Plenarprotokoll 12/114

Deutscher

Stenographischer Bericht

114. Sitzung

Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Inhalt:

Gedenkworte für die Opfer der Erdbeben- sowie des Abgeordneten Gerhart Rudolf katastrophe in Kairo 9691 A Baum und der Fraktion der F.D.P.: Reak- torsicherheit in den Staaten Mittel- Tagesordnungspunkt 9: und Osteuropas (Drucksachen 12/1906, 12/2759) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Vier- Klaus Harries CDU/CSU 9701 B ten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Mutter Dr. Klaus Kübler SPD 9702 B und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens" (Drucksache 12/3376) Gerhart Rudolf Baum F.D.P. 9703 C Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretä rin BMFuS 9691B Dr. PDS/Linke Liste . 9705 A

Hildegard Wester SPD 9692 D Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9706 B CDU/CSU 9694 C Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 9695 D Dr. , Parl. Staatssekretär BMU 9707D Norbert Eimer (Fürth) F.D.P. 9696 D Christina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Josef Fischer, Staatsminister des Landes Hessen 97 09 D NEN 9697 C Eva-Maria Kors CDU/CSU 9698 C Ulrich Klinkert CDU/CSU 9711 B

Christel Hanewinckel SPD 9699 C Michael Müller (Düsseldorf) SPD 9712C

Tagesordnungspunkt 11: - a) Beratung der Beschlußempfehlung und Tagesordnungspunkt 12: des Berichts des Ausschusses für Umwelt, a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Marion Caspers-Merk, Klaus Lennartz, Unterrichtung durch die Bundesregie- Harald B. Schäfer (Offenburg), weiterer rung: Bericht der Bundesregierung über Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Umweltradioaktivität und Strahlenbela- Sanierung dioxinverseuchter Böden stung im Jahr 1989 (Drucksachen 12/69, (Drucksache 12/1109) 12/2515) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten b) Beratung der Beschlußempfehlung und Klaus Lennartz, Harald B. Schäfer (Offen- des Berichts des Ausschusses für Umwelt, burg), Hans Gottfried Bernrath, weiterer Naturschutz und Reaktorsicherheit zu Abgeordneter und der Fraktion der SPD: dem Antrag des Abgeordneten Ulrich Kennzeichnung von Kunststoffen (Druck- Klinkert und der Fraktion der CDU/CSU sache 12/2502)

II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Marion Caspers-Merk SPD 9714D (Köln) SPD 9733 C

Birgit Homburger F.D.P. 9716C Dr. CDU/CSU 9735 D Ingeborg Philipp PDS/Linke Liste 9718C Hans A. Engelhard F.D.P. 9737 B Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9719B Walter Link (Diepholz) CDU/CSU 9738 B

Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 9739 C BMU 9720B Ulrike Mehl SPD 9722B Walter Link (Diepholz) CDU/CSU 9740A Birgit Homburger F.D.P. 9724 A Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 9741 A Dr. Norbert Rieder CDU/CSU 9724 C Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 9741D, 9742D GRÜNEN 9725 D Gerlinde Hämmerle SPI) 9742C

Tagesordnungspunkt 14: Walter Link (Diepholz) CDU/CSU 9743 B Beratung der Großen Anfrage der Abge- ordneten , Dr. Fritz Schu- mann (Kroppenstedt) und der Gruppe Tagesordnungspunkt 16: PDS/Linke Liste: Auswirkungen auf die a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Abfallentsorgung durch die Einführung und der Gruppe der PDS/ des „Dualen Systems Deutschland" Linke Liste: Verlängerung des Abschie- (DSD) (Drucksachen 12/2027, 12/2682) bestopps für Kurdinnen und Kurden (Drucksache 12/3215) Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste . 9726C b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Friedrich CDU/CSU 9728A Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/ Jutta Müller (Völklingen) SPD 9729A Linke Liste: Sofortige Wiedereinsetzung des Waffenembargos gegen die Türkei Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär und Einstellung jeglicher Polizeihilfe BMU 9730A und polizeilicher Zusammenarbeit Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE (Drucksache 12/3216) GRÜNEN 9730D c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger F.D.P. 9731 D Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/ Linke Liste: Einstellung der geheim- Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE dienstlichen und polizeilichen Zusam- GRÜNEN 9732 C menarbeit mit der Türkei (Drucksache 12/3217) Tagesordnungspunkt 15: a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Einsetzung einer Enquete-Kommis- in Verbindung mit sion „Zukunftssicherung unserer älter werdenden Gesellschaft — Herausforde- Zusatztagesordnungspunkt 6: rung des demographischen Wandels" Beratung der Beschlußempfehlung und (Drucksache 12/2272) des Berichts des Auswärtigen Ausschus- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten ses zu dem Antrag der Gruppe der PDS/ , Hans-Joachim Fuchtel, Linke Liste: Bericht der Bundesregierung Dr. Joseph-Theodor Blank, weiterer Ab- zu der Entwicklung in der Türkei (Druck- geordneter und der Fraktion der CDU/ sachen 12/987, 12/2887) CSU sowie der Abgeordneten Dr, , Hans A. Engelhard, Dr. Eva Pohl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion- in Verbindung mit der F.D.P.: Einsetzung einer Enquete Kommission „Chancen und Zukunftsper- Zusatztagesordnungspunkt 7: spektiven der älter werdenden Genera- Beratung des Antrags der Abgeordneten tion" (Drucksache 12/3460) , , Dr. Ulrich Böhme in Verbindung mit (Unna), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Einstellung der Mili- Zusatztagesordnungspunkt 5: tärhilfe, Erstellung eines Konzepts für Wirtschaftshilfe und Bericht über Liefe- Beratung des Antrags der Fraktionen der rungen an die Türkei (Drucksache CDU/CSU, SPI) und F.D.P.: Einsetzung 12/3434) einer Enquete-Kommission „Zukunft der älter werdenden Generation" (Drucksa- che 12/3461) in Verbindung mit

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 III

Zusatztagesordnungspunkt 8: Uta Zapf SPD 9747 B Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. F.D.P. 9748 B Uta Zapf, Hermann Bachmeier, , weiterer Abgeordneter und der Nächste Sitzung 9749 D Fraktion der SPD: Verlängerung des befristeten Abschiebestopps für Kurden Anlage 1 und Kurdinnen (Drucksache 12/3435) Liste der entschuldigten Abgeordneten . 9751* A Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 9744 D Anlage 2

Erika Steinbach-Hermann CDU/CSU 9746 C Amtliche Mitteilungen 9752* A

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114. Sitzung

Bonn, den 16. Oktober 1992

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Hans Klein: Die Sitzung ist eröffnet. verbesserte Leistungen zur Unterstützung von wer- (Die Abgeordneten erheben sich) denden Müttern und Familien mit Kindern geschaf- fen. Zu diesen Maßnahmen gehört auch die Bundes- Meine Kolleginnen und Kollegen, wir haben in den stiftung „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen letzten Monaten mehrfach Anlaß gehabt, unsere Lebens", die 1984 gegründet wurde. Sie hat bisher Anteilnahme an dem Leid der Opfer großer Katastro- wesentlich dazu beigetragen, ungewollt schwange- phen zu bekunden. In den letzten Tagen hat eine ren Frauen in Notlagen das Ja zu ihrem Kind zu besonders schreckliche Katastrophe — diesmal außer- erleichtern. halb Europas — die ägyptische Hauptstadt Kairo getroffen. Bisher wurden 400 oder 500 Tote offiziell Mit dem Gesetzentwurf, über den wir heute bera- registriert. Vermutlich ist die Zahl der Menschen, die ten, wird ab Januar 1993 diese Bundesstiftung auf die von den Trümmern der Häuser während des Erdbe- neuen Bundesländer ausgedehnt. Natürlich kann die bens begraben wurden, noch wesentlich höher. Stiftung nur einen Teil der Sorgen und Nöte werden- der Mütter abdecken — und diesen auch nur insoweit, Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen, gilt den wie sich die wirtschaftlichen Probleme auf Schwan- politische Verantwortung Tragenden in Ägypten. gerschaft und Geburt des Kindes, eventuell auf seine Dem ägyptischen Volk, dem Parlament und der Regie- Betreuung nach der Geburt, beziehen. rung spreche ich im Namen des Deutschen Bundesta- ges unsere tief empfundene Anteilnahme aus. Die Beziehungskonflikte und die seelischen Pro- Sie haben sich zu Ehren der Toten von Ihren Plätzen bleme, die häufig bei Schwangerschaftskonflikten erhoben. Ich bedanke mich. eine große Rolle spielen, erfordern an erster Stelle menschliche Zuwendung und sensible Beratung. Sie sind natürlich mit Geld alleine nicht zu beheben. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Trotzdem gilt: Die Stiftung kann im Rahmen ihrer Erste Beratung des von der Bundesregierung Möglichkeit dazu beitragen, schwangere Frauen eingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset- gezielt in ihren konkreten Notlagen mit zusätzlichen zes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung Mitteln zu unterstützen. einer Stiftung „Mutter und Kind — Schutz des Das hat sie auch in Tausenden von Fällen schon ungeborenen Lebens" geleistet. So wurde bisher in den alten Bundesländern Drucksache 12/3376 — mit Stiftungsmitteln mehr als 500 000 schwangeren Überweisungsvorschlag: Frauen, die sich in wirtschaftlichen Notlagen befun- Ausschuß für Familie und Senioren (federführend) den haben, geholfen. Rechtsausschuß Ausschuß für Frauen und .lugend (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sehr Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO gut!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Wie aus dieser Zahl zu erkennen ist, wird die Hilfe der die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Dagegen Stiftung von den Frauen gerne angenommen. erhebt sich kein Widerspruch. — Dann ist das so Welchen Stellenwert wir der Arbeit der Bundesstif- beschlossen. tung zumessen, das haben wir in den vergangenen Ich eröffne die Aussprache und erteile der Staatsse- Jahren immer wieder deutlich gemacht. So wurden kretärin hei der Bundesminsterin für Familie und die Haushaltsmittel für die Bundesstiftung seit ihrer Senioren, unserer Kollegin Roswitha Verhülsdonk, Errichtung, also seit 1984, bereits fünfmal erhöht. das Wort. Betrugen sie anfänglich noch 50 Millionen DM, so stehen seit 1990 für diese Stiftung pro Jahr 140 Mil- lionen DM zur Verfügung. Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie und Senioren: herr Mit der Wiedervereinigung Deutschlands konnte Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den auf Grund der Rechtslage die Bundesstiftung nicht letzten Jahren hat die Bundesregierung immer wieder sofort auf die neuen Bundesländer ausgedehnt wer- 9692 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk den. Um aber schwangere Frauen mit wirtschaftlichen ausreichen, um der besonders schwierigen Situation Problemen dort nicht schlechterzustellen, wurde mit der Frauen im Einzelfall gerecht zu werden. Gerade dem Einigungsvertrag für die Zeit vom Oktober 1990 bei Schwangerschaft und Geburt können Notsituatio- bis zum Oktober 1992 ein „Hilfsfonds für schwangere nen entstehen, die sehr speziell sind und nicht in die Frauen in Not" gegründet, der ausschließlich für die standardisierten Anspruchsvoraussetzungen, wie sie neuen Länder zuständig war. Er kam nach anfängli- bei Leistungsgesetzen zugrunde gelegt werden, chen Informationsproblemen in den neuen Ländern gefaßt werden können. ebenfalls gut an. Das erkennt man daran, daß er Voraussetzung für die Hilfen ist, daß andere So- immerhin 19 000 Frauen und ihren Familien in beson- zialleistungen — z. B. ein Unterhaltsvorschuß, Wohn- deren Notlagen geholfen hat. geld und Sozialhilfeansprüche nicht oder nicht Da dieser Hilfsfonds laut Einigungsvertrag zum rechtzeitig gewährt werden können bzw. in ihrer Jahresende eingestellt wird, sieht der Ihnen nun Summe nicht hoch genug sind, um der Problemlage vorliegende Gesetzentwurf vor, daß die Bundesstif- der Frauen gerecht zu werden. Die Stiftungsmittel tung „Mutter und Kind" ihren Geltungsbereich auf werden nicht auf Sozialhilfe, auf Arbeitslosengeld, auf die neuen Bundesländer ausdehnt. Die Hilfen der Arbeitslosenhilfe, auf Kindergeld, auf Wohngeld oder Stiftung werden somit künftig in Ost wie in West nach auf irgendeine andere Sozialleistung angerechnet. einer einheitlichen Rechtsgrundlage vergeben. Sie werden zusätzlich zu ihnen gezahlt. Die Bundesstiftung soll und wird auch in Zukunft Mit diesem Gesetz wollen wir aber auch noch einer eine individuelle und unbürokratische Hilfe ermögli- Besonderheit der neuen Bundesländer Rechnung tra- chen. Guter Rat — so sagt der Volksmund — ist teuer. gen: der anderen Struktur der Beratungsstellen, die Diejenigen, die ihn geben, sollen nicht mit leeren sich dort entwickelt hat. So kann in den alten Bundes- fänden dastehen. Die Stiftung hilft, damit Rat und Tat ländern eine Beratung nur in speziellen Schwanger- I schaftskonfliktberatungsstellen erfolgen. Dies ent- zusammenkommen. spricht dem noch geltenden § 218b des Strafgesetz- Vielen Dank. buches. Die §§ 218ff. des Strafgesetzbuches wurden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aber bekanntlich nicht mit dem Einigungsvertrag auf die neuen Länder übergeleitet. Schwangerschaftsbe- ratung wird dort nicht nur von speziellen Schwanger- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Hildegard schaftskonfliktberatungsstellen, sondern auch von Wester, Sie haben das Wort. Ehe- und Familienberatungsstellen durchgeführt. Mit dem heute vorliegenden Änderungsgesetz zum Stiftungserrichtungsgesetz werden alle diese Bera- Hildegard Wester (SPD): Herr Präsident! Meine tungsstellen, die diese Arbeit leisten, in das Gesetz Damen und Herren! „Familienpolitik ist keine Unter- einbezogen und die Zweckbestimmung der Stiftung abteilung der Sozialpolitik." Dieser bemerkenswerte in § 2 Abs. 1 des Gesetzes entsprechend umformuliert. Satz stammt von Frau Familienministerin Rönsch, Damit können alle Beratungsstellen, die in den neuen gesprochen am 11. Juni dieses Jahres. Volle Zustim- Ländern Schwangerschaftsberatung durchführen, ab mung für diese Aussage. Nur, Frau Rönsch — leider ist Januar 1993 die Leistungen der Bundesstiftung den Sie nicht da —, Sie müssen sich an ihr messen Frauen vermitteln. lassen. Diese Ausweitung ist, wie ich finde, sehr begrüßens- Seit nun knapp zwei Jahren besteht Ihr Ministerium für Familie und Senioren zum erstenmal seit Beste- wert. Sie gilt künftig natürlich wie das Gesetz im hen der Bundesrepublik ein eigenständiges Ressort. gesamten Bundesgebiet. Sie hat zum einen eine Entlastung der Schwangerschaftskonfliktberatungs- Wir alle haben erwartet, daß dieser Zeichensetzung stellen zur Folge, die ja bisher alleine für die Vermitt- Taten folgen, daß in diesem Ministerium Initiativen lung der Stiftungsmittel zuständig waren. Wenn das ergriffen werden, die dem drastischen Sozialabbau Netz an Beratungsstellen nun breiter wird, dann wird unter der Regierung Kohl, der Familien in besonderer es zum anderen den betroffenen Frauen leichter Härte trifft, Einhalt gebieten und gegensteuern. gemacht, Zugang zu den Hilfen aus der Stiftung zu (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Hier ver bekommen. Die Wege werden sich dann verkürzen. wechseln Sie aber etwas!) Das nun vorliegende Änderungsgesetz bringt Ich nenne nur einige familienpolitische Ruhmesta- - außerdem eine deutlich verbesserte finanzielle Aus- ten der zehn Jahre Kohl-Regierung: stattung: Die Stiftungsmittel werden um 40 Millionen (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Erzie DM auf dann insgesamt 180 Millionen DM aufge- hungsgeld, Erziehungsurlaub, Renten stockt. Der Betrag, der bisher dem „Hilfsfonds für recht!) schwangere Frauen in Not" zur Verfügung stand, wird Einsparung beim Schüler-BAföG, Senkung des Kin- somit in die Stiftungsmittel integriert; er fällt also nicht dergeldes weg. (Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Welche Darüber hinausgehende Änderungen sind nicht Senkung des Kindergeldes?) vorgesehen. Insbesondere soll es dabei bleiben, daß — 1983; ich rede von zehn Jahren Kohl-Regierung — aus der Bundesstiftung keine Rechtsansprüche abge- leitet werden können. Aufgabe der Bundesstiftung ist es ja gerade, individuelle und unbürokratische Hilfen (Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Für die Bes zu bieten, wenn die gesetzlichen Hilfen alleine nicht serverdienenden! Sagen Sie das dazu!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9693

Hildegard Wester — ich rede von zehn Jahren Kohl-Regierung und von — Ich werde Ihnen gleich sagen, daß ich die ganze der Gesamtheit unserer Gesellschaft —, Halbierung Zeit beim Thema war. des Ausbildungsfreibetrages, Kinderfreibetrag statt (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das haben Kinderbetreuungskosten. Dies sind nur einige wenige wir noch nicht gemerkt!) Fakten aus der Vergangenheit. — Ich sagte „gleich"; Sie müssen noch ein bißchen (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aber fal warten. sche!) Es handelt sich um eine Leistung für Frauen in einer Wenden wir uns der Gegenwart zu — vielleicht wird bestimmten Notlage. Die Leistung in Form einer in es dann richtiger —: 1990 bestätigte das Bundesver- den weitaus meisten Fällen einmaligen Geldzahlung fassungsgericht, daß Familien mit Kindern in unse- in Höhe von in der Regel etwa 2 000 DM soll Frauen in rem Lande verfassungswidrig besteuert werden. Vor die Lage versetzen, ihr Ja zum Kind zu erleichtern. Auf den Bundestagswahlen 1990 versprach Finanzmini- eine solche Leistung hat sie aber keinen Rechtsan- ster Waigel den betroffenen Familien, die zwischen spruch. Sie muß einen Bittgang antreten, um in den den Jahren 1983 und 1985 zuviel gezahlten Steuern zu Genuß des Geldes zu gelangen. erstatten. Was geschah? Nur die Familien, die gegen ihren Steuerbescheid Einspruch eingelegt hatten, (Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Nein, muß erfuhren Steuergerechtigkeit. sie nicht!) - Das ist eine Frage der Interpretation. — Dem Entschließungsantrag der SPD-Fraktion für ein Kindergeld von 230 DM monatlich, der einen (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist wichtigen Schritt in einen gerechten Familienlasten- aber eine falsche!) ausgleich dargestellt hätte, hat die Regierungskoali- Dazu muß sie glaubhaft machen, daß alle ihr gesetz- tion nicht zugestimmt. Wo bleibt das Wort der Famili- lich zustehenden Leistungen — etwa nach dem enministerin? Ist ihr nicht klar, daß eine bloße Anhe- BSHG — ausgeschöpft sind. Ist das Familienpolitik in bung des Steuerfreibetrages die Gutverdienenden Abgrenzung zur Sozialpolitik? Ich sage, es ist weit stärker entlastet? weniger: Es ist Fürsorge. (Renate Diemers [CDU/CSU]: Dazu hat sie Familien und Frauen brauchen aber weit mehr als eine Menge gesagt!) das. Sie benötigen einen festen, planbaren Rahmen an familienpolitischen Leistungen. Das geht nur mit Hier wäre ein Handlungsfeld für eine fortschrittliche einem Rechtsanspruch. Familienpolitik. Hier könnte die Bedeutung von Poli- tik für die Familien unter Beweis gestellt werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Die Erfahrungen zeigen nämlich nach einer Unter- Vorgestern gab es erneut ein Verfassungsgerichts- suchung von „Pro Familia", daß für nur 7 % der Frauen urteil, in dem festgestellt wird, daß die Höhe des die Aussicht auf Stiftungsgelder eine Rolle bei der Steuergrundfreibetrages verfassungswidrig ist. Auch Entscheidung zum Austragen einer Schwangerschaft hier gilt: Der Finanzminister nimmt Gelder ein, die spielt. 51 % der Antragstellerinnen leben bereits vor ihm nicht zustehen. Betroffen sind wieder einmal der Geburt des Kindes ganz oder teilweise von Sozial- besonders hart die Familien mit Kindern. Aber auch oder Unterhaltsleistungen. In 20 der Fälle bezogen hier gibt es vielfältige Möglichkeiten für die Famili- die Schwangeren ihren Lebensunterhalt aus Arbeits- enpolitiker, sich Gehör zu verschaffen. losenunterstützung oder BAföG-Geldern, in 14 % von der Sozialhilfe. Eine weitere familienpolitische Leistung, die drin- gend einer Überprüfung bedarf, ist das Bundeserzie- Dieser Personengruppe ist nicht mit einer einmali- hungsgeldgesetz. Abgesehen davon, daß die Höhe gen Leistung geholfen. Hierher gehören familienpo- der Leistungen und die mangelnde Flexibilität in der litische Maßnahmen, die über einen längeren Zeit- zeitlichen Gestaltung dazu beitragen, daß Frauen in raum wirken — ich sprach sie zu Beginn an —: ein die Rolle der Haupterzieherin geraten und in ihr deutlich höheres Kindergeld, ein ebenso deutlich verharren, ist es ein schweres Versäumnis, daß bei der erhöhtes Erziehungsgeld, Betreuungsangebote für letzten Novellierung 1991 die Einkommensgrenze- für Kinder in jeder Altersgruppe, I lilfe bei der beruflichen die Leistung nach dem sechsten Lebensmonat des Wiedereingliederung, Fort- und Weiterbildungsmög- Kindes nicht angehoben wurde. Sie ist noch auf dem lichkeiten sowie flexible Arbeitszeiten. Stand des Jahres 1986, also sechs Jahre alt. Dieses Frauen und Familien brauchen eine längere Per- Versäumnis ist eine weitere Stufe auf dem Weg von spektive als ein paar Monate, um ein Kind annehmen Familien in die Armut. zu können. Heute haben wir über den Entwurf der Bundesre- (Beifall bei der SPD) gierung des Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Mutter und Es ist endlich an der Zeit zu sehen, daß Familien erst Kind — Schutz des ungeborenen Lebens" zu bera- dann ihren vielfältigen Aufgaben, die wir ihnen ten. zuschreiben, gerecht werden können, wenn ihre Exi- stenz gesichert ist. Welche Mutter, welcher Vater (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Jetzt kom kann das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit men wir zum Thema!) vermitteln — eine wichtige Grundvoraussetzung für 9694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Hildegard Wester das Heranwachsen eines Kindes —, wenn ihr oder ihm fallen werden. Der Hilfeeffekt ist damit noch stärker in täglich Existenzängste ins Haus stehen? Frage gestellt. Ich will nicht verhehlen, daß die Mittel der Stiftung Meine Damen und Herren, auch die letztgenannten in Einzelfällen eine Hilfe darstellen können. Es gibt Punkte zeigen deutlich, daß letztlich nur rechtsver- sicherlich kritische Situationen, die mit einer kurzfri- bindliche Leistungen Abhilfe schaffen können. Von- stigen oder einmaligen finanziellen Hilfe überbrückt nöten ist das Konzept einer Familienpolitik, die die werden können. verschiedenen Stadien von Familien begleitet und stützt. Wir werden daran arbeiten. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aha!) Ich danke Ihnen. Solche Einzelfallhilfe darf aber nicht als Alibi für eine mißglückte Familienpolitik herhalten, sondern muß (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke als das bezeichnet werden, was sie ist. Liste) (Beifall bei der SPD — Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Eine gute Familienpolitik!) Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin — Das habe ich zu widerlegen versucht; schade, daß Renate Diemers. Sie das nicht akzeptieren. (Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Nein, das Renate Diemers (CDU/CSU): Herr Präsident! ist so!) Meine Damen! Meine Herren! Der ideelle und mate- rielle Wert der Stiftung „Mutter und Kind — Schutz Vor allem muß die Hilfe gerecht sein. Durch den des ungeborenen Lebens" ist bei denen, die so Hilfe in Stiftungscharakter dieser Leistung haben wir aber Not- und Konfliktsituationen erhalten haben, und bei einen Zustand der Ungleichbehandlung in der Praxis. denen, die diese Hilfe geben konnten, unbestritten. So werden in vergleichbaren Fällen in einem Bundes- land Anträge abgelehnt, in anderen Leistungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gewährt. In einem Bundesland beträgt die durch- Kritikerinnen und Kritiker dieser Stiftung übersehen schnittliche Höhe der Leistung ein Mehrfaches der noch immer, daß der Zweck dieser Stiftung darin eines anderen Bundeslandes. besteht, ergänzende finanzielle Hilfen zu den beste- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Welches henden Leistungsgesetzen für Schwangere in Notsitu- war das denn?) ationen zur Verfügung zu stellen. — Zum Beispiel Baden-Württemberg und Rheinland (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: So ist es!) Pfalz. Damit sollen in den Fällen, in denen für die Schwan- geren aus individuellen Gründen die Leistungsge- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aha!) setze nicht ausreichen und deshalb ergänzende Maß- Das gleiche Ergebnis zeigt sich bei der Betrachtung nahmen erforderlich sind, materielle Ängste während der Leistungsdauer. Wenn wir verläßlich helfen wol- und nach der Schwangerschaft genommen werden. len, müssen wir für Ersatz durch eine gesetzliche Das ist seit Bestehen der Stiftung in den alten Bundes- Regelung mit einem Rechtsanspruch sorgen. ländern in sehr vielen Fällen gelungen. Ein weiterer Wermutstropfen: In allen Jahren seit Wie wichtig diese zusätzliche Hilfe im Einzelfall ist, 1984 haben die Finanzmittel nicht ausgereicht, um Frau Wester, für die jeweils ganz persönlich gelagerte alle Anträge zu berücksichtigen. Teilweise haben die Situation, die in keine gesetzliche Norm paßt und auch Bundesländer schon im August mitgeteilt, die Mittel nicht normiert werden kann, beweisen die Nachfra- seien erschöpft. gen und Anforderungen an die Stiftung. Im Grün- Auch im laufenden Jahr sind die Nachforderungen dungsjahr 1984 konnte die Stiftung „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens" den hilfesuchen- beträchtlich. Nordrhein-Westfalen benötigt zusätzlich 1,6 Millionen DM, Bayern 1 Million DM, Hessen den Schwangeren im Bundesgebiet 50 Millionen DM 650 000 DM, Bremen 0,5 Millionen DM und Hamburg zur Verfügung stellen. Derzeit — wir haben es 1 Million DM mehr, als in der ursprünglichen Mittel- gehört — sind es 140 Millionen DM jährlich für die vergabe vorgesehen war. Insgesamt ergibt sich ein alten Bundesländer. Mehrbedarf von fast 5 Millionen DM. Hinter diesen Beträgen stehen Menschen, die auf besondere Hilfen angewiesen sind. 1990 waren es Ich will eine Voraussage wagen: Durch die begrü- - über 330 000 Schwangere, denen auf Grund der ßenswerte Einbeziehung aller Beratungsstellen, bei Zusagen durch die Stiftung die Entscheidung zugun- denen sich Schwangere um Rat und Hilfe in einer sten des Kindes erleichtert wurde. Nach meiner Über- Notsituation bemühen, in die Vermittlung bzw. Ver- zeugung können Stiftungsgelder nicht wirkungsvol- gabe von Mitteln der Stiftung wird sich der Finanzbe- ler eingesetzt werden. darf deutlich erhöhen. Die 180 Millionen DM, die Sie unter Einbeziehung der neuen Länder zur Verfügung In diesem Zusammenhang ist es mir ein Anliegen, stellen wollen, werden bei weitem nicht reichen. Dann den Ländern und Kommunen, die durch Eigeniniti- werden Sie die Finanzierungslücke nicht mehr aus ative und mit eigenen Mitteln den Finanztopf der dem Stiftungsvermögen schließen können, wie Sie es Stiftung auffüllen, ein Wort des Dankes zu sagen. in diesem Jahr tun werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ein weiterer Effekt wird sein, daß die vorhandenen Sie tun das — das sollte für alle anderen ein Signal und Mittel auf mehr Personen verteilt werden müssen und ein Vorbild sein — aus örtlicher, praxisbezogener dadurch die Zuwendungen bedeutend geringer aus Kenntnis der vielfach gelagerten Einzelschicksale, wo Deutscher Bundestag — 12. 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Renate Diemers die Frauen auf diese zusätzliche Hilfe angewiesen dern —, die Frauen über Sinn und Zweck der Stiftung sind. Ihnen und auch den Trägern von Einrichtungen zu informieren, für Schwangere in Konfliktsituationen, die in ähnli- (Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Sehr cher Weise verfahren, sage ich an dieser Stelle meinen wahr!) herzlichen Dank. aber auch darüber, daß die finanzielle Hilfe, die von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Stiftung bezogen wird, nicht auf die Geldleistun- Mit dem Einigungsvertrag sind wir alle auch die gen anzurechnen ist, auf die ein Rechtsanspruch Verpflichtung eingegangen, den Frauen in den neuen besteht. Auch diese Tatsache macht die Bedeutung Bundesländern Hilfsangebote in gleichen und ver- der Stiftung sichtbar. gleichbaren Schwangerschaftskonfliktsituationen zu Mit den genannten Fakten und Erfordernisssen ist geben. Übergangsweise ist dies, befristet bis zum unter Beachtung der vorgegebenen finanziellen Mit- Ende dieses Jahres, mit dem Hilfsfonds für Schwan- telaufstockung gewährleistet, daß den Schwangeren gere in Not geschehen. Nun kommt es darauf an, auch in ihrer jeweiligen individuellen Notlage die Sicher- in besonderen Schwangerschaftskonfliktsituationen heit gegeben wird, daß sie zu den gesetzlichen Rechts- gleiche Hilfevoraussetzungen bundeseinheitlich be- ansprüchen, wenn ihre Lebensumstände es erf order- reitzustellen. lich machen, ergänzende und unbürokratische Hilfen Soweit dies den Bereich der Rechtsansprüche im während der Schwangerschaft bzw. nach der Geburt Rahmen verschiedener Leistungsgesetze betrifft, hat ihres Kindes erhalten. meine Fraktion, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Durch die Stiftung „Mutter und Kind — Schutz des die notwendigen Initiativen ergriffen bzw. haben wir ungeborenen Lebens" erhalten die Mütter ein zusätz- dazu beigetragen, daß die entsprechenden Koalitions- liches Hilfsangebot und damit eine größere Chance, vereinbarungen eingelöst wurden. Dazu nenne ich die Schwangerschaft zu bejahen und der Geburt des auszugsweise: Erhöhung des Kindergeldes, Erhöhung Kindes materiell angstfreier entgegenzusehen. Diese des steuerlichen Kinderfreibetrages, Ausweitung von Chance muß für alle Schwangeren bundeseinheitlich Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld, Ausweitung gegeben sein. Deshalb muß der Wirkungsbereich der der Anerkennung von Erziehungszeiten in der Ren- Stiftung auf das gesamte Bundesgebiet ausgedehnt tenversicherung und die erhebliche Ausweitung des werden. Freistellungsanspruchs von der Arbeit zur Pflege (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kranker Kinder.

Im Zusammenhang mit diesem erweiterten Lei- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort der stungspaket ist es folgerichtig, daß wir die Stiftung Kollegin Dr. Barbara Höll. „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen Lebens" jetzt ebenfalls auf die neuen Bundesländer ausdehnen; denn trotz aller gesetzlichen Leistungsan- Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! sprüche, die noch so ausgefeilt, die noch so großzügig Meine Damen und Herren! Die PDS/Linke Liste teilt bemessen sein können, werden wir nie alle Problem- im wesentlichen die Stellungnahme des Bundesrates bereiche, die im Schwangerschaftskonflikt möglich zum vorliegenden Gesetzentwurf sowohl in der Her- sind, gesetzlich erfassen und regeln können. vorhebung der positiven Effekte als auch in der dargelegten grundsätzlichen Kritik; denn letztendlich (Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Sehr rich beinhaltet dieses Gesetz lediglich die Umverteilung tig! — Norbert Eimer [Fürth] [F.D.P.]: So ist einer gegenüber 1991 und 1992 verstetigten Geld- es!) summe von einem Finanztopf in einen anderen. Deshalb ist es von elementarer Bedeutung, daß die 1993 wird die Bundesregierung genau wie 1992 Stiftung dann mit Leistungen in Erscheinung tritt, insgesamt 180 Millionen DM zur Verfügung stellen, wenn schnelle und unbürokratische ergänzende Hil- nur jetzt einheitlich gefaßt unter der Stiftung „Mutter fen erforderlich sind. und Kind". Damit erfolgt nur eine Vereinheitlichung (Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Auch das ist der Prozedur zur Mittelerlangung für die antragstel- richtig!) lenden Mütter in Ost- und Westdeutschland. Dies kann man bei gutem Willen als positives Ergebnis Solche Hilfeleistungen können auf Grund von perso- bezeichnen, obwohl ich davon noch nicht überzeugt nenbezogenen Schwierigkeiten innerhalb der Her- bin. kunftsfamilien sowie der Ausbildungs- und- Woh- Der zweite positive Effekt, den auch der Bundesrat nungssituation der Schwangeren erforderlich sein. hervorhebt, besteht in der Anerkennung aller vorhan- Ich unterstreiche, daß die im Sinne der Stiftung denen Schwangerenberatungsstellen im Beitrittsge- erforderliche ergänzende Hilfe mit Inkrafttreten die- biet und für die alten Bundesländer in der Einbezie- ses Gesetzes bundeseinheitlich erfolgen wird. Die hung von Beratungsstellen außerhalb der Schwan- konfliktgezielte Hilfe ist dadurch gewährleistet, daß gerschaftskonfliktberatungsstellen. die Vergabe der Stiftungsmittel unter Einbeziehung Formulierung und Begründung des Art. 1 § 2 lassen aller Beratungsstellen erfolgt. meines Erachtens jedoch viele Interpretationsmög- Auf den Hinweis, daß die Mittelvergabe der Stif- lichkeiten offen; denn in den neuen Bundesländern tung unter Einbeziehung aller Beratungsstellen werden ausdrücklich nur die Schwangerenberatungs- erfolgt, lege ich besonderen Wert. Schon deshalb sind stellen hervorgehoben und in den alten Bundeslän- alle Beratungsstellen aufgefordert — das gilt beson- dern alle Beratungsstellen einbezogen, die sich im ders für die Beratungsstellen in den neuen Bundeslän Bereich Ehe-, Familien- und Lebensberatung betäti- 9696 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Dr. Barbara Höll gen. Es ist für mich die Frage, inwieweit nun Famili- Studentin unbesorgt ein Kind bekommen. Die 1 000 enberatungsstellen auch in den neuen Bundesländern Mark reichten für Kinderwagen, Säuglingswäsche, mit tangiert werden. Laufgitter und Babykorb. Vielleicht ist das für einige Mitglieder des Hohen Hauses schon zu sehr Vergan- Die Bundesstiftung heißt „Mutter und Kind — genheit. Aber informieren Sie sich einmal, was früher Schutz des ungeborenen Lebens" und hat den Zweck, werdenden Müttern ergänzende Hilfen zu gewährlei- bei Ihnen und jetzt in Gesamtdeutschland eine solche sten. Eigentlich ist es toll, daß die Bundesregierung Erstausstattung kostet! Ein Strampler kostet 33 DM — zumindest einmal das Selbstbestimmungsrecht der und wie viele braucht man da! Sicher war Kinderbe- Frauen anerkennt. Frauen sind zwar selbst nach dem kleidung und Kindernahrung in der DDR subventio- mehrheitlich verabschiedeten Gruppenantrag zur niert, und ein Laufgitter kostete nur 28 DDR-Mark. Es ist jedoch hier nicht der Zeitpunkt und der Ort, über Neuregelung des § 218 StGB nicht in der Lage, ohne Beratung über ihre Schwangerschaft zu entscheiden, die Ökonomie zu diskutieren. Fakt ist, daß es in aber als Bittstellerin für eine einmalige finanzielle Deutschland gegenwärtig ein Luxus ist, sich ein Kind Hilfe dürfen sie selbstbestimmt auftreten. Wo gibt es zu leisten. Die Frauen in den neuen Bundesländern die Möglichkeit für zukünftige Väter, die ihre Partne- spüren das natürlich besonders stark, da sie es anders erlebt hatten. rinnen in vielen Fällen erwiesenermaßen drängen, das Kind nicht auszutragen, Hilfe zu erbitten? Selbst in Übrigens wird, wenn man die Geburtenentwick- den Formularen wird nur von den Frauen gesprochen; lung in der früheren DDR mit der in den neuen ich habe eines hier. Bundesländern vergleicht, deutlich, daß eine bessere materielle Absicherung von werdenden Müttern nicht Das Gesetz kennt also nur werdende Mütter in Not. automatisch zu mehr geborenen Kindern führt, daß Ich frage mich, ob es als Anerkennung gesellschaftli- jedoch das Absinken der finanziellen und sozialen cher Realität gemeint ist, daß eine ungewollte Absicherung unter einen bestimmten Mindeststan- Schwangerschaft tatsächlich Frauen trifft: Frauen, die dard — überproportional in schlecht bezahlten Berufen tätig sind, weniger Aufstiegschancen haben, geringere Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin 11611, Sie Rentenansprüche und keine Betreuungsstätten für sind weit über Ihre Zeit. ihre Kinder haben. Was sind Mütter, die durch die Kinderbetreuung einen immensen, aber unbezahlten Anteil am Reproduktionsprozeß der Gesellschaft lei- Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): — letzter sten, der Bundesregierung eigentlich wert? Satz —, wenn man noch Faktoren wie Arbeitslosigkeit usw. hinzunimmt, einen katastrophalen Geburten- Die schon angesprochene Verstetigung der Mittel rückgang zur Folge hat, wie wir ihn jetzt in den neuen bedeutet im Prinzip, daß nicht einmal der Inflations- Bundesländern verzeichnen. ausgleich erfolgt, sondern gegenüber dem zur Verfü- Ich danke Ihnen. gung stehenden Geld eine tatsächliche Abschmel- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) zung erfolgt. Dabei muß man wissen, daß es sich um Summen handelt, die für Herrn Bundesminister Rühe im Verteidigungshaushalt lediglich die Portokasse Vizepräsident Hans Klein: Lassen Sie mich doch darstellen. noch einmal folgende Bitte aussprechen: Wenn das rote Licht leuchtet, ist die Zeit abgelaufen. Dann gebe Notwendig wäre nach Meinung der PDS/Linke ich immer noch, weil man ja nicht mitten im Satz Liste die Realisierung eines Rechtsanspruchs für jede unterbrechen will, ein bißchen zu. Aber oft wird das werdende Mutter auf finanzielle Unterstützung. Die von den Rednerinnen und Rednern so interpretiert: bestehenden Rechtsansprüche wie Kindergeld, Kin- Ich kann jetzt noch reden, bis er interveniert. — Ich dergeldzuschlag, Kinderfreibetrag usw. haben ledig- will ja nicht intervenieren. Ich bitte also, auf die lich unterstützenden Charakter für ein Leben mit Leuchtzeichen zu achten. Kindern; sie reichen natürlich nicht zur Begleichung Als nächster hat unser Kollege Norbert Eimer das der laufenden familiären Mehrausgaben und sind Wort. zudem sozial ungerecht verteilt. Besserverdienende erhalten für die Erziehung ihres Kindes vom Staat mehr. Norbert Eimer (Fürth) (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mich bemühen, Die Geburt eines Kindes verursacht jedoch eine die rote Lampe nicht aufleuchten zu lassen. Ich will plötzliche finanzielle Mehrbelastung, die- nicht ein- auch gleich am Anfang sagen, daß es mir ein bißchen fach aufzufangen ist. Nach der Vereinigung Deutsch- unverständlich ist, nach welchen Gesichtspunkten die lands wurde die in der DDR gezahlte Summe von Redezeiten festgelegt werden. Wir haben manchmal 1 000 DDR-Mark nach der Geburt eines jeden Kindes Beratungen über komplizierte Zusammenhänge und oft als Geburtenprämie verunglimpft. Interessanter- dennoch wenig Redezeit, und manchmal beraten wir weise belaufen sich die Summen für die etwas über — wie jetzt — zwar einen sehr wichtigen Punkt, den 800 Anträge, die im Zeitraum von zwei Monaten im man aber sehr kurz abhandeln kann. April und Mai dieses Jahres in Chemnitz bewilligt (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Ein spe wurden, alle auf etwa 1 000 DM. zieller Wunsch der SPD!) Sicher verfolgte die DDR-Regierung mit dieser Ich meine, daß wir dieses Thema schon zu oft Regelung eindeutig demographische Ziele, aber diese behandelt haben und nicht mehr neu kommentieren Regelung deckte den Finanzbedarf für eine Erstaus- müssen, daß wir die Grundsatzmeinungen schon zu stattung des Babys tatsächlich ab. So konnte auch eine oft ausgetragen haben. Egal, ob man für dieses Gesetz Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9697

Norbert Eimer (Fürth) oder dagegen ist, ob man es gut oder schlecht findet: Vielen Dank. Eigentlich kann man nur für diese Änderung des (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Gesetzes betreffend die Stiftung sein; denn es geht Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Herr Präsi nicht um die Probleme, die hier angesprochen worden dent, das ist ein guter Vorschlag!) sind. Vielmehr steht die Änderung unter der Über- schrift „Wieder ein Stücken mehr Einheit". Oder, um es mit den Worten Ihres Ehrenvorsitzenden zu sagen: Vizepräsident Hans Klein: Ich finde es sympathisch, Hier wächst zusammen, was zusammengehört. — Es wenn einer mehr Zeit fordert und selber weniger Zeit ist notwendig, daß wir die Gesetze vereinheitlichen, braucht. und dies ist ein Weg dazu. (Heiterkeit) Der allgemeine Familienlastenausgleich, der hier Als nächster hat die Kollegin Christina Schenk das gerade von der SPD angesprochen worden ist, ist zwar Wort. wichtig, aber um ihn zu diskutieren, ist die Zeit zu kurz. Mit dem Einwerfen von Schlagworten, die dazu noch sehr fragwürdig sind, kann man dem Thema Christina Schenk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht gerecht werden. Weil wir heute einmal soviel I lerr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Stif- Zeit haben, will ich einen Appell an uns alle richten: tung mit dem vielsagenden Titel „Mutter und Kind — Wenn wir Familienpolitiker uns hier im Plenum so Schutz des ungeborenen Lebens" ist mit dem vorgeb- zerfleischen, wie das auch heute wieder geschehen lichen Ziel gegründet worden, die Zahl der Schwan- ist, dann werden wir beim Anstehen an die Töpfe von gerschaftsabbrüche durch die Vergabe von finanziel- immer nur zweiter Sieger sein. len Hilfen an Bedürftige zu senken; so steht es explizit im Gesetz. (Beifall bei der F.D.P.) Der gedankliche Hintergrund der Stiftung und die Ich will meine Redezeit aber auch dazu benutzen, Verfahrensweise bei der Mittelvergabe weisen diese wie es teilweise vorher schon geschehen ist, auf das Stiftung als eine absolute Fehlkonstruktion aus. Der Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen. Stiftung liegt die Prämisse zugrunde, die Entschei- Der Grundfreibetrag ist zu niedrig. Ich erinnere mich: dung für oder gegen die Austragung einer Schwan- Seitdem ich mich politisch betätige, zieht Lambsdorff gerschaft sei allein oder zumindest in erster Linie eine über das Land und sagt: Wir können doch den Bürgern Frage der materiellen Situation. Das ist völlig realitäts- über Steuern nicht aus der einen Tasche herauszie- fremd. Die Entscheidung zum Schwangerschaftsab- hen, was wir ihnen über Transferleistungen in die bruch oder für die Austragung einer Schwangerschaft andere Tasche hineinschieben. — Aber — da bitte ich ist keine Frage der finanziellen Situation. meine Kollegen von der SPD, zuzuhören— auch in der (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ Koalition mit der SPD war es nicht möglich, den CSU]: Auch der Moral!) Grundfreibetrag so zu erhöhen, wie das Bundesver- fassungsgericht es von uns gefordert hat. Ein solcher Zusammenhang zwischen dieser Ent- scheidung und der finanziellen Lage existiert nicht Meine Damen und Herren, der Mangel, der durch und ist allenfalls hypothetisch. die Besteuerung des Existenzminimums entsteht, (Norbert Eimer [Fürth] [F.D.P.]: Auf die finan kann und darf nicht durch eine Stiftung beseitigt zielle Seite allein haben wir nie abgeho werden. Hier hilft tatsächlich nur eine weitere Verbes- ben!) serung des Familienlastenausgleichs. Das ist wirklich seit langem bekannt, und das ist (Beifall bei der SPD) letztendlich auch in den Anhörungen — Sie waren ja dabei — im Zusammenhang mit der parlamentari- — Ich bin froh, daß wir uns da alle einig sind. Wir schen Diskussion um die Neuregelung des Schwan- sollten uns dann aber auch gegenüber den Finanzpo- gerschaftsabbruchs erneut bestätigt worden. litikern in den einzelnen Fraktionen so verhalten. — Aber selbst wenn es gelingt, den Familienlasten- Keine Frau läßt sich durch einen einmalig gezahlten ausgleich so zu schaffen, wie er uns vorschwebt, wie er Betrag von durchschnittlich 1 000 oder auch 2 500 optimal ist, wird Not bleiben, die nicht durch kompli- DM, je nachdem, wo sie sich befindet — das sind ja die zierte und ausufernde Gesetze behoben werden kann. Größenordnungen, um die es hier geht; auch das muß Dazu brauchen wir Stiftungen wie diese, die- schnell man noch einmal klar sagen —, davon abhalten, eine und unbürokratisch helfen können. Diese Stiftung ungewollte Schwangerschaft abzubrechen. In Situati- wird angenommen. Sie hilft, Schwangerschaftsabbrü- onen, in denen tatsächlich Geldmangel eine zentrale che zu vermeiden. Die Ausweitung auf die neuen Rolle bei der Entscheidung über die Fortsetzung oder Bundesländer ist notwendig und folgerichtig. den Abbruch einer Schwangerschaft spielt, wird die Stiftung nicht helfen können. Denn bei Problemen wie (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Verschuldung, Langzeitarbeitslosigkeit und bereits lang andauernder Abhängigkeit von der Sozialhilfe Wir haben hier wieder ein Stückchen Einheit mehr. wird es um weit höhere Beträge gehen, als sie von der Herr Präsident, ich habe meine Redezeit nur zur Stiftung gewährt werden können. Zudem sind in Hälfte ausgenutzt. Ich hoffe, daß Sie dazu beitragen, solchen Fällen längerfristige, kontinuierliche Hilfen daß die Familienpolitiker das nächste Mal bei wichti- gefragt. geren Beratungen, bei schwierigeren Problemen Außerdem ist es ein Unding, daß es keinen Rechts- mehr Zeit bekommen. anspruch auf Hilfe aus Stiftungsmitteln gibt, so daß 9698 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Christina Schenk diese den Charakter eines Almosens haben und Eva - Maria Kors (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Verteilungsgerechtigkeit nicht möglich ist. sehr verehrten Damen und Herren! Mit Ablauf des Geradezu absurd ist es, daß Frauen, die nicht Jahres 1992 wird der Hilfsfonds für schwangere vorgeben, einen Schwangerschaftsabbruch wegen Frauen in Not in den neuen Bundesländern auslaufen, finanzieller Not in Erwägung zu ziehen, ohne jede der im Oktober 1990 als Sofortprogramm der Bundes- Chance sind, zusätzliche Mittel zu bekommen, zumin- regierung eingerichtet worden war. Wichtig ist dabei, dest wenn man sich an das Gesetz hält. Frauen, die daß die Bundesstiftung „Mutter und Kind — Schutz also von Anfang an sowohl das Kind als auch das Geld des ungeborenen Lebens" statt dessen auf die neuen haben wollen, werden vom Gesetz praktisch dazu Bundesländer ausgedehnt wird. Von großer Bedeu- angehalten, die Unwahrheit zu sagen. So, meine tung ist, daß die Mittel des Fonds in Höhe von Damen und Herren, kann eine ernstzunehmende 40 Millionen DM nicht verlorengehen, sondern in die Sozialpolitik doch nicht aussehen! Stiftung einfließen und somit 180 Millionen DM für schwangere Frauen in Not aus der Stiftung zur Verfü- Ein Weiteres: Die Vergabe von Stiftungsmitteln soll gung stehen. in Zukunft grundsätzlich auch Sache der Schwanger- schaftsberatungsstellen sein. Der damit auf diese Bei der Überleitung des Gesetzes zur Errichtung der zukommende zusätzliche Aufwand für Armutsbera- Bundesstiftung ist außerdem sehr wichtig, daß die tung und Bürokratie läuft den eigentlichen Aufgaben Vergabe der Stiftungsmittel in Zukunft über Schwan- dieser Beratungsstellen zuwider und kommt einer gerschaftsberatungsstellen erfolgen soll. Entwertung der Arbeit, die dort von den Beraterinnen Dies ist deshalb so wichtig, weil gemäß Art. 31 und Beratern geleistet wird, gleich. Abs. 4 des Einigungsvertrages in den fünf neuen Ich wäre nun nicht überrascht, wenn die Bundesfa- Bundesländern und Ost-Berlin Schwangerschaftsbe- milienministerin trotz der massiven und grundsätzli- ratungsstellen eingerichtet wurden, die nicht an die chen Kritik an der Stiftung, die von verschiedenen Voraussetzungen für eine Schwangerschaftskonflikt- Seiten geäußert wird, allein aus der Tatsache, daß beratung gemäß den §§ 218ff. StGB gebunden sind. Stiftungsmittel nachgefragt werden, wieder eine Mit dieser Änderung des § 2 des Gesetzes erfolgt somit Erfolgsmeldung für die ach so famose Frauen- und eine Einbeziehung aller Beratungsstellen, an die sich Familienpolitik der Bundesregierung machen würde. Schwangere wenden, wenn sie Rat und Hilfe in einer Darin hat sie ja Übung; das hat sie schon einmal im Notlage suchen. Hierzu zählen nicht nur die gemäß Zusammenhang mit dem Erziehungsgeld und dem Art. i § 3 des Schwangeren- und Familienhilfegeset- sogenannten Erziehungsurlaub gemacht. zes anerkannten Beratungsstellen, sondern insbeson- dere auch Beratungsstellen, die im Bereich der Ehe-, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Familien- und Lebensberatung sowie in der Jugend- sowie bei Abgeordneten der SPD) und Familienhilfe tätig sind. Ich fasse zusammen: Intention und Konstruktion der Die Bundesstiftung wurde 1984 entwickelt. Ihre Stiftung gehen sowohl an der Problematik ungewoll- sehr große Inanspruchnahme vor allem durch Allein- ter Schwangerschaft als auch am Problem der oftmals erziehende, Frauen mit geringem Einkommen und sehr angespannten sozialen Situation von Frauen mit Frauen aus Familien, die von Arbeitslosigkeit betrof- Kindern vorbei. Die Stiftung kann mit der Vergabe fen waren, zeigt, daß sie eine unverzichtbare ergän- von Almosen oder Gebärprämien die Lücken in der zende Hilfe zu den staatlichen Leistungen ist, zumal Sozialgesetzgebung nicht füllen. Das kann nur mit die Mittel aus der Stiftung nicht auf die Sozialleistun- einer qualitativen und quantitativen Weiterentwick- gen angerechnet, sondern zusätzlich zu ihnen gezahlt lung der gesetzlichen Grundlagen erreicht werden. werden können. Die Stiftung ist somit in der Lage, bei Meine Damen und Herren, angsichts dieser Bilanz der Gewährung von Hilfen individuell auf die ganz schlage ich vor, die Stiftung abzuwickeln. persönlichen Lebensumstände der betroffenen Frauen einzugehen. Dieser schnelle und unbürokrati- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sche Weg der Hilfe kann werdenden Müttern in sowie bei Abgeordneten der SPD) Konfliktsituationen die Entscheidung zur Fortsetzung Notwendig sind tatsächliche und tiefgreifende Entla- der Schwangerschaft erleichtern, soweit dies eben stungen für das Leben mit Kindern, z. B. ausreichen- durch finanzielle Mittel möglich ist. der und erschwinglicher Wohnraum — nicht nur für Regelungen in einem Leistungsgesetz dagegen -schwangere Frauen, sondern für alle —, ein bedarfs können der Vielfalt menschlicher Probleme nicht mit und flächendeckendes Netz von Kinderbetreuungs- gleicher Sensibilität und Zielgenauigkeit gerecht einrichtungen und nicht zuletzt ein existenzsichern- werden. des Erziehungsgeld sowie ein kostendeckendes Kin- dergeld und noch vieles andere mehr. Darüber sollten (Zuruf der Abg. Christel Hanewinckel wir hier im Bundestag diskutieren, nicht aber darüber, [SPD]) wie ein weiteres untaugliches sozialpolitisches Instru- — Frau Hanewinckel, ich komme gleich darauf, einen ment des Westens auf den Osten übertragen werden Augenblick noch. Hören Sie mir einmal zu. — Der kann. Einzelfall ist per Gesetz nie und nimmer ausreichend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, zu erfassen; das haben wir an anderer Stelle in der bei der SPD und der PDS/Linke Liste) Vergangenheit oft genug in der Praxis erfahren müs- sen. Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Eva-Maria Parlamentarische Staatssekretärin Frau Verhülsdonk Kors, Sie haben das Wort. hat die Zahlen bereits genannt: Seit Bestehen der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9699

Eva-Maria Kors Stiftung „Mutter und Kind Schutz des ungeborenen Ich bedanke mich. Lebens" haben in den alten Bundesländern rund (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge 500 000 werdende Mütter die Hilfe der Stiftung und in ordneten der F.D.P.) den neuen Bundesländern 19 000 den Hilfsfonds für Frauen in Not in Anspruch genommen. Das sind — anders gerechnet — allein in den alten Bundesländern Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort der über 62 000 Hilfeleistungen im Jahr für Frauen, die Kollegin Christel Hanewinckel. durch ihre Schwangerschaft in eine besondere Notsi- tuation geraten sind. Christel Hanewinckel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dank ist hier sicher fehl am Hinter diesen nackten Zahlen verbergen sich, wie Platze. wir alle wissen, große seelische und wirtschaftliche Sorgen und Nöte, in die die Frauen gerade auch durch (Eva-Maria Kors [CDU/CSU]: Nein, er ist ihre Partner oder ihr unmittelbares Umfeld gebracht sehr angebracht!) worden sind. In Gesprächen oft genannte Gründe sind — Nein, er ist fehl am Platze. Wenn Sie als Regierung, bekanntlich: das Absinken des Lebensstandards als Koalition die Hilfsbedürftigen durch Ihre Politik durch die Geburt und das Aufziehen des Kindes, überhaupt erst schaffen, dann ist es wirklich fehl am Zahlungsverpflichtungen, die nur bei voller Erwerbs- Platze, sich im nachhinein dafür zu bedanken, daß die tätigkeit erfüllt werden können, oder auch das Nicht- Regierung Almosen austeilt. wissen um Hilfsmöglichkeiten, wie z. B. die Stiftung (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und „Mutter und Kind" eine ist. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gerade aus diesen Gründen sind gute, ausgebildete Ich möchte zu Beginn zwei Zitate bringen, das erste Berater und Beraterinnen in den Beratungsstellen aus einem Brief einer jungen Frau und Mutter aus unerläßlich, die auf Grund ihrer Erfahrungen am Chemnitz vom 30. Juni 1992. besten entscheiden können, welche Hilfen, wohlge- Im November vergangenen Jahres erfuhr ich, merkt: individuell zugeschnitten auf die persönliche bereits im siebenten Monat schwanger, vom Lebenssituation der betroffenen Frauen, angeboten Hilfsfonds „Schwangere Frauen in Not". Sofort werden müssen. meldete ich mich dort, und man sagte mir, daß ich Wer die Notwendigkeit der Stiftung in Frage stellt gute Aussichten auf eine Unterstützung zur Her- oder es sogar ablehnt, ihre Möglichkeiten anzubieten, stellung kindgerechten Wohnraums hätte, weil der kann doch nicht an der hohen Akzeptanz durch unser Familieneinkommen unter der Bemes- die Hilfesuchenden vorbeigehen oder gar die Augen sungsgrenze lag. In unserem Falle sollte es sich davor verschließen. Ich fordere Sie daher, liebe Kolle- um die Installation einer Heizungsanlage han- gen und Kolleginnen von der SPD, von der PDS, aber deln, da unser Badezimmer und unser Schlafzim- auch bestimmte Einrichtungen der pro familia drin- mer, in welchem auch das Kinderbettchen stehen gend auf, Ihre kritische Haltung der Stiftung gegen- sollte, über keine Heizstelle verfügen. Mein über angesichts dieser hohen Inanspruchnahme neu Mann war zu diesem Zeitpunkt noch Student und zu überdenken. BAföG-Empfänger, und ich hatte mein Studium auch erst ein Jahr zuvor abgeschlossen, so daß (Beifall bei der CDU/CSU) uns keine Ersparnisse zur Verfügung standen. Das derzeitige Gehalt meines Mannes ermöglicht Ich wiederhole und betone noch einmal: Wer aus- uns auch jetzt nicht die Aufnahme eines Kredites. schließlich Hilfen auf Grund von Rechtsansprüchen Also besorgte ich schnellstmöglich alle Unterla- fordert, der muß sich sagen lassen, daß kein Gesetz gen und reichte diese am 16. 12. 1991 ein. Unser — keines! — die Notsituation einer Frau in einem Baby wurde am 13. 2. 1992 geboren und mußte Schwangerschaftskonflikt individuell erfassen kann. immer warm angezogen und mit Handschuhen Herr Präsident, meine Damen und Herren, die und Mütze schlafen. Wir hatten noch immer keine Bundesregierung hat dem Entwurf des Bundesmi- Rückmeldung erhalten. Erst Ende Mai 1992, also nisters für Familie und Senioren zum 4. Gesetz zur sechs Monate später, erhielten wir einen abschlä- Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung gigen Bescheid, da unser Familieneinkommen „Mutter und Kind — Schutz des ungeborenen plötzlich über der Bemessungsgrenze liegt. Lebens" zugestimmt und die grundsätzliche- Kritik des Das zweite Zitat ist aus einem Brief der Arbeitsge- Bundesrates Gott sei Dank zurückgewiesen. Ich meinschaft der deutschen Familienorganisation vom möchte von dieser Stelle aus der Ministerin für Familie April 1992: und Senioren, Frau Hannelore Rönsch, und ihren Die in der Arbeitsgemeinschaft zusammenge- Mitarbeitern sowie der Bundesregierung Dank sagen schlossenen Familienverbände verfolgen mit für diesen Gesetzentwurf. Sorge und Unverständnis die Entwicklung um (Beifall bei der CDU/CSU) den Hilfsfonds „Schwangere Frauen in Not". Nachdem noch im Herbst '91 schwangere Er verdient unsere Zustimmung; denn durch ihn kann Frauen in den neuen Bundesländern durch die in den kommenden Jahren in der gesamten Bundes- Medien dazu aufgerufen wurden, vom Hilfsfonds republik Deutschland Hilfe für in Not geratene wer- Gebrauch zu machen, hat man schon An- dende Mütter geleistet und somit auch der Schutz des fang '92 ihr Vertrauen auf verläßliche Hilfe ungeborenen Kindes, sein Recht auf Leben, gestärkt enttäuscht. Ende Januar wurden die Vorausset- werden. zungen für den Bezug der Hilfsmittel rückwir- 9700 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Christel Hanewinckel kend zum 1. 1 . 1992 restriktiv verändert. Das sonst Alle diese Dinge und Erfahrungen zeigen doch unantastbare Gesetz der Besitzstandswahrung eigentlich, wie unerwünscht Kinder in unserer so hat ausgerechnet für schwangere Frauen keine zivilisierten Gesellschaft sind. Um so mehr Gültigkeit. Dieses Vorgehen ist uns im Hinblick bedrückt es uns, daß einige Politiker mit aller auf die Diskussion um den Schutz des ungebore- Macht das ungeborene Leben schützen wollen, nen Lebens unbegreiflich. wenn das geborene Leben dann einfach so mit Soweit das Zitat aus dem Brief der Arbeitsgemein- Füßen getreten werden kann. Sind es denn schaft der deutschen Familienorganisationen. unsere Kinder nicht wert, daß wir das Allerbeste für sie tun? Sie sind doch unsere Zukunft. In den neuen Bundesländern wurde 1991 als Ent- sprechung zur Stiftung „Mutter und Kind — Schutz Was aber tut die Bundesregierung bzw. die CDU/ des ungeborenen Lebens" von der Bundesregierung CSU-Fraktion? Sie erhebt Verfassungsklage gegen ein „Hilfsfonds für schwangere Frauen in Not" ein- den mehrheitlich verabschiedeten Gruppenantrag gerichtet. Dieser Fonds wurde von den Frauen nur zum Schwangerenhilfegesetz. Die Koalition verab- zögerlich angenommen. Unterschiedliche Gründe schiedete gestern eine Novellierung des Arbeitsförde- spielten dafür eine Rolle, u. a. auch der Grund, daß sie rungsgesetzes, dessen Lasten vorrangig die Frauen sich nicht als Bittstellerinnen erleben wollten. Die und damit die Familien zu tragen haben. Außer Gelder wurden nicht ausgeschöpft. Dadurch wurde es Absichtserklärungen von Frau Rönsch, daß die Ver- möglich, Baumaßnahmen aus diesem Fonds zu finan- fassungsgerichtsurteile einen Weg weisen — den sie zieren. Darauf setzte eine Antragsflut ein bei der aber nicht beschreitet —, und außer daß Frau Merkel Wohnsituation in den neuen Ländern kein Wunder. die Frauen dazu aufruft, sie sollten um ihre Rechte Die Beratungsstellen, die diese Mittel zu vergeben kämpfen, dabei aber nicht denken, daß sie ihnen auf hatten, hatten fast keine Zeit mehr, ihre eigentliche einem Silbertablett serviert werden, ist von dieser Arbeit zu tun, nämlich Beratung bei Erziehung, in Regierung nichts zu hören. Lebensfragen und im Schwangerschaftskonflikt anzu- bieten. Sie waren und sind bis heute nicht glücklich Ich frage mich, ich frage Frau Merkel und Frau über die Mehrbelastung, Formulare und Anträge Rönsch, an wen sie eigentlich dauernd appellieren, ausfüllen zu müssen. wenn nicht an die Regierung, zu der sie ja meines Wissens immer noch gehören. Dann aber wurde es Mitte Februar 1992, und die Beratungsstellen erhielten die Mitteilung, daß die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Vergaberichtlinien ab 1. Januar 1992 geändert seien. 90/DIE GRÜNEN) Die betroffenen Frauen und die Beraterinnen hatten den Eindruck, daß Mitte Februar schon der April Familien und Frauen brauchen keine Appelle und begonnen hätte. Proteste der Betroffenen, der Ver- Absichtserklärungen, keine Gnadenakte und keine bände und des Ausschusses Familie und Senioren Almosen — wie Stiftungsgelder immer wieder erlebt ergaben für 1992 einen Nachtragshaushalt. werden und was sie auch sind , sondern sie brau- chen familienpolitische Leistungen, auf die sie einen Mit dem 1. Januar 1993 soll die Stiftung auch auf die Rechtsanspruch ha ben. neuen Bundesländer übergeleitet werden. Die Frage der Betroffenen ist: Geht nun dieses Spiel von neuem Die konkreten Einzelerfahrungen aber sind depri- los? mierend. Bis zu 70 % der Arbeitslosen in den neuen Ländern sind Frauen. Alleinerziehende Frauen mit Gesetzgeber sind nicht zuständig für karitative Kindern erleben sich und ihre Kinder zunehmend als Fonds, sondern für verläßliche gesetzliche Regelun- ausgegrenzt und sind auf Sozialhilfe angewiesen. Das gen, sind Verletzungen der Würde der Frauen und der (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Familien, Mißachtung und Entwertung ihres Lei- Liste) stungswillens, aber auch der Besonderheit und Andersartigkeit der Frauen, schwanger werden zu die Familien nicht ausnehmen, sondern ihre Existenz können und Kinder zu gebären. sichern. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Für die Frauen in den neuen Ländern bedeutet das Liste) einen erheblichen Identitätsverlust als Frau und Mut- ter, der sich darin zuspitzt, daß sich viele Frauen in den Statt Fonds und Stiftungen fordern wir ein entspre- neuen Ländern der Männlichkeit anpassen. Der deut- chendes Kinder- und Erziehungsgeld, Betreuungsan- liche Ausdruck dafür sind die steigende Zahl der gebote für Kinder der unterschiedlichen Altersgrup- Sterilisierungen und der vehemente Rückgang von pen, reale gleiche Chancen für Frauen und Männer, Geburten in den letzten zwei Jahren. Offensichtlich für die, die berufliche Wiedereingliederung brauchen, stehen frauliche, weibliche und familiale Fähigkeiten wenn sie Kindererziehungszeiten in Anspruch neh- nicht hoch im Kurs und gilt die tiefe Erfahrung als Frau men, eine verfassungsmäßige Besteuerung der Fami- und Mutter nicht oder nur wenig als gleichberech- lie, aber genauso eine Mietpolitik, die Familien leben tigt. und wohnen läßt. Damit aber schwinden auch das Vertrauen und die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Hoffnung in demokratische Werte und politische Ver- 90/DIE GRÜNEN) antwortung. Mit der Überleitung der Stiftung „Mutter Frau A. aus Chemnitz schreibt am Ende ihres und Kind" auf die neuen Bundesländer zum 1. Januar Briefes: 1993 ist Vertrauen nicht zurückzugewinnen. Das ist Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9701

Christel Hanewinckel nur mit einer entsprechenden Familienpolitik mög- Kernkraftwerke der Sowjetunion und der Nachfolge- lich. staaten ohne Ausnahme geschlossen werden müssen. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Die Bundesregierung hat das insgesamt unterstützt. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beim letzten Gipfel in München war dieses wichtige Thema Gegenstand der Beratungen, und es hat auch die Unterstützung der Weltwirtschaftsmächte gefun- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- den. che. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/3376 an die in der Dabei geht es, wie wir alle wissen, nicht nur darum, Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es in den GUS-Ländern eine Entscheidung hinsichtlich dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der der 15 oder 16 RWMK-Modelle herbeizuführen, son- Fall. Die Überweisung ist beschlossen. dern von Petersburg bis Kosloduj in Bulgarien strahlen weitere Kernkraftwerke eines anderen Systems, näm- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 a und b auf: lich Druckwasserreaktoren, in einer Weise, die unse- a) Beratung der Beschlußempfehlung und des rem Sicherheitsstandard überhaupt nicht entspricht. Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit (17. Ausschuß) zu Hier ist nach Meinung aller Fachleute eine andere der Unterrichtung durch die Bundesregierung Meßlatte anzulegen. Bei den meisten dieser 50 Druck- Bericht der Bundesregierung über Umweltra- wasserreaktoren könnte man durch Nachbesserung, dioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr durch Sanierungsmaßnahmen, Verbesserungsmaß- 1989 nahmen und Ergänzung tätig werden, wobei ich nicht ausschließe, daß man auch zu neuen Energiekraftwer- — Drucksachen 12/69, 12/2515 — ken ohne Kernenergie kommt. Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Harries Alle Industrieländer, vor allem die EG-Industrielän- Reinhard Weis (Stendal) der, fühlen sich verantwortlich und haben die Bereit- Gerhart Rudolf Baum schaft bekundet, den GUS-Staaten zu helfen. Man hat von Geld gesprochen. Nur, wir haben gemeinsam zu b) Beratung der Beschlußempfehlung und des fragen: Wo bleiben hier die Taten? Dem Vernehmen Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- nach liegen bei der EG in Brüssel einige hundert schutz und Reaktorsicherheit (17. Ausschuß) zu Millionen ECU bereit — angeblich 200 Millionen, aber dem Antrag des Abgeordneten Ulrich Klinkert ich kann die genaue Zahl nicht nennen —, um einen und der Fraktion der CDU/CSU sowie des Beitrag zur Verbesserung der Druckwasserreaktoren Abgeordneten Gerhart Rudolf Baum und der zu leisten. Es gibt europäische Länder, die ebenfalls Fraktion der F.D.P. einen, wie ich meine, zu geringen Beitrag, aber Reaktorsicherheit in den Staaten Mittel- und immerhin einen Beitrag leisten. Osteuropas — Drucksachen 12/1906, 12/2759 — Wir haben in der letzten Sitzung des Umweltaus- schusses feststellen müssen, daß der Etat für 1993 Berichterstattung: mehr als symbolische finanzielle Beiträge der Bundes- Abgeordnete Ulrich Klinkert republik Deutschland nicht enthält. Hier müßte nach- Siegrun Klemmer gebessert und gehandelt werden, Gerhart Rudolf Baum Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Richtig! die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. Jawohl!) — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so weil die Sicherheit der Energieversorgung in den beschlossen. GUS-Ländern und die Sicherheit der genannten Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- 50 Druckwasserreaktoren von Petersburg bis Kosloduj gen Klaus Harries das Wort. in unserem Interesse liegt, (Beifall bei der CDU/CSU) Klaus Harries (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesen Tagen, im Sicherheitsinteresse unserer Einwohner. Wir sind nach letzten Meldungen sogar heute, gehen die zwei — das sage ich freimütig — aber auch deswegen daran Reaktoren in Tschernobyl, die nicht zerborsten sind, interessiert, weil wir es für notwendig halten, auch in wieder ans Netz. Das ist eine schlimme Nachricht, die Zukunft auf die Kernenergie nicht zu verzichten. Es ist uns erschreckt. Wir halten das wohl übereinstimmend völlig klar: Wenn ein weiteres dramatisches Ereignis, für verantwortungslos. Man ist angesichts dieser Ent- ein katastrophaler Unfall in den GUS-Staaten einträte, wicklung beinahe geneigt, zu fragen, ob die neuen würde die ohnehin schwankende Akzeptanz in unse- Machthaber in den GUS-Ländern, hier in der Ukraine, rer Bevölkerung weiter sinken, und wir kämen in die menschenverachtende Politik der Vergangenheit einen Energienotstand. Es besteht also Handlungsbe- fortsetzen. darf. Allerdings gebietet es die Fairneß, zu sagen, daß die Die Kernenergie ist für uns unverzichtbar, weil wir GUS-Staaten in wirtschaftlicher Anspannung und Not unsere Energieversorgung in der Zukunft sicherstel- und trotz aller Ressourcen vor allem in einem Ener- len müssen, weil wir weiterhin zu einem vernünftigen gienotstand sind. Energiemix ja sagen, weil wir in den Kernkraftwerken Der Bundesumweltminister hat seit Jahr und Tag einen Beitrag zum Umweltschutz und zur Klimavor- mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die RWMK- sorge sehen. Die bei uns arbeitenden 20 Kernkraft- 9702 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Klaus Harries werke leisten einen Beitrag zur Verringerung der glaube, irgendwann muß man von dieser schizophre- CO2-Emission von rund 150 Millionen m3 . nen Politik wegkommen. Auf die genannten Summen können und werden Die Beschreibung der Situation in Ihrem Antrag wir in Anbetracht der skizzierten Umstände nicht halte ich für gar nicht schlecht. Ich finde allerdings die verzichten. Es besteht der beschriebene Handlungs- Konsequenz, die Sie daraus ziehen, völlig unzurei- bedarf. chend. Sie schildern die Sicherheitslage im Bereich Wir sagen ja zur Kernenergie, weil sie vor unserer der Kernenergienutzung in Osteuropa als „äußerst Bevölkerung aus den genannten Gründen verant- besorgniserregend". Es heißt weiter in Ihrem wortbar ist, da eine Strahlenbelastung nicht besteht. Antrag: Daß diese Strahlenbelastung nicht besteht, ergibt sich aus dem Bericht der Bundesregierung über die Strah- Die Situation der Energiewirtschaft ist eine der lenbelastung in unserem Land für 1989. Darin wird Hauptursachen für die katastrophale Umweltsi- klar und deutlich dargelegt, wie die Strahlenbela- tuation in diesen Staaten. stung aus natürlichen Quellen und aus zivilisatori- Dann kommt der Antrag der Koalitionsfraktionen, der schen Quellen ist und wie weiterhin die Auswirkun- in keiner Weise Ihrer Analyse entspricht. gen von Tschernobyl sind. Das Ergebnis ist: Die Grenzwerte werden eingehalten. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Wieso?) Trotzdem mache ich einige kritische Einzelbemer- — Ihr Antrag — das muß ich auch im Hinblick auf kungen. unsere Diskussion von Mittwoch deutlich sagen, Herr Die erste Bemerkung. Ich halte es gerade wegen der Baum — ist ausschließlich an der Fortführung der schwierigen Debatte in unserem Land für unverzicht- Kernenergiepolitk auch in den osteuropäischen Län- bar, daß wir in die Lage versetzt werden, diese dern orientiert. Berichte nicht erst nach drei Jahren, zu diskutieren, damit wir wissen, was Sache ist, und der Bevölkerung (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Zwangsläu sagen können, daß keine Gefahr besteht. fig!) Die zweite Bemerkung. Wir haben im Bereich In diesem Antrag steht nichts über Prioritäten für meines Wahlkreises, im Bereich Krümmel, Leukämie Alternativenergien oder Einsparszenarien oder die tote. Dort gibt es eine andauernde schwierige Diskus- Unterstützung entsprechender Aktivitäten. Das ist ein sion bei den Betroffenen und in der Bevölkerung. entscheidender Mangel. Dabei wird gesagt: Der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Kernkraftwerk Krümmel und dem Der Antrag geht wie selbstverständlich vom grund- bedauerlichen Tod der Kinder ist klar nachgewiesen. sätzlichen Fortbestand und — leider — vom Ausbau — Das ist nicht der Fall! Ich appelliere hier, auf der zivilen Kernenergienutzung in Osteuropa aus. geeignetem Weg die beauftragten Institute zu bitten, Diese Weichenstellung ist grundsätzlich falsch. sehr schnell zu klaren wissenschaftlich begründeten (Klaus Harries [CDU/CSU]: Wer hat denn das Aussagen zu kommen, damit die Bevölkerung beru- Sagen?) higt werden kann. Sie können oder wollen aus Tschernobyl und 15 Die dritte Bemerkung. In der Tabelle 2 des Berichts weiteren möglichen Tschernobyls und 30 anderen werden die Emissionen aus den Kernkraftwerken Kernreaktoren, die Zeitbomben entfalten, nicht ler- dargestellt. Bei Stade und Würgassen ist mir aufgefal- nen. len, daß die Tritium-Emission relativ höher als in anderen Kraftwerken ist. Ich frage die Bundesregie- (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Die müssen rung, welche Erklärung es dafür gibt. Woran liegt das? abgeschaltet werden!) Ich bitte, dies heute oder später zu klären. Ich wiederhole, was ich schon mehrmals gesagt Im übrigen sagt der Bericht positiv aus: Die Grenz- habe: Wenn uns ein Ausstieg aus der Kernenergie in werte werden eingehalten. Osteuropa gelingen soll — nur 11,5 % des Stroms in Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. den GUS-Ländern kommen aus Kernreaktoren —, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dann muß das jetzt geschehen. Es dürfen nicht statt- dessen zig Milliarden in eine marode Kernenergie- wirtschaft gesteckt werden. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege- Dr. Klaus Kübler, Sie haben das Wort. Kernenergiepolitik in Osteuropa ist und bleibt eine Sackgassenpolitik. Ich bin fest davon überzeugt, daß es uns nicht gelingen wird, in Osteuropa zu einer Dr. Klaus Kübler (SPD): Herr Präsident! Meine einigermaßen geordneten Kernenergiepolitik zu Damen und Herren! Herr Harries, Sie haben auf kommen, selbst nicht aus der Sicht der Kernenergie- typische Weise vorgeführt, wie Kollegen der CDU das befürworter. Thema Kernenergie behandeln. Sie sprechen auch in Ihrem Antrag auf der einen Seite von den ungeheuren (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Rich Gefahren der Kernenergie tig!) (Klaus Klarries [CDU/CSU]: Das habe ich Sie haben davon gesprochen, daß heute ein schwar- nicht gesagt!) zer Freitag ist. Ich betone: Heute ist ein Schwarzer und sagen auf der anderen Seite geradezu ideologie Freitag für die Gesundheit der Menschen in der haft: Aber wir machen mit der Kernenergie weiter. Ich Ukraine, für die Gesundheit der Menschen in Osteu- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9703

Dr. Klaus Kübler ropa, für die Gesundheit der Menschen im mittleren nimmt leider eher zu als ab —, ist es unverantwortlich, und westlichen Europa. an der Nutzung der Kernenergie festzuhalten. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sehr (Klaus Harries [CDU/CSU]: Das ist natürlich richtig!) verkehrt!) Zum Schluß richte ich an die Kolleginnen und Ich bin sicher — Sie haben das auch zum Ausdruck Kollegen der CDU/CSU die Frage: Nimmt die Bundes- gebracht —, daß nicht nur in der SPD dieses Verhalten regierung die Sicherheit und Gesundheit der deut- des neuen demokratischen Staates Ukraine große schen Bevölkerung ausreichend ernst? Die Antwort Enttäuschung hervorruft. Beinahe jede Woche errei- lautet: Nein. chen uns entsprechende Meldungen. (Klaus harries [CDU/CSU]: Eine schlimme Heute kommt die Meldung, daß das Kernkraftwerk Aussage!) Ignalina in Litauen seit einer Woche Störfälle zu Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. verzeichnen hat. Man kann diese Reaktoren nicht sicher machen. Man kann sie nur abschalten. Viel- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und leicht könnten wir uns darüber in den großen Fraktio- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen einig werden. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, bila- teral und international gegen die Wiederinbetrieb- Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Herr Präsident! nahme zu intervenieren. Meine Damen und Herren! Wir sind uns einig: Ein Teil der Reaktoren in Osteuropa ist eines der größten (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste globalen Risikopotentiale neben den Risiken der — Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Das macht militärischen Nuklearnutzung und deren mißbräuch- sie ja schon!) licher Verwendung. Rufen wir uns die Fragestunde vom letzten Mittwoch Wir haben den Antrag vorgelegt, um Sensibilität für in Erinnerung. Dort hat sich Ihr Kollege Laufs diese Gefährdung zu schaffen und die Bundesregie- gesträubt und sich erst nach Nachfragen bereit rung hei ihren Bemühungen um bilaterale und inter- erklärt, zu prüfen, ob erneute Interventionen bei der nationale Maßnahmen zu unterstützen. Hilfe kann ukrainischen Regierung möglich sind. Wir sind dank- nicht allein von den Deutschen erbracht werden. Das bar, wenn wir heute etwas Positiveres hören, geht nur in einer internationalen Partnerschaft und Kraftanstrengung, die von einer umfassenden ener- Wo ist ein Stillegungsprogramm? Ich frage Sie giepolitischen Zusammenarbeit zwischen Ost und heute — Sie haben nachher das Wort —: In welcher West natürlich nicht losgelöst sein kann, Herr Kollege Form wird die Bundesregierung mit der Ukraine auf Kübler. internationaler oder bilateraler Ebene sprechen? Wel- che Möglichkeiten kann sie ausschöpfen? Sie kann auch nicht losgelöst werden von der allgemeinen ökonomischen und politischen Situation Lassen Sie mich etwas sagen, was mich intensiv in Osteuropa. Es sind chaotische Strukturen. In der beschäftigt. Die Bundesregierung fordert, Entwick- Ukraine haben mehrere Fraktionen gegeneinander lungshilfe mit der Garantie der Achtung vor Men- gekämpft. Es gab eine Fraktion, die die Nichtinbe- schenrechten in Verbindung zu bringen. Ich denke, es triebnahme von Tschernobyl befürwortete. Sie ist von muß zumindest die Frage gestellt werden dürfen, ob einer anderen Gruppe überstimmt worden. In einem nicht auch hei der Hilfe für Staaten, in denen lebens- Land, das sich im Umbruch befindet, mit normalen bedrohende Atomreaktoren betrieben werden, ver- Maßstäben zu messen ist sehr schwierig, ja unmög- gleichbare Kriterien angelegt werden müssen. Wir lich. haben hier Formen von Risiken für Menschenrechts- Sie haben kritisiert, daß unser Antrag zu kurz greift, verletzungen. Ich glaube, wir können diese Frage Wir haben uns auf das konzentriert, was jetzt binnen nicht abtrennen. kurzer Frist von uns getan werden muß. Daß dahinter Lassen Sie mich hinzufügen, auch wenn es mir die politische Zusammenarbeit und die Einsicht ste- schwerfällt, das zu sagen: Für mich stellt sich die hen, daß alles, was in Osteuropa geschieht, ein Stück Frage, ob und wie lange die deutsche Bevölkerung unserer Zukunft im umfassenden Sinn ist, wollten wir noch bereit ist, die Ukraine zu unterstützen, wenn die in diesen Antrag nicht hineinschreiben. ukrainische Regierung weiterhin eine nukleare Risi- Wir brauchen eine energiepolitische Zusammenar- kopolitk betreibt. Das sollte der ukrainischen Regie- beit. Wir haben eine solche Zusammenarbeit hier in rung bewußtgemacht werden. Westeuropa. Wir haben u. a. eine Energiecharta in der Lassen Sie mich abschließend sagen: Die Frage der Europäischen Gemeinschaft. Wir haben aber leider Sicherheit der osteuropäischen und GUS-Kernkraft- nicht das ist ein Stück unserer Hilflosigkeit gegen- werke verweist auf das Grundproblem der Nutzung über Osteuropa — eine energiepolitische Zusammen- der Kernenergie. Schon in hochindustrialisierten und arbeit in unserem eigenen Land. Der Herr Kollege stabilen Gesellschaftsordnungen birgt die Nutzung Fischer und auch die SPD sind aufgefordert, mit uns, der Kernenergie ein auf Dauer unvertretbar hohes den Regierungsparteien, einen neuen Konsens zu Risiko. In Gesellschaften, die nicht über vergleichbar suchen. stabile Ordnungssysteme verfügen — deren Zahl. (Zuruf von der SPD: Alle!) 9704 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Gerhart Rudolf Baum Warum haben wir nicht einen Mindestkonsens über tie für einen unbegrenzten Weiterbetrieb ausspre- die Entsorgung? Wir alle sind in der Verantwortung chen. Für die Restlaufzeit gibt es aber Nachrüstbar- für Entsorgung! keit, Verbesserung der betrieblichen Sicherheit, kurz- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) fristig realisierbare technische Maßnahmen, Stärkung der Kontrollbehörden. Warum finden wir, was die Energienutzung in unse- rem Lande mit den schwierigen Problemen Kohle, Ich frage mich, Herr Kübler, ob wir uns hier verwei- Kernenergie usw. angeht, nicht zu einem Konsens gern sollen, ob wir einen fundamentalistischen Stand- zurück? punkt einnehmen sollen nach dem Motto: Wenn ihr nicht auch das sofort ersetzt, dann seid ihr für alles Ich bin kein Befürworter einer Leichtwasserreaktor- Weitere verantwortlich. — Es ist eben so, daß ganze zukunft. Das Zukunftsbild ist natürlich die alternative Regionen von einzelnen Kraftwerken abhängig sind. Energie. Aber neben den alternativen Energien gibt Das litauische Kraftwerk mit dem Störfall gestern ist es Reaktorlinien, auf die man nicht ohne weiteres für eine ganze Region der einzige Stromerzeuger, im verzichten sollte. Ich fordere also einen energiepoliti- übrigen auch für den Export nach Rußland, und schen Konsens im eigenen Lande. Rußland liefert auf dieser Basis dann Erdöl nach Wie können wir als Deutsche in Europa, in einer Litauen, das sonst kein Erdöl bekäme. Davon sind also Energiepolitik der Europäischen Gemeinschaft beste- ganze Regionen abhängig. Ich bin der Meinung, daß hen, und wie können wir die Probleme Osteuropas hier ein pragmatischer Ansatz richtig ist, den die energiepolitisch lösen, wenn wir nicht einmal im Bundesregierung vertritt. eigenen Land ein Mindestmaß an Übereinstimmung Deshalb habe ich mich gewundert, daß Sie am haben, wie wir sie etwa 1978 hatten, als wir in der Regierung Schmidt die Entsorgungsgrundsätze zwi- Mittwoch im Ausschuß unseren Wunsch nach einer schen Bund und Ländern einmütig formuliert Verstärkung der Haushaltsmittel abgelehnt haben. haben? Wir wollten damit wenigstens für eine Übergangszeit helfen, daß die Gefährdung zwar nicht ausgeschlos- Es gibt in Osteuropa alte Anlagen des Typs RBMK, sen wird, aber sinkt. Das ist verantwortungsvolle des Tschernobyl-Typs, und Anlagen des Typs WWER Politik, und hier unterstützen wir nachdrücklich die 440 230, des Kosloduj-Typs. Ich sage hier ganz deut- Bundesregierung. Das ist auch der Inhalt unseres lich: Diese Anlagen sind nicht nachrüstbar; sie müssen Antrags. abgestellt werden! Hier gibt es überhaupt kein Zögern. Die Bundesregierung hat das auch gestern Wir sind nicht zufrieden mit dem Haushalt. Wir zum Ausdruck gebracht. müssen das hier ganz deutlich sagen. Ich unterstütze das, was Herr Kollege Harries gesagt hat. Diese Mittel (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der müssen für den Fonds, der international auf dem CDU/CSU und der SPD) Weltwirtschaftsgipfel vereinbart worden ist, und für Ich war vor kurzem in Tschernobyl. Ich war auch in die bilaterale Hilfe verstärkt werden. Weißrußland. Es wird ja oft vergessen, daß es die Ich habe noch einige kurze Bemerkungen zu den Hauptschäden in Weißrußland gibt. Dort sind etwa Cäsiumfunden zu machen. Diese Vorgänge zeigen, 23 % des Gebietes für lange, lange Zeit landwirt- daß die zusammenbrechenden Strukturen in Osteu- schaftlich nicht nutzbar. Sie kennen die Fälle der ropa auch für uns tiefgreifende Folgen haben. Die Leukämie bei Kindern. Ich war in der gespenstischen Bundesregierung hat am 29. April einen Bericht 30-km-Zone von Tschernobyl. Es ist wirklich die „Handlungskatalog in bezug auf vagabundierendes größte und langwierigste Umweltkatastrophe, die ich Plutonium" vorgelegt. Ich stimme dem zu. Wir sehen kenne. die Gefahren, die mit Cäsium und Strontium zusam- Diese Anlagen dürfen nicht in Betrieb gehen. Es menhängen. Wir müssen den Menschen, die glauben, wäre ja geradezu absurd, wenn aus dem wieder in eine schnelle Mark verdienen zu können, sagen, daß Betrieb gehenden Reaktor Tschernobyl Strom nach es keinen Markt für diese Produkte gibt und sie für Österreich geliefert würde, wie wir hören. In Öster- Bomben ungeeignet sind. Sie sind eine ganz hohe reich steht eines der modernsten Kernkraftwerke, Gefährdung für diejenigen, die diese Materialien Zwentendorf, still. Es ist nie in Betrieb genommen transportieren und mit ihnen umgehen. worden. Die Österreicher sollten sich jetzt angesichts dieser zynischen Position überlegen, ob sie Strom aus Ich verweise darauf, daß sich die Justizministerin, diesem Unglücks- und Katastrophenreaktor beziehen Frau Leutheusser-Schnarrenberger, in diesem Zu- oder ihre eigene Anlage in Betrieb nehmen wollen. sammenhang für eine Verschärfung des Umweltstraf- rechts ausgesprochen hat. Die Gesetzeslücke, wonach (Beifall hei der CDU/CSU — Michael Müller die Einfuhr und die Ausfuhr von Cäsium und Stron- [Düsseldorf] [SPD]: Richtig!) tium bisher nicht strafbar sind, wird geschlossen Wir haben keinen unmittelbaren Einfluß auf die werden müssen. Auch die Durchfuhr durch unser entscheidenden Regierungen. Wir sollten ihnen Land muß künftig bestraft werden. Die Strafandro- jedoch bei der Entwicklung von Stromerzeugungsan- hungen insgesamt müssen erhöht werden. lagen helfen, die an die Stelle dieser nicht nachrüst- Die Schlußbemerkung. Wir sind hier einer neuen baren Reaktoren treten können. Kosloduj ist eine Situation ausgesetzt, die von dem Zusammenbruch einzige Katastrophe. Wenn man daran denkt, könnte der alten Strukturen in Osteuropa herrührt. Für die es einem den Schlaf rauben. Situation dort sind wir nicht verantwortlich. Wir ver- Es gibt aber Anlagen, die für eine begrenzte Zeit suchen, die Gefährdungen einzugrenzen. Wir versu- nachrüstbar sind. Und ich will hier auch keine Garan- chen, einen Beitrag zu leisten. Die Bundesrepublik hat Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9705

Gerhart Rudolf Baum hier seit vielen Monaten auf internationaler Ebene Schweigens umgeben. Nach dem Anschluß der DDR eine Meinungsführerschaft, und sie hat eine Initiative an die Bundesrepublik versucht die atomgläubige unternommen. Der Weltwirtschaftsgipfel hat das Bundesregierung, diese Tradition fortzusetzen. gezeigt. Nur müssen jetzt, Herr Kollege Wieczorek, Die Akten über Strahlenerkrankungen der Bevöl- Taten folgen. Diese Beschlüsse müssen im eigenen kerung und des Personals, bisher nicht der kritischen Land umgesetzt werden. Hierzu müssen im Bundes- Öffentlichkeit zugänglich, sind in die Archive des haushalt die notwendigen Mittel zur Verfügung Bundesamts für Strahlenschutz gewandert und wer- gestellt werden. den dort weiter der Öffentlichkeit vorenthalten. Der Alles ist nur in internationaler Zusammenarbeit zu Grund hierfür: In keinem anderen Staat der Welt leisten. Wir wären weit überfordert, wenn wir dieses wurde über Personal und Anwohner des Uranberg- Problem auf unsere Schultern nähmen. baus so lückenlos bezüglich Strahlenexposition und Herr Kollege Kübler, wir sind nicht verantwortlich. Erkrankungen Buch geführt wie in der DDR. Hier- Machen Sie uns bitte nicht zum Komplizen von durch ließen sich eindeutige Belege für Gesundheits- Leuten, die nach wie vor in unverantwortlicher Weise schäden im Uranbergbau weltweit ableiten. Zu die- ein hohes Gefährdungspotential an Kernkraftwerken sem weiteren Beweis der tödlichen Sicherheit der betreiben! Wir versuchen, die Gefährdungen einzu- Atomenergie will es die Bundesregierung nicht kom- grenzen. men lassen. Vielen Dank. Im sogenannten Einigungsvertrag hat die Bundes- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) regierung mit vorgesehenen Überleitungsregelungen die bundesdeutsche Strahlenschutzverordnung für den Uranbergbau und dessen Folgen auf dem Gebiet Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dr. Dagmar der DDR außer Kraft gesetzt. Die Grenzwertfestset- Enkelmann, Sie haben das Wort. zung geschieht weiter nach DDR-Recht, das hier offensichtlich nicht als Unrecht angesehen wird. — Die DDR-Vorschriften aber blieben in diesem Fall weit Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr unter den ebenfalls unzureichenden Vorschriften der Präsident! Meine Damen und Herren! Über den Strah- BRD zurück; damit beantworte ich Ihre Frage. lenschutzbericht der Bundesregierung könnte man sich jedes Jahr aufs neue ärgern. Trotzdem möchte ich (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Was ist vor allem dazu etwas sagen. denn BRD?) Vorab nur so viel: Die neuartige Bedrohung von Es ist demnach festzuhalten: Die Bundesregierung Mensch und Umwelt durch Proliferation von Nuklear- verstößt mit dem Außerkraftsetzen der bundesdeut- material z. B. infolge der Destabilisierung der Nukle- schen Strahlenschutzverordnung ebenso gegen ei- armacht Sowjetunion finden wir in Bahnhofsschließ- gene Gesetzgebung wie gegen EG-Recht. fächern und Kofferräumen wie jüngst in Frankfurt. Die Die PDS/Linke Liste fordert daher: lückenlose Auf- Dunkelziffer auf diesem Gebiet dürfte erheblich höher klärung der Beschäftigten des Uranbergbaus sowie sein. der Bevölkerung der betroffenen Gebiete über Strah- Aber auch hier gilt, Kollege Baum: Nur der Ausstieg lenbelastung in Vergangenheit und Gegenwart; die aus der militärischen oder zivilen Nutzung von Nukle- Bildung einer Untersuchungskommission aus Vertre- artechnologie weltweit bietet tatsächlich wirksamen terinnen und Vertretern der Belegschaft, der Bevölke- Schutz. Aber darüber reden wir wohl erst beim Strah- rung, der Wissenschaft und der Regierung mit dem lenschutzbericht 1992. Oder? Ziel der Aufklärung der Situation sowie der Erstellung Reden wir also über den Strahlenschutzbericht 1990 von Sanierungskonzepten; und den Uranbergbau. In Anbetracht der kurzen (Klaus Harries [CDU/CSU]: Wir sind doch Redezeit möchte ich mich auf dieses Problem konzen- schon längst dabei!) trieren. Bereitstellung von Mitteln für ein Sofortprogramm zur Durch den jahrzehntelangen Uranabbau und die Haldensanierung und Schadensminimierung der Fol- Erzaufbereitung in der SDAG Wismut im Süden der gen des Uranberghaus sowie notwendige Umsiedlun- DDR wurden großflächige radiologische Verseuchun- gen der Bevölkerung. gen eines Gebietes von zusammen über 1 200 km 2 (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Das machen - verursacht. Dieses Uran wurde komplett von der Sowjetunion abgenommen. wir doch alles!) Noch gibt es keine offiziellen Angaben über die Die Bezirksregierung Gera hatte übrigens bereits radiologische Belastung und die Gefährdung, die vom 1990 die Kosten für die Altlastensanierung auf 40 bis Uranbergbau in der früheren DDR ausgeht, den Gru- 50 Milliarden DM geschätzt. ben, dem Tagebau, den Halden, dem im Straßen- und (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Die Bundes Häuserbau verwendeten radioaktiven Haldenmate- regierung gibt jedes Jahr 1 Milliarde! — rial sowie besonders den Rückständelagern in Gros- Klaus Harries [CDU/CSU]: Die Marktwirt sen und Seeligstädt, in denen die Rückstände aus der schaft macht es möglich!) Uranerzaufbereitung lagern. Es ist nicht auszuschlie- ßen, daß es auf Grund der hohen Strahlenbelastung zu Wahrscheinlich liegen sie erheblich höher. Evakuierungen kommen muß. Über das weite Feld der ständig steigenden Bela- Die atomgläubige Regierung der DDR hat dieses stung von Menschen und Umwelt durch nichtionisie- Kapitel der DDR-Geschichte mit einem Mantel des rende Strahlen aus Elektrogeräten über Hochspan- 9706 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Dr. Dagmar Enkelmann nungsanlagen bis zu Sendeanlagen schweigt sich der Die atomaren Hinterlassenschaften der einstigen Bericht der Bundesregierung auch diesmal weitge- Sowjetunion drohen mehr und mehr zum Alptraum zu hend aus. Insbesondere die steigende Anzahl von werden. Anlagen des C- und D-Telefonnetzes mit dazugehöri- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) gen Sendetürmen verursacht eine ständig steigende Belastung, deren Folgen nahezu unbekannt sind. Knapp 50 Jahre nach dem Abwurf der ersten Atom- bombe auf Japan und 40 Jahre nach Beginn der Bemerkenswerterweise sitzen in den Kommissio- sogenannten friedlichen Nutzung der Atomenergie nen, die die Strahlenbelastung bewerten sollen, fast entgleitet die Kontrolle über das todbringende radio- ausschließlich Industrievertreter. Die behaupteten: aktive Material. „Jeder handelt mit jedem", melden Alles harmlos! „Alles harmlos" meint auch die Bun- die Nachrichtenagenturen, während der Bundesum- desregierung in ihrem Strahlenschutzbericht 1990. weltminister ziemlich ratlos ist und bekanntgibt, daß Sollten Sie weitere Fragen haben, liebe Kollegen die deutschen Zollbehörden in Zukunft in verdächti- von den Koalitionsfraktionen, wenden Sie sich bitte an gen Situationen Kontrollen durchführen sollen. Was, die Kollegen Ihrer Fraktion, die im Umfeld der Wismut bitte, haben die Zollbehörden bisher gemacht? Die — z. B. als Chemiefacharbeiter — gearbeitet haben. haben das bisher doch immer schon so gemacht. Ich (Klaus Harries [CDU/CSU]: Dabei sind wir glaube, wir müssen hier in dieser Hinsicht wesentlich längst!) deutlicher werden. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Zuruf von der CDU/CSU: Die Polizei ermit telt doch schon lange! Täter gefaßt!) (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Das war keinen Beifall In derselben Zeit sitzen wir aber im Umweltaus- wert!) schuß zusammen und beschließen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, daß es weiterhin eine finan- zielle Unterstützung für die Sanierung von Atom- Vizepräsident Hans Klein: Der amtierende Präsident reaktoren in Osteuropa gibt. ist — besonders vor namentlichen Abstimmungen — (Zuruf von der CDU/CSU: Wegen der Sicher oft in der Situation, daß er um Ruhe bitten muß. heit!) (Heiterkeit — Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Auch wenn Herr Baum deutlich darauf hinweist, daß Worum bitten Sie jetzt?) es nur eine bestimmte Gruppe von Reaktoren gibt, die Heute bin ich in Versuchung, um Unruhe zu bitten. man sanieren kann, so sage ich Ihnen: (Heiterkeit — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/ (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Nicht sanie CSU]: Herr Präsident, man lernt nie aus!) ren! Die Gefährdung mindern!) Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter — Die Gefährdung herabsetzen; ich folge Ihnen. Feige das Wort. (Zuruf von der CDU/CSU: Ihr Gegenvor schlag?) Dr. Klaus - Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aber dieses Geld, daß wir dort bereitstellen, ist auch NEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen die Voraussetzung dafür, daß Tschernobyl überhaupt und Herren! Mich wundert es wirklich, daß wir so wieder ans Netz gehen konnte. Allein diese Ankündi- ruhig sind. gung kann unmittelbar dazu führen; denn woher Sonntag, 11. Oktober: In Frankfurt wird strahlende sollen die Staaten im Osten denn die Mittel nehmen, Schmuggelware beschlagnahmt. Die radioaktiven die für diese anderen Reaktoren und für den Weiter- Stoffe — Cäsium 137 und Strontium 90 — stammen betrieb notwendig sind? vermutlich aus einem Nachfolgestaat der früheren (Zuruf von der CDU/CSU: Eine unzulässige Sowjetunion. Spekulation!) Montag, 12. Oktober: Die „Washington Post" mel- Wenn wir genau diese Mittel dafür immer weiter dete unter Berufung auf US-Regierungskreise, daß bereitstellen, auch wenn wir dies — von mir aus — aus der Iran mit Kasachstan den Kauf atomarer Gefechts- direktem Interesse tun, dann ist das nicht weiter als köpfe vereinbart habe. auch die Förderung dieser maroden Reaktoren. Wer Mittwoch, 13. Oktober: Die Nachrichtenagenturen das unterstützt, der macht sich in diesem Sinne verbreiten die Meldung, daß die Ukraine- mit Block 3 genauso mitschuldig dafür, daß wir diesen Reaktor des Tschernobyl-Reaktors wieder Atomstrom für dort ans Netz bekommen. Österreich herstellen will. Zusätzlich gibt es Nachrich- (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Wieso denn ten darüber, daß die russische Regierung Green- das? — Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist peace-Schiffe aufbringen läßt. Dabei wollten die doch genau das Gegenteil!) Greenpeace-Kontrolleure nur prüfen, ob tatsächlich Atommüll versenkt wurde. Ich erwähne in diesem Hilfe muß für diese Atomreaktoren nämlich nicht sein; Zusammenhang den Störfall in dem litauischen sie muß aber für die genauso maroden konventionel- AKW. len Kraftwerke erfolgen und auch für Energiespar- maßnahmen. Wir hatten zunächst daran gedacht, eine Aktuelle Stunde einzuberufen. Aber ich glaube, wir kämen aus (Zuruf von der CDU/CSU: Die stehen ganz Aktuellen Stunden nicht mehr heraus, wenn wir diese woanders! — Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Themen so hintereinander abarbeiten müßten, wie es Das ist ein riesiges Land! Die stehen ganz notwendig wäre. woanders!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9707

Dr. Klaus-Dieter Feige Ich weiß noch aus der DDR-Zeit, was allein durch Die Akzeptanz dieser Fragen liegt unter zwei Drittel. Energiesparmaßnahmen eingespart werden kann. Sie wollen auf Dauer gegen den Willen von zwei Glauben Sie doch nicht — Sie haben das zwar Dritteln der Menschen irgend etwas durchsetzen. begründet —, daß dies gerade in diesem Winter (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch wirksam werden wird. So schnell wird diese Hilfe gar nicht! — Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: auch dort nicht greifen. Alles falsch!) Eines kommt hinzu: Selbst wenn Sie glauben, daß Ich denke noch nicht einmal an einen Sofortausstieg. diese Reaktoren halbwegs sicher wären, so hat dies Ich denke, daß es auch andere Möglichkeiten gibt. noch ein Nachspiel: den Atommüll, den es auch dort (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Die zwei gibt. Wenn ich daran denke, daß dort Atommüll im Drittel müssen Sie mir einmal vorstellen!) Meer versenkt wird, daß dort in der GUS insgesamt In solch einem Zusammenhang, in dieser problema- die Frage der End- und Zwischenlagerung so ungelöst tischen Lage, fordert der Präsident des Deutschen ist, dann frage ich mich, ob wir nicht damit auch dort Atomforums neue Atomkraftwerke für die Bundes- weitere potentielle Gefahren hervorrufen. republik Deutschland. Ich erinnere mich noch an die Debatte zum Atom- (Zuruf von der CDU/CSU: Ein kluger kraftwerk in Greifswald. Wir konnten den Atommüll Mann!) nicht nach Rußland zurückgeben, hat Herr Töpfer In solch einer Situation derartige Forderungen aufzu- damals gesagt, weil dort die Zwischen- und Endlage- stellen ich glaube, selbst er kann diese Verantwor- rung nicht garantiert ist. tung nicht übernehmen. In einer Pressemitteilung von Ihnen, Herr Harries, (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Das ist alles habe ich gelesen, daß Sie z. B. — — unbestritten!)

Ich bitte Sie, was unterstützen wir denn damit? Wir Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, bitte keine unterstützen damit die Fortsetzung genau dieser Pressemitteilungen mehr, sondern nur noch einen maroden Politik. Da mache ich nicht mit! Schlußsatz. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Sie handeln nicht verantwortlich! Zuruf von der CDU/ Dr. Klaus - Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU: Sie sitzen in einem Elfenbeinturm!) NEN): Herr Harries, ich habe gelesen, daß Sie den Ministern in Niedersachsen und in Hessen vorwerfen, Aber es geht nicht nur um die Hinterlassenschaften daß sie zwar im Rahmen von Vorschriften, aber der früheren Sowjetunion. Auch hier bei uns in gesetzwidrig handelten. Bitte, wenn wir nicht gerade Deutschland — wie übrigens überall auf der Welt ist diese Vorschriften von „grüner" Seite gewissenhaft das Problem der Entsorgung von Atommüll nicht und ernst nähmen, wie würde es dann hier in der einmal ansatzweise gelöst. Bundesrepublik in Sachen Atomenergiewirtschaft aussehen? (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch (Klaus Harries [CDU/CSU]: Sie wissen gar nicht!) genau, wie ich das gemeint habe! Lesen Sie — Ja, ansatzweise. Am kommenden Wochenende soll es genau vor!) dann wieder — das haben Sie selber gesagt — mit Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Weisungen Schacht Konrad durchgesetzt werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wenn ich daran denke, daß es allein in der Sache der SPD und der PDS/Linke Liste) „Schacht Konrad" 300 000 Einwendungen gibt,

(Zurufe von der CDU/CSU: Auf Postkarten! Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Parla- — Vorgeschrieben!) mentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Ber- dann bitte ich Sie, einmal mehr über die Akzeptanz tram Wieczorek. dieses Problems nachzudenken. Parl. Staatssekretär beim (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: 100 Leute im Dr. Bertram Wieczorek, - Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- Zelt! — Zuruf von der CDU/CSU: Das Zelt ist torsicherheit: Herr Präsident! Meine Damen und Her- leer!) ren! Bevor ich zu meinen Darlegungen komme, Im Zusammenhang mit dem Schacht Konrad und erlaube ich mir einige Bemerkungen zu den Ausfüh- der morgigen großen Demonstration erinnere ich Sie rungen des Kollegen Kübler. Herr Kollege Kübler, an an einen Satz, den I Zerr Seiters gestern hier gesagt hat. diesem — wie Sie es sagten — schwarzen Freitag Sinngemäß hieß es: Es wird keiner Regierung und überkommen uns alle beklemmende Gefühle. Wir keinem Parlament gelingen, am Willen dieses Volkes hatten ja bisher alle politischen Möglichkeiten, natio- vorbeizuregieren und damit auf Dauer eine gute nal und international, dazu genutzt, die Ukraine zu Politik zu machen. Daran möchte ich Sie genau in veranlassen, ihren eigenen Parlamentsbeschluß um- diesem Zusammenhang erinnern. zusetzen. Wir sind nicht davon ausgegangen, daß die Blöcke 1 und 3 von Tschernobyl über den Winter — so (Zuruf von der CDU/CSU: Was ist eine Alter haben wir es gestern von Herrn Krawtschuk erfah- native?) ren — noch einmal ans Netz gehen. 9708 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek Ich mu ß sagen: Wir sind uns hier alle einig, daß diese art ein umfassendes multilaterales Aktionsprogramm genannten Reaktoren abgeschaltet werden müssen. vorgeschlagen. Entsprechend diesem Vorschlag ha- Sie müssen abgebaut werden. Andererseits zeigt uns ben die G-7-Staaten auf dem Münchener Gipfel im die Situation, daß diese beiden Reaktoren ans Netz Juli dieses Jahres ein Sofortprogramm mit folgenden gehen, aber auch die katastrophale wirtschaftliche Zielen beschlossen: erstens Verbesserung der Sicher- und soziale Lage in der Ukraine. heit der Betriebsführung in den GUS-Kernkraftwer- Meine Damen und Herren, es gibt keinen deut- ken; zweitens kurzfristige, auf Sicherheitsbewertung schen Reaktor vom Typ WWER, der noch am Netz ist; basierende technische Verbesserungen; drittens Stär- dieser Typ ist nach der Öffnung der Mauer, nach der kung der behördlichen Kontrollen der nuklearen Herstellung der Einheit Deutschlands abgeschaltet Sicherheit. worden. Alle bilateralen und internationalen Bemü- Diesem Programm liegt die einvernehmliche Ein- hungen gehen, denke ich, in die von mir genannte schätzung der westlichen Staaten — übrigens keines- Richtung. Darin sollten wir uns hier einig sein. wegs eine Selbstverständlichkeit! — zugrunde, daß Herr Feige, Bundesumweltminister Töpfer ist nicht die schwerwiegendsten Sicherheitsmängel bei den ratlos. Er war es, der in München in Vorbereitung des Reaktoren des Tschernobyl-Typs — hiervon sind 15 in G-7-Treffens die hochrangige Arbeitsgruppe, über Betrieb und 3 im Bau — sowie bei den 10 in Bet rieb deren Aktivitäten ich noch berichten werde, initiiert befindlichen älteren WWER-Reaktoren bestehen. hat. Aber ich möchte Sie auch noch einmal daran Diese Reaktoren sollten daher so bald wie möglich erinnern, daß Bundesumweltminister Töpfer nicht abgeschaltet bzw. nicht mehr fertiggestellt werden. Umweltminister in Rußland oder in der Ukraine ist, (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) sondern in der Bundesrepublik Deutschland. Die Reaktoren der neueren Typen WWER-440/213 Zum Schluß: In bezug auf Schacht Konrad erleben und WWER-1000 weisen geringere Sicherheitsdefi- wir ein rechtsstaatliches Verfahren, kein „Druckver- zite auf, so daß eine Nachrüstung dieser beiden fahren", sondern eine Anhörung. Ich denke, wir Reaktortypen grundsätzlich für möglich gehalten sollten diese Anhörung, die nach rechtsstaatlichen wird. Erschwerend hinzu kommen bei den dort betrie- Verfahrensgrundsätzen abläuft, erst einmal abwar- benen Reaktoren Mängel in der Betriebsführung und ten. Wie ich übrigens hörte, besteht kein sehr großes Instandhaltung. Weiterhin fehlen effektive und unab- Publikumsinteresse; das Zelt soll etwa 3 500 Men- hängige Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden schen fassen, im Schnitt sind aber wohl immer nur 100 sowie die notwendigen finanziellen Mittel zur Besei- bis 200 Personen anwesend; ich erwähne das, weil Sie tigung der Mißstände. Meine Damen und Herren, von 300 000 Einwendern sprachen. gerade in diese Richtung gehen unsere bilateralen Meine Damen und Herren, wir leben in einer sehr Hilfsmaßnahmen. schwierigen Situation: Auf der einen Seite ein wieder- holter Störfall in Ignalina — wir haben gestern in den Dabei ordnet das Programm diese Unterstützungs- Zeitungen wieder davon gelesen , auf der anderen maßnahmen in die energiepolitische Situation ein, Seite die offenbar bevorstehende Wiederinbetrieb- und zwar unter zwei Gesichtspunkten: erstens Prü- nahme der Blöcke 1 und 3 des Kernkraftwerks Tscher- fung der Möglichkeiten, die unsicheren Kernkraft- nobyl. Nach jüngsten Mitteilungen soll Block 3 noch werke durch die Entwicklung von Energiealternati- Ende der Woche, also heute oder morgen, wieder ans ven und eine effizientere Energienutzung zu ersetzen. Netz gehen; mit der Wiederinbetriebnahme von Wir denken hier an Kohlekraftwerke sowie an Kraft- Block 1 ist noch im November zu rechnen. Gerade werke auf der Basis von Erdgas, Heizöl und anderen diese Koinzidenz zeigt, wie außergewöhnlich schwie- Heizmitteln. rig die Situation ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aus der Erkenntnis heraus, daß der Zustand der Zweitens: Prüfung der Möglichkeit, Kernkraft- GUS-Kernkraftwerke — wenn auch in unterschiedli- werke neuerer Bauart nachzurüsten. Dabei ist aller- chem Ausmaß — äußerst besorgniserregend ist, hat dings gemeinsame Auffassung, daß die Nachrüstfä- die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten higkeit keineswegs auch Nachrüstung bedeutet. Eine alles getan, um hier zu einer Verbesserung der Situa- Nachrüstung muß auch energiewirtschaftlich und tion zu kommen. Die Bundesregierung hat in diesem ökonomisch Sinn machen; sonst kommt eine Hilfe Jahr insbesondere ihre Präsidentschaft im Rahmen nicht in Betracht. der G-7-Staaten genutzt, um das Problem- auf breiter multilateraler Basis anzugehen. Dies geschah auch Wiederholte Forderungen nach Abschalten von aus der Erkenntnis heraus, daß Deutschland dieses GUS-Kraftwerken, gerade von westlicher Seite, sind Problem, das ja nicht nur ein Reaktorsicherheitspro- deplaziert, wenn die energiepolitische Situation dies blem darstellt, sondern in den gesamten energiewirt- nicht zuläßt. schaftlichen und marktwirtschaftlichen Umstrukturie- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) rungsprozeß in den betroffenen Staaten einzuordnen ist, nur gemeinsam mit den westlichen Partnerländern Wir müssen uns vergegenwärtigen, wie schwierig die angehen kann. Entscheidungslage ist, wenn die Wahl besteht, Men- schen bei allen anderen Problemen, die sie in den Auf unsere Initiative wurde zur Vorbereitung des GUS-Staaten haben, entweder im Winter auch noch Weltwirtschaftsgipfels in München für diesen Bereich frieren oder aber mit einem hohen Risiko leben zu eine hochrangige Arbeitsgruppe der G-7-Staaten lassen. gebildet. Diese Arbeitsgruppe hat zur Verbesserung der Sicherheit der Kernkraftwerke sowjetischer Bau (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9709

Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek Deshalb können diese Entscheidungen nicht ohne tiven Strahler aus Beständen der ehemaligen sowjeti- Einbindung in die jeweilige energiewirtschaftliche schen Armee oder verbündeter Armeen stammen. Situation gesehen werden. Wenn diese Situation es Meine Damen und Herren, wenn sich der eine oder nicht zuläßt, werden Abschaltentscheidungen nicht andere heute die Frage stellt, warum hier der Parla- getroffen, ob es den westlichen Staaten nun paßt oder mentarische Staatssekretär und nicht der Bundesum- nicht. Der Vorgang Tschernobyl zeigt dies mit aller weltminister redet, so kann ich sagen, daß gerade zu Deutlichkeit. diesem Thema heute in Berlin mit der russischen Seite ernsthafte Gespräche geführt werden. Meine Damen und Herren, dies ist der nüchterne Befund. Dabei kommt es entscheidend darauf an, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Handlungsspielräume so verbessert werden, daß Abschaltmöglichkeiten so schnell wie möglich gege- Vizepräsident Hans Klein: Herr Parlamentarischer ben sind. Die Spielräume können von den betroffenen Staatssekretär, wir danken Ihnen zwar für die Mittei- Staaten alleine nicht eröffnet werden; ohne gemein- lung, aber es hat niemand die Frage gestellt. same westliche Hilfe geht dies nicht. Die erforderli- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das liegt chen Umstrukturierungsprozesse brauchen naturge- daran, daß er so gut ist!) mäß auch eine gewisse Zeit. Voraussetzung ist aber, daß dann auch die gewonnenen Spielräume wirklich Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär beim zum Abschalten und nicht etwa zum Stromexport Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- — ich füge hinzu, zu Dumpingpreisen — genutzt torsicherheit: Meine Damen und Herren, die weiteren werden. Ermittlungen von Kriminalpolizei und Staatsanwalt- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) schaft konzentrieren sich u. a. auf die Suche nach mutmaßlich weiteren Behältern und nach Mittelsmän- Die Hilfe soll durch gemeinsame verstärkte bilate- nern sowie auf die Feststellung der tatsächlichen rale Maßnahmen im Sinne des Aktionsprogramms Herkunft der Behälter und der Motive der Täter. und durch einen ergänzenden multilateralen Fonds, Wir begrüßen ganz besonders die heute bekanntge- der bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und wordenen Ankündigungen der Bundesjustizmini- Entwicklung eingerichtet wird, umgesetzt werden. An sterin Leutheusser-Schnarrenberger, die illegale Ein- dieser Stelle möchte ich auch auf die effiziente und und Ausfuhr sowie die Durchfuhr von solchen Zer- zügige Abwicklung der EG-Programme für die Staa- fallsprodukten wie u. a. Cäsium und Strontium unter ten Mittel- und Osteuropas hinweisen. Strafe zu stellen. Die damit verbundenen Verschär- Meine Damen und Herren, es kommt nun darauf an, fungen der einschlägigen Bestimmungen des Um- daß der in Gang gesetzte Prozeß möglichst schnell zu weltstrafrechts halte ich insbesondere aus generalprä- konkreten Erfolgen vor Ort führt. Hierzu gehört aus ventiven Gründen für sinnvoll. der Sicht der Bundesregierung auch, daß die beste- Wir sollten uns über eines auf jeden Fall im klaren henden bilateralen Finanzierungsmechanismen um sein: Wenn sich Strukturen in Mittel- und Osteuropa einen multilateralen Hilfsfonds ergänzt werden. Die auflösen, bleiben wir von den Auswirkungen nicht Arbeiten hierfür sind auf dem Wege. verschont. Wir können unsere Möglichkeiten, dies so weit wie möglich zu verhinden, ausschöpfen, und wir Lassen Sie mich abschließend — auch mit Blick auf tun dies auch. Völlig ausschließen können wir jedoch die wohl anstehende Wiederinbetriebnahme von Komplikationen nicht. abgeschalteten Reaktorblöcken in Tschernobyl und Kozloduy — eines deutlich sagen: Es nutzt nieman- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. dem, Forderungen nach sofortiger Abschaltung aller (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) unsicheren Reaktoren zu erheben, wenn wir nicht gleichzeitig bereit sind, den betroffenen Staaten zu Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Steilver- helfen, die notwendigen praktischen Voraussetzun- treter des hessischen Ministerpräsidenten, Staatsmi- gen dafür zu schaffen. Dazu bietet das multilaterale nister für Umwelt, Energie und Bundesangelegenhei- Aktionsprogramm einen Weg, den wir gemeinsam ten Joseph Fischer, das Wort. mit den anderen westlichen Industriestaaten ent- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist schlossen gehen werden. aber ein langer Titel, Herr Präsident!) Meine Damen und Herren, aus Zeitgründen kann (Hessen): Herr Präsi- ich heute leider nicht auf den Bericht über- Umweltra- Staatsminister Joseph Fischer dioaktivität und Strahlenbelastungen im Detail einge- dent! Meine Damen und Herren! Heute morgen geht hen. Wir werden aber die Anregung des Kollegen es ja wirklich hochherrschaftlich bei der Ansage der Harries aufnehmen, auch was die Fragen der Zeit- Rednerinnen und Redner zu. spanne der Berichterstattung angeht. (Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU]: Ja, wir Erlauben Sie mir statt dessen aus aktuellem Anlaß haben Stil!) einige Bemerkungen zu den Versuchen des illegalen Nun werden Sie mal nicht gleich neidisch, verehrter Handels mit radioaktiven Stoffen. Am 8. und 9. Ok- Herr Parlamentarischer Geschäftsführer. tober wurden — wie Ihnen allen bekannt ist — Meine Damen und Herren, zurück zu einem sehr insgesamt zwei Bleibehälter mit Cäsium-137-Strah- ernsten Thema: Gestatten Sie mir nur eine Vorbemer- lern und ein Bleibehälter mit Strontium-90-Strahlern kung zum eigentlichen Inhalt der heutigen Debatte, sichergestellt. Die Behälter und ihr radioaktiver Inhalt zur Zukunft der Atomenergie und zu den Risiken der stammen mutmaßlich aus ehemals sowjetischer Pro- Atomenergie in Osteuropa und der ehemaligen duktion. Es ist nicht auszuschließen, daß die radioak Sowjetunion. Ich meine, wir alle sollten uns darüber 9710 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Staatsminister Joseph Fischer (Hessen) im klaren sein, daß wir gegenwärtig eine Absurdität Landes das Haus nachdrücklich auf eine zusätzliche des Atomzeitalters von eminenter Brisanz und Gefähr- Gefahr aufmerksam zu machen, der wir uns unabhän- lichkeit erleben. Hier sind nämlich politische und gig davon, wie wir im Grundsatz zur Kernenergie und soziale Strukturen offensichtlich nicht mehr in der zu ihrer Nutzung stehen, gemeinsam stellen müssen Lage, das mit der Atomtechnik geschaffene Bedro- und vor der wir unsere Bevölkerung zu beschützen hungsrisiko tatsächlich aufzufangen. haben, nämlich die Gefahr, die entsteht durch (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Das waren die geschmuggeltes, illegal ins Land gebrachtes radio- alten Strukturen auch nicht!) aktives Material. — Ich will die alten Strukturen doch gar nicht recht- Ich muß Ihnen sagen, es war für mich schon eine fertigen; mir geht es um etwas völlig anderes, Herr sehr bedrückende Erfahrung, am letzten Freitag- Kollege Baum. Mir geht es darum, daß diese Technik abend mitzuerleben, wie mitten in Frankfurt ein — und ich komme im zweiten Punkt meiner Rede erhebliches Risikopotential zu besorgen war und dann darauf zu sprechen — eigentlich eine ausschließliche in Form von geschmuggeltem radioaktiven Material Vernunftssteuerung von Menschen und von politi- auch tatsächlich festgestellt wurde. Wenn dies Nach- schen Institutionen voraussetzt, folgetäter findet und wenn diese Hinterlassenschaften einer zusammengebrochenen nuklearen Supermacht (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ja auf schwarzen und grauen Märkten verscherbelt wohl!) werden, dann stehen wir alle gemeinsam vor einer die nach Lage der Dinge aber leider so nicht zu Herausforderung, die größer ist als die, die etwa durch konstatieren ist. Rauschgiftschmuggel und Rauschgifthandel ent- steht. (Zuruf von der CDU/CSU: In Hessen nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD — Klaus Harries [CDU/ Das ist ja einer unserer Vorwürfe sozusagen gegen CSU]: Da sind wir völlig einer Meinung!) die Systematik der Atomenergienutzung, die dann auch hier im Westen unter anderen Bedingungen — Wir müssen uns ja nicht immer streiten. Ich habe ja durchaus zum Tragen kommen kann. Wenn ich mir bewußt gesagt, mir geht es heute nicht darum, dem die Situation anschaue, stelle ich fest, daß 80 % Grundsatz nach zu streiten, sondern darum, an Sie zu Abhängigkeit vom Atomstrom in unserem Nachbar- appellieren, weil natürlich sowohl die Bundesregie- land vorhanden sind oder daß bei uns ein höherer rung als auch die Landesregierungen — die Sicher- Atomstromanteil immer noch als Erfolg verbucht wird. heitsbehörden genauso wie die Strahlenschutzbehör- Das heißt im Klartext, daß sich bei einem schwereren den; man kann es offen aussprechen — angesichts der Unfall die Frage stellen würde, wie die Versorgung neuen Situation eine gewisse Hilflosigkeit bekennen der Bevölkerung mit Strom zu gewährleisten ist, selbst müssen. wenn es zu einer Havarie, selbst wenn es zu Strahlen- expositionen gravierender Art gekommen ist. Ich (Klaus Harries [CDU/CSU]: Der BMU han glaube, hier kann man lernen, daß die Atomenergie delt ja!) Menschen und menschliche Institutionen und Pla- — Meine Güte, sind Sie festgelegt auf ein lineares nungsmöglichkeiten schlicht überfordert. Das ist doch Denken. Sie meinen wohl, man müsse Sie immer eine der Konsequenzen, die wir aus der gegenwärti- angreifen. Wenn man Sie nicht angreift, dann begrei- gen fatalen Situation mit der Wiederinbetriebnahme fen Sie es gar nicht. Nun nehmen Sie es doch einfach von Tschernobyl und der Gefährdungssituation im einmal so als einen Appell hin. Vielleicht können wir Osten Europas zu ziehen haben. ja einmal etwas ganz Vernünftiges gemeinsam (Klaus Harries [CDU/CSU]: Bei uns nicht!) machen. — Deswegen, verehrter Herr, fand ich Ihren Auftritt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, heute morgen wirklich nicht sehr überzeugend, um es bei der SPD, der F.D.P. und der PDS/Linke einmal sehr milde auszudrücken. Angesichts der Risi- Liste) ken, die dort selbst geschaffen wurden, hier ein so Das ergibt einen ganz neuen Erkenntnishorizont für flammendes Ja zur weiteren Nutzung der Atomener- Sie, verehrter Herr. gie auszusprechen, - Daher glaube ich, meine Damen und Herren — das (Klaus Harries [CDU/CSU]: Nicht für die scheint mir ganz wichtig zu sein —, daß wir alle ehemalige Sowjetunion!) Möglichkeiten der Gefahrenabwehr in einer gemein- ist, finde ich, nicht sehr weit gedacht und nicht sehr samen Anstrengung von Strahlenschutz- und Sicher- verantwortungsvoll. heitsbehörden und auch des Auswärtigen Amtes nut- zen müssen. Das heißt, ich möchte mit Nachdruck an Meine Damen und Herren, ich möchte aber — Sie appellieren, die Bundesregierung dort, wo es deswegen bin ich heute morgen hier hergekommen — materiell notwendig ist, in den Stand zu setzen, daß sie den üblichen Atomenergiestreit, Herr Kollege Baum, alle Möglichkeiten hat, auf diese neue Gefährdung ausklammern, zumindest was meine Position betrifft. schon im Vorfeld, vor unseren Grenzen zu reagieren Ich möchte die Gelegenheit jetzt auch nicht nutzen, und daß sie entsprechend auch an den Grenzen um die Bundesregierung zu kritisieren, die ich in koordinieren kann. diesem Fall nicht zu kritisieren habe, Herr Kollege Wieczorek. Vielmehr möchte ich hier die Gelegenheit (Zuruf von der CDU/CSU: Da sind wir uns nutzen, als der zuständige Minister eines betroffenen einig!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9711

Staatsminister Joseph Fischer (Hessen) Ich sage Ihnen: Wir müssen dabei auch an die glaube, dies ist ganz deutlich zu unterstreichen. Es Beamten denken, z. B. an die Polizeibeamten, die besteht dringender Handlungsbedarf; denn Gefahren natürlich auf eine solche lautlose Gefahr überhaupt und Risiken lauern in diesen rasant steigenden krimi- nicht vorbereitet sind. Das ist ein sehr großes Problem. nellen Aktivitäten. Zunächst einmal besteht die Das ist nichts, was mit dem üblichen dienstlichen Gefahr, daß völlig unbeteiligte Menschen durch oft- Umgang mit gefährlichen Gegenständen bei Polizei- mals unsachgerechten Transport und unsachgerechte beamten zu tun hat, wenn sie z. B. einen verdächtigen Lagerung einer nicht sichtbaren, aber stark gesund- Wagen aufhalten oder schlicht und einfach einmal in heitsgefährdenden, ja oftmals tödlichen Gefahr aus- einen Kofferraum hineinlangen. Das sind alles Dinge, gesetzt sind. Dies betrifft eben auch — wie erwähnt die dabei zu berücksichtigen sind. wurde — die Polizisten, die aufgerufen worden sind, Ich möchte hier, wie gesagt, die Gelegenheit nut- dieses Material aufzuspüren. zen, an Sie zu appellieren, damit der Bundestag die Bundesregierung in den Stand setzt, alles zu tun, um Des weiteren ist nicht auszuschließen, daß radio- hier zu einer koordinierten Kraftanstrengung zu kom- aktives Material als Bedrohungs - und Erpressungs- men. Wir Länder werden dieses nicht allein schaffen. potential mißbraucht wird. Schließlich kann man Wir sind zwar im Inland zuständig, und ich glaube, die nicht mit absoluter Sicherheit verneinen, daß dieses Zusammenarbeit zwischen Bundesregierung und den Material zur Herstellung von Kernwaffen unter- zuständigen Landesregierungen hat auch funktio- schiedlichsten Kalibers — wo auch immer in der niert, selbst wenn sie noch zu verbessern wäre. Was Welt — genutzt wird und mißbraucht wird. aber notwendig ist, ist, daß wir dieses Problem bereits an der Grenze oder im Vorfeld als eine der zentralen Bei den bisherigen Funden stellte sich heraus, daß Sicherheitsherausforderungen begreifen und daß ent- das radioaktive Material zumeist aus dem Territorium sprechend gehandelt wird. der ehemaligen Sowjetunion stammt. In einem Be richt Vielen Dank. der Bundesregierung vom April dieses Jahres wird festgestellt, daß in der GUS der Spaltstofffluß nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bedingt kontrollierbar ist. Das bestehende Niveau des bei der SPD, der F.D.P. und der PDS/Linke physischen Schutzes ziviler kerntechnischer Anlagen Liste) ist unzureichend. Allein in Rußland sind 25 Kernkraft- werke in Betrieb. Zahlreiche weitere Anlagen beste- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen hen zur Brennelementefertigung und -lagerung sowie Ulrich Klinkert das Wort. zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen. Die RBMK - Reaktoren des Typs Tschernobyl, über die ja heute schon mehrfach gesprochen wurde, verdanken Ulrich Klinkert (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine ja ihre traurige Berühmtheit der Tatsache, daß sie so Damen und Herren! Lassen Sie mich die Diskussion an konstruiert wurden, daß aus dem laufenden Reaktor- der Stelle weiterführen, an der Herr Joseph Fischer betrieb Plutonium als spaltbares Material für Kern- eben geendet hat, nämlich bei den illegalen Transpor- waffen entnommen werden kann. Diese Anlagen ten, beim Schmuggel von radioaktivem Material. sind, wie gesagt, unzureichend gesichert. Das für die (Zuruf von der SPD: Sie können ihn Joschka Sicherheit zuständige Personal ist durch die kata- nennen!) strophale soziale Lage in der GUS demotiviert, und — Wir waren ja heute bei sehr viel Förmlichkeiten; da dies alles bei einem explosionsartigen Anstieg von wollte ich die förmliche Debatte auch beibehalten. Verbrechen und organisierter Kriminalität in der GUS. Es ist leider so, daß immer häufiger und in immer kürzeren Zeitabständen die Öffentlichkeit über eine Herr Kübler, wenn Sie aber hier so tun, als ob wir in bisher kaum bekannte Form dieser Kriminalität infor- Deutschland die Macht hätten oder als ob gar die miert wird. Dazu möchte ich einige wenige Beispiele Bundesregierung die Macht hätte, Kernkraftwerke nennen. Das bayerische Landeskriminalamt hat im abzuschalten, dann stellen Sie die Tatsachen völlig März 1,2 Kilogramm angereichertes Uran im auf den Kopf. Wir haben mehrfach in diesem Plenum Schwarzmarktwert von 1,9 Millionen DM sicherge- darüber gesprochen, daß dies nicht die Verantwor- stellt. Zwei Rußlanddeutsche wurden dabei verhaftet. tung der Bundesregierung ist. Wenn Sie dann indirekt In der Schweiz wurde ein Mann festgenommen, der sogar noch zu einem Boykott der Regierung der wenige Gramm zwar wertlosen, aber dennoch stark Ukraine für den Fall aufrufen, daß sie die Kernkraft- gesundheitsschädigenden Materials transportierte werke weiterbetreibt, dann bewegen Sie sich auf ein und dabei vor allem seine eigene Gesundheit aufs politisch gefährliches Glatteis; denn gerade dann wird Spiel gesetzt hatte. In Baden-Württemberg wurden die Regierung der Ukraine oder dann werden die 200 Gramm Cäsium in einem russisch beschrifteten Regierungen der anderen Staaten der GUS gezwun- Behälter gefunden. Die Vorfälle in Hessen hat Herr gen sein, auf diese marode Technik zurückzugreifen Fischer eben ausführlich kommentiert. und die RBMK-Reaktoren ohne die entsprechenden Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Wenn die Sicherheiten weiterzubetreiben. Wir alle sind dafür, Meldungen von heute morgen stimmen, wurde eine diese Reaktoren abzuschalten, aber wir können es der große Menge radioaktiven Materials in Form von GUS nicht zwingend vorschreiben. Wir können nur spaltbarem Uran 235 gefunden. ein bißchen zur Schadensbekämpfung beitragen und Herr Fischer hat gesagt, daß wir hier gemeinsam langfristig dafür sorgen, daß energiepolitisch ein Aus- — Bundesregierung, Parlament und Landesregierun- stieg aus dieser katastrophalen Technik möglich gen — etwas Vernünftiges machen müssen. Ich wird. 9712 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Ulrich Klinkert Die ehemalige Sowjetunion hat exzellent ausgebil- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- dete Spezialisten hervorgebracht. Auch sie leben zeit ist abgelaufen. heute am Rande des Existenzminimums. Nach westli- chen Ansprüchen leben sie sogar weit darunter. Diese Ulrich Klinkert (CDU/CSU): Herr Präsident, ich Wissenschaftler und Techniker wissen, daß sie in möchte bitte noch einen Schlußsatz sagen. vergleichbaren Positionen im Westen zu den Spitzen- Die ehemals sowjetische Kernwirtschaft ist für verdienern zählen würden, während sie in der GUS meine Begriffe ein Problem der internationalen umgerechnet mit 20 bis 50 DM pro Monat auskommen Sicherheit geworden. Die heute real vorhandene müssen. Es ist nicht auszudenken, was passieren Bedrohung entsteht nicht aus der Böswilligkeit der würde, wenn sich diese Wissenschaftler von der GUS, sondern aus ihrer wirtschaftlich begründeten kriminellen Energie einzelner anstecken ließen, so Handlungsunfähigkeit und ruft die internationale wie die Verkettung von ungünstigen Umständen und Staatengemeinschaft zu wirksamer Hilfe auf. menschlichem Versagen zum Super-GAU in Tscher- nobyl geführt hat. Wer will unter den genannten Vielen Dank. Umständen ausschließen, daß ein Super-Klau von (Beifall bei der CDU/CSU) radioaktivem Material möglich ist? Während die Gefahren aus dem zivilen Bereich Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Michael noch annähernd definierbar sind, bringt der militäri- Müller, Sie haben das Wort. sche Bereich meines Erachtens noch wesentlich grö- ßere, aber eben nicht überschaubare Sicherheitsrisi- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Herr Präsident! ken mit sich. Nach Schätzungen westlicher Experten Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, daß ich lagern in der GUS 25 000 bis 30 000 nukleare Spreng- zu Anfang wenigstens eine Anmerkung zu den Aus- köpfe. Das entspricht 100 bis 150 t waffenfähigem führungen von Herrn Baum über den energiepoliti- Plutonium und 500 bis 1 000 t hochangereichertem schen Konsens mache, auch wenn er jetzt nicht im Uran. Dem begrüßenswerten Abbau eines Großteils Raum ist. Er hat die SPD nach den Voraussetzungen dieser Waffen steht die völlig ungeklärte weitere für einen Energiekonsens gefragt. Verwendung waffenfähigen Kernmaterials gegen- Die Ereignisse und die Nachrichten der letzten über. Eine Überführung in den zivilen Kernbrennstoff- Tage, insbesondere der schwerwiegende Störfall im kreislauf ist möglich; eine sichere Zwischenlagerung litauischen Atomkraftwerk Ignalina, die Wiederinbe- ist notwendig, aber auf Grund der derzeitigen wirt- triebnahme von Tschernobyl und vor allem die Exi- schaftlichen Situation der GUS finanziell nicht reali- stenz der internationalen Atom-Mafia sind im Kern sierbar. Begründung für den Ausstieg. Wer dies nicht begreift, Im übrigen ist das Fachwissen der GUS-Wissen- der begreift auch nicht, daß das die Argumente der schaftler in der GUS selbst sicher weitaus besser Gegner der Atomenergie waren, die in diesen Tagen angebracht, beispielsweise bei der Entsorgung von praktisch erneut belegt wurden. Kernwaffen, als wenn es extremistischen Diktatoren (Beifall bei der SPD, des Abg. Dr. Klaus gelänge, die Wissenschaftler für ihre Zwecke zu Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] kaufen. und der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/ Die Verseuchung der Umgebung von Kernreakto- Linke Liste]) ren wie beispielsweise in Tschernobyl ist sicher um Folgende Punkte sind zu nennen: Erstens. Die ein vielfaches schlimmer als das, was uns in Thüringen Entsorgungsfrage ist ungelöst. Zweitens. Es läßt sich und anderen Ländern durch die Wismut AG aufgebür- keine prinzipielle Unterscheidung zwischen militäri- det wurde. Aber wenn die PDS hier heute so tut, als ob scher und ziviler Nutzung ziehen; im Einzelfall schon, die Bundesregierung dafür verantwortlich sei, was die aber, wie gesagt, prinzipiell nicht. Drittens. Das Risiko Wismut AG angerichtet hat, eines Großunfalls ist aus Sicht der SPD nicht zu verantworten; darin stimme ich mit Herrn Fischer (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: völlig überein. Das habe ich nicht gesagt! Da haben Sie nicht zugehört!) Die Frage der Einschätzung des Risikos hat zwei entscheidende Elemente. Das erste Element ist sozu- dann muß man schon darauf verweisen, daß die sagen die Stabilität des Gesamtsystems. Die Stabilität verfehlte Umweltpolitik der SED dazu geführt hat, daß ist prinzipiell auch nicht vorhersehbar, übrigens nicht die Bundesregierung beispielsweise zur -Sanierung nur im zusammenbrechenden Osten, sondern in vie- der von der Wismut AG benötigten Flächen jährlich len Bereichen auch im Westen. mehr als 1 Milliarde DM zur Verfügung stellen (Klaus Harries [CDU/CSU]: Warum steigen muß. Sie dann nicht sofort aus?) (Beifall bei der CDU/CSU) — Ich bin zwar sehr für einen sofortigen Ausstieg, aber Diese verfehlte Politik kostet noch weitere Milliarden. leider besteht ja das Problem, daß wir große Schwie- Für die Sanierung der Braunkohlenreviere beispiels- rigkeiten haben, wenigstens die ersten Schritte durch- weise sind 1,5 Milliarden DM jährlich vorgesehen; zusetzen, weil überall geblockt wird. darüber hinaus ist ein Betrag von 1 Milliarde DM für Das zweite Grundproblem ist die Sicherheitsdimen- weitere Sanierungsmaßnahmen vorgesehen. Ich sion. Wir wissen, daß Sicherheit durch Schadensum- wollte dies nur sagen, um das Augenmerk darauf zu fang und Eintrittswahrscheinlichkeit definiert wird. lenken, daß nicht nur in der GUS Sanierungsbedarf Beides kann bei instabilen Strukturen gefährlichen besteht. Großtechniken nicht garantiert werden. Es ist das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9713

Michael Müller (Düsseldorf) Kernproblem, daß das Prinzip Sicherheit, der Zusam- größe für die Diskussion. Für eine solche Zielgröße menhang von Schadensumfang und Eintrittswahr- beteiligen wir uns sehr intensiv an der Debatte. scheinlichkeit, bei der Atomkraft nicht gegeben sein kann. (Klaus Harries [CDU/CSU]: Dazu brauchen wir die Europäer!) Wir müssen sagen — das ist ja der entscheidende Punkt —: Die wichtigsten Gründe, die wir in den — Ja, das ist völlig klar. Das ist zwar ein gutes letzten Jahren für den Atomausstieg genannt haben, Argument, aber es wird auch oft verwendet, um die sind nicht aus der Welt. Es gibt keinen Grund, von Verantwortung hin- und herzuschieben. Am Ende dieser Position abzugehen, ganz im Gegenteil. schimpft jeder auf den anderen. Ich glaube, daß wir Hinzu kommt folgendes: Wir wissen heute, daß die dahin kommen müssen, daß wir wieder Politik Atomenergie auch ein höchst ineffizientes System ist. machen und nicht alles auf andere abschieben. Wenn es das zentrale Ziel jeder Umwelt- und Klima- und Hessen schutzpolitik ist, die rationelle Energieverwendung Ich möchte auf den Vorfall in Frankfurt zurückkommen — das ist das Hauptthema meines und die Solarenergie durchzusetzen, dann ist dies mit den ineffizienten großtechnologischen Strukturen der Beitrages —, der in der Tat sehr viele Fragen aufwirft und sehr viele Besorgnisse hervorruft. Ihnen ist sicher- Atomenergie nicht vereinbar. Atomenergie ist hin- lich bekannt, Herr Wieczorek, daß die ersten Informa- sichtlich ihrer Effizienz in der Nutzung von Energie und Wärme nur bedingt steigerbar. Wir brauchen aber tionen aus der ehemaligen Sowjetunion und später eine massive Steigerung der Effizienz, vor allem um aus dem Moskauer Innenministerium bereits 1989/90 gegeben wurden. Diese Informationen besagten, daß eine Reduktion von CO2 zu erreichen. es dort „strategische Rohstoffe" — wie sie dort Ich wiederhole, was ich schon ein paarmal gesagt genannt wurden — gäbe, die möglicherweise auf dem habe: Alle Weltszenarien — ich gebe noch einmal Weg in die Bundesrepublik seien. Wir wissen auch, einen Hinweis: Weltszenarien —, die entwickelt wor- daß der Frankfurter Vorfall nicht der einzige ist. Wir den sind und die sogar bis zu einer Verdreifachung hatten in der letzten Zeit eine ganze Reihe solcher des Anteils der Kernenergie in den nächsten 40 Jahren Vorfälle zu verzeichnen. Das Schlimme aus meiner gehen, führen — bei Beibehaltung der heutigen Sicht ist, daß dies, was man bisher an Informationen Energiestrukturen — nicht zu einer nennenswerten hat, offenkundig aus dem militärischen Bereich Reduktion von Kohlendioxid. Das einzige weltweit stammt. Das macht das ganze Problem noch dramati- existierende Szenario, das das Klimaschutzziel scher, weil dieser Bereich noch weniger transparent erreicht, setzt einen Umbau der Energiestruktur in ist als der zivile, der schon unsicher und instabil genug rationelle Energieverwendung und Energiedienstlei- ist. stungen voraus bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Atomenergie. Das ist das Szenario vom Amery Ich glaube daher, daß es sehr wichtig ist, die Frage Lovins. des Atomschmuggels mit sehr viel größerer Aufmerk- (Klaus Harries [CDU/CSU]: Das sagen Sie!) samkeit zu beachten, als das bisher der Fall ist. Es hat sehr viele Hinweise auch an die Bundesrepublik und — Entschuldigung, das sind die vorliegenden Szena- an die internationalen Energieagenturen und durch rien. Man muß sie ab und zu auch einmal zur Kenntnis die IAEO gegeben, wonach die bisherigen Richtlinien nehmen. Das Problem ist, daß die Diskussion allzusehr für die Behandlung dieser Probleme nicht ausrei- von Vorurteilen bestimmt wird. Gucken wir uns doch chend sind. Selbst das US-amerikanische Verteidi- einfach einmal die Studien und die Szenarien an. gungsministerium hat noch vor kurzem gewarnt, die Wenn Sie sie ganz realistisch prüfen, dann werden Sie Handhabung sei in Westeuropa viel zu lax. Das ist zu dem Ergebnis kommen, daß das, was Sie hier leider der Tatbestand. Ich meine das nicht als Vorwurf, betreiben, pure Ideologie ist. Das ist in der Tat so. sondern wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, (Beifall bei der SPD, des Abg. D r. Klaus daß weder national und erst recht bei den internatio- Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] nalen Organisationen nicht das gemacht wurde, was und der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/ gefordert worden ist. Linke Liste]) Ich halte es für wichtig festzustellen, daß wir es mit Das Denken von vorgestern ist für die Bewältigung der Probleme von morgen nicht tauglich. einer neuen Dimension von Risiko zu tun haben, mit dem Schwarzhandel von Nuklearmaterial, wobei die Ich möchte die Frage von Herrn Baum klar beant- Bundesrepublik in die Gefahr gerät, zu einer Art worten: Für uns heißt energiewirtschaftlicher- Kon- internationaler Drehscheibe zu werden. sens, die Weichen in Richtung einer rationellen Ener- gieverwendung und der Durchsetzung der Solarener- Auch aus diesem Grund müssen wir alles tun, damit gie zu stellen. Nur das kann die Basis eines energie- das nicht möglich ist. Dies vor allem vor dem Hinter- politischen Konsenses sein. Daran muß er gemessen grund mancher Ereignisse der letzten Jahre. Ich will werden. Wenn der Konsens aus Ihrer Sicht voraus- an die Waffenexporte in den Nahen Osten erinnern. setzt, daß die SPD das Ziel des Ausstiegs aus der Es darf auf diesem Gebiet kein Versäumnis geben. Atomenergie relativieren muß, dann ist die SPD kein Hier muß mit aller Härte im Rahmen des Möglichen Partner. Unser Ziel im Hinblick auf eine Veränderung gehandelt werden. Wir dürfen nicht in die Schlagzei- der Energiepolitik muß vielmehr sein: Wie können len kommen, es sei über die Bundesrepublik erneut wir die beiden zentralen Ziele — Energiedienstlei- waffenfähiges Material beispielsweise in den Iran stung und solare Energienutzung — möglichst opti- geliefert worden. Das wäre das Schlimmste, was mal, möglichst schnell und möglichst ohne ökonomi- passieren könnte. Bitte, machen Sie auf diesem Gebiet sche Brüche durchsetzen? Das ist die einzige Ziel- alles, um sehr viel mehr. 9714 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Michael Müller (Düsseldorf) Die Ausgangsbedingung ist richtig. Der Kollege Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung Klinkert hat das angesprochen. Man muß sich einfach zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der die Größenordnung vorstellen: Es geht um etwa 100 t F.D.P. zur Reaktorsicherheit in den Staaten Mittel- Plutonium. Das sind natürlich riesige Mengen. Das und Osteuropas. sind aber nur Schätzungen. Es gibt keine präzisen Der Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reak- Zahlen über die Lagerung und den genauen Umfang. torsicherheit empfiehlt auf Drucksache 12/2759, den Deshalb können wir die Bundesregierung nur bitten, Antrag anzunehmen. bezüglich dieses Problems sowohl national als auch Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Wer bilateral und in den internationalen Organisationen stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? sehr viel stärker zu handeln. Ich weise nur auf den — Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Bericht von Alexander und Leventhal hin. Dort ist 1989, also nach Tschernobyl, gesagt worden, die Gefahr des Nuklearterrorismus sei weitaus größer als Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: die eines neuen Unfalls à la Tschernobyl. Wir haben es a) Beratung des Antrags der Abgeordneten in der Tat mit einer sehr großen Dimension zu tun. Marion Caspers-Merk, Klaus Lennartz, Harald Deshalb ist es natürlich sehr problematisch, wenn B. Schäfer (Offenburg), weiterer Abgeordneter verschiedene Gremien der Internationalen Atomener- und der Fraktion der SPD giebehörde vorwerfen, es bestünden ernste Mängel in Sanierung dioxinverseuchter Böden ihren bisherigen Kontrollen, und sie werden nicht abgestellt. — Drucksache 12/1109 — Überweisungsvorschlag: Wir stellen folgende drei Forderungen an die Bun- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit desregierung: (federführend) Erstens. Sorgen Sie dafür, daß wir eine lückenlose Sportausschuß Ausschuß fur Forschung, Technologie und Technikfolgenab- Datenbasis bekommen. Sie ist unverzichtbar. Wir schätzung müssen überprüfen, ob die Bundesregierung weiter- Haushaltsausschuß hin Teile des Datenzugangsrechts an internationale h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Organisationen übertragen sollte oder ob sie nicht Lennartz, Harald B. Schäfer (Offenburg), Hans auch einen direkten Zugang haben muß. Ich halte das Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter und vor dem Hintergrund der Drehscheibenfunktion der Fraktion der SPD Deutschlands für wichtig und notwendig. Kennzeichnung von Kunststoffen Zweitens. Wenn im Grunde genommen der Eck- — Drucksache 12/2502 pfeiler — auch das hat Herr Fischer zu Recht ange- sprochen — für die Sicherheit des Systems, nämlich —Überweisungsvorschlag: der Betreiber selbst, zum Problemfall wird, dann ist Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit das Sicherheitssystem kaputt. Man muß also den Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Betreiber unter andere Kontrollkonditionen stellen gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. — — das geht gar nicht anders —, und zwar national, Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das international und weltweit. so beschlossen. Als letzten Punkt: Bitte sorgen Sie auch in der Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Bundesregierung für eine eindeutige Kompetenz in Kollegin Marion Caspers-Merk. diesen Fragen. Hier muß eine sehr klare Kompetenz- regelung geschaffen werden, damit man auch weiß, Marion Caspers - Merk (SPD): Herr Präsident, meine wie in solchen Fragen zu handeln ist und wer die lieben Kolleginnen und Kollegen! Manchmal treibt Anlaufstelle ist. der Parlamentarismus wirklich seltsame Blüten. Ein (Beifall bei der SPD) Beispiel dafür ist unser Antrag zur Sanierung dioxin verseuchter Böden. Im September letzten Jahres eingebracht, wollten wir damals die Sanierung dioxinverseuchter Böden Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- mit der Kupferschlacke aus Marsberg zum Thema sprache. machen. Mittlerweile sind mehr als 13 Monate ins Wir kommen zur Abstimmung über die- Beschluß- Land gegangen. Die Sanierung hat in einigen Teilbe- empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur- reichen begonnen, wurde in einigen Bundesländern schutz und Reaktorsicherheit zu dem Bericht der abgeschlossen, aber der Kernbereich unseres Antrags Bundesregierung über Umwelt, Radioaktivität und ist nach wie vor unerledigt; denn der Kernbereich Strahlenbelastung im Jahre 1989 auf den Druck- unseres Antrags betrifft die Mitfinanzierung und sachen 12/69 und 12/2515. Mitübernahme der Konsequenzen durch den Bund. Es handelt sich hierbei nämlich um eine Kriegsaltlast. (Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/ Wir haben in unserem Antrag gefordert, die Bundes- CSU]) regierung solle sich daran beteiligen. — 2515, Herr Kollege Bötsch, hatte ich mir eben Daß der Antrag aber nicht steinalte Jacke ist, erlaubt zu sagen. sondern im Moment von hoher Aktualität und Brisanz, Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegen- verdanken wir einem erneuten Störfall, hei dem probe! — Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung Dioxine freigesetzt wurden. Die Rede ist hier von der ist angenommen. jüngsten Brandkatastrophe in einem Recycling- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9715

Marion Caspers-Merk Betrieb in Lengerich, Kreis Steinfurt. In diesem kanntestes Symptom ist u. a. die sogenannte Chlor- Betrieb lagerten ca. 5 000 t Kunststoffe; davon entfiel akne, und das Krebsrisiko durch Dioxine wird durch ein erheblicher Anteil auf PVC. Der Betrieb hatte noch neuere Untersuchungen auch bei geringen Konzen- nicht einmal eine Betriebserlaubnis, was allein schon trationen immer deutlicher belegt. skandalös genug ist. Gleichzeitig sollen in der Bundesrepublik die Der eigentliche Skandal besteht aber darin, daß Bodenrichtwerte für Dioxine zur Einschränkung der solche Betriebe weder nach dem Immissionsschutzge- gärtnerischen und landwirtschaftlichen Nutzung an- setz genehmigungspflichtig sind noch unter die Vor- gehoben werden. Damit würde die Bundesregierung schriften der Störfallverordnung fallen. Sie unterlie- vor der Dioxinbelastung kapitulieren. Man argumen- gen ausschließlich dem Bauordnungsrecht. tiert hierbei mit der tatsächlich vorhandenen flä- chendeckenden Hintergrundbelastung von Böden mit Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Klartext heißt Dioxinen. Statt diese Hintergrundbelastung als Auf- das: Beim Bau einer Recycling- und Granulatanlage forderung zum Handeln zu betrachten, will man das für Kunststoffe finden also genau dieselben Rechts- Problem mit einer Erhöhung der Richtwerte lösen. vorschriften Anwendung wie beim Bau eines Einfami- lienhauses. Das halten wir für skandalös. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das kann doch nicht angehen!) (Beifall bei der SPD) Das kann so nicht stehenbleiben, Handelt eigentlich der Gesetzgeber verantwortungs- bewußt, wenn in einem Brandfall von einer solchen (Beifall bei der SPD) Anlage derartige Gefährdungen ausgehen können? Wer haftet eigentlich für die Gesundheit der Men- und wir fordern die Bundesregierung auf, uns zu schen in der unmittelbaren Umgebung einer solchen berichten, was in dem Bund-Länder-Gespräch Anlage? Was sagt die Bundesregierung, Herr Staats- Dioxine eigentlich herauskommt; denn es kann nicht sekretär, den 35 verletzten Feuerwehrleuten? Wer angehen, daß hier immer nur über die Erhöhung der haftet für die Sicherheit der Anlage, und wer finan- Richtwerte diskutiert und kein Konzept aus einem ziert beispielsweise die Reihenuntersuchungen, die Guß vorgelegt wird. jetzt gemacht werden müssen? Wieso muß eigentlich Hinzu kommt die Belastung mit Dioxin über den das Land Nordrhein-Westfalen für die medizinische Luftweg und über die Nahrungskette, die alle Exper- Untersuchung der Bevölkerung aufkommen und die ten für die gefährlichste halten. Schon heute nimmt Kosten der Dioxinuntersuchung übernehmen, weil ein durchschnittlicher Bundesbürger durch die nor- sich bislang niemand anders zur Übernahme bereiter male Nahrung und die Luft 13mal so viel Dioxin auf, klärt hat. wie es amerikanische Umweltbehörden für vertretbar Die letzte Frage: Handelt es sich bei Lengerich nur halten. Luftbelastungsgrenzwerte für Dioxine müßten um einen Einzelfall? Ich meine, daß wir Lengerich in also eigentlich das Gebot der Stunde sein, aber die den Gesamtzusammenhang der Kunststoffentsor- Bundesregierung ist auch in diesem Fall nicht tätig gungspolitik dieser Bundesregierung stellen müssen. geworden. Lengerich könnte eben kein Einzelfall bleiben, wenn Angesichts der Gesundheitsgefahren durch Dioxine man davon ausgeht, daß im Rahmen des DSD bundes- und des Ausmaßes der Belastungen und der Zunahme weit Tausende — Experten sprechen von ca. 30 000 — der Risiken durch eine verfehlte Umweltpolitik ist solcher Kunststoffrecyclingplätze eingerichtet wer- deshalb ein Handlungskonzept für Dioxinminimie- den müssen. Das DSD hat selbst eingeräumt, meine rungen einzufordern. Ein solches Handlungskonzept lieben Kolleginnen und Kollegen, daß es derzeit nicht muß unseres Erachtens drei Punkte umfassen: in der Lage ist, jährlich 1,1 Millionen Tonnen Kunst- stoffverpackungen zu verwerten. Erstens: Gefahrenabwehr. Die fehlende Genehmi- gungspflicht für Recycling-Anlagen wie in Lengerich Wir alle wissen doch, daß nach den Abfallbergen macht deutlich, daß es keinerlei Überblick darüber nun die Wertstoffberge aufgehäuft werden und daß gibt, an wie vielen Stellen in der Bundesrepublik damit zu rechnen ist, daß diese Kunststoffberge nicht gegenwärtig derartige Mengen von Kunststoff- in absehbarer Zeit abgearbeitet werden können. Das müllagern und welche Risiken von diesen Kunststoff- Risikopotential solcher Anlagen im Brandfall war den gemischen im Brandfall ausgehen. Das Umweltmini- meisten von uns nicht bewußt. sterium schafft doch geradezu mit seiner neuen - Daß die Untersuchungen des nordrhein-westfäli- Unübersichtlichkeit von Abfall, Wertstoff und Rest- schen Umweltministeriums eine deutlich geringere stoff in der Bundesrepublik eine Lage, die jede Uber- Belastung mit Dioxin als ursprünglich befürchtet sicht und jede Kontrolle verhindert. ergeben haben, kann nur ein schwacher Trost sein. (Beifall hei der SPD) Die Bürgerinnen und Bürger von Lengerich werden sich fragen: Was wäre gewesen, wenn? Zur Gefahrenabwehr gehören aber auch eine bun- deseinheitliche Dioxinberichtspflicht und ein Dioxin Auch wir sollten uns dieser Frage nicht verschlie- atlas sowie bundeseinheitliche Meßverfahren und ßen; denn das von Menschenhand hergestellte Ultra- Meßprogramme. Gleichzeitig müssen endlich ver- gift Dioxin ist schon in geringen Mengen gesundheits- bindliche Grenzwerte statt unverbindlicher Richt- gefährdend. Amerikanische Studien belegen, daß werte für Dioxine erlassen werden. Dioxine bei Menschen schon bei Konzentrationen von 1 Milliardstel Gramm pro Kilogramm Körpergewicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS chronische Vergiftungen hervorrufen können. Be 90/DIE GRÜNEN) 9716 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Marion Caspers-Merk Auch hierbei, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Birgit wiederum die Bundesregierung gefordert. Homburger, Sie haben das Wort. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Jawohl!) Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Zweite Forderung: Sanierungskonzepte sind vorzu- Damen und Herren! Sie waren wieder einmal viel legen. Die Bundesregierung muß endlich ein einheit- schneller, als ich erwartet habe. Dennoch möchte ich liches Konzept zur Sanierung dioxinverseuchter zu diesen beiden Anträgen etwas sagen. Es geht hier Böden vorlegen. Es kann nicht angehen, daß dies in in der Debatte ja um zwei Anträge. jedem Bundesland anders gehandhabt wird. Hier (Zuruf von der CDU/CSU: Die Rede ist noch haben die Bürgerinnen und Bürger einen Anspruch nicht fertig?) auf Rechtssicherheit. — Wir sind immer fertig, wenn es darauf ankommt. Gerade in den neuen Bundesländern liegen einige Es geht hier in der Debatte ja um zwei Anträge, zum Flächen auf Halde, weil kein Verursacher mehr ding- einen um den Antrag „Sanierung dioxinverseuchter fest zu machen ist und die Finanzierung der Sanierung Böden", zum anderen um den Antrag „Kennzeich- die Länder dort überfordert. Wie stehen Sie eigentlich nung von Kunststoffen", die hier verbunden debattiert zu Ihren Versprechungen oder den Versprechungen werden. Ihres Hauses, Herr Kollege Wieczorek, daß über die Zunächst möchte ich auf den Antrag „Sanierung Abfallabgabe Geld für die Altlastensanierung in die dioxinverseuchter Böden" eingehen. Als sich der neuen Länder gelangen soll? In diesem Bereich haben Umweltausschuß gemeinsam mit dem Sportausschuß Sie diese Abfallabgabe angekündigt, aber bislang des Deutschen Bundestages im Mai vorigen Jahres im noch nichts unternommen. Das heißt, hier besteht Reichstag traf, um das Problem „Dioxinfunde auf keine Möglichkeit, über die Abfallabgabe Geld in die Sport- und Spielplätzen" zu beraten, waren wir auf neuen Länder zu lenken, damit die so dringlich nötige Grund der Meldungen, insbesondere der Bremer Sanierung in Angriff genommen werden kann. Umweltbehörde, sehr besorgt. Diese hatte bei stich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS probenartigen Untersuchungen von Spiel- und Sport- 90/DIE GRÜNEN) plätzen auf Schwermetalle und organische Schad- Sie müßten doch eigentlich wissen, daß die große Zahl stoffe polychlorierte Dibenzodioxine und Dibenzofu- von Altlasten in den neuen Ländern — insgesamt rane bis zu Konzentrationen von 100 Mikrogramm sprechen wir von über 27 000 — ein echtes Investi- TE/kg Trockengewicht festgestellt. Als Ursache für tionshemmnis darstellt. Insofern verweise ich noch diese hohe Dioxinbelastung wurde alsbald das aus einmal auf die Haushaltslage, die heute morgen schon Marsberg stammende Kieselrot ermittelt, das vielfach bei einem anderen Punkt angesprochen wurde. Ich in der Bundesrepublik als Sportplatzbelag verwendet halte es für dringend erforderlich, daß hier ein wurde. gemeinsames Konzept erarbeitet wird; denn beim Der Umweltausschuß unterstützte deshalb die Län- Haushalt haben wir ja auch die Forderung erhoben, der in ihrer Besorgnis, obgleich auf dieser Sitzung mehr zu tun, damit in den neuen Ländern die Sanie- schon eingeschätzt werden konnte, daß zumindest rung in Angriff genommen werden kann. von Sportplätzen keine akute Gefährdung für die Sporttreibenden zu erwarten ist. Die betroffenen Län- Unsere dritte Forderung ist das Verstopfen der der haben damals die geäußerte Besorgnis nicht auf Dioxinquellen. Beim Verstopfen der Dioxinquellen die leichte Schulter genommen und in der Zwischen- muß endlich auch über Stoffverbote und Minimie- zeit versucht, die wirkliche Gefährdung, die von rungsstrategien bei der Dioxinbelastung nachgedacht diesem Kieselrot ausgeht, genauer zu ermitteln. werden. Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales In diesem Zusammenhang frage ich die Bundes- des Landes Nordrhein-Westfalen hat beim Hygiene regierung, warum sie eigentlich nicht von der Mög- Institut des Ruhrgebietes eine humanmedizinische lichkeit, nach § 14 des Abfallgesetzes Stoffverbote zu Untersuchung zur Kieselrot-Problematik in Auftrag erlassen, Gebrauch macht. Jeder weiß doch, daß der gegeben. Auch das Bundesgesundheitsamt hat sich PVC-Anteil bei den Verpackungen zu Dioxinbildung dieser Problematik angenommen, und verschiedene bei der Verbrennung führen kann. Es ist eben kein Kommunen haben Gutachten zur Abschätzung der Zufall, daß in Lengerich sehr viele Margarinedeckel Gefährdung der in ihrer Verantwortlichkeit liegenden aus PVC gelagert waren, die aus Produktionsresten - Sportstätten in Auftrag gegeben. stammten, weil sie eben als PVC-Anteil jetzt über das DSD ausgelistet werden. Hören wir doch endlich auf, Die Ergebnisse dieser Untersuchungen liegen uns uns von Katastrophenmeldung zu Katastrophenmel- heute weitgehend vor. Das Hygiene-Institut des Ruhr- dung zu hangeln, ohne daß sich an den Ursachen der gebiets hat sich insbesondere um jene Marsberger Dioxin-Belastung wirklich etwas ändert. Bürger gekümmert, die durch die Hauptdioxinquelle, nämlich die Halde der ehemaligen Kupferhütte, in (Beifall hei Abgeordneten der SPD) besonderem Maße als belastet angesehen werden Wir fordern Sie auf: Erlassen Sie endlich verbindli- mußten. Das waren zunächst einmal Anwohner, die che Bodengrenzwerte, und legen Sie endlich das unmittelbar unter der Staubentwicklung dieser Halde lange angekündigte Bodenschutzgesetz vor! gelitten hatten. Betroffen waren aber auch Beschäf- tigte einer Tiefbaufirma, die die Aufbereitung, den Vielen Dank. Abtransport und die Vermarktung dieses Kieselrots (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS durchführten, und es waren Motocross-Fahrer, die das 90/DIE GRÜNEN) Haldengelände als Trainingsgelände benutzten und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9717

Birgit Homburger in erheblichem Maße Haldenstaub eingeatmet haben in TE-Einheiten, bei etwa 30 Nanogramm/kg Blutfett, mußten. bei Kindern bei etwa 10 Nanogramm/kg Blutfett. Diese Grundlast stammt im wesentlichen aus fetthal- Darüber hinaus hat das Landesuntersuchungsamt tigen Nahrungsmitteln. Sie gilt als gesundheitlich Münster bei stillenden Frauen, Müttern aus Marsberg, unbedenklich. Gegenüber dieser Grundlast sind die Analysen der Muttermilch auf Dioxine und Furane aus dem Kieselrot stammenden zusätzlichen 100 Pi- vorgenommen. Die Ergebnisse dieser im September kogramm/kg — also Faktor 6 — vernachlässigbar vorigen Jahres veröffentlichten Untersuchungen ha geringfügig. ben uns doch sehr erstaunt; denn der Befund der medizinischen und toxikologischen Beurteilung lautet (Zuruf von der SPD: Die kommen aber noch — ich zitiere jetzt aus dem Gutachten, dieser Kiesel- dazu! Das sind Kinder!) rot-Studie des Hygiene-Instituts aus Nordrhein-West- falen —, „daß die bei den Marsberger Probanden im Das mag beruhigen; gleichwohl haben die Länder Blutfett festgestellten Dioxin-Werte" — und zwar richtig gehandelt, als sie aus Vorsorgegründen das TE-Werte nach dem Bundesgesundheitsamt — „in Kieselrot auf den Spielplätzen ihrer Kommunen aus- einem Bereich liegen" — tauschen ließen; denn über die durch Resorption über die Haut aufgenommenen Mengen liegen noch keine (Zuruf von der SPD: Richtwerte!) sicheren Erkenntnisse vor. Richtwerte, die vom Bundesgesundheitsamt erlassen worden sind; richtig — „bei dem keine bedeutsamen Eine Totalsanierung sämtlicher Sportstätten läßt sich allerdings bei diesen Befunden nicht vertreten. Wirkungen zu erwarten sind", und daß „bei keinem der untersuchten Probanden weitergehende medizi- Hier sollten die Länder mit den Maßnahmen fortfah- nische Untersuchungen erforderlich" sind. — Ende ren, die sie bislang auch schon ergriffen haben, nämlich das Kieselrot auf Sportstätten abzudecken des Zitats. und mit unbelastetem Material zu überschichten. Dies Dieses einerseits nicht zu erwartende, andererseits scheint schon deswegen angebracht zu sein, um aber auch beruhigende Ergebnis wirft doch einige unkontrollierte Verwehung en di eses Kieselrots und Fragen auf; denn zumindest auf Grund der Inhalation damit eine unkontrollierte Ausbreitung zu verhin- von Stäuben von dieser Kieselrothalde mußte von dern, so daß nicht hinterher fälschlicherweise Dioxin- einer höheren Belastung der Probanden ausgegangen belastungen womöglich auf Müllverbrennungsanla werden. gen zurückgeführt werden, die dafür gar nicht verant- wortlich gemacht werden können. Eine Antwort auf die Frage, warum die Belastungen so unerwartet niedrig liegen, geben die Untersuchun- Was ich nun nach diesem Sachverhalt keineswegs gen des Bundesgesundheitsamtes. Das Institut für erkennen kann, Frau Kollegin Caspers-Merk, ist eine Wasser-, Boden- und Lufthygiene des Bundesgesund- Zuständigkeit und Verantwortlichkeit des Bundes, heitsamtes in Berlin hatte mit sehr viel Mühe die wie der SPD-Antrag vorgibt. Die Länder sind von sich Aufnahme von Dioxinen aus dem Kieselrot durch aus ohne weiteres in der Lage, die erforderlichen Ingestion experimentell simuliert. Mit Hilfe anorgani- Maßnahmen zu ergreifen oder zu veranlassen, und sie scher und organischer Modellmixturen wurden die sind für die Länder meines Erachtens auch finanziell Verdauungsvorgänge im Magen und im Dünndarm tragbar. Es geht aus meiner Sicht nicht an, daß die außerhalb des menschlichen Körpers im Labor nach- Länder fortwährend — wie jetzt gerade insbesondere gestellt und die mögliche Aufnahme von Dioxin durch in der Verfassungskommission — Rechte und Verant- den Körper ermittelt. Das pauschalierte Resultat die- wortlichkeiten für sich reklamieren, dann aber jedes ser Untersuchung lautet nach dem Bericht des Bun- Wehwehchen dem Bund zuschieben. Wir haben wich- desgesundheitsamtes — ich zitiere hier wieder —: tigere Sanierungsvorhaben — die Kollegin Enkel- „Der prozentuale Übergang der Dioxine und Furane mann hat völlig recht —; ich denke z. B. an die aus Kieselrot in den künstlichen Mund-, Magen- und radioaktiv verseuchten Halden der Wismut AG. Darmsaft variiert zwischen 0,8 und 1,1 %." Genau in diesen Fällen, in denen es wirklich darauf Offenbar ist also die Bioverfügbarkeit der Dioxine ankommt, hat der Bund Mitverantwortung übernom- und Furane aus diesem Kieselrot weit geringer, als men. wir zunächst befürchtet hatten. Diese Gifte sind im Ich meine deshalb, daß die SPD erwägen sollte, Kieselrot also demnach so fest gebunden, daß Kiesel- diesen Antrag zurückzuziehen; denn für eine ernst- rot eigentlich fast schon als Dioxinbinder Verwen- - hafte Beratung im Ausschuß mangelt es gänzlich an dung finden könnte. überzeugenden Argumenten. Nimmt man einmal an, ein spielendes Kind würde durch Unachtsamkeit täglich ein Gramm Kieselrot von (Marion Caspers-Merk [SPD]: Da wird uns seinem Spielplatz aufnehmen, das, wie vielfach fest- schon etwas einfallen!) gestellt wurde, 100 Mikrogramm TE/kg an Dioxin — Frau Kollegin Caspers-Merk, daß Ihnen etwas enthält, so würde die tägliche Aufnahme 10 000 einfällt, bezweifle ich überhaupt nicht; ob das dann Pikogramm/kg betragen. Bei einer Bioverfügbarkeit aber mit den Untersuchungs- und Berichtsergebnis- von 1 % — das ist der obere Wert, wie die Studie des sen, die uns vorliegen, in Übereinstimmung gebracht BGA ergeben hat —, sind es nur 100 Piko- und sinnvoll umgesetzt werden kann, ist eine andere gramm/kg. Frage. Das werden wir dann im Ausschuß besprechen. Die durchschnittliche Grundbelastung der Bevölke- Jedenfalls kann ich für unsere Fraktion schon heute rung durch die Dioxine und Furane liegt, ausgedrückt sagen, daß auf Grund der vorliegenden Unter- 9718 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Birgit Homburger suchungen und Gutachten diesem Antrag nicht zuge- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und stimmt werden kann. Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin Ingeborg Philipp. (V o r sitz : Viezpräsidnet Helmuth Becker) Ich komme jetzt noch kurz zu dem Antrag auf Ingeborg Philipp (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Kennzeichnung von Kunststoffen. Die von Ihnen Meine Damen und Herren! Die wissenschaftlich geforderte Kunststoffkennzeichnung begründen Sie technische Entwicklung dieses Jahrhunderts hat der vor allen Dingen mit der Notwendigkeit einer mög- Menschheit unauslöschliche Eindrücke der Vernich- lichst sortenreinen Sortierung. Das macht im Prinzip tung gebracht, den Giftgaskrieg im Ersten Weltkrieg, Sinn; aber sollen wir das tatsächlich vorschreiben? die Atombomben des Zweiten Weltkriegs, die „ Ent- laubung " in Vietnam, den High-Tech-Krieg am (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE Golf. GRÜNEN]: Ja!) Diese Verbrechen an der Menschheit wurden in — Ich bin der Meinung: nein. kleinem Maßstab mit Seveso 1976, Marsberg 1991 und Lengerich 1992 weitergeführt. Diese Namen Es gibt zwischenzeitlich eine freiwillige Vereinba- stehen in unterschiedlicher Intensität für die Gefähr- rung zur Kennzeichnung von Kunststoff; das ist das lichkeit von Dioxinen. Doch es geht nicht nur um eine. Wenn man sich die Situation einmal anschaut, diese Katastrophen. Ich frage Sie: Wer redet von der stellt man folgendes fest: Wir haben 10 Millionen t alltäglichen Vergiftung durch den Ausstoß von Dioxi- Hausmüll und hausmüllähnliche Gewerbeabfälle; nen und Furanen in Müllverbrennungsanlagen, bei davon entfällt 1 Million t auf Kunststoffabfälle, das Bränden auf Deponien? Ich nenne Schönberg bei sind ca. 3 %. Der Anteil ist in den vergangenen zwei Lübeck; diese Deponie brannte am 23. September Jahren schon von 10 % auf 3 % gesunken. Bei PVC dieses Jahres. Wer macht sich klar, daß Dioxine in und Verbundkunststoffen hat es bereits in wesentli- Holzschutzmitteln, in den Hüllen der „Tintenkiller" chem Umfang Substitutionen gegeben. Ich will aus der Schülerinnen und Schüler, beim Brand eines Zeitgründen die Zahlen jetzt nicht mehr im einzelnen Hauses freigesetzt werden können und beim Recy- nennen. Das DSD ist mit den Dingen, die auf es cling von Verpackungsschrott — z. B. von Getränke- zukommen, nicht etwa überfordert. Im Gegenteil, ab dosen, in Stahlwerken — entstehen? 1. Januar 93 werden die Kosten für den Grünen Punkt Diese naturgemäß unvollständige Auflistung ver- nicht mehr allein nach Volumen berechnet, sondern weist uns auf ein grundlegendes Problem, dem man es wird das gemacht, was Sie wollen, nämlich eine mit den in Rede stehenden Anträgen nur in Ansätzen Lenkung über den Preis. Es wird einen Aufschlag beizukommen vermag. Natürlich muß man diesen geben. Kunststoffe werden verteuert. Es wird sich von Anträgen zustimmen, wobei es allerdings schon fast selber regeln. Das ist das, was wir wollen. zynisch wird, wenn nach dem Bekanntwerden der (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE Vergiftung von Sportplätzen und anderen Anlagen GRÜNEN]: Alles wird teurer! — Zuruf der durch 800 kt Kieselrot der Deutsche Bundestag sich Abg. Marion Caspers-Merk [SPD]) erst ein Jahr später ernsthaft mit diesem Antrag befaßt. Hier wird ein Problembewußtsein erst entwik- — Natürlich, Frau Kollegin Caspers-Merk, das ist kelt, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist. doch ganz logisch. Wenn ein Kunststoff in der Verwer- Dies steht in krassem Widerspruch zu dem, was tung hinterher wesentlich teurer wird, dann wird sich vorsorgende Umweltpolitik tun sollte. Wir befinden derjenige, der die Verwertungskosten zu tragen hat uns in der Situation des Zauberlehrlings, der die — nämlich zunächst das Unternehmen —, Gedanken Kräfte, die er gerufen hat, nicht bändigen kann. darüber machen, ob es den Kunststoff durch etwas Es gibt aber auch Lichtblicke, z. B. die ins Auge anderes substituieren kann, weil es nur so die Kosten gefaßten Versuche mit Austernpilzen eines Chemi- vermeiden kann. Das wird jetzt zu einem Wettbe- kers. Ich wünsche sehr, daß sie Erfolg haben. Die werbsfaktor. Das ist etwas, was wir erreichen wollten. Kreativität der Menschen zur Lösung von Problemen Insofern haben Sie da einen Effekt. ist die einzige Hoffnung, die wir haben, aber sie muß Die Redezeit ist leider zu Ende. Liebe Kolleginnen menschenfreundlich wirksam werden können. Auch und Kollegen, ich hätte gerne noch einiges mehr zu das ist eine Aufgabe der Bundesregierung. dieser Kennzeichnungspflicht für Kunststoffe gesagt. Die PVC-Problematik ist schwerwiegend. Nach Ich sage zu diesem Antrag abschließend- nur noch Aussagen vom „Stern" und Frau Griefahn werden mit dies. Sofern es darum geht, daß der Käufer schon beim PVC jährlich 10 Milliarden DM Umsatz gemacht. Kauf eines Produktes erkennen können soll, wie es 70 000 Arbeitsplätze in der PVC-Produktion und -Ver- hinsichtlich der umweltrelevanten Eigenschaften und arbeitung hängen von diesem Produktionszweig ab. der Wiederverwertbarkeit des Produktes aussieht, 7 Millionen t PVC sind derzeit im Umlauf, und jährlich sollten wir uns ernsthaft darüber unterhalten, wie dies kommt 1 Million t dazu. Das sind die wirtschaftlichen bewerkstelligt werden kann. Jedenfalls wäre eine Gegebenheiten. Angabe, wie sie derzeit auf den Speisekarten gemacht Nach der Verbrennung fällt auf 1 t PVC 1 t Filter- wird und wie sie der vorliegende Antrag vorschlägt, salze an, die unter Tage endgelagert werden müssen. völlig unsinnig, weil die Leute in aller Regel damit Die Verbrennungstechnologie ist mit Sicherheit nichts anfangen können. keine Zukunftstechnologie. Sicher hat die Industrie Danke. schon Versuche unternommen, das Problem besser zu lösen. Das Ministerium für Forschung und Technolo- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gie sollte zusammen mit dem Umweltministerium mit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9719

Ingeborg Philipp dem Ziel tätig werden, entsprechende Vorgaben ver- Die Sorge war aber schon berechtigt, weil nämlich bindlich zu machen. in Lengerich auch das äußerst problematische Polyve- Technische Probleme sind lösbar, wenn man den nylchlorid, kurz PVC genannt, in großen Mengen Willen dazu hat. Die Versuche mit den Austernpilzen gelagert wurde und verbrannte. PVC entwickelt bei sind ein hoffnungsvoller Hinweis darauf, daß dort, wo der Verbrennung nicht nur Salzsäure, wie sie dort ein Wille ist, auch Wege gefunden werden. Die PVC aufgetreten ist, sondern eben auch jene Gifte, die die herstellende und verarbeitende Industrie sollte Ent- Umgebung von Lengerich verseucht haben. wicklungsarbeiten zur effektiven PVC-Müllverarbei- Die Dioxinquellen sind aber vielfältig. Vor zwei tung durchführen, die ohne Verbrennungsprozeß aus- Jahren haben die Kupferschlacken aus Marsberg für kommen. Die Erarbeitung dieser Technologie sollte Schlagzeilen gesorgt. Davor war es der Brand in im Verantwortungsbereich der Verursacher wahrge- Seveso, der der Welt die Giftigkeit von Dioxin vor nommen werden. Augen führte. Der Umweltministerkonferenz wünsche ich im Es wäre längst Aufgabe der Bundesregierung Sinne der von gemachten Aussagen gewesen, Stoffe aus dem Verkehr zu ziehen, die für gute Ideen und viel Tatkraft. Denn wir müssen wirk- die Entstehung dieser Gifte verantwortlich sind. Aber lich dazu kommen, durch Glasnost und Perestroika nichts ist geschehen. Weder ein PVC-Verbot noch neue Horizonte zu erschließen. Wir brauchen ein weiterführende Anstrengungen sind zu verzeichnen, neues Denken, welches Gewalttätigkeit in jeder Form um chlorhaltige Stoffe wie etwa Perchlorethylen, ausschließt, auch im Bereich der Industrie, die mit Tetrachlorkohlenstoff und Phosgen — um nur die ungenügend entwickeltem Verantwortungsbewußt- wichtigsten zu nennen — aus der Welt zu schaffen. sein produzieren will und vom Vorteildenken ange- (Ulrich Klinkert [CDU/CSU]: Könnten Sie das trieben wird. Wir brauchen andere Triebkräfte. wiederholen?) (Beifall bei der PDS/Linke Liste und dem — Das können Sie ja nachlesen, Herr Klinkert. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Statt dessen setzt der Umweltminister auf die Frei- willigkeit der Industrie, insbesondere der PVC-Her- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und steller, und läßt sich von diesen einlullen, oder er Herren, nächster Redner ist unser Kollege Dr. Klaus kommt nicht gegen die Macht des Kapitals an. Dieter Feige. Man hört ja, daß der Minister auf die Verwertung der Kunststoffe setzt. Nach Angaben der Verwer- tungsgesellschaft Kunststoffe werden derzeit aber nur Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 70 000 t gemischte Kunststoffabfälle definitiv verwer- NEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen tet. Das sind gerade einmal 5,4 % des Plastikmülls in und Herren! Herr Klinkert gibt mir ein Zeichen. Ich Deutschland. Das Aufkommen an Plastikmüll liegt solle möglichst wenig reden, hat er gesagt. derzeit jedoch bei 1,3 Millionen t, darunter allein 900 000 t aus Verpackungen. (Ulrich Klinkert [CDU/CSU]: Kurz!) (Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ Aber ich bin bei uns in der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE Linke Liste]: Hört! Hört!) GRÜNEN für Katastrophen verantwortlich. Heute sind drei Katastrophen auf der Tagesordnung. Die Die übrigen nicht verwertbaren Kunststoffabfälle lan- erste war Atomenergie, die zweite ist Dioxin, und den dann in ungenehmigten Zwischenlagern wie in nachher kommt noch die größte: Duales System Lengerich. Deutschland. Sie werden mich also noch ein bißchen Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 1,6 Millio- ertragen müssen. nen t PVC hergestellt. Rund 200 000 t landen im (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Hausmüll, und die Tendenz ist noch steigend. Die Liste) Wirtschaft erwartet angesichts der zügellosen Wirt- Die beiden zu beratenden Anträge, die wir heute schaftsstrategie der Bundesregierung eine Steigerung zur Kennzeichnungspflicht von Kunststoffen und zur um 1 Million t pro Jahr für die zweite Hälfte des Jahrzehnts. Hinzu kommt, daß sich derzeit allein Dioxinbelastung durch die Kupferschlacken aus 12 Millionen t Gebrauchsgüter im Umlauf befinden, Marsberg vorliegen haben, scheinen auf den ersten Blick überhaupt nichts miteinander zu tun zu haben. die das Müllaufkommen von PVC in den nächsten Hinterfragt man jedoch die Entstehungsursachen- von Jahren zusätzlich wachsen lassen. Diese PVC-Müll Dioxin, so wird dem Neugierigen sehr schnell die orgie wird noch um 60 000 t Gewerbemüll pro Jahr direkte Beziehung zwischen diesem extrem gefährli- und weitere 40 000 Jahrestonnen PVC aus Auto- chen Gift und den Plasten klar. schrott ergänzt. Eine funktionierende Wiederverwer- tung dieses Kunststoffes ist nicht in Sicht. Der Zusammenhang ist vor dem Hintergrund des Brandes eines Kunststofflagers in Lengerich sogar als Die Unwilligkeit der Bundesregierung, Problem- dramatisch zu bezeichnen. Bei diesem Kunststoff- stoffe aus dem Verkehr zu ziehen, wird uns in naher brand sind nämlich hochgiftige Dioxine und Furane Zukunft vor neue und größere Problemsituationen freigesetzt worden. Wir können heute nur froh sein, stellen, als dies schon die Marsberger Kupferschlak- daß die Gesamtbelastung des Gebietes nicht das ken, eine Hinterlassenschaft des Rüstungswahns des zunächst befürchtete Maß erreicht hat, wobei die Dritten Reiches, getan haben. Dioxinbelastungen in den Lagerhallen selbst wahr- Eine große Zahl von Sportplätzen in Nordrhein scheinlich alle Grenzwerte überschritten haben. Westfalen ist unbrauchbar geworden, auch wenn Frau 9720 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Dr. Klaus-Dieter Feige Homburger das ein bißchen anders dimensionieren Abstimmung mit den Ländern eine Arbeitsgruppe, die wollte. Ich glaube, daß deren Sanierung aufwendige die Maßnahmen zur Begrenzung der Gesundheits- und teure Arbeiten nach sich zieht. Sie gehen alle zu und Umweltgefahren koordinieren sollte, eingesetzt Lasten der Steuerzahler. Es kann daher nicht ange- worden. Nachdem ein erster Überblick vorhanden hen, auf den freiwilligen Verzicht der Hersteller von war, sind sofort auch die Umweltminister in den umweltunverträglichen Stoffen zu hoffen und die europäischen Nachbarländern und die EG-Kommis- Sanierungskosten für die eingetretenen Schäden der sion über die Kieselrot-Problematik und die in der Allgemeinheit aufzubürden. Wer wird für die Beseiti- Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Maßnah- gung der Dioxinbelastung in Lengerich bezahlen? Es men informiert worden. wird doch genauso sein wie bei der Sanierung der Die Sportplätze: Die öffentliche Hand muß blechen. Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat in den folgen- den Monaten in einer Reihe von Besprechungen Allein die ungeklärten Haftungsfragen heim Brand gemeinsame Handlungsempfehlungen zur Sperrung des Kunststoffzwischenlagers in Lengerich lassen die bzw. Benutzung von Spiel- und Sportflächen, bei Praxis im Umgang mit dem Prinzip der Produzenten- denen hohe Dioxinkonzentrationen festgestellt wur- haftung gegenwärtig untauglich erscheinen. Es ist den, sowie zum Umgang mit belastetem Kieselrot zwar richtig, die Kennzeichnung von bestimmten Material beschlossen. Die Vorschläge für diese Maß- Kunststoffen zu fordern, um diese einer sinnvollen und nahmen beruhten auf Empfehlungen des Umweltbun- wie im Fall des Polyethylens auch durchaus mögli- desamtes und des Bundesgesundheitsamtes für die chen Wiederverwertung zuzuführen. Wenn man aber Sanierung von dioxinbelasteten Böden, die unter dem künftig ähnliche Katastrophen wirksam vermeiden Gesichtspunkt der gesundheitlichen Vorsorge für will, reicht eine Kennzeichnung meines Erachtens die Beratungen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe nicht aus. Auch dort ist Vorbeugung das Entschei- „Dioxine" gegeben worden waren. dende. Frau Kollegin Caspers-Merk, Sie haben natürlich Ich bitte — Herr Wieczorek, bitte übermitteln Sie recht: All diese Ergebnisse müssen sich gesetzlich dies Herrn Töpfer als meine Bitte —, mit dem Verhan- irgendwo niederschlagen. Ich möchte Sie noch einmal deln aufzuhören. Es wird keine Akzeptanz bei dieser daran erinnern, daß das des Bun- Problematik geben. Ich glaube, lediglich durch ein Bodenschutzgesetz des nicht erst in der konzeptionellen Entwicklung ist, PVC-Verbot ist etwas zu erreichen. PVC gehört auf sondern im Entwurf bereits vorliegt. Es geht jetzt in die den Müllhaufen der Chemiegeschichte. Ressortabstimmung. Auch die Dioxinverordnung ist Schönen Dank für ihre Aufmerksamkeit. in der Ressortabstimmung. Wie Sie wissen, sind wir in (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke diesem Stadium nicht immer hundertprozentig Herr Liste) des Verfahrens. Meine Damen und Herren, die Abschätzung der Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Gesundheits- und Umweltgefährdung stellt sich auch Herren, das Wort erhält nunmehr der Herr Parlamen- hier — wie im Falle anderer Expositionssituationen tarische Staatssekretär beim Bundesminister für bei Dioxinbelastungen unterschiedlicher Herkunft — Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, unser sehr schwierig dar. Ich möchte daran erinnern, daß die Kollege Dr. Bertram Wieczorek. ubiquitäre Dioxinbelastung durch Verbrennungspro- zesse in der Natur entsteht. Ich spreche einmal den Kohlenstoffspeicher Holz an, aber ich denke auch an Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär beim die Zigarettenraucher unter uns, die einen hohen Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- Anteil der Dioxine in die Umwelt entlassen. torsicherheit: Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Ich denke, wir reden heute nicht in erster Linie Ergebnisse von Untersuchungen exponierter Perso- über Katastrophen, Herr Feige, sondern über sehr nengruppen in Nordrhein-Westfalen, insbesondere ernste Themen. von Blutfettuntersuchungen bei der Marsberger Bevölkerung, führten auf einer Sondersitzung der (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE Bund-Länder-Arbeitsgruppe im Juli 1991 zu einer GRÜNEN]: Das sind Katastrophen immer!) zum Teil unterschiedlichen Beurteilung der gesund- Ich muß Ihnen natürlich zugestehen, daß die Dioxin- heitlichen Risiken durch die Länder. Furan-Problematik eine sehr ernste ist. Wir haben es hierbei nicht nur mit einem hochpotenten- Kanzerogen Da die ordnungsrechtliche Gefahrenbeurteilung zu tun, was schon allein durch die Benzolstruktur Länderangelegenheit ist, hatte die Bundesregierung bestimmt ist, sondern auch mit einer hochtoxischen nur begrenzte Möglichkeiten, eine Angleichung der Substanz, die irreparable Schäden beim Menschen Maßnahmen zu erreichen. Dies traf auch für den verursacht. Es ist schon das Thema der Chlorakne Vollzug der Arbeitsschutz- und Gefahrgutvorschrif- angesprochen worden. Ich denke, das alles ist Anlaß, ten zu, die bei der Untersuchung und Sanierung heute über die Dioxin-Problematik ernsthaft zu reden, dioxinbelasteter Flächen bzw. beim Transport dioxin- zumal es noch an wissenschaftlichen Erkenntnissen haltigen Kieselrotmaterials anzuwenden sind. über die Biotransformation bzw. das Verhalten der Da — wie etwa in Nordrhein-Westfalen — Spiel- chlorierten Kohlenwasserstoffe im menschlichen Kör- plätze bei Gehalten von über 100 Nanogramm Toxi- per fehlt. zitätsäquivalenten pro kg in jedem Fall zu sanieren Nach der Feststellung von Dioxinbelastungen auf waren, mußten allein schon dadurch erhebliche Men- Spiel- und Sportplätzen durch Verwendung von gen Kieselrotmaterial transportiert und umgelagert Rückständen aus der Marsberger Kupferhütte ist in werden. Die diesbezüglichen Regelungen wurden in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9721

Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek mehreren Gesprächen zwischen den zuständigen Ich möchte diese Aufgaben kurz erläutern, weil Bundesressorts und in dazu eingerichteten Länderar- dafür gegebenenfalls Finanzmittel bereitgestellt wer- beitsgruppen erörtert. In den Ländern wurden auf die den müssen. Wie bereits von der Kollegin Homburger jeweilige Situation bezogene Lösungen erarbeitet erwähnt, legen es die Ergebnisse der im Auftrag des und die erforderlichen behördlichen Genehmigungen Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des erteilt. Landes Nordrhein-Westfalen bisher durchgeführten humanmedizinischen Untersuchungen nahe, bei den Die für die Behandlung der Kieselrotproblematik mit Kieselrot verunreinigten Sportplätzen und sonsti- eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat ihre Tä- gen Flächen eine Exposition anzunehmen, die zu tigkeit mit einer letzten Sitzung am 18. Februar dieses keiner unmittelbaren Gesundheitsgefährdung führt. Jahres eingestellt, weil nach übereinstimmender Auf- Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden in fassung von Bund und Ländern deren Aufgabe als einem Bericht des Hygieneinstitutes, wie angespro- Gremium für den Informationsaustausch und die chen, veröffentlicht. Koordinierung der Sofortmaßnahmen erfüllt war. Aber aus der Sicht unseres Hauses verbleiben zwei In einem Bund-Länder-Gespräch über das weitere wichtige Aufgaben: Vorgehen bezüglich der Nutzung bzw. Sanierung von Flächen mit Kieselrotmaterial wurde die Einschät- Erstens. Die begonnenen Untersuchungen zur Lös- zung, daß eine gesundheitliche Gefährdung nicht lichkeit und biologischen Verfügbarkeit der Dioxin- vorliegt, einvernehmlich wie folgt zusammengefaßt: sollten fortgeführt wer- konzentrationen im Kieselrot Die Studie legt die Annahme nahe, daß eine den, damit Risikoabschätzungen über das Gefähr- Exposition mit Kieselrot zu einer Erhöhung der dungspotential auf einer besseren wissenschaftlichen Dioxinkonzentrationen im menschlichen Blutfett Grundlage durchgeführt werden können. führt.- Die festgestellten Werte der PCDD/F Zweitens. Die Bundesregierung sollte ihre Bemü- Befunde hungen fortsetzen, aussichtsreiche technologische — also von Dioxinen und Furanen — Verfahren für die Dekontaminierung des Kieselrot materials auszuwählen und Möglichkeiten für eine liegen jedoch in einem Bereich, die keine weite- Förderung dieser Verfahren zur Praxisreife zu ren medizinischen Untersuchungen erforderlich suchen. machen. Im Rahmen der klinisch-chemischen Untersuchungen konnten keine systematischen Auch wenn die Länder die Verantwortung für die Abweichungen der Meßwerte, die auf eine ein- Sanierung haben, die nach den entsprechenden heitliche Dioxin-Einflußgröße hinweisen, festge- abfallrechtlichen und sonstigen polizei- und ord- stellt werden. nungsrechtlichen Vorschriften zu erfolgen hat, und Es muß jedoch davon ausgegangen werden — das der Bewegungsspielraum des Bundes eingeschränkt hat die Kollegin Caspers-Merk ebenfalls angespro- ist, halten wir es aus umweltpolitischer Verantwor- chen —, daß sich die allgemeine Grundbelastung der tung trotzdem für erforderlich, uns an der Lösung von Bevölkerung mit gesundheitlich bedenklichen po- drei Aufgaben zu beteiligen. lychlorierten Dibenzodioxinen und -furanen weiter Zum einen: Das Umweltbundesamt und das Bun- erhöht, wenn das Kieselrotmaterial so in der Umwelt desgesundheitsamt sollen zusammen mit anderen verbleibt, daß Dioxine in die Nahrungskette eingehen wissenschaftlichen Einrichtungen die Kenntnisse können. Bund und Länder sind sich einig, daß die über die biologische Verfügbarkeit der Dioxingehalte hohen Dioxinkonzentrationen im Kieselrot eine im Kieselrot und über die Expositionswege verbes- Umweltkontamination darstellen, die auf längere sern, um damit eine sichere Grundlage auch für die Sicht wieder beseitigt werden sollte. Grundsätzlich mittel- und langfristige Abschätzung der Gesund- hat daher eine Sanierung der kontaminierten Flächen heits- und Umweltgefährdung zu legen. zu erfolgen. Bei der Auswahl aussichtsreicher technischer Ver- Zum zweiten: Zusammen mit dem Bundesfor- fahren für die Dekontaminierung von Kieselrotmate- schungsministerium sollen aussichtsreiche Verfahren rial hat das Umweltbundesamt eine erste Auswertung für die Dekontaminierung von Kieselrotmaterial aus- vorgenommen. Es wird empfohlen, ein thermisches gewählt werden, und es soll untersucht werden, in Verfahren mit einer Niedertemperaturbehandlung welcher Zeit und mit welchen Kosten diese Verfahren - des Kieselrotmaterials mit katalytischer Reaktion bis praxisreif gemacht werden können. zur Anwendungsreife zu fördern. Weiter sollte für Zum dritten: Wegen der grundsätzlichen Fragen, Dioxinbelastungen, die nur oberflächlich sind, ein die die Sanierung des hochbelasteten Halden- und Verfahren, das auf Vorschlägen zur UV-Oxidation von Dioxinen in einem feinverteilten Material beruht, für Betriebsgeländes der ehemaligen Kupferhütte in Marsberg aufwirft — übrigens nicht nur in Marsberg; die praktische Anwendung fortentwickelt werden. ich denke als Ostdeutscher auch an das mansfeldische Zur Frage einer Beteiligung des Bundes an der Gebiet —, und gegebenenfalls zur Prüfung der Eig- voraussichtlich beachtlichen Aufgabe der Sanierung nung für eine modellhafte Sanierung eines mit Dioxi- des Halden- und ehemaligen Betriebsgeländes des nen hochkontaminierten Standortes soll in Absprache Marsberger Kupferbergbaus möchte ich die von mit dem Umweltministerium des Landes Nordrhein Herrn Minister Professor Dr. Töpfer geäußerte Bereit- Westfalen überlegt werden, wie sich das Bundes- schaft wiederholen, an der Beseitigung dieser Hypo- umweltministerium an der Realisierung eines Sanie- thek für Menschen und Umwelt in einem dichtbesie- rungskonzeptes beteiligen kann. delten Raum mitzuwirken. 9722 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Parl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek Lassen Sie mich die Bemerkung hinzufügen, daß trotzdem Fragen offen, die gesetzgeberisch zu beant- wir hier mit Gesundheits- und Umweltproblemen worten sind: Wie verhindere ich ; daß Abfall entsteht, konfrontiert werden, deren Ursachen in einer Techno- und was mache ich mit den Produkten, die zwangs- logie der Rohstoffgewinnung, die vor einem halben läufig Abfall werden? Jahrhundert angewendet wurde, und der Verwen- dung dabei entstandener Rückstandsprodukte liegen. Bei Papier, Glas, Metall, Alumium, Holz und orga- Die späteren umwelthygienischen Auswirkungen nischen Substanzen ließen sich wenigstens theore- dieser wirtschaftlichen Tätigkeit wurden seinerzeit tisch Lösungen erkennen, bei Kunststoffen dagegen nicht übersehen. sah und sieht es trübe aus; man muß nur einmal über das Thema Vermeidung und Verwertung von Abfall Uns bleibt übrig, auch aus diesem Fall einer bisher nachdenken. Dies ersetzt natürlich nicht die Notwen- nicht erkannten Umweltbelastung zu lernen, bei der digkeit, schon über die Rohstoffe, die Produktion und Entwicklung von Produktionsverfahren und Produk- die Produktionsverfahren nachzudenken. ten Risiken für die Gesundheit nachfolgender Gene- rationen und die Umwelt so weit abzuschätzen, wie Insgesamt muß Deutschland jährlich — es wurden dies denkbar und möglich ist. eben schon Zahlen genannt — 1,3 Millionen Tonnen Abschließend noch eine Klarstellung: Frau Caspers Kunststoffe allein aus dem Bereich Verpackung los- Merk, Sie haben sehr richtig bemerkt, daß sich der werden. Jedenfalls werden die Kommunen oder das Zwischenfall in Lengerich in einer nicht genehmigten DSD laut Verpackungsverordnung ab Januar 1993 Recyclinganlage — allerdings nicht des DSD — ereig- diese 1,3 Millionen Tonnen Kunststoffe im Abfall zu net hat. 30 % auszusortieren haben. Dabei müssen wiederum 30 der stofflichen Verwertung zugeführt werden; (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE das sind immerhin mindestens 90 000 Tonnen pro GRÜNEN]: Eine Woche später wäre das DSD Jahr. gewesen!) — Herr Feige, die Deckel für die Margarine haben Nach Meinung des TÜV wird innerhalb dieser dort nichts zu suchen; auch dieser Sachverhalt spricht 90 000 Tonnen mit einem Verwertungsdefizit von ein bißchen für die Illegalität. Allerdings ist ernsthaft 30 000 zu rechnen sein. Das kann nur heißen, daß die zu prüfen, ob die Errichtung und der Betrieb derarti- Verpackungsverordnung nicht zu erfüllen ist. Ab ger Kunststofflager und -Recyclinganlagen nach § 4 Januar 1995 sollen dann 80 % eingesammelt werden. des Bundes-Immissionsschutzgesetzes in Verbindung Von dieser Menge sollen wiederum 80 % der stoffli- mit der 4. BImSchV der immissionsschutzrechtlichen chen Verwertung zugeführt werden. Das macht weit Genehmigungspflicht zu unterwerfen sind. mehr als 700 000 Tonnen Kunststoffabfälle. In Lenge- rich — das nur zum Vergleich — lagen knapp 5 000 (Marion Casspers-Merk [SPD]: Das war ja Tonnen Kunststoffabfälle. Diese Deponie in Lenge- unsere Forderung!) rich, Herr Staatssekretär, stand kurz vor dem Ver- — Ich denke, darin sind wir uns einig. tragsabschluß mit dem DSD. Soweit her ist es damit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten also nicht. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Kunststoffindustrie sagt, daß sie „kurzfristig" Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. — was immer das heißen mag — nur 120 000 Tonnen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sortenreinen Kunststoff verwerten kann und eine ebensolche Menge an Verpackungen. Der Begriff „sortenrein" ist ein Knackpunkt; deswegen komme Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Ulrike ich darauf nachher noch einmal zurück. Mehl, Sie sind die nächste Rednerin. Bitte sehr! Das Thema Verpackung spielt hier deshalb eine besondere Rolle, weil sie zumindest im Hausmüll den Ulrike Mehl (SPD): Herr Präsident! Meine Damen größten Anteil ausmacht, wobei Kunststoffe im Ver- und Herren! Daß wir Probleme mit Abfall haben, hat packungsbereich die größten Schwierigkeiten ma- sich, hoffe ich, endlich allgemein herumgesprochen. chen. Es stellt sich also beispielsweise die Frage: Was Nachdem in den letzten Jahren die Kreise und geschieht mit dem „Rest", von dem immer die Rede Gemeinden kunterbunt fast unzählige Modellversu- ist, der aber 91 % des gesamten Kunststoffabfalls che durchgeführt haben und versucht haben, sich der ausmacht? Abfallflut zu erwehren, dabei aber eher- minder als mehr erfolgreich waren, hat sich Herr Töpfer ans Werk (Beifall bei der SPD) gemacht. Auf jeden Fall wurde bis zum Jahre 1991, bis zur Geburt der Verpackungsverordnung, das Problem Was geschieht, wenn das DSD die Quoten nicht allein den Kommunen aufgehalst. Denen kann und einhalten kann? Danach sieht es im Moment ganz aus. Wer sitzt dann auf dem Abfallhaufen, und was konnte es nur darum gehen, den Abfall möglichst preisgünstig loszuwerden, aber nicht darum, wie man geschieht mit dem Kunststoff? die Abfallberge schon bei der Produktion vermeidet Unter diesem Licht betrachtet, leuchten die Vor- oder vermindert. schläge der Verpackungs- und Kunststoffindustrie Nachdem nach etlichen Jahren wenigstens das ein, nämlich den Kunststoff — erstens einer chemi- Aussortieren von Glas und Papier einigermaßen schen Verwertung, d. h. der Pyrolyse, zu unterziehen. erfolgreich lief, und zwar dank der massiven Aufklä- Diese gibt es aber noch lange nicht in anwendbaren rungsarbeit von Umweltverbänden und der Bürgerin- Verfahren. In dem Fall kann von kurzfristiger Anwen- nen und Bürger, die das mitgemacht haben, blieben dung also nicht die Rede sein. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9723

Ulrike Mehl Zweitens wird die thermische Verwertung, also die kostet zwei- bis dreimal soviel wie das Rohölgranu- Verbrennung vorgeschlagen. Das heißt: Macht nur lat weiter so, wir können das Zeugs ja durch den Schorn- (Zuruf von der CDU/CSU: Noch!) stein jagen! Vom Einsparen ist nicht die Rede. und ist damit nicht konkurrenzfähig, was jedem klar Ich muß Ihnen sagen, daß ich die Bezeichnung sein dürfte. „thermische Verwertung" für eine ziemliche Volks- verblödung halte, Solange die Kosten von Abfall und Recycling also einfach auf die Verbraucher abgewälzt werden, kann (Beifall bei der SPD) man dieses Spielchen lustig weitertreiben. Wer aber vor allen Dingen dann, wenn in dem Zusammenhang ernsthaft einen Stoffkreislauf angehen will, muß dafür nach Möglichkeit auch noch von „Stoffkreisläufen" sorgen, daß Basismaterialien aus kostbaren bzw. die phantasiert wird. Umwelt belastenden Rohstoffen deutlich teurer sind als die aus Recyclingverfahren gewonnenen Roh- Der interessanteste Vorschlag der kunststofferzeu- stoffe. genden Industrie ist aber der Export. Sie bezeichnet dies auch noch als „ausbaufähig". Was also nicht (Beifall des Abg. Eckart Kuhlwein [SPD]) durch den Schornstein zu jagen ist, schippern wir Nur das darf Zukunft haben; alles andere ist ein irgendwoanders hin, fortgesetztes Auffressen unserer Erde durch die Rei- chen dieser Welt. (Eckart Kuhlwein [SPD]: Nach Frankreich!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Rich Hauptsache weg! Wieso die Verwertungstechnik in tig!) irgendeinem Ausland besser sein soll als bei uns, leuchtet mir überhaupt nicht ein und wird auch nicht Um die Chance einer solchen teilweisen Wiederver- gesagt. Hauptsache, wir sind das Problem los! wertung zu haben, ist es besonders wichtig, sortenrei- nen Kunststoffabfall zu bekommen. Wie kriegt man (Eckart Kuhlwein [SPD]: Aus dem Auge, aus das nun hin? — Kunststoffe landen immer in einer dem Sinn! — Weiterer Zuruf von der SPD: Tonne. Es ist wenig erfolgversprechend, die Verbrau- Sankt Florian!) cher neben anderen Abfallfraktionierungen auch — So ist es. — Frau Homburger, wenn Sie diese von noch verschiedene Kunststoffe getrennt sammeln zu der Verpackungs- und Kunststoffindustrie vorge- lassen. Also muß Kunststoff heute per Hand auf schlagenen Lösungsansätze für richtig halten, dann Fließbändern sortiert werden. verstehe ich auch ihre Argumentationsweise. Aber Wer sich eine solche Sortieranlage einmal angese- dann liegen unsere Meinungen wirklich Welten aus- hen hat, weiß, daß das nicht nur ein unattraktives einander. Geschäft ist, sondern auch nur dann funktionieren (Birgit Homburger [F.D.P.]: Das kann so kann, wenn die Kunststoffe optisch auseinanderzu- sein!) halten sind. Sie müssen einmal ausprobieren, Kunst- stoffe im Akkord auseinanderzufisseln, wenn auf den Was ist nun das besondere Problem bei Kunst- einzelnen Teilen nach kleinen Buchstaben wie „PP" stoffen? Es gibt heute etwa 500 Kunststoffarten, von oder „PE " gesucht werden muß. Das kann nicht denen die meisten auch in Deutschland produziert funktionieren. werden, wie uns die Bundesregierung gesagt hat. Die Kunststoffindustrie behauptet das Gegenteil. Den Wir brauchen also eine gesetzlich vorgeschriebene größten Anteil nehmen die Polyethylene, PE, ein. Kennzeichnung, die sofort, ohne suchen zu müssen Dann spielen noch Polystyrol, PS, PET und Polypropy- und ohne Antrag mit dreifachem Durchschlag sichtbar len, PP, eine Rolle. Besonders zu erwähnen ist aber das ist. Darüber kann sich die Industrie ja einmal PVC. Die jährlich 800 000 Tonnen verarbeitetes PVC Gedanken machen. Die ist in solchen Fragen ja machen als Abfallprodukt besondere Schwierigkei- äußerst phantasiereich. Es gibt Vorschläge, z. B. Farb- ten, was seit dem Unfall von Lengerich hinreichend punkte anzubringen und ähnliches. Aber das kann bekannt sein sollte. sich ja die Industrie ausdenken. Das hätte dann auch den Vorteil — Frau Homburger, Sie haben das ange- Produkte, die zu irgendeinem Zeitpunkt, ob bei der sprochen —, daß Verbraucher beim Kauf der Waren Entstehung oder als Abfall, bei Mensch und Umwelt besser mit Problemkunststoffen umgehen können. gefährlich sind, müssen über kurz oder lang verboten (Zuruf der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.]) werden. - — Das ist eine Frage der Information. Wenn Sie sich (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und einmal mit Umweltverbänden befaßt haben und gese- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hen haben, was diese an Öffentlichkeitsarbeit gelei- Andernfalls laden wir uns und den Menschen in der stet haben — im Gegensatz zu dieser Bundesregie- Zukunft unkalkulierbare Risiken auf. Das Sintflutden- rung —, dann wissen Sie, daß Sie dort einmal in die ken muß endlich aufhören. Lehre gehen können. Da können Sie etwas lernen. Im Bereich des Kunststoffrecyclings sind noch viele (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Fragen unbeantwortet. Klar ist, daß heute nur einige dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sorten wiederverwendbar sind. Dazu gehört das PE, das den größten Anteil des Kunststoffabfalls aus- macht. PE ist wieder zu Granulat verarbeitbar, ist dann Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin, aber wesentlich teurer als das Granulat, das als Rohöl mgestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ho hergerstellt wird. Eine Tonne recycelter Kunststoff burger? 9724 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Ulrike Mehl (SPD): Ja, bitte. hen, warum die Politik so schwerfällig auf solche Probleme reagiert. Tun Sie sich etwas Gutes, stimmen Birgit Homburger (F.D.P.): Frau Kollegin Mehl, Sie zu! können Sie mir bitte einmal erklären, wie ein Ver- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und braucher, der über die einzelnen Zusammensetzun- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen von Kunststoffen und deren Umweltverträglich- keit oder Schädlichkeit in der Regel keine Kenntnis hat, auf Grund einer Kennzeichnung mit einem roten Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Mül- Punkt oder ähnlicher Dinge, die Sie hier angespro- ler, Frau Kollegin Homburger hatte in ihrem längeren chen haben, z. B. bei einem Joghurtbecher feststellen Beitrag die Frage natürlich längst gestellt; sie hat sie können soll, was das bedeutet und ob er sich mit nur noch etwas erläutert. diesem Kauf umweltgerecht oder nicht umweltge- Meine Damen und Herren, als letztem Redner zu recht verhält? Das ist meines Erachtens auf diese Art Tagesordnungspunkt 12 erteile ich jetzt unserem und Weise jedenfalls nicht zu erkennen. Kollegen Dr. Norbert Rieder das Wort. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Frage!) — Die Frage habe ich gestellt, Herr Kollege Müller. Dr. Norbert Rieder (CDU/CSU): Herr Präsident! Ich bin schon selbst in der Lage, das zu erkennen. Sie Meine Damen und Herren! Eine für mich nicht ganz brauchen mich nicht darauf hinzuweisen. nachvollziehbare Regie hat es fertiggebracht, uns an (Eckart Kuhlwein [SPD]: Aber Sie kommen diesem Freitagmittag über zwei Dinge debattieren zu tieren sich nun! — Michael Müller [Düssel lassen, die nur sehr entfernt miteinander zu tun haben: dorf] [SPD]: Parlamentarismus ist die Einhal über die Sanierung dioxinverseuchter Böden, speziell tung bestimmter Regeln!) durch Kieselrot aus Marsberg, und über die Kenn- zeichnung von Kunststoffen. Nun ist es nicht verwun- — Dafür ist der Präsident da! derlich, daß einige Kolleginnen und Kollegen unter dem Eindruck des Brandunglücks von Lengerich und Ulrike Mehl (SPD): Ich hatte eben gesagt, daß das, der dabei ausgetretenen Dioxinen die beiden Dinge was die Verbraucher in bezug auf die Wiederverwer- miteinander verknüpft haben; es war eigentlich zu tung von Kunststoffen tun können, relativ begrenzt ist, erwarten. obwohl es schon jetzt in einigen Ländern oder Kreisen Aber zwischen Marsberg und Lengerich gibt es Verfahren gibt, wo Kunststoff getrennt gesammelt Gott sei Dank noch eine andere Querbeziehung, hat wird. Das ist, so glaube ich, bei uns aber nicht sich doch in beiden Fällen, sowohl in Marsberg als durchsetzbar, Deswegen brauchen wir eine farbliche auch in Lengerich, gezeigt, daß sich nach einer ersten oder sonstwie sichtbare Kennzeichnung für die, die sie Phase der Aufregung, in der — wie ich meine, mit dann wieder trennen müssen. Recht — schnelle und weitgehende Maßnahmen Der Verbraucher kann aber z. B. zwischen PVC und getroffen wurden, um aus dem Vorsorgeprinzip her- anderen Kunststoffen unterscheiden. Er kann z. B. aus den eingetretenen Schaden so klein wie möglich zwischen PE, einem relativ wiederverwendbaren zu halten, aus einer ersten Phase des Handelns eine Kunststoff, und einem anderen Kunststoff unterschei- zweite entwickelte, in der sich nach genauer Messung den. Das halte ich für durchaus sinnvoll. Nur, wenn Sie und Untersuchung zeigte, daß der Schaden deutlich die Verbraucher darüber nicht aufklären, dann wissen geringer war, als ursprünglich befürchtet. sie das natürlich nicht. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich möchte die (Beifall bei der SPD) Ereignisse weder in Marsberg noch in Lengerich Unterschätzen Sie die Verbraucher bitte nicht! Die herunterreden, sondern nur betonen, daß es bei einem wissen eine ganze Menge. Wenn sie wissen, daß Risiko, das nicht genau abschätzbar ist, klug und beispielsweise eine PET-Flasche aus zwei verschiede- weise ist, zuerst einmal von einem schwereren Fall nen Kunststoffen besteht und deswegen nicht recycel- auszugehen, um dann teilweise Entwarnung geben zu bar ist, dann führt das dazu, daß sie keine PET- können, statt zuerst alles zu verharmlosen, um dann Flaschen, sondern Mehrwegflaschen kaufen. Das ist Stück für Stück nachbessern zu müssen, ein Erfolg, und mehr will ich doch gar nicht. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und ohne das am Anfang Versäumte jemals wiedergutma- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)- chen zu können. Dies alles hörte sich eben vielleicht danach an, daß So hat uns, um auf Marsberg zurückzukommen, die das alles kleine Ansätze sind, daß man eben nur Sperrung der mit Kieselrot belegten Spielplätze und Kleinigkeiten ändern kann. Wir wissen aber, daß es Sportplätze und auch der Haldengelände in Marsberg den großen Wurf nicht auf einmal gibt, statt dessen selbst die Möglichkeit gegeben, deutlich zu machen, aber innerhalb von Gesamtkonzepten, die es natürlich daß, verglichen mit den ersten Befürchtungen, relativ geben muß, einzelne Schritte gegangen werden müs- kostengünstige Maßnahmen ausreichen, die Ausbrin- sen. Ich glaube, daß das, was ich vorgetragen habe, gungsorte des Kieselrots so zu sichern, daß keine eine Art dieser kleinen Schritte aufzeigt und daß dies öffentliche Gefahr mehr davon ausgeht. Das hat uns ein wichtiger kleiner Schritt ist. aber auch die Zeit gegeben, modellhafte Konzepte für Ich bin sicher, auch Sie werden in Ihren Wahlkrei- die endgültige Sanierung der gesicherten Flächen sen auf Zuspruch stoßen, wenn Sie diesem Antrag einschließlich des restlichen Haldenmaterials aus zustimmen und das dort veröffentlichen, weil die Marsberg zu entwickeln, die für andere Sanierungs- Bürgerinnen und Bürger sowieso nicht mehr verste fälle in den alten und neuen Bundesländern, aber Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9725

Dr. Norbert Rieder auch darüber hinaus, modellhaft sein können; denn men sollte, könnte man über eine Kennzeichnungs- dioxinverseuchte Böden sind keine Besonderheit nur pflicht in diesem Sektor durchaus noch einmal der Bundesrepublik, sondern auch anderer Länder, reden. wie wir spätestens seit Seveso wissen sollten. Doch schauen wir uns den zweiten Bereich an: Auch das in Marsberg angewandte Verfahren zur Kunststoffe als Verpackungsmaterialien. Stellen wir Aufbereitung des Kupfererzes ist übrigens nicht ein- uns einmal vor, jede Verpackung wäre entsprechend zigartig auf der Welt gewesen, auch wenn es in gekennzeichnet, entweder mit dem richtigen Namen Deutschland bei der Kupfergewinnung sonst wohl im Klartext, also Polysterol, Hochdruck- oder Nieder- nicht mehr angewandt wurde, meines Wissens übri- druck-Polyethylen, Polycarbonat, Buthylmethylme- gens auch nicht in Mansfeld; es waren dort andere tacrylat, Polyvinylchlorid usw., oder mit irgendwel- Verfahren. Vielmehr handelt es sich um ein Verfah- chen Abkürzungen oder Kennzahlen, dann wäre die ren, das ursprünglich in Schweden entwickelt wurde. Mehrzahl der Bürger völlig verwirrt. Ich denke, wer sucht, wird auch dort, nämlich in (Beifall bei der F.D.P.) Schweden, und anderswo fündig werden. Die an sich sinnvolle Sortierung der Abfälle zur Doch gerade dieser weltweit modellhafte Charakter Wiederverwertung würde Hausmänner und Haus- der Sanierung großer kontaminierter Materialmen- frauen und deren ausnahmsweise im Haushalt mithel- gen mit dafür geeigneten Verfahren, die technisches fende Partner völlig überfordern. Meine Frau jeden- Neuland beschreiten werden, gibt der Bundesregie- falls ist mit Sicherheit sehr geduldig — wer mich rung — anders als bei sonstigen Sanierungen, die kennt, wird das bestätigen; sonst hätte sie es mit mir Aufgabe der Länder sind — eine Möglichkeit, för- nicht ausgehalten — dernd einzugreifen. Herr Staatssekretär Wieczorek (Heiterkeit) hat vorhin in aller Deutlichkeit den eindeutigen Wil- und trennt jetzt schon sechs verschiedene Fraktionen len von Minister Töpfer und der Bundesregierung im Haushalt. Aber bei der Forderung, auch noch erklärt, hier bis zu den Grenzen des rechtlich Mögli- Kunststoffe sortenrein trennen zu müssen, würde sie chen zu gehen. Damit ist eigentlich wohl auch ohne mir mit Sicherheit etwas husten, und das mit Recht. den Antrag der SPD das Machbare durchgeführt bzw. in die Wege geleitet. Wir können nicht dem Endverbraucher die Aufgabe der Auswahl beim Kauf oder bei der Entsorgung Doch nun zum zweiten Antrag der SPD, zur Kenn- aufbürden. Wir können es aber auch nicht den Leuten zeichnung von Kunststoffen. Es ist sicherlich eine im am Sortierband zumuten — auch das ist schon ange- ersten Moment faszinierende Idee, Kunststoffartikel sprochen worden —, weder aus Kostengründen noch so zu kennzeichnen, daß sie vom Verbraucher und aus Arbeitsplatzgründen. Das Problem muß anders vom Verwerter sehr einfach erkannt und vermieden gelöst werden, nämlich dadurch, daß sich der Herstel- bzw. sortiert werden können. Doch schauen wir uns ler um seinen Abfall selbst kümmert. Bei den Verpak- die Praxis, die teilweise schon angesprochen worden kungen, über die wir gerade sprechen, hat er dank der ist, etwas genauer an und nehmen uns dazu beispiel- Verpackungsverordnung bereits den Schwarzen Pe- haft Verpackungsmaterialien und Autoteile aus ter. Kunststoff vor, beides übrigens Gebrauchsmöglich- Die Erfolge zeigen sich sehr deutlich. Bestimmte keiten, die im Antrag der SPD genannt sind. Kunststoffe beginnen schon aus dem Verpackungsbe- Bei Autoteilen wird sicherlich die Kennzeichnung reich zu verschwinden, die Standardisierung unter der Kunststoffe das Käuferverhalten nur unwesentlich dem Gesichtspunkt der Verwertbarkeit hat begonnen, beeinflussen, da kaum ein Kunde vor dem Kauf im aber auch neue Verfahren zur Trennung der verschie- Autoladen die vielen verschiedenen Kunststoffteile denen Kunststoffarten nach spezifischem Gewicht, nach ihrer irgendwo, vermutlich versteckt, ange- nach verschiedenen optischen Eigenschaften, nach brachten Kennzeichnung untersuchen wird. Das ist der verschiedenen Löslichkeit usw. sind zum Teil allenfalls eine Aufgabe für Verbraucherorganisatio- schon Stand der Technik, zum Teil in der Entwick- nen, die durch entsprechende Empfehlungen mit lung. entsprechender Wertung von sehr gut bis mangelhaft auf die Recyclierbarkeit bestimmter Autotypen hin- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Rie- weisen können. Diese Organisationen sind aber der, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen durchaus in der Lage, sich die Information über die Feige? Zusammensetzung der Kunststoffe auf andere- Art und Weise zu beschaffen. Die Fachleute dazu haben sie jedenfalls. Ein Hexenwerk ist die Analyse von Kunst- Dr. Norbert Rieder (CDU/CSU): Ja, selbstverständ- stoffen in der Regel nun wirklich nicht. lich, gern. Noch viel eleganter würde das Problem aber durch eine Rücknahmeverpflichtung für Altautos gelöst. Dr. Klaus - Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dann hat der Hersteller letztendlich den Schwarzen NEN): Können Sie sich vorstellen, daß diese Markie- Peter und wird aus Eigeninteresse dafür sorgen, daß rung den gleichen Effekt haben könnte wie damals die die verwendeten Kunststoffe entsprechend gekenn- Auseinandersetzung um FCKW in Spraydosen oder zeichnet werden, wenn er das für notwendig hält. Ich Ersatzstoffen und damit eigentlich dem umweltbe- glaube deshalb, daß bei der derzeitigen Entwicklung wußten Käufer eine Chance gibt mitzubestimmen? eine Kennzeichnungspflicht für Kunststoffe im Auto- mobilsektor entbehrlich ist. Falls allerdings eine sol- Dr. Norbert Rieder (CDU/CSU): Das wäre sicherlich che Rücknahmeverpflichtung für Altautos nicht kom mit eine Möglichkeit, nur besteht die Offenheit 9726 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Dr. Norbert Rieder bereits. Ich komme auf etwas zurück, was Ihre Frage Ich eröffne die Aussprache und erteile unserer Frau vielleicht ganz schnell von selbst beantworten wird. Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann das Wort. Ich komme jetzt nämlich auf die Industrie zurück, denn die beteiligte Industrie hat sich das passende Kennzeichnungsverfahren auch ohne uns bereits ein- Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr fallen lassen. Der Gesamtverband Kunststoffverarbei- Präsident! Meine Damen und Herren! Wer heute an tende Industrie hat seinen Mitgliedsfirmen, etwa einsamen Stränden, versteckten Seen und Wäldern, 1 000 Firmen, am 2. Juli 1991 empfohlen, die Kunst- die zum Picknick einladen, spazierengeht, wird ganz stoffprodukte zu kennzeichnen. Nach DIN 7728 Teil 1 viel Grün finden; viele grüne Punkte, überwiegend soll entsprechend gekennzeichnet werden. Damit soll auf Dosen, die die Lagerstellen sorgloser Zeitgenos- eine klare Kennzeichnung stattfinden, nicht irgend- sen zieren. Pfandflaschen dagegen sucht man verge- wie kodiert, allerdings in Abkürzungen, z. B. „PE" für bens. Polyethylen, „PVC" für Polyvinylchlorid usw. usw. (Zuruf von der CDU/CSU: 72 %!) Zur Umsetzung dieser Empfehlung des Gesamtver- — Ich sprach von einsamen Stränden. Offensichtlich bandes Kunststoffverarbeitende Industrie soll übri- sind Sie da selten. gens Ende 1992 ein Bericht vorliegen. Das heißt, die Industrie hat genau das von sich aus erledigt, u. a. (Zuruf von der CDU/CSU: Da liegen auch unter dem Eindruck der Rücknahmeverordnung. Pfandflaschen!) Merke also ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Nichts charakterisiert die Wirkungslosigkeit des Merksatz —: Politik und Politiker sind nicht dazu da, Dualen Systems besser, das eigentlich „Mono- um anderen das Denken abzunehmen — denn dazu system", also „Einwegsystem", heißen müßte, als sind sie bekanntlich gar nicht in der Lage —, sondern solche Bilder. sie sind dazu da, um andere auf besonders raffinierte Nun werden Sie sagen: „Das dürfen die aber nicht" Art und Weise zum Nachdenken anzuregen. Töpfer und „Recycling lebt vom Mitmachen. " Aber das, sei Dank gibt es ja in der Verpackungsverordnung meine Damen und Herren, ist die Realität. Vielleicht eine hochintelligente Methode, die im Verpackungs- gehen wir einmal zusammen spazieren. bereich die sonst nicht ganz schlechte Idee der Kenn- (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Am einsamen zeichnungspflicht für Kunststoffe entbehrlich macht. Strand! — Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Merke deshalb weiterhin: Das Bessere verdrängt Verraten Sie uns einmal die Strände!) das Gute. Die Verpackungsverordnung ist besser als Es ist eine Binsenweisheit: Wenn kein finanzielles Ihr Vorschlag. Interesse, in diesem Falle also ein Pfand, vorhanden Vielen Dank. ist, landen Getränkeverpackungen im Wald und in der (Beifall bei der CDU/CSU) Hausmülltonne. Realität ist leider auch die Recyclinglüge. In ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage gibt die Bundesre- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und gierung selbst zu, daß sich spätestens ab Mitte 1995 Herren, die Aussprache ist damit zu Ende. Der Älte- bei jährlich zu verwertenden Kunststoffmengen in der stenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Größenordnung von etwa 600 000 bis 700 000 Tonnen Drucksachen 12/1109 — dabei geht es um die Sanie- Engpässe abzeichnen. Ansonsten herrscht bei der rung dioxinverseuchter Böden — und 12/2502 Bundesregierung das Prinzip „glauben und hoffen". — Kennzeichnung von Kunststoffen — an die in der Nachdem sich selbst das Umweltbundesamt in bezug Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. — Ich auf die Einhaltung der Wiederverwertungsquoten höre und sehe keinen Widerspruch. Dann sind die skeptisch geäußert hat, platzte der Verband der kunst- Überweisungen so beschlossen. stofferzeugenden Industrie im April dieses Jahres mit der Erklärung heraus, daß er es für dringend geboten halte, die Verpackungsverordnung zu revidieren; Meine Damen und Herren, ich rufe nun den Tages- Fristen sollten nur im Einklang mit der — nebenbei ordnungspunkt 14 auf: bemerkt — mehr als dürftigen EG-Verpackungsricht- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- linie vorgesehen werden; Kapazitäten für Kunststoff- ten Jutta Braband, Dr. Fritz Schumann (Krop- recycling müßten erst aufgebaut und Anlagen zur penstedt) und der Gruppe der PDS/Linke chemischen Verwertung errichtet werden. Liste Dies rief unseren Kollegen Herrn von Geldern Auswirkungen auf die Abfallentsorgung durch (CDU) auf den Plan, die Einführung des „Dualen Systems Deutsch- (Zuruf von der CDU/CSU: Das weiß jeder!) land" (DSD) der eine Warnung an die kunststofferzeugende Indu- Drucksachen 12/2027, 12/2682 strie aussprach. Er schrieb u. a.: Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe Der Gesetzgeber sollte dem Ansehen uneinsich- PDS/Linke Liste vor. tiger Industriebranchen wie der kunststofferzeu- Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Fünf- genden chemischen Industrie einen Riegel vor- Minuten-Runde vereinbart worden, wobei die Gruppe schieben. PDS/Linke Liste zehn Minuten erhalten soll. — Ich Dem ist nur beizupflichten. Es sollte uns schon zu höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist auch das denken geben, wenn die Industrie selbst so wenig so beschlossen. Vertrauen in ihre Recyclingfähigkeit hat. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9727

Dr. Dagmar Enkelmann Im Zuge des Skandals des Müllexports nach Frank- auffliegt und die geplanten Verwertungsquoten nicht reich geriet DSD wieder in die Schlagzeilen. Grüne eingehalten werden können? Wird dann mit Ausnah- Punkte auf französischen Mülldeponien soll nun der megenehmigungen und Notverordnungen weiterge- TÜV verhindern. Die chemische Verwertung wird als wirtschaftet? Wird das Fiasko DSD in einem Müllver- die neueste Möglichkeit, die Kunststoffberge abzutra- brennungs-Ermächtigungsgesetz enden? gen, angepriesen. Nur müßte hier ehrlicherweise Der vorliegende Entwurf der TA Siedlungsabfall gesagt werden, daß dieses Verfahren noch nie groß- deutet jedenfalls schon in diese Richtung. technisch erprobt wurde. Die geplagten Anwohner der dafür vorgesehenen ehemaligen Kohle-Öl- Dürfen die entsorgungspflichtigen Kommunen und Anlage in Bottrop werden ihre Freude an der störan- der Einzelhandel die Reste des Scherbenhaufens DSD fälligen Technologie haben, die obendrein noch teuer zusammenkehren und zusehen, wie sie damit fertig- ist. werden? Ist der ganze Werbegag mit Namen „Grüner Punkt" eigentlich nur ein Deckmäntelchen für eine Fast wäre die Firma Mikroplast, von der heute schon heimliche Privatisierung der Abfallentsorgung und mehrmals die Rede war, im westfälischen Lengerich Vorwand für flächendeckende Müllverbrennung? zum nächsten DSD-Skandal geworden; war sie doch als möglicher DSD-Partner im Gespräch. Das war Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große jedenfalls die Information, die wir im Umweltaus- Anfrage kann nur als dürftig bezeichnet werden. schuß bekommen haben. Aus bekannten Gründen Hoffen und harren führten die Feder. Aber wie heißt es wird daraus wohl nichts mehr werden. so schön: Hoffen und harren hält manchen zum Narren. Dennoch bleibt die Frage, ob die gewaltigen Kunst- Es ist ganz klar: Das DSD hat nur die Funktion, auf stoffberge, die in Zukunft einzusammeln und bis zur Zeit zu spielen und es der Verpackungsindustrie zu Verarbeitung irgendwo zu lagern sind, nicht zu flam- ermöglichen, so weiterzumachen wie bisher. menden Infernos nach Lengericher Art werden kön- nen. Man sollte sich allein aus diesem Grund, Herr Herr Präsident, meine Damen und Herren, statt DSD Kollege Rieder, lieber weiter darüber aufregen dür- und Grünem Punkt brauchen wir eine wirklich ökolo- fen, daß es so ist. gische Abfallpolitik. Ein ernstgemeintes und erfolg- versprechendes Konzept für eine ökologische Abfall- Das Geschäft mit dem Grünen Punkt erweist sich wirtschaft ist aber ohne grundsätzliche Änderung der mehr und mehr als ein Lügengespinst. Eine TÜV- industriellen Produktionsweise nicht möglich. Überprüfung hat erbracht, daß statt der angeblichen 36 000 Tonnen Kunststoffmüll höchstens 18 000 wie- (Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Aber derverwertet werden. Von angegebenen 32 Verwer- wie?) tungsbetrieben seien bestenfalls zehn in der Lage, — Lassen Sie mich bitte ausreden! Kunststoffverpackungen zu recyceln. Lediglich 8 000 Tonnen Kapazität wurden dabei errechnet. Wie da ab Abfallpolitik muß letztlich Chemiepolitik mit dem 1. Januar 1993 90 000 Tonnen recycelt werden kön- Ziel der Entgiftung der Produktion und ihrer Produkte nen, ist mir allerdings schleierhaft. Selbst wenn diese sein. 90 000 Tonnen wirklich verwertet werden könnten, Notwendig ist ein konsequentes Abfallvermei- wären dies gerade einmal 35 % der anfallenden Ver- dungs- und -verwertungsgebot. Im H aushaltsbereich packungen. Zwei Drittel gehen also nach wie vor in ist durch gesetzliche Maßnahmen und Abgaben der den kommunalen Müll. Verbraucherinnen und Ver- Anteil der Mehrwegverpackungen zu erhöhen. braucher zahlen demnach doppelt: für den Grünen Getrenntmüllsammelsysteme sollen flächendeckend Punkt auf Verpackungen und für kommunalen eingeführt werden, um die Wiederverwertung zu Abfall. erleichtern. Übrigens hat es das im ach so maroden Da ja gerade mit dem Grünen Punkt soviel Miß- System DDR gegeben. Jetzt wird mit unheimlich brauch getrieben wurde — um auf die Frage von Frau großem Aufwand das System der Sero-Erfassung Homburger einzugehen —, müssen wir uns sicher mühselig wiederbelebt. Abfallbeseitigung und -ver- etwas anderes einfallen lassen, als mit Punkten zu wertung ist — das kann nicht oft genug gesagt operieren. Vielleicht fällt uns noch etwas ein. werden — Sache der Kommunen. Auf kommunaler Ebene besteht am ehesten die Möglichkeit demokra- Als sehr ominös erweisen sich auch angebliche tischer Kontrolle und Planung, auch wenn dies kein Entsorgungsmöglichkeiten im Ausland. So besaß Automatismus ist. z. B. eine Firma in der CSFR, die 50 000 Tonnen Die Abfallgesetze müssen so geändert werden, daß Kapazität für die Hydrierung von Kunststoffabfällen an erster Stelle die Abfallvermeidung, dann stoffliche anbot, nach Prüfung lediglich eine Deponie im Wald. Wiederverwertung und umweltverträgliche Abfallbe- Die Umdeklarierung von Abfall in Wirtschaftsgut handlung und zuletzt die umweltschonende Ablage- öffnet einen weltweiten Verschiebebahnhof für Ver- rung steht. packungsabfälle, der praktisch unkontrollierbar ist. Aber mit der Verwandlung von Panzern in landwirt- Meine Damen und Herren, eine ökologische Abfall- schaftliche Maschinen hat diese Regierung ja schon wirtschaft setzt eine Chemiewende voraus. Wir wis- einschlägige Erfahrungen. sen, daß die nötigen Konzepte für den Umstieg auf sanfte Chemie erst in einigen wenigen Bereichen (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Da hat entwickelt sind. Die nötige Chemiewende muß daher die PDS keine!) in einem ersten Schritt durch politische Vorgaben Ich frage die Bundesregierung: Was gedenkt sie zu einen Ausstieg aus besonders gefährlicher Produktion tun, wenn am 1. Januar 1993 der Recyclingschwindel fördern, während gleichzeitig Mittel zur Verfügung 9728 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Dr. Dagmar Enkelmann gestellt und Institutionen geschaffen werden, die eine als beantwortet werden. Der Methodenstreit, wie man Neukonzeption der Chemiepolitik, eine durchgrei- so etwas macht, ist überhaupt noch nicht abgeschlos- fende Technologiebewertung und Produktlinienana- sen. Die Ergebnisse sind höchst widersprüchlich. Wie lyse und eine ausreichende ökologische Produktkon- wollen Sie denn mit so einer dürftigen wissenschaftli- trolle ermöglichen. chen Basis vor Gericht Verbote rechtfertigen? Wir fordern eine Ergänzung des Gefahrenabwehr- Und dann darf ich noch so ganz nebenbei daran prinzips im Chemikaliengesetz durch ein Umweltvor- erinnern, daß wir ja auch EG-rechtliche Probleme sorgeprinzip, das ein Verbot umweltgefährdender haben, Gebote und Verbote als produktbezogene Stoffe erleichtert, möglichst noch bevor sie auf den Normen durchzusetzen. Ob es uns paßt oder nicht, Markt gelangen und letztlich zu problematischem produktbezogene Normen sind aus der Sicht der EG Haus- bzw. Sondermüll werden. grundsätzlich ein unzulässiges Handelshemmnis. Herr Töpfer sagte am 26. März 1992 in einem Deshalb begehen wir mit der Interview bei SAT 1 in Berlin: Verpackungsverord- nung und der darin geregelten Rücknahmeverpflich- Das duale System stirbt, wenn bis 1. 1. 1993 die tung einen anderen Weg. Wir versuchen, die Produ- Quote nicht erreicht wird. zenten auf einem indirekten Weg dazu zu bringen, auf Wir jedenfalls werden ihn beim Wort nehmen. die Probleme der Abfallwirtschaft Rücksicht zu neh- Die Gruppe PDS/Linke Liste stimmt einer Überwei- men, und zwar dadurch, daß wir die Abfallentsor- sung ihres Entschließungsantrags an den Umweltaus- gungsprobleme zu ihrem eigenen Problem machen. schuß zu, damit dort weiter beraten werden kann. Das heißt, wir verpflichten die Produzenten, die Ent- sorgungsprobleme selbst zu lösen. Diejenigen, die Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. diesen Lösungsansatz noch akzeptieren — und viele (Beifall bei der PDS/Linke Liste, beim BÜND SPD-Länderregierungen haben der Verpackungsver- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne ordnung ja zugestimmt und ihre Bereitschaft erklärt, ten der SPD) Unterstützungsvereinbarungen zu unterschreiben —, nehmen uns eigentlich nur übel, daß wir nicht auf der Rücknahme im Geschäft bestehen, sondern die Mög- Vizepräsident Hans Klein: Nächster Redner ist jetzt lichkeit geben, ein duales System aufzubauen, ein unser Kollege Dr. Gerhard Friedrich. Sammelsystem. Und das habe ich noch nie verstan- den. Wir müssen bei den Verbrauchern mit Bequem- lichkeit rechnen. Ich gehe davon aus, auch auf Grund Dr. Gerhard Friedrich (CDU/CSU): Herr Präsident! der Erfahrungen, die die Kommunen haben, daß ein Meine Damen und Herren! Ich möchte beginnen mit haushaltsnahes Sammelsystem einen besseren Erfolg, Ausführungen, die die Kollegin Mehl gemacht hat. Sie also eine höhere Rücklaufquote garantiert als die waren richtig. Sie sprach von den Problemen der Rücknahme im Geschäft. Abfallwirtschaft und von dem Ziel, Abfall zu vermei- den. Sie sagte, wenn das nicht gehe, dann sollte Meine Damen und Herren, wir machen die Geneh- wenigstens stoffliche Verwertung stattfinden; aber migung des dualen Systems in der Verordnung davon das sei ohne Mitwirkung der Hersteller von Waren, abhängig, daß stoffliche Verwertung nachgewiesen der Produzenten, nicht lösbar. Das haben Sie sinnge- wird. Nun sagen einige — das ist auch hier schon mäß ausgeführt. Die Frage ist nur: Wie bringen wir die angedeutet worden —: Die stoffliche Verwertung ist ja Produzenten dazu mitzuwirken? Da gibt es einen sehr ganz schön, wichtiger wäre aber, das vorrangige Ziel populären Vorschlag, der auch in Bayern immer der Abfallvermeidung voranzubringen. Nun ist es wieder genannt wird. Das ist eigentlich der einfachste, eben sehr schwer, Abfallvermeidung unmittelbar vor- und deshalb leuchtet er vielen Menschen so ein. Er zuschreiben. läuft nämlich darauf hinaus, bestimmte Dinge z. B. im Wir gehen davon aus, daß auch die Verpackungs- Verpackungsbereich schlicht und einfach zu verbie- ten. verordnung Mechanismen in Gang setzt, die zur Abfallvermeidung führen, weil nämlich die Produzen- Meine Damen und Herren, diejenigen, die solche ten verpflichtet werden, erstmals das Sammeln von Verbote fordern, haben bisher noch nie Verbotskata- Verpackungen, das Sortieren und die stoffliche Ver- loge vorgelegt. Ich kenne nur ganz wenige Beispiele wertung zu finanzieren. Das heißt doch, die Einweg- und Vorschläge. Aber diese punktuellen Verbote verpackung wird — da wird sich noch einiges entwik- bringen gar nichts, weil wir ja nicht wissen,- wohin die keln, wahrscheinlich schon im nächsten Jahr — ver- Industrie ausweicht. Wir müßten also flächendek- teuert. Ich verstehe wirklich nicht, daß diejenigen, die kende Gebote und Verbote erlassen. Der Kollege dieses Verteuern über Abgaben erreichen wollen, Feige nickt so halb und ein bißchen zögernd. Lieber jetzt plötzlich sagen: Es ist eine Katastrophe, daß ihr Kollege Feige, ich sage Ihnen offen und ehrlich: Ich den Verbraucher über ein System belastet, wo die bezweifle, daß wir Politiker auch mit Hilfe sehr Wirtschaft selbst so etwas wie eine Verpackungsab- fachkundiger Beamter und vieler Wissenschaftler in gabe entwickelt. Das müßten sie doch begrüßen. der Lage sind, solche flächendeckenden Gebote und Verbote zu entwickeln. Je teurer Einwegverpackungen werden, meine Damen und Herren, desto größere Wettbewerbs- Fachlich ist das Problem das, daß wir zwar jetzt über nachteile haben Einwegverpackungen, und desto unsere Ministerien, über das Bundesumweltamt soge- mehr werden Mehrwegverpackungen begünstigt. nannte Ökobilanzen in Auftrag geben, und je mehr wir uns mit diesen Ökobilanzen beschäftigen, desto Ich bin etwa bei einem Drittel meines Manuskripts, mehr stellen wir fest, daß mehr Fragen aufgeworfen aber fünf Minuten sind schnell herum. Vielleicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9729

Dr. Gerhard Friedrich haben wir bei einer anderen Gelegenheit die Mög- nungsanlage verbrannt wird. Diese Einschätzung lichkeit, die Diskussion fortzusetzen. wird im übrigen auch vom Berliner Umweltbundes- Vielen Dank. amt geteilt. Über den hohen Energieaufwand bei der Herstellung dieser Getränkedosen will ich hier aus (Beifall bei der CDU/CSU) Zeitgründen gar nicht erst reden. Ein Riesenproblem ist auch das Kunststoffrecycling, Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Jutta Mül- sowohl vom Verfahren als auch von den Kapazitäten ler, Sie sind die nächste Rednerin. Bitte sehr. her. Aber dazu hat meine Kollegin Ulrike Mehl schon ausführlich Stellung genommen. Das DSD behauptet, der Grüne Punkt helfe Verpak- Jutta Müller (Völklingen) (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir hatten hier Anfang der kungsmüll zu vermeiden. Dies wird übrigens auch in Woche eine sehr schöne Veranstaltung, die Veranstal- der Antwort der Bundesregierung so behauptet. Ich tung „Jugend und Parlament". Wenn man bei dieser halte das für großen Unfug. Solange die Wirtschaft mit Veranstaltung den Reden dieser Jugendlichen einmal der Produktion, dem Verkauf, dem Einsammeln und zugehört hat, hat man erfahren, daß Politikverdros- dem Verwerten Geld verdienen kann, wird es nie senheit, Staatsverdrossenheit etwas mit Glaubwür- weniger, sondern eher mehr geben. digkeit und Ehrlichkeit zu tun hat. Tatsache ist, daß (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und den Menschen im Zusammenhang mit dem dualen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) System nicht die Wahrheit gesagt wird. Die DSD-Werbung fördert außerdem die Wegwerf- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke mentalität der Verbraucher nach dem Motto: Verpak- Liste) kungen sind ja jetzt kein Problem mehr. Wir haben in Die Kennzeichnung der Verpackung mit dem Grünen vielen Diskussionen schon davor gewarnt, daß unter Punkt suggeriert Umweltfreundlichkeit. Und die Bun- dem Druck des dualen Systems das bewährte Mehr- desregierung sagt in ihrer Antwort auf die Große wegsystem zusammenbrechen könnte. Dies wird Anfrage der PDS: auch vom Bundesumweltminister so gesehen. Des- halb steht in der Antwort der nette Satz: Darstellungen, die Einwegverpackungen als ge- nauso umweltfreundlich wie Mehrwegverpak- Eine darüber hinausgehende weitere Förderung kungen bewerten, sind der Bundesregierung der Getränkemehrwegsysteme soll nach Ansicht nicht bekannt. des Bundesumweltministers durch die im Dezem- ber 1991 im Entwurf vorgestellte Getränkemehr- Ich rate Ihnen einmal, Herr Staatssekretär, daß Sie wegverordnung erfolgen. Beamte und Mitarbeiter, die solche Antworten verfas- sen, zum Einkaufen schicken. Leider ist es bei so vielem, was der Bundesumwelt- minister ankündigte, beim Entwurf geblieben. Eine Ich habe hier zum Beispiel eine Werbung der Firma entsprechende Verordnung liegt bis heute nicht vor. Rewe. Da heißt es wörtlich: Ich möchte hier ausdrücklich betonen, daß wir Die Milchtüte ist wesentlich umweltfreundlicher Sozialdemokraten nicht gegen Wiederverwertung als die Mehrwegflasche. sind. Den Grundgedanken halten wir für richtig. Mittlerweile ist auch ein entsprechendes Gerichtsur- Wenn aber I Ierr Töpfer in seinen wertvollen Werbe- teil ergangen, welches der Firma Henkel untersagt, broschüren immer wieder sagt, im Müll seien wert- die Verpackung des Spülmittels Pril als umwelt- volle Rohstoffe, dann muß ich mich fragen: Was freundlich darzustellen. suchen eigentlich diese wertvollen Rohstoffe auf Was soll der Verbraucher jetzt eigentlich glauben? Mülldeponien in Frankreich? Der Grüne Punkt kennzeichnet stark belastende Ver- (Beifall bei der SPD) packungen, vermischte Kunststoffe, Verbundstoffe, die kaum recycelt werden können; aber die bewähr- Wir sind also dagegen, daß uns der Bundesumweltmi- ten Mehrwegsysteme tragen keinen Punkt. nister eine Verordnungsluftnummer nach der anderen als knallharte Umweltpolitik verkauft. Bei diesem Ein weiteres Zitat aus der Antwort der Bundesregie- ganzen Verordnungswust bleibt letztendlich der sim- rung: ple Gedanke der Müllvermeidung auf der Strecke. Für die Masse der Verpackungen aus Glas, Ich sehe, daß hier das Licht brennt. Leider bin auch Metall, Papier und Pappe stehen bereits heute - ich nicht ganz fertiggeworden, Herr Kollege Friedrich. geeignete technische Verwertungsanlagen auch Deshalb bin ich ganz froh, daß die PDS zugestimmt in beachtlichen Kapazitäten zur Verfügung. hat, daß der Antrag im Ausschuß weiter beraten Greifen wir uns z. B. einmal die Metalle heraus. Nach werden kann. Fünf Minuten sind für so ein komplexes Angaben des BUND wird von den 4,3 Milliarden Thema sicherlich zuwenig. Getränkedosen, die die Bürger jährlich leeren, nur Ich danke Ihnen. etwa ein Viertel recycelt. Auch hier wird über eine entsprechende Werbung immer wieder der Eindruck (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke erweckt, als ob diese Ex-und-Hopp-Verpackung voll- Liste) ständig wiederverwertbar und somit ökologisch ebenso sinnvoll wie die Pfandflasche wäre. Aber das Blechrecycling belastet die Umwelt. Pro Tonne Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile das Wort Metallabfall fallen etwa zwanzigmal mehr Dioxine an, jetzt dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär als wenn eine Tonne Müll in einer modernen Verbren beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und 9730 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Vizepräsident Helmuth Becker Reaktorsicherheit, unserem Kollegen Dr. Bertram Meine Damen und Herren, ich möchte es hier noch Wieczorek. einmal klar und deutlich sagen: Die Verpackungsver- ordnung ist der erste ernstzunehmende Versuch — Al- ternativen sind mir nicht bekannt —, von der Weg- Dr. Bertram Wieczorek, Parl. Staatssekretär beim werfgesellschaft wegzukommen, auszusteigen. Es Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reak- handelt sich ja beim Kunststoffabfall immerhin um torsicherheit: Herr Präsident! Meine Damen und Her- eine Million Tonnen jährlich. Übrigens ist die Vermei- ren! Man hat öfter den Eindruck, daß die Verpak- dung im § 1 der Verpackungsverordnung als erstes kungsverordnung von vielen, die sie kritisieren, noch Verhaltensprinzip genannt. Die Vermeidung steht gar nicht gelesen, geschweige denn begriffen wurde. also am Anfang, und erst dann ist einer umweltver- Und man sollte nicht im vorhinein, wie bei einem träglichen Verwertung das Wort zu reden. Neubau, wo Fenster und Türen noch fehlen und deshalb von einem Baufehler gesprochen wird, vor- Wir begrüßen daher, daß das duale System die schnell Urteile abgeben, die weiß Gott erst im näch- bisherigen negativen Erfahrungen im Bereich der sten Jahr zu fällen sind. Kunststoffverwertung aufgegriffen und mit den Unternehmen VEBA, RWE, Bayernwerk und Baden (Unruhe bei der SPD) werk Vereinbarungen getroffen hat, großtechnische Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen versi- Anlagen für die chemische Aufbereitung von chern: Die Verpackungsverordnung hat nicht das gebrauchten Kunststoffverpackungen zu errichten. duale System impliziert, sondern wir haben der Wirt- Die Anlage in Bottrop, wo es um die Wasserstoffhy- schaft mit der Möglichkeit, Dritte einzuschalten, eine drierung geht — man kann natürlich über diese Chance eingeräumt, ihre eigenen Entsorgungssy- Philosophie diskutieren und muß die Entwicklung steme aufzubauen. Ich möchte klar und deutlich noch abwarten —, ist keine neue Erfindung, sondern ein einmal sagen: Wenn diese nicht funktionieren, wer- uraltes Verfahren, das in den 20er Jahren in Bitterfeld den wir andere, ordnungsrechtliche Maßnahmen entwickelt wurde. Ich möchte jeden einladen, einmal ergreifen müssen, um die Quoten, die 1995 ja schon nach Bottrop zu gehen. Dort werden nämlich nicht nur bei 64 % liegen sollen, zu sichern. Kunststoffe zu synthetischem Öl verarbeitet, sondern Wenn ich die Diskussion richtig verfolgt habe, geht auch PCB, Altöle und viele die Umwelt belastende es hier überwiegend um die Frage des Kunststoffs. organische Substanzen. Dieses Problem ist noch nicht gelöst, da haben Sie Abschließend möchte ich feststellen, meine Damen völlig recht. Ich persönlich sehe auch nicht ein, daß bei und Herren, daß die Verpackungsverordnung ein bestimmten Verpackungen von Lebensmitteln glei- erster wichtiger Schritt ist. Die Wirtschaft hat im cher Art die verschiedensten Polymere eingesetzt Rahmen dieses stringenten Vermeidungsgesetzes werden müssen. Wir haben übrigens auch noch nicht den Weg des dualen Systems gewählt, und wir sollten über die Zusatz- bzw. Zuschlagstoffe gesprochen, die diesem eine Chance geben. Es müssen weitere Ver- ein stoffliches Recyclen deutlich erschweren. Nichts- ordnungen folgen. Frau Enkelmann, Sie haben ja destoweniger sollten wir diesen Versuch unterneh- unser Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz sehr men, die Kunststoffindustrie beobachten und sehen, zutreffend beschrieben: Wir wollen zu einer völlig wie sie die entsprechenden Quoten erreicht. neuen Produktverantwortung kommen. Das wird eine In anderen Bereichen läuft es etwas besser. Und, große gesellschaftliche Herausforderung. Wir werden liebe Kollegin Müller, Dioxin entsteht bei jeder Stahl- uns ihr stellen und sehr gespannt sein, wie die schmelze; das hat nicht so viel mit den Einwegverpak- Wirtschaft auf diese Herausforderung reagiert. kungen, den Büchsen zu tun, obwohl sie uns auch Vielen Dank. nicht sehr gefallen. Im übrigen kann man feststellen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß im Zuge der Umsetzung der Verpackungsverord- nung auch die Mehrwegquoten bundesweit natürlich gestiegen sind. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Getränkemärkten, die nur noch mit Mehrwegsyste- Dr. Klaus - Dieter Feige hat jetzt das Wort. men arbeiten. Da Umweltschutz bekanntlich immer bei einem selber beginnt, ist kein Kunde daran gehin- Dr. Klaus - Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dert, nicht nur ins Grüne zu gehen — das hat übrigens NEN): herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen auch etwas mit persönlichem Umweltbewußtsein zu und Herren! In einem Anruf von meiner Basis wurde tun, und man kann entsprechende Strafen auferle- ich darauf hingewiesen, daß das, was ich zur Relati- - gen —, sondern auch einmal solche Märkte aufzusu- vierung von Atomenergie als Katastrophe und zu DSD chen, die nur noch mit Mehrwegsystemen arbeiten. gesagt habe, natürlich in keinem Verhältnis zueinan- Wir sollten der Verpackungsverordnung also eine der steht. Ich nehme das Wort zu „Katastrophe" für faire Chance geben. Das duale System muß seine das DSD nicht zurück, aber mir fällt nichts Schlimme- Wirksamkeit ab 1. Januar 1993 beweisen. Ich freue res als die Bezeichnung zur Atomenergiewirtschaft mich im übrigen darüber, daß die neue Produktver- ein. antwortung, die ich für das entscheidende Moment Ein paar Bemerkungen zu diesem noch in Arbeit der Abfallwirtschaftskonzeption der Bundesregie- befindlichen System. Mir fällt es als Mitglied der rung halte, heute keine theoretische Formel mehr ist GRÜNEN insgesamt natürlich nicht sonderlich leicht, und daß wir seit dem Vorliegen der Großen Anfrage zu zu sagen: Nicht alles, was sich grün nennt, ist auch diesem Thema im Februar dieses Jahres, „Abfallver- tatsächlich ökologisch. Das gilt ganz besonders für meidung und Recycling", ein großes Stück vorwärts- den Grünen Punkt, der mit dem DSD — das glaube ich gekommen sind. mit Fug und Recht sagen zu können -- einen Etiket- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9731

Dr. Klaus-Dieter Feige tenschwindel vorbereitet. Sie nutzen auch mit der aufgebaut werden. Gerade jetzt wird in der Werbung Bezeichnung „grün" das gute Image, das wir in mit genau den Argumenten gearbeitet, die mir Herr diesem Zusammenhang als DIE GRÜNEN als ökolo- Töpfer bei meinem damaligen naiven Einsatz für das gischen Ansatz aufgebaut haben. Sero-System um die Ohren gehauen hat. Wenn das wiederum eine Wahrheitsumkehr ist, ist das keine (Zuruf von der CDU/CSU: Nicht Sie, sondern gute Vorbereitung für ein solches System. die Wirtschaft!) Das DSD versucht, sich ein Image aufzubauen. Dazu Aber ich glaube, daß weder die Verpackungsverord- wird ein Kuratorium zur Beratung der Geschäftslei- nung der Bundesregierung noch die bisherigen Tätig- tung eingerichtet. Es ist uns sehr schwergefallen, an keiten und Aktivitäten des DSD dazu beitragen, der Vorbereitung dieses Kuratoriums mitzuarbeiten. Abfälle in nennenswertem Umfang zu vermeiden. Ich Wir werden an der ersten Veranstaltung teilnehmen habe vielmehr den Eindruck, daß das Abfallaufkom- und genau prüfen, welche Bedingungen dort einge- men sich nicht verringern wird, sondern daß mit einer setzt werden. Sollte dieses Kuratorium lediglich der wunderschönen Wortschöpfung einfach dazu beige- Imagepflege des DSD dienen, sind wir nicht mehr tragen werden soll, Statistik zu frisieren. Der Aufbau bereit, daran mitzuarbeiten. der gelben Müllabfuhr und die Umbenennung von Abfall in Wirtschaftsgut hat mit Abfallvermeidung — Alles zusammengenommen dürfte der einzige Sinn wir stimmen darin überein, daß dies das grundle- des dualen Systems darin bestehen, sich selbst zu gende Ziel sein soll — nicht im geringsten zu tun. liquidieren. Das ist, glaube ich, so auch von den Kollegen der Koalition formuliert worden, nämlich Lassen Sie mich aus unserer Sicht einige grundsätz- möglichst wenig Müll übrigzubehalten. Dazu brau- liche Kritikpunkte ansprechen. Der Verbraucher wird chen wir aber diesen Weg nicht einzuschlagen. Dafür durch das Symbol des Grünen Punktes getäuscht. gibt es effektivere Wege. Ich denke, daß der Kraftauf- Zum einen wird dadurch suggeriert, daß bestimmte wand, dieses System ins Leben zu rufen, einfach zu Produkte bzw. so markierte Verpackungen umwelt- hoch ist. freundlicher als beispielsweise Mehrwegartikel ohne Lassen Sie uns besser ein Wenig-Müll-System die Kennzeichnung mit dem Grünen Punkt seien. Zum Europa aufbauen. Ich denke, daß so ein WSE sinnvol- zweiten wird der Eindruck vermittelt, alle Verpackun- ler ist — wenn es für Europa nicht reicht, dann ein gen mit dem Grünen Punkt würden wiederverwertet; WSD. Um mit den Worten von Herrn Wieczorek zu das kann man Tag für Tag in der Werbung mitkriegen. sprechen: Wozu erst ein Haus bauen, für das laut Plan Das ist aber tatsächlich nicht der Fall. Nicht zuletzt ein Dach nicht einmal vorgesehen ist? Dann wäre es zahlt der Verbraucher für Artikel mit dem Grünen besser, gemeinsam etwas Neues zur Müllvermeidung Punkt auch dann, wenn die versprochene Gegenlei- zu konstruieren. stung in Form der gelben Tonne nicht oder noch nicht erbracht ist. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ich erinnere mich noch an den Wahlkampf 1990, als (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Minister Töpfer in Schwerin die Teilnehmer selbst Liste) darauf hingewiesen hat, die dort ausgestellten Ein- wegflaschen möglichst nicht zu benutzen, denn das Vizepräsident Helmuth Becker: Als letzte Rednerin sei doch wohl das Allerschlimmste, was man sich zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun unsere Frau vorstellen kann. Dieser Sinneswandel ist der Erhö- Kollegin Birgit Homburger das Wort. hung der Glaubwürdigkeit des Herrn Töpfer doch wohl nicht zuträglich. Zum Beitrag vom Kollegen Friedrich. Es liegt auf der Birgit Homburger (F.D.P): Herr Präsident! Meine Hand, daß das ökonomische Interesse des Dualen Damen und Herren! Die Große Anfrage der Gruppe Systems Deutschland gar nicht darin bestehen kann, PDS/Linke Liste an die Bundesregierung greift sicher- immer weniger zu tun, sozusagen sich selbst aufzulö- lich sehr viele Punkte auf, über die wir uns intensiv sen. Wenn das System funktionieren soll, muß es unterhalten müssen und über die wir uns — jedenfalls mindestens bei einem gleichen Müllaufkommen blei- in den Koalitionsfraktionen — in den vergangenen ben. Die Einrichtungen, die dazu entstehen müssen, Monaten sehr intensiv und sehr konstruktiv unterhal- bedürfen ja einer Mindestkapazität. So kann DSD ten haben. Aber der Entschließungsantrag, der uns eigentlich nur daran interessiert sein, ein noch höhe- heute vorliegt, ist von einer Ablehnung gekennzeich- res Müllaufkommen zu haben als bisher. net, die von vornherein klar war. Man hat sich total auf diese Ablehnung versteift und war überhaupt nicht Das DSD hat bereits in der Vergangenheit mehr bereit, darüber nachzudenken, ob das duale System versprochen, als es halten konnte. Es sei beispiels- auch sinnvolle Ansätze bietet. Gleich zu Beginn der weise an die schon mehrfach zitierten illegalen Großen Anfrage heißt es: Exporte von Grünen-Punkt-Abfällen nach Frankreich Das DSD ist die Reaktion der Industrie auf die erinnert. Es ist aber auch mehr als fraglich, ob die Verpackungsverordnung Ankündigung des DSD in bezug auf die künftige Verwertung von Kunststoffverpackungen eingehal- — so weit richtig — ten werden kann. oder besser zur Umgehung der Verpackungsver- Bislang mangelt es der Tätigkeit des Dualen ordnung .. . Systems Deutschland an Transparenz. Darüber kön- Es fängt schon zu Beginn mit einer Polemik an. Wenn nen auch nicht die aufwendigen Werbeveranstaltun- ich von seiten des Gesetzgebers die Möglichkeit gen hinwegtäuschen, die teilweise in den Medien zulasse, eine private Verwertung zu organisieren, 9732 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Birgit Homburger dann kann ich nicht hinterher polemisch sagen: Die hat in diesem Hause auch nie jemand ernsthaft Industrie versucht damit, die Verpackungsverord- behauptet. nung zu umgehen. Sie nutzt die Möglichkeiten, die (Marion Caspers-Merk [SPD]: Damit wird die Verpackungsverordnung hier gegeben hat; das draußen geworben!) wäre das Richtigere. Ganz im Gegenteil haben wir immer und immer (Beifall bei der F.D.P.) wieder erklärt, daß der Grüne Punkt lediglich ein Ich weiß gar nicht, auf was ich — wegen der Kürze Finanzierungsinstrument ist. Er kennzeichnet ledig- der Zeit — eingehen soll. Aber allen meinen Vorred- lich die Tatsache, daß derjenige, der den Grünen nern ging es genauso. Ich habe auf Grund der Vorre- Punkt auf seiner Verpackung aufgedruckt hat, den den versucht, das eine oder andere wegzulassen und Obolus an das duale System entrichtet hat. etwas anderes aufzugreifen. Ich will mich an dem Entschließungsantrag entlanghangeln, der uns vor- m Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Ho liegt. burger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- Am DSD sind derzeit rund 75 % aller Bundesbürger gen Dr. Freige? angeschlossen. Mit den restlichen Kommunen steht man in Verhandlungen. Das heißt, man geht davon Birgit Homburger (F.D.P): Wird das auf meine Rede- aus, daß die Verträge fristgerecht bis Ende dieses zeit angerechnet? Jahres abgeschlossen werden. Es kann davon ausge- gangen werden, daß das Ziel, die Sortier- und Ver- Vizepräsident Helmuth Becker: Das wird nicht wertungsquoten einzuhalten, zu Beginn des nächsten angerechnet. Jahres erreicht wird. Wenn nicht, ist in der Verpak- kungsverordnung ganz klar festgelegt, was dann Birgit Homburger (F.D.P): Dann darf er. passiert: daß für die Stoffe, für die die Sammelquote nicht stimmt, oder auf den Gebieten, wo keine Ver- Dr. Klaus - Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- träge zustande kamen und das DSD das zu verantwor- NEN): Liebe Kollegin Homburger, wie erklärt sich, ten hat, Rücknahme- und Pfandpflichten greifen. Das wenn niemand behauptet hat, daß das ein umwelt- ist in der Verpackungsverordnung eindeutig geregelt. freundliches System ist, daß die Werbung genau das Aber jetzt herzugehen und zu fordern, die Verpak- behauptet, daß das DSD in seiner Werbung genau mit kungsverordnung solle sofort im ursprünglich vorge- sehenen Umfang in Kraft treten, ist einfach unredlich, dieser Argumentation Front macht? Frau Kollegin Enkelmann. Wenn die Politik Über- gangsfristen einräumt, muß sie sie hinterher auch Birgit Homburger (F.D.P.): Das erklärt sich schlicht zugestehen. und ergreifend dadurch, daß ich von uns hier geredet habe, von denjenigen Politikern, die hier eine Bewer- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne tung des dualen Systems vorgenommen haben. Wir ten der CDU/CSU) haben klar und deutlich gesagt — zumindest ich für Das fordert der Vertrauensschutz. meine Fraktion —, daß wir den Grünen Punkt nicht für Auch die Forderung, „umgehend einen Gesetzent- hilfreich halten und daß es sinnvoller wäre, etwas wurf vorzulegen, der zum Ziel hat, die vorhandenen anderes zu machen. Denn der Grüne Punkt könnte Strukturen, eingenommenen Finanzmittel und aufge- durch seine Farbe und das spezifische Zeichen dem laufenen Verpackungsabfälle des ,Dualen Systems uninformierten Betrachter suggerieren, daß das Pro- Deutschland' in einen öffentlichen Zweckverband dukt umweltfreundlich sei. Aber diejenigen hier bei einzubringen", findet unsere Zustimmung nicht, wie uns, die darüber diskutiert haben, haben das niemals Sie sich denken können. Das würde jede sinnvolle behauptet. Wir haben immer klar und deutlich die Reform, die gerade angelaufen ist, völlig umkehren. Meinung vertreten, daß das schwierig sein kann und (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne daß man durch Öffentlichkeitsarbeit Aufklärung lei- ten der CDU/CSU — Dr. Dagmar Enkelmann sten muß. Genau dazu möchte ich an dieser Stelle den [PDS/Linke Liste]: Wenn sich ein Weg als Umweltminister nochmals auffordern, das mit dem nicht richtig erwiesen hat, muß man neue DSD erneut zu besprechen. Das DSD sollte in die Wege gehen!) Verpflichtung genommen werden, Aufklärung zu Das würde bedeuten, daß alles, was die Verpackungs- betreiben, Herr Kollege Feige. verordnung an Sinnvollem eingeleitet hat, rückgän- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne gig gemacht würde. Es ist ja nicht irrig,- sondern im ten der CDU/CSU) Gegenteil sehr sinnvoll, was da gemacht wird. Es Zwei Punkte, die mir wichtig sind, möchte ich in der würde rückgängig gemacht, daß zum erstenmal die verbleibenden Zeit noch ansprechen. Es ist sicherlich Verantwortlichkeit für ein Produkt von der Herstel- richtig und wichtig, daß sich beim DSD der Preis für lung bis zur Wiederverwertung beim Hersteller liegt. die Entsorgung der Verpackung zukünftig nicht mehr Wollte man Ihren Antrag annehmen, würde das allein nach dem Volumen richtet. Der Preis des zurückgenommen. Es käme hinzu, daß sich die Kom- Grünen Punktes richtet sich teilweise nach anderen munen, wenn sie einem solchen Zweckverband ange- Kriterien. Ab Anfang 1993 ist eine außerordentliche hören, selber kontrollieren müßten. Das sind meines Gebührenstaffelung für Kunststoffe vorgesehen. Ab Erachtens Dinge, die einfach nicht gehen. Ende 1993 ist für die restlichen Verpackungen eine (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Gebührenstaffelung vorgesehen, die materialspezi- ten der CDU/CSU) fisch ist und sich nach dem Sammel- und Sortierauf- Eine weitere Bemerkung zum Grünen Punkt. Er sei wand richtet. Das ist eine alte Forderung der F.D.P. Ich kein Markenzeichen für Umweltverträglichkeit. Das bin froh, daß das endlich aufgegriffen wurde. Denn Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9733

Birgit Homburger damit geht ein Stück ökologische Bewertung in das — Ich höre und sehe, daß dem nicht widersprochen System des DSD und die Verpackungsverwertung wird. Dann ist das so beschlossen. ein. Nunmehr eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat Zum Abschluß möchte ich sagen: Die Verpackungs- zunächst unsere Frau Kollegin Anke Fuchs. verordnung ist und war für mich vorrangig nie eine Vermeidungsstrategie. Sie war vorrangig immer eine Verwertungsstrategie, allerdings mit der Folge, einer Anke Fuchs (Köln) (SPD): Herr Präsident! Meine erheblichen Vermeidungswirkung. Ich bin deshalb Damen und Herren! Auf Antrag der SPD-Bundestags- dafür — dafür appelliere ich an Sie —, daß wir das fraktion — wir waren die Initiatoren — wird der duale System weiterhin kritisch begleiten, wie wir es Bundestag heute die Enquete-Kommission einsetzen, bisher gemeinsam gemacht haben: da, wo es Fehlent- die sich mit den gesellschaftlichen Folgen des demo- wicklungen gibt, sie monieren und versuchen, die graphischen Wandels in den nächsten 40 Jahren Sachen zu verbessern. Ich appelliere nochmals: beschäftigen wird. Bei der Formulierung des CDU/ Geben Sie dem dualen System eine Chance. CSU-Antrages hat sich im übrigen ein Fehler einge- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schlichen. Es muß nicht über die Konsequenzen der älter werdenden Generation gesprochen werden, son- dern über die der älter werdenden Gesellschaft. Ich will das sagen, damit sich das bitte nicht falsch in den Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Köpfen festsetzt. Herren, ich schließe die Aussprache. Demographischer Wandel, d. h. unsere Gesell- Interfraktionell ist vereinbart worden, den Ent- schaft wird älter, sie wird kleiner, und das in drama- schließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Liste auf tischen Ausmaßen. Das bedeutet, daß auf die Gesell- Drucksache 12/3469 zur Federführung an den Aus- schaften der Bundesrepublik und der anderen Indu- schuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit strieländer große Herausforderungen zukommen. sowie zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft Zwei gesicherte Daten für die Entwicklung der Bun- zu überweisen. — Ich höre und sehe keinen Wider- desrepublik belegen das: Die über 60jährigen werden spruch. Dann ist das so beschlossen. im Jahre 2030 40 % der Bevölkerung ausmachen. Das ist doppelt soviel wie heute. Der Anteil der bis 20jährigen wird im gleichen Zeitraum um ein Drittel Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 15 und den sinken. Zusatzpunkt 5 auf: Es ist klar, daß diese Änderung der Altersstruktur 15. a) Beratung des Antrags der Fraktion der Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung SPD Deutschlands haben wird. Es gibt praktisch keinen Einsetzung einer Enquete-Kommission Lebensbereich, der davon unberührt bleibt „Zukunftssicherung unserer älter werden- Wir werden uns z. B. Gedanken zu machen haben, den Gesellschaft — Herausforderung des wie wir in der Zukunft den Sozialstaat sichern können. demographischen Wandels" Die Voraussetzungen für die Einlösung des Genera- — Drucksache 12/2272 — tionenvertrages ändern sich grundlegend. Ältere Menschen sorgen sich deshalb um die soziale Sicher- Überweisungsvorschlag: heit. Die aktiven Berufstätigen andererseits fragen Enquete-Kommission „Zukunft der älter werdenden Generation" sich, ob auch sie im Alter auf sichere Einkünfte und Versorgung bei altersbedingter Krankheit rechnen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten können. Solche Sorgen sind ernst zu nehmen. Sie Maria Michalk, Hans -Joachim Fuchtel, führen zu Fragen nach der materiellen Versorgung, Dr. Joseph-Theodor Blank, weiterer Abge- der Tragfähigkeit der Kranken- und Alterssicherungs- ordneter und der Fraktion der CDU/CSU systeme und der ergänzenden Sozialhilfe. sowie der Abgeordneten Dr. Gisela Babel, Hans A. Engelhard, Dr. Eva Pohl, weiterer Es geht dabei nicht allein um die Fortschreibung Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. klassischer Sozialpolitik. Es geht auch nicht um ein Konzept staatlicher Politik; denn vieles in der Gesell- Einsetzung einer Enquete-Kommission schaft wird heute schon in kleinen Netzen geleistet, in „Chancen und Zukunftsperspektiven der den Kommunen, in der Nachbarschaftshilfe, z. B. - älter werdenden Generation" durch Hilfe von Freunden, und natürlich wird auch — Drucksache 12/3460 vieles in der Familie als Dienstleistung erbracht. Es —Überweisungsvorschlag: geht darum, diese Vernetzung bewußt zu machen und Enquete-Kommission „Zukunft der alter werdenden die Sozialpolitik der Zukunft vor Augen zu haben, die Generation" die vorhandenen Ansätze verstärkt, damit sich alle in unserer Gesellschaft besser aufgehoben finden. ZP5 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD und F.D.P. Die demographische Veränderung wird viele Aus- Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zu wirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und kunft der älter werdenden Generation" auf die Gestaltung der Arbeitswelt haben. Hier sehe ich ein Hauptbetätigungsfeld der Kommission. Das — Drucksache 12/3461 — Bewußtsein der heute Mitte 50jährigen geht dahin, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für möglichst frühzeitig aus dem Erwerbsleben auszu- die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. scheiden. Im wohlverdienten Ruhestand wollen sie 9734 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Anke Fuchs (Köln) den nächsten Lebensabschnitt genießen, mit dem rungsland zu werden. Wir können unser Land nicht Ehepartner oder Lebenspartner Hobbys pflegen und dichtmachen. viel reisen. Geld dafür ist da. Die Einkomen sind zum Es geht mir nicht darum, meine Damen und Herren, Teil hoch, und entsprechend hoch sind auch die die heutigen konkreten Probleme zu leugnen und den Erwartungen der Menschen an diesen Lebensab- aktuellen Handlungsbedarf der Politik vom Tisch zu schnitt. Sie sind nicht mehr ausgegrenzt, wenn sie mit wischen. Es geht mir um die Geisteshaltung, mit der Ende 50 aus dem Erwerbsleben ausscheiden. wir nach Lösungen suchen. Ausgegrenzt sind allerdings jene — vor allem (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Burk Frauen —, die zeit ihres Lebens materiell schlecht hard Hirsch [F.D.P.]) gestellt waren und nun auch im Alter wieder zu den Armen zählen. Und ausgegrenzt sind nicht zuletzt Und da sind Ausländer keine Last für uns. Wir werden viele Menschen in den fünf neuen Bundesländern, die Ausländer auch in der Zukunft brauchen. Die nämlich jene, die aus dem Erwerbsleben hinausge- heute noch junge und reiche Bundesrepublik wäre drängt werden, weil Arbeitsplätze wegfallen. Sie ohne Ausländer im Jahre 2030 ärmer und älter. Wenn haben geringe Renten und bescheidenere Spareinla- die Arbeit der Kommission dazu beiträgt, daß wir über gen, d. h. sie sind auf das frühzeitige Ausscheiden aus die Notwendigkeit einer Einwanderungsgesetzge- dem Erwerbsleben nicht vorbereitet. Darüber nachzu- bungsregelung vernünftig diskutieren, wäre das denken und zu fragen, welche H ilfen zusätzlich gege- schon ein schöner Erfolg. ben werden können, wird auch eine Aufgabe der (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Burk Enquete-Kommission sein. hard Hirsch [F.D.P.]) (Beifall bei der SPD) Das aktive Leben endet nicht mit dem sogenannten Aber wir wollen über den Tag hinaus schauen. Ruhestand. Ältere Menschen wollen über Jahre hin- Ich sagte zu Beginn meiner Rede, daß wir eine weg gewonnene Erfahrungen und Fähigkeiten auch schrumpfende Bevölkerung sind. Nach dem Jahr 2010 weiterhin nutzen und sich aktiv am gesellschaftlichen, — das ist noch ein bißchen hin, aber immerhin — kulturellen und politischen Leben beteiligen und ihre werden wir mehr Arbeitskräfte benötigen. Hier nun Interessen einbringen. Sie wollen nicht ausgegrenzt in stellt sich die Frage: Wird der Arbeitskräftebedarf eigenen Zirkeln arbeiten, sondern dabeibleiben, und dadurch gesichert, daß wir die Arbeitsbedingungen so das müssen wir ihnen ermöglichen. verändern, daß Menschen auch mit Freude über das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 60. Lebensjahr hinaus arbeiten? Haben wir bis dahin der CDU/CSU) mehr Arbeitsplätze für diese Generation? Wir haben das Renteneintrittsalter angehoben. Aber die Frage, Die Menschen, die heute alt sind, haben Krieg, ob der Arbeitsmarkt den späteren Renteneintritt über- Entbehrungen und Not kennengelernt. Für viele von haupt zuläßt, ist noch nicht beantwortet worden. ihnen gilt noch das Wort vom wohlverdienten Ruhe- Wenn die Arbeitsmarktsituation so bleibt wie heute, stand. Wer wagt die Ansprüche der heute 20jährigen werden alle Überlegungen über einen späteren Ren- zu formulieren? Es werden mit großer Wahrschein- teneintritt nicht zu realisieren sein. lichkeit ganz andere sein. Sie werden sich mit einer mehr oder weniger verordneten Passivrolle im Alter Wird die Wirtschaft sich darauf verlassen, daß es nicht abfinden, sondern ihren Anteil am gesellschaft- viele Frauen gibt, die noch in das Erwerbsleben lichen Leben haben. Sie werden diese Gesellschaft eintreten können? Wird also die älter werdende Gene- vermutlich prägen. Der Rollenwandel hat ja schon ration durch eine höhere Erwerbsbeteiligung der begonnen. Frauen ausgeglichen, oder wird die Privatwirtschaft sagen: Wir lassen die Alten alt sein, wir lassen die Die meisten Menschen streben ein relativ frühes Frauen Frauen sein, wir lösen dieses Problem durch Ausscheiden aus dem Erwerbsleben an; ich habe das Zuwanderung. Wie auch immer, hierüber gilt es angedeutet. Ihr Bewußtsein ist darauf ausgerichtet, nachzudenken und vernünftige Konzepte zu entwik- möglichst frühzeitig, also vor dem 60. Lebensjahr, in keln. den Vorruhestand zu gehen. Die Perspektive ist dann noch lang: Stabilisierung der Gesundheit, nachholen, Klar ist aus meiner Sicht, daß wir ohne Zuwande- was an Interessen brachgelegen hat. rung nicht auskommen. Die Bevölkerung der Bundes- republik wird ca. um ein Drittel schrumpfen, wenn es Früher hieß es für die Alten: Schont euch, schlaft viel keine Zuwanderung gibt. Konkret heißt das,- daß nach und wärmt eure Füße am Kamin. Diese Zeiten sind der Jahrtausendwende die inländische Bevölkerung vorbei. Heute heißt das Motto: Man kann nichts jährlich um 500 000 Menschen abnehmen wird. Das dagegen tun, daß man altert, aber man kann sich entspricht der Größe der Stadt Hannover. Ohne dagegen wehren, daß man veraltet. Zuwanderung wäre die Folge, daß die Zahl der (Zustimmung bei der SPD) Erwerbstätigen im Jahre 2030 mit ca. 29,4 Millionen um 24 % unter dem heutigen Niveau läge. Wie stellen Das beherzigen die Alten von heute und viel mehr wir uns dann die wirtschaftliche Situation vor? noch die von morgen. Sie gehen einer Vielzahl von Aktivitäten nach. Sie reisen, haben Hobbys, private Wir brauchen Menschen, die als Arbeitsnehmer Neigungen. Reiseveranstalter, Versicherungen und Beiträge in die Rentenkasse zahlen. Das werden dann Konsumgüterindustrie haben sich bereits auf sie ein- nicht nur die Älteren und die Frauen sein können. Wir gestellt. Sie haben die ältere Generation als kauf- und werden uns unter dem Druck des demographischen zahlungskräftige Zielgruppe schon seit langem ent- Wandels daran gewöhnen müssen, ein Einwande- deckt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9735

Anke Fuchs (Köln) Auf der anderen Seite erleben wir in vielen alltäg- wir keine Enquete-Kommission, meine Damen und lichen Dingen eine Mißachtung des Alters, die wir uns Herren. in Zukunft nicht mehr erlauben können. Denken wir (Beifall bei der SPD) z. B. an die Stadtplanung, bei der — wenn über- Aber ich denke, was wir betreiben, ist ein Stück haupt — an ein altengerechtes Wohnumfeld zuletzt und ein Stück Zukunftsvorsorge. gedacht wird. Offenbar glauben die Architekten und Zukunftsforschung Ich meine, es steht unserem Parlament gut an, ein Stadtplaner immer noch, daß die täglichen Besorgun- Thema aufzugreifen, das sich mit der Lebenssituation gen und Behördengänge ausschließlich von automo- der kommenden Generationen beschäftigt. Ich habe bilen Bürgern der jüngeren Jahrgänge gemacht wer- in der Vorbereitung auf die Arbeit der Kommission den können. Ampelphasen sind für Fußgänger oft so festgestellt, daß sich die jungen Menschen sehr dafür geschaltet, daß die Straßen nur in jugendlich-sportli- interessieren. Das ist gut so; denn im Jahre 2030, wenn chem Eiltempo überquert werden können, und bei der demographische Alterungsprozeß seinen Höhe- Fahrkartenautomaten scheinen die Konstrukteure punkt erreicht hat, sind die heute 20- bis 30jährigen davon ausgegangen zu sein, daß nur die computerge- die Alten. Sie wurden ja zunächst als geburtenstarke schulte Generation Straßenbahn fährt. Jahrgänge gepriesen. Dann waren sie der Schüler- (Beifall bei der SPD) berg. Jetzt sind sie der Studentenberg. Ich finde, sie haben einen Anspruch darauf, daß sie nicht auch noch Hier wird sich manches ändern müssen. Viele zum lästigen Rentnerberg werden. Reformanstöße für eine andere Verkehrs-, Städtebau- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke und Wohnungspolitik werden deshalb nicht mehr Liste) — wie früher üblich — von der jungen Generation ausgehen, sondern von den Alten. Man wirft der Politik nicht ganz zu Unrecht vor, daß sie sich zwar in allen Partei- und Wahlprogrammen Ich habe schon darauf hingewiesen, daß sich der die Zukunft auf die Fahnen geschrieben hat, daß sie demographische Wandel weltweit vollzieht; ein sich aber in Wirklichkeit zu wenig mit Zukunftsfragen Grund für die Vereinten Nationen, den 1. Oktober befaßt. Für mich ist es deswegen auch ein Stück zum internationalen Tag der alten Menschen zu Rückgewinnung politischer Glaubwürdigkeit, daß wir erklären. In der sogenannten Dritten Welt ist bis zum den jungen Leuten beweisen: Wir denken auch über Jahr 2000 die Zuwachsrate der Menschen, die älter als den Tag hinaus. 60 Jahre sind, enorm hoch. Wir denken immer, die Wir sollten uns bemühen, unsere Arbeit so transpa- Zuwachsrate sei in den vielen Geburten begründet; rent und öffentlich zu machen, wie es nur geht. Mein wirklich neu ins Bewußtsein kommt, wie viele über Wunsch ist, daß wir endlich einen Diskurs darüber 60jährige dabei sind. Die traditionellen Familien- zustande bekommen, wie dieses Land in der Zukunft strukturen in diesen Ländern haben bisher eine aussehen soll. Meine Hoffnung ist, daß die Kommis- gewisse soziale Absicherung der Alten sichergestellt. sion dazu einen Beitrag leistet. Ihr Zerfall beschwört neue Probleme herauf. Auf sie Ich danke Ihnen. hat die herkömmliche Entwicklungspolitik bisher noch nicht oder nur ansatzweise reagiert. (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste) Im übrigen gibt es ausländische Senioren bei uns mit einer neuen Realität. Derzeit leben hier ca. 340 000 ausländische Rentnerinnen und Rentner. Sie Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und sind die sogenannten Gastarbeiter der ersten Genera- Herren, ich erteile jetzt das Wort unserer Frau Kollegin tion, die zum Teil schon 40 Jahre lang außerhalb der Dr. Ursula Lehr. eigenen Familie leben. Ihre Durchschnittsrenten lie- gen weit unter 1 000 DM. Bis zum Jahr 2020 wird die Dr. Ursula Lehr (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Zahl der ausländischen Rentner auf ca. 1,3 Millionen Damen und Herren! Der Termin für die Einrichtung anwachsen. Das hat u. a. damit zu tun, daß die Zahl einer Enquete-Kommission „Zukunftschancen der derjenigen, die den Lebensabend in der Heimat älter werdenden Generation" — was selbstverständ- verbringen wird, seit 1988 dramatisch zurückgegan- lich einschließt: in einem alternden Volk und damit in gen ist. Uns kommt es dabei darauf an, diese Aspekte einer alternden Gesellschaft — fällt zeitlich zusam- — ich denke, ein bißchen internationale Solidarität men mit der General Assembly der Vereinten Natio- kann uns nur guttun — in unsere Arbeit einzubezie- nen in New York, die sich gestern und heute mit der hen. Evaluation der Altenpolitik in den zehn Jahren seit der UN-Weltversammlung zu Fragen des Alterns 1982 in (Beifall bei der SPD) Wien beschäftigt hat bzw. beschäftigt. Wegen der Für die Arbeit kommt es darauf an, daß wir den Überschneidung beider Termine mußten Frau Bun- gesellschaftlichen Wandel transparent machen. Es desministerin Rönsch und ich diese Versammlung geht ja nicht allein um die Sicherung der materiellen leider vorzeitig verlassen, um bei dieser Sitzung heute Versorgung der älteren Menschen. Es geht auch nicht anwesend sein zu können. nur um Altenpflege und Pflegeversicherung. Diese Im Vergleich zu vielen anderen Nationen konnte Probleme sind seit langem bekannt. Die Vorschläge sich der Rechenschaftsbericht der Bundesrepublik liegen auf dem Tisch. Wir haben dazu Lösungsvor- über die von ihr aus dem Wiener Aktionsplan gezo- schläge gemacht. Wenn die jetzige Koalition nicht in genen Folgerungen durchaus sehen lassen. Geade in der Lage ist, die Pflegeversicherung durchzusetzen, den letzten zehn Jahren gab es — im Gegensatz zu dann wird die SPD das ab 1994 tun. Dafür bräuchten den zehn Jahren davor — bei uns eine Reihe von 9736 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Dr. Ursula Lehr politischen Initiativen für ältere Menschen und inten schen nicht ausgegrenzt werden dürfen. Dies gilt vor sive Bemühungen, den Wissensstand zu verbessern. allem auch für die Gesundheitsversorgung. Bei uns gibt es keine Altersgrenze, ab der notwendige medi- Die Weltversammlung hatte 1982 gefordert, die zinische Maßnahmen nicht mehr von der Krankenver- Kompetenz älterer Menschen in der Politik und im gesellschaftlichen Leben stärker zu berücksichtigen, sicherung übernommen werden. Wenn es medizi- aber auch alle Mitgliedstaaten aufgefordert, alle mög- nisch notwendig ist, bekommt auch der 70jährige lichen Hilfen für die Gruppen der physisch oder seine Dialyse und die 80jährige ein neues Hüftgelenk. psychisch behinderten älteren Menschen bereitzu- Das ist, wenn wir uns in der Welt umschauen, nicht selbstverständlich. stellen. Die Thematik der Kompetenz und die Mög- lichkeiten der Rehabilitation im Alter waren die Dieser Konsens darf auch in Zukunft nicht aufge- Hauptthemen, die ich der von mir als Bundesministe- kündigt werden. Deshalb bin ich ein Verfechter der rin 1989 eingesetzten Kommission zur Erstellung Gesundheitsreform, sowohl der von Norbert Blüm als eines ersten Altenberichts der Bundesregierung auch der, die jetzt vorbereitet. stellte. Nach acht Jugendberichten hielt ich die Zeit (Zuruf von der SPD: Nicht der von Norbert für einen ersten Altenbericht für überaus reif. Blüm!) Ein Teilbericht wurde 1990 veröffentlicht; der Nur dadurch kann der finanzielle Spielraum erhalten Gesamtbericht wird in den nächsten Tagen von der bleiben, der notwendig ist, um die neuen medizini- Altenberichtskommission Frau Bundesministerin schen Erkenntnisse allen Altersgruppen und insbe- Rönsch übergeben werden. sondere den Älteren nutzbar zu machen. Dieser Bericht, an dem viele Experten — auch der Wir haben eines der besten Rentensysteme der SPD nahestehende Experten — aus allen Bereichen Welt. Dies bleibt durch die Rentenreform auch für die der Alternswissenschaften mitgewirkt haben, wird ein nächsten Jahrzehnte erhalten. Diese entstand im umfangreiches Kompendium für alle werden, die sich Konsens mit der SPD. Aber ich möchte dennoch darauf mit älteren Menschen beschäftigen; nicht zuletzt für hinweisen, daß sowohl die Einführung der dynami- die älteren Menschen selbst. Er wird die meisten der in schen Rente als auch die Sicherung der Rente für die den vorliegenden Anträgen der SPD und CDU/CSU Zukunft in die Regierungszeit der Unionsparteien angesprochenen Themen enthalten und kann der fällt. Die Politik für die ältere Generation war schon Enquete-Kommission als wertvolle Grundlage die- immer ein Markenzeichen für CDU und CSU. Das nen. Dies gilt auch im Hinblick auf die von Ihnen wird auch so bleiben. angeschnittenen Aspekte Wohnen, Wohnumfeld, Stadtplanung usw. Bedenken wir darüber hinaus — Sie, Frau Fuchs, haben es angesprochen —: Viele ältere Menschen von Wir sollten also nicht so tun, als müsse die Enquete heute verfügen über beachtliche Ressourcen; sowohl Kommission bei Null anfangen. Die Basis ist geschaf- in finanzieller, in materieller Hinsicht — Wohneigen- fen. Die Kommission wird hoffentlich weiterführende tum, Immobilien — als auch in ideeller, geistiger Ergebnisse liefern. Hinsicht, Ressourcen an Wissen und Erfahrung, die es Tatsache ist: In Deutschland gab es noch nie eine zu ergründen, zu stützen und zu nutzen gilt. ältere Generation, der es so gut ging wie der jetzi- Aber obwohl es die ältere Generation im Durch- gen; schnitt gut hat, obwohl es ihr sogar bessergeht als (Beifall bei der CDU/CSU) vielen Menschen der mittleren und jüngeren Genera- tion, so müssen doch Probleme von Teilgruppen noch nie eine ältere Generation, die bei so gutem gesehen und angegangen werden. Gesundheitszustand so alt geworden ist. Freilich, es gibt arme alte Menschen, aber nicht alle alten Men- Es gibt Menschen, denen es im Alter finanziell schen sind arm. Es gibt pflegebedürftige alte Men- schlechtgeht. Dazu zählen viele ältere Frauen. Durch schen, aber nicht alle alten Menschen sind pflegebe- Verzicht auf eigene Berufstätigkeit, um sich der Fami- dürftig. Es gibt Probleme bei den Älteren, aber die lie zu widmen, haben sie oft nicht so viele eigene Älteren sind keine Problemgruppe. Daß dies so ist, ist Rentenansprüche erworben, um ein finanziell sorgen- kein Zufall, sondern das Ergebnis von individuellem freies Alter zu erleben. Durch die Anerkennung der Fleiß der heutigen älteren Generation und von guter Erziehungszeiten im Rentenrecht und durch die künf- Politik. tige Anrechnung von Pflegezeiten wurde ihre Situa- - tion bereits erheblich verbessert und wird es weiter- (Beifall bei der CDU/CSU) hin. Mit großem Einsatz und unter vielen Opfern hat die Dennoch müssen weitere Anstrengungen unter- jetzige ältere Generation Deutschland nach dem nommen werden, damit die Gruppe der armen alten Krieg wiederaufgebaut. Sie hat damit nicht nur den Menschen noch kleiner wird. Aber dabei ausschließ- Grundstein für ihr persönliches Wohlergehen im Alter lich im Alter anzusetzen ist falsch. Viele derjenigen, gelegt, sondern auch die Basis gebildet für den die im Alter arm sind, waren es auch schon im Wohlstand der nachwachsenden Generationen. Dafür mittleren Erwachsenenalter. Hier erwarte ich mir von sei ihr gedankt. der heute einzusetzenden Enquete-Kommission wert- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der volle Anregungen. SPD) Jeder, der einen Platz in einem Pflegeheim braucht, In der Politik der Bundesrepublik Deutschland galt bekommt diesen finanziert, wenn er und seine Ange- parteiübergreifend der Grundsatz, daß ältere Men hörigen dies nicht selbst können. Daß dies durch die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9737

Dr. Ursula Lehr Sozialhilfe geschieht, wird von allen Seiten als nicht Meine Damen und Herren, wir begrüßen die Ein- angemessen empfunden. Deshalb brauchen wir die setzung der Enquete-Kommission. Es muß uns klar Pflegeversicherung so bald wie möglich, sein: Dieses Thema hat eine Jahrhundertdimension. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Nun ist der Vorwurf bekannt, die Politik sei häufig nicht in der Lage, überhaupt nur über den Zaun einer und wir werden sie dank Norbert Blüm bekommen. Legislaturperiode hinaus schauen zu können. Viele ältere Menschen fühlen sich vorzeitig aufs Wir müssen uns solchen Fragen stellen. Die Einset- Abstellgleis geschoben. Es herrscht bei uns ein ver- zung der Kommission war daher hoch an der Zeit. Nur, zerrtes Bild vom älteren Arbeitnehmer. Doch — sei es ich setze hinzu: Jetzt — und nicht früher — sind wir im Beruf, sei es in der nachberuflichen Phase — die auch in der Lage, die Einblicke, die Zahlen zu haben, ältere Generation will ihren Beitrag für unsere Gesell- die uns in den Stand setzen, die neuen Bundesländer schaft leisten. Sie ist auch in der Lage dazu. Doch mit all den Unterschiedlichkeiten, die dort existieren, manchmal stimmen die Rahmenbedingungen nicht; voll miteinzubeziehen. manchmal sind unnötige Hindernisse gegeben. Des- halb muß gerade in diesem Feld noch vieles auf den Die Zahlen für die künftige Altersentwicklung sind Weg gebracht werden. Das von der Bundesregierung genannt worden. Der Kürze halber kann ich sie nicht mitvertretene Modellprogramm „Seniorenbüros" ist wiederholen. Ich sage nur: Wir dürfen das nicht nur als ein erster Schritt hierzu. Doch auch hier erhoffe ich mir Problem sehen. Wir haben heute andere alte Men- weitere wertvolle Anregungen von der Enquete schen als ehedem, Menschen, die sich anders verste- Kommission: Verbesserung der Chancen, ehrenamt- hen. Nur werden die Jüngeren davon Abstand neh- lich tätig zu sein, ohne daß das Ehrenamt zu einem men müssen, nach wie vor alte Menschen in die Ecke „sozialen Pflichtjahr" für Ältere werden muß. zu stellen. Es gibt außerdem eine wachsende Gruppe älterer (Beifall im ganzen Hause) Menschen, deren spezifische Probleme noch nicht Wir können ziemlich weit zurückgehen, um zu erkannt sind, für die Vorkehrungen zu treffen sind: die sehen, wie das damals war. Immanuel Kant hat älteren Ausländer — altern in der Fremde — und die 80 Jahre gelebt, bis zuletzt in voller Rüstigkeit und älteren, von Geburt an Behinderten oder die in jungen Schaffenskraft. Es ist allerdings überliefert: Als er in Jahren Behinderten, die jetzt älter werden. Auch hier seiner Heimatstadt Königsberg 1774 seinen 50. Ge- sind Vorschläge und Lösungsmöglichkeiten gefragt. burtstag feierte, näherten sich Freunde und Bekannte, Noch eine Anmerkung zum Schluß: Die SPD- um ihre Gratulation anzubringen. Sie sprachen — und Bundestagsfraktion hat ihren früheren altenpoliti- dies ohne Ironie —: Würdiger Greis. Ja, so war das schen Sprecher zum Fraktionsvorsitzenden gewählt. auch damals, nur werden wir uns heute verschärft den Ich hoffe, daß auch dies ein Beitrag zu einer konstruk- Fragen stellen müssen. tiven Altenpolitik der Opposition ist. Meine Damen und Herren, in der Arbeitswelt muß Möge die Enquete-Kommission, in der alle Fraktio- Schluß sein mit der Gleichung Alter ist gleich totaler nen vertreten sein werden, einen Beitrag dazu leisten, Ruhestand. daß in Deutschland auch weiterhin Politik für und mit (Beifall im ganzen Hause) älteren Menschen gemacht wird, zum Wohle der älteren Generation von heute, von morgen und von Wir als Liberale sind seit langem dafür eingetreten, übermorgen. daß jeder nach seiner Leistungsfähigkeit, nach seinem Ich danke. Gusto wählen kann; natürlich immer im Rahmen, Frau Kollegin, des Arbeitsmarktes. Wir sind eingetreten für (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) einen gleitenden Übergang und aufgetreten gegen das Fallbeil der Altersgrenze. Nun sind erste wichtige Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Schritte erreicht worden mit dem Rentenreformgesetz Herren, ich erteile als nächstem das Wort unserem 1992, was anerkennend hervorzuheben ist. Kollegen Hans Engelhard. Die Senioren wünschen auch einen aktiven Ruhe- stand. Viele Möglichkeiten gibt es. Ich begrüße, daß jetzt Seniorenbüros vom Ministerium für Familie und (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Hans A. Engelhard Senioren eingerichtet worden sind. Das ist eine Damen und Herren! Es ist eine große Verantwortung Anlaufstelle. Das soll eine Nachrichtenbörse für die und Ehre, dieser Enquete-Kommission anzugehören - Möglichkeiten des ehrenamtlichen Engagements und hier mitarbeiten zu dürfen. sein, da wir ja überhaupt das Problem in unserer Daneben — lassen Sie mich das bei dieser Gelegen- Gesellschaft haben, daß ehrenamtliches Engagement heit sagen — empfinde ich Freude, nochmals im eher im Rückgang begriffen ist. Soll man es da nicht Wasserwerk, von dem wir uns in der nächsten Sit- unterstützen, begrüßen, wenn sich eine große Perso- zungswoche verabschieden sollen, sprechen zu kön- nengruppe, die Zeit hat, die dazu bereit ist, hier nen. Ich verlasse, wie wohl auch viele andere, dieses verstärkt engagiert? Haus mit Wehmut. Dieses I taus hat in seinen engen Mauern auch die Kolleginnen und Kollegen aus den (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) neuen Bundesländern beschirmend aufzunehmen Ich könnte Beispiele dafür nennen; die Zeit dafür ist gewußt. Dieses Haus war in den zurückliegenden leider nicht vorhanden. Jahren uns allen ein Stück parlamentarische Heimat Meine Damen und Herren, ein zentrales Thema — im besten Sinne des Wortes. das will ich besonders unterstreichen — ist das (Beifall im ganzen Hause) Lebensumfeld älterer Menschen. Wir wissen, daß die 9738 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Hans A. Engelhard meisten in ihrer eigenen Wohnung verbleiben wollen, sei es gewesen, die die Enquete-Kommission bean- solange es irgend geht. Vielfach bedarf es dazu der tragt habe. Wir waren in unserer Arbeitsgruppe „Fa- Unterstützung. Die Anlieferung von warmem Essen ist milie und Senioren" mehrheitlich der Auffassung, daß eine Seite. Aber es gibt vieles mehr. Ich wohne in auch der Ausschuß die anstehende Aufgabe hätte München in einem Stadtviertel am Rande der Innen- erfüllen können. Nachdem Sie aber jetzt den Antrag stadt. Bei uns gibt es um die Ecke ein Altenwohnheim. gestellt haben, arbeiten wir natürlich gerne mit. Das ist gleichzeitig ein Altenservicezentrum für alle Der Deutsche Bundestag beschließt heute über die Menschen, die ringsherum in ihrer Wohnung leben. Einsetzung einer Enquete-Kommission, die die Zu- Alte — sonst durchaus noch rüstige — Frauen und kunftssicherung unserer älter werdenden Gesell- Männer können dort hingehen, können dort Dinge schaft, die Herausforderungen des demographischen erledigen lassen, die sie selbst nicht mehr bewältigen Wandels bzw. die Chancen und Zukunftsperspekti- können: Teile der Körperpflege, etwa das Schneiden ven der älter werdenden Generation untersuchen soll, von Fußnägeln und viele solche Dinge. also der Generation, die unser Land in den vergange- Auch sind meines Erachtens die Zeiten vorbei, in nen Jahrzehnten aus Schutt und Asche zu einem denen man den Versuch unternommen hat, alte Men- blühenden Gemeinwesen Bundesrepublik Deutsch- schen hinauszuschieben in die Ruhe. Sie sollen es land aufgebaut hat. Von dieser Generation sind heute schön haben, draußen auf der grünen Wiese. Ein Kind jede vierte Frau und jeder siebte Mann in Deutschland ist nicht mehr zu sehen und zu hören; man wird nicht über 60 Jahre alt. Wir müssen in der Enquete mehr gestört. Man könnte auch so hart sagen: Man Kommission Entscheidungen treffen, die dieser ver- kann dem Lebensende dort ungestört entgegendäm- änderten Bevölkerungsstruktur Rechnung tragen. mern. Nein, das ist meines Erachtens eine falsche Unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger wollen Haltung, mit der Schluß gemacht werden muß. aktiv, selbstbestimmend und in Sicherheit leben. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) SPD) Wir treten ein für das barrierefreie Wohnen; dazu Wir werden in der Enquete-Kommission nicht nur gäbe es vieles zu sagen. Wir müssen wissen, daß die auf dem Altenbericht der Bundesregierung aufbauen Isolation des einzelnen in seiner Wohnung eine können, sondern auch auf der guten Seniorenarbeit schlechte Sache wäre. Daher müssen wir ein fußgän- und den Erfahrungen, die in den Kirchen und vielen gerfreundliches Wohnumfeld haben. anderen Organisationen gemacht worden sind. Hier denke ich an den Deutschen Sportbund, der sich (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) insbesondere des Seniorensports angenommen hat. Wir sprechen hier jetzt über ältere Menschen. Für Immer mehr ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger ältere Menschen ist das notwendig und gut. Notwen- treten in die Seniorenabteilungen unserer Sportver- dig und gut ist es aber auch für die Behinderten, bis hin eine ein. Sie wollen ihre Freizeit sinnvoll gestalten, zum Rollstuhlfahrer. Gut wäre es auch für die Kinder Geselligkeit erleben und durch altersgerechten Sport und, wenn ich es recht betrachte, eigentlich für alle ihren Körper gesund erhalten oder gar eine bessere Menschen. Vielleicht gelingt es uns hier, Entschei- körperliche Vitalität erreichen. dendes auf den Weg zu bringen. Es gilt hier nach wie vor das Wort der ehemaligen (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.] und der Rektorin der Deutschen Sporthochschule in Köln, Frau Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) Professor Liselott Diem, die sagt, der sinnvoll sporttrei- Die Umsetzung ist kein Thema allein von heute — bende Mensch wird zwar nicht älter als der nichtsport- um Gottes willen —, nein, das ist ein Thema, das in das treibende, dafür aber wird er besser alt. nächste Jahrtausend hineinreicht. Vielleicht kommt Meine Fraktion, die CDU/CSU, dankt an dieser man so weit, daß die wieder in geschlossener Stadt Stelle den Kirchen, Organisationen, Vereinen und Bauweise errichtet wird: mit überdachten Passagen, Selbsthilfegruppen, die sich der älteren Mitbürgerin- mit Gelegenheiten, sich zu treffen, damit der einzelne nen und Mitbürger in der Vergangenheit angenom- in seiner freien Zeit nicht nur die Chance hat, in der men haben, und bittet sie zugleich, diese Arbeit auch Wohnung zu verbleiben oder wegzufahren — auf in der Zukunft fortzusetzen. ohnehin total überlasteten Straßen. Wir haben hier die Dimension eines Themas, bei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dem wir mitarbeiten können an einer Welt, die neu ist, Auf diesen erarbeiteten Grundlagen können wir die an gewachsene Strukturen anknüpft- und die eine aufbauen. Die Kommission muß nach der Erfassung bessere Welt sein könnte. und Auswertung gesicherter statistischer Daten eine (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der eingehende Situationsanalyse machen. Sie muß Kon- SPD — Uta Würfel [F.D.P.]: Für alle!) zepte und politische Empfehlungen erarbeiten. Bei allen Begründungen, die heute morgen für die Einsetzung dieser Enquete-Kommission gegeben Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, nächster Redner ist jetzt unser Kollege Walter worden sind, ist mir der gesundheitspolitische Aspekt Link. ein wenig zu kurz gekommen. Die häufigsten, eindeu- tig altersassoziierten Erkrankungsformen lassen sich in drei Kategorien einteilen: erstens Erkrankungen Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): herr Präsident! des Knochenstoffwechsels, zweitens Erkrankungen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kol- des Gefäßsystems, drittens Zuckerkrankheit und legin Fuchs, Sie haben zu Beginn gesagt, Ihre Fraktion deren Folgen. Es sollte ein Schwerpunkt der Kommis- Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9739

Walter Link (Diepholz) sionsarbeit sein, den Kenntniszuwachs für den unver- Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Die Sorge der standenen Prozeß des Alterns zu fördern. Darüber älteren Menschen um ihre persönliche Sicherheit hinaus sollen Kenntnisse zur Erhaltung der Lebens- wächst nicht nur im Straßenverkehr, in Verkehrsmit- qualität gewonnen werden, die den quantitativen und teln und abends auf der Straße. Von daher ist auch zu qualitativen Ausbau einer altersgerechten Infrastruk- prüfen, inwieweit diese Ängste das freie Leben der tur vorantreiben. älteren Mitbürger beschneiden und welche Maßnah- Dies umfaßt besonders die ambulanten, teilstationä- men zur inneren Sicherheit ergriffen werden müs- ren und stationären Einrichtungen, die interdiszipli- sen. näre gerontologische Forschung, aus- und weiterbil- Am Ende der Arbeit unserer Kommission müssen dende Maßnahmen zur Prävention und die Stärkung Ergebnisse stehen, die aus gesellschaftlicher und der Therapie und Rehabilitation altersbedingter politischer Sicht unserer älteren Generation zu vermit- Erkrankungen. teln und als Grundlage für eine sachgerechte Alten- politik zu verwenden sind. Auf sozialpolitischer Ebene gilt es, die Erfahrungen der bereits existierenden Selbsthilfegruppen mit den Die Mitglieder meiner Fraktion, der Fraktion der angesprochenen Erkrankungsformen aufzunehmen. CDU/CSU, freuen sich auf die Zusammenarbeit in den Dieses Potential ist für die Entwicklung realistischer nächsten Jahren. innovativer Konzepte für die ambulante Betreuung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. dieser Gruppen zu nutzen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Gerade die Finanzierbarkeit gesundheitspoliti- scher Maßnahmen wird auch in der Zukunft über die Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Realisierbarkeit entscheiden. Die Inanspruchnahme Herren, ich erteile jetzt unserer Kollegin Frau Dr. Bar- von medizinischer Versorgung durch Bevölkerungs- bara Höll das Wort. teile jenseits des 60. Lebensjahres ist für den größten Teil der Ausgaben im medizinischen Sektor verant- Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! wortlich. Meine Damen und Herren! Allerorts wird das „Altern Herr Präsident, ich sehe, meine Redezheit geht zu der Bevölkerung" fast als Phänomen behandelt, Ende. Da Frau Professor Lehr 3 Minuten unserer erschallt der Ruf nach neuen „Generationsintegra- Redezeit nicht in Anspruch genommen hat, bitte ich, tionsmodellen". Dennoch hatte ich anfangs, ehrlich noch ein wenig zuzugeben. gestanden, Probleme bei dem Gedanken an eine neue Enquete-Kommission im Bundestag. Das liegt jedoch Diese Fakten unterstreichen, daß es sich gerade bei nicht etwa an meinem Alter, sondern daran, daß ich den altersassoziierten Erkrankungen lohnen wird, der Meinung war, daß wir ein gesondertes Ministe- Grundlagenforschung voranzutreiben, um den Ge- rium für Familie und Senioren mit vielen gutbezahlten sundheitszustand zu verbessern. Beamtinnen und Beamten sowie Angestellten haben, Wenn man nun noch das soziale Umfeld der über viele Institutionen, die Forschung betreiben und Vor- 60jährigen mit den pflegerischen und emotionalen schläge unterbreiten. Hier im Bundestag haben wir Problemen der Betreuung dieser Personen berück- einen Ausschuß für Familie und Senioren, der nicht sichtigt, wird deutlich, welche gesellschaftspolitische gerade unter Überlastung mit komplexen gesell- Relevanz der Verbesserung des Gesundheitszustan- schaftlichen Fragestellungen — als eine solche ver- des beizumessen ist. Auch sind die Entwicklung von stehe ich das Altern — leidet. Wozu nun noch ein Pflegestrukturen, die Pflegeleistung und die Be- und Extra-Gremium? Entlastung pflegender Angehöriger zu erörtern und Wenn ich unter dem Schwerpunkt 4 des SPD- zu hinterfragen. Die Stärkung ambulanter Betreuung Antrages beispielsweise lese: „Benötigt werden vor dieser Bevölkerungsgruppe vermeidet hospitalisie- allem Wohnungen, die in ihrer Ausstattung die beson- rende Behandlungsformen. Dies ist ein wichtiger deren Bedürfnisse berücksichtigen ..." und an die Beitrag zur Bewerkstelligung des täglichen Lebens Diskussion mit vielen konkreten Vorschlägen zu mit einer chronischen Alterserkrankung und fördert Ihrem Antrag „Wohnen im Alter" denke, so besteht das Wohlbefinden und die Zufriedenheit des älteren meines Erachtens doch vor allem Handlungsbedarf. Mitbürgers in unserer Gesellschaft. Eine gesonderte Enquete-Kommission geht da leicht in Richtung Selbstbefriedigung mit dem Tenor: Wir Nach meiner Auffassung müssen folgende Schwer- haben uns den Problemen adäquat gewidmet. punkte angegangen werden: erstens demographische Außerdem kostet das zusätzlich Geld. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Gesund- heitsentwicklung in städtischen und ländlichen Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Eile, die Gebieten, jeweils getrennt für Ost- und Westdeutsch- mit dem gemeinsamen Antrag bezüglich der Vorlage land; zweitens epidemiologische Untersuchungen zur des Enquete-Auftrages durch die Kommission bis zum Krankheitsverteilung in der älteren Bevölkerungs- 13. November dieses Jahres entsteht. Auf welchem schicht; drittens Möglichkeiten zur Stärkung der Blatt steht, wann was wirklich getan wird? gesellschaftspolitischen Eigenverantwortlichkeit äl- Als mir dann jedoch bewußt wurde, daß die Situa- terer Mitbürger unter Einbeziehung der vielfältigen tion in den neuen Bundesländern mit keiner Silbe Erfahrungen von Selbsthilfegruppen und viertens erwähnt wird, und ich hörte, wie mein ostdeutscher forschungspolitische Wegstellung derjenigen Alte- CDU-Kollege im Ausschuß für rungsprozesse, welche eindeutig altersassoziiert sind, Arbeit und Sozialordnung geradezu schwärmte, die nämlich Störungen des Knochen- und Gefäßsy- Rentnerinnen und Rentner seien der glücklichste Teil stems. der Bevölkerung in den neuen Bundesländern, und 9740 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Dr. Barbara Höll sich wünschte, nur Rentner zu haben, weil die Wahl als Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft zu dann gelaufen sei, wurde mir doch angst und schaffen, die bekanntlich mit Hilfe des deutschen bange. Monopolkapitals so entarten konnte, daß sie den Daraufhin entschloß auch ich mich, für eine Faschismus, den grausamsten aller Kriege und Enquete-Kommission zu sein, für eine Gesamtsicht massenhaften Völkermord hervorbrachte . . . sowohl hinsichtlich der Ost-West-Problematik als Ich poche auch deshalb so auf die besondere auch hinsichtlich des Erfassens aller gesellschaftli- Berücksichtigung der Probleme der neuen Bundes- chen Bereiche zu plädieren und meine Mitwirkung länder, weil Wissenschaftler feststellten — ich daran anzubieten. zitiere —:

Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Dr. Höll, Vergleicht man die Rentnerinnen und Rentner in gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen den alten und neuen Bundesländern, ihre Link? Lebenslagen, ihre Denk- und Wahrnehmungsste- reotypen und Handlungslogiken, ihre Probleme Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Ja. und Hoffnungen, Zuversichten, Ängste und Befürchtungen, so ist absehbar, daß es in Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Frau Kollegin, Deutschland auf Jahre hinaus zwei „deutsche ist Ihnen entgangen, daß ich namens meiner Fraktion Alter" geben wird. in meiner Rede gerade von einer differenzierten Dem stimmen wir zu. Das ist der Grund, die spezifi- Behandlung des Themas in Ost- und Westdeutschland schen Erfahrungen „unserer Alten" einzubringen. gesprochen habe? Diese gehen davon aus, daß den unbestreitbar Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Das ist mir nicht neuen Möglichkeiten und Freiheiten, etwa der entgangen, aber ich habe gerade über den Antrag und nahezu unbegrenzte Zugang zu den umfangreichen die darin enthaltenen Formulierungen gesprochen. Waren-, Medien- und Reiseangeboten, die allerdings Wenn ein solcher Antrag gestellt wird, erwarte ich von für die wenigsten finanziell erschwinglich sind, erheb- vornherein konkretere Fragestellungen, so daß liche Verunsicherungen, psychische Belastungen, sichergestellt ist, daß es nicht nur bei dem Formulieren Depressionen und Vereinsamungen gegenüberste- eines Anliegens bleibt, sondern daß das Anliegen hen, insbesondere Orientierungs- und Anpassungs- auch tatsächlich umgesetzt wird. schwierigkeiten älterer Menschen hinsichtlich ihrer Zukunftserwartung im vereinten Deutschland; zuneh- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) mende Entsolidarisierung zwischenmenschlicher Be- Das hier nicht alles in Ordnung ist, kann man übrigens ziehungen, aufkommende Kälte, purer Egoismus; an der derzeitigen Praxis der Erteilung konkreter Sorge um gefährdete und verlorene Arbeitsplätze der Forschungsaufträge zur Altenproblematik nachwei- Kinder und Enkel; Ohnmacht gegenüber der Büro- sen: Ostdeutsche Institute, die zum großen Teil abge- kratie und gegenüber dem unübersichtlichen und wickelt würden, sind nur noch Zulieferer; ihre For- undurchschaubaren Recht; Angst vor Demütigung, schungsergebnisse dürfen nicht mehr unter ihrem Denunziation und Rache, vor Verfolgung all derer, eigenen Namen erscheinen. Sie können momentan deren ehrlicher Lebensinhalt die DDR war. keine weiteren soziologischen Forschungen betrei- ben. Wir müssen uns doch vergegenwärtigen, daß viele Ich muß sagen: Ich arbeite in der Enquete-Kommis- ältere Menschen in den neuen Bundesländern das sion gerne mit. Aber ich frage mich natürlich, warum Gefühl haben, zum zweitenmal in ihrem Leben ich auch hier wieder nur eine beratende Stimme gescheitert zu sein, was kaum zu verkraften ist; und habe. das noch in Gegenden mit zum Teil realistischen Visionen von Landstrichen ohne junge Menschen, in Ich verfüge über ein „großes Hinterland"; denn denen durch den enormen Geburtenrückgang und über die Hälfte der PDS-Mitglieder gehört der älteren die Übersiedlung jüngerer Einwohner in die westli- Generation an, die sich in ihren Senioren-Arbeitsge- chen Bundesländer — nur Alte, Kranke und moralisch meinschaften viele Gedanken um „politische, soziale, Gebrochene zurückbleiben. ethische, geistig-kulturelle und rechtliche Bedingun- gen für einen selbstbestimmten Lebensabend in Ruhe (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Frau Kollegin, und Geborgenheit und aktive Teilnahme- am Leben können Sie uns sagen, wer dafür verantwort der Gesellschaft" machen. Angesichts dieses „Hinter- lich ist?) landes" höre ich natürlich schon Stimmen, die fordern: Die sollen sich doch erst einmal um ihre Vergangen- Sie können mir gerne eine Frage stellen; dann heitsbewältigung kümmern. — Das aber tun gerade antworte ich Ihnen. die älteren Mitglieder. Die zu bildende Enquete-Kommission muß also Ich darf einmal aus den Seniorenpolitischen Stand- unbedingt die spezifischen Bedingungen des Alterns punkten zitieren. Es heißt dort: im Osten und Westen Deutschlands beachten und Um eine kritische und unvoreingenommene Ana- dabei die Erfahrungen des deutsch-deutschen Trans- lyse unserer Vergangenheit führt kein Weg formationsprozesses für strukturelle Reformen und herum. Das gilt für alle Seniorinnen und Senio- Reorganisationen des Sozialstaates nutzen. Dabei ren, vor allem aber für die ehemaligen Mitglieder können wir uns durchaus auch vorurteilsfreie Evalu- des SED, die mit historischer Berechtigung die ierungen der von der älteren Generation angenomme- Chance nutzen wollten, eine gerechtere Ordnung nen DDR-Regelungen vorstellen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9741

Dr. Barbara Höll Im übrigen: Wenn Sie etwas fragen wollen, dann konkrete Lösungsvorschläge ausarbeiten. Ich hoffe, machen Sie das richtig und stellen eine Zwischen- Frau Kollegin Fuchs daher sehr, daß diese Enquete frage. Ich antworte Ihnen gerne. Da mir nur fünf Kommission nicht dazu gedacht ist, „parteipolitisches Minuten Redezeit zur Verfügung stehen, kann ich Geplänkel", wie Sie es anläßlich der ersten Lesung nicht auch noch auf Zurufe reagieren. des Haushalts 1993 wörtlich nannten, auszutragen, Ich danke Ihnen. sondern daß sachlich zum Wohle der alten Menschen gearbeitet wird. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Wir alle kennen die demographischen Daten, die auch heute wieder angesprochen worden sind. Es Vizepräsident Helmuth Becker: Selbstverständlich wird Aufgabe der Enquete-Kommission sein, die können Zwischenfragen gestellt werden. Nur, es ist absehbaren Auswirkungen des demographischen schwierig, den Redefluß von Frau Dr. Höll zu unter- Wandels auf den einzelnen und auf das Zusammenle- brechen. ben in der Gesellschaft sowie die Herausforderungen an unsere sozialen Sicherungssysteme und die men- (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Aber Zurufe schengerechte Gestaltung unserer Arbeitswelt zu sind auch zulässig!) untersuchen. Hieraus ergibt sich ein sehr komplexer — Zurufe sind auch zulässig, Herr Dr. Hirsch. Fragenkatalog. Seine gründliche Untersuchung mit Wir kommen nun zum letzten Redebeitrag im Rah- dem Ziel, dafür auch Lösungsvorschläge zu entwik- men dieses Tagesordnungspunktes. Es spricht die keln, wird Zeit benötigen. Wir sollten uns diese Zeit im Frau Ministerin für Familie und Senioren, Hannelore Interesse zuverlässiger Ergebnisse unter allen Um- Rönsch. Bitte sehr. ständen nehmen. Gegenstand der Kommissionsarbeit kann meines Erachtens aber nicht nur die Untersuchung der Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie Zukunftsperspektiven des Alterns sein. Die Kommis- und Senioren: Herr Präsident! Meine sehr geehrten sion wird sich vielmehr auch mit ganz besonderem Damen und Herren! Ich begrüße es ausdrücklich, daß Gewicht den Fragen und Problemen der heute leben- die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und F.D.P. den älteren Menschen zuwenden müssen. sowie die Fraktion der SPD gemeinsam beantragt (Beifall bei der CDU/CSU) haben, eine Enquete-Kommission zu dem Thema „Zukunft der älter werdenden Generation" einzuset- Im vereinten Deutschland leben heute etwa 8 Mil- zen. Zwar ist die Arbeit im Ausschuß und in meinem lionen Menschen, die älter als 70 Jahre sind. Fast Ministerium in vielen Bereichen schon so erschöpfend fünfeinhalb Millionen davon sind Frauen, gut zwei- geleistet worden, daß das Aufnehmen der einen oder einhalb Millionen sind Männer. Im Jahre 1945, am anderen Frage vielleicht nicht notwendig gewesen Ende des Zweiten Weltkrieges, waren diese heute wäre — auch habe ich gemerkt, Frau Kollegin Fuchs, 70jährigen Männer und Frauen 23 Jahre alt, die heute daß einige unserer Fragestellungen identisch sind; auf 65jährigen waren damals gerade 18 Jahre alt. Ganz manche Frage ist bereits eine Antwort gegeben wor- gleich, ob sie im Osten, Frau Dr. Höll, oder im Westen den —, aber ich freue mich, daß die Kolleginnen und unseres Landes leben, diese Männer und Frauen Kollegen aus den Koalitionsfraktionen über Ihren haben ein gemeinsames Schicksal: Sie mußten in ihrer Fragenkatalog noch weit hinausgehende neue Per- Jugend die Zeit der nationalsozialistischen Gewalt- spektiven eröffnet haben, die wir hinterfragen müs- herrschaft und den Zweiten Weltkrieg durchstehen. sen. Daß das zwingend erforderlich ist, hat nicht Erst nach dem Krieg teilte sich diese historische zuletzt der vorhergehende Redebeitrag gezeigt. Schicksalsgemeinschaft. In den alten Bundesländern Gerade in den letzten beiden Jahren haben wir hier ergab sich die Chance, unter sehr schwierigen Bedin- im Parlament unsere ganz besondere Aufmerksam- gungen ein großes Aufbauwerk in Gang zu setzen: keit den Männern und Frauen in den neuen Bundes- eine stabile Demokratie zu errichten und mit harter ländern gewidmet. Arbeit Wohlstand und soziale Gerechtigkeit zu sichern. Das ist heute die gute Basis, auf der wir das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wiedervereinigte Deutschland aufbauen können und Daher muß der älteren Generation unsere besondere wollen. Aufmerksamkeit gelten; denn das ist die Generation, Herr Kollege Hirsch, die im DDR-Regime von der SED (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ausgesondert wurde. - Demgegenüber stand die Entwicklung in der ehe- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) maligen DDR unter anderen Vorzeichen. Ich habe Verständnis, Frau Kollegin Höll, daß Sie Ihr besonderes Augenmerk jetzt auf die Älteren richten müssen; vielleicht ist das auch ein wenig ein Schuld- Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort zu einer anerkenntnis. Zwischenfrage wünscht Frau Dr. Höll. — Bitte. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die älteren Mitbürger in unserem Land, meine sehr geehrten Damen und Herren, haben Anspruch darauf, Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Frau Ministerin daß die mit der Gestaltung ihrer Zukunft zusammen- Rönsch, bei Ihrer Darstellung ergibt sich für mich hängenden Fragen und Probleme verantwortungsbe- folgende Frage: Haben nicht die Menschen in der wußt angegangen werden. Dazu gehört, daß wir DDR, die inzwischen ein hohes Alter erreicht und 9742 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Dr. Barbara Höll 40 Jahre dort gelebt haben, auch gearbeitet, und gungen wie in den alten Ländern zu schaffen. Daß ihr waren sie nicht auch aus ehrlichem Willen tätig? Lebensabend sicher ist, Frau Dr. Höll, das ist der (Dr. Ursula Lehr [CDU/CSU]: Dazu hat sie Rentnergeneration in den neuen Bundesländern mitt- gar nichts gesagt! — Dr. Burkhard Hirsch lerweile Gott sei Dank bekannt. Ich bin sehr froh [F.D.P.]: Wer hat sie dabei bestohlen?) darüber, daß den alten Menschen Sicherheit gegeben ist und Zukunftsangst genommen wird. Eine weitere Frage besteht für mich darin, inwie- Lassen Sie mich aber bitte noch auf einen weiteren weit man anerkennt, daß es tatsächlich verschiedene Aspekt hinweisen, der in der vor uns liegenden gab. Die Frauen waren in der DDR zu Lebensentwürfe Diskussion meines Erachtens von ganz besonderer 90 % berufstätig und haben somit völlig andere Bedeutung ist: Es geht mir um die Frage, wie die Lebenserfahrungen gewonnen. Sie haben auch ein politische Diskussion zum Abbau des leider noch anderes Leben bewältigt. immer einseitigen und häufig unzutreffenden Alters- (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Wer hat ihre bildes in unserer Gesellschaft beitragen kann. Lebensarbeitskraft gestohlen?) Muß man angesichts dessen nicht tatsächlich sagen, Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie noch daß es zwei verschiedene „deutsche Alter" gibt? eine Zwischenfrage, Frau Minister? (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Wer hat sie Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie bestohlen?) und Senioren: Sehr gern.

Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Hämmerle, Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie bitte, Sie haben das Wort. und Senioren: Sehr geehrte Frau Dr. Höll, wenn Sie an dieser Stelle noch ein wenig Geduld gehabt hätten, Gerlinde Hämmerle (SPD): Frau Ministerin, ich bin hätten Sie festgestellt, daß ich darauf noch sehr mit sehr vielem in Ihrer Rede einverstanden. Was Sie ausführlich eingegangen wäre; ich werde das jetzt hier gesagt haben, kann ich über weite Strecken tun. — Selbstverständlich mußten die Menschen, die unterstreichen. Ich habe allerdings das Gefühl, daß im anderen Teil Deutschlands gelebt haben, ebenfalls Sie jetzt ein Sofortprogramm für die bereits alten hart arbeiten. Sie haben nach dem Krieg die Ärmel Menschen entwickeln, was auch sehr wichtig ist. hochgekrempelt und ihren Teil Deutschlands aufge- Sehen Sie aber nicht mit uns den eigentlichen Kern- baut. Auch sie haben beachtliche Leistungen, eine punkt der Arbeit dieser Enquete-Kommission darin, enorme Aufbauleistung vollbracht, sind aber von dem daß wir uns mit Blick auf die jetzt noch jüngeren politischen System und der sozialistischen Komman- Menschen Gedanken darüber machen sollten, wie dowirtschaft um den Erfolg ihrer Arbeit gebracht sich deren Alter gestaltet? worden. Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und Senioren: Frau Kollegin Hämmerle, ich bin mit Zunächst mußten die heute Älteren in der ehemali- Ihnen der Meinung, daß wir uns speziell um die gen DDR nach 1945 die sowjetische Besatzung ertra- jüngere Generation kümmern müssen, darum, wie sie gen. Sie mußten Reparationen an die Sowjetunion in den Prozeß des Alterns eintritt. Zum Beispiel geht leisten und 40 Jahre unter einer — diesmal unter es darum — das ist heute schon angesprochen wor- sozialistischen Vorzeichen — neuen Diktatur leiden. den —, zu ermöglichen, daß sich insbesondere Frauen, Sie mußten also wesentlich mehr erdulden als viele nachdem sie ihre Erwerbstätigkeit vorübergehend andere, die zwar auch wie die Menschen in der aufgegeben haben, im Anschluß daran verschiedene Bundesrepublik — schwierige Startbedingungen hat- berufliche Felder — immer auf freiwilliger Basis — ten, die sich aber in Freiheit weiterentwickeln und selber erschließen können. Ich habe aber vorhin Wohlstand erarbeiten konnten. Das hat das ehemalige gesagt — das möchte ich noch einmal nachdrücklich SED-System den heute alten Menschen in 40 Jahren betonen —, daß es mir auch darum geht, die jetzt SED-Herrschaft untersagt. lebende ältere Generation in der Arbeit der Enquete Kommission zu berücksichtigen. Wir müssen unsere (Uta Würfel [F.D.P.]: Sie mußten auch viel Untersuchungen, sofern wir keine gesicherten Daten früher sterben! Unter welchen Umständen haben, auch auf eben diese Generation ausdehnen. waren sie in den Heimen untergebracht?) (Beifall bei der CDU/CSU) — Auch das. Wir haben ja schon oft -genug, Frau Kollegin Würfel, Gelegenheit gehabt, hier über die Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Ministerin, unbeschreiblichen Zustände zu reden. Ich hoffe, daß gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Frau Sie, Frau Kollegin Höll, mithelfen, nicht nur darüber Dr. Höll? zu reden, sondern die wirklich schlimmen und teil- weise menschenunwürdigen Bedingungen, unter Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie denen alte Menschen, Pflegebedürftige und Behin- und Senioren: Aber gern. derte leben, auch zu beheben. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist eine Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Frau Ministerin, Frage der Solidarität, ja der Mitmenschlichkeit, Sie haben gesagt, die Bedingungen, die in der ehe- gerade den älteren Menschen in den neuen Ländern maligen DDR herrschten, hätten auch etwas mit den so schnell wie möglich vergleichbare Lebensbedin Reparationsleistungen zu tun gehabt. Da klang für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9743

Dr. Barbara Höll mich sehr großes Bedauern an. Meine Frage: War die unmittelbar Einfluß auf das Bild vom Alter in unserer Teilung Deutschlands nicht das Ergebnis des Zweiten Gesellschaft. Die Frage ist doch: Wie soll sich in der Weltkrieges, und stellten die Reparationsleistungen öffentlichen Meinung eine realistische Vorstellung an die ehemalige Sowjetunion nicht eine — wenig- von den Problemen der älteren Generation, aber auch stens teilweise — gerechte Entschädigung für den von den tatsächlich vorhandenen Chancen und Potentia- Deutschland ausgegangenen Zweiten Weltkrieg dar? len des Alters bilden, wenn in der politischen Diskus- — Für mich ist Ihre Wertung etwas unverständlich. sion hauptsächlich von finanzieller Abhängigkeit der Alten und von gesundheitlicher Gebrechlichkeit die Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie Rede ist? und Senioren: Reparationszahlungen an die Sieger- mächte sind in unterschiedlicher I löbe geleistet wor- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den. Die ehemalige DDR mußte Reparationen an die Einprägsame Schlagworte wie „Rentnerberg", „Al- Sowjetunion zahlen, die, wie mir auch ehemalige terslast", „Krieg der Generationen" usw. verweisen DDR-Bürger immer wieder bestätigt haben, für sie direkt oder indirekt auf ökonomische Lasten, die mit eine unerträgliche Höhe hatten. dem Altern von Menschen und ihrem wachsenden (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Und aus der Anteil an der Bevölkerung verbunden sein können, laufenden Produktion! Die wurden ausge aber doch keineswegs zwangsläufig verbunden beutet!) sind. Die Industrieanlagen wurden regelrecht demontiert. Frau Kollegin Fuchs, lassen Sie mich auch Sie bitten, Andere Besatzungsmächte, z. B. die Amerikaner weil das auch in Ihrem Beitrag wieder anklang, daß — davon konnten wir partizipieren —, haben uns beim wir Begriffe wie „Alterslast" vermeiden; denn der Aufbau der Bundesrepublik mit dem Marshallplan größte Teil der älteren und der alten Menschen ist für geholfen. Damit haben sie den finanziellen Grund- die Gesellschaft keine finanzielle Belastung. Wir soll- stock für unsere freie Soziale Marktwirtschaft ten mit pauschalen Äußerungen vorsichtig sein. gelegt. (Uta Würfel [F.D.P.]: Im Gegensatz zu den (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ich habe die angeblichen russischen Freunden!) Generation gemeint, hei der immer von Dafür möchte ich den Amerikanern an dieser Stelle „Bergen" die Rede ist! Ich habe nicht von noch einmal herzlich danken. Ich denke, daß sich „Lasten" gesprochen!) daran auch andere hätten orientieren können. — Auch „Altersberg" ist meines Erachtens eine nega- (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: 20 Mil tive Bezeichnung. Ich glaube, daß wir damit bei der lionen Kriegsopfer!) jungen Generation Angst vor Belastungen — auch vor finanziellen Belastungen — in der Zukunft auslösen Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Minister, wol- können. Das sollten wir jedoch unter gar keinen len Sie noch eine Zwischenfrage zulassen? — Bitte, Umständen tun. Herr Kollege Link. Diese Worte und Begriffe überzeichnen die Pro- bleme. Ich denke, daß wir gerade der jungen Gene- Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Frau Minister, sind Sie mit mir der Auffassung, daß es doch der ration Mut machen müssen, mit der älteren Genera- eindeutige Auftrag der nun einzusetzenden Kommis- tion zusammenzuarbeiten, mit ihr zu kommunizieren sion ist, die Ergebnisse der jetzt lebenden älteren und sie nicht als Last zu verstehen. Generation zugute kommen zu lassen, und daß wir (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Das hat doch gar diese Ergebnisse — auch Fehler, die wir eventuell keiner gesagt!) gemacht haben — in die Generation einbringen, die in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren dann zur älteren Ich möchte nicht mißverstanden werden, und ich Generation gehören wird? Ich glaube, daß ist eindeu- möchte auch keineswegs die Probleme, die wir gerade tig und klar, jedenfalls so, wie wir von der CDU/CSU bei der Bewältigung der Zukunft der älteren Men- die Formulierung dieses Auftrags verstanden ha- schen haben wegdiskutieren oder verniedlichen. Wir ben, werden gerade durch den demographischen Wandel in unserer Gesellschaft vor große Herausforderungen Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie gestellt. Ich plädiere allerdings für eine realistische und Senioren: Herr Kollege Link, da stimme- ich Ihnen Einschätzung und für eine problemangemessene in vollem Umfang zu. Wortwahl. Ich meine, das sind wir unseren alten Aber lassen Sie mich noch einmal auf den Aspekt Menschen schuldig. hinweisen, der in der vor uns liegenden Diskussion Ich gehe davon aus, daß die Enquete-Kommission von besonderer Bedeutung ist; ich möchte nicht, daß ihre Arbeitsaufträge im Interesse der älteren und der das untergeht. Mir geht es darum, wie wir die Diskus- alten Mitbürger in unserem Lande mit großer politi- sion in der Enquete-Kommission führen. Es muß scher Verantwortung und wissenschaftlicher Sorgfalt deutlich werden, daß ein häufig anzutreffendes ein- erledigen und positive wie negative Zukunftsper- seitiges Bild vom Alter in unserer Gesellschaft nicht spektiven hinterfragen wird. bestehen kann. Wir dürfen nicht dazu beitragen, daß es weiterentwickelt wird. Für das Bundesministerium für Familie und Senio- Die Art und Weise, wie in der politischen Diskussion ren möchte ich die Bereitschaft bekunden, die Arbeit über Alter gesprochen wird, hat ohne Zweifel auch der Kommission — aber immer nur, soweit dies als 9744 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Bundesministerin Hannelore Rönsch Unterstützung vom Ministerium gewünscht wird — schuß) zu dem Antrag der Gruppe der PDS/ zu begleiten. Linke Liste (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und bei Bericht der Bundesregierung zu der Entwick- Abgeordneten der SPD — Anke Fuchs [Köln] lung in der Türkei [SPD]: Vielen Dank! Das ist gut!) — Drucksachen 12/987, 12/2887 — Berichterstattung: Vizepräsident Helmuth Becker: Ich schließe die Abgeordnete Christian Schmidt (Fürth) Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Dr. Cornelia von Teichman Dr. Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. auf Einsetzung einer Enquete-Kommission „Zukunft der ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta älter werdenden Generation", Drucksache 12/3461. Zapf, Rudolf Bindig, Dr. Ulrich Böhme (Unna), Wer stimmt für diesen Antrag? — Die Gegenprobe! — weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Stimmenthaltungen? — Bei unterschiedlichem SPD Stimmverhalten der PDS/Linke Liste mit Zustim- Einstellung der Militärhilfe, Erstellung eines mung, Enthaltungen und Ablehnung hat das übrige Konzepts für Wirtschaftshilfe und Bericht über Haus diesem Antrag zugestimmt. Damit ist die Lieferungen an die Türkei Enquete-Kommission „Zukunft der älter werdenden — Drucksache 12/3434 — Generation" eingesetzt. Überweisungsvorschlag: Wir wünschen allen, die in dieser Kommission Auswärtiger Ausschuß (federführend) mitarbeiten werden, gute Erfolge. Verteidigungsausschuß Gemäß Nummer 5 des soeben angenommenen Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Antrags sind die Anträge auf den Drucksachen ZP8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta 12/2272 und 12/3460 dieser Kommission zur Beratung Zapf, Hermann Bachmeier, Angelika Barbe, zugewiesen worden. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ich rufe die letzten Punkte der Tagesordnung auf, Verlängerung des befristeten Abschiebe- und zwar den Punkt 16 a bis c und die Zusatzpunkte 6 stopps für Kurden und Kurdinnen bis 8: — Drucksache 12/3435 — 16. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Überweisungsvorschlag: Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Innenausschuß (federführend) Liste Rechtsausschuß Verlängerung des Abschiebestopps für Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünfmi- Kurdinnen und Kurden nutenrunde vereinbart worden, wobei die Gruppe — Drucksache 12/3215 PDS/Linke Liste zehn Minuten Redezeit erhalten soll. — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist so —Überweisungsvorschlag: beschlossen. Innenausschuß (federführend) Auswärtiger Ausschuß Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst b) Beratung des Antrags der Abgeordneten unserer Frau Kollegin Ulla Jelpke das Wort. Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke Liste Sofortige Wiedereinsetzung des Waffen- Ursula Jelpke (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! embargos gegen die Türkei und Einstel- Meine Damen und Herren! Erst vor zwei Wochen war lung jeglicher Polizeihilfe und polizei- ich mit einer bundesdeutschen Delegation in der licher Zusammenarbeit Türkei/Kurdistan. Trotz massiver Behinderungen sei- — Drucksache 12/3216 — tens der türkischen Sicherheitskräfte und Polizei konnten wir uns wieder einmal davon überzeugen, Überweisungsvorschlag: daß der Krieg im Südosten der Türkei Menschenver- Auswärtiger Ausschuß (federführend) nichtung bedeutet. Erst wenige Wochen zuvor hatten Innenausschuß - Massaker und brutale Übergriffe der türkischen c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sicherheitskräfte gegen die Zivilbevölkerung in Sir- Ulla Jelpke und der Gruppe der PDS/Linke nak stattgefunden. Tausende flüchteten in andere Liste kurdische Orte und Städte, weil ihre Stadt faktisch Einstellung der geheimdienstlichen und unbewohnbar zerbombt worden war. Die Fortsetzung polizeilichen Zusammenarbeit mit der Tür- findet in den Gebieten Kulp, Cisre, Kiziltipe, aber kei auch an der türkisch-irakischen Grenze statt. — Drucksache 12/3217 — Obwohl Augenzeugen berichten, daß die türki- Überweisungsvorschlag: schen Sicherheitskräfte Wohnhäuser und Arbeitsstät- Auswärtiger Ausschuß (federführend) ten zerstören, Menschen willkürlich verhaften und Innenausschuß während des Verhörs foltern, behaupten die türkische ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung und des Regierung und das Militär immer wieder, die PKK Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus habe die Orte angegriffen. Seltsamerweise — so Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9745

Ursula Jelpke dokumentieren auch hierzulande die Medien — sind HEP wird gegenwärtig die Aufhebung der Immunität die Militär- und Polizeistationen nicht einmal durch der kurdischen Abgeordneten durch das türkische Einschußlöcher als Angriffspunkte auszumachen. Parlament in Ankara vorbereitet. Ahmet Türk, Vorsit- zender und Fraktionsvorsitzender der HEP, sagte Wer auch nur einen einzigen Tag die Medien in der uns: Türkei verfolgt hat, weiß, daß gebetsmühlenartig der angebliche Terrorismus der PKK beklagt wird — nach Die Lösung des Problems der Freiheit für Kurdistan dem Motto: Man muß es nur oft genug sagen, dann ist nur durch einen ernsthaften Dialog möglich. Inzwi- verinnerlicht die Bevölkerung solche Lügen. schen ist die Situation in der Türkei so, daß die Ebene der Menschenrechtsverletzungen schon längst über- Wer immer sich in den türkisch-kurdischen Gebie- stiegen ist. Der Wunsch des kurdischen Volkes nach ten aufgehalten hat, weiß, daß die Zivilbevölkerung seiner Freiheit soll endgültig zum Schweigen auf die Frage nach ihrem Verhältnis zur PKK antwor- gebracht werden. Es gibt eine große Repression nicht tet: „Die PKK ist das Volk; das Volk ist die PKK." Eine deshalb, weil es die PKK gibt, sondern weil das Guerilla, die ihr Volk terrorisiert und massakriert, kurdische Volk zum Ausdruck bringt, daß es die könnte aber unmöglich eine so breite Unterstützung Freiheit will und nicht länger in Sklaverei leben will. im kurdischen Volk haben. Aber der türkische Staat hat bestimmte Methoden Bundesdeutsche Delegationen, aber auch solche gewählt, diesen Freiheitskampf zu liquidieren. So sagt aus dem europäischen Ausland bestätigen diese Demirel: Es gibt keine politische Lösung, es gibt nur Wahrnehmung immer wieder. Ein türkischer Journa- eine militärische Lösung. Der Generalstabschef sagt list aus Diyarbakir sagte uns: Man müsse zur Zeit als das gleiche. Wir, die HEP, sind eine Partei aus der Realität anerkennen, daß es in der Region zwei Türkei. Wir wollen Freundschaft zwischen dem türki- bewaffnete Kräfte gebe. Dies seien zum einen die PKK schen und kurdischen Volk. Aber weil wir die Werte und zum anderen die türkischen Sicherheitskräfte. des kurdischen Volkes verteidigen, werden wir als Dort, wo der türkische Staat die Macht habe, reagiere kurdische Partei und als Sympathisanten der PKK er auf Attacken der Guerilla der PKK mit massiven dargestellt. Aber es gibt keine Abhängigkeit der HEP Angriffen gegen die örtliche Zivilbevölkerung. von der PKK. Doch wenn das kurdische Volk täglich massakriert und schikaniert wird, müssen wir das Ob uns das gefällt oder nicht: Seit den Newroz- Schweigen brechen. Feiern im März dieses Jahres führt die türkische Regierung eine militärische Großoffensive gegen das Auch in der Bundesrepublik muß das Schweigen kurdische Volk durch. Mehr als eine halbe Million gebrochen und das Taktieren mit den Menschen- türkischer Soldaten befinden sich im Ausnahmezu- rechtsverletzungen in der Türkei endlich beendet standsgebiet Türkei/Kurdistan. Demgegenüber wer- werden. Wenn die Immunität der kurdischen Abge- den Zahlen von 10 000 PKK-Kämpfern und -Kämpfe- ordneten aufgehoben wird, werden die meisten ins rinnen gehandelt. Gefängnis kommen, weil die türkische Justiz bereits seit Monaten in einer Klageschrift die Todesstrafe Wer die Geschichte des kurdischen Volkes in den wegen separatistischer Sympthiesantenschaft for- letzten Jahrzehnten verfolgt hat, weiß, daß im Irak, im dert. Iran, in Syrien, in der Türkei, aber auch in den europäischen Ländern wie z. B. der BRD das Selbst- Daß die Türkei nach dem Zusammenbruch der bestimmungsrecht der Kurden nicht anerkannt wird. UdSSR ein wichtiger machtpolitischer Brückenkopf in Die sogenannte Demokratisierung der Regierung der islamischen Welt bzw. der Golf-Staaten geworden Demirel, die in diesem Hause gern zitiert wurde, hat es ist, wird kaum jemand ernsthaft bezweifeln. Nicht in Wahrheit nie gegeben. Bis zum heutigen Tage zuletzt ist dies der Grund, warum die Bundesregie- dürfen Kurden und Kurdinnen ihre Sprache nicht rung, wenn es um die Menschenrechtsverletzungen in schreiben und ihre Kultur nicht leben. der Türkei geht, so auffällig untätig bleibt. Die Situation in der Türkei/Kurdistan hat sich in den Deshalb fordern wir: letzten Monaten dramatisch zugespitzt. Hunderte von Erstens. Sofortiges Menschen aus der Zivilbevölkerung sind ums Leben Waffenembargo gegen die tür- Meines Erachtens bedarf es k einer- gekommen, Hunderte sind schwer verletzt. Tausende kische Regierung. lei Beweises mehr, daß der Krieg in Türkei/Kurdistan von Kurden und Kurdinnen sind oder wurden verhaf- vorwiegend mit deutschen Waffen geführt wird. tet, und viele bekamen die brutalen Foltermethoden Filme, Fotos und Augenzeugenberichte gibt es mehr des türkischen Sicherheitsstaates zu spüren. Allein in als genug. Schon diese Tatsache rechtfertigt den diesem Jahr sind acht Journalisten und etliche politi- Vorwurf der Mitverantwortung der Bundesregierung sche Repräsentanten des kurdischen Volkes aus Men- am Völkermord gegen die Kurden. Wenn Verteidi- schenrechtsvereinen und der HEP erschossen wor- den. gungsminister Rühe „die Rüstungshilfe für die Türkei erheblich einschränken will" und künftig der Schwer- Ganz offen wird gegenwärtig über Sinn und Unsinn punkt auf „wirtschaftliche und kulturelle Zusammen- eines Militärputsches in der Türkei diskutiert. Zeitun- arbeit" gelegt werden soll, dann ist das genau die gen wie „Gündem" oder „Yeni Ülke", die über die Fortsetzung der bisherigen Politik. Leider unterschei- Ereignisse in den kurdischen Gebieten berichten, det sich die SPD-Fraktion in diesem Punkt nicht von stehen unmittelbar vor einem Verbot. der Politik des Verteidigungsministers gegenüber der Türkei. Noch dramatischer steht es um die politische Ver- tretung des kurdischen Volkes und ihrer Abgeordne- Menschenrechtsverletzungen sind nicht durch ten im türkischen Parlament. Neben einem Verbot der Haushaltspolitik lösbar, sondern bedürfen einer kla- 9746 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Ursula Jelpke ren Position gegen sie. Diese vermag ich erst recht Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile der Frau nicht zu erkennen, wenn plötzlich eine Vermischung Kollegin Erika Steinbach - Hermann das Wort. bzw. Gleichstellung mit Ländern wie Griechenland oder Portugal vorgenommen wird. Erika Steinbach - Hermann (CDU/CSU): Herr Präsi- Ich bin für ein generelles Verbot von Waffenexpor- dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich ten. Aber dieser Antrag der SPD trägt doch deutlich habe nun die interessante Aufgabe, in fünf Minuten den taktischen Zug, daß sie es nicht mit der türkischen eine differenzierte Darstellung der Haltung der CDU/ Regierung verderben will. Ich bin jedenfalls gespannt CSU zu den schmalen Themen Abschiebestopp für auf die Erklärung der SPD dazu. Kurden, Waffenembargo gegen die Türkei und Poli- zeihilfe für die Türkei zu geben. Sollte dabei wider Zweitens. Einstellung der geheimdienstlichen und Erwarten einiges an Feinheiten nicht zur Sprache polizeilichen Zusammenarbeit mit der Türkei. Die kommen, müßten wir es in den Ausschüssen diskutie- türkischen Tageszeitungen „Hürriyet" und „Milliyet" ren. Dafür bitte ich um Nachsicht. berichteten Ende August 1992, daß die Zusammenar- beit der türkischen und der deutschen Geheimdienste Die PDS/Linke Liste beantragt die Wiedereinset- intensiviert worden sei. Insbesondere „Hürriyet" zung des Waffenembargos gegen die Türkei. Unser wußte zu berichten, daß bundesdeutsche Geheim- NATO-Partner Türkei spielt eine wichtige Rolle als dienste Informationen über hier lebende oppositio- stabilisierende Regionalmacht an der Grenze zu drei nelle Türken und Kurden an die Türkei weitergeben Krisenzonen: dem Transkaukasus, dem Balkan und und im Gegenzug dafür die deutschen Geheimdienste dem Nahen und Mittleren Osten. Eine militärisch über den Drogenhandel informiert werden. Ich kann präsente Türkei liegt deshalb sowohl im europäischen diesen Antrag hier aus Zeitgründen nicht näher dis- als auch in unserem deutschen Interesse. In einem kutieren, hoffe aber, daß diese skandalösen Behaup- kontrollierten Maße sollte die Türkei zu diesem tungen im Ausschuß geklärt werden können. Zwecke unterstützt werden. Trotzdem sind wir natürlich nicht blind für die Drittens. Verlängerung des Abschiebestopps. Völ- Bedenken, deutsches Gerät könnte von der türkischen lig unverständlich ist mir, weshalb der Antrag heute Regierung nicht nur zur Landesverteidigung, sondern nicht zur Abstimmung gestellt wird. Angesichts der auch im Inneren eingesetzt werden. Deshalb hat die Tatsache, daß auch die türkische Opposition in der Bundesregierung entsprechende Maßnahmen ergrif- Türkei verfolgt wird, ist die Einstufung der Türkei als fen. Sie, Frau Kollegin, haben sogar einiges davon Verfolgerland längst überfällig. Seit Anfang Oktober zitiert. Wir halten das, was geplant ist, für richtig. werden Kurden, etwa in Bremen, abgeschoben. Den ist Eiertanz der SPD in Bund und Ländern vermag ich Die Wiederaufnahme der Verteidigungshilfe nicht mehr nachzuvollziehen, jetzt an die Bedingung geknüpft, daß sie nur im NATO-Rahmen verwendet werden darf. Die Überwa- Vielleicht hilft es, wenn ich Ihnen berichte, daß chung dieser Bedingung wird ernstgenommen. In selbst die deutsche Botschaft in Ankara in ihrem einem dritten Abkommen über Materialhilfe sind nur jüngsten Bericht über die Türkei von „ethnischer genau kontrollierte, schrittweise freigegebene soge- Säuberung" spricht. Dies wurde mir jedenfalls in nannte Lieferpakete vorgesehen. Jede weitere Mate- einem persönlichen Gespräch in Ankara mitgeteilt. rialhilfe ist von der politischen Entwicklung in der Ob das Auswärtige Amt diese Einschätzung teilt, Türkei und von dem Fortgang der Reformprozesse im konnte ich bislang nicht überprüfen, weil ich seit zwei Lande abhängig. Damit hat die Bundesregierung den Wochen auf den Bericht des Auswärtigen Amtes Bedenken über einen Einsatz deutscher Waffen, mei- warte. nen wir, ausreichend Rechnung getragen. Viertens. Bericht der Bundesregierung über die Außerdem will die PDS in ihrem Antrag — auch das Entwicklung der Türkei. Seit Juli 1991 fordern wir die wurde vorhin gesagt , daß wir die Zusammenarbeit Wiedereinführung der Berichtspflicht über die Men- mit der Türkei auch auf polizeilicher Ebene völlig schenrechtsverletzungen in der Türkei durch die einstellen. Bundesregierung. Mit den Stimmen der SPD und bei Ob es uns paßt oder nicht, die Türkei ist nun einmal Enthaltung des BÜNDNISSES 90 wurde dieser Antrag das Haupttransitland für Herointransporte auf dem abgelehnt. Landweg nach Europa. Wenn wir den organisierten Rauschgifthandel wirksam bekämpfen wollen, dann Interessanterweise wird in dem Bericht des Auswär- sind eine Zusammenarbeit mit der türkischen Polizei tigen Ausschusses die Ablehnung damit begründet, und eine materielle Unterstützung der dortigen daß im April dieses Jahres eine Bundestagsdelegation Rauschgiftfahndung also unabdingbar. Mit einer Ein- nach Türkei/Kurdistan fährt. Seit Ende August stellung dieser Zusammenarbeit würden wir nicht so bemühe ich mich nun, über diese Reise, die stattge- sehr der türkischen Regierung, sondern viel mehr uns funden haben soll, informiert zu werden. Diese Woche selbst schaden. Das kann nicht unser Anliegen sein. ist mir nun endlich mitgeteilt worden, daß der Bericht erst angefertigt wird. Ich frage mich, wie ernsthaft in Was die Forderung in Ihrem Antrag nach Berichter- diesem Zusammenhang das plötzliche Umdenken der stattung der Bundesregierung über die Lage in der SPD-Fraktion gemeint ist. Ihre Fraktion war bei dieser Türkei insgesamt betrifft, so kann ich mich hier nur Delegationsreise jedenfalls dabei; wir waren es dem Votum des Auswärtigen Ausschusses anschlie- nicht. ßen. Auch ich sehe derzeit keine Notwendigkeit für einen solchen Bericht. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Nun zu Ihrem letzten Thema, dem Abschiebestopp (Beifall bei der PDS/Linke Liste) für Kurden. Ein Abschiebestopp kann und sollte dann Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9747

Erika Steinbach-Hermann erfolgen oder ermöglicht werden, wenn die Situation Einige Bundesländer haben gebeten, diesen Ab- in dem Gebiet, in das abgeschoben werden soll, auf schiebestopp für Kurdinnen und Kurden zu verlän- Grund etwa einer militärischen Auseinandersetzung gern. Ich möchte die anderen Bundesländer auffor- derart angespannt ist, daß man aus humanitären dern, sich diesen Ländern anzuschließen. Den Herrn Gründen niemandem zumuten kann, dorthin zurück- Innenminister möchte ich auffordern, dieser Verlän- zukehren. gerung stattzugeben; denn weder im Irak noch im Iran (Uta Zapf [SPD]: So ist es!) noch in der Türkei gibt es augenblicklich Sicherheit für die Kurden. Aber das gilt für das Land insgesamt, nicht nur für eine Region. Die Lage der kurdischen Bevölkerung im Nordirak (Uta Zapf [SPD]: Die inneren Fluchtmöglich ist durch das Wirtschaftsembargo der Regierung in keiten sind doch längst weg!) Bagdad und durch dauernde Übergriffe des iraki- schen Geheimdienstes und des Militärs bedroht. Im Auf Grund der sowieso schon höchst bedrängenden Nordirak kämpfen Verbände der neuen Föderalregie- Flüchtlingslage hier bei uns in Deutschland sollte ein rung gegen die terroristische türkische PKK. Die Abschiebestopp aber nur in ganz besonders begrün- Türkei ihrerseits hat die Grenzen zum Irak dichtge- deten Fällen gestattet werden. Als z. B. der jetzt macht und ihre Truppen massiert; sie greift nach auslaufende Abschiebestopp für Kurden beschlossen Presseberichten in die Kämpfe in den nordirakischen wurde, lag in der Türkei eine außergewöhnliche Gebieten ein. Situation vor. Viele Kurden, die damals aus dem Irak in die Türkei geflohen waren, mußten von der Türkei Die Region, meine Damen und Herren, steht am versorgt werden. Da wollte man seitens der Bundes- Rand eines Bürgerkriegs. republik die eigentlich von hier abzuschiebenden Im Iran werden Kurden verfolgt. Eine bisher von der Kurden nicht dorthin zurückschicken, um die Lage Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte Repression nicht noch mehr zu verschärfen. Doch dieses Problem findet dort statt. Nur die ungeklärten Morde, die von hat sich heute ganz erheblich und ganz entscheidend Zeit zu Zeit hier und da in Deutschland passieren, entspannt. machen auf dieses Problem aufmerksam. Auch im Iran Was die in dem Antrag angesprochene militärische gibt es bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Bedrohung angeht, so betrifft diese ja nur einen sehr Peschmergas und Militärs. begrenzten Raum und eine begrenzte Zahl von Men- schen. In der Türkei leben derzeit 12 Millionen Aber in der Tat stellt sich für uns am dramatischsten Kurden, davon aber nur die Hälfte in den rein kurdi- die Situation in der Türkei dar. Dies liegt natürlich schen Siedlungsgebieten. Wieder nur ein ganz kleiner auch daran, daß wir von der Türkei am meisten wissen Teil dieser Gebiete ist von den Auseinandersetzungen und daß die Türkei uns als Land am nächsten steht: Sie zwischen PKK und türkischen Sicherheitskräften ist immerhin assoziiertes EG-Mitglied und NATO- betroffen, also nicht das ganze Land. Es ist daher völlig Partnerin. unsinnig, zu behaupten, daß Kurden, die von Deutsch- Seit 1984 kamen im Zuge der Auseinandersetzun- land in die Türkei abgeschoben werden, gezwungen gen um die Kurdenfrage ungefähr 5 000 Menschen in seien, genau in diesen Regionen zu leben. der Türkei ums Leben, allein ein Drittel davon in Wir können deshalb nicht erkennen, daß es einen 1992. triftigen Grund dafür gibt, den Abschiebestopp zu Die politische Situation in den südostanatolischen verlängern. Darum werden wir in dieser Frage unsere Gebieten der Türkei eskaliert von Tag zu Tag: unge- Haltung nicht ändern. klärte Morde an Journalisten, die kritische Positionen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vertreten, Mordanschläge und Morde an kurdischen Politikern, die für die kurdische Frage eintreten, und mysteriöses Verschwinden von Personen, das nie Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile unserer aufgeklärt wird. Türkische Militäreinheiten greifen Kollegin Uta Zapf das Wort. türkische Städte und Dörfer an. Ministerpräsident Demirel erwägt die Verhängung des Kriegsrechts in den südöstlichen Provinzen. Uta Zapf (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in der Tat ein Kunststück, in einer Das Kurdenproblem in der Türkei droht sich über Debatte von knapp einer halben Stunde und in den Bereich der südostanatolischen Provinzen hinaus Fünf-Minuten-Redebeiträgen ein solches Thema- hier auszuweiten und das soziale Gefüge des türkischen auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln. Staates zu erschüttern. Die innerstaatliche Fluchtmög- In zwei der Anträge, die die PDS gestellt hat, lichkeit, Frau Kollegin Steinbach-Hermann, für türki- werden zwei ganz wichtige Themen behandelt, die in sche Kurdinnen und Kurden ist nicht mehr gewährlei- der Tat eine Bundestagsdebatte größeren Ausmaßes stet. Deshalb ist Ihr Argument nicht stichhaltig. wert wären, nämlich die Waffenlieferungen an die Die SPD-Fraktion hat wiederholt in Anträgen dar- Türkei und der Abschiebestopp. auf hingewiesen, daß es Zeit ist, das unangemessene Frau Kollegin Steinbach-Hermann, ich kann Ihre Konzept von Rüstungshilfe nicht nur für die Türkei, Einschätzung der Situation der Kurden in der Türkei sondern auch für andere Länder wie Griechenland nicht zustimmen. Ich habe allerdings eine andere und Portugal zu überprüfen. Wir sind der Meinung, Weise, an die Probleme heranzugehen, als Frau daß diesen Ländern mit einer Wirtschaftshilfe und Jelpke. In der Analyse der Tatsachen der politischen einem vernünftigen Wirtschaftshilfekonzept mehr Situation stimmen wir überein. gedient ist als mit Lieferungen von Waffen. 9748 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Uta Zapf Minister Rühe hat in bezug auf die Türkei im Die Türkei ist ein wichtiger Partner Deutschlands Verteidigungsausschuß zugesagt, daß sich zum einen und der Europäischen Gemeinschaft. Sie ist Mitglied die weitere Materialhilfe an der politischen Entwick- des Europarats seit 1950, assoziiertes Mitglied der lung der Türkei orientiert und daß zum anderen eine Europäischen Gemeinschaft seit 1984 und in der konsequente Fortsetzung des von der Regierung Region von wachsender Bedeutung als ein Land mit Demirel begonnenen Reformprozesses Vorausset- echtem Mehrparteiensystem nach dem Vorbild west- zung für weitere Lieferungen ist. licher Demokratien. Ihre Bedeutung im Verhältnis zu Die SPD nimmt die Bundesregierung hier beim den fünf neuen Ländern der Gemeinschaft Unabhän- Wort: giger Staaten, in denen Turkvölker leben, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. In der Bundesrepu- Erstens. Da sich die innenpolitische Lage in der blik leben gut zwei Millionen Menschen aus der Türkei dramatisch verschärft hat, der Reformprozeß Türkei, unter ihnen viele Kurden. Schon darum haben darüber hinaus ins Stocken geraten ist und es immer wir für die Türkei eine besondere Bedeutung. Wir wieder verläßliche Berichte über vertragswidrigen können also nicht undifferenziert auf diesem Land Einsatz deutschen Wehrmaterials im Inneren der herumdreschen, sondern müssen seine innenpoliti- Türkei gibt, dürfen die Waffenlieferungen nicht wie- schen Probleme ernst nehmen. der aufgenommen werden. Zweitens. Wegen der politischen Fragwürdigkeit Die Türkei weiß, daß die Einhaltung der Menschen- des Konzepts der Rüstungs- und Ausstattungshilfe rechte für uns von außerordentlicher Bedeutung ist muß die Zusammenarbeit mit der Türkei, Griechen- und daß die Beziehungen der Türkei zu Europa letzten land und Portugal neu ausgerichtet werden. Wir Endes davon abhängen, daß sie in der Menschen- fordern ein Wirtschaftshilfekonzept. rechtsfrage nicht auf halbem Wege stehen bleibt, d. h. Drittens. Wegen der unzureichenden und wider- die Menschenrechte nicht nur auf dem Papier garan- sprüchlichen Angaben in den Sachstandsberichten tiert, sondern ihre Beachtung auch tatsächlich durch- der Bundesregierung zur Ausstattungs- und Verteidi- setzt. Sie hat insbesondere in ihrem Rechtssystem in gungshilfe für die Türkei verlangen wir einen umfas- dieser Frage wesentliche Fortschritte gemacht. Aber senden Bericht. Darüber hinaus bitten wir, in diesem das allein reicht nicht aus. Es gibt in der Tat Folter in Bericht auch die Ausbildungs- und Ausrüstungshilfe der Türkei, und es gibt nicht aufgeklärte Ermordun- der Polizei und der sonstigen Sicherheitskräfte darzu- gen mißliebiger Journalisten und Politiker. legen. Danach werden wir vielleicht in eine seriöse Diskussion über diesen Bereich eintreten können. Wir sind der Überzeugung, daß die Türkei nicht zu einem inneren Frieden, sondern im Gegenteil zu einer Das Problem Kurden kann nur im Zusammenhang immer stärkeren Eskalation der Gewalt kommen wird, betrachtet und gelöst werden. Das Europäische Parla- wenn sie den kurdischen Bevölkerungsteil nicht als ment hat eine unterstützenswerte Entschließung ver- eine zu schützende Minderheit anerkennt und ihn abschiedet. Es fordert die Einberufung einer Konfe- durch militärische Einsätze immer mehr der PKK renz im KSZE-Rahmen. Ich meine, diese Initative muß zutreibt. Deren Ziel ist kein demokratischer Aus- unter Einbeziehung der Länder Iran, Irak und Syrien gleich, sondern die bewaffnete Auseinandersetzung. erweitert werden. Wir fordern die Bundesregierung Sie richtet Terrorakte auch gegen die kurdische auf, zu der Initiative des Europäischen Parlaments Bevölkerung, um sie unter die eigene Botmäßigkeit zu positiv Stellung zu beziehen und im Rahmen der UNO zwingen. das Kurdenproblem auf die Tagesordnung zu set- zen. Die Türkei hat wie jeder Staat das Recht, sich gegen Die hier zur Debatte stehenden Anträge behandeln Separatismus und gegen den Versuch zu wehren, Fragen und Teilaspekte, die das Resultat eines gravie- politische Ziele mit Gewalt, mit einer Privatarmee und renden politischen Problems sind, das im Lauf und als mit Terror durchzusetzen. Aber es ist meine feste Folge des Golfkonflikts überhaupt erst in das Bewußt- Überzeugung, daß sie das Problem der kurdischen sein der politischen Öffentlichkeit gedrungen ist: der Minderheit nicht mit militärischen Mitteln lösen kann, Kurdenfrage. Wenn dieses Problem nicht friedlich sondern daß sie auf diesem Wege für sich selbst gelöst wird, wird es auf absehbare Zeit keinen Frieden äußerste Gefahren erzeugt. Kein Staat kann unge- im Nahen Osten geben. Es ist eine Verpflichtung straft die eigene Armee gegen das eigene Volk dieses Parlaments, zu einer friedlichen Lösung in einsetzen. diesem Teil der Welt beizutragen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der F.D.P.)

Auch hier gilt der Satz: Wer zu spät kommt, wer zu spät Vizepräsident Helmuth Becker: Als letztem Redner begreift, den bestraft das Leben, der erreicht das zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich unserem Gegenteil dessen, was er eigentlich will. Kollegen Dr. Burkhard Hirsch das Wort. Wir bestehen in diesem Zusammenhang darauf, daß die ausdrückliche Zusage exakt eingehalten wird, von Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine der Bundesrepublik gelieferte Waffen ausschließlich Damen und Herren! Wir haben das Verhältnis zur zur Landesverteidigung, also gegen eine Bedrohung Türkei in diesem Hause so oft erörtert, daß ich mich von außen einzusetzen. Ein Verstoß gegen diese auf wenige grundsätzliche Bemerkungen beschrän- Zusage müßte und würde eindeutige Folgen auslösen. ken kann. Das ist auch für uns eine Frage der Selbstachtung. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9749

Dr. Burkhard Hirsch Der Antrag auf Verlängerung des Stopps von Darum hoffe ich, daß wir nicht lange in diesem Abschiebungen von Kurden sollte im Innenausschuß Provisorium bleiben müssen, sondern möglichst bald möglichst bald näher behandelt werden. in das endgültige Parlament, das Reichstagsgebäude in Berlin, umziehen können. (Beifall der Abg. Gerlinde Hämmerle [SPD]) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die Initiative liegt nach dem Ausländergesetz bei den Bundesländern. Wenn entsprechende Anträge vorlie- gen, sollte sich die Bundesregierung solchen Anträ- Ich schließe die gen nicht verweigern, zumindest wenn es sich um Vizepräsident Helmuth Becker: Aussprache mit dem Hinweis, daß alle Redner ihre Personen aus dem Südosten der Türkei handelt, wo Redezeit überzogen haben, auch Herr Dr. Hirsch mit ein ziviler Ausnahmezustand herrscht und auch die seiner letzten Bemerkung. Zivilbevölkerung immer mehr zum Opfer bewaffneter Auseinandersetzungen geworden ist. Dort sind allein Nun kommen wir zur Abstimmung über die im ersten Halbjahr dieses Jahres über 550 Menschen Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses ums Leben gekommen. zu dem Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zum Wir erinnern dabei daran, daß die Frage des pau- Bericht der Bundesregierung zu der Entwicklung in schalen Abschiebestopps die Rechtslage derjenigen der Türkei. Fälle völlig unberührt läßt, in denen die individuelle Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksa- Gefahr der Folter, der Todesstrafe, der erniedrigen- che 12/2887, den Antrag der Gruppe der PDS/Linke den Behandlung oder der politischen Verfolgung Liste auf Drucksache 12/987 abzulehnen. Wer stimmt droht. Das sind Abschiebungshindernisse, die unab- für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? — Die hängig von einer generellen Regelung der Einzelfall- Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei Gegenstimmen prüfung und auch der gerichtlichen Nachprüfung der Gruppe PDS/Linke Liste ist die Beschlußempfeh- unterliegen. lung angenommen. Generelle Lösungen beziehen sich also auf Fälle, in denen eine individuelle Gefahr nicht nachgewiesen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf werden kann, und dienen außerdem natürlich der den Drucksachen 12/3215 bis 12/3217 und 12/3434 an Verwaltungsvereinfachung. Grundsätzlich gilt aber: die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Wir wollen keine Abschiebungen in Gebiete mit vorgeschlagen. Ausnahmezustand, und wir befinden uns dabei in der Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache Tradition unserer Verfassung. 12/3434 — Einstellung der Militärhilfe, Erstellung Unsere Fraktion will die guten und freundschaftli- eines Konzepts für Wirtschaftshilfe und Bericht über chen Beziehungen zur Türkei erhalten. Wir appellie- Lieferungen an die Türkei — soll zusätzlich dem ren erneut an die Türkei und wollen ihr dabei helfen, Haushaltausschuß überwiesen werden. den Weg nach Europa außen- und innenpolitisch fortzusetzen. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/3435 zur Verlängerung des befristeten Abschiebe- Da dies vermutlich meine letzte Rede in diesem stopps für Kurden und Kurdinnen soll entgegen dem Hause, dem „Wasserwerk", ist, möchte ich zum Überweisungsvorschlag in der Tagesordnung zur Schluß eine ganz andere Bemerkung machen: Ich federführenden Beratung dem Innenausschuß und zur sehe den Abschied von diesem Hause nicht mit einer Mitberatung dem Auswärtigen Ausschuß überwiesen gewissen Wehmut, weil die parlamentarische Arbeit werden. in diesem Raum nicht so reibungslos funktioniert, wie es eines Parlamentes würdig ist. Ich fühle mich immer Sind Sie damit einverstanden? — Ich höre und sehe an den sehr schönen Saal des Kreistages des Rhein- keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen Sieg-Kreises erinnert — womit ich nichts gegen den so beschlossen. Rhein-Sieg-Kreis sagen will; der Saal ist, wie gesagt, Meine Damen und Herren, wir sind damit am sehr schön. Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe Wir ziehen aber in ein anderes Provisorium, in ein die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages Haus, das traditionslos ist und dessen äußere Archi- — das ist dann die letzte in diesem Hause — auf tektur mich nicht mehr beeindruckt als die des „Lam- Donnerstag, den 29. Oktober 1992, 12 Uhr ein. pengeschäftes" in Ost-Berlin. Die Sitzung ist geschlossen. (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Schluß der Sitzung: 14.37 Uhr)

Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992 9751*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich Dr. Müller, Günther CDU/CSU 16. 10. 92 ' entschuldigt bis Abgeordnete(r) Müller (Zittau), Christian SPD 16. 10. 92 einschließlich Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 16. 10. 92 Bachmeier, Hermann SPD 16. 10. 92 Dr. Niese, Rolf SPD 16. 10. 92 Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 16. 10. 92 Oesinghaus, Günther SPD 16. 10. 92 Becker-Inglau, Ingrid SPD 16. 10. 92 Dr. Ortleb, Rainer F.D.P. 16. 10. 92 Berger, Johann Anton SPD 16. 10. 92 Otto (Erfurt), Norbert CDU/CSU 16. 10. 92 Brähmig, Klaus CDU/CSU 16. 10. 92 Paterna, Peter SPD 16. 10. 92 Büchner (Speyer), Peter SPD 16. 10. 92 Pfeffermann, Gerhard O. CDU/CSU 16. 10. 92 Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 16. 10. 92 Dr. Pflüger, Peter Harry Friedbert CDU/CSU 16. 10. 92 Daubertshäuser, Klaus SPD 16. 10. 92 Reddemann, Gerhard CDU/CSU 16. 10. 92* Dempwolf, Gertrud CDU/CSU 16. 10. 92 Rempe, Walter SPD 16. 10. 92 Doss, Hansjürgen CDU/CSU 16. 10. 92 Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 16. 10. 92 Dr. Dregger, Alfred CDU/CSU 16. 10. 92 Reuschenbach, Peter W. SPD 16. 10. 92 Friedhoff, Paul F.D.P. 16. 10. 92 Rönsch (Wiesbaden), CDU/CSU 16. 10. 92 Dr. Fuchs, Ruth PDS/LL 16. 10. 92 Hannelore Gallus, Georg F.D.P. 16. 10. 92 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 16. 10. 92 Gansel, Norbert SPD 16. 10. 92 Ingrid Gattermann, Hans H. F.D.P. 16. 10. 92 Roth, Wolfgang SPD 16. 10. 92 Dr. Geiger (Darmstadt), CDU/CSU 16. 10. 92 Schaich-Walch, Gudrun SPD 16. 10. 92 Sissy Dr. Scheer, Hermann SPD 16. 10. 92 Dr. von Geldern, CDU/CSU 16. 10. 92 Scheffler, Siegfried Willy SPD 16. 10. 92 Wolfgang Schmalz, Ulrich CDU/CSU 16. 10. 92 Dr. Glotz, Peter SPD 16. 10. 92 Schmalz-Jacobsen, F.D.P. 16. 10. 92 Graf, Günter SPD 16. 10. 92 Cornelia Gres, Joachim CDU/CSU 16. 10. 92 Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 16. 10. 92 Grochtmann, Elisabeth CDU/CSU 16. 10. 92 Schmidt (Dresden), Arno F.D.P. 16. 10. 92 Großmann, Achim SPD 16. 10. 92 Schmidt (Nürnberg), SPD 16. 10. 92 Grünbeck, Josef F.D.P. 16. 10. 92 Renate Dr. Gysi, Gregor PDS/LL 16. 10. 92 Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 16. 10. 92 Haack (Extertal), SPD 16. 10. 92 flans Peter Karl-Hermann Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 16. 10. 92 Hackel, Heinz-Dieter F.D.P. 16. 10. 92 Christian Dr. Hartenstein, Liesel SPD 16. 10. 92 Dr. Soell, Hartmut SPD 16. 10. 92 * Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 16. 10. 92 Hiller (Lübeck), Reinhold SPD 16. 10. 92 Dr. Sperling, Dietrich SPD 16. 10. 92 Hörster, Joachim CDU/CSU 16. 10. 92 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 16. 10. 92 Dr. Hornhues, Karl-Heinz CDU/CSU 16. 10. 92 Dr. Struck, Peter SPD 16. 10. 92 Ibrügger, Lothar SPD 16. 10. 92 Dr. von Teichmann, F.D.P. 16. 10. 92 Janz, Ilse SPD 16. 10. 92 Cornelia Jung, (Düsseldorf), SPD 16. 10. 92 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 16. 10. 92 Volker Thierse, Wolfgang SPD 16. 10. 92 Jung (Limburg), Michael CDU/CSU 16. 10. 92 Timm, Jürgen F.D.P. 16. 10. 92 Klemmer, Siegrun SPD 16. 10. 92 Dr. Töpfer, Klaus CDU/CSU 16. 10. 92 Köppe, Ingrid BÜNDNIS 16. 10. 92 Vergin, Siegfried SPD 16. 10. 92 90/DIE Wartenberg (Berlin), SPD 16. 10. 92 GRÜNEN Gerd Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 16. 10. 92 Weis (Stendal), Reinhard SPD 16. 10. 92 Koschnick, Hans SPD 16. 10. 92 Welt, Jochen SPD 16. 10. 92 Dr. Krause (Börgerende), CDU/CSU 16. 10. 92 Günther Wettig-Danielmeier, Inge SPD 16. 10. 92 Kretkowski, Volkmar SPD 16. 10. 92 Wiechatzek, Gabriele CDU/CSU 16. 10. 92 Dr. Luther, Michael CDU/CSU 16. 10. 92 Wollenberger, Vera BÜNDNIS 16. 10. 92 Mascher, Ulrike SPD 16. 10. 92 90/DIE Dr. Matterne, Dietmar SPD 16. 10. 92 GRÜNEN Molnar, Thomas CDU/CSU 16. 10. 92 * für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union 9752* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 114. Sitzung. Bonn, Freitag, den 16. Oktober 1992

Anlage 2 Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen Amtliche Mitteilungen bzw. von einer Beratung abgesehen hat:

Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Finanzausschuß Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Drucksache 12/3182 Nrn. 5, 6 Auswärtiger Ausschuß Drucksache 12/1364 Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 12/1615 Drucksache 12/2636 Nrn. 2.2 — 2.5 Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Drucksache 12/2867 Nrn. 2.4 — 2.6, 2.8 Drucksache 12/2461 Drucksache 12/2967 Nr. 3.1