen Ländern mit einem klaren Konzept und nachvollzieh- Lassen Sie mich zum Stichwort „Denken" einen baren Handlungsmechanismen anzunehmen. Leider Philosophen zitieren, der durchaus eher im linken ist, nachdem der Bundeskanzler diesen Beg riff vor Lager beheimatet ist: Ernst Bloch, den, wenn ich es einem Jahr in Mecklenburg-Vorpommern geprägt recht in Erinnerung habe, die SED 1957 in Leipzig hat, seitens der Bundesregierung in den letzten Mona- zwangsemeritiert und 1961 in die Emigra tion getrie- ten kaum noch etwas von der Erneuerung industrieller ben hat. Ernst Bloch sagt: Kerne zu hören. In den Wirtschaftsteilen der Medien Denken heißt überschreiten. So jedoch, daß Vor kommen nach meinem Eindruck nur noch die zu Wort, handenes nicht unterschlagen, nicht überschla- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16077

Udo Haschke (Jena) gen wird. Weder in seiner Not, noch gar in der auch die Kollegen vom BÜNDNIS 90/GRÜNE sind im Bewegung aus ihr heraus. Weder in den Ursachen Rahmen ihrer personellen Möglichkeiten — im der Not, noch gar im Ansatz der Wende, der darin Moment sind das eben nicht so viele — ständig vor Ort, heranreift. wenn es darum geht, industrielle Kerne zu erhalten. Sie sind vor Ort im Gespräch mit Betriebsräten und Vorhandenes nicht unterschlagen, also auch die Gewerkschaftsvertretern; sie sind vor Ort in Gesprä- Ursachen der Not nennen: Im Vergleich der Alters- chen mit kommunalen Vertretern. Sie sind auch da, struktur der Ausrüstungen in der Bundesrepublik und wo es wichtig wird, in Gesprächen mit Vertretern der in der DDR im Jahre 1989 zeigt sich, daß ex treme Landesregierung und in wichtigen Punkten auch mit Produktivitätsschwächen vor allem dem technisch der Bundesregierung. rückständigen und überalterten Produktionsapparat anzulasten sind. (Freimut Duve [SPD]: Das kann m an vom Kanzler nicht gerade sagen!) (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Thema! — Dr. Konrad Elmer [SPD]: Und bei Siemens, Denn wir bringen uns doch tatsächlich ein mit dem die Anlage hier!) Ziel, tragfähige Konzepte für zukunftsorientierte Arbeitsplätze zu entwickeln. Bei diesem Vergleich muß ich einfach sagen: 1989 Denken, sagt Bloch, heißt überschreiten, auch im waren in der DDR über 50 % der Anlagen älter als elf Ansatz der Wende, der in der Not heranreift, einer Jahre, über 20 % älter als 20 Jahre. Die Vergleichszahl Wende — das haben wir im Zusammenhang mit der aus den alten Ländern: Do rt lagen nur 5 % in dieser Debatte um den Standort Deutschland in dieser Altersklasse. Woche recht sachlich diskutiert —, die nicht nur in den Lieber Kollege Elmer, ich habe bei der eben neuen Bundesländern geboten ist. genannten Firma Zeiss Jena Feinmechaniker gelernt, Ausdrücklich wird in diesem Bericht hervorgeho- ich habe an Maschinen gestanden, und ich habe drei ben, daß dies eine Aufgabe ist, die der Staat nicht Jahre auf Baustellen der damaligen Deutschen Demo- allein, sondern nur mit dem verantwortlichen Handeln kratischen Republik als Monteur gearbeitet. Das und Mitwirken der anderen gesellschaftlichen Kräfte unterscheidet uns in der praktischen Erfahrung im und jedes einzelnen Bürgers lösen kann. Beruf. Hinzu kommt — auch das muß ich noch sagen —, Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Haschke, daß nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll? für Wirtschaftsforschung etwa ein Fünftel aller gewerblichen Bauten der damaligen DDR in einem Udo Haschke (Jena) (CDU/CSU): Ja, sie ist ja noch akut baufälligen Zustand waren — zum Teil leider jung, sie kommt nicht so unbedingt aus der Tradi- noch sind; wir lassen sie gerade über ABM beräu- tion. men. (Freimut Duve [SPD]: Keine Altersirritation, Die SED-Führung investierte eben nicht in wirt- Herr Kollege!) schaftliche Innovationen. Sie investierte in Stachel- — Das war ein Kompliment. Ich denke, Frau Dr. Höll, draht und Selbstschußanlagen entlang einer langen, Sie fassen das so auf. langen Grenze. Absegnen ließ sie sich das alles — auch das darf Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Ich fasse das so nicht unerwähnt bleiben — durch den zum Transmis- auf, wie ich das meine. Danke schön für den Hin- sionsriemen der Partei entwürdigten sogenannten weis. Freien Deutschen Gewerkschaftsbund. Auch das ist Herr Kollege Haschke, ich habe eine Frage an Sie. Nennen der Ursachen der Not. Ich bin etwas irritiert. Sie haben 8 Minuten Redezeit. (Dr. Konrad Elmer [SPD]: Und der CDU Mich interessiert, ob Sie den Antrag überhaupt gele- damals!) sen haben. Er lautet „Beteiligung der Be troffenen am Konzept zum Erhalt industrieller Kerne". Die Darstel- — Herr Kollege Elmer, ich habe eigentlich darauf lung des Problems umfaßt nur wenige Zeilen. Aller- gewartet. Ich verweise Sie auf einschlägige Proto- dings ist mir bei Ihren bisherigen Darlegungen etwas kolle. Wir können hier nicht ständig denselben Dialog unklar, inwieweit Sie sich auf den vorgelegten Antrag führen. beziehen. (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist sehr schön und macht Udo Haschke (Jena) (CDU/CSU): Ich sage es noch immer wieder Spaß!) einmal: Man kann die Gegenwart nicht deuten, die Wenn ich höre, daß ausgerechnet die, die aus dieser Gegenwart und die Zukunft nicht bewältigen, wenn Tradition kommen, nach einer Mitwirkung der Betrof- man nicht die Vergangenheit etwas in den Blick fenen rufen, dann scheint mir das zynisch und ange- nimmt. sichts der Tatsachen reine Demagogie. Aber darin (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Die ist sind die Kollegen gut in der Übung; denn das Gefor- schlimm bei Ihnen, Frau Dr. Höll!) derte ist tatsächlich Praxis. Das ist nun einmal so. Das können Sie übrigens bei Jedenfalls: Die Kollegen der Koalition — ich will das einem Ihrer prominenten Schriftsteller nachlesen. Er ausdrücklich loben —, die Kollegen der SPD — ich hat ein Zitat von Heine vorn auf seine „Aula" habe gedacht, Herr Sorge sei nicht da, er ist aber da; geschrieben: „Der heutige Tag ist ein Resultat des ich lobe ihn ausdrücklich in dieser Richtung — und gestrigen" . Lesen Sie es in Ruhe nach. Lesen Sie aus 16078 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Udo Haschke (Jena) Bloch vielleicht diesen Satz — er steht im Vorwort zu kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, Novel-- „Prinzip Hoffnung" —, lesen Sie ihn ganz langsam lierung des Gentechnikgesetzes. durch, versuchen Sie, ihm geistig zu folgen. Ich Allerdings muß ich sagen: Da, wo der Bund aktiv glaube, dann geht Ihnen der Sinn ein. geworden ist, sollten sich die Länder hüten, neue (Freimut Duve [SPD]: Wenn der Bloch wirk Bremsen zu aktivieren. Das wäre tödlich, und zwar lich unsere industriellen Kerne rettet, á la nicht nur für die Entwicklung in den neuen Bundes- bonne heure! — Dr. Konrad Elmer [SPD]: Sie ländern. kennen auch den Spruch: Hoffen und war Ein Wort noch zu einigen industriellen Kernen; ich ten! — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Und muß es schon sagen. Mecklenburg-Vorpommern ich kenne den Spruch: Schwund ist betreut im Rahmen des sogenannten „ Anker " -Pro- immer!) jekts zusammen mit der Treuhandanstalt und den betroffenen Regionalvertretern sowie den be troffenen Ausdrücklich hervorgehoben wird im Be richt der Belegschaftsmitgliedern 14 Unternehmen. Im Frei- Bundesregierung aber auch, daß der Staat manche staat Sachsen sind es 70 im Rahmen des „Atlas" Probleme überhaupt nicht lösen kann. Der Staat hat es Projekts. Ich bin froh, jetzt in diesem Hohen Haus in der ehemaligen DDR versucht — sehr schlecht, wie diesen neuen Namen erstmalig aussprechen zu kön- wir wissen. nen. Der Freistaat Thüringen stellt 200 Millionen DM Weder die Bundesregierung noch die Landesregie- für einen Industriebeteiligungsfonds zur Verfügung, rung noch Landräte und Bürgermeister können das (Beifall des Abg. Konrad Weiß [Berlin] Industriemanagement ersetzen. Es zeigt sich aber [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) — ich bin dem Kollegen Schumann dankbar, daß er es gesagt hat —, daß gute Politiker, die in der Regel aus um vor allem privatisierte und reprivatisierte Unter- der CDU/CSU-Fraktion kommen, nach einem Wech- nehmen zu erhalten und wettbewerbsfähig zu sel in eine hauptamtliche Tätigkeit in der Wirtschaft machen. durchaus in der Lage sind, auch hier ihre Qualitäten zu Natürlich gibt es auch in Thüringen Unkenrufer, die zeigen. Jenoptik wurde genannt. dann gar mächtig sagen: Das ist ein höchst riskantes Unternehmen. Ich darf auf den „Ingenieur-Digest" 11/1993 ver- weisen: Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Haschke, Gestärkt aus der Krise — Elektronik-Spezialisten Ihre Redezeit ist abgelaufen. aus Ostdeutschland treten auf der Productronica mit neuem Selbstbewußtsein auf ... Ebenfalls in Udo Haschke (Jena) (CDU/CSU): Ich bin beim München präsent ist Lothar Späths Jenoptik Schlußsatz. — Sie sehen vor allem also die Risiken. GmbH ... Die Jenenser zeigen in München Wir, die Vertreter der Koalition, sehen vielerorts schon gleich drei innovative Entwicklungen. die Ansätze der Wende, sehen die Chance, stehen zum Prinzip Hoffnung und handeln danach. Ich will das nicht alles vorlesen; ich habe Ihnen die Quelle genannt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Freimut Duve [SPD]: Lothar tritt wieder an! Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Manfred Der ist heute schon zehnmal genannt wor Hampel, Sie haben das Wort. den!) — Selbstverständlich, an einer wichtigen Stelle. Manfred Hampel (SPD): Herr Präsident! Meine sehr Was der Staat kann, nämlich die politischen Rah- verehrten Damen und Herren! menbedingungen für die wirtschaftliche Neuorientie- (Freimut Duve [SPD]: Ich vermute, der Kol- rung zu schaffen, das steht obenan im Programm lege Lothar Späth kommt noch einmal in den dieser Bundesregierung; das ist doch das Hauptziel Bundestag zurück! Der wird hier so oft zitiert! der Regierungen in den neuen Bundesländern. Je später der Abend, desto größer der Lothar! — Weitere Zurufe von der SPD) Lassen Sie mich einige Beispiele nennen; ich weiß, auch dagegen haben Sie Einwände, aber das macht ja Hört doch wenigstens nichts. Vizepräsident Hans Klein: Eurem eigenen Rednern zu! Wenn etwas dran ist — ein kleines bißchen ist sicherlich dran — an dem Vergleich der deutschen Manfred Hampel (SPD): Deswegen habe ich jetzt Wirtschaft mit dem gefesselten Gulliver, dann hat diese kleine Gedenkminute eingelegt. — Acht doch nicht zuletzt durch die Erfordernisse in den Monate sind seit dem Einbringen des Antrags der PDS neuen Bundesländern diese Bundesregierung — - zur Beteiligung der Be troffenen am Konzept der (Zurufe von der SPD) Erhaltung industrieller Kerne vergangen, eines Antrags, von dem man heute sagen muß, daß er Aber die Zwerge haben wir, wie sich auch an man- zeitlich nicht mehr auf der aktuellen Höhe ist und daß chen Zwischenrufen zeigt. es eigentlich müßig ist, sich heute damit zu beschäfti- Gerade die Erfordernisse in den neuen Bundeslän- gen. dern im Blick, hat doch diese Bundesregierung begon- Auf jeden Fall gibt er uns aber Gelegenheit, uns nen, energisch die Überregulierung im Rechtsstaat über die letzten acht Monate wirtschaftlichen Nieder- Deutschland zu bekämpfen. Ich nenne nur: Investi- gangs in Ostdeutschland auszusprechen, hier und in tionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz, Ver- aller Öffentlichkeit aufzuzeigen, welche dramatische Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16079

Manfred Hampel Entwicklung sich in dieser Zeit in den neuen Bundes- Ich habe es mir schon verkniffen, auf Herrn Haschke- ländern fortgesetzt hat mit der rücksichtslosen und zu reagieren; denn er hat von diesem Antrag so gut ideologisch verbohrten Politik des forcierten Ober- wie gar nicht geredet. Er hat von Dingen gesprochen, gangs in die Marktwirtschaft, durch die Weiterfüh- die zu diesem Antrag weitestgehend nicht gehören. rung einer Politik der Privatisierung um jeden Preis. (Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Ich renne In den letzten acht Monaten hat die Bundesregie- doch nicht offene Türen ein!) rung und in deren Auftrag die Treuhandanstalt die Ich habe von ihm nicht gehört, daß er seinen Bundes- Öffentlichkeit getäuscht und unter der Etikette „Er- kanzler kritisiert hat. Denn der Bundeskanzler hat haltung industrieller Kerne" lediglich die Finanzaus- erklärt — wenn ich mich richtig erinnere, im Septem- stattung der Treuhandanstalt verbessert. Letzendlich ber oder im Oktober vergangenen Jahres in Schwe- haben sie den Prozeß der Entindustrialisierung wei- rin —, daß die industriellen Kerne zu erhalten sind. terlaufen lassen wie zuvor und den Gang von weiteren Seitdem kam dazu nichts wieder. Hunderttausenden in die Arbeitslosigkeit vorpro- grammiert. (Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Richtig, das haben wir doch gar nicht bestritten! Es Meine Damen und Herren, wir dürfen uns keine ging um die Beteiligung der Be troffenen! Das Illusionen machen: So wie der Bundeskanzler vor drei passiert! Die Betroffenen sind beteiligt!) Jahren von blühenden Landschaften in den neuen Bundesländern geschwärmt hat und sich dies inzwi- — Das ist aber sehr weit hergeholt, Herr Haschke. Wir schen als reine Wahlkampfmasche zwecks Stimmen- haben am Mittwoch bei der Regierungsbefragung fangs im Osten herausgestellt hat, Finanzminister Waigel zu diesem Thema befragt. Dort hatten wir ausdrücklich die Frage gestellt, wie denn (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Eine die Beteiligung der Länder aussehe. Wir sprachen Vision!) noch nicht einmal von den Beschäftigten, von den vor genauso hat er längst aufgehört, vom Erhalt industri- Ort Betroffenen. Wir fragten nur nach der Beteiligung eller Kerne zu sprechen. Das Versprechen aus dem der Lander. Selbst das ist abgelehnt worden. Herbst 1992 ist heute wohl eher als Versprecher zu (Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Aber das werten. interessiert doch gar nicht! — Weiterer Zuruf Statt dessen hat er seinen Finanzminister walten von der CDU/CSU: Dann haben Sie nicht lassen, der die industriellen Kerne weitestgehend hat richtig hingehört!) verkommen lassen — andere sagen dazu: schlichtweg Ich möchte jetzt zu meinem eigentlichen Redebei- plattgemacht hat. Das ist die Bilanz. Das ist ein trag zurückkommen; sonst komme ich völlig ab vom trauriges Ergebnis dessen, was noch Anfang dieses Thema. Sie sollten sich auch einmal an das Thema Jahres als großartiger Solidarpakt den Menschen im halten. Osten als Politknüller verkauft wurde. Ausbaden müssen das die Bürger im Westen wie im Osten. (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Lassen Sie sich doch nicht von diesen jungen Leuten so aus In diesem Zusammenhang will ich eines klar sagen: dem Konzept bringen!) Die Grundidee vom Erhalt industrieller Kerne war Diese Forderungen sind auch integraler Bestandteil richtig und ist richtig, des Konzepts der SPD-Fraktion, die mit ihrem Antrag (Beifall bei der SPD) über den Aufbau von Industriegesellschaften ein Alternativkonzept vorgelegt hat. und sie wird so lange richtig bleiben, wie ein Rest Industrie vorhanden ist. Dies ist genauso richtig wie (Beifall bei der SPD) die in dem heute diskutierten Antrag enthaltene Wir haben mit diesem Vorschlag ein in sich schlüssi- Forderung nach der Beteiligung der Be troffenen am ges Gesamtkonzept zur Erhaltung industrieller Kerne Entscheidungsprozeß. Unsere Forderungen nach Mit- entwickelt, das logischerweise auch die Frage der bestimmung, z. B. die Konzertierten Aktionen von Nachfolgeregelung für die jetzige Treuhandanstalt Karl Schiller oder auch die aktuelle programmatische einbezogen hat — eine echte Alternative zu den Forderung von nach einem Beschäf- Halbheiten, die der Bundesfinanzminister am Mitt- tigungspakt gehören ebenfalls in diesen Bereich. woch hier im Bundestag als großartige Zukunftslö- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist die sung verkauft hat. Forderung nach der geringeren Lohnsteige Wir halten an unserem Konzept fest. Der heute rung im Osten?) vorliegende Antrag deckt hiervon nur einen sehr — Nein, das müssen Sie sich einmal genau anse- geringen Ausschnitt ab. Unsere Vorschläge sind hen. umfassender, besser eingepaßt in ein Gesamtmodell, das sich weiterhin als echte Alternative zum Durch- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Dann hat wursteln der Regierungskoalition darstellt. Der er gesagt, Ergänzungsabgaben wolle er Ansatz der PDS ist im Gegensatz zu unserem Antrag haben!) einfach zu eng ausgelegt. Darum kann meine Fraktion — Davon sprechen wir doch jetzt gar nicht, Herr diesem Antrag nicht zustimmen. Wir werden uns Rüttgers. deswegen der Stimme enthalten. Schönen Dank. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Ich will verstehen, was der Lafontaine will!) (Beifall bei der SPD) 16080 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege rierung des wirtschaftlichen Umfelds ist erforderlich,- Jürgen Türk. und das nicht nur in Ostdeutschland. Das bedeutet: weg von Monostrukturen, hin zum Jürgen Türk (F.D.P.): Sehr geehrter Herr Präsident! Branchenmix, sowohl innerhalb der Standorte als Meine Damen und Herren! Richtig ist: Politisches auch zwischen den Standorten. Wir brauchen keinen Handeln setzt klare Konzepte, setzt Ordnungspolitik, einzelbetrieblichen Ansatz, sondern wir brauchen d. h. ordnende Politik zur Schaffung von Rahmenbe- eine integrierte Standortentwicklung in den Regio- dingungen für freies wirtschaftliches Handeln und nen. damit für die Schaffung von Arbeitsplätzen voraus. Vielen Dank. (Freimut Duve [SPD]: Das hat die Bundesre (Beifall bei der F.D.P.) gierung seit zehn Jahren nicht gehabt!) Ich habe allerdings meine Zweifel, ob es richtig war und ist, undifferenziert vom Erhalt industrieller Kerne Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesmini- auszugehen. Zum einen kann und sollte m an nicht ster der Finanzen, Dr. Joachim Grünewald. bedenkenlos erhalten, was keinen Bestand haben kann, wie z. B. einzelne sogenannte strukturbestim- mende Unternehmen. Das wäre verantwortungslos Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär beim gegenüber den Betroffenen. Zum anderen muß eben- Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine falls von der Schaffung neuer Ke rne gesprochen lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Grundanliegen werden, und zwar nicht nur von industriellen Ker- des Antrags ist die Beteiligung der Betroffenen, aber, nen. Herr Kollege Schumann, wenn ich Sie eben richtig Einbezogen werden in die Entwicklungskonzepte verstanden habe, nach Ihrer Auffassung nicht nur der muß ebenfalls die Schaffung von Voraussetzungen für tatsächlich, sondern auch der nur vermeintlich Betrof- landwirtschaftliche Standorte, wie z. B. Gewächs fenen in Fragen von Sanierung und Privatisierung. hauskomplexe, für touristische Einrichtungen, wie Genau das — und das wiederhole ich — ist etwas, was z. B. Naherholungszentren, für Bildungs- und Sport- seit geraumer Zeit sowohl bei der Treuhandanstalt als zentren, für Technologie- und Forschungsparks usw. auch bei der Bundesregierung geschieht. So müssen Diese Zentren, diese Kerne, stellen Kristallisations- wir uns wieder einmal zu später Abendstunde hier mit punkte für die Ansiedlung breitgefächerter mittel- einer Luftblase befassen. Ich würde fast geneigt sein ständischer Strukturen dar. Es darf keine pauschale, zu formulieren: Das ist Diebstahl an der Zeit. sondern es muß eine differenzierte Betrachtung der (Freimut Duve [SPD]: Das Wo rt „Luftblase" Standortvoraussetzungen der jeweiligen Region ge- kommt dem „Freizeitpark" schon sehr ben, denn in der Region leben die Betroffenen, die nahe!) Insider, die den Bedarf und die Standortbedingungen kennen. Diese müssen gezielt Rahmenbedingungen Im übrigen liegt diesem Antrag ganz offensichtlich für Investoren schaffen, sei es nun im industriellen die irrige Vorstellung zugrunde, als wenn es bei der Bereich oder in anderen Bereichen. Treuhandanstalt und bei der Bundesregierung eine Aufstellung bestimmter Unternehmen gäbe, die als Ich empfehle, daß in überschaubaren Regionen, wie „industrielle Kerne" definiert sind. Meinen Sie das z. B. Großkreisen, sogenannte Standortentwicklungs- immer noch? gesellschaften wirksam werden, deren Hauptträger die Kommunen und Landkreise sind und wo ebenfalls (Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ Unternehmen und Treuhandanstalt eingebunden Linke Liste]: Das hat doch der Kanzler formu- werden sollten. Eine Beteiligung von Bund und Län- liert!) dern sollte nur in Ausnahmefällen möglich sein und — Nein, wir haben nie von Aufstellungen und Listen nur dann, wenn sie einen wirksamen Beitrag leisten gesprochen. Diese vermeintliche und gar nicht exi- können. stente Aufstellung — sie kann auch nicht existent Die Aufgaben dieser regionalen Standortentwick- sein — soll nun zum Gegenstand öffentlicher Ausein- lungsgesellschaften sollten sein: erstens die Analyse andersetzungen gemacht werden, getreu der Devise des Ist-Zustandes, zweitens das Aufzeigen von Stand dieser Tage, die wir ja leidvoll erfahren, daß alles ortbedingungen, drittens die Verbesserung oder Geschehen um die Treuhandanstalt herum und in der Schaffung von Standortfaktoren, viertens die stand- Treuhandanstalt selbst ohne Not zum Gegenstand ortspezifische Werbung von Investoren und fünftens öffentlicher Auseinandersetzungen gemacht wird. das Erledigen von Behördengängen für Investoren Der Antrag zeigt deutlich die alte statische und einschließlich Fördermittelbeantragung und -be- damit falsche Sichtweise der Wirtschaftsabläufe durch schaffung. Dabei darf die Beauftragung oder Beteili- die Antragsteller. Machte man den Antrag wirklich gung privater Beratungs- und Aufbaugesellschaften zur Richtschnur politischen Handelns, so hätte das nicht ausgeschlossen sein. wirtschaftspolitisch und betriebswirtschaftlich fatale Letztlich heißt das: Investoren — sprich: Arbeits- Konsequenzen. platzschaffern — muß der rote Teppich ausgerollt Der Sanierungs - und Privatisierungsauftrag der werden. Das heißt ebenfalls, nicht Standorterhaltung Treuhandanstalt ist unternehmensbezogen und und -sicherung um jeden Preis, sondern vor allem orientiert sich an Kriterien der betriebswirtschaftli- integrierte Standortentwicklung ist notwendig. Vor chen Sanierungsfähigkeit. Diese Politik war und ist allem heißt das auch, die Neuorientierung der Indu- auch heute noch, in zweifellos schwierigerem wirt- strie und anderer Unternehmen sowie die Umstruktu- schaftlichen Umfeld, sehr erfolgreich. Durch die Pri- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16081

Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald vatisierung, die Bundesregierung und Treuhandan- Für zusätzliche Konferenzen besteht also gar kein stalt nach wie vor für den besten und schnellsten Bedarf. Nicht noch mehr reden oder gar noch mehr Sanierungsweg halten, konnten bereits bisher in palavern, sondern entschlossenes, gestaltendes H an hohem Maße industrielle Kerne erhalten werden. -deln ist gefragt. Dies gilt beispielsweise für den im Antrag erwähn- Deswegen wird die Treuhandanstalt zusammen mit ten Schiffbau in Mecklenburg-Vorpommern. Herr der Bundesregierung den so begonnenen Weg fortset- Kollege Hampel, wenn Sie sich dabei auf den Besuch zen. Sie hat im Lichte der Diskussion um die industri- des Bundeskanzlers in Schwe rin berufen, finde ich ellen Kerne die Zusammenarbeit mit den Ländern diese Abqualifizierung ausgesprochen ungerecht und intensiviert, sie hat Management-Kommanditgesell- undankbar. Man wagt überhaupt nicht zu sagen, in schaften gegründet — neuerlich gibt es auch hier eine welcher Größenordnung pro Arbeitsplatz Mittel ein- Arbeitnehmerbank; das ist nicht erwähnt worden —; gesetzt wurden, damit in der Schiffsindustrie, gerade sie hat sich bemüht, auf diese Weise alle zu beteili- in Mecklenburg-Vorpommern, Arbeitsplätze erhalten gen. werden konnten. Das gleiche gilt für Teile der Che- Es ist doch ganz selbstverständlich, daß bei den mie, für die Eisen- und Stahlindustrie und für Teile des großen Einzelsanierungen — ich erwähnte schon den Maschinen- und Anlagenbaus. Fall Bischofferode — die Regionen und alle daran beteiligt werden. So müssen wir es fortsetzen. Welche Bedeutung die Bundesregierung gerade der Erhaltung und der Schaffung — ich wiederhole, Ich danke Ihnen. was Herr Türk gesagt hat — wettbewerbsfähiger (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) industrieller Strukturen beimißt, wurde in den Soli- darpaktverhandlungen im Frühjahr dieses Jahres Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- deutlich. Im Ergebnis haben wir in diesen Verhand- che. lungen den Kreditrahmen der Treuhandanstalt für die Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- Jahre 1993 und 1994 um jeweils 8 Milliarden DM auf empfehlung des Ausschusses Treuhandanstalt zu dem jeweils 38 Milliarden DM aufgestockt. Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Beteiligung Morgen früh, Herr Kollege Pohler, werden wir uns der Betroffenen am Konzept zum Erhalt industrieller um 8 Uhr im Ausschuß darüber unterhalten, wie wir im Kerne auf Drucksache 12/5283. Der Ausschuß emp- Rahmen des Wirtschaftsplans diese Mittel insbeson- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/4429 abzuleh- dere für die industriellen Kerne eingesetzt haben und nen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — wie wir sie in Zukunft einsetzen werden. Diese Mittel Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußemp- nämlich werden im wesentlichen für betriebswirt- fehlung ist angenommen. schaftlich notwendige Investitionsmaßnahmen, zur weiteren und erneuten Entschuldung und für sonstige Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Eigenkapitalmaßnahmen eingesetzt. Beratung der Großen Anfrage des Abgeordne- Zur Zusammenarbeit: Bundesregierung und Treu- ten Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe handanstalt arbeiten sehr eng und auch kooperativ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit den Landesregierungen zusammen. Es wurden Menschenrechtsverletzungen an Kindern und schon von Herrn Kollegen Haschke die Beispiele Jugendlichen in Brasilien „Atlas" und „Anker" erwähnt. Es ist aber gar nicht — Drucksachen 12/4455, 12/5244 — darauf hingewiesen worden, daß allüberall regelmä- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die ßig die Wirtschaftskabinette miteinander tagen. Es Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die wurde verabsäumt, darauf hinzuweisen, daß wir uns Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10 Minuten in Regionalkonferenzen — ich erinnere nur an die am erhalten soll. — Dagegen erhebt sich kein Wider- Standort Bischofferode bevorstehende Konferenz am spruch. Dann ist das so beschlossen. 2. November — bemühen, uns mit allen regelmäßig abzustimmen. Gleichwohl, meine verehrten Kolleginnen und Kol- legen, erlauben Sie mir ein Wort zu einer Stunde, in Dabei darf aber nicht übersehen werden — darauf der das Fernsehen nicht dabei ist. Wir müssen uns lege ich großen Wert, auch die Bundesregierung tut ernsthaft überlegen, ob wir ein solches Thema, Men- dies —, daß für Fragen der regionalen Strukturpolitik schenrechtsverletzungen bei Kindern und Jugendli- nach unserer Verfassung nicht der Bund, nicht die chen in Brasilien — die einbringende Gruppe ist mit Treuhandanstalt, sondern die Länder zuständig einem Kollegen vertreten, die Kolleginnen und Kolle- sind. gen, die zu den zuständigen Ausschüssen gehören, sind spärlich vertreten —, weiterhin so behandeln Auch die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer können. Wir dürfen uns über das Echo nicht wun- — Herr Kollege Schumann, das wissen Sie — werden dern. auf allen Ebenen in vielfältiger Weise in die Mei- nungsfindung eingebunden. Dies geschieht insbeson- Bitte, Herr Kollege Rüttgers. dere da, wo es sich gehört: in den Aufsichtsräten der Unternehmen. Dort sind sie überall vertreten. Das Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Herr Präsident, ich geschieht allerdings auch im Verwaltungsrat der verstehe Ihre Anregung wohl und halte sie dem Treuhandanstalt, wo selbstverständlich auch die Grunde nach für berechtigt. Deshalb haben wir das im Arbeitnehmer vertreten sind, ebenso wie in den Vorfeld dieser Debatte diskutiert und vorgeschlagen, Ausschüssen der Treuhandanstalt. Sie leisten dort diesen Punkt auch wegen der Sachnähe mit der herausragend gute Arbeit. morgen stattfindenden entwicklungspolitischen De- 16082 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Jürgen Rüttgers batte morgen ganz früh zu behandeln. Der Antragstel- vorgeschlagenen Maßnahmen bleibt die Bundesre-- ler hat darauf bestanden, daß die Debatte nicht gierung weit hinter den Möglichkeiten und auch, wie morgen früh, sondern heute abend stattfindet. Weil es ich meine, hinter ihrem eigenen Anspruch zurück. der Punkt war, der vom BÜNDNIS 90 im Rahmen Nach den Erkenntnissen der Bundesregierung dieser Woche zu behandeln war, waren wir gezwun- arbeiten von den 10- bis 14jährigen etwa 2,9 Mi llionen gen, so zu verfahren. Ich wollte das nur zur Erläute- Kinder, was einen Prozentsatz von 18,7 % dieser rung darstellen. Altersgruppe entspricht. Von den 15- bis 19jährigen arbeiten 8,1 Millionen. Das sind 57,7 % dieser Alters- Vizepräsident Hans Klein: Vielen Dank, Herr Kol- gruppe. Kinderarbeiter unter 10 Jahren sind hierbei lege Rüttgers. Ich habe das jetzt gar nicht so sehr im nicht erfaßt. Blick auf die Tatsache gemeint, daß wir über ein solches Thema zu später Stunde sprechen, sondern Kinderarbeit in Brasilien bedeutet aber in der Regel vielmehr im Blick auf die Tatsache, daß viele Kolle- nicht, daß die Kinder im Familienbetrieb bzw. im gen, die ja häufig öffentliches Interesse an solchen informellen Sektor mitarbeiten oder Jobs nach der Dingen bekunden, dann nicht teilnehmen. Schule haben. Die Kinder schuften unter äußerst schweren Bedingungen, auf Zuckerrohrplantagen (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Sie wären aber oder für die Herstellung von Exportprodukten wie zu einer anderen Stunde auch nicht da! — Kaffee, Kakao, Baumwolle und Fruchtsaftkonzentrat. Weitere Zurufe von der SPD) Sie arbeiten oft ohne jede soziale Absicherung und für — Entschuldigung, ich habe eine Bemerkung einen geringen Lohn, der weit unter dem eines gemacht, die auch an die Adresse der Kollegen geht. Erwachsenen liegt. Ohne sichernde Arbeitskleidung Es gab eine Aufklärung zu einem Punkt, nach dem ich sind sie nicht nur den Bissen von Insekten und eigentlich gar nicht gefragt hatte. Das war als Appell Schlangen ausgesetzt, sondern auch gefährlichen gemeint. Herbiziden wie Paraquat und Pestiziden wie Lindan. (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Herr Beide Produkte sind in Industrieländern längst verbo- Präsident, es sind aber wichtige Abgeord ten. nete im Saal! — Gegenruf des Abg. Dr. Fritz Nach ihren Angaben hat die Bundesregierung Schumann [Kroppenstedt] [PDS/Linke Liste]: keine Informationen darüber, daß Güter aus Brasilien, Gibt es wichtige und unwichtige Abgeord die nach Deutschland importiert werden, mit Hilfe von nete? — Dr. Konrad Elmer [SPD]: Es ist wie in Kinderarbeit produziert wurden. Ich halte das nicht für der Kirche, es werden immer die Falschen befriedigend und erwarte, daß die deutsche Botschaft beschimpft!) vor Ort angewiesen wird, den vielfältigen Hinweisen — Das ist richtig. von Menschenrechtsorganisationen und Journalisten (Zuruf der Abg. Andrea Lederer [PDS/Linke aus Brasilien und Deutschland nachzugehen und die Liste] ) Bundesregierung umfassend zu informieren. — Entschuldigung, Frau Kollegin, das ist keine Detaillierte Angaben finden sich beispielsweise in Geschäftsordnungsdebatte. Ich habe eine Bemerkung der Studie „Kinderarbeit in Brasiliens Exportlandwirt- gemacht, und der Kollege Rüttgers hat gemeint, er schaft — Kinderarbeit auch für deutsche Verbrau- müsse mir Informationen zuteil werden lassen. cher", eine Untersuchung der „Kooperation Brasi- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem lien" aus Freiburg und des "Dritte-Welt-Hauses" in Kollegen Konrad Weiß. Bielefeld. Danach sind auf brasilianischen Orangen- plantagen bis zu 20 % minderjährige Arbeiterinnen Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und Arbeiter beschäftigt, die mitunter zehn bis zwölf Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Stunden am Tag Orangen pflücken oder 25 Kilo Kolleginnen und Kollegen! Die fortschreitende Indu- schwere Kisten schleppen müssen. Die Bundesrepu- strialisierung und die ungerechten Eigentumsverhält- blik Deutschland führt mehr als 90 % ihres Orangen- nisse haben in den letzten Jahrzehnten die sozialen saftkonzentrats aus Brasilien ein. Deutschl and ist auch Strukturen in Brasilien tiefgreifend verändert und zu ein Hauptabnehmerland für brasilianischen Kaffee. großer Armut geführt. Unter den sozialen Mißständen Obwohl in Deutschland die Lebenshaltungskosten haben vor allem Kinder zu leiden. Vermutlich sind es kontinuierlich steigen, sinkt paradoxerweise der Kaf- mehrere Millionen brasilianische Kinder, die gezwun- feepreis. 1950 kostete das Pfund Kaffee noch 14,40 gen sind, auf der Straße ihren Überlebenskampf zu DM, heute ist es die Hälfte. Dieser Vorteil für die führen, und die im Spannungsfeld von desolaten deutschen Verbraucher geht auch zu Lasten brasi- Familienverhältnissen und fragwürdigen staatlichen lianischer Kinder, die für unseren Wohlstand rück- Erziehungsheimen, von Gewalt, Kriminalität, Prosti- sichtslos ausgebeutet werden. Ähnliches gilt für tution, Drogenkonsum und Straßenhandel heran- Kakao und Baumwolle. wachsen. Die Bundesregierung macht es sich zu einfach, In ihrer Antwort auf meine Große Anfrage zu wenn sie sich auf Unkenntnis beruft. Vor Jahren schon Menschenrechtsverletzungen an Kindern und Ju- hielt die Bundesregierung es für wichtig, die Öffent- gendlichen in Brasilien bestätigt und bedauert die lichkeit umfassend über Kinderarbeit aufzuklären. Bundesregierung die bedrückenden Lebensbedin- Dazu steht die Auffassung im Widerspruch, die die gungen dieser Kinder. Die Konsequenzen allerdings, Bundesregierung nun in der Antwort auf meine Große die sie zieht, sind nach Auffassung der Gruppe BÜND- Anfrage kundgetan hat, es gehöre nicht zu ihren NIS 90/DIE GRÜNEN unzureichend und werden der Aufgaben, die deutsche Öffentlichkeit über Miß- Not der Kinder nicht ausreichend gerecht. In den stände in dritten Staaten zu unterrichten. Wie ernst, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16083

Konrad Weiß (Berlin) frage ich mich, nimmt die Bundesregierung eigentlich Ein anderer sinnvoller Weg ist die Unterstützung ihre so oft proklamierte Verantwortung für die eine des „Transfairhandels", der von kirchlichen und Welt? Die Bundesrepublik Deutschland ist eine Dritte-Welt-Gruppen betrieben wird. Bei diesem gewaltige Wirtschaftsmacht und gehört zu den ein- System erhalten die Kleinproduzenten einen höheren flußreichsten Ländern. Das muß Konsequenzen auch Preis für ihren Kaffee, so daß Kinderarbeit nicht mehr für die Gestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen notwendig ist. Das Argument der Bundesregierung, haben. Es ist nicht nur das Recht, sondern die Pflicht Importbeschränkungen und Importverbote würden der Bundesregierung, die Bürgerinnen und Bürger zu gegen internationale Verpflichtungen, etwa des warnen, wenn deutsche Unternehmen Waren anbie- GATT, oder gegen EG-Richtlinien verstoßen, ist ange- ten, die sittenwidrig und unter Mißachtung der Men- sichts des ansonsten munter praktizierten Protektio- schenrechte produziert worden sind. nismus nicht sehr überzeugend. Wir fordern die Bun- desregierung auf, ihren Einfluß zu nutzen und aktiv (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause bei der Schaffung einer solidarischen Weltwirtschafts- [Bonese] [fraktionslos]) ordnung mitzuarbeiten. Brasilien hat 1990 ein vorbildliches Statut des Kin- Wir erwarten von der Bundesregierung ferner, daß des und des Jugendlichen verabschiedet. Doch umge- sie auch in Brasilien aktiv wird, um das Gesetz gegen setzt ist es nicht. Nach Auffassung der Bundesregie- den sexuellen Mißbrauch von Kindern durch soge- rung wird das durch fehlende Haushaltsmittel, nannte Sextouristen umzusetzen. Ohne die Regelung unklare Kompetenzverteilung und eine korrupte der sich daraus ergebenden Verfahrensfragen kann öffentliche Verwaltung in Brasilien verhindert. Es ist das Gesetz nicht wirksam werden. Damit gegen mir unverständlich, warum die Bundesregierung nicht Deutsche, die im Ausland die Not von Kindern aus- die Hauptursache dafür, die ungerechte Verteilung nutzen und sie gegen Bezahlung sexuell mißbrau- des Landes und die ungerechten Besitzverhältnisse, chen, ermittelt und strafrechtlich vorgegangen wer- beim Namen nennt und anprangert, wie das z. B. die den kann, ist der Abschluß von bilateralen Rechtshil- brasilianischen Bischöfe in aller Schärfe getan feabkommen notwendig. haben. Meine Damen und Herren, Kinder gehören weder Landknappheit, Arbeitslosigkeit und der Verfall der auf die Straße noch auf Plantagen, sondern in die Rohstoffpreise drücken den Lohn auch in Brasilien. Familien und in die Schule. Das gilt nicht nur für Viele Familien sind zur Bestreitung ihres Lebensun- Brasilien, sondern für alle Länder. Ein L and, das seine terhaltes auf die Arbeit ihrer Kinder angewiesen. Der Kinder zerstört, hat keine Zukunft. Deutschland hat

Zwang, für den Export zu wirtschaften, und die von die UNO - Konvention zum Schutze der Kinder unter- Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds zeichnet und sich damit auch verpflichtet, Kinderar- oktroyierte Strukturanpassung haben einen ex tremen beit nicht zu dulden. Es wäre heuchlerisch, wenn wir Sparkurs zur Folge, der sich im sozialen Bereich das Recht auf eine geschützte Kindheit zwar den verheerend auswirkt und die Situation gerade der deutschen Kindern, nicht aber den Kindern in den Ärmsten gravierend verschlimmert. Entwicklungsländern zugestehen würden. Die Bundesregierung weist zu Recht darauf hin, daß Ich danke Ihnen. Kinderarbeit in Ländern der Dritten Welt letztlich nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten durch wirtschaftliche und soziale Stabilisierung in der CDU/CSU und der F.D.P.) den betroffenen Ländern abgeschafft werden kann. In der Auffassung allerdings, einseitige Handelsmaß- nahmen seien nicht geeignet, derartige Mißstände zu Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Kollegin beseitigen, kann das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Dr. Sissy Geiger das Wort. Bundesregierung nicht folgen. Nach unserer Auffas- sung widerspricht das sowohl ihrer Kriterienpolitik als Dr. Sissy Geiger (Darmstadt) (CDU/CSU): Herr auch ihren eigenen konkreten Aktivitäten, die sie im Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hinblick auf Vermeidung von Kinderarbeit unter- Die Thematik der Menschenrechtsverletzungen an nimmt. Kindern und Jugendlichen in Lateinamerika ist ein Wir unterstützen ausdrücklich den Vorschlag der besonders trauriges Kapitel und liegt mir persönlich Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, den sie sehr am Herzen. Das Problem der Straßenkinder und in Zusammenarbeit mit dem „Indo-German Export der damit verbundenen Menschenrechtsverletzun- Promotion Project" erarbeitet hat. Dieser sieht die gen existiert in mehreren Ländern Lateinamerikas. Einführung eines Warenzeichens „Hergestellt ohne Nur wenn man diese Kinder und die Plätze, an denen Kinderarbeit" vor, das auf der Grundlage eines sie wohnen — besser gesagt: hausen —, selbst gese- Lizenzverfahrens von den Unternehmen genutzt wer- hen hat, kann man sich ungefähr ein Bild von ihrer den kann. Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Situation machen. Ich war vor zwei Wochen mit schlägt ähnliche Projekte auch für Brasilien und Mitgliedern des Ausschusses für Frauen und Jugend andere Länder vor. Wir sehen darin eine gute Mög- in Guatemala und Mexiko und konnte dort soge- lichkeit, das Verantwortungsbewußtsein der Verbrau- nannte Straßenerzieher begleiten. cher zu schärfen und dadurch positive Veränderun- Warum gibt es Straßenkinder? Warum werden es gen bei den Produzenten zu bewirken. Wenn Unter- immer mehr? Warum sind sie das Ziel ungeheuerli- nehmer wissen, daß sich Produkte, die unter Ausbeu- cher Verfolgung, Bestrafung, ja von Tötungsaktionen tung von Kindern hergestellt wurden, nicht mehr ins offizieller und halboffizieller Polizisten in Brasilien, in Ausland verkaufen lassen, werden sie irgendwann auf Guatemala, in Mexiko? Es beginnt meistens damit, Kinderarbeit verzichten. daß eine Frau vom L and in die Stadt zieht, mit einem 16084 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Dr. Sissy Geiger (Darmstadt) Mann mehrere Kinder hat, dieser Mann sie verläßt, mentarische Untersuchungskommission der Ab- ein neuer Mann ins Haus oder in die Hütte kommt und geordnetenkammer kam in ihrem Be richt über dieser die Kinder des vorhergehenden Mannes nicht die „Liquidierung von Minderjährigen" vom mehr anerkennt. Februar 1992 zu dem Schluß, daß die Beteiligung der Zivil- und Militärpolizei an den Kindermor- Die Mädchen werden meistens, wenn sie ge- den „beileibe keine Ausnahme" war, da der von schlechtsreif sind oder noch vorher, vom Vater oder Polizisten verübte Mord die dritthöchste Ursache vom Lebensgefährten der Frau vergewaltigt und für einen gewaltsam herbeigeführten Tod von gehen dann meistens in die Prostitution. Die Knaben Minderjährigen war. Verübt werden diese Ver- widersetzen sich der autoritären Gewalt der Väter und brechen vorwiegend von Todesschwadronen und schließen sich anderen auf der Straße lebenden Kin- sogenannten Bürgerwehren. dern an. Die Gruppe wird zum Familienersatz. Die Kinder kommen auch wegen des Schnüffelns an Wovon leben sie? Zunächst suchen sie sich Gele- Klebstoff ins Gefängnis, oft zusammen mit Erwachse- genheitsarbeiten. Weil sie aber die Schule vorzeitig nen. 100 000 bis 150 000 sind es in den letzten Jahren verlassen haben, ist die Ausbildung mangelhaft. Das gewesen. In diesen Gefängnissen stehen Folterungen heißt, sie arbeiten zunächst im sogenannten informel- und Prügel auf der Tagesordnung. len Sektor: Sie sitzen an Straßenkreuzungen, atmen den ganzen Dreck ein, putzen Schuhe, verkaufen, Welche Möglichkeiten gibt es nun für die Bundes- wenn die Ampel gerade Rot ist, Blumen, waschen regierung, in Brasilien — und Sie können auch sagen Teller oder verkaufen andere Kleinigkeiten, ganz zu in Mexiko, Guatemala usw. — einzugreifen, damit schweigen von den Arbeiten in Fabriken oder auf Kindern und Jugendlichen der unterprivilegierten Plantagen. Bevölkerungsschichten ein menschenwürdiges Da- sein gesichert wird? Sie können nicht zur Schule gehen und müssen sich selbst erhalten. Sie trösten sich mit Klebstoffschnüf- Meine Damen und Herren, es genügt sicherlich feln. Es kommt zum Drogenkonsum. Sie gleiten immer nicht, Programme gegen die Armut aufzulegen; das ist mehr in die Kriminalität ab, schließen sich zu Banden sicher. Angesichts einer Bevölkerungszahl von zusammen, und schließlich beklauen sie die Men- 150 Millionen Einwohnern nur in Brasilien ist Hilfe schen und Geschäfte und überfallen sie auch. Ein von Deutschland allein nicht zu leisten. Jeder noch so höllischer Kreislauf beginnt. ansehnliche Geldbetrag ist hier nur ein Tropfen auf den heißen Stein. In Mexiko City leben 22 Millionen Einwohner, darunter laut UNICEF 1,25 Millionen Straßenkinder. Auch wenn die zuständigen Regierungsstellen in In Guatemala City leben 2,5 Millionen Menschen, von Deutschland initiierte Maßnahmen und Anregun- darunter 5 000 Straßenkinder. In Rio de Janeiro gibt es gen miteinbezogen werden — das haben wir sehr nach neuesten Angaben 10 Millionen Einwohner, schön in Mexiko miterleben können — , ist das zwar davon leben 2 Millionen in den Favelas. Es gibt dort wichtig und richtig, aber ich glaube, es ist nicht sehr sicherlich mehr als „nur" 797 echte Straßenkinder. wirkungsvoll. Südamerikaner sind stolze Menschen. Sie wollen ihr Gesicht nicht verlieren, und das ganze Das sind die offiziellen Angaben, wobei man wissen Ausmaß dieser bevölkerungspolitischen Katastrophe muß, daß die Definition „Straßenkinder" verschieden und der nicht funktionierenden Demokratie werden ausgelegt wird. Die offiziellen Stellen sprechen nur sie nicht zugeben. dann von Straßenkindern, wenn sie wirklich keine Eltern mehr haben. Es sind aber in der Mehrzahl auch Es gibt nur eines, meine Damen und Herren: diejenigen Straßenkinder, die noch zu Hause wohnen, Erstens. Die Menschenrechtsverletzungen der offi- die aber den gleichen Bedingungen unterliegen wie ziellen und nichtoffiziellen Polizisten müssen restlos die anderen. aufgeklärt, geahndet und bestraft werden. Diese Jugendlichen, die davon leben, daß sie (Beifall des Abg. Konrad Weiß [Berlin] Geschäfte und Menschen, auch Touristen, überfallen, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) werden auch dementsprechend behandelt. Sie wer- den wie Ratten behandelt. Die Bürger heuern sich Zweitens. Wir müssen alles in Bewegung setzen, Polizisten an, ehemalige Polizisten oder Schläger, damit diese jungen Leute eine Ausbildung bekom- stecken sie in Uniformen, und diese fungieren dann men. Das ist ja zum Teil schon Inhalt einiger Pro- als Todesschwadrone. Die Bürger beauftragen diese gramme. Aber dazu müssen meiner Meinung nach die Menschen damit, ihnen diese Kinder vom Hals zu privaten Hilfsorganisationen vor Ort viel stärker halten. Diese Aktionen — so wissen wir von Amnesty unterstützt werden als bisher, ebenso die kirchlichen Verbände und die Stiftungen usw. Wir haben bei International — können in regelrechte Blutbäder unter den Kindern und Jugendlichen ausarten. unserem Besuch gesehen, daß die wirksamsten Hilfen von den privaten Organisationen kamen. Bei den Ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten aus staatlichen Einrichtungen versickert das Geld in der „Urgent Action" von Amnesty International: Verwaltung. Laut einer Statistik der brasilianischen Bundes- Wir müssen auch unkonventionelle Ideen entwik- polizei wurden im ganzen Land zwischen 1988 keln, z. B. für die Kinder in Lateinamerika über freie und 1990 4 611 Kinder und Jugendliche umge- Träger Schulunterricht am Sonntag anbieten, wie das bracht. Berichten zufolge sollen in der ersten z. B. jetzt in Guatemala vorgenommen wird, oder Hälfte dieses Jahres allein in Rio de Janeiro Gemeinschaftszentren fördern, in denen Jugendliche 320 Kinder ermordet worden sein. Eine parla- gemeinsam mit ihren Eltern unterrichtet werden, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16085

Dr. Sissy Geiger (Darmstadt) damit die Familie gestärkt wird und die Kinder wieder Dies ist kein Phänomen von einigen Tausend oder ein Zuhause haben. Wir haben so eine Einrichtung in Hunderttausend. Das ist ein dramatischer Bruch, der der Nähe von Puebla in Mexiko gesehen, die zufällig da in den letzten 20 Jahren stattgefunden hat. Ich will — aber beispielhaft — durch die Adenauer-Stiftung das an einem anderen Beispiel erläutern. finanziert wird. Nach diesem Zentrum, in dem Ich habe mich vor 20 Jahren für ein Buch mit den Jugendliche und Eltern auch eine Ausbildung erhal- Kindern und Familien beschäftigt, die in Kalkutta und ten, sind bereits 33 ähnliche Einrichtungen in Mexiko Bombay immer auf der Straße gelebt haben und leben. gegründet worden. Es war eine riesige Zahl: damals 700 000 in der Stadt Ich persönlich halte es für ganz verkehrt, wirtschaft- Kalkutta. Interessant daran war die Tatsache, daß liche Sanktionen gegen diese Länder zu beschließen. selbst in der Zeitspanne von zwei Generationen, in der Allerdings muß die Bundesregierung hier viel mehr die Menschen auf der Straße gelebt hatten, so etwas Druck machen. Ein Menschenleben gilt mehr als das wie eine Familienbindung und eine Tradierung einer Ratte. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. erhalten blieb. Das Befragen dieser Kinder ergab, daß (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der sie noch wußten, woher ihre Eltern kamen und zu wem SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sie gehörten. Das ist in Bombay wohl bis heute so. Wir haben vor einiger Zeit ein Buch über Menschen aus Bombay publiziert. Man hat versucht dafür, einzelne Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Freimut Straßenkinder zu befragen. Auch da ist das so geblie- Duve, Sie haben das Wort. ben: Sie haben noch gewisse Bindungen. Wir erleben jetzt — das ist wirklich ein Bruch — Freimut Duve (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Kinder, denen nichts mehr tradiert wird, die also ihre und Herren! Kollege Weiß, ich möchte Ihnen sehr eigene Welt aufbauen wollen und müssen. Das ist danken, daß Sie diese Initiative ergriffen und uns alle nicht mehr mit dem Begriff „Elend" zu beschreiben. auf dieses dramatische Thema aufmerksam gemacht Einer der Hauptgründe dafür ist — er ist von keinem haben. Es wäre darum, finde ich, Ihren Kollegen auch der Entwicklungstheoretiker, weder der Rechten noch angemessen, wenn Sie nicht von Ihrer eigenen der Linken, vorausgesehen worden — das Verhalten Anfrage sprächen, sondern von der Ihrer Gruppe. Das der arbeitslosen Männer. Sie lassen ihre Frauen tun wir so in der Regel. allein. Ich will mit einer kleinen Geschichte anfangen: Meine Frau und ich haben vor einiger Zeit geholfen, Die Größenordnung der in den Millionenstädten eine kleine Schule in einer Favela der Rocinha in Rio Lateinamerikas inzwischen alleinlebenden Frauen, zu finanzieren, den Bau eines kleinen Zusatzgebäu- die gar nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder zu des. Diese Schule ist von jungen Frauen, so wie Sie sie erziehen und hilflos geworden sind, weil die Männer soeben geschildert haben, gegründet worden, die sich abhauen, hat ein dramatisches Ausmaß angenom- in der gleichen Situation — sie waren zwischen 18 und men. Da kann wirklich ein zivilisatorischer Bruch 22 Jahren — befanden. Vier Frauen haben diese entstehen, der dazu führt, daß Kinder zur Ware Schule gegründet, eine Vorschule oben am Hügel. werden mit ihrem Körper und allem, was sie gerade Wir haben sie besucht. noch haben. Daß wir in dem katholischsten aller Kontinente einmal in eine solche apokalyptische Während wir in der Schule waren, ist draußen Dimension geraten würden, daß selbst Körperteile geschossen worden. In der Rocinha sind die meisten „nachgefragt" werden, die man Embryos oder Klein- Bandenkriege von Rio. Nach ein paar Minuten hörte kindern entnimmt, daß wir am Ende der Zivilisation das Schießen auf, aber es war schon ziemlich angelangt sind, ist wohl die größte Bedrohung für erschreckend, weil das Schießen unmittelbar um unsere Kultur. dieses kleine Haus herum geschah. Die beiden jungen Gründerinnen sagten: Kommt heraus, wir bringen Deshalb ist, glaube ich, die einfache Formel nicht euch die lange steile Treppe herunter; denn wenn ihr mehr genug: Es geht jetzt nur um Armutsbekämpfung. mit uns geht, kann euch nichts passieren. Die Kinder Das Erschrecken, aber auch die Hoffnung muß größer der Männer beider Gangs sind bei uns. werden, daß es — ich weiß nicht, ob es noch einmal zu Was will ich damit sagen? — Es gibt da überall Familien kommen wird — wieder zu einer sozialen Versuche, aus eigener Kraft — Sie haben es ja auch Kultur kommt, auch unter Armutsbedingungen. Denn erwähnt — etwas zu tun. Selbst bei einem Zerfall von wir werden diese Millionen in einer überschaubaren Zivilisation, selbst bei dieser Art von Gewalt — jeden- Zeit nicht auf einen Mittelstand bekommen können. falls in der Rocinha — gibt es noch einen Rest von Aber daß mit der Verbilderung dieses Vorgangs gemeinsamer Sorge für Kinder. eine tiefe Verwilderung hinsichtlich des Wertes des Genau dieser Rest von gemeinsamer Sorge für Menschen auch bei uns verknüpft ist, davor habe ich Kinder ist in den großen Straßen und in dem, was hier Angst. Ich meine eine Überlegung, mit der ich immer geschildert worden ist, nicht nur zusammengebro- sehr vorsichtig umgehe, die mir aber zunehmend zu chen, sondern sie verschwindet langsam als Grund- schaffen macht: daß die allgemeine Überzeugung, idee menschlichen Zusammenlebens. Es sind Kinder, daß „zu viele " Menschen auf der Erde leben, den Wert die sich sozusagen aus dem anthropologischen des einzelnen Kindes so dramatisch reduziert, daß Gewebe herausgeschleudert sehen. Niemand fühlt man es zwar noch zur Kenntnis nimmt, aber dahinter mehr Verantwortung. unausgesprochen, wie ein düsterer Geist unserer Zeit, Wenn das Schicksal dieser Straßenkinder die immer schon die Vorstellung steht: Na ja, es sind ja Zukunft der Welt ist, dann hat die Welt keine Zukunft. ohnehin sehr viele. 16086 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Freimut Duve Diese Bedrohung ist nicht nur eine Bedrohung der Verletzung fundamentaler Rechte von Menschen ist Wertvorstellungen Lateinamerikas oder Asiens, son- natürlich besonders bitter und grausam, wenn sie an dern auch unserer eigenen. Denn dies ist eine globale den schwächsten Gliedern einer Gesellschaft ge- Veränderung der Bewertung von Menschen und des schieht. Für-Wert-Haltens von Menschen. Deshalb ist es, glaube ich, bestimmt sinnvoll, daß wir sagen, was wir Das nächtliche Massaker an schlafenden Straßen- materiell tun können. Das ist relativ wenig, aber das kindern an der Candelaria-Kirche durch Angehörige müssen wir tun: Helfen auch aus Hilflosigkeit. Was wir der brasilianischen Militärpolizei im vergangenen Juli aber sozusagen geistig-kulturell tun müssen und was ist uns in Erinnerung und hat sowohl die brasilianische wir in dieses Thema an humaner Würde hineintragen als auch die internationale Öffentlichkeit mehr als müssen, ist etwas, was wir für uns selber tun müssen. sonst aufgerüttelt. Denn wenn das so weiter geht — das globale Dorf ist hier schon in einem anderen Zusammenhang erwähnt Trotzdem: Beides war nicht neu, zum einen, daß Straßenkinder von worden —, dann haben wir es sehr schwer, unseren Todesschwadronen gemordet werden, und zum anderen, daß brutale Morde an Kindern den Wert von Kindheit noch klarzuma- chen. Menschen, die in gewissen brasilianischen Kreisen als Menschen zweiter Klasse angesehen werden, auf Das sind ein paar Überlegungen, die ich hier gern Täter aus den Kreisen der Militärpolizei zurückge- loswerden wollte. Zum Schluß möchte ich aber noch hen. sagen: Die kleine Geschichte damals endete zunächst heiter, am Schluß aber doch wiederum ziemlich trau- Kriminalität und offene Gewaltbereitschaft durch- rig. Wir haben natürlich gelacht, als die beiden Frauen ziehen weite Kreise der brasilianischen Bevölkerung. sagten: Ihr seid geschützt, durch uns; denn die Gang- Wen wundert es da, daß in diesem Klima auch zahllose ster haben auch ihre Kinder bei uns. — Als wir die Kinder und Jugendliche aus schierem Zwang, in einer Treppe hinuntergingen und das wirkliche Schießen Gesellschaft zu überleben, die ihnen kaum die aufgehört hatte, sahen wir überall um die Lehmhäuser Chance bietet, sich unter lebenswürdigen Umständen herum kleine Kinder. Sie spielten mit selbstgebastel- zu entfalten, häufig genug selber in kriminelle Kreise ten Geräten, mit Holzstücken oder was auch immer, abrutschen, etwa in die Prostitution, wie es schon genau diesen bildhaften Bandenkrieg, den sie vorher gesagt wurde, oder in das Drogengeschäft. erlebt hatten. Eines scheint jedoch offensichtlich und wird durch Es gibt einen berühmten Roman von William Gol- die Berichte über ungeahndete Menschenrechtsver- ding, „Herr der Fliegen", eine negative Zukunftsvi- letzungen, über Korruptionssk sion. Er beschreibt, wie Kinder verwahrlosen, wenn andale, über ver- schleppte Strafprozesse in Brasilien Woche für Woche sie alleine sind. Was wir hier erleben, ist nach allem, bestätigt: Von einer Verwurzelung rechtsstaatlicher was wir wissen, daß die Verwahrlosung der Erwach- Prinzipien in der brasilianischen Gesellschaft darf senenumwelt um die Kinder herum zum Teil wesent- man wohl noch nicht ausgehen. lich größer ist. Die Kinder sind in der Lage, selber immer wieder einen Rest an Kleinsolidarität unterein- Eine Verbesserung der Situation der Millionen ander aufzubauen, auch wenn sie niemanden aus der Kinder und Jugendlichen, die vorrangig auf der Erwachsenenwelt mehr haben. Dieser Rest an selb- Straße leben — seien es nun Straßenkinder im stren- ständiger Solidarität, ohne daß ein Kindergärtner gen Sinne, wie Sie das sagten, Frau Kollegin, oder oder ein Vater oder eine Mutter ihnen dazu verholfen seien es die Hunderttausende oder Millionen, die in hätte, ist das Stückchen Hoffnung, das man auch aus der Schattenwirtschaft arbeiten, ihre Familie nur noch dieser Debatte mitnehmen kann. sporadisch treffen und sie teilweise auch noch unter- Danke für Ihre Aufmerksamkeit. stützen —, im Rahmen einer wichtigen institutionellen (Beifall im ganzen Hause) Veränderung ist zumindest gesetzlich vorbereitet worden. 1990 ist in Brasilien ein Jugendhilfegesetz verabschiedet worden, das „Statut der Kinder und Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Arno Jugendlichen". Es bietet erstmals eine gesetzliche Schmidt, Sie haben das Wort. Grundlage für die Vertretung der Rechte von Kindern und Jugendlichen. Amo Schmidt (Dresden) (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Duve, normalerweise Jetzt kommt es auf die Umsetzung an. Diese Umset- müßte man die Debatte jetzt abbrechen. Denn Sie zung benötigt die inte rnationale Aufmerksamkeit, so haben viele Dinge beleuchtet, die man so nachvollzie- wie auch damals die Verabschiedung des Gesetzes hen kann. Es ist auch mir, Herr Weiß, etwas zu einfach, nicht zuletzt unter erheblichem Druck der internatio- wenn man versucht, das bei der Bundesregierung nalen Öffentlichkeit geschehen ist. abzulagern. Ich glaube, die Einwirkungsmöglichkei- Das Statut sieht die Bildung sogenannter Beiräte für ten — Sie haben immer wieder die Bundesregierung die Vertretung der Rechte der Kinder und Jugendli- angesprochen — sind einfach zu gering, um dieses chen vor. Diese werden zur Zeit auf den drei relevan- Problem so vielfältig, wie es Herr Duve dargestellt hat, ten Ebenen, von der nationalen über die bundesstaat- anzugehen. liche bis hin zur kommunalen Ebene, eingerichtet. Es ist ein trauriges Kapitel in der Alltagsgeschichte Das vorgesehene Mitentscheidungsrecht bei Ent- Brasiliens. Leider ist Brasilien im Laufe des letzten scheidungen, die das Leben von Kindern und Jugend- Jahres wiederholt mit Berichten über Menschen- lichen betreffen, reicht bis hin zu einer Einflußnahme rechtsverletzungen in die Schlagzeilen gerückt. Die auf die Verwendung von Haushaltsmitteln. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16087

Arno Schmidt (Dresden) An diesen Beiräten hängt auch wesentlich die desrepublik beteiligt. Davon ist jedoch in der vorlie- Verwirklichung der weitreichenden Einzelregelun- genden Antwort keine Rede. gen des Gesetzes. Probleme des Schulwesens, der Vielmehr ergibt sich folgendes Bild: Ausfuhrge- beruflichen Ausbildung, des Adoptionswesens, der währleistungen für ökologisch, sozial und entwick- Kinderarbeit und der Versorgung Behinderter, sollen lungspolitisch bedenkliche Projekte können zwar hier angepackt werden. abgelehnt werden, werden es aber höchst selten, Eine Verbesserung von Millionen Kinderschicksa- nämlich nur dann, wenn keine deutschen Interessen len wird sicherlich nicht von heute auf morgen gefährdet sind. Aussagen über dennoch — diesen geschehen. Das müssen wir realistisch sehen. Die Kriterien zum Trotz — gewährte Bundesbürgschaften öffentliche Diskussion und das sich ausbreitende Pro- unterliegen „der Vertraulichkeit gegenüber den blembewußtsein in Brasilien sind dafür eine sehr betroffenen Exportfirmen" . Wenn das so ist, können wichtige Voraussetzung, doch wird auch die Weltöf- die Mittel, die für offensichtlich in der Mehrzahl der fentlichkeit weiterhin eine Wächterfunktion wahr- Fälle konsequenzlose Gutachten ausgegeben wer- nehmen müssen. Diese Wächterfunktion darf aber den, besser und sinnvoller den vor Ort tätigen NGOs kein Ersatz für die Verpflichtung der Industrienatio- zur Verfügung gestellt werden, die sich wenigstens nen sein, ihren Beitrag für eine gerechte Weltwirt- noch um Schadensbegrenzung bemühen. schaftsordnung zu leisten. Ein Scheitern der GATT Erlauben Sie mir, daß ich zum Abschluß Herrn Duve für seine weitergehenden Überlegungen mit dem-Verhandlungen muß unter allen Umständen vermie- den werden, auch aus dieser Sicht. Versuch, den Hintergrund zu beleuchten, warum es Rechtsstaatlichkeit auf dem Boden der Demokratie zum Zerfall von Zivilisation und zur Verwilderung ist sicherlich der beste Garant für ein Klima, in dem kommt, die eben nicht nur Kinder betrifft, sondern Menschenrechtsverletzungen unterbleiben und in auch Erwachsene, nachdrücklich danke. Das ist ja, dem die grundlegendsten Bedürfnisse der heran- wenn ich Sie richtig verstanden habe, ein Problem, wachsenden Generationen bef riedigt werden. das durchaus nicht nur sogenannte Drittweltländer Schönen Dank. betrifft, sondern auch uns hier. Ich glaube, gerade deshalb wäre es sehr begrüßenswert, wenn jeder dort (Beifall im ganzen Hause) anfinge, wo er etwas tun kann. Ich fände es deshalb sehr gut, wenn in Zukunft Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin derartige Anfragen, wie sie hier aus dem Parlament an Dr. Barbara Höll. die Regierung gestellt werden, weniger unaufrichtige Betroffenheitsfloskeln und Situationsbeschreibungen enthielten. Transparenz der Politik erfordert nachvoll- Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bilder der Kinder, die ziehbare Fakten und Informationen. Offensichtlich auf den Straßen Brasiliens von bezahlten Killerban- hatte jedoch die Bundesregierung in diesem Falle den massakriert wurden, sind fast schon wieder aus eher das Bedürfnis, hinter einer Nebelwand zu ver- dem Gedächtnis der Öffentlichkeit verschwunden. schwinden. Um so wichtiger ist es, daß die Kolleginnen und Ich danke Ihnen. Kollegen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dieses (Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem Thema noch einmal systematisch aufarbeiten und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- über den spektakulären Einzelfall hinaus versuchen, ordneten der SPD) die grausame Normalität aufzudecken, der Tausende von Kindern und Jugendlichen in Brasilien ausgesetzt Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile zum Abschluß sind. dieser Aussprache dem Staatsminister im Auswärti- Die Antwort der Bundesregierung bleibt aber unbe- gen Amt, unserem Kollegen Helmut Schäfer, das friedigend. Zwar ist die Beschreibung der Symptome Wort. größtenteils zutreffend und läßt sogar Ansätze von Problembewußtsein vermuten; wenn jedoch die Rede Staatsminister im Auswärtigen auf wirtschaftliche Zusammenhänge und damit auf Helmut Schäfer, Amt: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! die Hintergründe der Probleme kommt, werden die Wenn im brasilianischen Parlament um diese Nacht- Antworten zunehmend nichtssagender, ausweichen- zeit über Zustände in Deutschland diskutiert würde, der und widersprüchlicher. könnte ich mir vorstellen, daß es in unserer Öffentlich- Warum kämpfen denn die zahlreichen NGOs in keit Proteste gäbe. Man würde sich fragen: Was tun Brasilien mit der Welle wachsender Verelendung und die eigentlich? Was geht die das eigentlich an? Die Verarmung in den urbanen Zentren wie gegen Wind- haben ja ihre eigenen Probleme. mühlen? Ich zitiere aus der Antwort der Bundesregie- Trotz allem beantworten wir hier alle Anfragen, und rung: wir sind auch bemüht, in allen Ländern der Welt, in Die Landflucht hat auch in Brasilien viele Ursa- denen es Mißstände gibt — und dazu zählt Brasi- chen. lien —, das zu tun, was der Bundesregierung möglich Unverbindlicher geht es kaum noch. Natürlich hat ist. Wir verbergen uns auch nicht hinter einer Nebel- sie viele Ursachen: eine bis heute nicht durchgeführte wand; nur müssen wir auch nach einigen Reisen von Landreform z. B. oder die anhaltend hohe Verschul- Kollegen in einige wenige Länder feststellen: Es ist dung Brasiliens oder die weiterhin von den Indu- leider nicht so, daß es nur in drei von Ihnen beschrie- strieländern geförderten überdimensionalen Indu- benen Ländern solche Vorkommnisse gibt. Wenn Sie strialisierungsprojekte, an denen sich auch die Bun- bei Ihrer nächsten Reise nach Kolumbien fahren, 16088 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Staatsminister Helmut Schäfer werden Sie vielleicht die Straßenkinder von Bogota lungen z. B. über das Verbot von Familienplanung entdecken und werden zu Ergebnissen kommen, die nicht eine schlimmere Grundlage für das sind, keineswegs anders sind. (Zustimmung bei der F.D.P. sowie bei Abge- Wovor ich warnen möchte, meine Damen und ordneten der SPD) Herren, ist eine Pauschalisierung der brasilianischen Gesellschaft, eine Art Verdikt der Moral, das wir hier was Sie hier beschreiben. über ein ganzes Land aussprechen. Das klang ja zum Teil etwas an. Ich warne davor, weil ich glaube, daß Bitte gehen Sie nicht immer nur von dem aus, was Sie nur mit einer differenzierten Kritik überhaupt Sie gerade sehen, sondern fragen Sie auch einmal diesen Problemen werden naherücken können, nicht nach den Gründen. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, mit pauschalen Verurteilungen, die dort möglicher- daß es auch in Brasilien Schrecken und Entsetzen über weise das Gegenteil dessen bewirken, was Sie woll- diese Vorfälle gegeben hat. Wir sind alle gemeinsam ten. entrüstet. Wir finden die Vorgänge schrecklich. Aber ich darf es noch einmal sagen: Herr Kollege Weiß, mit Ich wundere mich auch bei den Ausführungen Ihren Vorstellungen zu Exportbeschränkungen, die meiner Vorredner, daß nicht ein einziger im Zusam- Sie hier zum Teil erörtert haben, schädigen Sie eine menhang mit den wachsenden Mißständen, die Herr ganze Reihe junger Menschen, die dann nicht mehr Kollege Duve beschrieben hat, mit der wachsenden bei einer deutschen Firma in Sao Paulo arbeiten Sorge, mit der wir das sehen, auf eine sehr wesentliche können, wo sie jetzt Gott sei Dank noch einen Arbeits- Frage zurückgekommen ist — dazu bedürfte es aller- platz finden. Ich beziehe mich dabei nicht auf Ihren dings einer längeren Debatte —, nämlich auf die der Vorschlag — den ich interessant finde —, bei bestimm- ungeheuren Zunahme der Bevölkerung, eine Bevöl- ten Produkten bestimmte Hinweise zu geben, ob kerungsexplosion, die auch die Konrad-Adenauer- Kinderarbeit im Spiel war oder nicht. Ob dieser Stiftung, die Friedrich-Naumann-Stiftung und die Vorschlag — der, wie gesagt, interessant ist — umzu- Friedrich-Ebert-Stiftung mit Projekten nicht abfangen setzen ist, weiß ich nicht. können. Ich sage Ihnen: Die Verhältnisse in Indien, die Bitte seien wir vorsichtig mit einer Politik, die sagt: Verhältnisse in Mexiko bei Geburtenraten von 3,6 % Erstens: Wir sind hier die Hüter der Moral; zweitens: führen dazu, daß Jahr für Jahr Millionen junger Leute Wir treffen Maßnahmen entwicklungspolitischer Art, ohne jede Chance auf einen Arbeitsplatz sind. Das ist die diesen Ländern schaden sollen, wenn sie sich nicht doch der Hintergrund, den wir zur Kenntnis nehmen so verhalten, wie wir das gerne hätten; drittens: Wir müssen. In diesen Ländern gibt es eine Zahl von 50 % brechen möglicherweise auch noch die Beziehungen oder 60 % oder 7 % — — in bezug auf den Handel und auch sonst ab und schädigen sie noch mehr. Das wäre nicht die Lösung (Abg. Freimut Duve [SPD] meldet sich zu der Probleme. einer Zwischenfrage) — Bei einer Debatte mit fünf Minuten Redezeit muß Ich will mich jetzt nicht auf die einzelnen Antwor- man nicht noch Zwischenfragen beantworten, glaube ten, die die Bundesregierung gegeben hat, beziehen, ich, Herr Duve. Wir sehen uns ja ständig, wir disku- kann aber für die Bundesregierung sagen: Wir alle tieren auch diese Fragen ständig. verurteilen diese Vorfälle. Wir halten sie für gräßlich. Wir sehen mit Schrecken schon seit langem, daß Kinder auch die Beute von Kriminellen, von Drogen- händlern werden, die sie zu Überfällen erziehen, und Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schäfer, ich dies insbesondere in den Großstadtzentren in Brasi- habe die Uhr für einen Moment angehalten. Ich lien, in Rio de Janeiro und Sao Paulo und anderswo, mache mich jetzt zum Sprecher für den Kollegen allerdings nicht in ganz Brasilien; es gibt dort im Duve. Ich glaube, er wollte Sie darauf hinweisen, daß Vergleich zu mancher deutschen Stadt auch sehr er sehr wohl von der Bevölkerungsexplosion gespro- friedfertige Städte. Auch das sollten wir zur Kenntnis chen hat. nehmen. Der brasilianische Präsident, auch der Außenmini- ster haben vor der UNO zu diesen Vorfällen in Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen außerordentlich deutlicher Form Stellung genommen. Amt: Ich wollte Herrn Duve, der vielleicht am weite- Es ist inzwischen ein Verfahren gegen die unmittel- sten gereist ist, ja gar nicht angreifen, sondern wollte bar an den Morden Beteiligten eingeleitet worden, nur feststellen: Sie müssen sich auch mit den Ursachen soweit man ihrer habhaft wurde. Auch wird nach etwas intensiver befassen. Das ist dringend erforder- einem Beschluß des Rates zum Schutz der Menschen- lich, wenn — ich sage es nochmals — 60 bis 70 % der rechte in Brasilien vom 4. August die Bundespolizei Bevölkerung in einer Reihe der von Ihnen genannten gezielt gegen die Todesschwadronen eingesetzt. Es Länder unter 18, unter 16 Jahren ist und wenn diese sind wenigstens erkennbare Ansätze da, gegen solche Menschen auch bei den besten Industrialisierungs- grauenhaften Verletzungen der Menschenrechte vor- programmen keine Chance haben, jemals einen zugehen. Arbeitsplatz zu bekommen. Ich darf nochmals sagen: Wir können nicht alle Dann muß man natürlich auch an anderen Institu- Weltprobleme hier lösen. Die Bundesregierung ist bei tionen als nur an brasilianischen ansetzen, und man den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln nicht in der muß die Frage stellen, ob etwa ideologische Vorstel- Lage, allein alle Probleme in allen nur denkbaren Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16089

Staatsminister Helmut Schäfer Ländern der Welt anzugehen, auch nicht die Proble- Vizepräsident Hans Klein: Entschuldigung, Sie kön-- matik der Kinder von Indien bis Brasilien. nen gar keine Frage mehr zulassen. Sie sind schon (Rudolf Bindig [SPD]: Aber sie können uns jenseits Ihrer Redezeit. hier doch einmal bewußt werden!) Sie kann nur in bescheidenem Umfang und im übri- gen mit anderen Ländern zusammen, Herr Kollege Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Bindig, mithelfen, und genau dies tun wir. Wir unter- Amt: Ich bin jenseits meiner Redezeit? — Entschuldi- stützen — das geht aus unserer Antwort auf die Große gung, ich habe Sie mißverstanden. Ich dachte, ich Anfrage hervor — eine Reihe von Projekten, die sich müßte meinem Kollegen Weiß eine Zwischenfrage um die Kinder bemühen. Aber das ist ein Tropfen auf zulassen. Ich biete ihm aber gern an, die Diskussion im den heißen Stein. Wer hier glaubt, durch Große Foyer fortzusetzen. Anfragen die Lösung dieser Probleme durch die Bundesregierung herbeiführen zu wollen, der ist Vielen Dank. — entschuldigen Sie, Herr Kollege Weiß — in einem (Beifall bei der F.D.P. — Dr.-Ing. Dietmar gewissen Sinne auch naiv. Ich muß Ihnen das sagen, Kansy [CDU/CSU]: Dann würde ich lieber in weil ich glaube, daß wir besser daran tun, nach den die Parlamentarische Gesellschaft gehen! — Ursachen zu fragen. Rudolf Bindig [SPD]: Die Rede lag dane- ben!) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schäfer, bevor Sie weiter auf einen Kollegen losgehen: Ihre Redezeit ist ein gutes Stück überschritten. Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe diese wich- tige Aussprache. Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesord- Amt: Von losgehen kann keine Rede sein. Es wird ja nung. völlig unpersönlich, wenn wir uns gegenseitig nicht mehr mit Namen nennen dürfen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf morgen, Freitag, 29. Oktober 1993, (Abg. Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/ 8.30 Uhr, ein. DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi schenfrage) Die Sitzung ist geschlossen. — Bitte. (Schluß der Sitzung: 22.19 Uhr)

Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16091*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Dr. Sperling, Dietrich SPD 28. 10. 93 entschuldigt bis Abgeordneter) Spilker, Karl-Heinz CDU/CSU 28. 10. 93 einschließlich Dr. Frhr. von Stetten, CDU/CSU 28. 10. 93 Barbe, Angelika SPD 28. 10. 93 Wolfgang Baum, Gerhart Rudolf F.D.P. 28. 10. 93 Verheugen, Günter SPD 28. 10. 93 Becker (Nienberge), SPD 28. 10. 93 Welt, Jochen SPD 28. 10. 93 Helmuth Wester, Hildegard SPD 28. 10. 93 Bernrath, Hans Gottf ried SPD 28. 10. 93 Zierer, Benno CDU/CSU 28. 10. 93 ' Dr. Böhme (Unna), Ulrich SPD 28. 10. 93 Brunnhuber, Georg CDU/CSU 28. 10. 93 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Büchler (Hof), H ans SPD 28. 10. 93 * lung des Europarates Büttner (Schönebeck), CDU/CSU 28. 10. 93 Hartmut Dehnel, Wolfgang CDU/CSU 28. 10. 93 Ehrbar, Udo CDU/CSU 28. 10. 93 Anlage 2 Dr. Fischer, Ursula PDS/LL 28. 10. 93 Antwort Friedhoff, Paul F.D.P. 28. 10. 93 des Parl. Staatssekretärs Rainer Funke auf die Frage Gattermann, Hans H. F.D.P. 28. 10. 93 des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Druck- Götz, Peter CDU/CSU 28. 10. 93 sache 12/5962 Frage 18): Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 28. 10. 93 Bis wann ist mit der Einbringung eines Regierungsentwurfs für Habermann, SPD 28. 10. 93 ein Kostenrechtsänderungsgesetz zu rechnen, und wird in dem Frank-Michael Entwurf auch die dringend notwendige Anhebung der Sachver- ständigenentschädigung enthalten sein? Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 28. 10. 93 BÜNDNIS 28. 10. 93 Köppe, Ingrid Die Arbeiten an dem Entwurf eines Kostenrechtsän- 90/DIE derungsgesetzes im Bundesministerium der Justiz GRÜNEN sind abgeschlossen. Er soll in Kürze dem Kabinett zur Kretkowski, Volkmar SPD 28. 10. 93 Beschlußfassung vorgelegt werden. Der Entwurf ent- Dr.-Ing. Laermann, F.D.P. 28. 10. 93 hält auch Vorschläge für Änderungen des Gesetzes Karl-Hans über die Entschädigung von Zeugen und Sachver- Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 28. 10. 93 ständigen. Die Stundensätze für die Sachverständi- Dr. Lehr, Ursula CDU/CSU 28. 10. 93 genentschädigung sollen von bisher 40 bis 70 DM auf 50 bis 100 DM angehoben werden. Dr. Lippold (Offenbach), CDU/CSU 28. 10. 93 Klaus W. Lummer, Heinrich CDU/CSU 28. 10. 93 * Dr. Matterne, Dietmar SPD 28. 10. 93 Meinl, Rudolf Horst CDU/CSU 28. 10. 93 Anlage 3 Dr. Modrow, Hans PDS/LL 28. 10. 93 Antwort Müller (Düsseldorf) SPD 28. 10. 93 des Parl. Staatssekretärs Jürgen Echternach auf die Michael Frage des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner (CDU/ Müller (Pleisweiler), SPD 28. 10. 93 CSU) (Drucksache 12/5962 Frage 20): Albrecht Treffen Meldungen zu, wonach die US-Streitkräfte Soldaten Niggemeier, Horst SPD 28. 10. 93 aus dem Standort Mannheim abziehen und Kasernen freigeben Nitsch, Johannes CDU/CSU 28. 10. 93 wollen? Dr. Ortleb, Rainer F.D.P. 28. 10. 93 Dr. Ramsauer, Peter CDU/CSU 28. 10. 93 Nach der letzten von den amerikanischen Streit- kräften veröffentlichten Freigabeliste (Stand: 22. Ok- Rixe, Günter SPD 28. 10. 93 tober 1993) sind in Mannheim in naher Zukunft keine Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 28. 10. 93 Liegenschaftsfreigaben vorgesehen. Ingrid Nach Angaben der Amerikanischen Botschaft wird Schell, Manfred CDU/CSU 28. 10. 93 zwar die 3. Brigade der 1. Panzerdivision bis Septem- Schütz, Dietmar SPD 28. 10. 93 ber 1994 aus Mannheim abgezogen, an eine Freigabe Schuster, Hans F.D.P. 28. 10. 93 von Kasernen wird jedoch nicht gedacht. Die freiwer- Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 28. 10. 93 denden Gebäude sollen von derzeit außerhalb statio- Christian nierten Einheiten wieder belegt werden. 16092* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Anlage 4 nischen Zivilbeschäftigten für die gleiche Tätigkeit,- Antwort mit den gleichen Stellenbeschreibungen und identi- schem Anforderungsprofil, allerdings mit anderen des Parl. Staatssekretärs Jürgen Echternach auf die Stellennummern, gedeckt werden soll. Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksache 12/5962 Frage 21): Zu Frage 23: Treffen Presseberichte zu, nach denen entgegen der schriftli- chen Mitteilung des Bundesministers der Finanzen auf der US-Mülldeponie Harderbühl in der Oberpfalz auf Anordnung Der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß sich in der US-Army in Grafenwöhr tausende PCP-verseuchte Muni- den letzten Jahren das Verhältnis zwischen örtlichen tionskisten verbrannt wurden, und welche Maßnahmen wird die Arbeitnehmern und Arbeitnehmern mit der Staatsan- Bundesregierung ergreifen, um die örtliche Bevölkerung vor den gehörigkeit des jeweiligen Entsendestaates zu Lasten von dieser dioxinverseuchten Altlast ausgehenden Gesund- heitsgefährdungen zu schützen und die Verantwortlichen zur der örtlichen Arbeitnehmer verschoben hat, wenn Rechenschaft zu ziehen? man von unwesentlichen Änderungen, die es im Einzelfall geben mag, absieht. Die US-Streitkräfte haben am 25. Oktober 1993 bestätigt, daß weder auf der Mülldeponie „Vorderer Haderbühl" noch auf anderen Standorten des Trup- penübungsplatzes Grafenwöhr PCP-belastete Muni- tionskisten verbrannt worden sind. Insofern stellt sich die Frage nach weiteren Maßnahmen der Bundes- regierung nicht. Anlage 6 Antwort

des Parl. Staatssekretärs Jürgen Echternach auf die Frage der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard-Schmid (SPD) (Drucksache 12/5962 Frage 24): Anlage 5 Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung unternehmen, Antwort um zu einer raschen Klärung der Altlastensituation auf den rund 241 rheinland-pfälzischen militärischen Liegenschaften zu des Parl. Staatssekretärs Jürgen Echternach auf die gelangen, die freigegeben worden sind, bzw. zur Freigabe Fragen des Abgeordneten Albrecht Müller (Pleiswei- anstehen, und wie bewertet die Bundesregierung ein Rechtsgut- ler) (SPD) (Drucksache 12/5962 Fragen 22 und 23): achten des Landes Rheinland-Pfalz, das den Bundesbehörden eine „uneingeschränkte Zustandsverantwortlichkeit" bei der Ist der Bundesregierung bekannt, daß im US-Hospital Land- Erforschung und Beseitigung von Umweltverseuchungen auf stuhl rund 170 Stellen von deutschen Zivilbeschäftigten gestri- geräumten militärischen Liegenschaften zuweist? chen wurden, obwohl weiterhin nachweislich ein Bedarf an zivilen Arbeitskräften besteht, und daß dieser Bedarf zu Lasten des Arbeitsmarktes in der Westpfalz sukzessive mit US-ameri- Soweit militärisch genutzte Liegenschaften noch kanischen Zivilbeschäftigten nunmehr für die gleiche Tätigkeit, mit den gleichen Stellenbeschreibungen und identischem nicht freigegeben worden sind, sind die Streitkräfte Anforderungsprofil, allerdings mit anderen Stellennummern für deren Zustand verantwortlich. Sie sind nach den gedeckt wird, und wie bewertet die Bundesregierung diesen getroffenen völkerrechtlichen Vereinbarungen ver- Vorgang auf dem Hintergrund der Vereinbarungen und des pflichtet, bei der Benutzung der Liegenschaften das Geistes der Vereinbarungen, die mit den Alliierten ge troffen sind? deutsche Recht zu achten. Hierzu zählt auch die Einhaltung der umweltrechtlichen Bestimmungen. Sind der Bundesregierung ähnliche Vorgänge in anderen Dienststellen der alliierten Streitkräfte bekannt, und was Die für den Vollzug der Umweltgesetze zuständigen gedenkt die Bundesregierung gegen diese und ähnliche Ver- Landesbehörden können auch auf den von den Streit- schiebungen zu Lasten der deutschen Zivilbeschäftigten zu kräften genutzten Liegenschaften tätig werden. Erfor- unternehmen? derlichenfalls vermitteln ihnen die Dienststellen der Bundesvermögensverwaltung den Zutritt. Zu Frage 22: Die Landesbehörden haben davon in der Vergan- Der Bundesregierung ist bekannt, daß nach der genheit in großem Umfang Gebrauch gemacht. Pro- Umstrukturierung der US-Armee, die bis September bleme in diesem Zusammenhang gab und gibt es 1994 durchgeführt werden so ll, die Zahl der Stellen für nicht. örtliche Arbeitnehmer im General Hospital Landstuhl Auf den freigegebenen Liegenschaften können die von 170 auf 181 erhöht werden soll. zuständigen Landesbehörden im Benehmen mit den Aufgrund dieser Informationen kann davon ausge- Dienststellen der Bundesvermögensverwaltung die gangen werden, daß sich für die dort beschäftigten erforderlichen Maßnahmen zur Erfüllung ihrer Aufga- örtlichen Arbeitnehmer keine wesentlichen Änderun ben treffen. Auch hier gibt es keine Probleme. Die gen ergeben werden. Bundesvermögensverwaltung arbeitet hier eng und vertrauensvoll mit den zuständigen Landesdienststel- Die Bundesregierung hat demgemäß keinen Anlaß len zusammen. anzunehmen, daß der Bedarf an zivilen Arbeitneh- mern im US-Hospital Landstuhl zu Lasten des Arbeits- Bei dem von Ihnen angesprochenen Rechtsgutach- marktes in der Westpfalz sukzessive mit US-amerika- ten gehe ich davon aus, Sie meinen das von Prof. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16093*

Kloepfer, Trier, im Auftrag des Umweltministeriums Anlage 7 des Landes Rheinland-Pfalz erstellte Gutachten vom Antwort Dezember 1992 mit Ergänzung vom Februar 1993, „Sanierung militärischer Altlasten". Ein an- des Parl. Staatssekretärs Jürgen Echternach auf die deres Rechtsgutachten des L andes Rheinland-Pfalz Fragen des Abgeordneten Manfred Hampel (SPD) ist der Bundesregierung zu dieser Frage nicht be- (Drucksache 12/5962 Fragen 25 und 26): kannt. Aufgrund welcher gesetzlichen Grundlagen war die Treu- handanstalt ermächtigt (vgl. Pressemitteilung der Treuhandan- In dem 78 Seiten umfassenden Gutachten hat Prof. stalt vom 15. Oktober 1993), mit der Thyssen Handel Berlin einen Kloepfer die rechtliche Verpflichtung des Grund- Geschäftsbesorgungsvertrag mit dem Ziel der Abwicklung stückseigentümers Bund zur Durchführung und abzuschließen? Kostenübernahme der erforderlichen Gefahrerfor- Auf welcher gesetzlichen Ermächtigung beruht die Verein- schungs- und Sanierungsmaßnahmen untersucht. Des barung einer Gewinnbeteiligung, insbesondere einer Gewinn- weiteren nimmt er zur Frage der Zulässigkeit von beteiligung von 25 %? Verwaltungszwangsmaßnahmen der Landesbehör- den gegenüber dem Bund für den hypothetischen Fall Stellung, daß der Bund seinen Verpflichtungen zur Zu Frage 25: Gefahrenbeseitigung im Zusammenhang mit militäri- schen Altlasten nicht nachkäme. Der ehemalige „volkseigene Binnen- und Außen- handelsbetrieb Metallurgiehandel" wurde am 21. Juni 1990 in die Metallurgiehandel GmbH umge- Das Gutachten bestätigt zur Frage der Zustandsver- wandelt. Die THA wurde damit gem. § 1 Abs. 4 des antwortlichkeit des Bundes für die ihm gehörenden Treuhandgesetzes Inhaberin der Anteile der Metall- Liegenschaften die hierzu vertretene Rechtsauffas- urgiehandel GmbH. sung des Bundes in eindrucksvoller Weise. Ich darf in diesem Zusammenhang aus der Zusammenfassung Da die Metallurgiehandel GmbH in bestimmten des Gutachtens (Seite 68 ff.) zitieren: Teilen auch als Außenhandelsbetrieb tätig war, waren die bis zur Aufhebung des Außenhandels- und Valu- tamonopols am 1. Juli 1990 noch bestehenden Forde- Der Bund kommt als Zustandsverantwortlicher rungen und Verbindlichkeiten gem. Art. 24 Eini- aufgrund des Eigentumes an den Liegenschaften gungsvertrag auf Weisung und unter Aufsicht des in Betracht. Diese Verantwortlichkeit ist nicht Bundesministers der Finanzen abzuwickeln. durch eigentumsrechtliche Gesichtspunkte ein- geschränkt. Der Umfang der den Bund treffen- Die Treuhandanstalt konnte im Rahmen ihres den, aus seiner Zustandsverantwortlichkeit fol- pflichtgemäßen Ermessens Abwicklungsaufgaben genden Verantwortlichkeit ist auf Maßnahmen auch geeigneten Dritten im Rahmen eines Geschäfts- der Gefahrenabwehr beschränkt. besorgungsvertrages übertragen. Hierzu bedurfte es der Zustimmung des BMF. Gefahrerforschung kann erst dann verlangt wer- den, wenn objektiv eine Gefahr besteht. Eine rechtliche Pflicht des Bundes zur systematischen Zu Frage 26: Untersuchung aller Liegenschaften besteht daher Aufgrund ihrer Stellung als Eigentümerin kann die nicht. Das Land hat die Kosten der systematischen Treuhandanstalt zur Erfüllung ihrer Aufgaben Ver- Untersuchung der Grundstücke zu tragen, ausge- träge mit Dritten abschließen. Hierbei finden die nommen, es bestätigt sich das Bestehen einer entsprechenden gesellschafts- und handelsrechtli- Gefahr. chen Vorschriften Anwendung. Die Treuhandanstalt hat dabei die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns Genau dies hat der Bund zu diesen Fragen immer zu wahren. Im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermes- wieder betont. sens kann deshalb die Treuhandanstalt auch Verträge mit Gewinnbeteiligung abschließen, wenn sie wirt- schaftlich sinnvoll und vertretbar sind. Dort also, wo von bundeseigenen Liegenschaften eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ord- nung im polizeirechtlichen Sinne ausgeht, kommt der Bund seinen Verpflichtungen als Grundstückseigen- tümer zur Gefahrenbeseitigung in vollem Umfang nach. Der Bund ist hier zu behandeln wie jeder andere Grundstückseigentümer. Seine diesbezüglichen Ver- pflichtungen hat er auch nie in Frage gestellt. Die systematische und flächendeckende Untersuchung Anlage 8 von militärisch genutzten Grundstücken auf evtl. Antwort Altlasten hat der Bund stets abgelehnt. Eine solche Verpflichtung besteht für ihn nicht. Solche Untersu- des Parl. Staatssekretärs Dr. Heinrich L. Kolb auf die chungen wären für den Bund weder technisch mach- Frage des Abgeordneten Martin Göttsching (CDU/ bar noch finanzierbar. CSU) (Drucksache 12/5962 Frage 27): 16094* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die Rechtsein- Berücksichtigung auch der wirtschaftlichen Aspekte heit bei grundeigenen Bodenschätzen herzustellen, nachdem geht PROGNOS jedoch nur von einer Verdopplung die betroffene Regelung im Einigungsvertrag zu einer unter- schiedlichen Zuordnung der Steine- und Erden-Bodenschätze in der gegenwärtigen Geothermienutzung bis 2005 aus. den alten und neuen Bundesländern geführt hat und in diesem Damit läßt sich der heutige Anteil der erneuerbaren Zusammenhang bei der zur Zeit geltenden Regelung für berg- Energien am Primärenergieverbrauch von 2 % nicht freie Bodenschätze die Grundeigentümer im Osten Deutsch- lands schlechtergestellt werden als die im Westen Deutschlands meßbar steigern. und somit durch die Festlegung unterschiedlicher Bestimmun- gen im Bergrecht der neuen Bundesländer gegen das Gebot der Die Gründe dafür liegen in den hohen Kosten für die Gleichbehandlung nach Artikel 3 des Grundgesetzes verstoßen Bohrungen, in Norddeutschland zusätzlich für die wird? Beherrschung der Salzlast der Schichtwässer. Wenn die derzeitigen verhältnismäßig niedrigen Preise der Konkurrenzenergieträger Heizöl und Erdgas anhal- Die unterschiedliche Regelung stellt keinen Verstoß ten, ist deshalb für die Geothermie mittelfristig keine gegen das Gleichbehandlungsgebot des Artikel 3 des Wirtschaftlichkeit zu erwarten. Grundgesetzes dar. Sie ist gerechtfertigt durch die besondere Situation in den neuen Bundesländern und die außerordentliche volkswirtschaftliche Bedeutung Zu Frage 29: der genannten Rohstoffe als Produktionsgrundlage der ostdeutschen Bauwirtschaft und damit für den Die Bundesregierung ist insbesondere wegen der Aufschwung Ost insgesamt. Das hat das Bundesver- ökologischen Vorteile der Geothermie an einer mög- waltungsgericht in dem kürzlich ergangenen Grund- lichst weitgehenden Nutzung der vorhandenen satzurteil vom 24. Juni 1993 ausdrücklich bestätigt. Im hydrothermalen Vorkommen in Deutschland interes- Interesse des schnellen Aufbaus der neuen Bundes- siert, soweit dies wirtschaftlich vertretbar ist. Die länder und erfolgreicher Investitionen sollte die beste- Bundesregierung unterstützt den Erhalt des Know- hende Regelung im Einigungsvertrag nicht geändert hows in den vorhandenen geothermischen Anlagen werden. und die weitere Verbesserung der Technik, wie z. B. durch die Mitfinanzierung des Pilotprojekts Neustadt- Glewe in den neuen Bundesländern (voraussichtliche geothermische Leistung 6,5 MWth, BMFT-Förderung 5,1 Mio. DM). Darüber hinaus prüft die Bundesregie- rung gegenwärtig unter den Bedingungen der knap- pen Haushaltsmittel, ob sie notwendige Sanierungen an vorhandenen geothermischen Heizzentralen und ggf. ein neues Forschungsprojekt unterstützen Anlage 9 kann. Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Heinrich L. Kolb auf die Fragen des Abgeordneten Klaus Harries (CDU/CSU) (Drucksache 12/5962 Fragen 28 und 29):

Wie beurteilt die Bundesregierung die Nutzung von Erd- Anlage 10 wärme in der Zukunft, und um wieviel Prozent könnte der Anteil regenerativer Energiequellen durch eine verstärkte Nutzung Antwort der Erdwärme bis zum Jahre 2005 erhöht werden? des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Frage des Ist die Bundesregierung bereit, weitere Geothermie-Heiz- werke finanziell zu fördern? Abgeordneten Rudolf Bindig (SPD) (Drucksache 12/ 5962 Frage 30):

Wird die Bundesregierung, nachdem sie im Geschäftsbereich Zu Frage 28: des Bundesministers der Verteidigung (Haushaltsentwurf 1994, Einzelplan 14, Titel 547 01) 250 Mio. DM für Maßnahmen der Bundeswehr im Zusammenhang mit internationalen humanitä- Die geothermische Energie in Tiefenwässern (hy- ren Hilfsmaßnahmen eingestellt hat, die Kosten für solche drothermale Energie) ist eine standortgebundene Maßnahmen diesem Titel entnehmen oder werden auch künftig erneuerbare Energiequelle von lokaler und regionaler Forderungen zur Erstattung von Leistungen der Bundeswehr im Bedeutung. In Deutschland ist sie auf Grund der humanitären Bereich an das Auswärtige Amt gerichtet, dessen Titel für humanitäre Hilfsmaßnahmen im Ausland außerhalb der geologischen Voraussetzungen auf das Norddeutsche Entwicklungshilfe (Einzelplan 05, Titel 686 12) sich für das Jahr Becken, den Oberrheingraben und das süddeutsche 1994 nach derzeitigem Stand auf 85 Mio. DM belaufen wird? Molassebecken konzentriert. Die bisherige Nutzung hydrothermaler Wässer mit einer Leistung von ca. 30 MW verteilt sich zu ca. 2/3 auf Mecklenburg- Bei Kapitel 1403 Titel 547 01 sind nur die interna- Vorpommern und 1/3 auf Süddeutschland und dient tionalen Hilfsmaßnahmen der Bundeswehr veran- der Wohnraumheizung und der Warmwasserversor- schlagt, die auf Anforderung der VN, WEU und der gung, auch in Heilbädern. NATO auf Beschluß der Bundesregierung durchge- führt werden und die im Haushalt 1993 noch im Nach Meinung von Experten existiert in Deutsch- Einzelplan 60 veranschlagt waren. Dies sind zur Zeit land ein technisches Potential von ca. 300 MW. Unter die Einsätze in Somalia, Kambodscha, im Irak und in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16095*

4. Im ehemaligen Jugoslawien unterstützt die Bun- Bosnien-Herzegowina sowie der Einsatz zur Überwa- - chung des Adriaembargos. Kosten für andere Hilfs- deswehr im Rahmen humanitärer Einsätze fol- maßnahmen der Bundeswehr werden bei diesem neu gende Maßnahmen: eingerichteten Titel nicht verbucht. — Ost-Bosnien (Abwürfe von Medikamenten und Bei den sonstigen humanitären Hilfmaßnahmen, Nahrungsmitteln aus Flugzeugen der Luft- z. B. auf Beschluß der Bundesregierung oder auf waffe; sogenannte „AIRDROP"), Initiative des Auswärtigen Amtes, bleibt es bei dem bisherigen Verfahren: Bei humanitären Maßnahmen, — Sarajevo (Hilfsflüge). die im Einzelplan 05 Titel 686 12 veranschlagt sind, Für humanitäre Hilfe im früheren Jugoslawien werden auch weiterhin Erstattungen der im Bereich werden bis Ende 1993 Kosten in Höhe von voraus- des Bundesministeriums der Verteidigung angefalle- sichtlich DM 480,1 Millionen entstehen. nen Kosten gefordert werden, wie z. B. für Lebensmit- telspenden, Einsatz von Material und Personal in Hierin sind enthalten: Erdbebengebieten und dergleichen. — Kosten für die Einsätze Soweit für Hilfsmaßnahmen Mittel im Einzelplan 05 der Bundeswehr 42,1 Millionen DM nicht zur Verfügung stehen, kann das Bundesministe- rium der Verteidigung wie bisher auch künftig nach — Soforthilfe (ab Juli 1991) 153,0 Millionen DM einem entsprechenden Beschluß der Bundesregie- — Deutscher Anteil an der rung im Einzelfall Hilfe unter Verzicht auf Kosten- EG-Hilfe (ab Juli 1991) 285,0 Millionen DM erstattung leisten. Diese Aufstellung berücksichtigt nicht die Kosten für die Embargoüberwachung und die AWACS Einsätze.

Anlage 11 Antwort des Parl. Staatssekretärs Be rnd Wilz auf die Frage des Anlage 12 Abgeordneten Dr. Klaus Kübler (SPD) (Drucksache Antwort 12/5962 Frage 31):

Wie hoch sind nach Erkenntnis der Bundesregierung die des Parl. Staatssekretärs Bernd Wilz auf die Fragen Kosten für den Bundeswehreinsatz in Somalia von Beginn an bis des Abgeordneten Simon Wittmann (Tännesberg) zum voraussichtlichen Ende im Ap ril 1994, und wie hoch sind die (CDU/CSU) (Drucksache 12/5962 Fragen 32 und Kosten für die humanitäre Hilfe in den einzelnen Ländern des 33): ehemaligen Jugoslawien für den gleichen Zeitraum? In welchen Kreiswehrersatzämtern beabsichtigt die Bundes- regierung das neue EDV-Programm WEBIS II einzuführen, und 1. Die Kostenermittlung für Somalia und das Gebiet welche Ziele verfolgt die Bundesregierung damit? des ehemaligen Jugoslawiens bezieht sich auf von Treffen Gerüchte zu, daß ca. 30 bis 35 Kreiswehrersatzämter der Bundesregierung geleistete Unterstützungen aufgelöst werden sollen mit dem Ziel, daß in Bayern nur mehr ein bis Ende 1993. Darüber hinausgehende Kosten- Amt pro Regierungsbezirk bestehen bleibt, und welche Auswir- schätzungen in das Jahr 1994 hinein sind zum kungen hat dies auf das Kreiswehrersatzamt Weiden? gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. 2. Vor Beginn der UNOSOM II-Mission entstanden Zu Frage 32: für humanitäre Bundeswehreinsätze in Somalia im Es ist beabsichtigt, alle Kreiswehrersatzämter mit Rahmen der sogenannten „Hungerhilfe" — das dem Datenverarbeitungsverfahren WEWIS II (Wehr- waren Hilfsflüge der Luftwaffe von Mombasa/ ersatz-Informationssystem) auszustatten. Mit der Ein- Kenia nach Somalia zur Nahrungsmittelversor- führung von WEWIS II werden insbesondere folgende gung — Kosten von insgesamt DM 34,1 Mil lionen Ziele verfolgt: für den Zeitraum Juni 1992 bis März 1993. — Aufbau eines Datenverbundes mit der Truppe 3. Für die Operation UNOSOM II von Mai 1993 bis Ende 1993 fallen der Bundesregierung insgesamt — Reduzierung der manuellen Tätigkeiten in den Kosten in Höhe von voraussichtlich DM 362,4 Kreiswehrersatzämtern (z. B. Aktenführung, Ar- Millionen an. chivierung, Statistiken, Botengänge) Hierin sind enthalten: — Datenverarbeitungsunterstützung aller bisher — Kosten für die Einsätze noch nicht mit Datenverarbeitung ausgerüsteten der Bundeswehr 229,6 Millionen DM Fach- und Sachgebiete der Kreiswehrersatzäm- ter — Soforthilfe 79,0 Millionen DM — Wesentliche Verbesserung der statistischen Aus- — Deutscher Anteil an wertungen für Planungs- und Führungsaufgaben der EG-Hilfe 53,8 Millionen DM im Bundesministerium der Verteidigung 16096* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

— Einsparung von Sachausgaben (z. B. Wegfall von besondere wirtschaftliche Bedeutung für das Land Formularbevorratungen, Wegfall der Aufberei- Mecklenburg-Vorpommern sowie die Stadt Rostock tung von Datenverarbeitungslisten, Einsparung hat. von Büromaterial) Deshalb hat der Bundesminister der Verteidigung — Qualitative Verbesserung der Arbeitsergebnisse in bereits im Frühjahr 1991 einer zivilen Mitnutzung des den Kreiswehrersatzämtern Flugplatzes Laage zugestimmt. Im Januar 1992 wurde Die durch WEWIS II bedingten Änderungen, Opti- mit dem zivilen Betreiber, der Laage-Kronskamp mierungen und der Wegfall von Arbeitsabläufen GmbH, ein Mitbenutzungsvertrag abgeschlossen, der schaffen die Rahmenbedingungen für eine Neuorga- zivilen Flugverkehr während der veröffentlichten nisation der Kreiswehrersatzämter. Dadurch werden militärischen Betriebs- und Öffnungszeiten des Platzes ermöglicht. Diese Öffnungszeiten sind derzeit die Arbeitsabläufe beschleunigt, die Arbeitsergeb- wie folgt festgelegt: nisse zeitnaher verfügbar, die Arbeit selbst effektiver gestaltet, so daß bundesweit Rationalisierungsergeb- Montag bis Donnerstag: 08.00 bis 12.00 Uhr nisse erreicht werden. Diese können allerdings erst nach Abschluß der Einführung von WEWIS II konkre- und: 13.30 bis 22.00 Uhr tisiert werden. Freitag: 08.00 bis 12.00 Uhr

Zu Frage 33: Zusätzlich hat der Bundesminister der Verteidigung Eine im Bundesministerium der Verteidigung ein- auf Antrag des Bundesministers für Post und Telekom- gesetzte unabhängige Arbeitsgruppe untersucht der- munikation für eine Übergangszeit bis Ende 1996 zeit, ob die heutigen S trukturen der Wehrverwaltung unter Hintanstellung rechtlicher Bedenken folgende noch den Anforderungen entsprechen. In diesem nächtliche Flugbewegungen für Nachtflugpostflüge Zusammenhang wird auch die Wehrersatzorganisa- der Deutschen Bundespost-Postdienst für den Flug- tion insgesamt überprüft. Der Bericht der Arbeits- platz Laage genehmigt: gruppe muß, nachdem er vorgelegt ist, eingehend Montag bis Freitag: Start um ca. 23.00 Uhr analysiert und bewertet werden. Er dient der Vorbe- reitung einer Entscheidung des Ministeriums. Zur Zeit Dienstag bis Samstag: Landung um ca. 02.45 Uhr sind Aussagen über die künftige Anzahl der Kreis- wehrersatzämter nicht möglich. Inwieweit das Kreis- wehrersatzamt Weiden von einer möglichen Neuor- ganisation betroffen sein könnte, kann im Moment Zu Frage 35: ebenfalls nicht gesagt werden. Derzeit gibt es jeden- Der Bundesminister der Verteidigung hat unter falls seitens der Wehrbereichsverwaltung VI und Hintanstellung rechtlicher Bedenken dem Antrag des seitens des Ministeriums keine Überlegungen zur Bundesministers für Post- und Telekommunikation Auflösung des Kreiswehrersatzamtes Weiden. zugestimmt, zwei nächtliche Flugbewegungen für Nachtluftpostflüge außerhalb der veröffentlichten Öffnungs- und Betriebszeiten des Flugplatzes Laage zuzulassen.

Mit dieser Lösung kann aus Sicht der Bundesregie- Anlage 13 rung eine geordnete Postversorgung des L andes Mecklenburg-Vorpommern sichergestellt werden. Antwort Einer erweiterten zeitlichen Nutzung des Flugplat- des Parl. Staatssekretärs Be rnd Wilz auf die Fragen zes für zivilen Flugverkehr — insbesondere am der Abgeordneten Dr. Christine Lucyga (SPD) Wochenende — stehen rechtliche Gründe entge- (Drucksache 12/5962 Fragen 34 und 35): gen. Ist der Bundesregierung bekannt, daß eine bedarfsgerechte zivile Mitnutzung des Militärflugplatzes Laage-Kronskamp ein Nach den derzeit geltenden rechtlichen Bestim- unverzichtbares Muß für die wirtschaftliche Entwicklung Meck- mungen dürfen Soldaten nur im Rahmen des verfas- lenburg-Vorpommems ist, und welche Bemühungen hat die Bundesregierung bisher unternommen, um hier zu einer an den sungsmäßigen Auftrages der Streitkräfte eingesetzt praktischen Notwendigkeiten der Region Rostock/Güstrow aus- werden. Der Einsatz von militärischem Flugsiche- gerichteten Konsenslösung zu kommen? rungspersonal zur Abwicklung von ausschließlich Ist die Bundesregierung bereit, sich für eine Sonderregelung privatem und kommerziellem Flugverkehr außerhalb hinsichtlich der zivilen Mitnutzung des Flugplatzes Laage- der für militärische Belange notwendigen und veröf- Kronskamp einzusetzen, um die immer noch nicht gelösten fentlichten Betriebs- und Öffnungszeiten verbietet Probleme für den zivilen Wochenendbetrieb und den Nachtflug- sich damit. postverkehr endlich einer befriedigenden Lösung zuzuführen? Das Bundesministerium der Verteidigung überprüft Zu Frage 34: jedoch gegenwärtig nochmals, ob es rechtlich vertret- bar und unter Berücksichtigung militärischer Belange Der Bundesregierung ist bekannt, daß eine zivile durchführbar ist, mit Hilfe von Zivilpersonal zivilen Mitnutzung des militärischen Flugplatzes Laage eine Flugverkehr außerhalb der derzeit veröffentlichten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16097*

Betriebs- und Öffnungszeiten des Flugplatzes den- Welche Maßnahmen erwägt die Bundesregierung, um diese einseitige Belastung der Inselbewohner, die nicht auf jeder Insel noch zu ermöglichen. die entsprechenden Fachärzte aufsuchen können und dies zumeist während ihrer Arbeitszeit tun müssen, zu mildern?

Zu Frage 40:

Anlage 14 Durch das Gesundheitsreformgesetz 1989 wurde in § 60 SGB V die Übernahme von Fahrkosten durch die Antwort Krankenkassen geregelt. Die Kosten für Fahrten zur des Parl. Staatssekretärs Be rnd Wilz auf die Frage der ambulanten Behandlung werden danach grundsätz- Abgeordneten Dr. Elke Leonhard-Schmid (SPD) lich nicht übernommen. Mit dem Gesundheitsstruk- (Drucksache 12/5962 Frage 36): turgesetz 1993 wurde in § 60 Abs. 2 Nr. 4 SGB V eine Neuregelung geschaffen, nach der die Kosten für Wie bewertet die Bundesregierung eine Reihe von verlorenen Fahrten zu einer ambulanten Krankenbehandlung Prozessen des Bundes in Sachen Fluglärm-Entschädigung, und mit welchen rationalen Argumenten erklärt die Bundesregie- sowie zu einer vor- oder nachstationären Behandlung rung die anhaltend ungeklärte Situation der Schadensersatzan- oder einer ambulanten Operation im Krankenhaus sprüche von fluglärmgeschädigten Bürgern? übernommen werden, wenn dadurch eine an sich gebotene stationäre oder teilstationäre Krankenhaus- behandlung vermieden oder verkürzt wird. Mit der Entscheidung vom 30. Januar 1986 hat der Bundesgerichtshof dem Anrainer eines militärischen Im übrigen gewährleisten die geltenden Härtefall- Flugplatzes dem Grunde nach eine Entschädigung regelungen des § 61 und § 62 SGB V, daß die Bela- wegen der Wertminderung seines Wohngrundstückes stung aller Versicherten — also auch der Inselbewoh- durch Fluglärm zugesprochen. Auf Grund dieser Ent- ner — mit Fahrkosten in sozial vertretbaren Grenzen scheidung hat sich die Bundesregierung entschlossen, gehalten wird. Versicherte, deren Einnahmen zum alle Eigentümer von Wohngebäuden an Strahlflug- Lebensunterhalt eine bestimmte Grenze unterschrei- plätzen der Streitkräfte mit vergleichbarer und bis zu ten, sind von Fahrkosten vollständig befreit. Die einer um 4,5 Dezibel (A) geringeren Lärmbelastung Einkommensgrenze für die vollständige Befreiung auf Antrag zu entschädigen. Die Grenze einer so liegt z. B. bei einem Ehepaar mit zwei Kindern in 1993 festgelegten Entschädigungszone liegt bei einem in den alten Bundesländern bei 2 782,— DM monat- Äquivalenten (d. h. täglichen, durchschnittlichen) lich. Wer die Einkommensgrenze für die vollständige Dauerschallpegel von 77 Dezibel (A), zuzüglich min- Befreiung überschreitet, hat Belastungen aus allen destens 20 Spitzenschallpegeln von 100 Dezibel (A) berücksichtigungsfähigen Zuzahlungen — auch pro Tag. Die Kosten für diese Entschädigungsleistun- Fahrkosten — bis zu maximal 2 Prozent bzw. bei höher gen an den rund 30 Militärflugplätzen werden auf ca. Verdienenden bis zu maximal 4 Prozent seiner Brut- 80 Millionen DM veranschlagt. toeinnahmen zum Lebensunterhalt zu tragen. Daher Mit einer weiteren Entscheidung vom 25. März 1993 werden Inselbewohner nicht stärker belastet als alle stellt der Bundesgerichtshof dem Grunde nach fest, anderen Versicherten, die größere Anfahrtswege zu daß auch einem Eigentümer, dessen Wohngrundstück Fachärzten oder zum Krankenhaus haben. weiter entfernt liegt und deshalb einer geringeren Lärmbelastung ausgesetzt ist, eine Entschädigung zustehen kann. Zu Frage 41: Die Auswirkungen dieser Entscheidung des Bun- Unter Bezugnahme auf meine Ausführungen zur desgerichtshofes für die Bundesrepublik Deutschland Frage 6 halte ich eine Ausnahmeregelung zu Gunsten und die Träger der Verkehrsflughäfen werden z. Z. der Inselbewohner für nicht gerechtfertigt. Denn von der Bundesregierung überprüft. Mit einem Ergeb- durch eine Befreiung von den Fahrkosten über die nis ist nicht vor Jahresende zu rechnen. geltenden Härtefallregelungen hinaus würden die Inselbewohner im Verhältnis zu allen übrigen ver- gleichbaren Versicherten — z. B. in ländlichen Gebie- ten — einseitig begünstigt. Wie bereits in meiner Antwort auf die schriftlichen Fragen der Abgeordne- ten Iwersen im Dezember 1991 kann ich eine Ände- Anlage 15 rung der dargelegten Rechtslage auch weiterhin nicht in Aussicht stellen. Antwort Im übrigen weise ich — wie in meiner früheren der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl Antwort — nochmals darauf hin, daß nach Auffassung auf die Fragen des Abgeordneten Hermann Haack der Kassenärztlichen Vereinigungen Niedersachsens (Extertal) (SPD) (Drucksache 12/5962 Fragen 40 und Schleswig-Holsteins, die auch von der Kas- und 41): senärztlichen Bundesvereinigung geteilt wird, die Wie bewertet die Bundesregierung Klagen, daß die Inselbe- ärztliche Versorgung auf den Nordseeinseln gewähr- wohner durch die Regelung des Gesundheitsreformgesetzes — leistet ist. Die Tatsache, daß nicht immer ein entspre- nach der Fahrtkosten zu ambulanten Fachärzten weitgehend chender Facharzt in unmittelbarer Nähe zu erreichen selbst getragen werden müssen (§ 60 SGB V) — durch die Insellage übermäßig belastet werden — trotz geltender Härte- ist, gilt auch für andere, z. B. ländliche, Gebiete der fall- und Überforderungsregelung? Bundesrepublik. 16098* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Anlage 16 Der Bundesregierung ist aus Presseveröffentlichun- Antwort gen bekannt, daß das Arzneimittel Fiblaferon der Firma Rentschler von Ärzten im Rahmen der vertrags- der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl ärztlichen Versorgung zu Lasten der gesetzlichen auf die Frage der Abgeordneten Christa Lörcher Krankenversicherung für Anwendungsgebiete ver- (SPD) (Drucksache 12/5962 Frage 42): ordnet worden sein soll, für die es nach dem Arznei- Was hat die Bundesregierung zu der Aussage (vgl. Sozial- mittelgesetz nicht zugelassen ist. politische Umschau Nr. 448/1993 vom 4. Oktober 1993, S. 2) veranlaßt, daß viele betagte Patienten — schätzungsweise bis zu Der Bundesregierung liegen derzeit noch keine 40 % der sogenannten Pflegefälle — der Krankenhausaufenthalt gesicherten Erkenntnisse vor, ob es sich hierbei um deutlich verkürzt werden könnte, wenn sie eine angemessene Behandlung erhielten? Verordnungen im Rahmen der klinischen Erprobung gehandelt hat mit der Folge, daß die Verordnungen Einige wesentliche Ergebnisse des Ersten Altenbe- nicht zu Lasten der Krankenkassen hätten erfolgen richts der Bundesregierung sind in der Sozialpoliti- dürfen, oder ob dieses Mittel in austherapierten Ein- schen Umschau veröffentlicht worden, unter anderem zelfällen angewendet worden ist, in denen nach der folgende Feststellungen: Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch nicht Etwa 40 Prozent aller Pflegetage in den Kranken- zugelassene Arzneimittel unter bestimmten Bedin- häusern entfallen auf über 65jährige Patienten. Ein gungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversiche- Fünftel dieser Altersgruppe wird zumindest einmal im rung verordnet werden dürfen. Deshalb hat sie nach Jahr stationär aufgenommen. Die durchschnittliche dem ersten Bekanntwerden der Vorgänge die Spit- Verweildauer in den Krankenhäusern liegt mit 25 Ta- zenverbände der Krankenkassen hierzu um Stellung- gen und mehr überproportional hoch. Dabei könnte nahme gebeten. Sobald diese Stellungnahmen vorlie- für viele betagte Patienten — schätzungsweise für bis gen, werde ich Sie über das Ergebnis und das weitere zu 40 Prozent der sogenannten Pflegefälle — der Verfahren unterrichten. Krankenhausaufenthalt deutlich verkürzt werden, wenn sie eine angemessene Behandlung erhielten. Sollte sich der Verdacht einer ungerechtfertigten Kostenübernahme durch die Krankenkassen bestäti- Grundlage war der Bericht der Sachverständigen- gen, wäre es Aufgabe der Krankenkassen, über die kommission (s. S. 129, 13) zur Erstellung des Ersten zuständige Kassenärztliche Vereinigung entspre- Altenberichts der Bundesregierung. Die Sachverstän- chende Regressverfahren gegen die be treffenden digenkommission hat dazu u. a. ausgeführt: Vertragsärzte einzuleiten. Die zuständigen Aufsichts- Viele der in Akutkrankenhäusern liegenden behörden können auf das Einleiten dieser Verfahren Betagten könnten bei aktivierend-rehabilitativer hinwirken. Eine Haftung des Geschäftsführers nach Behandlung wieder schnell entlassen werden. § 12 Abs. 3 Sozialgesetzbuch V könnte nur in Be- Ein Teil der in Pflegeheimen Untergebrachten tracht kommen, wenn ihm bekannt ist oder hätte wäre nicht dort, wenn ihnen aktivierende Pflege/ bekannt sein müssen, daß die Krankenkasse Lei- Rehabilitation rechtzeitig und angemessen zu teil stungen erbringt, für die keine Rechtsgrundlage geworden wäre. besteht. Die Bundesregierung stimmt mit der Sachverständi- genkommission darin überein, daß durch aktivie- rende Pflege und Rehabilitation ein Teil der älteren Kranken schneller aus den Akutkrankenhäusern ent- lassen werden kann (s. S. 61 des Altenberichts).

Anlage 18 Antwort Anlage 17 der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl Antwort auf die Frage der Abgeordneten Lieselott Blunck der Parl. Staatssekretärin Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Uetersen) (SPD) (Drucksache 12/5962 Frage 45): auf die Fragen des Abgeordneten Klaus Kirschner Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung nach Bekannt- (SPD) (Drucksache 12/5962 Fragen 43 und 44): werden der skandalösen Ergebnisse von Fleischuntersuchungen Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung darüber, in deutschen Lebensmittelläden ergriffen, um einerseits im daß Krankenkassen die Kosten für Arzneimittel nicht zugelasse- Interesse der Landwirtschaft den guten Ruf deutscher Fleisch- ner oder für bestimmte Indikationen nicht zugelassener, u. a. der waren zu wahren bzw. wiederherzustellen und andererseits, um Firma Rentschler, übernommen haben, obwohl weder die lei- die Verbraucher und Verbraucherinnen vor kriminellen stungs- noch arzneimittelrechtlichen Voraussetzungen dafür Machenschaften und dem Verzehr gesundheitlich bedenklicher erfüllt waren? Fleischwaren zu schützen? Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung vor über aktuelle Recherchen der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherung zu der in Frage 43 gestellten Problematik, Die Bundesregierung stellt fest, daß in dem gelten- und wie trägt die Bundesregierung dafür Sorge, daß zu Unrecht den Fleisch-, Geflügelfleisch- und Lebensmittelhygie- erstattete Beträge von Pharmafirmen, Ärzten, Krankenhäusern und im Rahmen der Haftung nach § 12 Abs. 3 SGB V von den nerecht ausreichende und klare Regelungen getroffen Verantwortlichen der Krankenkassen an die Solidargemein- sind, um den Schutz des Verbrauchers sicherzustel- schaft wieder zurückfließen? len. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16099*

Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die in ihrer Organisationsvorgaben, die auf dem einstimmi- jüngster Zeit angeprangerten Mißstände in erster gen Beschluß des Deutschen Bundestages zur Post- Linie auf kriminelle Machenschaften, also auf vorsätz- versorgung von 1981 beruhen, folgende Postämter liche und fahrlässige Rechtsverstöße zurückzuführen bzw. Poststellen in den Landkreisen Ammerland und sind. Diese kriminellen Praktiken müssen durch Friesland zu schließen: strikte Kontrolle und drastische Strafen unterbunden werden. Landkreis Ammerland: Die für die Überwachung zuständigen Bundeslän- Die Poststellen II Apen 4 (Nordloh) und Wiefel- der sind auf einer Sitzung des die Überwachung stede 4 (Bokel) koordinierenden Ausschusses für Fleischhygiene der Bundesländer am 6. Oktober 1993 gebeten worden, Landkreis Friesland: alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die Die Poststellen II Varel 9, Varel 12, Bockhorn 3 bestehenden Rechtsvorschriften durchzusetzen. (Steinhausen), Bockhorn 5 (Bockhornerfeld), In einem Gespräch am 27. Oktober 1993 des Bun- Wangerland 4 (Waddewarden), Zetel 3 (Asteder- desministeriums für Gesundheit mit allen betroffenen feld) und Zetel 6 (Schweinebrück). Wirtschaftsverbänden werden fl ankierend hierzu Maßnahmen zur Vermeidung von Mißständen im Rahmen der Sorgfaltspflicht der Bet riebe erörtert.

Anlage 21 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Paul Laufs auf die Frage des Abgeordneten Martin Göttsching (CDU/CSU) Anlage 19 (Drucksache 12/5962 Frage 54): Antwort Hält die Bundesregierung mannigfaltige Anfragen und Beschwerden bezüglich der Schließung von Poststellen und des Parl. Staatssekretärs Manfred Carstens auf die Postämtern in den alten Bundesländern für berechtigt, und wie Frage des Abgeordneten Dietmar Schütz (SPD) reagiert sie ggf. darauf? (Drucksache 12/5962 Frage 48): Wie ist der Planungsstand der Ausbaumaßnahmen auf der Von Mitgliedern des Deutschen Bundestages und Eisenbahnstrecke Oldenburg-Wilhelmshaven, und innerhalb der Landtage, aus dem kommunalen Bereich sowie welchen Zeitraumes ist deren vollständige Elektrifizierung vor- gesehen? von Bürgern sind im Bundesministerium für Post und Telekommunikation zahlreiche Schreiben eingegan- Ausbau und Elektrifizierung der Bundesbahn- gen, in denen zwar Kritik an Schließungen von strecke Wilhelmshaven—Oldenburg sind im „Vor- Postämtern und Poststellen, vielfach jedoch auch dringlichen Bedarf" des Schienenwegeausbaugeset- Verständnis für die entsprechenden betriebswirt- zes berücksichtigt worden, vorbehaltlich der Sicher- schaftlichen Sachzwänge geäußert wird. stellung der Wirtschaftlichkeit durch Zuschüsse Drit- ter. Die Finanzierung muß in Verhandlungen zwi- Da diese Maßnahmen nach den Vorgaben des schen der Deutschen Bundesbahn und dem Land Postverfassungsgesetzes in die unternehmerische Niedersachsen geklärt werden. Der Haltung des Lan- Zuständigkeit der Deutschen Bundespost POST- des Niedersachsen kommt in dieser Hinsicht eine DIENST fallen, wird bei Beschwerden an den Bundes- besondere Bedeutung zu. minister für Post und Telekommunikation eine Stel- lungnahme der Generaldirektion der Deutschen Bun- despost POSTDIENST zur Darstellung der konkreten Gründe, die zu der jeweiligen Schließung führen, angefordert.

Anlage 20 Antwort Anlage 22 des Parl. Staatssekretärs Dr. Paul Laufs auf die Frage Antwort des Abgeordneten Dietmar Schütz (SPD) (Drucksache 12/5962 Frage 51): der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktions- Welche Postämter und Poststellen (Postvertriebsfilialen) der Deutschen Bundespost POSTDIENST sind im Rahmen der los) (Drucksache 12/5962 Frage 55): Neustrukturierung der POSTDIENSTE in den Landkreisen Welche Perspektive hat das Auswärtige Amt für das General- Ammerland und Friesland von Steilenreduzierung und Schlie- konsulat in Edmonton, der Hauptstadt Albertas/Kanada und ßung betroffen? darf, angesichts der großen Anzahl Deutschstämmiger, die mit ca. 15 % der Bevölkerung die zweitgrößte ethnische Gruppe Das Unternehmen Deutsche Bundespost POST- darstellen, damit gerechnet werden, daß das Generalkonsulat in DIENST beabsichtigt, im Rahmen der Anwendung jedem Fall erhalten bleibt? 16100* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993

Das Generalkonsulat Edmonton soll zum Herbst Der versuchte Staatsstreich in Burundi durch ein- 1994 geschlossen werden. Dies geschieht im Rahmen zelne Militärs der Tutsi-Minderheit unter Beteiligung der Straffung und Umstrukturierung unseres Netzes des Hutus und Ex-Innenministers Ngeze bedeutet der Auslandsvertretung. Die Einrichtung von insge- einen schweren Rückschlag für die demokratische samt 30 neuen Vertretungen im Gefolge der deut- Entwicklung des Landes und darüber hinaus für die schen Einheit und des Umbruchs in Mittel-, Ost- und Demokratisierungsbestrebungen in ganz Schwarz- Südeuropa hat die Personal- und Stellenstruktur des Afrika. Bundesaußenminister Dr. hat am Auswärtigen Dienstes enormen Belastungen ausge- 21. Oktober 1993 erklärt, daß die Bundesregierung setzt. Hinzu kommt, daß das Auswärtige Amt auf nicht bereit ist, mit einem neuen Militärregime in Grund der Haushaltslage allein von 1993-1995 etwa Burundi zusammenzuarbeiten. Sie hat an alle politi- 320 Personalstellen ersatzlos verlieren wird. Das Aus- schen Kräfte in Burundi appelliert, die verfassungs- wärtige Amt ist daher gezwungen, das bestehende mäßige demokratische Ordnung wiederherzustel- Netz der Auslandsvertretungen den neuen Gegeben- len. heiten anzupassen. Es sieht sich nicht in der Lage, von der auch für Kanada geplanten Umstrukturierung Um die demokratischen Kräfte in Burundi zu unter- unserer Präsenz abzugehen. stützen, lehnt die Bundesregierung in Abstimmung mit ihren europäischen Partnern und den USA jede Mit Schließung des Generalkonsulats Edmonton Zusammenarbeit mit militärischen Machthabern in wird die Provinz Alberta dem Generalkonsulat Van- Burundi ab und verlangt die Wiedereinsetzung der couver zugeordnet. Gleichzeitig soll der Amtsbezirk rechtmäßigen Regierung. Das Putsch-Regime hat am des Honorarkonsuls in Calgary auf die gesamte Pro- 24. Oktober 1993 unter dem Druck des Widerstands vinz Alberta ausgedehnt werden. Damit bleiben aus dem Offizierskorps, aus dem westlichen Ausland unsere Präsenz in der Provinz Alberta und die Betreu- und aus der burundischen Bevölkerung erklärt, daß es ung der dort lebenden Deutschen und Deutschstäm- die Macht an die demokratisch gewählte Regierung migen gewährleistet. von Premierministerin Kinigi „zurückgeben" werde.

Der Putschversuch hat das Land in Chaos gestürzt und ethnische Massaker ausgelöst. Es kommt jetzt darauf an, daß die rechtmäßige Regierung schnellst- möglich wieder ihre Arbeit aufnimmt, die führenden Hutu-Politiker die Bevölkerung zur Versöhnung Anlage 23 anhalten, damit dem Töten und Brandschatzen im Landesinnern Einhalt geboten wird. Die Bundesregie- Antwort rung unterstützt gemeinsam mit ihren europäischen der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Partnern und den USA Initiativen der OAE und der VN Frage des Abgeordneten Helmut Sauer (Salzgitter) und der Nachbarstaaten Burundis für politische (CDU/CSU) (Drucksache 12/5962 Frage 56): Lösungen der Krise. Die Bundesregierung wird durch humanitäre Hilfsmaßnahmen zur Versorgung der Kann die Bundesregierung die Aussage der ehemaligen 250 000 burundischen Flüchtlinge in Ruanda beitra- britischen Premierministerin, Lady Margret Thatcher, im Vorab- gen. druck ihrer Memoiren in der Zeitschrift „DER SPIEGEL" (Nr. 42/1993, S. 178) „Die Regierung der Bundesrepublik wurde von uns gezwungen, die Grenzfrage mit ihren östlichen Nach- barn zu klären" bestätigen, und stehen hierzu nicht ihre Aussa- gen, insbesondere die des ehemaligen Bundesministers des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher, im Widerspruch, die Bundesregierung habe „aus freier Entscheidung" bezüglich der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie gehandelt?

Anlage 25 Die Bundesregierung hat ihren eigenen Aussagen in dieser Frage nichts hinzuzufügen. Antwort

der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Frage des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz (CDU/CSU) (Drucksache 12/5962 Frage 58):

Wie steht die Bundesregierung zu einer Aufnahme der Repu- blik Slowenien in den NATO-Kooperationsrat? Anlage 24 Antwort Die Bundesregierung ist dafür offen, die mit dem der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Nordatlantischen Kooperationsrat begründete Sicher- Frage des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler (SPD) heitspartnerschaft von Vancouver bis Wladiwostok (Drucksache 12/5962 Frage 57): über den Kreis der NATO-Mitglieder und der ehema- ligen Warschauer Pakt-Staaten bzw. der in jenem Wie beurteilt die Bundesregierung die aktuelle Situation in Burundi nach dem Militärputsch, und welche Möglichkeiten und Gebiet neu entstandenen Staaten hinaus zu erwei- Maßnahmen sieht die Bundesregierung, die demokratischen tern. Dies würde eine Aufnahme Sloweniens in den Kräfte in Burundi zu unterstützen? Nordatlantischen Kooperationsrat einschließen. Für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 185. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 28. Oktober 1993 16101* die nähere Zukunft wäre auch ein Beobachterstatus Sind der Bundesregierung Reaktionen der iranischen Regie- Sloweniens, wie im Fall Finnlands, denkbar. rung wegen des Anschlags auf den norwegischen Verleger Salman Rushdies bekannt, und wie beurteilt die Bundesregie- rung das Verhalten der iranischen Regierung?

Anlage 26

Antwort Die iranische Regierung hat nach Kenntnis der der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Bundesregierung keine Stellungnahme zum An- Frage des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) schlag auf den norwegischen Verleger abgege- (Drucksache 12/5962 Frage 59): ben.