Plenarprotokoll 12/193

Deutscher

Stenographischer Bericht

193. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung 16681 A Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. . 16688C

Nachträgliche Überweisung eines Gesetz- Ernst Hinsken CDU/CSU . . 16689D, 16699A entwurfes an den Ausschuß für Ernährung, Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Landwirtschaft und Forsten 16681 C Linke Liste 16691 C Zusatztagesordnungspunkt 1: Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 16693 B Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- Ingeborg Philipp PDS/Linke Liste . . 16695A gesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Dr. Uwe Jens SPD 16697 D Gentechnikgesetzes (Drucksachen F D P. 16699 C 12/5145, 12/5614, 12/5789, 12/5809, 12/6093, 12/6200) 16681 C Johannes Nitsch CDU/CSU 16701 B Manfred Hampel SPD 16703 A Tagesordnungspunkt I: Fortsetzung der zweiten Beratung des (Berlin) BÜNDNIS 90/ von der Bundesregierung eingebrach- DIE GRÜNEN 16703 C ten Entwurfs eines Gesetzes über die Hans Martin Bury SPD 16705 C Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1994 (Haushalts- Dr. CDU/CSU 16707 A gesetz 1994) (Drucksachen 12/5500, Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/ 12/5870) DIE GRÜNEN 16707 B Einzelplan 09 Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD . . . 16708C Bundesministerium für Wirtschaft Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 16710B (Drucksachen 12/6009, 12/6030) Einzelplan 11 in Verbindung mit Bundesministerium für Arbeit und So- Einzelplan 20 zialordnung (Drucksachen 12/6011, Zweite und dritte Beratung des von der 12/6030) Bundesregierung eingebrachten Ent- SPD 16711 D wurfs eines Gesetzes über die Feststel- lung des Wirtschaftsplans des ERP-Son- Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 16712B dervermögens- für das Jahr 1994 (ERP Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 16714 C Wirtschaftsplangesetz 1994) (Drucksa- chen 12/5842, 12/6114) Hans-Gerd Strube CDU/CSU 16714 C Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD 16682B Dr. F D P 16717 D Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 16685 C Petra Bläss PDS/Linke Liste 16719D II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ Einzelplan 12 DIE GRÜNEN 16721 B Bundesministerium für Verkehr Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 16723A (Drucksachen 12/6012, 12/6030) SPD . . . . 16725A, 16732A Ernst Waltemathe SPD 16776 A (Fürth) F.D.P. . . . . . 16725 C CDU/CSU 16779D Dr. F.D.P. 16727 A Werner Zywietz F D P 16782A CDU/CSU . . . 16729A PDS/Linke Liste 16783D Dr. Walter Hitschler F D P 16731A Dr. Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . . 16731C Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 16784 D Manfred Reimann SPD 16731D Ina Albowitz F.D.P. 16732 D , Bundesminister BMV 16786B Dr. Gero Pfennig CDU/CSU 16735 A Hans-Eberhard Urbaniak SPD 16787 A Ottmar Schreiner SPD 16735 C Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 16736D Einzelplan 13 far Post und Tele- Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) frak Bundesministerium kommunikation (Drucksachen 12/6013, tionslos 16738 B 12/6030) SPD 16739 A Arne Börnsen (Ritterhude) SPD 16789A Manfred Reimann SPD 16739 C Jürgen Timm F D P 16792 C Einzelplan 15 Bundesministerium für Gesundheit - Elmar Müller (Kirchheim) CDU/CSU . 16794B (Drucksachen 12/6015, 12/6030) Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 16796 C Uta Titze-Stecher SPD 16741 C Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister Roland Sauer () CDU/CSU . . . 16745C BMPT 16797 D Dr. Bruno Menzel F D P 16748 B Dr. PDS/Linke Liste . . . 16749D Einzelplan 16 , Bundesminister BMG . . 16751B Bundesministerium far Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit (Drucksa- 16752 C Dr. Bruno Menzel F.D.P chen 12/6016, 12/6030) Einzelplan 17 Hans Georg Wagner SPD 16799 C Bundesministerium für Frauen und Jugend (Drucksachen 12/6017, 12/ Michael von Schmude CDU/CSU . . . . 16803 D 6030) Eckart Kuhlwein SPD 16805 C Dr. Konstanze Wegner SPD 16754 C Gerhart Rudolf Baum F D P 16806 B Susanne Jaffke CDU/CSU 16757 A Uta Würfel F D P. 16759 C Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 16808 B Petra Bläss PDS/Linke Liste 16761 B Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions- Dr. , Bundesministerin los 16809 C BMFJ 16762 C Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU . 16810B Hanna Wolf SPD 16763 A Dr. Walter Hitschler F.D.P. ...... 16811 C Einzelplan 18 Monika Ganseforth SPD 16812A Bundesministerium für Familie und Senioren (Drucksachen 12/6018, 12/ 6030) Einzelplan 25 Dr. Konstanze Wegner SPD 16765 C Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (Drucksachen Irmgard Karwatzki CDU/CSU 16767 D 12/6022, 12/6030) 16813C Norbert Eimer (Fürth) F.D.P. ...... 16770B Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 16771C Nächste Sitzung 16813 D Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 16772D Berichtigungen 16814 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 III

Anlage 1 Anlage 3

Liste der entschuldigten Abgeordneten . 16815* A Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- nungspunkt I 28 — Einzelplan 25 — Bun- desministerium für Raumordnung, Bauwe- sen und Städtebau Anlage 2 Dieter Pützhofen CDU/CSU 16816* B Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Thea Bock SPD 16819* A Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD) zur Abstimmung über den Änderungsantrag Dr. Walter Hitschler F D P 16820* D zum Einzelplan 16 — Geschäftsbereich des Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 16822* A Bundesministeriums für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit auf Drucksa- Joachim Günther, Parl. Staatssekretär che 12/6207 16815* C BMBau 16823* B

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16681

193. Sitzung

Bonn, den 25. November 1993

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, Außerdem mache ich noch auf eine nachträgliche liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die Sit- Überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf- zung. merksam: Der in der 190. Sitzung des Deutschen Bundestages am 12. November 1993 überwiesene Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Gesetzentwurf der Bundesregierung: Gesetz zur dene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind Änderung sachenrechtlicher Bestimmungen (Sachen- in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufge- rechtsänderungsgesetz — SachenRÄndG) — Druck- führt. sache 12/5992 — soll nachträglich dem Ausschuß für 1. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitbera- Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu tung überwiesen werden. dem Ersten Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes — Drucksachen 12/5145, 12/5614, 12/5789, 12/5809, 12/6093, Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fa ll. 12/6200 — Dann haben wir es so beschlossen.

2. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergänzung zu TOP III.) Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:

a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Ent- Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- wurfs eines Gesetzes zur Ä nderung des Wohngeldsonder- schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes gesetzes und des Wohngeldgesetzes — Drucksache (Vermittlungsausschuß) zu dem Ersten Gesetz 12/6218 — zur Änderung des Gentechnikgesetzes b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Achim Groß- — Drucksachen 12/5145, 12/5614, 12/5789, mann, Siegfried Scheffler, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Novellierung des 12/5809, 12/6093, 12/6200 — Wohngeldsondergesetzes und des Wohngeldgesetzes Berichterstattung: — Drucksache 12/5797 — Abgeordneter Dr. Paul Hoffacker c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. , Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS/Linke Liste: Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Verbesserung der Sicherheit von Tankschiffen zum Das ist nicht der Fall. Schutz von Menschen und der Umwelt — Drucksache 12/5265 — Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermitt- lungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner 3. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen (Ergänzung zu TOP IV.) Bundestag über die Änderung gemeinsam abzustim- a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der men ist. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Vermittlungsausschusses Drucksache 12/6200? — Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs — Druck- Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit sachen 12/6099, 12/6227 — ist die Beschlußempfehlung einstimmig angenom- b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung men. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfa- chung und Beschleunigung registerrechtlicher und ande- rer Verfahren (Registerverfahrensbeschleunigungsgesetz Wir setzen die Haushaltsberatungen fort: — RegVBG) — Drucksachen 12/5553, 12/6228 — Zweite Beratung des von der Bundesregierung Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über soweit erforderlich, abgewichen werden. die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1994 (Haushaltsgesetz Ich weise darauf hin, daß mit Ausnahme der 1994) Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses die Beratungen ohne Aussprache erst am Freitag nach — Drucksachen 12/5500, 12/5870 — Beendigung der zweiten Lesung des Haushalts aufge- Beschlußempfehlungen und Berichte des rufen werden. Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) 16682 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Ich rufe die Punkte I.19. und I.20. auf: den Arbeitsmarkt betrifft —, auch noch über das I. 19. Einzelplan 09 nächste Jahr andauernde Rezession einerseits und die strukturellen Probleme der deutschen Einheit ande- Bundesministerium für Wirtschaft rerseits. — Drucksachen 12/6009, 12/6030 — Ich stelle fest: Die Arbeitslosigkeit ist, jedenfalls Berichterstattung: aus unserer Sicht, die größte Geißel dieser Gesell- Abgeordnete Kurt J. Rossmanith schaft. Die strukturelle, wi rtschaftliche, soziale, kultu- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) relle Zusammenführung unseres Landes, Ost und Helmut Wieczorek (Duisburg) West, muß konsequent vollendet werden, und die Dr. Nils Diederich (Berlin) Sanierung der Staatsfinanzen ist eine dringliche Auf- I. 20. Zweite und dritte Beratung des von der Bun- gabe. desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschafts- (Beifall bei der SPD und des Abg. Josef plans des ERP-Sondervermögens für das Jahr Grünbeck [F.D.P.] — Josef Grünbeck 1994 [F.D.P.]: Da applaudiere ich! Das sollten Sie sich mal ins Gewissen schreiben!) (ERP-Wirtschaftsplangesetz 1994) — Drucksache 12/5842 — Da haben wir auch Gemeinsamkeiten, denke ich. (Erste Beratung 182. Sitzung) Wir Sozialdemokraten ziehen aus dieser Situation die Konsequenz, einen nationalen Beschäftigungspakt zu Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- fordern, schusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) — Drucksache 12/6114 — (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Endlich!) Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Sig rid Skarpelis-Sperk wobei der fundamentale Unterschied zwischen Ihren Dr. Auffassungen, Herr Weng, und unseren darin besteht, Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die daß für uns die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die alleroberste, wirklich die oberste Priorität hat, weil sie gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. eine Bedrohung des sozialen und politischen Konsen- ses unserer Demokratie darstellt Ich eröffne die Aussprache. Als erster spricht unser Kollege Dr. Nils Diederich. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Frau Präsidentin! und weil sie die Grundlage auch für die Sicherung der Meine Damen und Herren! Wirtschaft findet in der Staatseinnahmen, also auch der Konsolidierung der Wirtschaft statt — dieser plakative Satz wird dem Staatsfinanzen, darstellt. Es gibt hier tatsächlich eine Wirtschaftsminister zugeschrieben. Rangigkeit. (Zuruf von der SPD: Donnerwetter!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Egal, ob er ihn wirklich gesagt hat oder nicht, dieser Jetzt kommen Sie mit Ihren falschen Rezep Satz ist jedenfalls ebenso trivial wie falsch. ten!) (Zuruf von der SPD: Er meint die Gastwirt- Es ist eine Tatsache, daß die Arbeitslosigkeit eben schaft!) insbesondere die neuen Bundesländer betrifft. Der Staat ist in den Wirtschaftskreislauf eingebun- Der Vereinigungsprozeß wird nur in dem Maße den, ist wesentlicher Auftraggeber, ist Nachfrager, ist erfolgreich sein, in dem wir den Menschen dort größter Arbeitgeber. Der Staat, insbesondere der Perspektiven vermitteln. Perspektive heißt Integra- Bund, verteilt in großem Maße Volkseinkommen um. tion in die Gesellschaft, und das weiß ich aus Hun- Auch in dem großen Sektor Staat finden also Wirt- derten, aus Tausenden Gesprächen in meinen Sprech- schaft und Beeinflussung von Wirtschaft statt. Was stunden vor Ort, im Wahlkreis, und in den gesamten auch immer die Bundesregierung tut, sie setzt wirt- neuen Ländern. Integration in die Gesellschaft heißt schaftliche Tatsachen. die Möglichkeit für jeden, der es will, auf einem Was wir Sozialdemokraten kritisieren, ist, daß sich Arbeitsplatz in diesem Prozeß mitzuwirken. die Bundesregierung und ihr verantwortlicher Wirt- schaftsminister im Moment eher aus dem systemati- Die Marktwirtschaft — ich denke, auch da haben schen wirtschaftspolitischen Handeln verabschiedet wir wieder keine Differenzen, Herr Minister — hat haben. Ein Kommentar des „H andelsblatts" vom sich immer als effizientes und vielleicht als effiziente- 16. November 93 ist sehr bezeichnend mit „À la stes Steuerungssystem der Wirtschaft erwiesen. Brüning" überschrieben. (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Da gibt es aber (Beifall bei der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser große Unterschiede!) [CDU/CSU]: Da kann man doch nicht klat- Es ist aber ebenso wichtige Erkenntnis, daß der schen!) Rahmen für marktwirtschaftliches Handeln durch ent- Ich denke, daß wir uns in diesem Hause in der schlossene und gezielte Politik gesetzt werden muß. Analyse der Lage einig sind. Dazu ist ja in der Dafür ist der Wirtschaftsminister da, und dazu muß er Elefantenrunde viel gesagt worden: Kurz gesagt, die dafür sorgen, daß auch der Bundeshaushalt, der ja Lage ist gekennzeichnet durch eine tiefgreifende und, eine wichtige Rolle im Wirtschaftskreislauf spielt, wie uns die Sachverständigen sagen — jedenfalls, was entsprechend gesteuert und eingesetzt wird. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16683

Dr. Nils Diederich (Berlin) Vielleicht darf ich einmal zurückblicken. Auch der Schauen wir uns den Einzelplan 09 — Wirtschaft — Aufbau der Bundesrepublik unter Wirtschaftsminister an. Von den rund 6,3 Milliarden DM Zuschüssen im Erhard ist unter der Überschrift Neoliberalismus den- Einzelplan des Bundeswirtschaftsministers ist unge- noch nur so gut gelaufen, wie er laufen konnte, indem fähr die Hälfte überhaupt nicht hinreichend verfüg- eben die Bundesregierung unter der Führung von bar. Ich weiß nicht genau, wieviel es ist; aber ich kann Herrn Erhard die wirtschaftspolitischen Instrumente einmal ein Beispiel nennen. Die Verpflichtung gegen- auch systematisch eingesetzt hat. über den Nachfolgestaaten der UdSSR, etwa das Wohnungsbauprogramm, umfaßt immerhin 1,9 Milli- Wir sind heute in derselben Situation. Für uns, Herr arden DM. Daran werden wir wohl wenig rütteln Minister, senden Sie weder die richtigen Impulse für können. Wegen der Erfüllung von Verpflichtungen im den Haushalt aus, noch haben Sie bisher die Ihnen zur Rahmen von Regierungsabkommen, etwa Jamburg Verfügung stehenden Instrumente hinreichend ge- mit 440 Millionen DM usw., sind wir da nicht flexi- nutzt. bel. (Zuruf von der F.D.P.: Kein Beifall bei der Wenn also die aus gesetzlichen oder vertraglichen SPD!) Gründen kaum variablen Ansätze rund die Hälfte der Meine Damen und Herren, der Beschluß der Koali- in Gruppe 6 enthaltenen Beträge in unserem Haushalt tion, bei den Verwaltungsausgaben und bei den ausmachen, muß logischerweise bei anderen Berei- Zuweisungen und Zuwendungen pauschal 5 Milliar- chen sehr viel kräftiger zugegriffen werden. Daher den DM einzusparen, mit der Sense über den Haushalt fordere ich Sie auf, lieber Herr Minister Rexrodt, von zu gehen, macht die Unfähigkeit der Koalition deut- dieser Stelle aus zu sagen, wo Sie die Akzente setzen lich, sich den Problemen zu stellen und sie konkret zu wollen. lösen. Die Mehrheit des Parlaments hat damit auf die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Möglichkeit verzichtet, selbst die Akzente zu setzen. Sie hat diese Aufgabe allein dem Finanzminister Wollen Sie die Be träge für die Verbraucherunterrich- überlassen, der damit auch konkret Wirtschaftspolitik tung und Verbrauchervertretung noch weiter kürzen, betreiben wird. Sie hat übrigens das Angebot der als sie schon gekürzt worden sind? Oder werden Sie Sozialdemokraten im Ausschuß, gemeinsam die not- etwa an die Substanz der Förderung für die neuen Länder herangehen? Wollen Sie denn in einer Zeit, wendigen Einsparungen zu definieren, ausgeschla- - gen und statt dessen ein Pauschalverfahren gewählt, in der es darauf ankommt, Arbeitsplätze zu schaf- es dem Finanzminister überlassen, dem Parlament zu fen — — sagen, was getan werden soll. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das ist doch Aufgabe der Länder, Herr Kollege!) (Beifall bei der SPD) — Nein, schauen Sie doch einmal unsere Förderungs- Nebenbei gesagt: Adolf Roth beklagte sich am programme an. Lieber Kurt Rossmanith, Sie wissen Dienstag, man könne den Haushalt ja gar nicht so doch, was in diesem Einzelplan steht. Soll uns doch richtig diskutieren, weil man noch nicht wisse, wo der der Minister sagen, bei welchen konkreten Mittel- Finanzminister nun zuschlagen werde. Dann kann standsförderungsprogrammen, etwa in Richtung neue man nur sagen: Das haben Sie sich selber zuzuschrei- Länder, er kürzen wird. ben. (Beifall bei der SPD) Ich möchte auch davor warnen, etwa an den Wis- mut-Komplex heranzugehen; denn gerade diese Posi- Um auf Ihre Verantwortung, Ihren Amtsbereich, zu tion dient ja arbeitsplatzschaffenden und arbeitsplatz- kommen, Herr Minister: Die ungezielte Kürzung bei erhaltenden Maßnahmen ebenso wie der ökologi- den Zuwendungen und Zuschüssen wirkt volkswirt- schen Erneuerung für eine arg benachteiligte schaftlich negativ. Sie führt unmittelbar zu Arbeits- Region. platzvernichtung. Sie wirkt prozyklisch. Sie verstärkt Abschwung und Rezession. Denn ein großer Teil der (Beifall bei der SPD — Adolf Roth [Gießen] Zuwendungsempfänger — Jugendverbände, Wohl- [CDU/CSU]: Jetzt kommen aber Ihre Vor fahrtsverbände, Organisationen, die sich der Fort- und schläge!) Weiterbildung widmen, die der Kultur dienen, Ver- Der Sachverständigenrat hat festgestellt, daß der braucherschutzorganisationen usw. — erbringt ge- Außenbeitrag der ostdeutschen Wirtschaft noch unbe- sellschaftliche Leistungen, die schon seit langem pri- friedigend ist, selbst wenn er geringfügig gewachsen vatisiert sind. Es sind staatliche, gesellschaftliche oder ist. Wir denken, daß dieser Wachstumspfad zielge- vorstaatliche Aufgaben, die hier erfüllt werden. richtet weiter beschritten werden muß. Wir fordern Sie Es fehlt bei Ihrem Kürzungsbeschluß der Aspekt der daher auf, Herr Rexrodt, alles zu tun, um den wirt- Systematik, nämlich der volkswirtschaftlichen Steue- schaftlichen Austausch mit den europäischen Staaten rung. Ich fürchte, daß uns allen gemeinsam das, was zu erhalten. Wir kennen sehr genau die Problematik der Hermes-Bürgschaften, die eben Bürgschaften und Sie beschlossen haben, noch auf die Füße fallen wird. Was wir brauchen, ist eine Politik, die die Vorausset- nicht verlorene Zuschüsse sein sollen. Nichtsdestowe- zung für einen sich selbst tragenden wirtschaftlichen niger müssen die Exporte in das alte RGW-Gebiet für Aufschwung in sich trägt und die Grundlage dafür eine begrenzte und klar definierte Übergangszeit, die legt. Gerade die Vielzahl kleiner Zuwendungsemp- durch die Überwindung der Rezession gekennzeich- fänger stellt wertvolle Arbeitsplätze und Beschäfti- net ist, noch weiter gestützt werden. gungspositionen zur Verfügung, die nunmehr gefähr- Wir Sozialdemokraten haben übrigens praktikable det sind. Vorschläge hierfür vorgelegt. Ich nenne das Stichwort 16684 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Nils Diederich (Berlin) Handelsentwicklungsgesellschaften. Wir fordern Sie Sicht mit einer völlig falschen Akzentsetzung geführt auf, Herr Rexrodt, zu überprüfen und mit uns zu worden. Denn immer wieder konzentriert sich die diskutieren, inwieweit dieses Instrument noch zusätz- Diskussion ausschließlich auf den Faktor Lohn. liche Impulse vermitteln kann. Deutschland ist nun einmal ein Hochlohnland. Unsere (Beifall bei der SPD — Josef Grünbeck Exportfähigkeit und damit die wirtschaftliche Exi- [F.D.P.]: Lauter Gesellschaften machen! Das stenzfähigkeit kann nicht über Rohstoffe oder Natur- ist eine schöne Gesellschaft! — Gegenruf des schätze gesichert werden, sondern nur durch das Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Das sind doch Kapital unserer physischen und geistigen Arbeits- kraft, wieder Vorstandsposten! Denken Sie doch einmal an sich!) (Beifall bei der SPD) Nichtsdestoweniger müssen wir alles tun, um auch und zwar in einem optimalen Verhältnis zwischen die neuen und die privatisierten Unternehmen in den qualifizierten Lohnempfängern und unternehmeri- neuen Ländern noch stärker in den Markt hineinzu- schen Einkommensbereichen. Deutschl and wird nie bringen. Das heißt internationaler Wettbewerb, d. h. ein Billiglohnland werden, selbst wenn wir heute aber auch Wettbewerb auf den westdeutschen Märk- hören, daß bei Volkswagen im Rahmen eines Kompro- ten. misses massiver Lohnverzicht geübt wird. Ich denke, daß es die Aufgabe des Wirtschaftsmini- Übrigens, Herr Minister, Ihre Äußerung von einem sters ist, stärker als bisher diesen Unternehmen über zu schnellen Lohnanstieg in Ostdeutschland halte ich die Durststrecke zu helfen, d. h. ihnen die Möglichkeit nicht für angebracht. Der Kanzler hat hier gesagt: Es zu geben, die Erfahrungen zu sammeln, die an dem gehören immer zwei dazu, die Verträge unterschrei- hart strukturierten Markt üblich sind. ben. Herr Wirtschaftsminister, wenn ich immer wieder höre, daß es auch heute noch schwierig ist, Produkte Ich denke, bei diesem Punkt ist die Verantwortung aus Ostdeutschland etwa bei den großen Kaufhaus- auch der Tarifpartner sehr viel stärker gefragt. Wir ketten zu listen, wenn ich höre, daß einzelne Kauf- sehen gerade in der jetzigen Zeit, daß die Tarifpartner hausketten Produkte aus Ostdeutschland nur regional diese Verantwortung übernehmen. Wir sollten hier begrenzt für Ostdeutschland aufnehmen, dann ist das aber nicht versuchen, einer Seite die Lasten aufzubür- ein Skandal, bei dem der Bundeswirtschaftsminister den, die die deutsche Einheit und die diese Rezession hervorrufen. immer wieder deutliche Worte an die Wirtschaft richten muß und sie bei ihrer Verantwortung packen (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Das müssen Sie muß. aber Oskar sagen!) (Beifall bei der SPD — Josef Grünbeck [F.D.P.]: Keine Ahnung!) Übrigens hat selbst der Vorstandssprecher der Deutschen B ank, Herr Kopper, inzwischen festge- — Ich habe sehr wohl Ahnung, Herr Grünbeck; denn stellt, daß der Begriff Standort zu einer reinen Wort- ich habe mich sehr ausführlich gerade mit dieser hülse verkommen ist. Große Konzerne bauen massiv Problematik befaßt. Arbeitsplätze ab. Das ist nicht eine Frage der hohen (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Von jeder Realität Lohnbelastung. Vielmehr liegt das an der Tatsache, weit entfernt!) daß sich die großen Unternehmen in der deutschen Industrie zu lange auf errungenen Lorbeeren ausge- Die Erhaltung industrieller Kerne ist ein ebenso ruht haben häufig gebrauchtes wie unklares Modeschlagwort. (Beifall bei der SPD) Falsch ist sicher, wenn dabei lediglich an die Erhal- tung bestehender Unternehmen gedacht wird, in der und nunmehr gezwungen sind, zu verschlanken und Hoffnung, daß die Konservierung altindustrieller zu verkürzen. Ich denke, daß wir gerade in dem Punkt Standorte allein zu neuem Wachstum führen wird. auch den Wirtschaftsminister auffordern müssen, hier Sicher kann man damit vorübergehend Totalarbeits- etwas dagegenzusetzen. losigkeit in bestimmten Regionen verhindern. Es muß aber eine aktive Strukturpolitik mit massiver Neuan- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wie sieht das siedlung hinzutreten. Nun wird Kurt Rossmanith aus, das Dagegensetzen?) gleich wieder zwischenrufen: Aufgabe der Länder! Sehr richtig. Wir Sozialdemokraten meinen, daß ein nationaler Beschäftigungspakt notwendig ist, um den Aufstieg (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Lernfä- zu flankieren; denn Beseitigung der Arbeitslosigkeit hig!) ist die zentrale Aufgabe. Wir müssen die Kräfte in Aber da die neuen Länder überhaupt erst am Anfang unserer Gesellschaft bündeln und auch zusammen- ihrer Leistungsfähigkeit stehen, ist hier gerade der führen. Dies wäre ja — Sie haben doch die Instru- Bundeswirtschaftsminister gefordert, die reine Priva- mente, Herr Wirtschaftsminister — auch Ihre Auf- tisierungspolitik der Treuhand durch eine entspre- gabe. chende Standortförderungspolitik zu ergänzen. Ich Ich denke, wir müssen den Menschen eine sichere denke, hier können wir mehr erwarten, als bisher getan worden ist. und klare Perspektive geben. Daß dabei Opfer gebracht werden müssen, ist klar. Daß die Opfer auch Die Standortdiskussion ist in der letzten Zeit inten- gebracht werden, zeigt der Volkswagen-Kompromiß. siv geführt worden. Aber ich denke, sie ist aus unserer Wir können als Sozialdemokraten aber nicht akzep- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16685

Dr. Nils Diederich (Berlin) tieren, daß diese Opfer den Schwächsten in unserer Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Gesellschaft allein abverlangt werden; der Abgeordnete Kurt Rossmanith. (Beifall bei der SPD) Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Frau Präsident! wir können die Opfer auf dieser Seite nicht akzeptie- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich ren, wenn nicht die, die vermögend sind und sich zu mich dem Wirtschaftshaushalt zuwende, darf ich allen Zeiten hohe Einkommen haben sichern können, Ihnen, sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr herzlich zu ebenfalls angemessen daran beteiligt werden. Ihrem heutigen fünfjährigen Jubiläum als Präsidentin Wenn wir also, meine Damen und Herren, die dieses Hohen Hauses gratulieren. Situation verändern wollen, dann müssen wir dort (Beifall im ganzen Hause — Dr. Wolfgang etwas verändern, wo die Wirtschaft stattfindet, näm- Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Unglaublich, was lich in der Wirtschaft, aber wir müssen es hier aus der alles weiß!) unserer Verantwortung als Bundesrepublik Deutsch- Ich glaube, wir alle sind Ihnen auch dankbar für die land, als Parlament, als Bundesregierung tun. faire und souveräne Art, wie Sie dieses Amt in Wir müssen besser werden durch mehr Qualifika- Anspruch genommen haben. tion, durch bessere Ausbildung. Wir müssen in So wären wir schon wieder bei der Diskussion über Deutschland innovativer werden durch entspre- den Haushalt 1994, insbesondere über den Haushalt chende Förderung von Forschung und Spitzentech- des Wirtschaftsministeriums. Ich glaube, es kann uns nologie. Wir müssen unternehmerischer werden niemand absprechen, daß die Haushaltsberatungen in durch systematische Mittelstandsförderung — der diesem Jahr von der Koalition geprägt waren und von Kollege Bury wird dazu noch etwas sagen —, durch dem Willen, angesichts der schwierigen Finanzlage, mehr Existenzgründungen, durch größere Flexibilität in der wir uns eben befinden — und jeder weiß, daß und Risikobereitschaft von Unternehmen. wir die Einheit nach wie vor vollenden müssen und (Beifall bei der SPD) vollenden wollen —, hier zu einem Sparhaushalt zu gelangen. Ich glaube, daß das, was wir als Haushälter Wir müssen arbeitsfähiger werden, indem wir mehr vorgelegt haben, diesen Namen mit Recht verdient. Menschen für den Arbeitsmarkt fit halten. Wir dürfen Die neuesten Daten zur Entwicklung auf dem sie nicht zum alten Eisen werfen. Wir müssen ihnen Arbeitsmarkt und die jüngsten Steuerschätzungen die Chance lassen, wieder einzusteigen. Dies gilt haben noch in der Schlußphase der Beratungen im insbesondere für Ostdeutschland, wo Millionen Haushaltsausschuß gravierende Änderungen des Arbeitskräfte im arbeitsfähigen Alter und mit guter Regierungsentwurfs notwendig gemacht, um die Net- Ausbildung sehnsüchtig auf eine neue Beschäftigung tokreditaufnahme nicht über die für mich magische warten. Grenze von 70 Milliarden DM ansteigen zu lassen. Wir müssen schließlich flexibler werden, indem wir Die Beratungen haben wieder einmal mit großer weniger Bürokratie und eine schlankere Verwaltung Deutlichkeit gezeigt, daß von den Kolleginnen und haben. Ich vermute, daß wir uns da wieder annähern, Kollegen der SPD außer überzogener Kritik eben Herr Minister. Wir fordern die Bundesregierung auf, nichts zu erwarten ist. tätig zu werden, statt sich mit Pauschalkürzungen (Zuruf von der SPD: Das ist falsch! Was durchzumogeln. Es muß endlich eine systematische erzählst du da?) Verwaltungsreform in Gang gebracht werden, und gerade Sie, Herr Wirtschaftsminister, müssen einen Lieber Kollege Diederich, ich hätte mir gewünscht, Beitrag dafür leisten, die Bundesregierung dazu zu daß Sie jetzt nicht nur wieder Kritik üben, sondern daß treiben, dies in Angriff zu nehmen. Sie tatsächlich sagen, was Sie denn hätten anders machen wollen, wie der Haushalt anders hätte gestal- Ich denke, daß die Ins trumente für eine solche tet werden sollen. Politik bereitliegen. Sozialdemokraten haben auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. immer deutlich gemacht, daß sie bereit sind, an — Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Du hast diesem schwierigen Prozeß mitzuwirken. leider nicht zugehört, Kurt! Es ist zu früh am Herr Minister, ich denke, daß die Pauschalkürzun- Tage!) gen, die wir jetzt vor uns haben, kontraproduktiv sind — Doch, lieber Nils Diederich, Ihnen höre ich doch im Sinne dieser Forderungen, die ich hier vorgetragen immer zu, weil ich weiß, daß von Ihnen in der Regel habe. Erst wenn sie unseren Kriterien, die ich eben sehr vernünftige Gedanken kommen. Mir ist aber vorgetragen habe, genügen, können wir Ihrem Haus- auch klar, daß Sie hier in der Öffentlichkeit dies halt zustimmen. Ich fürchte, ein Sozialliberaler wer- natürlich etwas differenziert zum Ausdruck bringen den Sie nun nie werden. müssen, insbesondere weil die Aufstellungssituation (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das glaube ich ausschlaggebend ist für die Wahl im nächsten Jahr. auch, das wäre auch falsch!) Wir sind nicht umhingekommen, allein in dem bestehenden Haushaltsentwurf für den Bundesmini- Wir müssen uns also, denke ich, in einem Jahr einen ster der Wirtschaft schon während der Beratungen, anderen Koalitionspartner auswählen, wenn wir d. h. noch vor dem Beschluß der globalen Minderaus- — was ich unterstelle — den Auftrag zur Regierungs- gabe von 5 Milliarden DM, Kürzungen in einer bildung haben. Größenordnung von rund 600 Millionen DM vorzu- Danke sehr. nehmen. Dies war sicherlich keine leichte Aufgabe, (Beifall bei der SPD) vor allem keine Aufgabe, die uns aus unserem Inter- 16686 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Kurt J. Rossmanith esse heraus und für den Aufgabenbereich als solchen schaft sehr wohl als vertrauenschaffende Signale leichtgefallen ist. Das heißt natürlich für manchen verstanden und so aufgenommen worden sind. Subventionsempfänger, daß jetzt von der Vorstellung Abschied genommen werden muß, daß die öffentli- Die gegenwärtigen Schwierigkeiten — auch das chen Mittel weiterhin so fließen werden wie bisher. müssen wir sehen — sind nicht allein auf die Konjunk- turschwäche zurückzuführen. Hinzu kommen eine Ich glaube, daß dieser Sparhaushalt auch ein Signal ganze Reihe gravierender für die Bundesverwaltung insgesamt ist, daß das Gebot der Sparsamkeit wieder etwas stärker in den (Dr. Uwe Küster [SPD]: Fehler! — Karl Diller Vordergrund rückt, damit der Rechnungshof nicht [SPD]: Hinzu kommen Fehler der Regie immer so viele Bemerkungen anfügen muß. Vielleicht rung!) ist das eine oder andere schon von vornherein ver- struktureller Probleme. meidbar; zu wünschen wäre dies. Ich glaube, daß nicht jede Dienstreise in der Größenordnung, wie es Wir alle wissen, daß die deutsche Wirtschaft in mitunter geschieht, tatsächlich durchgeführt werden einem tiefgreifenden Umbruch steckt. Ihre Stellung muß, daß nicht jede Beschaffung in der finanziellen im internationalen Wettbewerb hat sich verschlech- Größenordnung, wie es in der Vergangenheit manch- tert. Für eine ganze Reihe von Wirtschaftszweigen ist mal geschehen ist, getätigt werden muß. der Standort Deutschland zu teuer geworden. In der Zwischenzeit ist uns in unmittelbarer Nachbarschaft, Ich glaube, dieser Sparhaushalt, den wir im Haus- nämlich in den mittel- und osteuropäischen Staaten, haltsausschuß vorberaten haben, liegt auf der Linie eine erhebliche Billiglohnkonkurrenz erwachsen. des jüngsten Gutachtens des Sachverständigenrates. Wir müssen nicht mehr nach Südostasien gehen, um Dieser hat nachdrücklich gefordert, daß die Haus- auf diese Billiglohnkonkurrenz zu treffen, sondern wir haltskonsolidierung nicht über eine weitere Erhöhung haben sie direkt vor der Haustür. von Steuern und Abgaben erreicht werden sollte, sondern über eine Einschränkung des Ausgabenan- Hinzu kommt der Zusammenbruch ganzer Indu- stiegs. striezweige in den neuen Bundesländern als Folge der sozialistischen Planwirtschaft und damit Mißwirt- Auf dieser wirtschafts- und finanzpolitisch vernünf- - schaft in der DDR. Um das auszugleichen, haben wir tigen Strategie beruhen die Haushaltsbeschlüsse der im Moment so viel zu zahlen. Ich komme noch auf Koalition, die damit erneut ihre Handlungsfähigkeit einen ganz wesentlichen Bereich in diesem Zusam- unter Beweis gestellt hat. menhang zurück. (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Das (Dr. Uwe Küster [SPD]: Und die letzten drei genaue Gegenteil ist der Fall!) Jahre!) — Dann sagen Sie das einmal ganz konkret. Sie, lieber Nils Diederich, hätten die Möglichkeit gehabt, das zu — Was Sozialisten in 40 Jahren kaputtgemacht haben, tun. Sie haben diese Chance aber versäumt. Ich kann kann man nicht in drei Jahren wieder reparieren. Ihnen auch sagen, weshalb Sie es versäumt haben: Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge haben keine Substanz, weil wir uns wirklich bemüht ordneten der F.D.P.) haben und dies in der Tat ein Haushalt ist, der die Handlungsfähigkeit der Regierung und der sie tra- Das sollte gerade Ihnen, die Sie aus einem der neuen genden Koalition deutlich unter Beweis stellt. Bundesländer kommen, deutlich bewußt sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie haben in den ordneten der F.D.P. — Zuruf von der SPD) letzten drei Jahren doch nicht aufgebaut! Sie haben noch mehr kaputtgemacht! — Dr. Fritz — Natürlich, ich gebe Ihnen recht, daß der Haushalt Schumann [Kroppenstedt] [PDS/Linke Liste]: 1994 vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Sie haben kaputtgemacht! — Dr. Uwe Jens Entwicklung gesehen und auch beraten werden [SPD]: Sie sind hier doch nicht im Ortsverein! muß. — Zuruf des Abg. Dr. Nils Diederich [Berlin] Die konjunkturelle Talfahrt scheint nach den vorlie- [SPD]) genden Prognosen inzwischen ihren Tiefpunkt — Lieber Nils Diederich, ich war oft genug in den erreicht zu haben. Zwar sieht der Sachverständigenrat neuen Bundesländern. Ich habe die Arbeit in meinem für das kommende Jahr noch keine Anzeichen für eigenen Wahlkreis durchaus vernachlässigt, und die einen deutlichen Aufschwung, zumindest aber hat er haben auch Verständnis dafür. den berühmten Silberstreif am Horizont schon ausge- macht. Was in 40 Jahren die damalige DDR an den Men- schen und an der Umwelt in diesem Land verbrochen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das haben wir auch hat — ich betone: verbrochen! —, ist nicht mit einem schon gehabt! — Weiterer Zuruf von der SPD: einzigen positiven Wort zu charakterisieren. Sie Im Osten oder im Westen?) haben die Wismut AG angesprochen. Ich werde — Es wird auch nicht besser, wenn Sie noch so nachher auch noch einige Sätze dazu sagen. Halle, dazwischenplärren. Zu dieser vorsichtig optimisti- Bitterfeld — wir können für die Regionen vom Erzge- schen Einschätzung haben neben der Hoffnung auf birge bis hinauf zur Ostsee sagen, daß so die Situation eine Erholung der Weltkonjunktur auch die vom ist. Bundestag beschlossenen Konsolidierungs- und (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Ich habe Wachstumsgesetze beigetragen, die von der Wirt- überhaupt nichts Positives zu dem gesagt!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16687

Kurt J. Rossmanith Wer hier noch behauptet, das stimme nicht und das Produktivität angenähert werden. " Das Protokoll ver- könne man alles wieder in drei Jahren korrigieren, der zeichnet hier übrigens Beifall bei der SPD. Ich hoffe, weiß nicht, wovon er spricht. meine sehr verehrten Damen und Herren, daß dieser (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Nils Diede- Beifall ernstgemeint war rich [Berlin] [SPD]: Wollen Sie bitte zur (Dr. Uwe Küster [SPD]: Völlig unstrittig!) Kenntnis nehmen, daß ich das überhaupt und daß Sie zumindest in dieser Frage ein Stück nicht gesagt habe!) Einsicht bewiesen haben. Natürlich ist Produktivität — Ich nehme das gern zur Kenntnis, Nils Diederich. nicht alles. Aber ohne Produktivität ist eben alles (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Ich habe nichts. Das ist ein Kernsatz, den man sich immer dazu doch überhaupt nichts Positives ge- wieder vor Augen halten sollte. sagt!) Lassen Sie mich kurz zwei Beispiele aufzeigen, die — Nein, Sie nicht, aber Ihr Kollege, der auch in der deutlich machen, daß wir trotz der angespannten ersten Reihe sitzt und aus einem der neuen Bundes- finanziellen Lage im Haushalt des Bundesministers länder kommt. für Wirtschaft für moderne Technologien Zeichen gesetzt haben. Es gibt für das alles natürlich kein Patentrezept. Es soll doch von Ihnen einmal jemand ein Patentrezept Das eine betrifft die Nutzung der erneuerbaren anbieten! Sie haben 20 Minuten lang die Möglichkeit Energien. Wir haben, obwohl im Haushalt überhaupt dazu gehabt. Es kommen noch zwei Redner nach nichts vorgesehen war, 10 Millionen DM in einem Ihnen; ich hoffe, daß die ein Patentrezept liefern. eigenen Haushaltstitel eingesetzt. Ich gebe zu: Das ist natürlich sehr wenig. Aber es ist zumindest ein Ein- (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) stieg. Ich erwarte natürlich, daß es eine Fortsetzung Nur, die ganzen Diskussionen im Ausschuß und in gibt und daß es im nächsten Jahr keinen Ausstieg den vergangenen Wirtschaftsdebatten haben gezeigt: geben wird. Auch Sie können das nicht. Sie haben überhaupt kein Insbesondere Wind- und Wasserkraft sollen geför- Konzept. dert werden. Erst 4 % unserer Energie beziehen wir Wir, die Koalition und die Bundesregierung, haben aus erneuerbaren Energiequellen. Ich hoffe, meine mit dem Bericht zur Zukunftssicherung des Stand- - sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der ortes Deutschland eine Reihe von Handlungsfeldern SPD, daß wir zumindest in dem Punkt, was erneuer- aufgezeigt. Wir müssen einfach den Mut haben, diese bare Energien anbelangt, zu einem Energiekonsens Felder entsprechend zu besetzen. Das betrifft nicht die gekommen sind. Ich würde mir natürlich wünschen, Politik allein, sondern es betrifft ganz wesentlich auch daß wir auch, was den gesamten Energiebereich die Wirtschaft. Natürlich stimmt der Satz, daß Wirt- anbelangt — ich denke etwa an die Kernenergie —, zu schaft in der Wirtschaft stattfindet. Dort, wo sich der einem Konsens kommen und Sie sich nicht ständig Staat in der Wirtschaft betätigt, ist auch er in diesem von Herrn aus Wiesbaden majorisie- Bereich verhaftet. Gleiches gilt natürlich ganz wesent- ren lassen. lich für die Tarifpartner. Auch die Werftindustrie verwendet modernste Als ein Land mit einem hohen Einkommen wie die Technologie, Hochtechnologie. Sonst hättten wir die- Bundesrepublik Deutschland müssen wir uns auf die sen Zweig überhaupt nicht mehr. Nur ist die interna- Hochtechnologie konzentrieren. tionale Konkurrenzsituation dergestalt, daß alle schiffbaubetreibenden Länder hoch subventionieren. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr richtig!) Wir haben deshalb im Haushaltsausschuß — alle Das heißt, wir müssen neue Produktionsmethoden miteinander in Übereinstimmung — die Fortführung einführen. Darauf sind wir angewiesen. der Wettbewerbshilfe beschlossen. (Karl Diller [SPD]: Richtig!) Ich bin dankbar dafür. Denn ich weiß, die Werftin- Die Unternehmen müssen sich verstärkt auf intelli- dustrie ist eine unserer Hochtechnologien, die fortge- gente Produkte mit hoher Arbeitsproduktivität kon- führt werden muß und die nach wie vor in einer zentrieren. Es führt nämlich schlicht und einfach kein schwierigen Situation steckt. Ich hoffe, daß in drei bis Weg an der ökonomischen Erkenntnis vorbei, daß vier Jahren — m anche meinen: schon in zwei Jah- Einkommen und Sozialleistungen erwirtschaftet wer- ren —, dann, wenn eine Erneuerung der gesamten den müssen. Dann erst können sie geleistet werden. Schiffsflotte im internationalen Bereich ansteht, diese Mittel nicht mehr notwendig sind. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Uwe Küster [SPD]: Das sind doch Banalitäten! Das ersetzt Ich darf Sie sehr herzlich bitten, Herr Bundesmini- doch kein Wirtschaftsprogramm!) ster Rexrodt, daß Sie alles daransetzen, daß im inter- nationalen Rahmen die Subventionierung aufhört, Ich glaube, das hat in der Zwischenzeit auch die damit wir in Deutschland die gleichen Wettbewerbs- SPD einigermaßen begriffen. chancen haben. Unsere Schiffsbauer wollen kein (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Noch nicht Geld. Aber sie können dann nicht weiterarbeiten, alle!) wenn in den anderen Ländern in einem riesigen Denn ihr stellvertretender Vorsitzender Herr Lafon- Ausmaß weiter subventioniert wird. taine hat kürzlich im Bundestag mit erfreulicher (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Klarheit festgestellt: „Im Interesse der langfristigen sowie bei Abgeordneten der SPD — Dr. Wolf Sicherheit der Arbeitsplätze sollte der Anstieg der gang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: „Sie wollen Einkommen soweit wie möglich dem Anstieg der kein Geld" stimmt nicht!) 16688 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Kurt J. Rossmanith — Kein Geld vom Staat. Geld verdienen will jeder. steriums herzlich danken, Herrn Staatssekretär Ech- ternach und Herrn Bundesminister Waigel und natür- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ist das mit Stoiber lich last but not least auch den Kollegen Mitberichter- abgestimmt?) stattern, Dr. Wolfgang Weng, Nils Diederich und Lassen Sie mich ganz zum Schluß noch kurz einen Helmut Wieczorek. Bereich ansprechen, den ich schon angekündigt hatte: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wismut. Für die Sanierungsmaßnahmen waren 830 Millionen DM eingesetzt. Wir mußten um 80 Mil- lionen DM auf 750 Millionen DM kürzen. Das ist auch uns Haushältern alles andere als leichtgefallen. Wir Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht haben es nicht gerne get an. Aber es lag nicht an uns, Dr. Wolfgang Weng. sondern es lag schlicht und einfach daran, daß die (Karl Diller [SPD]: Jetzt wird die Debatte beiden Staatsregierungen in Thüringen und in Sach- lebhaft!) sen- bisher nicht in der Lage waren, die strahlenschutz und bergbaurechtlichen Genehmigungen entspre- chend zu erteilen. (Gerlingen) (F.D.P.): Frau Prä- (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Hört! Dr. Wolfgang Weng Hört!) sidentin! Meine Damen und Herren! Der Haushalt des Bundeswirtschaftsministers hat eine so gemischte Deshalb habe ich die herzliche Bitte an diese beiden Struktur, daß an seiner Veränderung Wirtschaftspoli- Regierungen, alles daranzusetzen, damit diese Ge- tik nicht festgemacht werden kann. Wir wollen heute nehmigungen endlich erteilt werden. aber über Wirtschaftspolitik debattieren. (Beifall des Abg. Dr. Nils Diederich [Berlin] Viele der Ausgaben in dem Haushalt stehen im [SPD]) Zusammenhang mit der deutschen Einheit. Die Besei- Ich habe mir mit einigen Kollegen die Situation bei tigung der Umweltschäden in der früheren DDR im Wismut in einer mehrtägigen Reise von Thüringen bis Zusammenhang mit der Uranförderung — der Kollege nach Sachsen angesehen. Ich kann sagen, daß die Rossmanith hat darauf hingewiesen — wird hier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Wismut wirklich ebenso finanziert wie eine großvolumige Beratungs- alles daransetzen, hochmotiviert sind und hervorra- hilfe für die Sowjetunion, die Abwicklung alter Roh- gende Arbeit leisten, für die ich ihnen sehr herzlich stoffabkommen der DDR mit der Sowjetunion und danken möchte. Es ist keine leichte Arbeit. Sie tun es sogar das Wohnungsbauprogramm für die aus den dort für die Natur. Sie tun es dort vor allem für die neuen Bundesländern abziehenden Soldaten der frü- Menschen, die in dieser geschundenen Region leben heren Sowjetunion. Dies alles, meine Damen und müssen. Herren, wissen wir. Wir müssen es finanzieren. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) wollen es auch als Konsequenz der deutschen Einheit finanzieren. Wir leisten dies gerne. Aber dies ist nicht unsere aktive Wirtschaftspolitik, die wir hier und heute darstellen wollen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Rossmanith, Die F.D.P.-Fraktion hat bei der finanziellen Unter- Ihre Redezeit ist beendet. stützung in die Wirtschaft hinein ihren Schwerpunkt immer auf die Mittelstandsförderung gelegt. (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Sehr wohl! Gott sei Dank!) Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Ich weiß, Frau Präsidentin. Ich komme schon zum Schlußsatz, Die Tatsache, daß wir jetzt bei schwierigerer öffentli- cher Finanzlage Kürzungen von Geldern im Westen (Karl Diller [SPD]: Gott sei Dank!) für diesen Bereich auf der anderen Seite dafür einset- obwohl ich noch einiges zu sagen hätte und sagen zen, daß wir eine massive Förderung des Ausbaus des müßte. Mittelstandes in den neuen Bundesländern leisten, Ich hoffe, daß ich damit aufgezeigt habe, wird von uns ausdrücklich für richtig gehalten. (Karl Diller [SPD]: Nein, nein!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) daß wir uns nicht nur Mühe gegeben haben, sondern Die dortige Wirtschaft kann sich nur dann vernünf- daß wir auch einen Haushaltsvorschlag aus dem tig entwickeln und die notwendige Vielzahl und Haushaltsausschuß an das Parlament gegeben haben, Vielfalt von Arbeitsplätzen bereitstellen, wenn sich der wirklich nicht nur die Handlungsfähigkeit belegt, ein gesunder Mittelstand weiter aufbaut. Dies sondern der auch zeigt, daß es mit unserem wirtschaft- geschieht nicht durch Großsubventionen wie bei der lichen Programm wieder aufwärts geht. Deshalb kann Steinkohle oder den Werften. Deswegen machen wir ich nur um die allgemeine Zustimmung bitten. von der F.D.P. auch weiter Druck auf diese Subven- tionsbereiche gegen den geschlossenen Widerstand Ich möchte aber auch noch einen Dank aussprechen der SPD. Manchmal ernten wir hier auch beim Koali- an die sehr kooperative Mitarbeit mit dem Bundesmi- tionspartner nicht begeisterte Zustimmung. nisterium für Wirtschaft. Ich darf Ihnen, Herr Bundes- minister Rexrodt, und Ihren Mitarbeiterinnen und (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Leider!) Mitarbeitern sehr herzlich danken. Ich darf auch den Wo wir Mehrheiten dafür finden, gestalten wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Finanzmini- Subventionen degressiv. Wir nehmen auch die bevor- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16689

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) zugten Bundesländer im Westen stärker in die vergessene Technologie. Aber es hat geklappt, und Pflicht. trotz mancher Mängel bei der Bahn verfügen wir in der Bundesrepublik Deutschland heute über ein her- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Was ist mit vorragend ausgebautes Eisenbahnnetz. So muß eine dem Fraktionsbeschluß für die Werften?) Signalwirkung aussehen. Was wir hier im Bereich der Werftsubventionen Die F.D.P.-Fraktion ist für Arbeitsplätze. Die Man- beschlossen haben, die zwei Drittel Bundesförderung gelverwaltung à la VW-Werk mag für diesen Einzel- in der Vergangenheit Zug um Zug auf ein Drittel betrieb in der jetzigen besonderen Situation eine abzubauen, sollte für die Steinkohlesubventionen erträgliche Überbrückung bedeuten. Wir haben ja zum Vorbild werden. heute morgen die Ergebnisse gehört. Gut ist sicher (Beifall des Abg. Josef Grünbeck [F.D.P.]) auch, daß die Gewerkschaft von ihrer Position „Voller Wir wollen Arbeitsplätze der Zukunft fördern. Die Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzungen" endlich heruntergegangen ist. Magnetschnellbahn Transrapid erhält hierbei fast einen symbolischen Charakter. (Beifall des Abg. Josef Grünbeck [F.D.P.] und des Abg. Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]) (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!) Aber ich sage Ihnen auch: Wenn die guten Autos so preiswert wären, daß sie auf den Wettbewerbsmärk- Spitzentechnologie hat auch der SPD-Fraktionsvorsit- ten, vor allem beim Export, besser standhalten könn- zende, Herr Klose, gestern gefordert. Aber wo es ernst ten, und wenn dadurch die Produktion ausgelastet wird, halten sich die Sozialdemokraten seither immer wäre, wäre dies die wesentlich bessere Lösung. Unser zurück oder haben sich schnell aus der Verantwortung Ziel muß Vollbeschäftigung der Leistungsträger sein; verabschiedet. denn ohne wirtschaftliches Wachstum, ohne diese (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Wohl wahr!) Vollbeschäftigung, werden wir auch die Haushalts- Erinnern Sie sich daran, meine Damen und Herren, für probleme der Bundesrepublik nicht lösen. den Transrapid gab es schon vor der Wiedervereini- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der gung eine Referenzstrecke, und zwar in Nordrhein- CDU/CSU) Westfalen. Zwischen Essen und Düsseldorf oder Köln Neue Marktchancen, neue Arbeitsplätze auch sollte hier ein Versuch gemacht werden, diese durch Deregulierung: Nach der Einführung des moderne neue Technologie vorzuführen. Der erste Dienstleistungsabends war es um den Ladenschluß leise Widerstand von selbsternannten Umweltschüt- ruhig geworden. Man wollte Erfahrungen sammeln. zern hat dafür gesorgt, daß die mit absoluter Mehrheit Die Union hat jetzt neu thematisiert. Wir haben mit ausgestattete Landesregierung Rau den Pl an sofort Überraschung gehört, daß der Generalsekretär Hintze versenkt hat und nicht bereit war, hier in die Planfest- eine völlige Abschaffung des Ladenschlusses gefor- stellung zu gehen. Mindestens fünf Jahre sind hier- dert hat. durch verloren worden. (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Rexrodt!) (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Verzöge- Dies entspricht zwar auch unserem Parteiprogramm. rung statt Handeln!) Aber in der praktischen Politik bewährt sich schritt- Die F.D.P. ist bereit, auch eine Gesetzesregelung für weises Vorgehen. Wir halten deshalb die vorliegende eine Trassierung dieser neuen Technologie mitzutra- Bundesratsinitiative, die ja auch von SPD-Ländern gen, in Anlehnung an die Gesetze, die wir ja in den getragen wird — deswegen sollten Sie hier nicht das neuen Bundesländern für neue Verkehrswege auf den Wehklagen anfangen —, für einen guten weiteren Weg gebracht haben, Schritt. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wenn hierdurch Planungszeiträume zu reduzieren Herr Dr. Weng, sind. Wir sind bereit, hier als Gesetzgeber zu han- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: deln. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hinsken? Die Frage, ob eine neue Technologie am Schluß klappt, kann am Anfang niemand sicher beantworten. Das Zögern der handelnden Politik hängt ja auch Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Ja, eine daran, daß die gescheiterten Großprojekte bei der einzige Zwischenfrage gestatte ich. Bei der Kürze der Kernenergie noch in zu guter Erinnerung sind. Aber Redezeit redet man ja gern im Zusammenhang. Herr denken Sie zurück: Diejenigen, die damals die Ent- Kollege Hinsken, bitte sehr! scheidungen ge troffen haben, waren ja der Überzeu- gung, einen richtigen Weg zu gehen. Daß es dann Ernst Hinsken (CDU/CSU): Vielen Dank, Herr Kol- nicht geklappt hat, ist bitter, muß aber im Bereich lege Weng. — Ich möchte Sie nur fragen, ob Sie mir neuer Technologien als Risiko hingenommen werden. beipflichten, wenn ich feststelle, daß der Dienstlei- Wenn wir nichts versuchen, dann klappt sicher stungsabend als Rohrkrepierer zu bezeichnen ist, weil nichts. sich nur 10 % daran halten, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wenn die erste Eisenbahnlinie — der „Adler" und zweitens, daß die wöchentlichen Öffnungszeiten zwischen Nürnberg und Fürth — seinerzeit nicht der Läden sowieso auf 68,5 Stunden ausgelegt sind funktioniert hätte, wäre die Eisenbahn heute eine und das normalerweise genügen müßte, jedem die 16690 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Ernst Hinsken Möglichkeit zu geben, dort einkaufen zu können, wo Nach der rechtlichen Sanktionierung eines erwei- er meint, das bekommen zu können, was er terten Tankstellenverkaufs wäre eine solche Maß- braucht. nahme richtig. Niemand soll ja gezwungen werden (Beifall bei Abgeordneten der SPD) offenzuhalten; aber dies in Zeiten tun zu können, in denen der Konsument Bedarf hat, ist eine verbrau- cherfreundliche und damit eine sinnvolle Chance, die Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Ich kenne, den Arbeitsmarkt entlastet. Auch daran muß ja Herr Kollege Hinsken, diese sehr statische Denk- gedacht werden. weise. Der Dienstleistungsabend hat nicht alle Hoff- (Zustimmung bei der F.D.P.) nungen erfüllt, die wir in ihn gesetzt haben. Aber der Bei der Wirtschaftspolitik muß auch stärker über Dienstleistungsabend war ja nicht nur für die Anbie- Exporthemmnisse debattiert werden. Wir meinen, terseite, sondern auch für die Verbraucherseite daß es einen zumindest europäischen Konsens bezüg- gedacht. lich der sogenannten Dual-use-Problematik geben (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Der war muß. Es kann ja wohl nicht angehen, daß deutsche auch für die Behörden gedacht und die Werkzeugmaschinen einschneidenden Exporthemm- haben überhaupt nichts gemacht!) nissen unterliegen, während Mitanbieter aus der Sie können ja nicht so tun, als ob er da keinen Effekt Europäischen Gemeinschaft praktisch identische Ma- hätte. Die Dinge sind ja in anderer Weise in Bewe- schinen problemlos liefern dürfen. gung. Wenn Sie sich ansehen, was heute im Bereich (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der Tankstellen stattfindet und was auch die Recht- Die Offensive der USA kann hier Beispiel sein. sprechung inzwischen im Bereich der Tankstellen ermöglicht, dann sehen Sie doch, daß ein außeror- In schwieriger wirtschaftlicher Lage muß auch mit dentlicher Bedarf da ist. Freunden deutlicher geredet werden. 30 000 koreani- sche Automobile, die im Jahr in Deutschland vermark- Ich sage noch einmal: Die vorliegende Bundesrats- tet werden, und 300 in der Gegenrichtung, dies ist, initiative scheint uns ein vernünftiger weiterer Schritt meine Damen und Herren, nicht nur eine Konsequenz zu sein. Hierüber sollen wir offen diskutieren. der Preise. Wenn es stimmt, daß dort Käufer ausländi- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. scher Kraftfahrzeuge umgehend von der Steuerfahn- Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE dung überzogen werden, dann braucht es ein ernstes GRÜNEN]) Gespräch. Sie beinhaltet nämlich, daß Be triebe ohne fremde (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Angestellte, mittelständische Betriebe, Herr Kollege CDU/CSU) Hinsken, in einem größeren Zeitraum geöffnet wer- Bei unserem großen Wirtschaftspartner Japan gilt den dürfen, nicht müssen. Der Rahmen wird gege- bezüglich der Importbeschränkungen unterschied- ben. lichster Art das gleiche. Auch Japan muß seine Märkte (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Das zu sagen ist öffnen. Ich sage dies um so mehr mit Blick darauf, daß sehr wichtig!) wir in der Konsequenz des Zusammenbruchs des Eine solche Regelung bietet neue Chancen für den Sowjet-Imperiums außerordentliche Leistungen nach Mittelstand, Marktnischen zu finden und den Ver- Rußland und nach den anderen Nachfolgestaaten brauchem neue Angebote zu machen. gebracht haben — Leistungen, die uns auch haus- haltsmäßig stark belasten und uns in Zukunft eben- (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Der Mit- falls belasten werden — und daß sich die Japaner mit telstand denkt aber anders!) vorgeschobenen politischen Argumenten total zu- — „Der" Mittelstand, gnädige Frau, ist zu definieren. rückgehalten haben. Dieser Unterschied im Eintreten Es gibt innerhalb des gewerblichen Mittelstandes für die Rettung, die Sanierung und den Aufbau in den natürlich unterschiedliche Auffassungen. Nachfolgestaaten der Sowjetunion muß ebenfalls (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Beim Berücksichtigung finden. Hauptverband des deutschen Einzelhan- In der jetzigen Phase der deutschen Wirtschaft ist dels!) dringend größere Beweglichkeit angesagt. Wir wollen Aber ich sage ja: Die Bundesratsinitiative, die von und können kein Billiglohnland werden. Aber die direkte Konkurrenz mit Billiglohnländern im Osten Ihnen mitgetragen wird, hat eine Abwägung zwi- schen Verbraucherinteressen und Interessen der Wirt- erfordert neue Antworten. Von der SPD haben wir in schaft und des Mittelstandes vor Augen. dieser Beziehung gar keine oder alte Antworten gehört. Hier auf die Saurier der Gewerkschaftsbüro- kratie zu hoffen wäre ein totaler Fehler. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Weng, der Abgeordnete Hinsken möchte noch einmal fragen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Weng, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Es tut mir leid, Frau Präsidentin; aber ich habe der Zuhörer- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Nein, Frau schaft, die ja heute etwas größer ist als die, die hier im Präsidentin. Ich möchte jetzt vollständig im Zusam- Raum versammelt ist — sie ist auch hier im Raum menhang sprechen. erfreulich groß —, noch einiges anderes im Kontext Die F.D.P. setzt viel stärker auf be triebliche Ent- mitzuteilen. scheidungen und ist der Auffassung, daß in viel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16691

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) größerem Maße die Betriebsräte im Interesse der Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Arbeitsplätze ihrer Firmen mitgestalten müssen. In Liste): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! den großen und — ich sage das ausdrücklich — „Jeder Bürger, der in Deutschland arbeiten möchte, mitbestimmten Betrieben ist man heutzutage mit muß die Möglichkeit dazu haben", sagte erst vorge- außerordentlicher Geschwindigkeit dabei und bereit, stern der Staatssekretär Prof. Johann Eekhoff aus dem riesige Zahlen von Menschen in die Arbeitslosigkeit Bundeswirtschaftsministerium auf dem ersten Berli- zu entlassen bzw. Arbeitsplätze abzubauen. Wir wis- ner Wirtschaftssymposium. sen, daß hinter diesen Zahlen menschliche Schicksale Es wäre fürwahr die vornehmste und wichtigste stehen, und wir wollen dies nicht hinnehmen. Aufgabe der Bundesregierung und allen voran des (Ernst Waltemathe [SPD]: Sondern?) Bundeswirtschaftsministeriums, die Rahmenbedin- gungen dafür zu schaffen, daß diese Forderung mit Betriebliche Vereinbarungen würden in viel größe- Leben erfüllt wird. Betrachtet man aber die Ergeb- rem Umfang Arbeitsplätze erhalten, als dies der an der nisse der bisherigen Arbeit und — was vielleicht noch Spitze der Leistungsfähigkeit orientierte Einheitstarif viel wichtiger ist — die Konzepte, wie dieses Ziel in der augenblicklichen Situation der Bundesrepublik verwirklicht werden soll, so ist nicht viel Faßbares tun kann. vorhanden. (Beifall bei der F.D.P.) Selbst wenn die Talsohle der Wirtschaftsentwick- Weg von den Funktionären, hin zu den Praktikern! lung durchschritten sein sollte, wenn auch nur zaghaft Das sorgt für Besserung. ein Aufschwung zu erwarten ist, wird es sich nicht auf (Beifall bei der F.D.P. — Dr. Sigrid Skarpelis- den Arbeitsmarkt auswirken. Wirtschaftsförderung Sperk [SPD]: So redet man, wenn einem sonst und Wirtschaftsrahmenbedingungen müssen sich nichts mehr einfällt!) endlich tatsächlich der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Sicherung von Arbeitsplätzen zuwenden. Wirtschaftsminister Rexrodt hat alle möglichen Kon- zepte der Verbesserung der Standortsituation darge- Auch 1994 müssen mit dem vorliegenden Haushalt stellt. immense Summen zur sozialen Absicherung der Arbeitslosigkeit ausgegeben werden. 110 Milliarden (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Alle mög- DM beträgt der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit. lichen, aber keine bestimmten!) Er löst keines der wirtschaftlichen Grundprobleme, Er hat unsere Unterstützung; er verdient die des obwohl er für die betroffenen Menschen enorm wich- Koalitionspartners. Aber auch die Opposition wird tig ist, um nicht in das totale Aus zu fallen. wegen ihrer Bundesratsmehrheit für gesetzgeberi- Immer weniger Menschen und auch immer weniger sche Maßnahmen benötigt und wird hier mitwirken Unternehmen beteiligen sich an der Finanzierung von müssen. immer größeren sozialen Anforderungen. Ein Über- Die Worte Privatisierung und Deregulierung klin- fluß an Arbeitsangebot, an Schöpfertum und Kreativi- gen noch ein wenig fremd, wenn sie von der SPD-Seite tät menschlicher Arbeit bleibt in immer größerem verwendet werden. Man sieht ja bei der Bahn- und Umfang ungenutzt. Statt dessen wird Kapital subven- Postreform, wie schwer sich die Sozialdemokraten tioniert, gefördert und immer schneller und besser tun, von der Vertretung reiner Gruppeninteressen umgeschlagen. wegzukommen. Ein prinzipielles Umdenken in der Wirtschaftspoli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — tik ist nicht mehr von der Tagesordnung zu nehmen, Lachen bei der SPD — Ernst Waltemathe will man die gesellschaftliche Entwicklung voranbrin- [SPD]: Das muß uns gerade die F.D.P. gen. Das betrifft nicht nur das menschliche Arbeits- sagen!) vermögen, sondern auch und vor allem ökologische Grenzen des Wachstums. Auch die immer noch anstehende Lufthansa-Priva- tisierung ist hierfür ein trauriges Beispiel. Aber die Wenn heute bereits darüber diskutiert wird, daß mit erstarrten Strukturen müssen aufgebrochen werden, der Beendigung der gegenwärtigen Krise die Sockel- wenn die Zukunft gewonnen werden soll und wenn arbeitslosigkeit wahrscheinlich bei 10 % stehenblei- die nötigen Arbeitsplätze in der Produktion entstehen ben wird, so ist es allerhöchste Zeit, sowohl kurzfristig sollen, die dann die wirtschaftliche Basis für einen als auch langfristig eine Wende der Politik herbeizu- breiter werdenden Dienstleistungsbereich bieten. führen. Der Haushalt 1994 des Einzelplanes 09 zeigt zumindest aus unserer Sicht wenig Ansätze, diesem Die F.D.P.-Bundestagsfraktion fordert die anderen Anspruch wirklich zu genügen. Fraktionen dieses Hauses auf, sich an der Initiative für neue Arbeitsplätze zu beteiligen. Der Haushalt des Es geht mir heute nicht — dafür reicht die Zeit Wirtschaftsministers gibt hierfür richtige Signale. nicht — um prinzipiell neue Ansätze. Scheinbar ein- fache Probleme, vor allem für die wirtschaftliche Wir werden diesem Haushalt zustimmen. Entwicklung in den neuen Bundesländern, harren (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- nach wie vor einer Lösung und behindern eher, als daß ten der CDU/CSU) sie sie fördern. Ich will mich im folgenden auf drei Einzelbeispiele und Fragen konzentrieren. Es sind erstens die Eigen- tumsregelung, die für uns nach wie vor ungeklärt oder Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht ungenügend gelöst ist, zweitens die Ausrichtung der der Abgeordnete Schumann. Fördermittel für die Schaffung von Arbeitsplätzen und 16692 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) drittens der Wildwuchs bei der Erstellung der Gewer- 1992 waren es laut Bautätigkeitsstatistik 11 500 begebiete. Wohnungen — also gut 10 %. In den drei Jahren der deutschen Einheit ist der ungedeckte Wohnungsbe- Ich komme zunächst zur ersten Problematik. Jeder darf in den neuen Ländern um mindestens 250 000 von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, erlebt es Wohnungen angestiegen — welch ein Potential an bei Besuchen und Beratungen vor Ort in den neuen Arbeitsmöglichkeiten für viele, nicht nur aus der Ländern selber: Viele Vorhaben in den neuen Län- Baubranche, weil Wohnungsbau ein ganzes Umfeld dern, Arbeitsplätze zu schaffen und Be triebe zu sanie- von Gewerbe mobilisieren kann. Wenn auch jetzt für ren, scheitern oder verzögern sich weiter — wobei die 1994/95 eine deutliche Steigerung des Wohnungs- Verzögerung das Wesentlichere ist — durch die Kom- neubaus vorhergesagt wird, stellt doch die Regelung pliziertheit der Abarbeitung der bestehenden Eigen- der Eigentumsfragen weiterhin ein wesentliches tumsregelungen. Hemmnis dar. Ich möchte hier nur die Beispiele, die unlängst im Ich fordere ein Umdenken in dieser Frage. Die Treuhandausschuß diskutiert wurden, erwähnen: Schaffung von Arbeitsplätzen muß in dieser Lage, bei Hoch- und Ausbau Mittelelbe GmbH in Magdeburg der bestehenden Massenarbeitslosigkeit, Priorität vor und die Maschinen- und Anlagenbau Grimma GmbH. allen anderen Fragen erhalten. All Das sind ganz aktuelle Beispiele. Selbst wenn man es, was auf eine Wertschöpfung in den neuen Ländern gerichtet ist, intensivste Arbeit in der Treuhand, den Grundbuch-, muß bedingungslos unterstützt und darf nicht behin- Kataster- und Vermögensämtern unterstellt, bleiben dert werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Eigentumsregelungen weiter ein Investitions- dem Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger nach der hemmnis und verhindern somit das Entstehen wettbe- werbsfähiger Arbeitsplätze. Möglichkeit, zu arbeiten und Werte zu schaffen, Vorrang einzuräumen. Auch den bestehenden landwirtschaftlichen Betrie- Vielleicht sollte man in aller Ruhe und ohne Emo- ben werden durch ungenügende und vor allem durch tionen über folgende Fragen nachdenken: Wenn von die nicht langfristig planbare Bereitstellung von der DDR nichts als Schulden übriggeblieben sind, Boden die Investitions- und Produktionsmöglichkei- muß man dann nicht auch die im Einigungsvertrag ten in erheblichem Umfang beschnitten. verankerte Rückgabe und Entschädigung an Alt- Andererseits beschäftigt sich ein großer Teil des eigentümer überdenken? Müßte nicht das zur Verfü- Verwaltungsapparates und auch des BMWi ganz gung Stehende in erster Linie für das Allgemeinwohl intensiv damit, wie der Boden an Alteigentümer und den Bundeshaushalt genutzt werden? übertragen werden kann oder Entschädigungen dafür Zum zweiten Problem: der Investitionsförderung. gezahlt werden. Welch unerwarteter Zuwachs an Unsere Überlegung ist: Es muß noch besser gelingen, Vermögen! Für die Alteigentümer stellt die deutsche die Investitionsförderung an die Zahl der Arbeits- Vereinigung einen Vermögensanspruch dar, zumin- plätze zu binden, die mit der Investition wettbewerbs- dest was den Zeitpunkt be trifft. Das ist ja auch von fähig werden. allen zugegeben worden. In den Förderregeln der Gemeinschaftsaufgabe Es muß doch angesichts der herrschenden Massen- „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" arbeitslosigkeit die Frage erlaubt sein, ob solchen ist die Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeits- Ansprüchen unbedingt heute entsprochen werden plätzen als Fördervoraussetzung explizit festgelegt. muß oder ob man sich nicht erst um Arbeitsplätze Bei der Förderung der Gewerbegebiete — ich komme sowie um Grund und Boden für Investitionen, z. B. noch einmal darauf zurück — zeigt sich aber, daß es da insbesondere für den Wohnungsbau, kümmern sollte. durchaus Lücken und Fehlplanungen gibt. Sollten das Parlament und die Bundesregierung nicht zuerst den Bürgerinnen und Bürgern verpflichtet sein, Fakt ist meines Erachtens, daß die Bindung der die im Zusammenhang mit der Vereinigung ihren Förderung an die Höhe der Investitionen Fehlent- Arbeitsplatz verloren haben und keinen neuen finden, wicklungen begünstigt. Wenn ich für Investitionen in obwohl sie arbeiten wollen? Höhe von 2,5 Millionen DM rund 1 Million DM Fördermittel bekomme, dann ist das • sicher sehr Nun wird immer gesagt, das eine, die Übertragung, erfreulich für den, der sie erhält. Wenn aber mit dieser hänge mit dem anderen, der Schaffung von Arbeits- Investition zum Schluß zwar Arbeitsplätze geschaffen plätzen, zusammen. Das ist sicher generell überhaupt werden, die wettbewerbsfähig sind, auf der anderen nicht zu bestreiten. Nur ist das in der Praxis, wie Sie Seite aber an einer anderen Stelle die doppelte Anzahl alle wissen, nicht so einfach. Die Eigentumsansprüche von Arbeitsplätzen abgeschafft wird, dann muß man sind im konkreten Fall so kompliziert, daß die Bürge- sich überlegen, ob diese Förderung wirklich das rinnen und Bürger noch lange warten müssen, bis erreicht, was mit ihr angestrebt wurde. auch für sie ein Arbeitsplatz da ist. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Haben Sie schon Genauso sieht es z. B. beim Wohnungsbau aus. Die etwas von Wettbewerb gehört?) Regelung der Eigentumsfragen sollte den Wohnungs- bau fördern. Das ist aber bis jetzt überhaupt noch nicht — Davon habe ich schon sehr viel gehört, Herr in Gang gekommen. In den 80er Jahren wurden in der Hinsken. Ich weiß um den Wettbewerb. Aber Sie DDR durchschnittlich 110 000 Wohnungen und müssen vielleicht einmal darüber nachdenken, wie Eigenheime in jedem Jahr neu gebaut bzw. errichtet man das Problem von Menschen löst, die arbeiten — vielleicht nicht von der Qualität, wie es heute wollen, aber keinen Arbeitsplatz finden. Darüber verlangt wird. sollten Sie einmal ernsthaft nachdenken. Dann wür- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16693

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) den Sie vielleicht zu anderen Auffassungen kom- Herren! Die Menschen erwarten von uns Antworten, men. Antworten auf die Frage: Was tut ihr, die Politiker, Wirkliche Innovationen, Forschung und Entwick- damit ich meinen Arbeitsplatz behalten kann? Was tut lung, Risiko und auch Marktzugang wurden und ihr, damit ich, der ich keinen Arbeitsplatz habe, bald werden in den neuen Ländern — und nicht nur da — wieder einen sicheren Arbeitsplatz habe? Diese Fra- meines Erachtens völlig unzureichend gefördert. Ein gen sind sehr berechtigt, und wir sind gehalten, ehemals riesiges Potential an industriegebundenen Antworten darauf zu geben, auch mit diesem Haus- Forschungseinrichtungen im Osten ist personell auf halt. Ich finde, dieser Haushalt ist gut strukturiert. Ich ein Fünftel geschrumpft. Zugegeben: Vielleicht möchte mich eingangs bei denen, die an ihm mitge- waren nicht alle notwendig. Aber ein Fünftel bzw. wirkt haben, sehr herzlich bedanken. Ich bedanke 20 % sind sicher entschieden zuwenig. Die besten mich ganz besonders bei den Berichterstattern, bei Kräfte sind zum Teil weg. Sie sind nicht nur in die alten Ihnen, Herr Rossmanith, bei Ihnen, Herr Wieczorek, Bundesländer gegangen, sondern oft sogar ins Aus- Herr Diederich und Herr Weng. land. Die Förderung von Humankapital — wie man (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) heute so schön sagt — entspricht weder den Anforde- rungen noch den Möglichkeiten. Der Haushalt ist wich tig und setzt gute Akzente, aber er gibt selbstverständlich nicht allein und Zum dritten Problemkreis — eng mit dem zweiten erschöpfend die Antwort auf die Frage: Was können verbunden —, den Gewerbeparks: Im Raum Halle/ wir tun, um die Arbeitslosigkeit in unserem Lande wird nach Firmeneinschätzungen das Fünf- zurückzuführen? Die Antwort muß neben den Politi- bis Fünfzigfache von dem erschlossen, was an Gewer- kern auch von Arbeitgebern und Gewerkschaften beflächen notwendig wäre. Kommunen streiten sich gegeben werden, sie muß von allen gesellschaftlichen vor dem Hintergrund der zu erwartenden Steuerein- Gruppierungen gegeben werden. nahmen vor Gericht — ob ein Gewerbepark eröffnet werden kann oder nicht. Ist damit eine sinnvolle Meine Damen und Herren, die Koalition hat ein Nutzung der Fördermittel gewährleistet? Öffentliche klares Konzept Gelder fließen auch in Planungen, die niemals (Lachen und Widerspruch bei der SPD) Arbeitsplätze schaffen, einmal ganz abgesehen davon, daß die meisten Planungen und auch Ausfüh- zur Rückführung und zur Besei tigung der Arbeitslo- rungen bei Gewerbegebieten und Gewerbeparks sigkeit. Wir sind überzeugt, daß es ein besseres nicht von ortsansässigen Büros und Bet rieben ausge- Konzept als Ihres ist. Es ist nämlich ein realis tisches führt wurden und das Geld, das dafür zur Verfügung Konzept, und es ist ein ehrliches Konzept. gestellt wurde, Steuereinnahmen, im Prinzip im Kreis- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) lauf wieder zurückgelaufen ist. Gleichzeitig führen Es ist konsequenter, und es ist nicht auf Populismus die Gewerbeflächen im Umland dazu, daß in Magde- ausgelegt. Deshalb wird es wirksamer sein als Ihre burg und in vielen anderen Städten das Handwerk aus Konzepte, wenn es denn überhaupt welche sind. den Städten herausgeht und auf die grüne Wiese abwandert. Ich möchte das begründen. Wir müssen, wenn wir Fakt ist, daß mit der Ballung von Handelseinrich- die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, zunächst ein- tungen in gewaltigen Zentren außerhalb der Städte mal auf ihre Ursachen schauen. auf der grünen Wiese in den neuen Ländern eine (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Entwicklung vollzogen wird, die sich in den alten Wenn wir ehrlich sind und das politische Wortgeklin- Ländern schon als nicht mehr tragfähig erwiesen hat. gel weglassen, sind Sie und wir bei der Ursachenana- Denselben Fehler wiederholen wir hier. Wir forde rn lyse eigentlich gar nicht allzuweit auseinander. Fest dies sogar noch. steht — das wird auch von Ihnen immer gesagt —, daß Fakt ist auch, daß in Sachsen-Anhalt bei der Förde- unsere technische und technologische Spitzenstel- rung der Gewerbegebiete die Schaffung von Arbeits- lung nicht mehr unangefochten ist, daß da manches plätzen weder Gegenstand des Antrags auf Förderung bröckelt. Es kommen immer mehr Länder auf die noch des Zuwendungsbescheides ist. Es sollten Maß- Märkte, die das, was wir können, nahezu genausogut nahmen ergriffen werden, die sichern, daß die Förder- können. Sie können es nur billiger, und sie können es mittel sinnvoll genutzt werden und damit wirk lich damit zu niedrigeren Preisen. Das ist eine Herausfor- Arbeitsplätze entstehen. derung, wie wir sie in der Vergangenheit in dieser In erster Linie muß es darum gehen, in den neuen Form nicht hatten. Ländern wettbewerbsfähige Arbeitsplätze und Werte Es findet eine Globalisierung der Märkte statt. Das zu schaffen. Damit könnte dann auch ein beherrsch- wird nicht nur in klugen Berichten der Wirtschaftsfor- barer Gesamthaushalt gestaltet werden. schungsinstitute festgestellt, sondern es ist eine Tatsa- Ich bedanke mich. che jeden Tag im Wirtschaftsleben, daß Unternehmen (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Arbeitsplätze nach Asien, nach Mittelamerika oder auch vor die Haustür, nach Ost- und Mittelosteuropa, verlagern. Das ist eine weitere Herausforderung. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Bundesminister für Wirtschaft, Günter Rexrodt. Ein weiteres Problem ist, daß die Arbeit zu teuer geworden ist. Die Arbeit wird nicht mehr zu den Preisen nachgefragt, die sie bezahlbar macht. Wir Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: haben in Deutschland, im Osten und im Westen, jede Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Menge Arbeit. Die Arbeit ist aber zu teuer, und wir 16694 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt können sie nicht mehr bezahlen. Deshalb gehen viele — Nicht zu früh! — Und als Krönung des Ganzen Menschen in die Arbeitslosigkeit. fordert dann Herr Scharping — Zitat — „das verwei- gerte Vorbild der Eliten" ein. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Das ist das, was Sie als Programm in den Raum Wir haben, wenn wir bei den Ursachen bleiben, stellen. Ich weiß gar nicht, ob es sich lohnt, darauf weitere Probleme. Wir alle wissen, daß wir mit den einzugehen. Wenn ich das jetzt tue und das eine oder Folgen einer tiefen Rezession fertigwerden müssen, andere kritisch hinterleuchte, dann tue ich das gar und wir müssen die Lasten — nein, besser: die nicht böse, weil ich glaube, daß einige von Ihnen Investitionen — in die deutsche Einheit schultern, wirklich meinen, daß sie da etwas hätten, was ein (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Patentrezept sei. Dabei ist das gar kein alternatives ten der CDU/CSU) Programm. Das sind keine Rezepte, das sind Binsen- die sich amortisieren werden, aber die uns heute mit wahrheiten, die Sie da vortragen. Das sind Sprechbla- vielen Problemen konfrontieren. sen, die Sie da vortragen. Wir haben gesagt, meine Damen und Herren, was (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dagegen zu tim ist. Dies ist in unserem Standortpapier Lassen Sie mich das auch begründen: Da ist das niedergelegt. Was da niedergelegt ist, ist natürlich Stichwort vom ökologischen Umbau der Marktwirt- nicht genug, sondern wir müssen es jetzt umsetzen schaft. Ja, wer wollte nicht den ökologischen Umbau — gegen Widerstände, zuweilen auch gegen Wider- unserer Wirtschaft? Wer würde nicht sehen, daß mit stände in den eigenen Reihen, insbesondere aber Umweltschutz und mit Umweltsicherung weltweit gegen Widerstände auf Grund anderer Mehrheiten, neue Märkte erobert werden können, daß das ein beispielsweise im Bundesrat. Wir werden nicht nach- interessanter Wirtschaftsfaktor ist? Wer auch auf unse- lassen, diese richtigen Positionen — zum Teil noch in rer Seite wollte das nicht? Nur, wir sind dafür, daß der dieser Legislaturperiode, zu anderen wichtigen Teilen Markt dies entwickelt und daß für den Umweltschutz in der nächsten Legislaturperiode — umzusetzen. Das marktwirtschaftliche Ins trumente wie Preismechanis- erwarten die Menschen von uns. Wir dürfen als men und anderes eingesetzt werden. Dann werden Politiker — und da gucke ich in alle Richtungen auch wir bald mehr Umweltschutz haben als heute. dieses Hohen Hauses — nicht nur diskutieren, wir Wer wollte nicht — und darauf stellen Sie ab — die dürfen uns nicht nur streiten, sondern wir müssen Einführung ökologischer Elemente in unser Steuer- endlich zusammenkommen und Entscheidungen tref- system? Alle Parteien, so wie sie hier sitzen, sagen: Wir fen. wollen die CO2-Energiesteuer, wir wollen sie im (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) europäischen Kontext, und wir wollen sie bei Entla- Dazu brauchen wir auch Sie! stung an anderer Stelle im Steuersystem. Was, meine Damen und Herren von der Opposition, ist daran denn (Zuruf von der SPD: Wir regieren nicht!) neu? Was ist das Rezept, was ist die Rezeptur, die wir Sie, die Opposition, meine Damen und Herren, nicht alle verfolgen wollten, wenn Sie vom ökologi- geben vor, ein eigenes, ein besseres Programm zu schen Umbau der Marktwirtschaft sprechen? Eine haben, und Sie werfen uns Fehler und Unterlassungen Binsenwahrheit, eine Tatsache, die wir alle verfolgen vor. Nun schaue ich mir einmal Ihr Programm an, die und alle wollen. wichtigsten Thesen Ihres „Programms", wenn man es (Beifall bei der F.D.P. — Zuruf von der SPD: so bezeichnen darf. Na, dann machen Sie es doch!) (Zuruf von der F.D.P.: Können Sie uns das — Das machen wir ja auch. nicht ersparen?) Der zweite Punkt: Da wird von der technologischen — Nein, ich tue es mal. Erneuerung der deutschen Wirtschaft gesprochen. Da wird zuerst vom ökologischen Umbau der Wirt- Wir müssen feststellen, daß es in der Wirtschaft und schaft gesprochen. Da wird die technologische auch anderswo eine Reihe von Versäumnissen gege- Erneuerung Deutschlands, der Unternehmen gefor- ben hat. Der Bundeskanzler hat gestern davon gespro- dert. Da wird Industriepolitik, da werden industrie- chen, daß wir die Forschungsausgaben nur mäßig politische Aktivitäten angemahnt. erhöhen und erhöhen können. Ich wünschte mir da mehr. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Meine Damen und Herren, Sie verkürzen die Pro- Subventionen!) blematik in einer Art und Weise, die nicht zulässig ist, — Ich zitiere, ich komme noch auf die Wertung, Herr wenn Sie darauf abstellen, daß Forschung und Ent- Weng. wicklung nur eine Frage des Geldes seien. Tatsache Da wird ein Beschäftigungspakt von Staat, Wirt- ist doch, daß wir in unserem Lande die Skepsis schaft und Gewerkschaften für mehr Arbeit ge- bekämpfen müssen, die gegenüber der Technik auf- wünscht, und da wird eine gerechte Verteilung der gekommen ist. Die Technik muß von den Menschen Arbeit angemahnt. Da wird eine konsequente Konso- akzeptiert werden. lidierung des Haushalts bei Beachtung der sozialen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Aspekte angemahnt, und daneben werden Beschäfti- Sie dürfen sich nicht hinstellen und wichtige tech- gungsprogramme in wichtigen technischen Wachs- nologische Entwicklungen verhindern, indem Sie die tumsfeldern gewünscht. Verabschiedung des Gentechnikgesetzes verzögern, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) indem Sie eine wichtige Technologie, bei der wir auch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16695

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt in der Sicherheitstechnik Spitze sind, dadurch unmög- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, lich machen, daß Sie aus dem Energiekonsens aus- gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abge- scheren. ordneten Schwanhold? Herr Scharping fordert moderne Verkehrstechnolo- gien. Wenn es darum geht, in irgendeinem Bundes- Bundesminister für Wirtschaft: land eine Trasse für einen Zug zu genehmigen, dann Dr. Günter Rexrodt, Frau Präsidentin, ich möchte in meinen Ausführungen sind es die SPD-regierten Länder und Gemeinden, die fortfahren. dieses verhindern. Ich will mich nun mit der Forderung der SPD nach (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU einer Industriepolitik auseinandersetzen. Industrie- — Zurufe von der SPD: Wo?) politik wird von der SPD vielfach so verstanden, daß Vertreter von Gewerkschaften, Wirtschaft und Staat Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister Rex- zusammenkommen und darüber befunden wird: Die- rodt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeorde- sen Wirtschaftszweig entwickeln wir, jenen entwik- ten Philipp? keln wir nicht, jenen führen wir zurück. — Eine solche Industriepolitik kann es nicht geben. Sie führt letztlich Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: zur „Subventionitis" und zum Konservieren bestimm- Ja, bitte. ter Wirtschaftszweige. So etwas muß der Markt ent- scheiden und niemand anders. Bitte. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: (Zurufe von der SPD) — Nun hören Sie mal zu! Ingeborg Philipp (PDS/Linke Liste): Ich möchte zum Stichwort Technikakzeptanz einige Gedanken äu- Wenn es darum geht, einen Dialog zwischen Wirt- ßern. schaft, Staat und Gewerkschaften zu führen, dann bin ich immer dabei. Es geht nur nicht, daß wir diesen Dialog führen mit dem Ziel, die Verantwortlichkeiten Eine Frage! Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: für bestimmte Entscheidungen zu verwischen. Das kann nicht in Frage kommen. Das ist aber Ihre Ingeborg Philipp (PDS/Linke Liste): Ist die man- klassische Vorstellung vom alles regelnden Staat, von gelnde Technikakzeptanz nicht darauf zurückzufüh- einer Industriepolitik, wie ich sie nicht will. ren, daß Fehlentwickungen der Technik nicht analy- siert wurden und z. B. die chemische Indus trie, die (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Unbelehrbar!) sehr viel Unheil angerichtet hat, kein Schuldbekennt- Ein weiterer Punkt ist der Beschäftigungspakt nis — ähnlich wie die evangelische Kirche nach dem — das liegt ganz auf dieser Linie —, wo m an zusam- Zweiten Weltkrieg — abgelegt hat? Man muß in sich menkommen und regeln will, wo die Allgewalt des gehen, man muß Analysen betreiben und dann vor die Staates in den Vordergrund gerückt werden soll. Das Öffentlichkeit treten. Ich sehe darin eine Ursache für wollen wir nicht. die mangelnde Technikakzeptanz. Dann gibt es Ihre Forderung nach der gerechten (Dr. [München] [CDU/CSU]: Das Verteilung der Arbeit. Meine Damen und Herren, wir ist kommunistische Ideologie, was Sie hier haben jede Menge Arbeit. Wir müssen die Bedingun- machen!) gen dafür schaffen, daß die Arbeit wieder nachgefragt wird, daß sie bezahlbar ist, und nichts anderes. Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: (Beifall bei der F.D.P.) Die Technik muß selbstverständlich — wie vieles in unserer Gesellschaft — hinterfragt werden, auch kri- Dabei kann man durchaus über Flexibilisierung spre- tisch hinterfragt werden. Dagegen wehrt sich doch chen. Wenn man dies tut — ich komme darauf noch niemand. Es geht nur darum, daß m an die pauschale zurück —, muß man selbstverständlich auch die Frage Technikkritik, die Verteufelung bestimmter Techni- des Lohnausgleichs aufwerfen. Es geht nicht an, daß ken und Technologien nicht ertragen kann, weil dies man weniger arbeitet und dasselbe Geld bekommt. an die Lebensgrundlagen der Wirtschaft und damit Damit machen wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer unseres Landes geht. Unternehmen kaputt. Sie haben die Chemieindustrie angesprochen. Wir (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) müssen selbstverständlich Gesetze und Verordnun- Meine Damen und Herren, Herr Scharping fordert gen erlassen, um die Sicherheit in der Chemieindu- das „verweigerte Vorbild der Eliten" ein. strie und anderswo zu garantieren. Wenn man Unfälle (Zuruf von der SPD: Ja, richtig!) und Störfälle, so beklagenswert sie sind, dazu benutzt, um pauschal gegen die Chemieindustrie vorzugehen, Das hört sich gut an. Wir wollen ja alle — und wir sind schüttet man das Kind mit dem Bade aus. Sie können überzeugt davon —, daß Eliten Vorbild sind. Die vielleicht noch aus der Kerntechnologie aussteigen, Menschen verstehen das so, und das ist auch einzu- aber nicht aus der Chemieindustrie, wenn dies auch fordern. manche möchten. Dort werden nämlich große Teile (Zuruf von der SPD: Was stellen Sie sich unseres Sozialprodukts erwirtschaftet. Wir können darunter vor?) nicht die Lebensgrundlagen unseres Volkes in Frage Wenn man aber das, was er hier vorträgt — er tut es stellen, weil manchen Leuten manches aus irgendwel- ja im Zusammenhang mit der Finanzierung unserer chen Gründen nicht paßt. Aufgaben —, hinterfragt, dann meint er im Grunde (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nichts anderes, als daß die Leistungsträger, die er in 16696 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt diesem Fall Eliten nennt, zu höheren Abgaben heran- Wir wollen im Sozialsystem Korrekturen anbrin- gezogen werden sollen. Die Steuern sollen erhöht gen, übrigens in Übereinstimmung mit Ihnen. Das gilt werden. Diejenigen, die gut verdienen, die investie- für die Arbeitslosenversicherung, in der die Beiträge ren können, sollen mehr abgeben und dies, obwohl sinken müssen, weil bestimmte Aufgaben auf die Deutschland ein Land ist, das mit Abgaben und Allgemeinheit übertragen werden sollen. Steuern in einer Weise belastet ist, die unerträglich ist, Über Deregulierung habe ich schon gesprochen, so daß unsere Wirtschaft darunter leidet. Das meint ebenso über Verfahrensvereinfachung zur Erleichte- also dieses Schlagwort. rung der Tätigkeit des Mittelstandes. Die Administra- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tion muß schneller und besser arbeiten. Das geht Wir dürfen die Leistungsträger nicht höher besteu- — leider — in Gemeinden und Ländern nicht ohne ern. Wir müssen die Steuern senken. Das Gegenteil Sie. dessen ist angesagt, was von Ihnen als Konzept zur Sehen wir uns den Privatisierungsbereich an. Lösung der wirtschaftlichen Probleme verkauft wird. Warum kommt denn die Postreform nicht voran, bei Sie haben kein Konzept. der es um die Sicherung von Hunderttausenden von (Zuruf von der SPD: Sie haben auch kei- Arbeitsplätzen geht? Sie kommt nicht voran, weil sich nes!) die Gewerkschaft weigert, vom öffentlich-rechtlichen Denken abzugehen, das seit Jahrzehnten in diesem Wenn man das hinterfragt und abklopft, meine Bereich verwurzelt ist. Damen und Herren, dann stellt man fest: Das sind Sprechblasen, nicht mehr und nicht weniger. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Josef Grünbeck [F.D.P.]: Vernarrt und verna (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gelt!) Dagegensteht, was wir in der Wirtschaftspoli tik Bei der Bahnreform satteln Sie drauf, wo Sie nur erreichen wollen, können, Sie und andere. Und bei Technik und Tech- (Karl Diller [SPD]: 6 Millionen Arbeitslose!) nologie, bei Bildung und Wissenschaft lassen Sie sich von Vorstellungen und Zielen leiten, die nicht dazu und zwar gegen Widerstände von allen Seiten, gerade auch von Ihrer Seite. — Meine Damen und Herren, - angetan sind, die Effizienz zu erhöhen und auch Millionen Arbeitslose sind dadurch entstanden, daß unserem Arbeitsmarkt Entlastung zu bringen. man der Marktwirtschaft nicht die Entfaltungsspiel- (Joachim PoB [SPD]: Wenn es noch eines räume gegeben hat, die sie braucht, dadurch, daß Beweises bedurft hätte, daß die F.D.P. über Regulierungen, Bürokratie und Dirigismus in Ge- flüssig ist, dann haben Sie ihn jetzt gelie meinden und Ländern immer wieder lähmen, fert! ) dadurch, daß die Adminis tration nicht funktioniert. Beim Arbeitsmarkt kommt es in entscheidendem Dieser Staat ist durch eine Überbürokratie, durch Maße darauf an, daß sich die Tarifpolitik neu orien- Gesetze und Verordnungen, die zum großen Teil von tiert. Im Tarifbereich — und da beziehe ich die Ihnen gemacht worden sind, lahmgelegt worden. öffentliche Hand und damit auch uns durchaus ein — (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — ist in den letzten zehn Jahren vieles schiefgelaufen. Zuruf von der SPD: Zwölf Jahre haben Sie Ich sage das gar nicht im Sinne einer Schuldzuwei- regiert!) sung, sondern im Sinne einer nüchternen Bestands- Ich will ja gar nicht in Abrede stellen, daß auch von aufnahme. unserer Seite Fehler gemacht worden sind, Wir müssen im Tarifbereich die Tarife am Arbeits- (Zuruf von der SPD: Aha! Welche denn?) markt neu orientieren — im Sinne einer stärkeren Differenzierung nach Branchen, nach Regionen und auch in den letzten Jahren. Aber wenn es darum geht, nach einzelnen Betrieben. diese Fehler zu besei tigen und das Übel an der Wurzel anzugehen, müssen wir zusammenstehen. Und da (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne verweigern Sie sich, meine Damen und Herren, in den ten der CDU/CSU) Gemeinden und Ländern am meisten, aber auch im Wir müssen neu differenzieren in dem Sinne, daß wir Bundesrat. Das ist das Bedauerliche. niedrigwertige Arbeit auch niedrig bezahlen. Wenn (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) man einen solchen Vorschlag macht, wird m an sofort gescholten, daß m an denen, die wenig haben, nun Unser System stellt darauf ab, daß wir Steuern auch noch nehmen will. senken. Wir werden noch in dieser Legislaturperiode in einem Konzept die Eckwerte dafür vorlegen. Wir ( [Köln] [SPD]: Was ist denn wollen die Steuerquote, die Abgabenquote nach „niedrige Arbeit"?) unten bringen. Wir wollen Subventionen degressiv — Nein, „niedrigwertige Arbeit" , keine Arbeit, die auslegen und zeitlich befristen. hohe Qualifikation voraussetzt. Wir haben einen Versuch, einen ersten Einstieg (Zuruf von der SPD: Beispiele!) beispielsweise bei der Kohle gemacht. Wo kam der Protest her? Von Ihrer Seite — und dies nur, weil wir Das ist es. davon abgegangen sind, 35 Millionen t Verstromung Ich will Ihnen die Antwort sagen. Warum sind denn auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zuzusagen, koste es, in Amerika in den 80er Jahren Millionen von Arbeits- was es wolle. Der Protest kam von Ihnen, als es darum plätzen geschaffen worden, im Dienstleistungsbe- ging, die Subventionen zurückzuführen. reich beispielsweise? — Weil die Löhne und Gehälter Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16697

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt in diesem Bereich relativ niedrig angesetzt sind. Die auch wenn Sie hier einen Verbalprotest einlegen, Arbeit wird in diesem Bereich in Amerika noch offensichtlich zum Fenster hinaus. nachgefragt, bei uns sind diese Bereiche zu hoch (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Es bezahlt. Und wenn man so etwas sagt — ich sage es sind hier ja reichlich Fenster da! — Zuruf von noch einmal —, dann ist man wieder sozial kalt; dabei der SPD: Unerhört!) geht es einem darum, daß die Menschen, die diese Arbeit verrichten können, in Arbeit und Brot kommen Meine Damen und Herren, lassen Sie mich, weil das und daß sie nicht der Sozialhilfe anheimfallen. Das ist gestern angeklungen ist, noch ein paar Worte zu das, was gewünscht wird. unserer Arbeit und zu dem sagen, was im Osten Deutschlands geleistet wird. Wir können uns nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- mehr nur auf das Erbe zurückziehen — das gebe ich ten der CDU/CSU) ohne weiteres zu —, sondern wir müssen uns darauf Das ist nicht sozial kalt; das ist arbeitsmarktpolitisch konzentrieren, daß unsere Maßnahmen und das viele verantwortlich. Außerdem gibt es bei Ihnen immer Geld, das dorthin transferiert wird, auch gut ankom- mehr, die genauso denken. Dies muß also gemacht men und daß der Prozeß, der eingesetzt hat, beschleu- rt mehr als 6 % werden. nigt wird. Wir haben in diesem Jahr do Wachstum, im nächsten mehr als 7 % — auf niedrigem Auch müssen wir das Lohnabstandsgebot wahren, Niveau. Wir werden die Rezession überwinden und damit diejenigen, die arbeiten, mehr haben als dieje- den Aufschwung im Osten beschleunigen. nigen, die weniger arbeiten. (Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Linke Liste]: Das werden die Wähler ent ten der CDU/CSU) scheiden!) Und wir müssen die Arbeitszeit beweglicher gestal- Dieses Land ist kein Land, das m an als einen ten: Jahresarbeitszeit, Lebensarbeitszeit, Wochenar- schlechten Standort bezeichnen kann. beitszeit. Das müssen wir machen, und da ist erstmals (Zuruf von der SPD: Das tun Sie doch!) eine Diskussion in Gang gekommen, die Aussicht auf Es ist ein Standort, der nach wie vor Stärken und Erfolg bietet. Vorzüge hat. Diese müssen wir herausstellen, auch Wir müssen — meine Damen und Herren, das sage - international. Wenn wir an der einen oder anderen ich mit allem Nachdruck — den Haushalt auch als Stelle Sorge und Probleme haben, dann müssen wir Arbeitgeber entdecken. Wir müssen unser Steuer- sie diskutieren, draußen und hier. recht und unsere Sozialvorschriften so umgestalten, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) daß Schwarzarbeit zurückgeführt wird und daß Hun- derttausende — ich würde sagen: Millionen — von Aber wir werden es schaffen, wenn wir, statt uns Menschen in den privaten Haushalten eine ordentli- gegenseitig zu behaken, zusammenwirken. che Arbeit finden, daß sie Steuern zahlen, daß sie (Widerspruch bei der SPD) sozialversichert sind und daß die Schwarzarbeit Wir, aber auch Sie von der Opposition sind gefragt. zurückgeführt wird. Die Menschen erwarten, daß Sie nicht nur protestie- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ren, sondern mitentscheiden. Das müssen wir tun. Schönen Dank. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die Arbeitsvermittlung muß privat organisiert wer- den. Wenn man das sagt, dann kommt die Bundesan- stalt und sagt: Wir, die Bundesanstalt, müssen dann Als nächster spricht nur diejenigen betreuen, die schwervermittelbar sind, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: der Kollege Uwe Jens. und die Privaten betreuen die, die leicht vermittelbar sind. (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Dr. Uwe Jens (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da sage ich einmal: Die Bundesanstalt sollte froh sein Damen und Herren! Ich werde mich bemühen, mich über jeden, den andere vermitteln. nicht auf die Ebene zu begeben, die heute vom Bundeswirtschaftsminister Rexrodt eingenommen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- wurde. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Die Bundesanstalt hat Sorge dafür zu tragen, daß Ich finde es wirklich nicht der Lage angemessen, mit andere Arbeit finden, nicht, daß sie Arbeit hat. Das ist derartigen Platitüden zu arbeiten, mit Ablenkungen, das, worauf es ankommt. mit Verunglimpfungen verschiedenster Art. (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. sowie (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und bei Abgeordneten der CDU/CSU — Josef dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Rainer Grünbeck [F.D.P.]: Das war Spitze! — Wider- Haungs [CDU/CSU]: Aber, Herr Professor! — spruch bei der SPD) Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Was hat — Diese Wahrheiten muß man sagen, auch wenn Sie denn der Scharping gestern gemacht? Keine protestieren. Das ist so. Diejenigen bei Ihnen, die Platitüden?) nachdenken, wissen das. Die Stimmen werden ja Was Sie eben über die Bundesanstalt für Arbeit immer lauter. Wir liegen ja gar nicht auseinander, gesagt haben — daß sie nur da sei, um selbst beschäf- 16698 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Uwe Jens tigt zu werden —, das ist unerträglich, Herr Wirt- worden sind. Insofern sage ich: Das ist ein positives schaftsminister, Signal. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Machen wir DIE GRÜNEN) bei der Verkleinerung des Parlaments auch!) und das wird auch noch Folgen haben. Auf diese Art und Weise können Sie mit den Leuten, die sich Es geht offenbar auch ohne Rausschmeißen von tagtäglich um Arbeitsplätze bemühen, wirklich nicht Arbeitnehmern ab, wenn man nur will. umgehen. Das geht nicht. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke (Beifall bei der SPD — Ina Albowitz [F.D.P.]: Liste) Dazu rede ich nachher! Da werden Sie sich Der verhängnisvolle Circulus vitiosus, der zur Zeit freuen! — Josef Grünbeck [F.D.P.]: Die stattfindet, von Rexrodt unterstützt, nämlich Wahrheit verkraftet ihr nicht mehr! Das ist „Schmeißt die Leute doch raus; baut eure Kosten das Problem!) ab", Am Anfang haben Sie gesagt — ich zitiere —: (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Eine Unverschämt Die Regierung hat ein klares Konzept zur Rück- heit!) führung der Arbeitszeit. muß endlich durchbrochen werden, meine Damen In der Tat: Ein klares Konzept zur Rückführung der und Herren. Arbeitszeit hat diese Regierung. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: So ist es!) — Josef Grünbeck [F.D.P.]: Das ist verant wortungslose Demagogie!) Allein in einem Jahr ist die Anzahl der Arbeitslosen Tagtäglich lesen Sie in den Zeitungen, daß wieder um 1 Million Menschen gestiegen und die Anzahl der Tausende, Zehntausende entlassen werden müssen. Beschäftigten um 1 Million gesunken. Wenn das mit Tagtäglich lesen Sie das in den Zeitungen. Einige dieser Regierung so weiter geht, dann haben wir Wirtschaftsverbände fordern gerade dazu auf, daß demnächst nur noch Leute, die keine Arbeit mehr - weitere haben. Entlassungen durchgeführt werden. (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Verantwortungs (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ lose Demagogie!) CSU: Lächerlich!) Wann wird endlich dagegen einmal Stellung seitens Dann haben wir nur noch Arbeitslose. Es ist, nachdem, dieser Regierung bezogen? was Herr Rexrodt hier geboten hat, wirklich dringend an der Zeit, ihn abzulösen. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Schreien (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Sie doch nicht so!) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Josef Grünbeck [F.D.P.]: Schaut einmal, wie er — Ja, man kann sich ja auch aufregen. Man kann sich lacht! Er kann selber nicht daran glauben! über diesen Menschen wirk lich aufregen. Ich hoffe, er Macht doch das nicht zum Kabarett!) hat noch ein Jahr Frist, und dann ist es aus mit ihm. Das hoffe ich natürlich sehr. Ich habe immer darauf gewartet: Was sagt er denn nun? Wie will er denn nun wirklich dafür sorgen, daß (Beifall bei der SPD) die 6 Millionen Menschen, die in diesem Lande einen Ich möchte noch einmal sagen: Was sich dieser Arbeitsplatz suchen, aber keinen finden, in kurzer Wirtschaftsminister auch auf europäischer Ebene Frist in Brot und Arbeit kommen? Aber nichts, nichts erlaubt hat, ist völlig unerträglich. Er ist dafür, daß habe ich von dieser Regierung gehört. EKO-Stahl 800 Millionen DM an Subventionen (Beifall bei der SPD) bekommt; auch wir sind für EKO-Stahl. Aber er wi ll offenbar akzeptieren, daß nach Italien und nach Die Rezepte, die Sie vorgetragen haben, sind uralt. Spanien noch einmal 14 Milliarden DM an Subventio- Mit diesen Rezepten — das sollten Sie wirklich begrei- nen fließen, und nimmt damit in Kauf, daß privatwirt- fen — werden Sie das Problem, das uns unter den schaftliche Unternehmen in Duisburg und in Dort- Nägeln brennt, niemals lösen. mund möglicherweise über die Wupper gehen. Das ist (Beifall bei der SPD — Kurt J. Rossmanith wirklich unerträglich, und das muß m an kritisieren, [CDU/CSU]: Jetzt sagt einmal eure Kon- wo immer das nur geht. So geht es nicht. zepte!) (Beifall bei der SPD) — Ich sage ja: Wir begrüßen ausdrücklich, daß sich bei Wenn er dauernd von Kohle redet, dann muß ich VW die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber auf die ihm sagen — seien Sie doch einmal ein bißchen fair, Viertagewoche geeinigt haben — das ist ein Schritt wenigstens mit sich selbst —: Diese Regierung hat im nach vorne — bei einem Lohnverzicht um 10 %. November 1991 einen Kompromiß geschlossen. Danach sollten 50 Millionen t Kohle bis zum Jahre (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Ein Schritt nach 2 005 gefördert werden. Das ist nicht die Ewigkeit, vorne? Weniger Arbeit?) aber das war ein vernünftiger Kompromiß. Aber kaum Sie haben auf diese Art und Weise verhindert, daß ist dieser Mann dran, wird der Kompromiß wieder in 30 000 Menschen in die Arbeitslosigkeit entlassen Frage gestellt, und das, was Sie einmal versprochen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16699

Dr. Uwe Jens haben, wird nicht mehr gehalten. Das macht diese Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Jens, Regierung unglaubwürdig. Das geht so nicht wei- gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Abge- ter. ordneten Albowitz? (Beifall bei der SPD) Dr. Uwe Jens (SPD): Bitte sehr, weil Sie so eine nette Frau sind. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Jens, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hinsken? — Ja. Ina Albowitz (F.D.P.): Vielen Dank, Herr Kollege; ich bin Ihnen außerordentlich dankbar. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie bereit sind, zur (CDU/CSU): Herr Kollege Professor Ernst Hinsken Kenntnis zu nehmen oder mir zu bestätigen, daß die Jens, haben Sie denn das Standortpapier, das die Novellierung des Ladenschlußgesetzes aus dem Ber- Regierung jüngst aufgelegt hat, schon einmal genau liner Senat über den Bundesrat von der Berliner gelesen? Waren Sie bereit, auch zuzuhören, was der sozialdemokratischen Senatorin an uns herangetra- Bundeswirtschaftsminister gesagt hat, nämlich wie er gen worden ist und daß wir uns in einem ordent lichen die Probleme lösen möchte? Und als letztes: Pflichten Gesetzgebungsverfahren damit auseinandersetzen Sie mir bei, wenn ich feststelle, daß dieses Vier- Tage-Modell bei VW unter keinen Umständen allge- müssen. mein auf die Wirtschaft in der Bundesrepublik (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Hört! Hört!) Deutschland zu übertragen ist? Ansonsten gehen wir vor die Hunde, und das möchten wir nicht. Dr. Uwe Jens (SPD): Der Herr Rexrodt wi ll das (Beifall bei der CDU/CSU) ganze Ladenschlußgesetz kippen. Der Entwurf des Berliner Senats sieht vor, daß diejenigen, die keine Arbeitnehmer beschäftigen, so lange aufhaben dür- Dr. Uwe Jens (SPD): Ich will dem Kollegen, da ich fen, wie sie wollen. Das ist also etwas grundlegend ihn sehr schätze und gerne mag, auch kurz und anderes. Aber ich gebe Ihnen zu, daß dieser Entwurf bündig antworten. Ich habe dieses Papier gelesen, auch mit sozialdemokratischen Stimmen eingebracht aber es ist nicht wirklich lesenswert. - worden ist; das ist völlig richtig, gar nicht zu bezwei- (Beifall bei der SPD) feln. Aber ihr müßt euch mal gegenseitig unterhalten, Es fehlt nämlich eine vernünftige Analyse in diesem ob ihr da den richtigen Weg habt. Papier; sie müßte eigentlich noch nachgereicht wer- (Beifall bei der SPD — Ina Albowitz [F.D.P.]: den. Das reicht schon!) Ich pflichte Ihnen bei, Herr Hinsken: Das Modell, Fast jeden Tag bekommt der Bürger, glaube ich, das bei VW etabliert worden ist, ist vernünftig, ist mindestens dreimal verschiedene Meinungen von richtig. Aber es ist natürlich nicht auf alle Bereiche zu diesem Bundeswirtschaftsminister Rexrodt in den übertragen. Das ist gar keine Frage. Medien mitgeteilt. (Hansjörgen Doss [CDU/CSU]: Mangelver- (Zuruf von der CDU/CSU: Der ist eben prä waltung ist das!) sent!) Das, was die Regierung sich erlaubt — ich habe es — Ja, ganz zweifellos, präsent ist der amtierende am Anfang schon gesagt; auch eben habe ich es Wirtschaftsminister. Wer wollte das bezweifeln. Aber wieder gehört —, ist ein großes Ablenkungsmanöver. dennoch wird laut Umfragen sein Ansehen in der Da will doch dieser Herr Rexrodt in der Tat das Öffentlichkeit leider immer schlechter. Ladenschlußgesetz wieder novellieren. Da will er Ich sage Ihnen: Die Bürgerinnen und Bürger in möglicherweise das Gesetz gegen den unlauteren diesem Lande haben es satt, immer nur Ankündigun- Wettbewerb liberalisieren. Da will er das Rabattgesetz gen und Versprechungen zu hören. Sie wollen endlich abschaffen. Das sind aus meiner Sicht alles Palliativ- konkret wissen, auf welche Art diese Bundesregie- mittel, die in der Tat ein großes Ablenkungsmanöver rung die Arbeitslosigkeit ein für allemal besei tigt. dokumentieren. Auf diese Art und Weise werden Darum geht es! überhaupt keine Arbeitsplätze in dieser Republik (Beifall bei der SPD — [CDU/ geschaffen, sage ich Ihnen. CSU]: Verbieten!) (Beifall bei der SPD) Ich vermute stark, meine Damen und Herren, im Aber eins muß natürlich klar sein: Wir reden heute nächsten Jahr werden die Investitionen der p rivaten über den Haushalt. Ich sage Ihnen: Wenn es uns nicht Wirtschaft wieder etwas ansteigen — gar keine Frage, gelingt, daß diese tiefgreifende Rezession endlich und das ist auch gut so. Die Lagerbestände sind überwunden wird, dann haben wir keine zusätzlichen geräumt, es ist ja schließlich auch Wahljahr. Und auch Steuereinnahmen. Dann werden wir die Konsolidie- das Bruttosozialprodukt mag ja nach Aussagen der rung der Staatsfinanzen niemals erreichen. Sachverständigen um 0,5 % steigen. In diesem Jahr ist Also, gehen wir an die Arbeit und versuchen end- es mit hoher Wahrscheinlichkeit um 2 % gesunken. lich, das erste Problem anzupacken, das wir haben: Die Zahl der Arbeitslosen wird allerdings im näch- Das ist die Überwindung der schwerwiegenden sten Jahr nicht abgebaut, sondern wird weiterhin Rezession, in der die deutsche Volkswirtschaft kräftig zunehmen. Gerade das ist für uns Sozialdemo- steckt. kraten eine unerträgliche Entwicklung und eine (Beifall bei der SPD) besondere Herausforderung. 16700 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Uwe Jens Der Chor, angestimmt von Herrn Rexrodt und ten sie, glaube ich, vor allem auch in ihrem Hause, in einigen Unternehmern — einigen, sage ich, nicht ihrem eigenen Hause für Ordnung sorgen. allen —, beschwört die Kostenkrise. Da stecke die (Dr. Erich Riedl [München] [CDU/CSU]: Ihre deutsche Wirtschaft drin, die Kosten seien viel zu ganze Rede ist ein Jammer!) hoch. Zwei Drittel der Probleme, der langfristigen Struktur- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Stimmt das probleme, mit denen wir zu kämpfen haben, sind vor nicht?) allem in den Unternehmen — und ich füge hinzu: in den großen Unternehmen — selbst verursacht. Die Löhne sind in der Tat nominal in den Jahren 1990, 1991 und 1992 um etwa 5 bis 6 % — nominal, Man sollte noch etwas zu den Lohnnebenkosten wohlgemerkt — gestiegen, aber die Preise sind in sagen, die wir auch gerne senken möchten; gar keine diesen Jahren auch immer wieder um 3 bis 4 % Frage. Aber sorgen Sie doch bitte dafür, daß zumin- gestiegen. dest die Rentenversicherung und die Arbeitslosenver- sicherung von der politischen Last entlastet wird, Also, ich verlasse mich mehr auf die CDU, die ein jedes Jahr etwa 50 Milliarden DM von West nach Ost bißchen mehr Sachverstand hat: Sie müßten doch zu transferieren. eigentlich begreifen, daß man z. B. erstens Löhne (Beifall bei der SPD) nicht isoliert von den Preisen sehen kann. Wollen diejenigen, die dauernd die Kostenkrise beschwören, Wenn wir das hinbekämen, dann könnten wir in der wirklich die Löhne absenken und das Preisniveau auf Tat die Lohnnebenkosten deutlich senken. Und da der alten Höhe belassen? Das ergibt doch wirklich sind Sie aufgefordert, Herr Rexrodt. Wo bleibt da Ihre keinen Sinn. Antwort? (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das hat er aus Zweitens. Die Verteuerung unserer Waren im Aus- drücklich gesagt!) land hat wenig mit Lohndruck — auch das sollten Sie nachlesen: wenig mit Lohndruck —, sondern vor allem Entscheidend ist in der Tat, meine Damen und mit der Aufwertung der D-Mark, mit der Veränderung Herren, daß wir Innovationen zustande bringen — ein der Wechselkurse zu tun. schrecklicher Ausdruck. Veränderungen, neue Pro- - dukte brauchen wir. Glauben Sie mir: Durch Lohnsen- (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: So ist kungen kriegen wir Innovationen wirklich nicht es!) zustande. Durch Lohnsenkungen werden im allge- meinen nur die alten Produkte möglicherweise ein Das hat sogar vor kurzem der Chefvolkswirt von bißchen billiger produziert. Durch Lohnsenkungen Gesamtmetall, also einem Arbeitgeberverband, fest- aber werden keine neuen Innovationen geschaffen. gestellt. Vielleicht könnten Sie dem wenigstens fol- gen. Der Anstieg der Lohnstückkosten im internatio- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ina Albowitz [F.D.P.]) nalen Vergleich geht also vor allem auf die Verände- rung der Wechselkurse zurück. Das kann m an doch Möglicherweise wird durch Lohnsenkungen sogar ein wirklich nicht bezweifeln, meine Damen und Her- wenig von dem Innovationsdruck, den wir dringend ren. brauchen, weggenommen. Der entscheidende Druck, zu Innovationen zu kommen, wird dadurch abge- (Beifall bei der SPD — Ernst Hinsken [CDU/ schwächt. CSU]: Nein, das stimmt nicht!) Was wir also brauchen, ist verstärkter Innovations- Und die Lohnstückkosten — das ist ein Problem — druck, meine Damen und Herren. Vor allem brauchen sind natürlich auch gestiegen, weil die Ausbringung wir einen scharfen Wettbewerb nicht zwischen Staa- der deutschen Volkswirtschaft deutlich zurückgegan- ten, sondern zwischen Unternehmen. Wir brauchen gen ist. In dem Moment, wo die Kapazitäten, die wir außerdem eine gezielte Innovationspolitik. Notwen- haben, wieder besser ausgelastet sind, sinken auto- dig wäre z. B., daß die Bundesregierung von ihrem matisch die Lohnstückkosten. Das ist nun mal immer überkommenen statischen Neoliberalismus Abschied so im konjunkturellen Verlauf. Und von einem außer- nimmt und sich mit dynamischem Denken und mit ordentlichen Lohnpush, von einem außerordentlichen dynamischen Überlegungen befaßt. Nicht F riedman, Lohnstoß in den Jahren 1991 und 1992 kann man sondern Schumpeter sollte von Herrn Rexrodt gelesen angesichts von Tariflohnsteigerungen von 5,7 bzw. werden. Aber der Wi rtschaftsminister kann solche 6 % bei 4 % Preissteigerung wirklich nicht sprechen. Probleme offenbar nicht lösen — das ist meine Mei- nung —; er ist eben extrem ideologisch verklemmt. Bringen Sie also nicht immer das Argument von der Dann besteht nur eine Möglichkeit: Er muß weg. Kostenkrise. Es ist nur partiell richtig, nicht überall. (Beifall bei der SPD) Machen Sie endlich eine vernünftige Analyse unserer wirtschaftlichen Probleme, damit Sie dann auch ver- nünftig agieren und eine entsprechende Politik betrei- ben können. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Jens, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kolle- (Beifall bei der SPD) gen Hinsken? Das Jammern, meine Damen und Herren, ist offen- bar des Deutschen Lust geworden, angestimmt insbe- sondere von Herrn Rexrodt. Aber bevor einige Ver- Dr. Uwe Jens (SPD): Der Herr hat schon einmal bände und Unternehmer immer lauter jammern, müß- gefragt. Ich möchte nicht mehr. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16701

Dr. Uwe Jens Wir meinen dagegen, daß es jetzt entscheidend wirtschaft mit all ihren Zerstörungen in Umwelt- und darauf ankommt, an die Wachstumskräfte in der Infrastruktur in eine Soziale Marktwirtschaft erfolgt Region zu denken und diese zu mobilisieren. Notwen- ist, ohne daß die Menschen in wirtschaftliche Not dig wäre z. B., in den Arbeitsamtsbereichen alle geraten sind. relevanten Kräfte der Wirtschaft an einen runden (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wo Tisch der kollektiven Vernunft zu holen. Herauszufin- leben Sie eigentlich?) den ist: Wo gibt es die sogenannten hellen Köpfe, von denen Karl Schiller immer sprach? Hier müßte ange- Das ist eine Leistung, auf die alle in Deutschland stolz setzt werden. Dazu aber ist es erforderlich, daß wir sein können. nicht nur Verantwortung in die Regionen verlagern, Warum steht dieses Ergebnis eigentlich nicht mehr sondern auch entsprechende Finanzmittel in die im Vordergrund unserer Debatten? Arbeitsmarktregionen transferieren, damit diese hel- len Köpfe in den Regionen unterstützt werden kön- (Beifall bei der CDU/CSU) nen. Dann gäbe es doch sicher schneller Übereinstimmun- Wir Sozialdemokraten haben zur dritten Lesung gen hinsichtlich der Forderungen des Sparens, der einen Entschließungsantrag eingebracht. Er verdeut- Höhe der Nettokreditverschuldung licht, was wir in der schweren Wirtschafts- und Beschäftigungskrise für dringend erforderlich halten. (Zuruf von der SPD: Fragen Sie mal die Wir brauchen u. a. eine aktive Konjunktur- und Arbeitslosen!) Beschäftigungspolitik — ich konnte das nicht ausführ- und all der schwindelerregenden Quoten dieses lich darlegen, bin aber gerne bereit, Ihnen dies Haushaltes. privatissime noch einmal zu erläutern, Herr Rexrodt. Wir brauchen eine stringente Politik zur Sicherung der Die Westdeutschen wollen hören, daß die Transfer- Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Wir leistungen in der Zukunft dazu beitragen werden, daß brauchen ganz zweifellos den ökologischen Umbau. die Wertschöpfung in Deutschland erheblich steigt Wir brauchen ebenfalls eine neue Verkehrs- und und damit ein Beitrag zur Sicherung des Wirtschafts- Wohnungsbaupolitik. Dies alles kann man ausführli- standorts Deutschland geleistet wird. Die Ostdeut- cher im wirtschaftspolitischen Leitantrag der SPD vom schen wollen hören, daß die Umstellungsleistungen in Parteitag in Wiesbaden nachlesen. ihrem gesamten Lebensbereich anerkannt werden. Es ist an der Zeit, daß die Weichen in der Wirt- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Ja!) schaftspolitik neu gestellt werden. Mit ständigen Nach Befragungen des Allensbacher Instituts Ablenkungsmanövern oder öffentlichen Streitereien, beklagen mehr Westdeutsche als Ostdeutsche den wie Sie, Herr Rexrodt, sie heute wieder geboten haben, sind die brennenden Probleme unserer Zeit Verlust der Zukunftsorientierung nach der Wieder- Liegt das nicht auch an den Debatten in niemals zu lösen. vereinigung. diesem Haus, dessen eine Hälfte die Leistung, die alle Schönen Dank. erbracht haben, einfach nicht anerkennen will und (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste nur Mißmut verbreitet? — Klaus Beckmann [F.D.P.]: Professoren, (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Leider Professoren, Vaterland, du bist verloren!) wahr! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Ein Trauerspiel!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Mißmut verbreiten scheint mir geradezu die Wahl- der Kollege Johannes Nitsch. kampfparole der Opposition zu sein. Mit Mißmut hofft (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Jetzt kommt wie- man am ehesten, die Regierung zu treffen; denn ein der etwas Vernünftiges!) eigenes Konzept, aus den konjunkturellen und struk- turellen Schwierigkeiten herauszukommen, fehlt. Wir hören das bei jedem Redner. Johannes Nitsch (CDU/CSU): Sehr geehrte Präsi- dentin! Meine Damen und Herren! Herr Professor Von der Zukunft viel erwarten, zupacken und Jens, zu Ihrer Rede nur soviel: auch keine neuen verändern, neue Wege ausprobieren — das ist das Vorschläge zur Lösung der Probleme, aber sehr große Markenzeichen der neuen Bundesländer. Bundes- Verbreitung von Mißmut in bezug auf den Wirt- kanzler hat in China mit Nachdruck für schaftsstandort Deutschland. die neuen Länder geworben. Wir haben hochmoti- vierte und gut ausgebildete Facharbeiter, und es gibt (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Sehr wahr! — Zu- in unseren Ländern keine Technikfeindlichkeit der rufe von der SPD: Oh!) Menschen. Dieser Standortvorteil sollte in der Welt Der vierte Haushalt im geeinten Deutschl and wird noch mehr bekanntgemacht werden. unter dem Zwang zum Sparen verabschiedet. In Ostdeutschland sind in den drei Jahren seit der (Beifall bei der CDU/CSU) Einheit große Leistungen gemeinsam von Ost- und Von den Aufträgen, die aus China mitgebracht wur- Westdeutschen erbracht worden. den, werden unsere Waggonbauer, U-Bahn-Herstel- (Beifall des Abg. Kurt J. Rossmanith [CDU/ ler und Werkzeugmaschinenhersteller ihren Anteil CSU]) bekommen. Leider wird nicht oder kaum ins Bewußtsein gebracht, Einige Beispiele für die gute Entwicklung in den daß der Umbau einer zerrütteten sozialistischen Plan- neuen Bundesländern: Erstens. Der Auftragseingang 16702 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Johannes Nitsch in Ostdeutschlands Maschinenbau war zuletzt nicht mich für die anfänglichen Unannehmlichkeiten mehr schlechter als in Westdeutschland. In der EG mehr als entschädigt. kommt der ostdeutsche Maschinenbau sogar auf hohe Plusraten. Vom Januar bis September dieses Jahres Rückblickend kann ich sagen: Es war meine erhöhte sich der Auftragseingang aus den EG- schönste Zeit während meiner Berufstätigkeit Ländern im Vergleich zum Zeitraum des Vorjahres um und eine unschätzbare Bereicherung meiner 110 %. Die Produktivitätslücke in ebendiesem Ma- Lebenserfahrung. schinenbau ist auf der Basis des Ist-Lohnes auf 15 % (Beifall bei der CDU/CSU — Karl Di ller zurückgegangen. [SPD]: Wo ist er jetzt?) Zweitens. Die Wachstumsraten in den neuen Bun- — Er ist wieder in Hamburg, weil er die Anstrengun- desländern von real 7 % sind doch in Europa einmalig gen gesundheitlich hat bezahlen müssen. und äußerst beachtlich. Das zeigt sich auch in so unbestechlichen Dingen wie den steigenden Steuer- Meine Damen und meine Herren, trotz aller positi- einnahmen. Die Revision der Steuerschätzung nach ven Entwicklungen und Signale bleibt die hohe oben — und dann noch in einer Größenordnung von Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern die 3,1 Milliarden DM — spricht für sich. größte politische Herausforderung. Niemand über- sieht dabei, daß auch in der alten Bundesrepublik eine Drittens. Die großen Veränderungen, die in nicht zunehmend schwierige Arbeitsmarktsituation zu ver- ganz drei Jahren im Osten vor sich gegangen sind, zeichnen ist. Arbeitslosigkeit hat in Deutschland eine zeigen auch Auszüge aus dem B rief eines Hambur- neue Dimension. War sie bisher die bittere und völlig gers, den ich vor einigen Wochen bekommen habe. Er neue Erfahrung für viele Menschen, insbesondere für hatte in die Verantwortung für ein Unterneh- Frauen, in den neuen Ländern, so ist sie heute ein men mit Zukunftstechnologien übernommen. Er politischer Schatten über ganz Deutschland. Bischof- schreibt: ferode ist Schweinfurt näher gerückt. Im Januar des Jahres 1991 kam ich mit meiner Die politische Hauptaufgabe heißt deshalb, die Frau, einem Koffer und großen Erwartungen, Voraussetzungen für wettbewerbsfähige und zu- aber auch mit Skepsis nach Dresden. Die Pro- kunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen. Ein wichtiger bleme türmten sich zunächst zu einem fast Beitrag zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes unüberwindlichen Berg auf. Freunde und Be- Deutschland ist deshalb die Produkterneuerung im kannte gab es nicht, Telefonieren erforderte viel Osten. Wenn in einem Drittel des deutschen Territo- Geduld und Ausdauer, das Equipment war vor- riums nur 4,2 % aller Industriegüter hergestellt wer- sintflutlich. Die Straßen waren fürchterlich, die den, dann spiegelt schon allein diese Zahl die Not- Schlote qualmten mit den Trabis um die Wette, wendigkeit wider, eine innovativ ausgerichtete und gute Restaurants wurden weiterhin unter dem leistungsfähige Industrieforschung zu erhalten. Zwei Ladentisch gehandelt, und bezahlbare Unter- Dinge müssen hier ineinandergreifen — damit wende künfte waren wie ein Sechser im Lotto. ich mich an Sie, Herr Minister —: (Zuruf von der SPD: Und jetzt?) Erstens. Die wirtschaftsnahe Forschung muß über Aber die Menschen! Sie wogen all das auf; sie mittelfristige Zeiträume verläßlich gefördert werden. waren herzlich, hilfsbereit und willig, den Schritt Das Programm der marktorientierten Industrief or- von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft krea- schung muß bis 1997 weitergeführt werden und darf tiv mitzugestalten. nicht bereits 1995 auslaufen. Das Programm der Förderung neuer Produkte und Verfahren in kleine- Wie so oft erkenne auch ich erst im Rückblick, ren und mittleren Unternehmen muß wieder auf den welche gewaltigen Umwälzungen und Verände- ursprünglichen Umfang von 50 Millionen DM rungen sich bereits ergeben haben: Telefonieren gebracht werden. Die Reduzierung um 10 Millionen ist kein Problem mehr, gute Hotels und Restau- DM ist schwer zu akzeptieren. Denn gerade in den rants schießen allerorten aus dem Boden, das neuen Bundesländern entstehen fast täglich Neu- Equipment ist moderner als in den alten Bundes- gründungen kleiner innovativer Unternehmen — zum ländern, die Trabis sind fast von der Straße Teil in Garagen —, die Maßstäbe für die Kreativität in verschwunden, die Straßen werden überall aus- ganz Deutschland setzen. gebaut. Zweitens. Um das Verwurzeln der neuen Industrien (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — zu fördern, ist eine zeitlich befristete, degressiv gestal- Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Das ist die tete Wertschöpfungspräferenz ein geeignetes Mittel. Wahrheit!) Das ist eine der wichtigsten wirtschaftspolitischen Forderungen. Sie ist das geeignete Mittel, den drin- Doch die positivsten Veränderungen erfolgten in gend erforderlichen Nachteilsausgleich in einfacher den Menschen; sie sind selbstsicher und selbstän- und praktikabler Weise umzusetzen. Sie ist zugleich dig geworden. Die meisten haben die Fesseln des Sozialismus abgeworfen und genießen die Frei- ein effektives Instrument der Absatzförderung. heit in vielfältiger Form. Ich erinnere daran, daß der BDI schon im vergan- genen Jahr unterstrichen hat, daß weder die Investi- (Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Bis auf die tionsförderung allein noch Tarifkorrekturen in der PDS!) Lohngestaltung die Trendwende herbeiführen kön- Dies miterleben zu dürfen und ein wenig mitge- nen. Der BDI plädierte für die Schaffung einer befri- staltet zu haben hat mir große Freude bereitet und steten Präferenzzone. Denn es komme auf „Aufträge Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16703

Johannes Nitsch jetzt" an, „die ein wenig mehr Zeit zur Kapitalbildung Meine Damen und Herren, der Sachverständigen- und Umstrukturierung ermöglichen". rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Herr Minister, wir hatten in dieser Frage bereits ein Entwicklung hat in seinem jüngsten Jahresgutachten längeres Gespräch. Sie zählten sich mit zu den Erfin- der Bundesrepublik attestiert, daß die Grundlinien der dern dieser Wertschöpfungspräferenz. Die Argu- Wirtschaftspolitik der Bundesregierung für den Auf- mente, die Sie dagegen vorgetragen haben, sind nicht bau Ost richtig sind. Dazu gehörten insbesondere die überzeugend. Die Zustimmung der EG läßt sich Erneuerung der Wirtschaftsstruktur durch die Privati- sicherlich erreichen. Es ist auch noch nicht zuviel Zeit sierungsanstrengungen, der massive Ausbau der vergangen, um ein solches Instrument in G ang zu Infrastruktur, die Beseitigung von Investitionshemm- bringen. nissen, die Investitionsförderung und auch die Maß- nahmen der Arbeitsmarktpolitik. Der Sachverständi- Ich meine, es gibt in der Bundesrepublik seit langem genrat hat hinzugefügt, daß diese Grundlinie einer Erfahrungen im Bereich des Nachteilsausgleichs für wachstums- und beschäftigungsorientierten Politik bestimmte Regionen. Damit sind auch die Risiken und geduldig und konsequent weiter verfolgt werden die differenzierten Wirkungen solcher Instrumente muß. Dem kann ich nur zustimmen. bekannt. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Nitsch, gestat- ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hampel? ordneten der F.D.P.)

Johannes Nitsch (CDU/CSU): Ja, wenn es mir nicht Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und angerechnet wird, Frau Präsidentin. Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Werner Schulz das Wort.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nein, es wird Ihnen nicht angerechnet. Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nur drei Jahre nach dem Trugschluß der Bundesregie- Manfred Hampel (SPD): Herr Nitsch, habe ich Sie - rung, daß die Wirtschaftseinbindung Ostdeutschlands richtig verstanden, daß die Koalition eine Wertschöp- nach der Einführung der D-Mark wie geschmiert und fungspräferenz für die neuen Bundesländer durchset- von selbst läuft, ist die Politik der großen Worte und zen wird? der fehlenden Ideen kleinlaut geworden. Ein klares (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Konzept, Herr Rexrodt, steht vielleicht auf Ihrem Nein! — Unfug!) Weihnachtswunschzettel. In der Praxis steht ein Fra- gezeichen. Das einzige, was an Ihrer Politik relativ schnell klargeworden ist, ist, daß die Steigerung von (CDU/CSU): Wir haben dieses Johannes Nitsch Sprechblasen offenbar Schaumschlagen ist. Das Instrument seit langem in der Diskussion und auch im beherrschen Sie allerdings sehr gut. Gespräch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Zuruf von der SPD: Und nichts kommt dabei bei der SPD und der PDS/Linke Liste) herum!) Trotz leichter Anzeichen von Besserung befindet Ich bin nach wie vor der Meinung, daß die Bundesre- sich die ostdeutsche Wirtschaft nach wie vor in einer gierung in dieser Richtung nachdenken wird tiefen Transformationskrise. Die kurzen Anpaßzeiten (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Nachden- von drei bis fünf Jahren, von denen Wirtschaftsmini- ken allein genügt nicht! — Weiterer Zuruf ster Haussmann und Bundeskanzler Kohl 1990 spra- von der SPD: Was sagt Rexmann?) chen, sind im Traumbuch der Selbsttäuschungsre- — und auch Entscheidungen treffen wird. Zuerst geht korde gelandet. Übereinstimmend rechnen Experten es im Kopf los, dann werden Entscheidungen getrof- heute damit, daß die Produktivitätsunterschiede erst fen. weit im nächsten Jahrtausend ausgeglichen sind. (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Wollten Mit der Bedienung der ostdeutschen Märkte und Sie uns mit der Mitteilung sagen, daß Ihre der Besetzung von Schlüsselpositionen kam die west- Partei nicht möchte?) deutsche Industrie den Ansätzen eines eigenständi- — Ich habe nicht über die Partei gesprochen, sondern gen industriellen Neuaufbaus im Osten in den meisten ich spreche für mich als ein Abgeordneter aus den Fällen zuvor. Immer dort, wo ostdeutsche Betriebe neuen Bundesländern. nach mühsamen Überlegungen ein Sanierungskon- zept vorlegten, war der westdeutsche Konkurrent (Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker) bereits da und hatte die besseren Karten in der Ich vertrete hier auch die Interessen, die wir für unsere Treuhand. Auch ausländische Investoren, die heute Industrie durchzusetzen haben. händeringend gesucht werden, kamen in dieser ent- (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Das ist ja scheidenden Phase nicht zum Zuge. gut! — Weitere Zurufe von der SPD: Aber es Heute, im vierten Jahr nach der staatlichen Verei- akzeptiert kein Mensch in Ihrer Fraktion! — nigung Deutschlands, gibt es deshalb nicht den Wirt- Es klatscht auch keiner! — Dr. F ritz Schu- schaftsstandort Deutschl and, sondern deren zwei: mann [Kroppenstedt] [PDS/Linke Liste]: Sie einen westlichen, dessen strukturelle Defizite jetzt ans können sich nicht durchsetzen!) Licht kommen, und einen östlichen, der sich trotz 16704 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Werner Schulz mancher positiver Entwicklung weiter im industriel- tionierung womöglich deutsche Entwicklungshilfe- len Niedergang befindet. mittel mißbraucht werden, ist beileibe nicht der ein- zige Schönheitsfehler dieses Deals. Die Bundesregierung hat die Auswirkung der zyk- lischen Krise der Weltkonjunktur sträflich falsch ein- (Zustimmung des Abg. Konrad Weiß [Berlin] gesetzt. Der staatlich finanzierte Vereinigungsboom [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) konnte die Weltrezession nur eine Weile draußen halten. Dann kam sie um so heftiger. Sie traf auf Mit NAFTA und APEC bildet sich — auch als gewinnverwöhnte Unternehmen und ein geistig Antwort auf den EG-Binnenmarkt, den mancher nicht träges Management. Sie traf auf einen Staat, der zu Unrecht als Festung begreift — im amerikanischen sich durch maßlose Verschuldung selbst die Mittel und pazifischen Raum ein Wirtschaftsgebäude her- für eine antizyklische Konjunkturpolitik genommen aus, das die größten Welthandelsräume, die dyna- hat. mischsten Volkswirtschaften unter einem Dach ver- eint und die Brüsseler Zinnen weit überragt. Langfristig noch weit dramatischer ist die ökologi- sche Strukturkrise. Hier ist das Versagen der Bundes- In Europa sind mit dem politischen und wirtschaft- regierung von verhängnisvoller Auswirkung. Ihre lichen Umbruch ebenfalls neue Verhältnisse entstan- Umweltpolitik — Herr Rexrodt hat ein Beispiel dafür den. Die traditionellen Märkte Ostdeutschlands sind geliefert — ist reine Rhetorik. Nachhaltiges ökologi- vorerst weggebrochen. Dafür sind direkt vor der sches Wirtschaften wird wieder als Luxus, als unbe- deutschen und westeuropäischen Haustür Niedrig- zahlbar, als Zusatzaufgabe für bessere Zeiten, als lohnländer erwachsen, in die wir Arbeitsplätze expor- Sahnehäubchen auf die volle Tasse angesehen. Sie tieren. Wenn wir die Integration der Reformstaaten verschieben das natürlich auf Europa und sagen, das Osteuropas in die EG und den europäischen Wirt- sei eine Aufgabe, die global gelöst werden müsse, schaftsraum voranbringen wollen, dann dürfen wir, anstatt nationale Vorleistungen zu bringen. selbst wenn wir es könnten, diesen Prozeß nicht unterdrücken. Das Teilen ist eben keine rein nationale Doch wer die Wahrheit über Ökologie sagen will, Veranstaltung. der muß heute betonen, daß es keinen Tag zu ver- schenken gibt. Die ökologische Strukturreform ist Die traditionelle Antwort auf dieses Dilemma unser Ausweg, und zwar jetzt auch wirtschaftlich. Nur befriedigt immer weniger. Man kann durchaus Zwei- wer heute die Fragen von morgen ansatzweise stellt fel haben, ob die forcierte Produktionsauslagerung in und löst, hat morgen die Produkte und Verfahren mit Niedriglohnländer tatsächlich zur heimischen Be- weltweiter Nachfrage. Dies schafft auch zukunftssi- schäftigung beiträgt, ob die Strategie immer weiter chere Arbeitsplätze und nutzt vor allem die Ressource, erhöhter internationaler Wettbewerbsfähigkeit ei- die wir am meisten besitzen: unsere menschliche gentlich trägt — und, wenn ja, zu welchem ökologi- Arbeitskraft. Letztlich wird die Qualität des vorhande- schen und sozialen Preis. nen Humankapitals über die Attraktivität und Wett- Mit der immer direkteren Einbeziehung in und bewerbsfähigkeit eines Produktionsstandortes ent- Abhängigkeit von globalen Entwicklungen schwin- scheiden. den die Einflußmöglichkeiten einzelstaatlicher politi- Der Staat muß eingreifen, urn die arbeitsmarktpoli- scher Steuerung. Deshalb ist es so überaus unbefrie- tischen Folgen des Strukturwandels zu mildern, nicht digend, was momentan im GATT verhandelt wird. durch Subventionen für nicht mehr wettbewerbsfä- Zumindest müßte doch parallel über die Möglichkei- hige Industrien, sondern durch zielgerichtete Investi- ten internationaler Regulierung im Welthandel die tionen in Ausbildung und Umschulung. Wie es damit Beschränkung des Handels mit Waffen, mit in Kinder- aussieht, zeigt der eingeschrumpfte Bildungsetat. arbeit hergestellten Produkten, von internationalem Auch hier irrt sich der Kanzler gewaltig, wenn er Umweltdumping und dergleichen bedacht werden. — wie in seiner gestrigen Rede — behauptet, daß wir Doch diese Fragen bleiben offenbar einer späteren mehr Studenten als Lehrlinge hätten. Richtig ist: Fast Reparatur- und Krisenrunde vorbehalten. doppelt so viele junge Menschen entscheiden sich für eine Berufsausbildung anstatt für ein Hochschulstu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dium. Wer Lehrlinge gegen Studenten aufrechnet, Der Spielraum für die Politik wird so immer enger, zeigt, daß er nichts beg riffen hat. aber die Problemlösungskapazität, die Phantasie und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Bereitschaft der Regierungen, neue Lösungen zu suchen, halten mit dem Problemdruck nicht Schritt. Wir brauchen beide Ausbildungswege, um als Intelli- Die Bundesregierung geht seit Jahren mit zweckopti- genzstandort eine Entwicklungschance zu behalten. mistischen Wachstumsannahmen in die Öffentlich- keit und in die Haushaltsberatungen, mit Annahmen, Die alten Rezepte taugen immer weniger. Das zeigt die von der Wirklichkeit regelmäßig widerlegt wer- sich. Weder die Welt noch die Wirtschaft — wie den. Zuletzt war es der Rathenau einst glaubte —, sondern die Weltwirtschaft Sachverständigenrat, der die Wunschprognosen der Bundesregierung zurechtge- bestimmt heute das Schicksal Deutschlands, genauer rückt und die Hoffnungen auf ein Ende der Rezession gesagt Europas. Heute ist neues Denken auch in Westeuropa gefragt. in spätere Zeiten verschoben hat. Unbegrei flich, wie sich Minister Rexrodt durch dieses Gutachten be- Der Aufschwung Ost findet in Fernost statt. Dort stätigt fühlen kann! Vermutlich wurde ihm ein an setzt sich unser Kanzler mit dem ihm eigenen Gewicht -deres vorgelesen, oder die mehrfach ausgestrahlte persönlich für chinesische Aufträge an deutsche Groß- Silvesteransprache des Bundeskanzlers einge- unternehmen ein. Daß zur staatlichen Exportsubven- spielt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16705

Werner Schulz Nicht nur in der Bewertung der konjunkturellen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Situation, auch in der Beurteilung der Standortfrage und bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abge- setzt der Sachverständigenrat andere Akzente. Er ordneten der SPD — Kurt J. Rossmanith sieht den Standort Deutschland keineswegs akut [CDU/CSU]: Beifall von der PDS, von den gefährdet, schon gar nicht durch zu hohe Löhne. Kommunisten! Das ist gut! — Dr. Fritz Schu- Allenfalls die Wechselkursentwicklung und vor allem mann [Kroppenstedt] [PDS/Linke Liste]: Ha- die Innovationsschwäche in der Wirtschaft bereiten ben Sie etwas dagegen, Herr Rossmanith? ihm Sorgen. Diese Innovationsschwäche ist jedoch Sie hätten vielleicht einmal zuhören sollen!) nicht nur — aber auch — die Folge einer völlig konzeptionslosen Forschungs- und Technologiepoli- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und tik, Herren, nächster Redner ist unser Kollege H ans Mar- (Zuruf von der CDU/CSU: Unfug!) tin Bury. die industrielle High-Tech-Ruinen schafft, statt wirk- lich zukunftsträchigen Entwicklungen auf die Beine Hans Martin Bury (SPD): Herr Präsident! Liebe zu helfen. Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn die Dinosau- rier gerade eine Renaissance erleben, Wirtschaftspo- Die Bundesregierung sucht dagegen die Lösung der litiker à la Rexrodt haben offensichtlich wenig politi- Probleme in Deregulierung, Sozialabbau und Um- sche Überlebenschancen. weltabbau. Doch mit der Kostensenkungspolitik (Beifall bei Abgeordneten der SPD) durch den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft hilft die Regierung der innovationsmüden Wirtschaft nicht So wie die Dinosaurier unfähig waren, sich veränder- ten Umweltbedingungen anzupassen, versucht auch auf die Beine. Ohne verbindliche Rahmensetzung, ohne Orientierung, ohne Unterstützung des Staates die Bundesregierung vergeblich, mit Rezepten der werden die Unternehmen weder den ökologischen Vergangenheit die Probleme der Gegenwart zu mei- Umbau bewältigen noch die Erhaltung bestehender stern und sie verspielt dabei unsere Zukunft. und die Schaffung neuer Arbeitsplätze erreichen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der Bundeswirtschaftsminister legt ein sogenanntes Ökologische Innovation setzt klare, verläßliche öko- Standortpapier vor, in dem unsere Situation in düste- logische Politik voraus. Doch daran mangelt es. Ver- rem Schwarz-Blau-Gelb gemalt wird. Die Analyse ist tane Möglichkeiten bleiben aber vertan. Eine Politik nicht nur einseitig, sie greift auch zu kurz, und sie ist in des wirtschaftlichen Neuaufbaus im Osten, des öko- doppelter Hinsicht verantwortungslos. Zum einen logischen Umbaus und damit der Bekämpfung der stellt uns die Bundesregierung — um ein treffendes Massenarbeitslosigkeit in Ost und West ist heute Bild des „Handelsblatts" zu gebrauchen — dar wie angesichts sinkender Staatseinnahmen und der aus- eine Metzgerei, aus deren Laden täglich der Famili- gereizten Verschuldung der öffentlichen Haushalte enkrach dröhnt: Unser Meister kann nichts, unsere weitaus schwieriger zu rea lisieren als noch vor eini- Gesellen sind faul und schmutzig, unsere Wurst ist gen Jahren. Um so größere Bedeutung besitzt ein verdorben, strukturell wirksames Konzept für eine Wirtschafts- politik, die die Überlebenschancen der noch vorhan- (Zurufe von der CDU/CSU: Auch Sie sind denen industriellen Substanz in Ostdeutschland, verdorben!) soweit irgend möglich, wahrt und darüber hinaus den unsere Öffnungszeiten sind zu kurz, und a lles in allem sich ohnehin vollziehenden Strukturwandel der Wirt- sind wir auch noch viel zu teuer. Welcher Kunde schaft ökologisch und sozial gestaltet. Auch wenn das würde diesen Laden dann noch betreten? fragt zu Steuer herumgeworfen wird — das ist überfällig —, Recht das „Handelsblatt". wird der wirtschaftliche Gesundungsprozeß mühsam, (Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: So ein von Rückschlägen begleitet und langwierig sein. Quatsch!) Eines ist indessen gewiß: Der Bundeskanzler hat — Ich zitiere das „Handelsblatt", Herr Kollege. sich wieder einmal verrechnet, so wie bei der Aufstel- Zum zweiten verwischt die Bundesregierung die lung des Kandidaten für das Bundespräsidentenamt. Verantwortung, die gerade sie selbst für die unbestrit- Wie Sie wissen, hat sich Herr Steffen Heitmann tenen Fehlentwicklungen trägt. Die F.D.P. stellt seit zurückgezogen. Offenbar hat nichts Bestand, was der 21 Jahren die Bundeswirtschaftsminister und beläßt es Bundeskanzler gestern noch verteidigt hat. bei Sprüchen wie „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt" und bei Schuldzuweisungen an andere. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kaschiert wird die eigene fatale Untätigkeit mit pla- sowie bei Abgeordneten der SPD — Zuruf kativen Worthülsen wie „Asien-Offensive", „Bil- von der SPD: Er praktiziert die Chaos-Theo- dungsgipfel". Was steckt dahinter? Nicht mehr als rie!) hinter den Kulissen einer Westernstadt. Das wirtschaftliche Jammertal ist tiefer und breiter als Risikokapital bleibt in Deutschland Mangelware. vermutet; die Rezession macht ihm nicht die Freude, Eigenkapitalhilfe für Existenzgründer gibt es im rechtzeitig vor Beginn des Wahlkampfes das Feld zu Westen überhaupt nicht mehr, und die ERP-Pro- räumen. Das Wunschthema des Bundeskanzlers, gramme genügen voraussichtlich zum letzten Mal den innere Sicherheit, wird nicht auf der Hitliste stehen. Er Anforderungen. selbst und seine gescheiterte Wirtschafts- und Forschung und Technologie, Bildung und Wissen- Arbeitsmarktpolitik werden ins Rampenlicht rük- schaft werden vernachlässigt, Mittel der Exportförde- ken. rung für kleine und mittlere Unternehmen gekürzt, an 16706 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Hans Martin Bury Stelle entschlossenen Handelns startet die Bundesre- schicken. Das, Herr Nitsch, wäre ein wesentlich effi- gierung eine Offensive im Beschönigen. zienteres Instrument als die von Ihnen vorgetragene (Zuruf von der CDU/CSU: Exportleistun- Mehrwertsteuerpräferenz, aber nicht einmal die kön- gen!) nen Sie in der eigenen Koalition durchsetzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Innovationskrise in Deutschland ist nicht nur ein Strukturproblem der Wirtschaft, sondern auch Der Standort Deutschland würde auch dadurch Ergebnis der Erstarrung der Bundesregierung. gestärkt, daß wir deutsche Unternehmen dabei unter- stützen, auf ausländischen Märkten Fuß zu fassen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dazu gehört z. B. die Einrichtung von Service- und Davon können auch hektische Ablenkungsmanöver Handelshäusern für mittelständische Unternehmen in mit geradezu grotesken Forderungen, wie etwa der Südostasien. Solche konkreten Maßnahmen bringen nach Abschaffung des Ladenschlusses, nicht ablen- mehr als ein am grauen Tisch zusammenpuzzeltes ken. Als ob es an zu kurzen Öffnungszeiten läge, daß Asienpapier. die Menschen ihr Geld im angeblichen Freizeitpark Mit den von uns vorgeschlagenen Handelsentwick- Deutschland nicht ausgeben! So wie Sie Politik lungsgesellschaften könnten wir nicht nur den osteu- machen, müßten eigentlich selbst Bundesminister ropäischen Markt langfristig erschließen, sondern genug Zeit zum Einkaufen haben. auch kurzfristig Beschäftigung in den neuen Ländern Was wir wirklich brauchen, ist eine grundlegende sichern. Zukunftsorientierung, gerade in der Wirtschaftspoli- Dabei muß klar sein — hierin sind wir uns einig —: tik. Wir brauchen eine aktive Förderung des Struktur- Um nicht zu weiteren Dauersubventionen zu kom- wandels, der insbesondere von kleinen und mittleren men, sollen Subventionen zukünftig generell von Unternehmen getragen wird. Dazu gehört ein ausrei- vornherein befristet und, wo möglich und sinnvoll, chendes Angebot von Risikokapital. degressiv gestaltet werden. Wir sind uns darin einig, Ich begrüße deshalb ausdrücklich, daß meine Anre- wir müssen es nur tun. gung vom letzten Jahr, die Kreditgrenzen im ERP- Außerdem wollen wir verdeckte Subventionen Programm anzuheben, aufgegriffen wurde. Wir wer- abbauen, indem wir externe Kosten internalisieren. den dem ERP-Wirtschaftsplan 1994 auch zustimmen. - Das bedeutet insbesondere, daß sich die gesellschaft- Wir warnen aber schon heute vor den verheerenden lichen Folgekosten umweltschädlichen Verhaltens in Folgen der geplanten Reduzierung in den Folgejah- den Preisen und damit in den privaten Kostenrech- ren. nungen niederschlagen müssen. Mit ERP-Mitteln wurden nach Angaben der Bun- Mit einer ökologischen Steuerreform lösen wir desregierung allein in den neuen Ländern 1,3 Millio- einen gewaltigen Modernisierungsschub unserer nen Arbeitsplätze neu geschaffen und 1,2 Millionen Volkswirtschaft aus und setzen mit marktwirtschaftli- bestehende gesichert. Bei einem durchschnittlichen chen Instrumenten einen enormen Innovationsprozeß Förderbetrag von gerade einmal 95 DM pro Arbeits- in Gang. Wir sichern und schaffen Arbeitsplätze, platz und Jahr ist leicht zu erkennen, daß diese Zukunftsmärkte und Lebensgrundlagen. Programme nicht nur hocheffiziente Instrumente zur (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Heißt das, daß Förderung von Investitionen darstellen. Es zeigt sich Sie die Bürger noch mehr besteuern wol exemplarisch, daß es allemal besser und billiger ist, len?) Arbeitsplätze zu finanzieren statt Arbeitslosigkeit. — Nein, das heißt — Herr Hinsken, wenn Sie unser (Zustimmung bei der SPD) Konzept lesen —, daß wir aufkommensneutral Ener- gie und umweltschädliches Verhalten verteuern und Darüber hinaus müssen auch Ausgaben für Bil- Arbeit steuerlich entlasten. dung, Forschung und Technologie nicht als verlore- nes Geld, sondern als Zukunftsinvestition in den (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Wirtschaftsstandort Deutschland beg riffen werden. PDS/Linke Liste) Doch da hapert es gewaltig. Die Staatsausgaben für Mit ihrer verhängnisvollen Politik des „weiter so" das öffentliche Bildungswesen betragen in Deutsch- verspielt die Bundesregierung und die sie tragende land gerade einmal 4 % des Bruttoinlandsproduktes. Koalition unsere Zukunft. Damit rangieren wir an drittletzter Stelle der OECD- Länder. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Und das Geld kommt als Manna vom Himmel!) Auch bei der öffentlichen Förderung von Forschung Wir brauchen jetzt einen „new deal", und Entwicklung sieht es traurig aus. Mit Personalko- stenzuschüssen für den F+E-Bereich kleiner und (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Was ist mittlerer Unternehmen, wie wir sie zu Zeiten der denn das?) sozialdemokratischen Bundesregierung hatten, könn- eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik. Wir brau- ten auch in den alten Ländern deren Innovationsfä- chen eine neue Bundesregierung. higkeit gestärkt und die Chancen für Naturwissen- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und schaftler und Ingenieure verbessert werden. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In den neuen Ländern wäre es längst überfällig, Produktivitätsrückstände durch staatliche Lohnko- stenzuschüsse auszugleichen, statt Unternehmen in Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- den Konkurs und Arbeitnehmer auf die Straße zu ten Damen und Herren! Es liegen noch zwei Wortmel- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16707

Vizepräsident Helmuth Becker dungen vor. Wir werden noch etwa 20 Minuten und daß ich an der Eignung von Herrn Heftmann als debattieren. Justizminister nicht zweifle, wohl aber an der Eignung Anschließend unterbrechen wir die Sitzung, weil als Bundespräsident? Würden Sie zur Kenntnis neh- die CDU/CSU-Fraktion zu einer Sitzung zusammen- men, daß ich mich darüber nicht geäußert habe, tritt, so daß der Einzelplan 11, Bundesminister für sondern daß ich beklagt habe, daß der Kanzler das, Arbeit und Sozialordnung, erst um 13 Uhr aufgerufen was er gestern noch verteidigt hat, heute offenbar wird, so die Sitzung dann fortgesetzt wird. nicht mehr zu halten imstande ist? (Zuruf von der SPD: Herr Präsident, ist das (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Aber das die Heitmann-Pause? — Dr. Fritz Schumann sind wir doch gewohnt! Nichts Neues!) [Kroppenstedt] [PDS/Linke Liste]: Die Heit- mann-Gedenkpause!) Nun hat das Wort unser Kollege Dr. Kurt Faltlhau- Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Kollege ser. Schulz, sollte ich Sie mißinterpretiert haben, tut mir das leid. Aber ich hätte dann doch erwartet, Herr Kollege Schulz, daß Sie sich in den vergangenen (CDU/CSU): Herr Präsident! Dr. Kurt Faltlhauser Wochen und Monaten in ähnlich deutlicher Weise wie Meine Damen und Herren! Während wir hier debat- Frau Bohley hinter Herrn Heitmann als Kandidaten tierten, hat uns die Meldung bewegt, daß der sächsi- aus den neuen Bundesländern gestellt hätten. sche Justizminister Steffen Heitmann seine Kandida- tur für das Amt des Bundespräsidenten zurückgezo- (Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] gen hat. — Zuruf von der SPD: Das hat sie gar (Zurufe von der SPD: Endlich! — Gut! — nicht!) Endlich!) Meine Damen und Herren, in einer meiner Ver- Nun hat Herr Kollege Schulz, der vor mir gespro- sammlungen in der vorletzten Woche ist in der Dis- chen hat, dies mit einer gewissen Freude zur Kenntnis kussion eine sehr engagierte ältere Dame aufgestan- genommen. Herr Schulz, ich weiß nicht, wieso Sie als den und hat etwa folgendes gesagt: Jetzt haben wir Kollege aus den neuen Bundesländern diesen Vor- eine derartig schlechte Konjunkturlage, eine stei- gang beifällig kommentieren können. gende Zahl von Arbeitslosen, und ihr in Bonn da droben, ihr streitet euch zwischen Koalition und (Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] [PDS/ Opposition. Dann sagte sie auf bayerisch: Setzts euch Linke Liste]: Weil es bessere Namen als z'samm! Machts was! Heitmann gibt! Weil es bessere Leute gibt!) (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Recht hat Ich glaube nicht, daß dieser Vorgang das Zusammen- sie!) wachsen der alten und neuen Länder intensivieren wird. Ich denke, es ist ein trauriger Vorgang. Herr Ich kann nur sagen: Die Frau hat aus ihrer Sicht Heitmann ist sicher auch Opfer einer gnadenlosen recht. Angesichts der schwierigen Probleme, die wir Kampagne geworden. verantwortlich von Bonn aus mitbewältigen können, (Beifall bei der CDU/CSU) wäre es in hohem Maße angebracht, daß Gemeinsam- keit zwischen den demokratischen Kräften auf beiden Wir werden dies gerade aus dem Blickwinkel der Seiten dieses Hauses hergestellt würde. neuen Bundesländer nicht unbedingt mit großem Beifall kommentieren können. Aber wahr ist auch, daß das Gefühl der Bevölkerung nach der notwendigen Gemeinsamkeit nicht über- decken kann, daß es erhebliche Unterschiede — vor Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Faltl- allem in der Therapie, bei den Rezepten — zwischen hauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- diesen beiden Seiten, zwischen Regierung und Oppo- gen Schulz? sition gibt. (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Richtig! Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Bitte. Ihr habt keine!) Wir würden der Bevölkerung und unserer demokrati- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Kollege schen Ordnung keinen Gefallen tun, würden wir diese Schulz. Unterschiede verwischen. Aber eines ist unzweifelhaft: Angesichts der realen Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mitverantwortung der Opposition über den Bundes- NEN): Herr Faltlhauser, würden Sie freundlicher- rat sollten sich beide Seiten auch verstärkt bereits in weise zur Kenntnis nehmen, daß Sie vielleicht in Ihrer diesem Hause darauf besinnen, wo Kompromißlinien emsigen Beratung, die dieser Vorfall in Ihrer Fraktion möglich sind. Konsens brauchen wir nicht nur bei der ausgelöst hat, mir nicht in dem Maße zugehört haben, Energiepolitik. Ich meine, Konsens brauchen wir auch um das verstanden haben zu können, nämlich daß ich für eine Strategie des Aufbruchs und der Arbeits- mich nicht über die Eignung und über die Reputation plätze. von Herrn Heitmann geäußert habe — ich vertrete Ich habe aber in den Beiträgen, in den meisten hier eine ähnliche Meinung wie Bärbel Bohley, die wenigstens, die ich heute am Vormittag hier gehört gesagt hat, daß da auch eine ziemliche Kampagne habe, keinerlei Willen zu einem Konsens auf Ihrer gelaufen ist — Seite festgestellt, sondern nur irgendwelche Schuld- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zuweisungen und Polemiken. 16708 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Kurt Faltlhauser Einig sind wir wohl in der Feststellung, daß es geblieben sind, um an der Diskussion nicht teilneh- gegenwärtig zwei Grundprobleme gibt: zum einen men zu müssen. das Problem der zu geringen p rivaten und öffentlichen (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Investitionen, insbesondere auch im Westen dieses Aber genau der Fall Lemwerder ist u. a. ein Problem Landes, und zweitens das Problem der teilweisen des Lohnniveaus. Im Ort Lemwerder gibt es genauso Entkoppelung von Wachstum und Arbeitsmarkt. Las- wie im Werk Neuaubing der DASA eine hohe Quali- sen Sie mich zunächst zum Problem der Investitions- fikation der Beschäftigten. blockade etwas sagen. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Ein entscheidender Punkt für die Chance, daß in Diese Qualifikation ändert aber nichts an der Tatsa- unserem Land wieder verstärkt investiert wird und che, daß die Wartung der zivilen Großflugzeuge in damit wieder verstärkt Arbeitsplätze aufgebaut wer- Deutschland in keiner Weise mehr wettbewerbsfähig den, ist das Kostenniveau. Sind wir in dieser Frage auf ist, weil diese Wartung eben extrem lohnintensiv einem Weg der Gemeinsamkeit in diesem Haus? ist. (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Nein!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Jens hat einige Ausführungen zu den Lohnko- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Faltl- sten und zu den Lohnnebenkosten gemacht. hauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Liebe Kollegen, auf Ihrem Parteitag in Wiesbaden Skarpelis-Sperk? haben Sie ein umfangreiches Papier zu Wachstum und Beschäftigung verabschiedet. Auf Seite 3 dieses Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Selbstverständ- Papiers heißt es: lich. Dann muß sie nicht ständig dazwischenrufen. Fragen Sie! Die Qualität des Standortes Deutschland ist . . . nicht in erster Linie abhängig von den Lohnko- Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Herr Faltlhauser, sten und den Kosten der sozialen Sicherungssy- sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß eines der steme, sondern vor allem von Forschung und wesentlichen Beschäftigungsprobleme der DASA Entwicklung, ... von der Qualifikation der etwas mit dem Ausfall öffentlicher Rüstungsnachfrage Beschäftigten, ... von der Sicherung und dem zu tun hat und nicht so sehr ein Problem der Wartungs- Ausbau der Infrastrukturen . . . kosten ist? (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Völlig realitäts- Zweitens. Sind Sie, wenn Sie aus Parteitagsbe- fern!) schlüssen der SPD in Wiesbaden zitieren, auch bereit, die Absätze zu Ende zu zitieren, in denen nämlich Ich halte diese Feststellung, meine Damen und steht, entscheidend seien nicht so sehr die Lohnko- Herren von der Opposition, für eine Fehlanalyse. sten, sondern entscheidend sei die Innovationsfähig- keit der deutschen Wirtschaft und damit die Fähigkeit, (Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/ neue Produkte auf den Weltmärkten zu plazieren? CSU]) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist doch ein Hier ist schon vom Grund her keine Gemeinsamkeit Zusammenhang, Frau Kollegin!) da. Natürlich sind Investitionen auch von der Qualifi- kation der Beschäftigten, von Forschung und Entwick- Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Frau Kollegin, zur lung, vom Management und von zukunftsorientierten zweiten Frage zuerst. Ich habe wörtlich zitiert. Da Produkten abhängig. Das alles steht nachlesbar in heißt es in Abwägung der vielen Komponenten, die dem — wie ich ausdrücklich noch einmal betonen auf die Investitionen einwirken, eben ausdrücklich, will — ganz erstaunlich guten Bericht der Bundesre- daß die Lohnnebenkosten und die Lohnkosten nicht gierung über den Standort Bundesrepublik Deutsch- entscheidend sind. Dann wird ein ganzer Ratten- land. schwanz von anderen Komponenten angeführt, die (Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] ohne Zweifel — das habe ich nicht bestritten — auch — Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Erstaun- bedeutsam sind. Aber der Vorrang der Kostenproble- lich?) matik und hier der Lohnkosten- und der Lohnneben- kostenproblematik wird in diesem Papier ausdrück- Er ist besser als alle Papiere, die von Instituten und lich bestritten. Ausdrücklich sage ich hier noch einmal Wissenschaftlern bisher vorgelegt wurden. — und ich glaube, auch für meine Fraktion —, daß dies eine fundamentale Fehlanalyse ist, und hier müssen In erster Linie sind es aber tatsächlich die Lohnko- Sie sich einfach noch einmal bewegen. sten und die Lohnnebenkosten, die zur Investitions- flucht aus unserem Land geführt haben. Das haben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wir in einer Aktuellen Stunde, die wir vor 14 Tagen in der F.D.P.) diesem Raum hatten, an einem Beispiel sehen kön- Zum zweiten: Der erste Teil Ihrer Frage war, daß nen. Da ging es um die DASA-Werke in Lemwerder auch entsprechende Aufträge ausgeblieben sind. Ich und Neuaubing. Das war eine Auseinandersetzung, werde in meiner Rede noch darauf eingehen. Dies ist bei der ich mit Freude die späte Liebe der SPD zu richtig, aber gerade der Standort Lemwerder zeigt, Franz Josef Strauß und seinen Errungenschaften um daß auch das hohe Kostenniveau von spezialisierte- den Airbus feststellen konnte. Mir ist damals aufge- sten Arbeitnehmern dazu beiträgt, daß diese Arbeit fallen, daß die Fundamentalkritiker der Wehrtechnik ins Ausland verlagert wird. Das heißt, daß unser bei dieser Debatte vorsichtshalber im Restaurant Standortvorteil, den dieses L and immer gehabt hat, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16709

Dr. Kurt Faltlhauser nämlich hohe Qualifikation und gute Berufsausbil- Das klingt so nach diesem Kindergartengerede von dung, nicht mehr ausreicht, um den Wettbewerb mit Herrn Kronawitter. Sind denn tatsächlich die großen den übrigen Ländern zu bestehen, weil diese in ihrer Geldvermögen noch in unserem Land? Sie sind es Qualifikation nachgezogen haben, aber auf einem leider überwiegend nicht mehr, heute bereits nicht niedrigeren Lohnniveau verblieben sind. mehr, Sie müssen also mit der Relativierung des Problems (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Was ist des Lohnkostenniveaus aufhören. Sie können — und denn daran schuld?) das ist auch ein Teil der Antwort an Sie, Frau Kolle- weil zu hohe Steuersätze und leider auch die uns vom gin — die hohe Verantwortung der Tarifpartner für die Bundesverfassungsgericht aufgezwungene Zinsbe- Arbeitsplätze nicht wegdefinieren. steuerung sie ins steuerfreie oder steuerniedrige Aus- Nun gibt es in manchen Köpfen das heimliche land vertrieben haben. Und diesen Fluchttrend ver- Patentrezept, daß man die mangelnde Kostendisziplin stärken Sie durch derartige leichtfertige programma- in unserem Lande durch eine wettbewerbsstärkende tische Ankündigungen natürlich noch zusätzlich. Wir brauchen aber gerade in der gegenwärtigen Situation Abwertung der D - Mark wettmachen könnte. Das, meine lieben Kollegen, wäre Gift für unsere gegen- die Attraktivität des deutschen Kapitalmarkts, und vor wärtige Situation. Zum einen gibt es keine Abwertung allem brauchen wir jene, die in der Lage sind, hier in zum Nulltarif. Die Abwertung würde die Inflationsten- diesem Land zu investieren. denzen in unserem Land stärken, vor allem aber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) würde eine derartige Manipulation der Währungssi- tuation Fehlentwicklungen zudecken und unterneh- Für diese Investitionen müssen wir die Steuern eben merische Versäumnisse weiter kaschieren. eher senken als sie anheben. Noch zwei weitere Bemerkungen zu den Investitio- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen, und das ist gewissermaßen auch eine Replik an In den 80er Jahren ist das Preisniveau unserer Sie, Frau Kollegin Skarpelis-Sperk: Ich meine, daß wir EWS-Partner um fast 60 % gestiegen, wir unsererseits die Investitionen von seiten des Bundes stärken kön- haben jedoch nur um 42 % aufgewertet. Diese Diskre- nen, wenn wir die langfristige Zuverlässigkeit und panz zwischen der Preissteigerung der Partner und Berechenbarkeit öffentlicher Auftragsvergabe si- unserer niedrigeren Aufwertung brachte uns eine chern. Wenn sogar Regierungsprogramme wie Tor- heimliche Abwertung, die vielen Unternehmen, ja nado und Eurofighter unter den Unberechenbarkei- ganzen Branchen eine Export- und Wettbewerbs- ten des deutschen Außenwirtschaftsrechts leiden, stärke suggerierte, die sie bereits verloren hatten. Die brüskieren wir zum einen unsere Bündnispartner und heutigen Strukturprobleme in unserer Wirtschaft sind zerstören zum anderen die Kooperationsfähigkeit der auch von falschen Wechselkursrelationen mitverur- deutschen Industrie. Wir können nicht auf der einen sacht. Sie haben Schlafwagenmentalität gefördert, Seite etwa von der DASA dringend verlangen, und wir sollten deshalb diesen falschen Weg nicht Arbeitsplätze zu erhalten, wenn wir auf der anderen weiter oder erneut beschreiten. Seite für komplexe Technologien nicht langfristige Perspektiven herbeiführen und wenn wir sogar durch (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das unsere Exportbestimmungen die Hersteller von wehr- kann doch wohl nicht wahr sein!) technischen Gütern systematisch gegenüber anderen Wir sollten diesen Rezepten eindeutig ein Nein ent- Konkurrenten benachteiligen. Das müssen wir schnell gegensetzen. beenden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU — Helmut Wieczo- rek [Duisburg]: Welche Interessen vertreten Da besteht Handlungsbedarf. Sie eigentlich!) Zweitens. Wir müssen auch beachten, daß durch Lassen Sie mich in aller Kürze noch eine Bemerkung Auftragsvergaben im Inland, hier bei uns, unsere zu dem Kostenbestandteil Steuern machen: Wir Exportfähigkeit verbessert werden kann. Wenn wir haben im Standortsicherungsgesetz die Körperschaft- z. B. die verbesserte Armierung für den Leopard 2 mit steuer ab 1. Januar 1994 auf 45 % herabgesetzt. Ich einer Größenordnung der Beschaffungsmittel in Höhe erinnere daran, daß wir einmal 56 % hatten. Das ist von ungefähr 324 Millionen DM nicht leisten würden, noch nicht so lange her. 11 %-Punkte herunter — das würde das den Export nach Schweden in Höhe von ist ein deutliches Signal für die Förderung der In- 1,2 Milliarden DM und den Export in die Niederlande vestitionen, für den Standort Bundesrepublik in der Größenordnung von 600 Millionen DM unmög- Deutschland. Das sagen auch die Experten in Ihren lich machen. Das entfiele dann. Dadurch würden Reihen, nur leider nicht in diesem Raum, sondern Arbeitsplätze vernichtet. draußen in der Lobby hinter vorgehaltener Hand. Wir werden den Transrapid nur dann ins Ausland Nun sagen Sie in Ihrem Parteitagspapier, Seite 4: verkaufen können, wenn wir in Deutschland eine Referenzstrecke nicht nur planen und begutachten Wir wollen in Ost und West arbeitsplatzschaf- und bereden, sondern realisieren. fende Investitionen fördern und Arbeitsplätze (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sichern. Um dies solide ... zu finanzieren, müssen auch steuerliche Privilegien für private Spitzen- Vor zehn Tagen konnten wir in der „Fr ankfurter einkommen und große Vermögen abgebaut wer- Allgemeinen Zeitung" lesen, daß die Amerikaner den. ihrerseits jetzt mit aller Kraft eine Magnetschwebe- 16710 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Kurt Faltlhauser bahn im eigenen Land bauen wollen, um — so setzt allein auf die Kräfte des freien Marktes, hofft auf ausdrücklich die Begründung — durch die eigene neue Wachstumsschübe und spart bei den innova- Referenzstrecke den technologischen Vorsprung der tionswichtigen Etats für Forschung und Technologie Deutschen und der Japaner wettmachen zu können. sowie Bildung und Wissenschaft. Widersprüchlicher, Ich meine, wir können es uns nicht leisten, auf konzeptionsloser geht es kaum mehr. einem Gebiet, auf dem wir einen großen technologi- Die Bundesregierung übersieht jedoch folgendes: schen Vorsprung haben, die Anwendung und die In den meisten Wirtschaftszweigen — das sage ich wirtschaftliche Umsetzung wiederum zu verschla- ausdrücklich auch an die Adresse meines Vorred- f en. ners —, insbesondere in den exportintensiven Indu- Da meine Redezeit erkennbar gekürzt wurde, bleibt striezweigen, sind die Lohn- und Lohnnebenkosten mir am Schluß nur noch Zeit für eine Anmerkung zur inzwischen ein geradezu nachrangiger Faktor. Haupt- Entkoppelung des Arbeitsmarkts vom Wachstum. Wir problem der Betriebe sind heute die kapital- und müssen ohne Ideologie über die Arbeitsvermittlung technologiebedingten Fixkosten, die kalkulatori- nachdenken. Ich glaube, daß die bisherigen Vor- schen Zinsen, Abschreibungen, Wagnisse, Reparatur- schläge zur privaten Arbeitsvermittlung unzurei- und Instandhaltungskosten usw. für Maschinen und chend sind. Ich stelle ausdrücklich in Frage, ob es maschinelle Anlagen, für Betriebs- und Geschäftsaus- ausreicht, daß allein die Umsetzung der Zumutbar- stattungen, für Bauten, Verkehrs- und Lagereinrich- keitsverordnung verbessert werden soll. Ich bin der tungen usw. usf. Jeder Arbeitsplatz kostet heute im Meinung, daß zwingend die Formulierungen in der volkswirtschaftlichen Durchschnitt bereits fast Zumutbarkeitsverordnung geändert werden müssen, 250 000 DM. und zwar schnell. Da sollten wir herangehen. Leider kann ich meine weiteren Anmerkungen Die Fixkosten sind deshalb gerade an modernen nicht mehr vortragen. Eine Schlußbemerkung: Ich Arbeitsplätzen schon weitaus höher als die Personal- meine sehr ernsthaft, daß wir gerade im Bereich kosten. Die hohen und weiter wachsenden Kosten für zwischen Wachstum einerseits und den alten, abge- neue Arbeitsplätze, die ich damit angesprochen habe, standenen Möglichkeiten der Bundesanstalt für belegen zugleich: Soviel Wirtschaftswachstum, wie Arbeit andererseits eine neue Möglichkeit suchen notwendig wäre, um 3, 4, 5 oder gar 7 Millionen sollten, den immer höher werdenden Sockel an Arbeitsplätze zu schaffen, kann es gar nicht geben. Arbeitslosigkeit durch gezielte Maßnahmen abzu- Gäbe es dieses Wachstum aber, wäre die Umwelt wohl bauen. Hier scheint mir am ehesten die Möglichkeit völlig im Eimer. des Konsenses mit der SPD gegeben zu sein. Aber die Im übrigen gibt es so etwas wie den tendenziellen SPD muß zunächst einmal von ihren Grundsatzposi- Fall der realen Wachstumsrate. Damit müssen Sie sich tionen ideologischer Art herunter. einmal vertraut machen. Nach 4,4 % in den sechziger (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Jahren und 2,7 % in den siebziger Jahren ist das jährliche durchschnittliche reale Wachstum in den Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Faltl- achtziger Jahren auf 2,1 % gefallen. Es ist nicht zu hauser, Sie haben jetzt Ihre ursprüngliche Redezeit erwarten, daß diese reale Wachstumsrate in der eingehalten. Zukunft merklich ansteigen wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, letzter Die Konsequenzen muß man sehr deutlich sehen. Redner in der Debatte zum Einzelplan 9 — Wirt- Konsequenzen müssen sein: Ansetzen bei den Haupt- schaft — ist unser Kollege Dr. Ulrich B riefs. kostenfaktoren, z. B. durch Förderung von Konzepten schlanker Produktion und Verwaltung; weitere Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! Arbeitszeitverkürzung; systematische Förderung und Meine Damen und Herren! Die unselige Standortde- systematischer Schutz des ja bestehenden zweiten batte vernebelt mehr, als sie klärt. Ich wiederhole: Arbeitsmarktes sowie eine wirksame branchenorien- Objektive Daten über Standortnachteile der deut- tierte und regional orientierte Industriepolitik. Die schen Wirtschaft in Deutschland gibt es nicht oder staatliche Wirtschaftspoli tik wird hierbei nicht weni- kaum. Unter anderem der Ingenieurs-Digest, der der ger, sondern mehr leisten als bisher. ostdeutschen Kammer der Technik nahesteht, hat mehrfach belegt, daß der Standort Deutschland nach Insbesondere muß eine intelligente, sensible und wie vor innovationsgünstig ist. Das Problem ist eher transparente Industriepolitik her. Wirtschaft, Ge- die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung. Sie hat werkschaften, Staat, Verbraucher- und Umwelt- mit ihrer Plan- und Konzeptionslosigkeit bei und nach schutzverbände müssen konsensfähige Vorstellun- der wirtschaftlichen und sozialen Wiedervereinigung gen darüber entwickeln und aushandeln, welche Art erheblich zur Heftigkeit der derzeitigen Wirtschafts- von Produkten und welche A rt von Verfahren für welche Art von Leben wir haben wollen. krise und zur explosiven Entwicklung der Massenar- beitslosigkeit beigetragen. Die Ökonomie und auch die wirtschaftlich Mächti- Statt aber nun endlich angesichts von fast 4 Millio- gen müssen sich damit vertraut machen, daß sie eine nen registrierten Arbeitslosen und angesichts von eher dienende als dominierende Funktion haben. 7 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen ein umfassen- Arbeitszeitverkürzungen, durch die Bereitschaft der des Konzept aktiver Beschäftigungspolitik vorzule- Gewerkschaften inzwischen auch mit Einkommens- gen und diese mit einer systematischen technologi- verzichten möglich, sind und werden weiterhin das schen und sozialen Innovationspolitik zu verknüp- wichtigste Mittel zur Schaffung von mehr Arbeitsmög- fen, drischt diese Bundesregierung auf die Löhne ein, lichkeiten für arbeitslose Menschen sein. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16711

Dr. Ulrich Briefs Ökologisch und sozial sinnvolle Beschäftigungsbe- Ausschußfassung. Wer stimmt für diesen Einzelplan? reiche, nur zum geringen Teil in kapitalintensiven — Die Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Der High-Tech-Bereichen schaffbar, sind mit entspre- Einzelplan 09 ist mit großer Mehrheit angenommen. chenden öffentlich organisierten Programmen zu Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstim- entwickeln. Unter anderem hat die Arbeitsgruppe mung über den von der Bundesregierung eingebrach- Alterna tive Wirtschaftspolitik, in der ich seit ihrer ten Gesetzentwurf über die Feststellung des Wirt- Gründung mitarbeite, hierzu seit langem eine ganze schaftsplans des ERP-Vermögens für das Jahr 1994, Reihe konkreter Vorschläge mit sehr präzisen Finan- Drucksachen 12/5842 und 12/6114. Ich bitte diejeni- zierungskonzepten vorgelegt. gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung Notwendig für die Abkehr von der konzeptionslo- zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Die sen Politik des Gewährenlassens — die Standort- Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Bei vier schelte, wie wir sie hier vom Bundesminister gehört Stimmenthaltungen ist dieser Gesetzentwurf in zwei- haben, vor allem an den Beschäftigten und den ter Lesung angenommen. Gewerkschaften, soll doch nur von den Versäumnis- Dritte Beratung sen dieser Bundesregierung ablenken — ist das Bewahren und nicht das Aufgeben von Gestaltungs- und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem möglichkeiten. Derartige Gestaltungsmöglichkeiten Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — will aber diese Koalition z. B. gerade bei den Postun- Stimmenthaltungen? — Gegenprobe! — Bei ebenfa lls ternehmen aufgeben, die für die Infrastrukturent- vier Stimmenthaltungen ist dieser Gesetzentwurf in wicklung und auch für die Bedingungen an immer dritter Lesung angenommen. mehr Arbeitsplätzen im Anwendungsbereich moder- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich ner Informations- und Kommunikationstechniken unterbreche jetzt die Sitzung bis 13 Uhr. Wir setzen eine große Bedeutung haben. Diese Politik ist auch dann die Beratungen mit dem Einzelplan 11 — Bun- unter dem Gesichtspunkt der Verbesserung der Wirt- desministerium für Arbeit und Sozialordnung — fort. schafts- und Arbeitsmarktlage verfehlt und kontra- Die Sitzung ist unterbrochen. produktiv. (Unterbrechung von 11.47 Uhr bis 13.00 Uhr) Wie wichtig industriepolitische Ansätze sind, zeigt aber auch eine andere Be trachtung. Seit 1990 sind in Deutschland mehr als 900 Milliarden DM in Ausrü- Vizepräsidentin : Ich darf die unter- stungen investiert worden. Noch einmal soviel ist in brochene Sitzung wieder eröffnen. Wir setzen die Bauten investiert worden, zusammen also fast 2 Billio- Haushaltsberatungen fort. Ich rufe auf: nen, 2 000 Milliarden DM! Einzelplan 11 Der Wiedervereinigungsboom hat uns die höchsten Bundesministerium für Arbeit und Sozialord- Wachstumsraten bei Ausrüstungen seit Anfang der nung siebziger Jahre beschert. Ein großer Teil des Produk- — Drucksachen 12/6011, 12/6030 — tionsapparates hätte also allein in diesen fast vier Jahren seit der Wirtschafts- und Währungsunion über- Berichterstattung: holt, erneuert, durchrationalisiert und modernisiert Abgeordnete Karl Diller werden können. Doch die Wirtschaft hat offensichtlich Hans-Gerd Strube auf Mengenkonjunktur und nicht auf zukunftsträch- Ina Albowitz tige, innovative Produkte und Verfahrensentwicklun- Dr. Gero Pfennig gen gesetzt. Der rasche, kurzfristige Profit ging ihr Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die vor. Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Gibt es dazu Entstanden bzw. ausgebaut worden sind die Ober- einen irgendwie gearteten Widerspruch? — Das ist kapazitäten, die heute, nach dem Auslaufen des nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wiedervereinigungsbooms, dazu führen, daß die Fix- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem kosten, jene entscheidende Kostengröße, auf die dem Kollegen Karl Diller das Wort. Betriebe drücken. Das ist, wenn es ihn gibt, der wahre Kern der Kostenkrise. Diese verfahrene Situa tion mit ihren unsozialen Folgen insbesondere belegt wie- Karl Diller (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr derum: Die Politik des Gewährenlassens, des Nichts- verehrten Damen und Herren! Herr Minister! Nach tuns, der Ablenkungsmanöver, der industriepoliti- Lage der Dinge beraten wir heute zum letztenmal schen Abstinenz dieser Bundesregierung, dieser einen Haushalt des Ministers Norbert Blüm. Koalition muß nach den Wahlen 1994 ein Ende haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zuruf Dafür muß, denke ich, jetzt alles get an werden. von der CDU/CSU: Nicht so voreilig!) Herr Präsident, ich danke Ihnen. Ihre Amtszeit geht zu Ende. In einem Jahr wird Ihr Bild (Beifall bei der PDS/Linke Liste) neben denen Ihrer Vorgänger im Ministerium hän- gen. (Hans-Gerd Strube [CDU/CSU]: Du kannst Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- ruhig seriös reden! Es ist kein Fernsehen ten Damen und Herren, weitere Wortmeldungen mehr da!) liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. Was wird, verehrter Kollege S trube, der Betrachter Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- seines Fotos mit diesem Foto verbinden? Bei Minister plan 09 — Bundesministerium für Wirtschaft — in der von der SPD — ich sagte das bereits 16712 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Karl Diller einmal — ist das klar: Ausbau der Mitbestimmung, ab 1. Januar 1994 nach Angabe dieses Ministers Betriebsverfassungsgesetz, Rentenreform 1972 — lau- 270 000 Arbeitslose mehr zum Sozialamt gehen müs- ter positive Dinge; bei Minister Hans Katzer von der sen. Wenn Sie die Familienangehörigen dazurechnen, CDU übrigens auch: arbeitsrechtliche Lohnfortzah- werden es 500 000 bis 1 Million Menschen sein, die lung, Arbeitsförderungsgesetz. Sie durch Ihre Politik zum Sozialamt schicken. Das ist Norbert Blüm aber wird uns als Anti-Katzer, als ein trauriger Rekord dieses Ministers. Mann der traurigen Rekorde in Erinnerung bleiben. (Beifall bei der SPD) Statt Minister für Arbeit und Sozialordnung zu sein, wurde er zum Minister der Arbeitslosigkeit und der Norbert Blüm, der Anti-Katzer, habe ich gesagt. Was sozialen Unordnung. zu Zeiten der Großen Koalition aus der Erfahrung der Rezession 1966/1967 entstand, würdigte das Bundes- (Beifall bei der SPD) verfassungsgericht einmal so — ich zitiere —: Sein erster trauriger Rekord: Elf Jahre Minister Das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 ... ist im Blüm sind elf Jahre, in denen die Zahl der Menschen wesentlichen durch den Übergang zu einer in Armut in diesem Lande steil anstieg. Das neueste Arbeitsmarktpolitik bestimmt, die Arbeitslosig- Statistische Jahrbuch belegt, daß wir Ende 1991, also keit im Interesse des Arbeitnehmers wie auch der nach neun Jahren seiner Amtsführung, 86 % mehr Volkswirtschaft nach Möglichkeit verhindern Menschen hatten, die zur Führung eines menschen- soll. würdigen Lebens Hilfe zum Lebensunterhalt vom Sozialamt bekommen mußten. Der Verfasser des Beitrages zur deutschen Sozial- geschichte in dem Buch „Es begann in Berlin" — Her- (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) ausgeber ist übrigens kurioserweise Norbert Blüm — Das war Ende 1991, bezogen auf den Westen damals. zitiert aus der Gesetzesbegründung: Jeder 23. Westbürger mußte Hilfe zum Leben vom Sozialamt beziehen. Die neue Aufgabenstellung wird dahin umschrie- ben, daß die Wandlungen in der Wirtschaft, Heute sind das Hunderttausende mehr, Herr Mini- technischer Fortschritt und Automation in erheb- ster. Ihre Politik, das, was Sie kürzlich mit dem lich stärkerem Maße als bisher wirkungsvolle „Konsonantengesetz", wie ich es bezeichne, dem 1. Maßnahmen zur Verhütung der Arbeitslosigkeit und dem 2. SKWPG, beschlossen haben, wird dafür erfordern: Der Arbeitnehmer müsse für den ver- sorgen, daß ab 1. Januar 1994 weitere 270 000 arbeits- änderten Ablauf des Arbeitslebens besser gesi- lose Menschen plus deren Familienangehörige, mit- chert werden. Dies sei vor allem durch eine hin etwa 500 000 bis eine Million Menschen, unter die Stärkung seiner beruflichen Mobilität zu errei- finanzielle Grenze zur Führung eines menschenwür- chen. Daher seien insbesondere Umschulung, digen Lebens abrutschen und ergänzende Hilfe vom berufliche Aufstiegs- und Leistungsförderung Sozialamt brauchen. sowie Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitslo- sigkeit von besonderer Bedeutung. Herr Kollege Dil- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das war die Begründung, das AFG einmal zu schaf- ler, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen fen. Geißler gestatten? Unter Blüms Verantwortung wurde das AFG recht- lich zertrümmert, wurden seine Instrumente der akti- Karl Diller (SPD): Bitte sehr. ven Arbeitsmarktpolitik zur beliebigen Verfügungs- masse der Haushaltspolitiker der Union und der F.D.P. Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Herr Kollege, da degradiert. Denn sie beschlossen mit ihrer Mehrheit man, wenn man die Arbeitslosenzahlen vergleicht, — ich zitiere —: fairerweise zunächst einmal die Arbeitslosenzahlen in Westdeutschland zugrunde legen muß: Wie würden Der Bundesminister für Arbeit wird aufgefordert, Sie eigentlich die Ministerin Fuchs und den Minister den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit für Ehrenberg bezeichnen, unter deren Ägide im Ver- 1994 nur zu genehmigen, wenn alle nicht zwin- gleich zu heute 80 000 Arbeitslose mehr in West- gend festgelegten Ausgaben, vor allem im deutschland vorhanden waren? Was sind das nach Bereich ABM und FuU, so bemessen sind, daß der Ihrer Meinung für Minister gewesen? veranschlagte Zuschuß aus dem Bundeshaushalt von maximal 18 Milliarden DM ausreicht.

Karl Diller (SPD): Sehr verehrter Herr Geißler, Was heißt das im Klartext? Das heißt: Die Haushälter zunächst einmal muß ich feststellen: Ich habe über- der Union und der F.D.P. verlangen, daß für jeden haupt noch nicht über die Zahl der Arbeitslosen zusätzlichen Arbeitslosen im nächsten Jahr ein mög- gesprochen; darauf will ich gleich zurückkommen. Ich licher Neueintritt in Fortbildung und Umschulung, ein habe über das gesprochen, was Sie irgendwann möglicher Neueintritt in ABM gestrichen wird. einmal als die neue Armut in Deutschland bezeichnet Zweiter trauriger Rekord: Es ist wahr; auch in haben, über die Zahl derjenigen Bürger, die zum früheren Rezessionszeiten wurden soziale Leistungen Sozialamt gehen müssen. Ich habe darauf hingewie- zurückgenommen. Das Ausmaß aber und das Tempo, sen, daß mit Ihrer Zustimmung, Herr Geißler — das in dem unter Blüm Sozialabbau betrieben wird, über- nehme ich wenigstens an; vielleicht gehören auch Sie trifft bei weitem alles Vorangegangene. zu den 60, die eine abweichende Meinung geäußert (Julius Louven [CDU/CSU]: Wir müssen haben —, Ihnen einmal vorrechnen, wie es bei Schmidt (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Nein!) war!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16713

Karl Diller Ich erinnere nur an die massiven Kürzungen durch die benkosten auf die Höhe früherer Beitragssätze absen- 10. AFG-Novelle und das geradezu Abräumen sozia- ken will, Herr Blüm, muß unseren Vorschlag umset- ler Leistungen vor wenigen Wochen durch das 1. und zen. Die Aufbauleistung im Osten muß allen in der 2. SKWPG, das vom Zertrümmern des AFG bis zum Gesellschaft und nicht nur im wesentlichen den Bei- Streichen des Schlechtwettergeldes und der bisheri- tragszahlern angelastet werden. gen Sozialplanmöglichkeiten beispielsweise in der Fünfter trauriger Rekord: Der vorliegende Entwurf Stahlindustrie reicht. des Haushaltes der Bundesanstalt geht noch von den Elf Jahre Blüm sind deshalb aus der Sicht der alten Eckwerten aus: 2,6 Millionen Arbeitslose im Arbeitnehmer elf Jahre Sozialabbau, sind elf Jahre Westen, 1,1 Millionen im Osten. Noch nie hatten wir, nicht eingelöster Versprechen. Er hatte einmal ver- Herr Geißler, solche Zahlen. Die Sachverständigen sprochen, binnen einem Jahr eine Million Arbeitslose rechnen sogar mit 4 Millionen. Die 300 000 zusätzlich weniger zu schaffen. werden Mehrausgaben von 8 bis 9 Milliarden DM (Zuruf von der SPD: Alles vergessen!) verursachen, und damit wird der Zuschußbedarf an die Bundesanstalt nicht bei 11, auch nicht bei den jetzt Elf Jahre Umverteilung zu Lasten der kleinen Leute, etatisierten 18, sondern bei einer Größenordnung wie elf Jahre große Sprüche — wer hatte da von dem in diesem Jahr liegen, nämlich bei 25 Milliarden Jahrhundertwerk Gesundheitsreform geschwätzt und DM. eine Bauchlandung erfahren? — und enttäuschte Hoffnungen. Die Koalition hat zwei Sicherungen eingebaut, die sie vor der Bundestagswahl vor der Blamage bewah- Gelegentlich versucht sich die Koalition mit dem ren sollen, einen Nachtrag vorlegen zu müssen. Hinweis zu verteidigen, das Sozialbudget betrage doch 1 000 Milliarden DM; da sei eine Kürzung von Da ist zum einen die erwähnte Auflage, sozusagen 10 Milliarden DM oder mehr sozusagen eine vernach- für jeden zusätzlichen Arbeitslosen eine ABM-Stelle, lässigbare Größenordnung. eine Fortbildungs- und Umschulungsstelle zu strei- chen. Zum anderen gibt es eine versteckte Kreditauf- Meine Damen und Herren, dieser Vergleich ist nahmemöglichkeit von bis zu 8 Milliarden DM. Sie ist schlicht unverschämt; denn das Sozialbudget umfaßt ausgewiesen als Betriebsmittelkredit für kurzfristige als größter Brocken mit 291 Milliarden DM die Kassen - — kurzfristige! — Liquiditätsengpässe, also geschaf- der Rentenversicherer, mit 210 Milliarden DM die fen, um beispielsweise eine monatliche Ausgaben Kassen der Krankenversicherer, mit 111 Milliarden spitze aufzufangen. DM die Arbeitsförderung und wird mithin zu weit mehr als der Hälfte aus Beiträgen der Menschen Dafür reichen nach bisherigen Erfahrungen 2 bis finanziert. Es ist damit Eigentum der Versicherten. 3 Milliarden DM. Wer wie die Koalition sogar von Wenn die Koalition dies als Bezugsgröße für ihre vorgesehenen 5 auf 8 Milliarden DM erhöht, hätte Kürzungen nimmt, setzt sie sich leichtfertig zumindest ehrlicherweise diese 3 Milliarden DM gleich beim dem Verdacht aus, daß sie auch an die Renten gehen Zuschuß drauflegen müssen, denn er signalisiert will. nichts anderes, als daß die vorgesehenen 18 Milliar- (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) den DM nicht ausreichen werden. Dritter trauriger Rekord: Dank Blüm werden die (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Arbeitnehmer ab nächstem Jahr Beiträge an die Sechster trauriger Rekord: Nach der Rekordzahl Rentenversicherungen in Rekordhöhe zahlen müs- von 685 000 Langzeitarbeitslosen im September 1988 sen. Ich habe vor einem Jahr an diesem Pult hier konnte durch aktive Fördermaßnahmen und die bes- warnend auf die drohende Entwicklung hingewiesen. sere Konjunktur ihre Zahl im Westen deutlich vermin- Sie ist selbstverständlich nicht natürlich entstanden, dert werden. Seit 1991 steigt sie wieder. Eingerechnet nicht vom Himmel gefallen, sondern politisch von der die Langzeitarbeitslosen im Osten dürften es im Sep- Regierung herbeigeführt worden. Die relativ gute tember 1992 erschreckende 784 000 gewesen sein. Kassenlage der Rentenversicherer hatte nämlich die Bundesregierung zum Anlaß genommen, die Renten- Höchste Zeit also, durch aktives Gegensteuern den kassen zugunsten der Arbeitslosenversicherung an- Trend zu brechen; denn Langzeitarbeitslosigkeit, zuzapfen. Herr Minister, hat häufig zerrüttete Ehen, Überschul- dung der Familien und das Abgleiten in Suchtkrank- (Zurufe von der SPD: Verschiebebahnhof! heiten zur Folge — menschliches Leid einerseits, hohe — Kassenplünderer!) gesellschaftliche Folgekosten andererseits. Jede Die Operation kostete die Rentenversicherer 22 Milli- Mark, im Kampf gegen Langzeitarbeitslosigkeit inve- arden DM. Dieses Geld fehlt jetzt und macht den stiert, wird also anderswo mindestens eingespart. Riesensprung beim Beitragssatz notwendig. Wenn die Ihre bisher bereitgestellten Bundesmittel wären im Bundesregierung über die Höhe der Lohnnebenko- übrigen wesentlich erfolgreicher gewesen, hätten Sie sten jammert, sollte sie ihren Teil der Schuld daran die Maßnahmenträger nicht durch das kuriose Auf nicht vergessen! und Ab der Mitteleinsätze in den einzelnen Jahren (Beifall bei der SPD) und durch die befristete Laufzeit der Programme Vierter trauriger Rekord: Blüm verlangt von den allzusehr abgeschreckt und verärgert. Arbeitenden den höchsten Beitragssatz zur Arbeitslo- Nun muß ich an dieser Stelle die Mitberichterstatter, senversicherung und gewährt ihnen im Fall des Falles namentlich den Kollegen Strube, den Kollegen dafür die schlechtesten Leistungen seit vielen Jahr- Dr. Pfennig und die Frau Albowitz, loben. Sie stimm- zehnten. Wer diese politisch verursachten Lohnne- ten nämlich meinem Antrag, die Lohnkostenzu- 16714 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Karl Diller schüsse an Arbeitgeber zur Wiedereingliederung Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, es von Langzeitarbeitslosen wieder auf die Höhe dieses bestand der Wunsch des Kollegen Weng nach einer Jahres aufzustocken, zu und waren bereit, das Pro- Zwischenfrage. gramm um ein Jahr zu verlängern. Karl Diller (SPD): Ja, bitte sehr. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich hätte Ihnen gerne ein Dankeschön ausgespro- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Es ist leider chen, schon einen Moment her, Herr Kollege Di ller. Geben (Ina Albowitz [F.D.P.]: Dann tu das!) Sie mir recht, daß wir mit der Beratung über diese globale Minderausgabe und in der Konsequenz mit aber ich muß das Lob sofort relativieren, denn ob die der Beschlußfassung erst begonnen haben, als sich auf Mittel bereitstehen, muß ich leider mit einem großen Grund der kurzfristig bekannt gewordenen Ergeb- Fragezeichen versehen. nisse der Steuerschätzung und der zusätzlichen Not- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Eine Frau, ein wendigkeiten wegen der Arbeitslosigkeit für die Bun- Wort!) desanstalt für Arbeit aus dem Bundeshaushalt eine neue Situation ergeben hat, und erinnern Sie sich, daß Ich hoffe, wir ziehen alle an einem S trang, daß es so Sie selber — nicht Sie persönlich, aber Ihre Gruppe — kommen wird. Dieser Titel aber ist ein Titel der gesagt haben, im Grundsatz seien Sie zu einer Kür- Hauptgruppe 6. Nach Abschluß aller Beratungen zog zung in dieser Größenordnung bereit, womit Sie diese die Koalition ein Papier aus der Tasche, mit dem sie Zahl akzeptiert haben? Sie wollten nur keine globale sich selbst als Gestalter des Haushaltes aufgab. Es Kürzung, was aber in der Konsequenz bedeutet hätte, beinhaltet die globale Minderausgabe. 5 Milliarden mit den Beratungen zeitlich praktisch neu anfangen DM soll der Finanzminister im Haushalt streichen. zu müssen und das geordnete Haushaltsverfahren in Dazu werden 10 % der Mittel in den Obergruppen 51 Frage zu stellen. bis 55 und der Hauptgruppe 6 gesperrt. Warum eigentlich 5 Milliarden DM? Der Be trag ist Karl Diller (SPD): Herr Kollege Dr. Weng, zunächst nicht rational erklärbar, sondern eine politisch moti- einmal darf ich Sie bitten, sich von den Berichterstat- vierte optische Zahl, um bei der geplanten Nettoneu- tern, Kollege Strube, Frau Albowitz aus Ihrer Fraktion, - verschuldung unter die 70-Milliarden-DM-Grenze zu dem Kollegen Dr. Pfennig, darüber informieren zu kommen. lassen — ich dachte, die Kollegen hätten Ihnen das weitergegeben —, daß wir uns schon beim Berichter- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: stattergespräch im Ministerium, also zu einem sehr Das ist doch schon was!) frühen Zeitpunkt der Haushaltsplanberatung, alle Eine globale Minderausgabe in dieser Dimension in einig waren, einschließlich der Bundesanstalt und der allerletzter Beratungsminute auszusprechen und ihre Ministerien—politische Spitze! —, daß als Zuschuß an Durchführung dem Bundesfinanzminister zu überlas- die Bundesanstalt die vorgesehenen 11 Milliarden sen, offenbart die Uneinigkeit und die Feigheit der DM im Bundeshaushalt bei weitem nicht ausreichen. Koalition, die Streichungen klar auszuweisen und sich Schon damals wurde als dringend notwendiger anschließend der Kritik der Betroffenen zu stellen. Zusatzbetrag die Zahl von 6 bis 7 Milliarden DM genannt. Die Berichterstatter waren sich schon zu dem (Beifall bei Abgeordneten der SPD) damaligen Zeitpunkt einig, dieses Geld zur Verfü- Die vielen Beratungswochen von August bis in den gung zu stellen. Ich kann nur mit Erstaunen registrie- November hinein sind völlig sinnlos, überläßt m an am ren, daß sich das in Ihrer Gruppe nicht herumgespro- Schluß dem Bundesfinanzminister die Gestaltung des chen hat. Haushalts, meine Damen und Herren. Zum zweiten Teil Ihrer Frage. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sehr (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: richtig!) Die Steuerschätzungen!) Wir haben Ihnen in der Tat angeboten — nachdem Sie Ich habe Minister Waigel im Ausschuß gefragt, wo am Vormittag eine Krisensitzung hatten und dann am er die anteiligen Milliarden im BMA-Haushalt strei- Nachmittag den Vorschlag der globalen Minderaus- chen will. Seine Antwort war, daß er es sich noch bis gabe machten —, daß wir über alle Kürzungsmöglich- Dezember überlege. keiten reden und das Ziel ansteuern, Posten in einer Nun will ich Ihnen einmal die Möglichkeiten auf- solchen Größenordnung herauszustreichen. Ich habe zeigen: Die Obergruppen 51 bis 54 umfassen die Ihnen sofort vorgeschlagen, wo man in einer Größen- Ausgaben für Geschäftsbedarf, Telefon, Porto, Mieten ordnung von 250 Millionen DM streichen könnte. Man und Pachten, elektronische Datenverarbeitung, Öf- Mittel für könnte dies erreichen, indem man die fentlichkeitsarbeit. Propaganda dieser Regierung halbiert. Das haben Sie direkt abgelehnt. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Die kann man wegnehmen!) (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Wenn ihr an der Regierung wärt, hättet ihr das — Sehr richtig, Kollege. Zehnfache ausgegeben!) Außer bei dem Propagandatitel — unser Antrag, Und da wundern Sie sich noch? Sie haben das Ange 13 Millionen DM zu streichen, wurde leider zuvor bot, mit uns zu reden, abgelehnt. Deswegen wird der abgelehnt — ist in diesen Bereichen kaum etwas zu Vorwurf völlig zu Recht erhoben, daß Sie die Gestal holen. tung des Haushalts — der dem Parlament zugewiesen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16715

Karl Diller war, der in der Obhut des Parlamentes war — aufge- Am Ende sind auch Caritas und Arbeiterwohlfahrt geben haben. Sie haben die Gestaltung Herrn Echter- mit ihren Möglichkeiten, sich der ausländischen nach und dem Finanzminister übereignet. Arbeitnehmer anzunehmen und sie zu integrieren. Die Ausländerfeindlichkeit zu beklagen ist das eine. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist doch nicht Wenn aber die Koalition nicht einmal bereit ist, die wahr!) Betreuungsmittel, die wir in diesem Jahr haben, real Das nenne ich Feigheit der Koalition. auch im nächsten Jahr zur Verfügung zu stellen, entlarvt sie sich selber als Sonntagsredner. Meine sehr verehrten Damen und Herren, um eine globale Minderausgabe in dieser Dimension zu Am Ende ist schließlich auch Norbe rt Blüm. Nach- erwirtschaften, bleibt im Haushalt des Bundesmini- dem der Wirtschaftsminister in seinem Ressort mit sters für Arbeit und Sozialordnung eigentlich nur noch politischen Vorschlägen wilderte, versucht er es sei- die Hauptgruppe 6. Ich will Ihnen sagen, was sie nerseits mit Vorschlägen für das Wirtschaftsressort. umfaßt: Sie umfaßt Zuwendungen für den Behinder- Dafür beschimpfte ihn zu Recht das „Handelsblatt" tensport, unsere Beiträge für internationale Organisa- mit den Worten: tionen, die Anpassungshilfe für Kohle und Stahl, die Wie wäre es, wenn jeder Minister einmal im Betreuungsmaßnahmen für ausländische Arbeitneh- eigenen Feld mit dem Pflügen beginnt, statt die mer, jeweils in Milliardenhöhe die Zuwendungen für Regierung zunehmend zum Papiertiger zu degra- die Kriegsopferversorgung, die Soldatenversorgung, dieren? die Kriegsopferfürsorgeleistungen, die Arbeitslosen- In der Tat: Die Regierung ist am Ende. Es ist Zeit für hilfe, den Zuschuß an die Bundesanstalt, die den politischen Wechsel. Zuschüsse an die Rentenversicherungen der Arbeiter, die Rentenversicherungen der Angestellten, der (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Knappschaft, der Behinderten sowie jeweils Hunderte Liste) von Millionen DM für das Vorruhestandsgeld, das Altersübergangsgeld, die eben erwähnten Langzeit- arbeitslosenprogramme und die Spätaussiedler. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat der Kollege Hans-Gerd Strube das Wort. Will die Koalition angesichts dieser Liste wirklich - gesetzliche Leistungen sperren und kürzen? Will die Koalition aus bestehenden Verträgen aussteigen? Hans-Gerd Strube (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Bleibt ihr am Schluß nur der Ausweg — den sie sich mit Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sozialpoli- der Formulierung geschaffen hat —, sonstige Titel des tik ist immer auf dem Weg. Haushalts heranzuziehen, als da wären die für Perso- nal und Investitionen? Letzteres würde einen relativ (Zuruf von der SPD: Wohin?) noch stärkeren Verstoß gegen Art. 115 des Grundge- Sie ist niemals fertig. Unser Sozialstaat auferlegt uns setzes darstellen, der die Kreditaufnahme höchstens einen dauerhaften Gestaltungsauftrag. in Höhe der Investitionen erlaubt, als dies ohnehin (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Obdachlos schon der Fall ist. — immer auf dem Weg!) Was die Koalition mit ihrem Fünf-Milliarden-Ding — Bei euch war das ein bißchen anders. Ihr wart 1982 bewirkt, ist Ungewißheit — nicht nur in den Ministe- tatsächlich fertig. Ich bin der Meinung, Sozialpolitik rien, sondern bei Behinderten und Arbeitslosen, bei ist niemals fertig. Aber ihr wart damals schon ziemlich Spätaussiedlern und Rentnern, Forschern und Mitar- weit. beitern nachgeordneter Einrichtungen. In dieser Rezession, Herr Kollege Weng, den politischen (Ottmar Schreiner [SPD]: Ihr seid fertig, Gestaltungswillen aufzugeben, die wochenlange Ver- bevor ihr angefangen habt!) unsicherung von Millionen Menschen in Kauf zu Der Sozialstaat ist einem permanenten Änderungs- nehmen, zeigt, daß die Koalition politisch am Ende prozeß unterworfen. Immer wieder gilt es, auf neue ist. Fragen und neue gesellschaftliche Herausforderun- gen neue Antworten und Lösungen zu finden. Immer (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Ina wieder gilt es auch, überkommene Besitzstände zu Albowitz [F.D.P.]: Wieso? Der Haushalt gilt hinterfragen. Stets auf neue müssen die öffentlichen erst für 1994!) Sozialausgaben auf den Prüfstand der Erforderlich- Am Ende ist auch die Bundesanstalt für Arbeit, und keit gestellt und öffentliche Leistungen gerade in zwar in bezug auf die Belastbarkeit ihres Personals. konjunkturell angespannten Zeiten auf das vertret- Wenn Hunderttausende Leistungsfälle mehr zu bear- bare Maß konzentriert werden. Prioritäten zu setzen beiten sind, wenn die Politik zu Recht eine entschie- erfordert Mut. Denn es kann Erwartungen enttäu- dene Mißbrauchsbekämpfung verlangt, dann darf die schen, Widerspruch provozieren. Manche Mittel müs- Koalition den Wunsch der Bundesanstalt auf Ver- sen eingespart werden, weil sie inzwischen an ande- schiebung von Stellenstreichungen nicht hämisch mit rer Stelle viel dringender gebraucht werden. dem Hinweis kommentieren, die Bundesanstalt Auch wenn der geballte Einsatz von Lobbyisten und könne den Personalbedarf durch Umsetzungen aus Interessenverbänden dem entgegenzustehen scheint, den Abteilungen für ABM und FuU decken; denn da darf der Sozialstaat seine Prioritäten nicht nach der sei ja ohnehin nichts mehr los. Lautstärke der Forderungen setzen. (Manfred Reimann [SPD]: Das ist ja ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ding!) ordneten der F.D.P.) 16716 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Hans-Gerd Strube Auch wer kein Sprachrohr einzusetzen hat, muß sich Konsequenzen für Arbeitsmarkt und Beschäftigung, der Solidarität des Sozialstaats gewiß sein können. für Lohnentwicklung und die Situation der sozialen (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ Sicherungssysteme vor neue Herausforderungen. Wir CSU und der SPD) müssen unseren Wirtschaftsstandort stabilisieren. Wir müssen die Preisentwicklung dämpfen und Kaufkraft- Eine Sozialpolitik des Immer-Mehr ist ideenlos, meine verluste vermeiden. Meine Damen und Herren, es ist Damen und Herren. doch die Inflation, unter welcher gerade die soge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nannten kleinen Leute am meisten zu leiden haben. ordneten der F.D.P.) Ohne Sparen keine Schuldenvermeidung. Mehr Schulden hieße aber mehr Arbeitsplatzverluste. Ein ständiges Draufsatteln, ohne dabei an Korrektu- Arbeitsplätze wiederum sind es, die unser soziales ren von Fehlentwicklungen zu denken, würde unwei- System finanzieren und erhalten. Unsere Zielrichtung gerlich die Tragfähigkeit unseres sozialen Netzes heißt daher, die Finanzierbarkeit zukunftsgerichteter überspannen. Arbeitsplätze zu sichern. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist eine Binsenweisheit, und doch scheint sie mancher zu verdrängen: Nur ein leistungsfähiger Mit dem Spar-, Konsolidierungs- und Wachstums- Staat kann die Mittel erwirtschaften, die er für seine programm haben wir den richtigen Weg eingeschla- vielfältigen sozialen Ausgaben einsetzen will. gen. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Sehr wahr!) (Klaus Lennartz [SPD]: Wie äußert sich Der Sozialstaat kann nicht mehr verteilen, als zur das?) Verfügung steht. Ohne unsere Sparmaßnahmen schnellte das Haus- Wenn wir in diesem Hause in zahlreichen Fragen haltsdefizit in den beiden nächsten Jahren auf über auch unterschiedlicher Ansicht sind, appelliere ich 90 Milliarden DM hoch. Dies wäre nicht nur wirt- dennoch an einen sozialstaatlichen Grundkonsens. schafts- und finanzpolitisch unverantwortbar, es wäre Der effektive und effiziente Sozialstaat muß stets zur - auch verfassungsrechtlich unzulässig. 90 Milliarden Korrektur und zum Verzicht bereit und fähig sein, um DM — dies entspräche einem Viertel der Steuerein- den Herausforderungen insgesamt gewachsen zu nahmen überhaupt. sein. Diese Verantwortung vor dem Ganzen, welche alles andere als kaltschnäuziger Sozialabbau ist, Die Abgabequote ist mit 44 % ausgereizt. Die Mehr- haben wir auch in den vergangenen Jahren prakti- belastung der Bürger mit Steuern und Sozialabgaben ziert. Das Wort vom Umbau des Sozialstaates ist nicht liegt bis 1995 bei jährlich 116 Milliarden DM. Mit dem neu, Gott sei Dank. Denn vor welch riesigen Proble- Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm men, vor welchen Konsequenzen stünden wir heute, haben wir bei einem Entlastungsvolumen von 21 Mil- wenn nicht auch der Sozialbereich wesentliche Bei- liarden DM, welches in den Folgejahren auf 28 Milli- träge zur Konsolidierung geleistet hätte? arden DM jährlich ansteigt, ein sozial ausgewogenes Wie war es 1982? Explodierende Haushalte, die und in sich schlüssiges Konzept auf den Weg Vernichtung von einer Million Arbeitsplätzen seit gebracht. Beginn des Jahrzehnts, riesige Defizite in der Sozial- Eine Modellrechnung der Bundesregierung doku- versicherung. Der Sozialstaat, meine Damen und mentiert, wie ausgewogen die Belastungen der Spar- Herren, war damals im Beg riff, sich zu überfordern, programme verteilt sind. Die finanziellen Lasten der seine Wurzeln zu kappen, seine Quellen zu verschüt- deutschen Einheit für das Jahr 1995 liegen bei ten. Heute gilt es wieder, den Blick zu schärfen für die 81,3 Milliarden DM. Hierin sind die meisten Maßnah- Zukunft des Wirtschaftsst andortes Deutschland. Wie- men des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumspro- der gilt es, Verkrustungen aufzubrechen und umzu- gramms ebenso wie des Föderalen Konsolidierungs- schichten. Unsere Pflicht ist, durch Um- statt Abbau programms einbezogen. Die Bezieher höherer Ein- die wirtschaftliche Belebung zu fördern, durch Konso- kommen sind danach durchweg stärker belastet als lidierung Wachstumsgrundlagen zu legen. kleinere und mittlere Einkommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Trotz aller Sparmaßnahmen bleibt der Haushalt für Wir haben erfolgreich umstrukturiert. Mit Mut zum Arbeit und Sozialordnung mit Abstand der größte Unpopulären wurde gespart und gleichzeitig gestal- Einzeletat. Gegenüber dem ursprünglichen Entwurf tet. Millionen neuer Arbeitsplätze waren die Folge. von 121,8 Milliarden DM steigt der Einzelplan 11 Ich erinnere an die Haushaltsbegleitgesetze 1983/84, nunmehr auf ein Volumen von 130,4 Milliarden DM. wo wir unter anderem durch die stufenweise Einfüh- Das ist ein Zuwachs von 10,5 Milliarden DM bzw. rung der Krankenversicherungsbeteiligung der Rent- 8,8 % gegenüber dem BMA-Haushalt von 1993. Der ner dauerhafte Entlastungen in den Rentenkassen Anteil am Gesamthaushalt liegt bei 27,1 %. geschaffen haben. Die jährliche Einsparung lag allein 1992 bei insgesamt 21 Milliarden DM. Doch auch in anderen Einzelplänen sind wichtige Sozialausgaben enthalten. Das hohe Niveau der (Manfred Reimann [SPD]: Ich dachte, das sozialen Sicherung wird auch in den Gesamtsozial war eine gemeinsame Leistung!) ausgaben sichtbar. Sie steigen auf 176,9 Milliarden Nach einer außerordentlichen zehnjährigen Wachs- DM an. In 12 Jahren hat sich der Einzelplan 11 damit tumsphase stellt uns jetzt eine Rezession mit all ihren mehr als verdoppelt, von 59,1 Milliarden DM in 1982 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16717

Hans-Gerd Strube auf die eben genannten 130,4 Milliarden DM. Dies ist dem Konsens für die ganze Bundesrepublik Deutsch- ein Zuwachs um 120,6 %. land beschlossen haben. (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Weni- (Zuruf von der CDU/CSU: Mit den Stimmen ger als der Arbeitslosenzuwachs!) der SPD!) Dies dokumentiert den herausgehobenen Stellen- Bei allen Einsparungen im Sozialbereich —ich sage es wert, welchen die soziale Sicherung in der Politik der noch einmal: Die Rente war, ist und bleibt tabu. Bundesregierung einnimmt. Abschließend möchte ich mich bei den Beamten des (Zurufe von der SPD) Bundesarbeitsministeriums, besonders aber bei Ih- nen, Herr Bundesarbeitsminister Dr. Blüm, herzlich Jede dritte Mark wird für Sozialleistungen ausgege- für die gute, konstruktive Zusammenarbeit bedan- ben. ken. Mit insgesamt 39,6 Milliarden DM weist der Einzel- (Beifall bei der CDU/CSU) plan 11 für die Arbeitsmarktpolitik des kommenden Meine Damen und Herren, da dies meine letzte Jahres 900 Millionen DM mehr auf als in 1993. Der Etatrede zum Einzelplan 11 war, möchte ich Gelegen- Bundeszuschuß zur Bundesanstalt für Arbeit steigt heit nehmen, mich auch bei meiner Kollegin und gegenüber den ursprünglichen Berechnungen um meinen Kollegen Berichterstattern zu bedanken. Ich 7 Milliarden DM auf insgesamt 18 Milliarden DM habe diesen Einzelplan fast zehn Jahre als Haushälter an. begleitet. Herzlichen Dank, liebe Ina Albowitz, lieber (Zuruf von der SPD) Gero Pfennig und lieber Karl Diller. Ich glaube, wir Die Bundesregierung kommt damit bei wirtschaftlich waren ein ganz gutes Team, und wenn wir in aller schwieriger Zeit und einer angespannten Lage auf Bescheidenheit von uns vielleicht sagen können, daß dem Arbeitsmarkt ihrer gesetzlichen Einstandspflicht wir etwas mitgeholfen haben, den Sozialstaat weiter- nach. zuführen, dann ist das schon eine ganze Menge. Ich verabschiede mich und rufe Ihnen zu: (Zuruf von der SPD: Den Satz hast du l ange üben müssen, der ist bestimmt schwergefal- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Macht len!) weiter so!) Den stärksten Ausgabenblock im Einzelplan 11 — „Macht weiter so" ist zuwenig. bilden die Bundeszuschüsse zu den Renten. Sie stei- (Zurufe von der SPD) gen in der Rentenversicherung der Arbeiter und Ich wollte eigentlich biblisch sagen, Rudi: Vieles hätte Angestellten von 49,9 Milliarden DM auf 58,8 Milliar- ich euch noch zu sagen, aber das versteht ihr heute den DM an, noch nicht. (Zuruf von der CDU/CSU: Hört, hört!) (Heiterkeit — Beifall bei der CDU/CSU und in der Knappschaft steigen sie von 13,5 Milliarden DM der F.D.P.) auf 13,6 Milliarden DM. Insgesamt belaufen sich die Bundesausgaben für die Rentenversicherung somit auf 75,2 Milliarden DM. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat Der Zuwachs um 9,3 Milliarden DM gegenüber 1993 der Kollege Dr. Werner Hoyer das Wo rt. ist eine Folge unseres dynamischen Rentensystems. Die Bundeszuschüsse gewährleisten, daß die demo- graphischen Belastungsveränderungen bei der Ren- Dr. Werner Hoyer (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe tenversicherung ausgewogen auf Beitragszahler, Kolleginnen und Kollegen! Ein Satz, den der Kollege Rentner und Bund verteilt werden. Jede Mark Bun- Strube wahrscheinlich wohl noch gerne gesagt hätte, deszuschuß dokumentiert die Sicherheit der Renten, wäre der, daß es mit dem „Weiter so, Deutschland" auf die sich die Bürgerinnen und Bürger rückhaltlos nicht mehr getan ist, sondern daß wir auch in dem verlassen können, trotz mancher Kritik und Unkerei, Bereich, um den es heute geht, in den Aufbruch gehen die immer wieder einmal aus wenig berufenem Mund müssen. zu vernehmen ist. (Beifall bei der F.D.P. — Zuruf von der SPD: (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Eine neue Erkenntnis!) Bei der Rente zählt Verläßlichkeit, meine Damen und Lassen Sie mich mit einem Wort zur Pflege begin- Herren. Die Koalition steht zu ihrem Wort: Auch in nen. Um es klipp und klar zu sagen: Wir wollen die wirtschaftlich schwierigen Zeiten wird an der Rente Pflegeversicherung, weil unsere Gesellschaft ein ver- nicht gekürzt, dammt drängendes Pflegeproblem hat. (Beifall bei der CDU/CSU) (Lachen bei der SPD — Ina Albowitz [F.D.P.]: Wieso, ihr nicht? — Gegenruf von der SPD: die Rentner nehmen weiter am Ergebnis der wirt- Aber was für eine?) schaftlichen Entwicklung teil. — Wir kommen nachher darauf zurück, ob Sie sie (Manfred Reimann [SPD]: Nach unten!) eigentlich auch wollen und in welcher Form. Das erreichte Nettorentenniveau bleibt stabil. Dies ist Aber weil wir mehr Arbeitsplätze und nicht weniger die Frucht von Rentenreform und Rentenüberlei- haben wollen, wollen wir verhindern, daß die Pflege- tungsgesetz, wie wir es ja in großem und übergreifen- versicherung Arbeit noch teurer macht und weitere 16718 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Werner Hoyer Arbeitsplätze zerstört. Nichts anderes verbirgt sich ja Wir jedenfalls können uns nicht mit einem noch so hinter dem scheußlichen Wort „Kompensation". intelligenten System der Verwaltung von Arbeitslo- sigkeit bzw. der Umverteilung von Arbeit zufrieden- (Beifall bei der F.D.P.) geben. Das ist keine Lösung, sondern eine Resignation Weil wir wollen, daß die Pflegeversicherung nicht vor dem Problem. geradezu Anreize dazu schafft, alte Menschen früher (Beifall bei der F.D.P.) in Heime zu geben als erforderlich, wollen wir den Vorrang der häuslichen Pflege. Es fehlt ja auch beim wirtschaftspolitischen Beschluß der SPD von Wiesbaden nicht die Einsicht, daß mehr (Beifall bei der F.D.P.) als genug Arbeit in Deutschland zu leisten ist: für mehr soziale Sicherheit, für mehr Umweltvorsorge, für Und weil wir nicht wollen, daß die Pflegeversicherung einen besseren Lebensstandort Deutschland. Ich kann noch mehr Umverteilung produziert, über den in insofern Herrn Scharping nur zustimmen. Dieser jedem Versicherungsgedanken steckenden Risiko- Lebensstandort Deutschland muß eben ein starker, ausgleich hinaus, wollen wir, daß die Pflegeversiche- ein innovativer Wirtschaftsstandort Deutschland rung auch bei der Beitragsbemessungsgrenze der sein. Krankenversicherung folgt und nicht der Rentenver- sicherung. Das ist keine technische Frage, sondern In den wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen, die wir eine sehr substantielle und ordnungspolitische schaffen und sichern müssen, liegt auch der wichtigste Frage. Beitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Haus- (Beifall bei der F.D.P.) halte, der wichtigste Beitrag für verläßliche soziale Sicherung, der wichtigste Beitrag für eine Entlastung Denn bei der Kranken- und der Pflegeversicherung der Bürger von Steuern und Abgaben. sind eben die Beiträge einkommensabhängig und die Leistungen einkommensunabhängig; bei der Renten- Herr Minister Blüm, ich wünschte Ihnen, daß es versicherung sind die Beiträge einkommensabhängig gelingen wird, uns in den nächsten Jahren in die Lage und die Leistungen eben wiederum beitragsabhän- zu versetzen, daß Sie mit einem geringeren Haushalt gig. auskommen können. Einen so großen Haushalt, wie - Sie ihn gegenwärtig zu verantworten haben, verant- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: wortet man ja nicht nur aus reiner Freude, angesichts Sehr wichtig!) der Probleme, die sich hinter solchen Haushaltszahlen verbergen. Wer nicht auf kaltem Wege die Einheitsversicherung will und wer besonders den Mittelstand nicht zusätz- (Gudrun Weyel [SPD]: Und was tut Ihr Wirt lich bluten lassen will, darf das nicht durcheinander- schaftsminister dazu?) werfen. Schnelle Erfolge im Jahre 1994, Frau Kollegin Weyel, wird niemand erwarten, der realistisch ist, weil (Zuruf von der SPD: Das ist Ihr Kurs! — Ina keiner Patentrezepte hat. Ich denke, wer ehrlich ist, Albowitz [F.D.P.]: Das ist doch der rich- wird auch nicht vollmundig schnelle Erfolge beim tige!) Abbau der Arbeitslosigkeit versprechen. Ich bin ganz sicher, daß die Koalitionspartner auch (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) insofern zu ihrem Kompromiß vom Juni 1992 stehen, der uns damals nicht ganz leichtgefallen ist — um das Aber ernsthaftes Bemühen um konsequentes und sehr deutlich zu sagen —, aber in dem wir doch einiges beharrliches Wegräumen der Hindernisse, die den durchgesetzt haben, was nun umgesetzt werden Weg zur Schaffung neuer Arbeitsplätze versperren, — muß. das Versprechen geben wir Liberalen aus Überzeu- (Beifall bei der F.D.P.) gung und mit Entschlossenheit ab. Die sozialdemokratischen Kollegen müssen sich (Beifall bei der F.D.P.) fragen, wann sie eigentlich endlich den Weg frei Wir stecken natürlich in der tiefsten Rezession der machen für eine verantwortbare Pflegeversicherung Nachkriegszeit, nicht nur in Deutschl and. Diese und — nebenbei bemerkt — auch für eine erhebliche Rezession trifft uns voll in der schwierigen Umstellung Entlastung der Kommunen, die unter der gegenwär- auf einen gewaltig verschärften internationalen Wett- tigen Lage im besonderen leiden. bewerb und einen beschleunigten technologischen Wandel, nachdem über sieben fette Jahre für die (Ina Albowitz [F.D.P.]: Die Sozis sind daran Umstellung auf neue Strukturen nicht hinreichend schuld, daß wir noch keine Pflegeversiche- genutzt worden sind. Hier, denke ich, sollte sich jeder rung haben!) in seinem Verantwortungsbereich an die eigene Nase Liebe Kolleginnen und Kollegen, wettbewerbsfä- fassen: Politik, Unternehmen und Gewerkschaften. hige Arbeitsplätze schaffen und sichern bleibt für die Wer in den fetten Jahren des Wachstums nicht die F.D.P. die wichtigste soziale Aufgabe. Umverteilung Zeit für die Umstellung auf eine neue Welt im Wandel ist eben nicht das Problem Nr. 1 bei beschleunigtem nutzt, der darf sich nicht darüber wundern, daß er Strukturwandel und tiefer Rezession. Wenn weit über damit auch die Rezession mit vorbereitet. Dann fällt 5 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in die Umstellung noch viel schwerer; dann müssen noch Deutschland fehlen, dann heißt soziale Verantwor- viel mehr soziale Härten abgefedert werden. tung in allererster Linie Arbeitsplätze schaffen. Abfederung ist natürlich erforderlich, auch durch (Beifall bei der F.D.P.) ABM. Frau Albowitz wird zur Bundesanstalt ausführ- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16719

Dr. Werner Hoyer lich sprechen. Ich belasse es bei einer Bemerkung: Der im einzelnen kürzere oder gegebenenfalls längere zweite Arbeitsmarkt darf eben nicht den ersten zer- Arbeitszeiten der Schaffung und Sicherung von stören, denn sonst verschärfen wir das Problem, Arbeitsplätzen dienen. Dies ist z. B. in vielen Berei- anstatt es zu lindern. chen der Forschung zu beobachten und auch weiter verstärkt zu erwarten. In vielen Bereichen der Daten- (Beifall bei der F.D.P.) verarbeitung inte rnational operierender deutscher Wir brauchen zur Überwindung der Arbeitslosig- Unternehmen ist es heute schon beobachtbar. keit einfach mehr Anreize, reguläre Erwerbsarbeit Nach meiner Auffassung sollte es auch sehr viel aufzunehmen. Das bedeutet nicht nur, daß man das mehr im Handel gelten. Herr Minister Blüm, sagen Sie Lohnabstandsgebot strikt einhalten muß. Das bedeu- endlich ja zur Liberalisierung des Ladenschlusses! tet auch, daß wir unseren Dschungel unterschiedlich- Bekommen Sie doch nicht gleich Angst vor der ster Besteuerungen und einer Vielzahl steuerfinan- eigenen Courage, wenn mit der vielbeschworenen zierter Sozialleistungen mit rund 40 Stellen für etwa Deregulierung endlich Ernst gemacht wird! 90 unterschiedliche Leistungen lichten müssen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Dieses Neben- und Gegeneinander wirkt heute CDU/CSU) schon deswegen sozial ungerecht, weil es vor allem Aber auch im öffentlichen Dienst gilt es, flexibler zu für die sozial Schwächsten erfahrungsgemäß beson- sein. Hier werden bei Arbeitszeitverkürzungen und ders undurchdringlich ist und darüber hinaus Miß- leeren Kassen angesichts natürlich nicht möglicher brauch Tür und Tor öffnet. Stellenausweitungen, z. B. in den Bauämtern, Ar- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) beitsplätze und Wohnungen durch verzögerte Geneh- migungen verhindert, wenn wir uns nicht end lich der In diesem System erscheint geradezu derjenige als Hilfe privater Ingenieurbüros, also p rivater Initiative dumm, der reguläre Erwerbsarbeit aufnimmt und insgesamt bedienen. damit zugleich Beiträge zur sozialen Sicherung leistet, statt sie nur in Anspruch zu nehmen. Ich weiß, daß das Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir nur für einen sehr kleinen Teil der be troffenen Bevöl- brauchen viel mehr Beweglichkeit und Bereitschaft kerung zutreffen mag, weil viele andere gerne Lei- zum Aufbruch in unserem L ande. Unbeweglichkeit stungen erbringen würden und es auf Grund der - täuscht Menschen, ist unsozial und gefährdet ganze Situation am Arbeitsmarkt nicht können. Aber auch Regionen. Jeder muß sich die Frage gefallen lassen, diesen Teil des Problems am Arbeitsmarkt müssen wir wie ernst er es damit meint, wenn er Standortstärke, ins Auge fassen. gut bezahlte und sichere Arbeitsplätze in Zukunftsin- dustrien predigt, aber die Umstellung auf neue Pro- Die Liberalen haben ein Konzept zur Vereinfa- dukte, auf neue Technologien verweigert. chung des deutschen Steuer- und Transfersystems vorgelegt. In einer „Steuer- und Transferordnung aus (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: einem Guß" sollen Einkommensbesteuerung und Das sind Sozialdemokraten!) steuerfinanzierte Sozialleistungen schrittweise zu- Arbeitsplätze schaffen oder durch Unbeweglichkeit sammengeführt werden. Ich freue mich, daß wir jetzt die Zukunft des Lebensstandorts Deutschland ver- auch mehr und mehr von der Union Unterstützung für schlafen? Abrutschen auf Nr. 17 der Hitliste der solche Ideen bekommen. Industrienationen in zehn Jahren? Wollen wir uns, wollen Sie sich damit zufriedengeben? In diesem sogenannten Bürgergeld-System lohnt sich mehr Erwerbsarbeit, weil u. a. Erwerbseinkom- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne men nur bis zu 50 % angerechnet werden sollen. ten der CDU/CSU) Jeder, der Erwerbsarbeit aufnimmt, steht sich dann besser, als wenn er heute auf Sozialhilfe allein ange- wiesen ist. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächstes spricht die Kollegin Pe tra Bläss. Heute hingegen ist doch, wenn wir ehrlich sind, der Grenzsteuersatz bei der Aufnahme von Erwerbsarbeit prohibitiv hoch. Das wollen wir ändern. Erwerbsarbeit Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! muß sich auch bei den unteren Einkommensgruppen Meine Damen und Herren! Sieben Menschen sind in wieder stärker lohnen. Ordnungspolitisch überlegen den letzten Tagen erfroren — von der Öffentlichkeit ist es immer, das Übel an der Wurzel zu packen, statt kaum zur Kenntnis genommen. Es waren Obdachlose, mit geringer Aussicht auf Erfolg dem Mißbrauch mit die nicht nur Opfer des verfrühten Wintereinbruchs in staatlichen Kontrolleuren hinterherzuhetzen. Deutschland geworden sind. Nein, schlimmer noch, sie sind auch Opfer der sozialen Kälte in diesem L and (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- und einer Politik, die Armut und soziale Not als nicht ten der CDU/CSU) existent erklärt. Der Sachverständigenrat mahnt zu Recht entschlos- Ich finde, es ist eine Schande, was wir uns in diesem senes Handeln und die Stärkung der Antriebskräfte reichen Land leisten. Die Selbstzufriedenheit, mit der durch Abbau von Regulierungen und Starrheiten an, wieder einmal darauf verwiesen wird, daß für soziale die heute wettbewerbsfähige Arbeitsplätze verhin- Leistungen der größte Brocken im Haushalt vorgese- dern oder über Gebühr belasten. hen ist, macht mich wirklich betroffen. Die individuellen betrieblichen Anforderungen und Jede und jeder hier weiß doch, daß fast 90 % des die individuellen Wünsche der Arbeitnehmer bei der Etats für Arbeit und Sozialordnung für gesetzlich Arbeitszeitgestaltung werden dann bestimmen, wo geregelte Pflichtleistungen aufgewandt werden muß 16720 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Petra Blass und die Spielräume, auf bris ante Entwicklungen zu rechnet die Bundesanstalt selbst erneut mit einem reagieren bzw. die Ursachen sozialer Miseren zu Defizit von knapp 22 Milliarden DM für 1994. bekämpfen, gleich Null sind. Auch wenn der Einzel- plan 11 mit seinen 121 Milliarden DM so verabschie- Nach Aussagen ihres Präsidenten Jagoda sind det wird, wie er ist, wird in diesem Land weiter dabei noch nicht Prognosen zukünftiger Entwicklun- gefroren, gebettelt und am Rande der Armutsschwelle gen einbezogen, etwa die angekündigten Massenent- gelebt; lassungen in den industriellen Kernbereichen Auto- mobilindustrie, Stahl, Maschinenbau und Kohle. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Sie können noch nicht Deshalb ist es ja wenigstens halbwegs ehrlich, daß einmal lesen! 130,4 Milliarden DM!) im Haushaltsausschuß der Zuschußbedarf an die Bun- denn gerade aus sozialpolitischer Sicht ist der vorlie- desanstalt für 1994 von ursprünglich 11 Milliarden gende Haushaltsentwurf für 1994 nicht losgelöst zu DM auf 18 Milliarden DM festgelegt wurde. betrachten von den Gesetzen, mit denen im Vorfeld (Zuruf von der SPD: Das reicht nicht!) der Haushaltsberatungen die Weichen für die Ent- wicklung des Sozialstaats Bundesrepublik gestellt Die darüber hinaus vorgesehenen 8 Milliarden DM als wurden. Mit dem Föderalen Konsolidierungspro- kurzfristige Liquiditätshilfe können bei realistischer gramm vom Juli 1993 und dem 1. und 2. SKPWG im Betrachtung wohl heute schon getrost als verlorener Oktober 1993 wurden Beschlüsse gefaßt, deren Zuschuß verbucht werden. soziale Auswirkungen verheerend sein werden: Noch Ich teile den Bericht des Haushaltsausschusses größere soziale Unsicherheit, finanzielle Sorgen und insoweit, als dort festgestellt wird, daß der Haushalt Zukunftsangst werden befördert. Statt gegen die der Bundesanstalt mit großen Schätzrisiken verbun- Massenarbeitslosigkeit richten sich diese Spargesetze den ist und jede Veränderung der Arbeitslosenzahlen zuallerst gegen Arbeitslose. Einbrüche im Finanzgerüst nach sich zieht. Nicht Aber gerade die anhaltende Massenarbeitslosig- zustimmen kann ich allerdings der dort ge troffenen keit ist eine der entscheidenden Ursachen dafür, daß Einschätzung, daß die eingestellten Ansätze die bis- das System der sozialen Sicherung aus den Fugen und her absehbaren Risiken berücksichtigen. Wenn schon zugleich die Haushaltsdebatte hier zur Farce gerät; zwischen erster und dritter Lesung des Haushalts, also - denn es ist doch jetzt schon klar, daß wir wieder einen in zwei Monaten, ein Mehrbedarf bei der Bundesan- enormen Nachtragshaushalt haben werden, weil ein- stalt von 7 Milliarden DM festgestellt werden muß, fach die Plandaten unse riös sind. dann frage ich: Mit welchen Unbekannten müssen wir wohl noch rechnen? Wir haben es gegenwärtig mit der Problemkombi- nation zu tun, daß die Aufgaben in der Arbeitsmarkt- Ein weiteres Problem sind die bereitgestellten Mit- politik und die dafür notwendigen Finanzen anwach- tel für die Arbeitslosenhilfe. Zwar liegt der Ansatz mit sen, während gleichzeitig die Beitragseinnahmen bei 12,9 Milliarden DM noch über dem von 1993, obwohl den Sozialversicherungen rückläufig sind. In einer Sie die Höhe gesenkt und die Bezugsdauer der Situation mit mehr als 6 Millionen Menschen ohne ein Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre begrenzt haben. reguläres Beschäftigungsverhältnis sinken die Bei- Allein das läßt tiefe Einblicke in die Entwicklung von träge zur Arbeitslosenversicherung zwangsläufig gra- Langzeitarbeitslosigkeit zu. Aber Sie bekämpfen vierend. Langzeitarbeitslosigkeit nicht dadurch, daß Sie die Betroffenen nach zwei Jahren in die Sozialhilfe aus- Andererseits sind gerade in solchen Zeiten mehr steuern. Wirkungsvolle Beschäftigungsprogramme Aufwendungen für Arbeitslosengeld bzw. -hilfe, aber gegen Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit müßten vor allem auch für Beschäftigungsmaßnahmen der entwickelt werden. Doch nehmen sich die dafür Bundesanstalt notwendig. Allein von Juni 1992 bis eingestellten Mittel mehr als bescheiden aus: ganze Mai 1993 ist der Bedarf an Arbeitslosengeld um 0,4 % des Sozialetats. 1 Milliarde DM auf 3,3 Milliarden DM pro Monat angestiegen. Insgesamt lag die Höhe von Lohnersatz- Hinzu kommt, daß mit den veränderten Bedingun- leistungen im Juli 1993 bei etwa 9 Milliarden DM ohne gen für den Arbeitslosenhilfebezug die Finanznot der Kosten für Arbeitslosenhilfe. öffentlichen Hand nicht im Ansatz beseitigt, sondern lediglich ein fundamentaler Finanzschwindel in G ang Allein für Unterhalts - und Kurzarbeitergeld gab die gesetzt wird, indem sich die Bundesregierung auf Bundesanstalt davon im selben Monat etwa 1,6 Milli- Kosten der Kommunen sanieren will. Die drastischen arden DM aus. Folglich ist der Zuschußbedarf an die Kürzungen beim Arbeitslosengeld und anderen Bundesanstalt in den letzten Jahren stetig angestie- Transferleistungen sowie die Begrenzung der Ar- gen. Reichten 1991 noch 2,4 Milliarden DM, mußten beitslosenhilfe auf zwei Jahre werden den Sozialhil- mit dem Nachtragshaushalt 1993 schon 18 Milliarden febedarf sprunghaft erhöhen und die Kommunen bis DM aufgebracht werden. an die Grenze des Verkraftbaren belasten. Diese Tendenz wird sich 1994 verstärkt fortsetzen, Bei der prognostizierten Steigerung der Arbeitslo- weil die Arbeitslosenzahlen eher noch steigen wer- senzahlen werden zudem die Versicherungseinnah- den, aber auch weil die Entscheidungen der Bundes- men weiter sinken und auch dort höheren Zuschuß regierung kontraproduktiv wirken. Zwar sollen die in bedarf notwendig machen. So entsteht eine soziale den Spargesetzen vorgesehenen massiven Kürzun- Abwärtsschraube, der nur gegenzusteuern ist durch gen bei den Lohnersatzleistungen den Bundeshaus- die Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit. Dafür halt konsolidieren, vor allem aber den Etat der Bun- — so der Haushaltsausschuß — gebe es keine Patent- desanstalt um 9,4 Milliarden DM entlasten. Dennoch rezepte. Er begrüßte allerdings die „in jüngster Zeit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16721

Petra Bläss unternommenen Anstrengungen, auch unkonventio- ob diese Behauptung angesichts der tatsächlichen nelle Wege zur Lösung der Krise, wie z. B. die Vierta- Bundesschuld der Wahrheit entspricht. Auf jeden Fall gewoche, zu gehen". feiert der Arbeitsminister das Volumen für den Haus- Gleichzeitig kritisiert der Haushaltsausschuß ein- halt seines Hauses mit der ihm eigenen sympathi- vernehmlich die Tarifvertragsparteien, die die gesetz- schen Übertreibungskunst als einen politischen lichen Möglichkeiten bisher nicht konsequent genutzt Erfolg. hätten. Das empfinde ich schon als ein starkes Stück: Diesen Erfolg kann ich beim besten Willen nicht Wer kämpft eigentlich in diesem Land seit Jahren für erkennen; denn 1993 sind in Deutschland über die Arbeitszeitverkürzung und die 35 - Stunden- 3,5 Millionen Menschen offiziell als arbeitslos regi- Woche, während Sie als Bundesregierung noch bis striert. Seit dem Jahre 1982, in dem die Blüm/Kohl- gestern die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche, Ur- Regierung antrat, sind die offiziellen Arbeitslosen- laubskürzung, Verlängerung der Lebensarbeitszeit zahlen für Westdeutschland um rund 25 % gestiegen. und dergleichen kontraproduktive Forderungen erho- Diese Fakten sind nun wirklich nicht mit dem belieb- ben haben? ten Hinweis auf 40 Jahre Mißwirtschaft in der DDR zu Ich bin sehr für unkonventionelle Lösungswege, begründen. Nein, sie sind ausschließlich die Folge aus und dafür halte ich die Viertagewoche für einen zwölf Jahren Mißwirtschaft in dieser christdemokra- Schritt in die richtige Richtung. Ich kann mir aber auch tisch-liberalen Koalition. Modelle vorstellen, wie Qualifizierungs- und erwei- tere Freistellungszeiten für Erziehung, wie Sabbatjahr Diese Bundesregierung ist geradezu zum Synonym oder die Ausweitung freiwilliger ta rif- und arbeits- geworden für den andauernden Abbau sozialer rechtlich abgesicherter Teilzeitarbeit. Hier scheine Schutzrechte und sozialer Standards, für Deregulie- ich nicht allzuweit von Herrn Blüm zu liegen, der auch rung einerseits, aber leider zu oft am falschen Platz, über eine höhere Attraktivität für Teilzeitarbeitende und für eine rigide Bürokratisierung und Strangulie- nachdenkt und sie immerhin im Falle von Arbeitslo- rung der Wirtschaft andererseits, vor allem aber für die sigkeit durch ein nach der Volizeitarbeit berechnetes unsolidarische Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeitslosengeld sichern will. Ich wäre froh, es würde Lasten von den wirtschaftlich Starken zu den Schwa- ernsthaft an solchen Konzepten weitergearbeitet. chen. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Gib mal das Geld Viel ist nicht geblieben von der geistig-moralischen her!) Wende, mit der die Regierungsparteien seinerzeit Über die finanziellen Belastungen, insbesondere für Wahlkampf gemacht haben. Das habe ich auch im die unteren Lohngruppen, muß dabei allerdings sehr Osten mitbekommen. Ihre Politik ist, bei Licht bese- viel differenzierter nachgedacht werden, als es hen, ein geistig-moralischer Flop. Anstatt die Arbeits- gegenwärtig die Repräsentanten der Arbeitgeberver- losigkeit energisch und nachhaltig zu bekämpfen, bände tun. Ihnen fällt eben nichts anderes ein, als die werden die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger abhängig Beschäftigten einseitig und allein zu bela- rücksichtslos um ihre Existenzsicherung gebracht, sten. Da können sie leider noch immer auf die mehr- und oft scheint die Bundesregierung taub und blind zu heitliche Zustimmung in diesem Hause rechnen. sein für die sozialen Folgelasten ihrer Maßnahmen. Ihre fiskalpolitische Kurzatmigkeit ist chronisch und Meine Damen und Herren, an dieser unsozialen wird irgendwann einmal zum Erstickungstod führen. Politik, die Armut vorantreibt und die Verteilungsun- Durch die Kürzungen im sozialen Bereich werden gerechtigkeit weiter verschärft, wollen wir uns nicht verantwortungslos Hypotheken auf die Zukunft unse- beteiligen. Die PDS/Linke Liste lehnt deshalb den res demokratischen Gemeinwesens aufgenommen. Einzelplan 11 ab. Die Zeche werden unsere Kinder und Kindeskinder zu (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Ina Albo- zahlen haben. Ob das Leiden überhaupt noch zu witz [F.D.P.]: Hätte mich auch gewundert!) heilen ist, ist ungewiß. Besonders fatal sind die mehrfachen und gravieren- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat den Kürzungen bei den sozialen Regelleistungen für nun der Kollege Konrad Weiß das Wort. Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger sowie für Asyl- (Zuruf von der SPD: Der war auch noch nicht bewerber und Flüchtlinge. Ausgerechnet die im Haushaltsausschuß) Schwächsten im Land plündert die Bundesregierung aus, die Schwächsten, für die jede fehlende Mark spürbar ist und immer einen Verlust an Lebensqualität Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bedeutet. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf den Zwischenruf eben habe ich gewartet. Ich würde Ihnen Ungeachtet dieser folgenschweren Einschnitte vorschlagen, daß ich Ihnen ein paar intelligente Zwi- weist der Etat der Bundesanstalt für Arbeit für das schenrufe aufschreibe, die Sie dann abwechselnd laufende Jahr 1993 noch eine Finanzlücke von annä- vortragen können, damit Sie nicht immer denselben hernd 30 Milliarden DM auf. Das ist kein Wunder. Die gebrauchen müssen. Pfennige der Armen werden auch in Zukunft nicht ausreichen, um die Haushaltslöcher zu stopfen. Ohne (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Bereitschaft und notfalls auch den Zwang für die Bundesregierung und Koalitionsfraktionen werden Besserverdienenden, etwas von ihrem Überfluß abzu- nicht müde, das Budget für den Einzelplan Arbeit und geben, werden sich die Finanzprobleme nicht lösen Soziales als den mit Abstand wichtigsten Posten im lassen, die durch die Wohlstandsmentalität in der Bundeshaushalt anzupreisen. Ich habe meine Zweifel, Altbundesrepublik und natürlich auch — das bestrei- 16722 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Konrad Weiß (Berlin) tet ja niemand — durch die deutsche Einheit entstan- ist die gefährliche Botschaft im Lande vernommen den sind. worden, wie entsprechende Umfragen belegen. Viele Leute ärgern sich mittlerweile über den behaupteten Wir müssen unsere Gesellschaft nicht nur ökolo- gewaltigen Mißbrauch von sozialen Regelleistungen, gisch, sondern vor allem auch ökonomisch umbauen den Sie ihnen eingeredet haben, und fordern ein und endlich solche Rahmenbedingungen schaffen, energisches Durchgreifen des Staates. Die Bundesre- durch die die Sozialpflicht des Eigentums unabweis- gierung antwortet mit immer neuen repressiven Vor- bar wird. schlägen, bis hin zur Pflichtarbeit. In der DDR — ich Sie werden sich erinnern, meine Damen und Her- darf Sie daran erinnern — war es strafwürdig, nicht zur ren, daß im Vorjahr der Verwaltungsrat der Bundes- Arbeit zu gehen. Wollen Sie sich daran wirklich ein anstalt für Arbeit ein massives Veto gegen den Eta- Beispiel nehmen? tentwurf des Arbeitsministers eingelegt hatte. Noch Das Muster, nach dem Sie vorgehen, kommt mir im Dezember 1992 protestierten die Expertinnen und fatal bekannt vor. Die künstliche Empörung über Experten aus Nürnberg nachdrücklich, weil die Zah- einen angeblich massenhaften Mißbrauch des Asyl- len, die dem Entwurf der Bundesregierung zugrunde rechts war der Auftakt zur Abschaffung dieses Grund- lagen, trotz der geplanten 10. AFG-Novelle absolut rechts. Soll den sozialen Grundrechten dasselbe geschönt und unrealistisch waren. Unbeeindruckt von Schicksal beschieden sein? diesen Warnungen, setzte der Bundesarbeitsminister schließlich seine Auffassung von Wirklichkeit durch. Nein, Repressalien gegen Arbeitslose und Sozialhil- Die inzwischen vorliegenden Ergebnisse können nie- feempfänger sind keine Antwort auf die wirtschafts- manden überraschen. Sie bestätigen die damaligen und arbeitsmarktpolitischen Probleme in Deutsch- Warnungen aus Nürnberg. land, die uns umtreiben. Jetzt wird über den neuen Haushalt der Bundesan- Der Standort Deutschland wird nicht dadurch stalt gestritten. Wiederum ist die Bundesregierung attraktiver, daß demnächst vielleicht Akademiker für offensichtlich gewillt, den Herausforderungen an eine einige Monate zwangsweise bei Arbeits- und Ern- aktive Arbeitsmarktpolitik auszuweichen. Wieder teeinsätzen helfen müssen. wird der noch immer steigende Bedarf an Maßnah- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: men zur Arbeitsförderung pauschal heruntergeredet, Obwohl es manchen nicht schaden würde! — wieder sind milliardenschwere Haushaltslöcher vor- Weitere Zurufe von der CDU/CSU) programmiert. Auch die verschärfte Arbeitspflicht für Sozialhil- Wenn die Bundesregierung ihren bisherigen Refle- feempfänger sichert Arbeitsplätze nicht, sondern xen treu bleibt, wird sie auch darauf zutiefst über- gefährdet vielmehr vorhandene, z. B. solche von rascht und wie vom Mond gefallen reagieren. Sie Arbeitern im öffentlichen Dienst. verfügt über unsere sozialen Sicherungssysteme selbstherrlich wie über einen privaten Notgroschen. Ich habe — um auf Ihren Zwischenruf einzuge- Aber das kann doch nicht sein. Die Sozialversicherun- hen — in der DDR natürlich solche Ernteeinsätze gen sind kein Verfügungsfonds für unvorhergesehene mitmachen müssen. Aber das hat die DDR auch nicht Ausgaben des Finanzministers. Diese verantwor- gerettet. Die Ernteeinsätze von Akademikern hier in tungslose Politik der Bundesregierung gefährdet die der Bundesrepublik bringen keinen Pfennig in den Zukunft der Sozialversicherung jedenfalls mehr als Haushalt. Das kann doch nicht die Lösung sein. die zu erwartende ungünstige demographische Ent- Die wirklichen Potentiale für die Sicherung und wicklung. Förderung der Beschäftigung sollen dagegen auch Schon seit Jahren zweigt die Bundesregierung aus künftig brachliegen. Die Bundesregierung verneint den Sozialkassen klammheimlich Milliardenbeträge kategorisch die be trächtlichen Chancen, die in einer zur Finanzierung der deutschen Einheit ab. Beson- vernünftigen Politik der Arbeitszeitverkürzung lie- ders verwerflich ist die Plünderung der Arbeitslosen- gen. Statt auf eine gerechte Verteilung der Arbeit setzt versicherung. Nach vorsichtigen Schätzungen macht sie auf Arbeitsverdichtung und längere Arbeitszei- das bereits atemberaubende 58 Milliarden DM aus. ten. Die Belastungen, die den Beitragszahlern auf diesem Für die zukunftweisenden Perspektiven eines intel- kalten Wege auferlegt wurden, machen mindestens ligenten ökonomischen und ökologischen Umbaus zwei Prozentpunkte vom heutigen Sozialversiche- und die außerordentlichen Chancen, die darin für den rungsbeitrag aus — ein Manko, das auf die Selbstbe- Standort Deutschl and liegen könnten, ist die Bundes- dienungsmentalität der Bundesregierung zurückzu- regierung erst recht blind und taub. führen ist. Erlauben Sie mir bitte noch eine persönliche Bemer- Dies ist vor dem Hintergrund der Standortdebatte, kung. Ich bin auch der Auffassung, daß durch eine die fast völlig auf die Arbeitskosten verengt ist, eine Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten neue Ar- überaus peinliche Erkenntnis. Wie wollen Sie das, beitsplätze geschaffen werden könnten. meine Herren und Damen von den Regierungsfraktio- nen, einem mittelständischen Unternehmer oder (Beifall des Abg. Jochen Feilcke [CDU/ einem Handwerksmeister plausibel machen? CSU]) Noch ziehen Sie sich halbwegs aus der Affäre, Natürlich muß m an das mit einem Überstundenverbot indem Sie Ihren Lieblingspopanz „Sozialschmarot- verbinden. Ich bin zu Gesprächen darüber bereit. zer" in immer neuem Gewande präsentieren. Leider Vielen Dank. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16723

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der mehr im Interesse der Wohnungsuchenden entschie- Kollege Dr. Heiner Geißler. den werden. (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Das stimmt!) Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will Ich bin wegen des Begriffs „neue Armut" angespro- eine Vorbemerkung machen wegen gestern. Der chen worden. Es ist richtig, ich habe im Jahre 1975 SPD-Parteivorsitzende hat den Eindruck erweckt, als diesen Begriff in die Debatte eingeführt. Die Proble- würde die Christlich-Demokratische Union mit beson- matik hat sich nicht wesentlich verändert. derer Freude die Einsparungen und die notwendigen (Zuruf von der SPD: Verschärft!) Maßnahmen begleiten. Ich will Ihnen folgendes sagen: Bei aller Notwendigkeit des Sparens hat in der Aber wenn wir ehrlich miteinander sind, geht es heute Christlich-Demokratischen Union niemand solche nicht um die Höhe der Sozialhilfe. Ich brauche nicht Worte über die Lippen gebracht, wie sie die Sozialde- Frau Fuchs und andere zu zitieren, die sich damals mokraten beispielsweise in den Jahren 1981 und 1982 gegen meine Argumente gewehrt haben. im Hinblick auf notwendige Einsparungen gebraucht (Zuruf von der SPD: Sie haben Ihre Arbeit haben: tief ins Fleisch schneiden, bei den Arbeitneh- nicht zu Ende gebracht!) mern abkassieren. Das möchte ich einmal sagen. Es geht weniger um die Höhe der Sozialhilfe; denn (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — auch bei den Sozialhilfeempfängern, bei den Empfän- Zuruf von der SPD) gern von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe sind Das gehört alles noch zur Vorbemerkung. Ich die Realeinkommen — Frau Fuchs, das wissen Sie möchte nach dem, was Sie alles in bezug auf Sozial- ganz genau — gestiegen. Auch der Sozialhilfempfän- abbau auch an die Adresse von Norbert Blüm gesagt ger kann mit dem Geld, das er bekommt — die haben — ich weiß es noch, ich war damals General- Kürzungen schon mit eingerechnet —, heute mehr sekretär —, gern einmal wissen, wie Sie eigentlich die anfangen als vor zehn Jahren. Die Realeinkommen Tatsache beurteilen, daß Sie in den letzten Jahren sind auch unter Abzug der Preissteigerung, ein- - Ihrer Regierungsverantwortung im gesamten Sozial- schließlich der Miete, für diese Menschen gestiegen. bereich — Arbeitsförderung, Krankenversicherung, Das ist nicht das Problem. Rentenversicherung, Ausbildungsförderung, Fami- lie — 94 Milliarden DM gestrichen und gleichzeitig Das Problem besteht bis auf den heutigen Tag darin die Beiträge um 37 Milliarden DM erhöht haben? — und diese Problematik hat sich nicht verschoben — , daß viele gar nicht zu ihrem Recht kommen, ihre (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Rechte nicht in Anspruch nehmen. Es ist das, was man Lassen Sie bitte diese Spielereien bleiben! Sie verschämte Altersarmut nennt, daß Menschen sich haben damals Ihre Gründe gehabt; aber Sie haben es genieren. Da will ich Ihnen recht geben. Es hat uns gemacht, und zwar ohne die Notwendigkeiten, die auch in der Arbeitsgruppe der Fraktion beschäftigt, durch die deutsche Einheit auf uns zugekommen sind, daß wir jetzt möglicherweise die folgende Situation sondern deswegen, weil Sie die falschen Programme haben: Bei Arbeitern, Arbeitnehmern, Familienvätern aufgelegt hatten. werden, wenn ihnen gekündigt worden ist, nach dem Bezug des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosen- (Beifall bei der CDU/CSU) hilfe, sobald sie bei der Sozialhilfe landen, ihre Erspar- Auch das Kindergeld haben wir nicht gestrichen, wie nisse oder die Einkommen der Kinder in Regreß Sie es damals getan haben. genommen. (Lachen bei der SPD) Das ist ein echtes Problem. Wir sollten einmal — Oder gekürzt. Ich will das der Vollständigkeit darüber reden, inwieweit man die Regreßfragen bei halber nennen. der Sozialhilfe neu ordnen muß. Das ist meine per- Dann möchte ich noch einer Legende vorbeugen. sönliche Meinung, und es ist nicht mit der Fraktion Jeden von uns muß das Ansteigen der Zahl der abgesprochen. Aber das müssen wir in dem Zusam- menhang miteinander bereden. Sozialhilfeempfänger bedrücken. Gestern wurde die Behauptung aufgestellt, wir hätten eine Million Ob- (Klaus Lennartz [SPD]: Was sagt denn die dachlose. Ich kann es fast nicht glauben; ich glaube es F.D.P. dazu?) nicht. Das muß zu hoch gegriffen sein. Doch gleich- gültig: Das sind Zahlen, die niemanden erfreuen Ich will, meine sehr verehrten Damen und Herren, können. Wir sollten miteinander über das Richtige auch noch etwas anderes klarstellen. Ich finde, diese debattieren. Laßt uns einmal darüber reden — Herr Polemik, das, was Sie da zu Norbert Blüm gesagt Echternach ist da —, ob nicht das eine oder andere haben, führt doch zu überhaupt nichts. Sie können schneller gehen könnte. doch nicht hergehen und die Bundesrepublik Deutschland als soziale Wüste darstellen. Wir haben Ständig wird die Behauptung aufgestellt — ich weiß nach wie vor, die Kürzungen mit einbezogen, das mit es aus meinem Wahlkreis —, daß freistehende Woh- Abstand beste Sozialsystem aller Industrieländer der nungen von Franzosen und Amerikanern einfach Welt. nicht an die Gemeinden verkauft werden. Vielleicht sollte die Frage, zu welchem Preis das geschieht, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sowohl von der Bundesregierung, von der Bundesver- Ina Albowitz [F.D.P.]: Sie können auch ein mögensverwaltung wie auch von den Gemeinden mal klatschen!) 16724 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Heiner Geißler Wenn wir etwas anderes sagen, dann machen wir den gessen der wirklichen Armut, daß eine Milliarde Leuten unnötig Angst, und Sie wissen ganz genau, Menschen auf dieser Erde pro Tag vom Gegenwert welche Auswirkungen es hat, wenn man die Men- eines Dollars leben müssen, daß 2,5 Milliarden Men- schen verängstigt. Ich brauche das im einzelnen nicht schen keinen Zugang zu den Gesundheitsdiensten weiter aufzuzählen. haben, 2 Milliarden wirklich obdachlos sind, und das, Fast 50 % der Mittel der Bundesanstalt für Arbeit was Sie im Report im „Spiegel" über die Kinder heute werden für die aktive Arbeitsmarktpolitik ausgege- lesen können. ben, und diese Mittel haben dafür gesorgt, nicht wahr, Ich rege mich darüber auf, daß in Kolumbien Kinder daß 1,4 Millionen heute eben nicht als Arbeitslose auf in Kohlebergwerken arbeiten müssen, für 9 DM die dem Arbeitsmarkt sind, sondern durch die arbeits- Woche, und daß die EG — ich bin ein überzeugter marktpolitischen Maßnahmen von Norbert Blüm eben Europäer, das weiß jedermann — von diesen Kohle- Arbeit haben. arbeiterkindern, von diesen Bergwerken 11,3 Millio- Die Bezugszeitdauer — das wissen Sie doch — für nen Tonnen billige Steinkohle importiert, ist einfach das Arbeitslosengeld haben wir nicht verkürzt, son- eine Schande. dern sie ist auf 24 Monate, (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Fritz Schumann [Krop auf 32 Monate verlängert worden. Ich will nicht penstedt] [PDS/Linke Liste]) schildern, wie das damals bei Ihnen war, weil das zu gar nichts führt. Darüber sollten wir uns mit aufregen, damit die Relation wieder richtiger wird, was Armut anbelangt Erziehungsurlaub, Erziehungsgeld, Freistellung und was die soziale Problematik bet rifft. der Eltern bei Krankheit eines Kindes unter zwölf Jahren bis zu 20 Tagen — bei Ihnen war es acht Jahre Ich habe noch zwei Minuten. Zum Arbeitsmarkt: und fünf Tage —, Anerkennung von Erziehungszeiten Wir müssen, meine sehr verehrten Damen und Her- im Rentenrecht, das Betreuungsgesetz, Verbesserung ren, uns auch darüber im klaren sein. Wir haben der Frauenrenten, Einstieg in die Pflegeversicherung jedenfalls nach jeder Rezession eine höhere Sockelar- — Sie sollten einmal dafür sorgen, daß wir die Pflege- - beitslosigkeit bekommen, seit den siebziger Jahren. versicherung verabschieden und daß Sie sie nicht Wir haben jetzt mit den neuen Ländern 10 % Arbeits- behindern —, lose. Ist das eine Zwangsläufigkeit oder nicht? (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abge- Da würde ich sagen, wenn aus dem einen Zehntel ordneten Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) ein Fünftel wird, 20 %, und ein Fünftel keine Arbeit Höherbewertung der ersten Pflichtversicherungs- hat, obwohl die arbeiten wollen — vier Fünftel können jahre für Frauen, eigenständige soziale Sicherung der arbeiten, und die anderen müssen möglicherweise, Bäuerinnen, Rentenüberleitungsgesetz und vieles auch wenn es ein Drittel zu zwei Dritteln wird, von den andere mehr — das ist das, was der Arbeitsminister in staatlich organisierten Almosen leben —, dann müs- schwierigen Zeiten, in Zeiten des Umbruchs und der sen wir feststellen, daß eine solche Gesellschaft krank Aufgaben der deutschen Einheit bewältigen mußte. wird. Sie wird psychisch krank, und eine solche Gesellschaft verliert ihre Seele und wird zur Beute (Gudrun Weyel [SPD]: Er hat es doch nicht radikaler Kräfte. bewältigt!) Natürlich ist es auf der einen Seite richtig, daß das Sie wissen doch selber: Ihr stellvertretender Vorsit- Ziel der Sozialen Marktwirtschaft produktive, bezahl- zender , über den man ja viel sagen bare Arbeitsplätze sein muß. Aber auf der anderen kann, hat sich mit den Erleuchtungen, die er ja nun Seite haben wir Millionen zum Teil gut ausgebildeter wirklich gehabt hat, was die Wirtschaftspolitik anbe- Menschen, die nicht arbeiten können. Die notwen- langt, ja nur schwer durchsetzen können. Ich darf es dige Arbeit bleibt liegen. Deswegen muß man sich in wortwörtlich wiederholen. Er hat es dreimal gesagt einer solchen Situation auch die Frage stellen, ob wir auf dem Parteitag, dreimal, daß nur massive Eingriffe nicht Neues denken müssen. Das ist absolut richtig. in konsumtive Ausgaben — ich wiederhole: massive Aber die Frage, ob wir nicht für eine Übergangszeit Eingriffe in konsumtive Ausgaben — notwendig sind. die vorhandene Arbeit besser teilen müssen, scheint Das hat er dreimal in seiner Rede gehabt, mir berechtigt zu sein. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Damit hat er recht!) (Beifall bei der SPD) und man kann natürlich den größten Etat aus Einspa- Angesichts der Größenordnung dieses existentiellen rungen nicht ausnehmen; das weiß jedermann. Ich Problemes müssen Bund, Länder und die Tarifpartner sage noch einmal, die Realeinkommen sind dadurch noch einmal über das, was Sie unter Beschäftigungs- nicht tangiert worden. pakt verstanden haben — das ist auch meine Mei- Ihr Vorsitzender hat gesagt, man muß sich aufregen. nung —, miteinander reden. Das ist richtig. Da darf man nicht teilnahmslos vorbei- (Beifall des Abg. Dr. Klaus-Dieter Uelhoff gehen an konkreten Schicksalen. Ich habe gerade ein [CDU/CSU] sowie bei der SPD) paar Punkte genannt. Aber worüber man sich wirklich aufregen kann, und Konzentrieren wir uns auf sechs Themen. das eben in einem reichen L and, das sich ein wirklich Zunächst zur Arbeitszeitverkürzung. Wir haben auf effizientes Sozialsystem leisten kann und es auch dem Parteitag in Stuttgart beschlossen, daß wir nicht finanziert, ist etwas ganz anderes, nämlich das Ver- gegen Arbeitszeitverkürzung sind. Wir haben uns Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16725

Dr. Heiner Geißler immer nur gegen Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Norbert Eimer (Fürth) (F.D.P.): Das ist eine billige Lohnausgleich gewehrt; denn so geht das nicht. Bemerkung gewesen, Herr Kollege. — Herr Kollege (Beifall bei der CDU/CSU) Schreiner, Sie haben von der Verdoppelung der Zahl der Sozialhilfeempfänger gesprochen. Ist Ihnen Wir haben dort die Bedingungen genau festgelegt. bekannt, daß die Sozialhilfe schneller gestiegen ist als Ich nenne weiter eine Offensive für die Teilzeitar- das Arbeitseinkommen, und ist Ihnen bewußt, daß, je beit, das Beschäftigungsförderungsgesetz, die Ver- mehr wir die Sozialhilfe anheben, desto größer die längerung der Betriebszeiten, neue Wege in der Zahl der Sozialhilfeempfänger wird, allein von der Lohnpolitik, Investivlohn — das sind Dinge, die end- Konstruktion des Sozialhilfegesetzes her, daß also die lich realisiert werden müssen. Zahlen, die Sie gerade genannt haben, nichts über die (Beifall bei der SPD) Armut in Deutschland aussagen? Meine sehr verehrten Damen und Herren, man (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kann nicht abwarten, bis alles wissenschaftlich bis aufs letzte abgeklärt ist. Kant hat einmal gesagt: Die Notwendigkeit, zu entscheiden, reicht weiter als die Ottmar Schreiner (SPD): Die Sozialhilfe ist ganz Möglichkeit, zu erkennen. Man muß rasch handeln. geringfügig, minimal stärker gestiegen als etwa die Aber etwas scheint mir für die kommende Zeit klar zu Löhne oder als die Lohnersatzleistungen. sein — das haben schon die alten griechischen Philo- (Dr. Walter Fr anz Altherr [CDU/CSU]: 10 % sophen gewußt —: Es kommt in den nächsten Mona- schneller!) ten und Jahren wahrscheinlich nicht auf die Vermeh- rung der Habe an, sondern auf die Verringerung der Wenn die Sozialhilfe irgendeinen Sinn haben soll, Wünsche. dann muß sie unabhängig davon sein, denn die Sozialhilfe soll ja das Existenzminimum garantieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das liegt allein in der Definition der Sozialhilfe, daß sie sich möglicherweise anders entwickelt als andere Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster Bezugsgrößen. Im übrigen haben Sie bislang immer spricht der Kollege Ottmar Schreiner. behauptet, die Löhne seien zu stark gestiegen, die - Arbeitskosten seien zu hoch usw. Ottmar Schreiner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe (Zuruf von der CDU/CSU: Auch, auch! Alles Kolleginnen und Kollegen! Ich will drei Bemerkungen ist zu stark gestiegen!) zum Kollegen Geißler machen. Es macht wahrschein- lich wenig Sinn, in dieser Debatte darüber zu disku- Sie drehen sich die Argumente, wie es Ihnen gerade paßt. tieren, ob die materielle Ausgestaltung der Sozial- hilfe angemessen ist. Aber eines der zentralen Pro- Das reicht jetzt, Frau Präsidentin, vielleicht nachher bleme ist, daß wir von 1982 bis 1991 rund eine noch einmal. Verdoppelung der Zahl der Sozialhilfeempfänger (Beifall bei der SPD — Helmut Wieczorek erleben mußten, nämlich auf insgesamt rund drei [Duisburg] [SPD]: Setzen! Fünf! — Norbert Millionen Menschen. Eimer [Fürth] [F.D.P.]: Darf ich Ihnen eine (Manfred Reimann [SPD]: Davon die Hälfte Ausarbeitung des Wissenschaftlichen unter 20!) Dienstes zuschicken? — Gegenruf des Abg. — Davon ein erheblicher Teil unter 20. Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Schrei ner kann selber denken!) Die eigentliche Frage ist, wie sich Menschen vor- kommen müssen, wenn sie sozialhilfeabhängig wer- — Sie dürfen mir alles zuschicken, was Sie in Ihrem den, was das z. B. für einen 23jährigen arbeitslosen Büro haben. Jugendlichen für sein Selbstwertgefühl und für seine Der zweite Punkt: Der Kollege Geißler hat die SPD gesellschaftliche Anerkennung bedeutet, wenn er aufgefordert, die notwendigen Vereinbarungen, die sozialhilfeabhängig wird, wie sich ein 60jähriger Kompromisse zur Pflege nicht weiter zu behindern. Industriearbeitnehmer vorkommen muß, der 40 Jahre Das ist exakt die Umkehrung der wirklichen Verhält- hart gearbeitet hat und pflegebedürftig und dadurch nisse. Sozialhilfeempfänger wird, Die SPD-Bundestagsfraktion hat zwei Jahre lang (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke dem Bundesarbeitsministerium Verhandlungen, Ge- Liste) spräche über eine gemeinsame Pflegelösung angebo- wie sich eine Frau fühlen muß, die 40 Jahre hart ten. Noch vor sechs Wochen kam es zu einer solchen gearbeitet, Kinder großgezogen und Pflegebedürftige Übereinkunft. Einen Tag, bevor die Verhandlungen gepflegt hat und im Alter sozialhilfeabhängig wird. beginnen sollten, hat die Koalition aus fadenscheini- Das sind doch die eigentlichen Fragen, um die es geht gen Gründen die Verhandlungen abgesagt. Wir sind und die beantwortet werden müssen. jetzt wieder in Verhandlungen. Ich werde nachher im Laufe meines Beitrages noch einige Sätze zur Pflege sagen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- Die SPD-Fraktion hat ein großes Interesse an einem legen Eimer? vertretbaren Kompromiß. Es ist hohe Zeit zur Absiche- rung des Pflegerisikos. Aber ich sage Ihnen auch: Die SPD-Fraktion ist von Ihnen nicht erpreßbar. Ottmar Schreiner (SPD): Alles im Eimer. Bitte schön. (Beifall bei der SPD) 16726 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Ottmar Schreiner Wir sind bereit zu einem tragfähigen Kompromiß. Wir Sozialpolitik des „immer mehr". Ich komme darauf sind aber nicht bereit, nach dem Motto zu h andeln: zurück. Vogel, friß oder stirb. Das zweite Leitmotiv der Koalitionsfraktionen lau- (Beifall bei der SPD) tet: Die Arbeitskosten sind zu hoch, die Löhne sind zu hoch, die Lohnzusatzkosten sind zu hoch. Deshalb ist Es muß zu einem wirklich vertretbaren Kompromiß der Standort Deutschland, deshalb ist die kommen. Wettbe- werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gefährdet. Dritte Position: Der Kollege Geißler hat Oskar Das sind die beiden zentralen Leitmo tive der konser- Lafontaine auf dem Bundesparteitag in Wiesbaden vativen Ideologen. zitiert. Oskar Lafontaine hat in der Tat gesagt: Es (Zurufe von der CDU/CSU) kommt darauf an, bislang konsumtiv verwandte Aus- gaben investiv umzulenken. Das ist völlig richtig. Das — Wenn Sie einmal die Klappe halten würden und fordern wir hier von seiten der Arbeits- und Sozialpo- zuhören würden, könnten Sie reicher aus dieser litiker seit Jahren. Veranstaltung herausgehen. Beispiel: Wenn Sie wesentlich mehr Mittel, die (Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! — bislang zur Finanzierung von Arbeitslosigkeit ge- Unerhört!) braucht werden, also konsumtiv verwandt werden, Nun zum ersten Leitmotiv: Der Sozialstaat droht in zur Förderung von Arbeit vor allen Dingen zur Ver- einen Wohlfahrtsstaat umzukippen; es muß Schluß besserung der Infrastruktur, der ökologischen Infra- sein mit einer Sozialpolitik des „immer mehr". Sie struktur, der sozialen Infrastruktur, bereitstellen wür- können in jeder Broschüre nachlesen, daß das genaue den, dann hätten Sie in der Tat eine Umlenkung Gegenteil seit mehr als zehn Jahren der Fall ist. Ein konsumtiver Mittel in den investiven Bereich. Indiz dafür ist die sogenannte Sozialleistungsquote, (Beifall bei der SPD) also der Anteil der Sozialleistungen am Bruttosozial- produkt. Das ist unstreitig; das müßte sogar Ihnen einleuch- ten. (Abg. Brigitte Baumeister [CDU/CSU] ver handelt mit der Präsidentin am Präsidenten Meine Damen und Herren, wir haben zwei Gefähr- - pult) dungsbereiche, von denen die Arbeits- und Sozialpo- — Frau Präsidentin, die Dame lärmt hier neben mir litik betroffen ist und die unsere Gesellschaft von unglaublich herum; das geht wirklich nicht. Grund auf zu verändern drohen. Wir haben eine klammheimliche Systemveränderung. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Sie haben von Parlamentarismus keine Der erste große Problembereich ist die soziale Ahnung, von Wirtschaft schon gar nicht! — Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit ist der Kitt, ist ein Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der Bindemittel, das die Gesellschaft zusammenhält. Je F.D.P.) stärker die Gesellschaft auseinanderfällt, um so grö- ßer sind die Gefahren für die politische und demokra- tische Stabilität unseres Gemeinwesens. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Darf ich jetzt ein- Meine These ist: Die Koalitionsparteien und -frak- mal um Ruhe bitten! Es ist sicherlich so, daß die Frau tionen haben die deutsche Einheit zu einer giganti- Kollegin hier ihre Empörung über Ihren Tonfall etwas schen Umverteilung zu Lasten der sozial Schwäche- laut geäußert hat. Aber das liegt vielleicht auch ein ren und der kleineren Einkommen mißbraucht, die bißchen daran, mit welcher Lautstärke und in welcher zum Himmel stinkt. Art Sie hier mit dem Parlament sprechen. Insoweit (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ kann ich jetzt im Moment auch gleich sagen, daß es CSU: Das ist ja unglaublich! — Dr. Walter zwar nicht für einen Ordnungsruf reicht, falls Sie den Franz Altherr [CDU/CSU]: Sie sollten sich für provozieren wollten, daß aber das Wort „Klappe" diese Aussage schämen! — Weitere Zurufe nicht der Art entspricht, wie wir uns hier miteinander von der CDU/CSU) unterhalten sollten. Diese Umverteilungspolitik der letzten Jahre wurde (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — von den konservativen Ideologen der Regierungsfrak- Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Tem tionen entlang von zwei ständig variierten Leitmoti- perament wird wohl nicht verboten sein!) ven begleitet und vorbereitet. Das erste Leitmotiv war Wir sollten ja einen einigermaßen vernünftigen Ton auch heute mehrfach zu hören, u. a. vom Kollegen miteinander pflegen, und wenn Sie ein bißchen leiser Hoyer: Der Sozialstaat kippt um in einen Wohlfahrts- sprechen würden, dann würden die Kollegen viel- staat, bietet keinerlei Anreize mehr zur Leistung, zur leicht auch nicht so laut zwischenrufen, und dann Arbeit. Die Leute ruhen in den Hängematten. Das ist hätten wir hier einen einigermaßen vernünftigen die erste These. Tonfall. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wir sind ein Wohl- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Es gibt fahrtsstaat! — Zuruf von der CDU/CSU: Sie keine Regel für die Lautstärke!) müssen Ihre ideologischen Scheuklappen einmal ablegen!) Selbst der Kollege Strube ist anfällig geworden mit Ottmar Schreiner (SPD): Frau Präsidentin, schönen seiner Formulierung: Es muß Schluß sein mit einer Dank für die mehr oder weniger hilfreichen Belehrun- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16727

Ottmar Schreiner gen. Die eigene Lautstärke ist immer auch ein Reflex Vorhandensein von Kindern. Das Ehegattensplitting auf den Klamauk hier vorn in den Rängen. hat nur eine einzige Bezugsgröße: Je mehr jemand (Beifall bei der SPD — Helmut Wieczorek verdient, um so mehr wird ihm vom Staat über [Duisburg] [SPD]: Im übrigen darfst du so laut Steuerverzichte hinterhergeworfen. Das ist nicht reden, wie du willst!) sozial, sondern unsozial. Das ist in der Tat ein Problem von Ursache und (Beifall bei der SPD) Wirkung. Nun gut, wenn diese Damen und Herren Über diese Aspekte der Sozialleistungsquote könnten edlicher gesinnt sind, machen wir es etwas etwas fri wir uns gründlich unterhalten, wenn Sie wollen. leiser. Also die These: Es muß Schluß sein mit einer (Zurufe von der SPD: Sehr gut! — Hervorra Sozialpolitik des „immer mehr" . Indiz — ich habe es gend! — Beifall bei der SPD) gesagt — ist die Sozialleistungsquote, der Anteil der Ich habe auf die Sozialleistungsquote von 70 % in Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt. Der Anteil Ostdeutschland hingewiesen. Das ist die direkte Folge der Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt betrug des massenhaften Zusammenbruches der Beschäfti- 1982 32 %, bezogen auf Westdeutschland, heute gungsverhältnisse in Ostdeutschland. Wir haben beträgt er, ebenfalls bezogen auf Westdeutschland, nahezu die Hälfte der Beschäftigungsverhältnisse, 28 %. Von einem überbordenden Sozialstaat kann gemessen am Stand 1989, dort verloren. Und das ist überhaupt keine Rede sein! nicht nur Konsequenz des Sozialismus; das ist auch Wir haben eine völlig andere Zahl — und das ist das Konsequenz einer grundlegend falschen Politik dieser eigentliche Problem — für Ostdeutschland. Anteil der Koalition. Sozialleistungen am Bruttosozialprodukt, also der (Beifall bei der SPD) Sozialleistungsquote, in Ostdeutschland: 70 %. 70 %! Ich will Ihnen dazu nur wenige Stichworte liefern, (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Folge bezogen auf die fehlenden Investitionen in Ost- des Sozialismus!) deutschland, einige wenige Stichworte: Rückgabe vor Entschädigung, undurchschaubares Gestrüpp von Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, über 200 Fördertöpfen, fehlende Kontrolle zweckent- würden Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Babel - sprechender Verwendung bewilligter Investitionen, gestatten? — Ja. Unzahl von verschiedenen nicht aufeinander abge- stimmten Förderrichtlinien, extrem komplizierte Ge- nehmigungsverfahren. All dies erschwert gerade mit- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Schreiner, telständischen Unternehmungen eine verantwortli- nur damit ich Sie richtig verstehe: Dienen Ihre Aus- che und überschaubare investive Tätigkeit. Diese führungen der Untermalung der These, daß die Höhe Ursache neben vielen anderen hat die Koalition selbst einer Sozialquote etwas über die Güte der Sozialpoli- gesetzt und zu verantworten. tik aussagt, also im Sinn von „Viel hilft viel, eine hohe Sozialleistungsquote ist besser als eine niedrige"? (Beifall bei der SPD) Damit würden Sie zugeben, daß eine hohe Arbeitslo- Wenn ich also sage: 70 %, dann ist die spannende sigkeit mit hohen Leistungen der Arbeitslosenversi- Anschlußfrage: Wer ist zuständig für die Finanzierung cherung eine hohe Sozialpolitik ist. der Gestaltungskosten der deutschen Einheit? Hat die (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der erste Zuständigkeit die Bundesanstalt für Arbeit, oder CDU/CSU) sind es die deutschen Rentenversicherungsträger? Oder sind zuallererst die Bundesregierung und der Ottmar Schreiner (SPD): Es ist ohne Zweifel richtig, Bundeshaushalt für die Finanzierung der Gestal- daß die Höhe der Sozialleistungsquote wenig über die tungskosten der deutschen Einheit zuständig? Qualität des Sozialstaates besagt. (Beifall bei der SPD) Richtig ist zweitens, daß bei steigender Arbeitslo- Meine Damen und Herren, wir haben das seit vielen sigkeit in der Regel die Sozialleistungsquote steigt. Jahren vertreten. Dies ist eine Angelegenheit nicht in Richtig ist drittens aber auch, daß in Deutschland erster Linie der Beitragszahler der sozialen Siche- bei dramatisch steigender Massenarbeitslosigkeit die rungssysteme, sondern der gesamten Gesellschaft Sozialleistungsquote fällt. Das heißt, Sie haben eine und damit der Summe aller Steuerzahlerinnen und ganze Reihe von sozialen Sicherungssystemen regel- Steuerzahler. recht ausgeplündert und die Leute in die neue Armut hineingetrieben. Auch das ist eben richtig. Alle Vorschläge der SPD sind in den letzten Jahren in den Wind geschlagen worden. Das ging 1990 mit (Beifall bei der SPD) der Aussage los: Im Westen wird niemand auf etwas Und viertens müssen Sie überlegen, was alles in der verzichten müssen. Dies setzte sich im Jahre 1992 fort, Sozialleistungsquote drin ist und worüber man disku- als der Solidaritätszuschlag auf die Einkommensteuer tieren könnte. In der Sozialleistungsquote sind bei- wider besseres Wissen nicht verlängert worden ist und spielsweise auch die Steuerverzichte des Staates aus damit neue Finanzlöcher auftauchten. Es setzt sich bis sozialen Gründen enthalten. Da fällt mir das Ehegat- zur Stunde fort: über die völlig einseitige Finanzie- tensplitting mit einem Volumen von rund 40 Milliar- rung der deutschen Einheit über die Beitragszahler den DM ein. Wir zahlen weit weniger Kindergeld als der sozialen Sicherungssysteme; das sind im Jahre Ehegattensplitting: rund 15 Milliarden DM. Das Kin- 1993 rund 50 Milliarden DM oder, in anderen Zahlen, dergeld hat eine klare Bezugsgröße, nämlich das knapp 4 % des Bruttolohns. 16728 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Ottmar Schreiner Die gleichen Leute also, die hier versammelt sind Ich möchte gerne einmal den Generalsekretär der und seit Jahr und Tag über die hohen Arbeitskosten F.D.P. sehen, der mit diesem Geld vier Wochen über klagen, haben völlig systemwidrig die Arbeitskosten die Runden kommt. Danach würden Sie nicht mehr mit den Gestaltungskosten der deutschen Einheit über das Abstandsgebot philosophieren. belastet. (Beifall bei der SPD — Dr. We rner Hoyer (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke [F.D.P.]: Billiger geht es wirklich nicht mehr, Liste) Herr Kollege! — Siegf ried Hornung [CDU/ Meine Damen und Herren, der Präsident des Ver- CSU]: Der keimt doch die Situation gar bandes der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinder- nicht!) ten und Sozialrentner Deutschland, Herr Walter Hirr- Herr Hoyer, dann haben Sie gesagt, die aktive linger, hat vor wenigen Tagen erklärt: Arbeitsmarktpolitik dürfe die reguläre Arbeit nicht Die deutsche Einheit wird derzeit wesentlich über verdrängen. Ich kann nur sagen — tut mir leid —: von die Beiträge für die Sozialversicherungen be- Tuten und Blasen keine Ahnung! zahlt, also auf dem Rücken der Rentner, Arbeits- Sie haben Ende 1993 in Westdeutschland noch losen und Beschäftigten. Selbständige, Beamte ganze 15 000 AB-Maßnahmen. Allein in der Stadt und Politiker bezahlen hingegen keine müde Dortmund haben wir gegenwärtig 43 000 Arbeitslose. Mark für die Einheit. Gerecht wäre es, wenn die Kennen Sie die Zahlen nicht? Vor welchem Hinter- Einheit über Steuern finanziert werden würde. grund stellen Sie sich hier hin und diffamieren die Dann könnte der Beitragssatz für die verschiede- Arbeitslosen? nen Sozialversicherungen um bis zu 3,5 % gesenkt werden, auch die geplante Beitragsanhe- (Zuruf von der F.D.P.: Was soll denn das bung bei der Rente von 17,5 % auf 19,2 % wäre Gebrülle?) verzichtbar. Ein solcher Schritt würde automa- Der langjährige Oberbürgermeister der Stadt Mün- tisch auch den Rentnern zugute kommen. chen, der verehrte Kollege Kronawitter, hat vor weni- Das heißt im Klartext, um auch das noch einmal in gen Tagen sein Fazit gezogen, das ich voll teile. Erinnerung zu rufen: Die Hauptfinanciers der deut- - (Siegfri schen Einheit sind nicht nur die Arbeitnehmerinnen ed Hornung [CDU/CSU]: Sie haben und Arbeitnehmer, die Beiträge in die Sicherungssy- doch keine Ahnung! — Hans-Joachim Fuch steme zahlen, sondern auch die Rentnerinnen und tel [CDU/CSU]: Schwarzwald!) Rentner über den im Prinzip mehr als vernünftigen — Lieber Kollege Fuchtel, wenn der Bundesarbeitsmi- Ankoppelungsmechanismus: Die Rentenerhöhung nister im nächsten Jahr arbeitslos wird, dann hat er folgt der Lohnerhöhung. Gelegenheit, im Schwarzwald als Saisonarbeiter bei Die Finanzmisere der Bundesanstalt für Arbeit war, der Heuernte eingesetzt zu werden. Das ist ja einer bei Lichte gesehen, von der Bundesregierung durch seiner Vorschläge, um die Probleme zu lösen. diese grundsätzlich falsche Politik vorprogrammiert. (Beifall bei der SPD) Statt nunmehr umzusteuern, wurde in den letzten Monaten die soziale Schieflage bei der Finanzierung Der Bundesarbeitsminister wandelt durch das Ge- der Gestaltungskosten der deutschen Einheit drama- lände wie ein Topert. tisch verstärkt: Abschaffung des Schlechtwettergel- des, Kürzung des Arbeitslosengeldes, Kürzung der (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Im Arbeitslosenhilfe, zeitliche Begrenzung der Arbeitslo- Sozialismus gibt es Dauerarbeitslosigkeit!) senhilfe, Einfrieren der Sozialhilfe usw. usf. Das heißt, Der Kollege Kronawitter hat Ihre Finanzierungsli- mit all diesen Maßnahmen haben Sie ein Doppeltes nie wie folgt zusammengefaßt: bezweckt, zumindest aber erreicht: Sie haben die Entwicklung der Arbeitslosigkeit beschleunigt und Die kleinen Leute werden vom Bundeskanzler gleichzeitig die Arbeitslosen über Leistungskürzun- über den sozial eiskalten wie Weih- gen bestraft. nachtsgänse ausgenommen. Niedrigverdiener, Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose, Sozial- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hilfeempfänger werden in die Armut, an den Das nenne ich: die soziale Schieflage der deutschen Rand der Gesellschaft, oft auch an den Rand der Einheit massiv verstärken. persönlichen Verzweiflung ge trieben. Die Spit- zenverdiener und die großen Vermögensbesitzer Dann wird hier über das Abstandsgebot geredet. Ich bleiben praktisch ungerupft. kann nur sagen: von der Wirklichkeit weit entfernt Herr Hoyer, Sie müssen gerade telefonieren. Ich Das ist präzise der Sachverhalt. nenne Ihnen die Zahlen: Der Arbeitslosenhilfeemp- Herr Geißler hat zur Entlastung der Koalitionspoli- fänger in Ostdeutschland hat im Schnitt 720 DM. tik die Armut in der Dritten Welt angeführt und Sagen Sie mir mal, wie Sie im Monat von 720 DM bei gesagt, es gebe Regionen, in denen Menschen mit westlichen Preisen leben können. Der Arbeitslosen- einem Dollar am Tag überleben und leben müssen. hilfeempfänger in Westdeutschland hat im Schnitt 950 DM. (Uta Würfel [F.D.P.]: Was auch stimmt!) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist doch Dieser Vergleich ist nicht statthaft; denn die armen purer Unsinn, was Sie da sagen!) Menschen in unserer Republik müssen sich an dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16729

Ottmar Schreiner Reichtum unserer Gesellschaft messen und nicht an — Sie können sich setzen. Es dauert länger. den Armen in der Dritten Welt. (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Unver (Beifall bei der SPD — Jochen Feilcke [CDU/ schämtheit!) CSU]: Elend ist nicht rela tiv!) — Ich wollte es Ihnen nur angenehm machen, damit So einfach ist das. Sie die Antwort, die Sie sicherlich begeistern wird, in Ich sage Ihnen jetzt noch einige Sätze zum Reichtum Ruhe zur Kenntnis nehmen können. Bitte schön, unserer Gesellschaft. setzen Sie sich doch. Die SPD hat vor wenigen Tagen auf dem Wiesba- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege dener Parteitag im Rahmen ihres Wirtschaftspoliti- Schreiner, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der schen Leitantrags folgendes beschlossen — ich Kollegin Baumeister? zitiere —: Mit einer stärkeren Besteuerung hoher Privatein- kommen und großer Vermögen Ottmar Schreiner (SPD): Wenn sie nicht so laut ist: Ja. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Wie (Heiterkeit bei der SPD — Zuruf von der hoch?) CDU/CSU: Ach, Herr Schreier!) wollen wir Investitionen in neue Arbeitsplätze finanzieren. Dadurch wird auch die von der jetzigen Bundesregierung geschaffene soziale Brigitte Baumeister (CDU/CSU): Herr Kollege Schreiner, im Normalfall pflege ich mich etwas gemä- Schieflage abgebaut. ßigter zu unterhalten als Sie. Aber das lassen wir nun Nun erzähle ich Ihnen ein paar Sätze zur Vermö- einmal dahingestellt. gensverteilung in dieser Republik, (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Er (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Wo unterhält sich ja nicht; er redet! — Gegenruf beginnen die höheren Einkommen?) der Abg. Ina Albowitz [F.D.P.]: Er schreit!) damit Sie die Alternative begreifen: Von 1970 bis 1992 - hat sich das Privatvermögen in Westdeutschland von Ottmar Schreiner (SPD): Ich werde hier ja nicht für 1 538 auf 9 492 Milliarden DM versechsfacht. Die Unterhaltung bezahlt. reichsten 1 % der Haushalte verfügen über 23 % dieses riesigen Vermögens. Die oberen 10 % der Haushalte vereinigen 50 % des Gesamtvermögens. Brigitte Baumeister (CDU/CSU): Herr Kollege Die untere Hälfte der Haushalte, also 50 % unserer Schreiner, können Sie mir sagen, ab welcher Grenze westdeutschen Gesellschaft, besitzt nur 2,5 % des des Jahresbruttogehalts Sie die Spitzenverdiener ein- gesamten Privatvermögens. Es handelt sich haupt- ordnen? sächlich um jene 50 %, die in der Regel keinen Grundbesitz haben. Ottmar Schreiner (SPD): Ich gebe Ihnen die Antwort (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Stein im Rahmen der Vorschläge, die wir auf dem Wiesba- kühler & Co.!) dener Parteitag u. a. beschlossen haben. Sie können sich aber zur Antwort gerne setzen. Also: Statt die deutsche Einheit über die Arbeitsko- sten zu finanzieren, hätten Sie sie über eine entspre- (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Nein, chende Vermögensabgabe, zumindest aber gleich- ganz konkret! — Dr. Klaus-Dieter Uelhoff wertig über eine parallele Vermögensabgabe bewäl- [CDU/CSU]: Wieviel brutto im Monat? — tigen können. Damit hätten Sie die Finanzierung der Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Spezi- Einheit und Krisenbewältigung zugleich geschafft. fizierte Antwort! — Jochen Feilcke [CDU/ CSU]: Hic et nunc, Herr Schreier!) Ich persönlich habe große Sympathien für den Vorschlag von Oberbürgermeister Kronawitter. — Wir haben bei der Ergänzungsabgabe pausenlos die Summe von 140 000 DM brutto diskutiert. Wir (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Ist das haben Ihnen pausenlos Vorschläge dazu gemacht. Ich jetzt die Antwort auf die Frage?) sage Ihnen jetzt, wie unser Finanzierungsvorschlag — Ja, das ist jetzt die Antwort auf die Frage. aussieht. (Lachen bei der CDU/CSU — Zuruf von der (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Herr CDU/CSU: Da brauchen Sie aber lange, um Schreiner, sagen Sie uns das doch einmal! — auf eine kurze Frage zu antworten!) Michael von Schmude [CDU/CSU]: Herr Schreiner, die Zahl bitte!) — Hören Sie sich den Vorschlag einmal in Ruhe an: Die 10 % der besonders Vermögenden müssen mit Sie können sich gerne setzen. einem 15 %igen Solidarbeitrag belastet werden. Von (Michael von Schmude [CDU/CSU]: Un ihrem Vermögen in Höhe von rund 4 000 Milliarden -glaublich!) DM sind etwa 600 Milliarden DM aufzubringen, und Dann haben Sie es dabei etwas bequemer. zwar in zehn Jahresraten von jährlich 60 Milliarden DM; dies entspricht 1,5 % dieses Vermögens. (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Soll das heißen, daß Sie die Frage nicht beantworten? (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Gehören auch Oder wie soll ich das auffassen?) Sie zu der Gruppe?) 16730 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Ottmar Schreiner Gemessen an den erheblichen Einbußen des Realein- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege kommens der Lohn- und Gehaltsempfänger, der So- Schreiner, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der zialhilfeempfänger, der Arbeitslosenhilfeempfänger, Kollegin Baumeister? der Arbeitslosengeldempfänger ist dies wohl mehr als zumutbar. Ottmar Sch reiner (SPD): Die Dame ist nicht zu (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Was erschüttern. Bitte schön. verdient er im Monat?) Nun bitte ich die nachfolgenden Koalitionsredner, Brigitte Baumeister (CDU/CSU): Herr Kollege insbesondere den Bundesarbeitsminister Blüm, zu Schreiner, ich mache noch einen Versuch in der diesem Vorschlag Stellung zu nehmen. Hoffnung, von Ihnen eine konkrete Antwort zu erhal- ten. Auf die letzte Frage habe ich keine erhalten. (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Wann kommt denn die Antwort?) (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Er liest den nächsten Parteitagsbeschluß vor!) Zum zweiten. Es wird seit l anger Zeit über die Herr Kollege Schreiner, würden Sie bitte zur Kennt- hohen Arbeitskosten gejammert. Ich sage ihnen hier nis nehmen, daß es in der Bundesrepublik Deutsch- nur als Datum: Die volkswirtschaftliche Lohnquote, land auch Klein- und Mittelbetriebe gibt, die mit dem also der Anteil der Einkommen aus lohnabhängiger Export relativ wenig zu tun haben? Würden Sie bitte Arbeit, hat sich in Westdeutschland von 77 % in 1982 auch zur Kenntnis nehmen, daß gerade Handwerks- auf 71 % in 1992 verschlechtert. Das ist ein Ausdruck betriebe in der Bundesrepub lik Deutschland — hier gewaltiger Vermögensumverteilung in Westdeutsch- spreche ich aus eigener Erfahrung — sehr personalin- land. tensiv sind und daß sie ganz extrem unter den Lohn- (Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: Das und den Lohnnebenkosten zu leiden haben? Monatseinkommen in D-Mark, sonst gar (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) nichts!) Für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirt- Ottmar Schreiner (SPD): Das nehme ich alles zur schaft gibt es andere Faktoren, die weitaus bedeuten- Kenntnis. Nun will ich Ihnen meine Antwort geben. - der sind als die Entwicklung der Arbeitskosten. Ich Damit kann ich gleichzeitig den Kollegen Hoyer nenne zwei. befriedigen, der eine weitere Irrlehre in die Welt Erstens. Die Aufwertung der D-Mark um 10 % gesetzt hatte. Der Kollege Hoyer hat gesagt: Die entspricht einer Lohnsteigerung um mehr als 30 %. Ausgestaltung der Beitragsbemessungsgrenze bei Der Kollege Helmut Wieczorek hat vorgestern beim der Pflegeversicherung darf nicht dazu führen, daß Beginn der Haushaltsberatungen dazu gesagt: die mittelständischen Betriebe gefährdet werden. Sie stellen wieder alles auf den Kopf. Gerade aus den Für die exportorientierte Wi rtschaft wurden des- mittelständischen Betrieben kommt die Forderung halb sehr viel mehr Probleme durch die Wäh- nach einer Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze rungspolitik verursacht, als jemals Gewerkschaf- nicht nur in der Pflege-, sondern auch in der Kranken- ten mit Lohnabschlüssen hätten verursachen versicherung, weil in aller Regel — Ausnahmen sind können. erlaubt — in der exportorientierten Großwirtschaft die Zweiter Gesichtspunkt. Die Lohnstückkostenent- Löhne weitaus höher sind als in vielen mittelständi- wicklung nach oben seit 1991 hängt wesentlich mit schen Betrieben. Je niedriger ich die Beitragsbemes- der Unterauslastung der Betriebe zusammen: in der sungsgrenze ansetze, um so größer ist der arbeitge- Regel 70 %. Je niedriger die Auslastung ist, um so berinterne Umverteilungseffekt zu Lasten der mittel- höher sind die Lohnstückkosten, und um so schwieri- ständischen Betriebe. ger ist die Wettbewerbslage. Die Auslastungspro- Reicht das, oder wollen Sie weitere Auskünfte bleme resultieren ihrerseits zumindest teilweise aus haben? Das können wir nachher draußen vor dem Saal der von dieser Bundesregierung massiv geschwäch- veranstalten. — Gut; es reicht. ten Nachfrage der Bezieher kleinerer Einkomm- (Dr. Werner Hoyer [F.D.P.]: Diese Mittel men. standsvertreter schicken Sie bitte zu mir!) (Beifall bei der SPD) Ich will zusammenfassen, meine Damen und Her- Ein letzter Gesichtspunkt. Wenn die Arbeitskosten ren. Der Gefährdungsbereich soziale Gerechtigkeit ist wirklich der wesentliche Gesichtspunkt wären: Wer bei dieser Koalition in denkbar schlechten Händen. hindert diese Bundesregierung und die mit ihr einher- Sie treten die soziale Gerechtigkeit seit Jahren mit laufenden Koalitionsfraktionen daran, morgen früh Füßen. Sie setzen die Ursachen für die Gefährdung die von Ihnen gesetzte Erhöhung der Arbeitskosten des sozialen Friedens, für steigende Kriminalität, für — 50 Milliarden DM zur Finanzierung der deutschen steigende Gewaltbereitschaft und für die bedenkliche Einheit — aus den Systemen der sozialen Sicherung Hinwendung vieler vor allen Dingen junger Men- herauszunehmen und anders, gerechter zu finanzie- schen zu radikalen politischen Cliquen wesentlich ren? Das könnten Sie morgen früh machen, wenn der mit. ganze Klamauk, den Sie in dieser Frage veranstalten, Den zweiten Gefährdungsbereich, die Massenar- auch nur halbwegs ernstzunehmen wäre. beitslosigkeit, kann ich auf Grund der offenkundig (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der einzige, abgelaufenen Redezeit nicht mehr behandeln. Des- der Klamauk macht, steht vorn am Redner- halb bleibt vor allen Dingen dem Bundesarbeitsmini- pult!) ster einiges erspart. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16731

Ottmar Schreiner Ich will mit dem Satz schließen: Diese Regierung ist einer dritten der Kollege Reimann. Dann machen wir verbraucht. Das Land hat diese Regierung nicht ver- Schluß mit den Kurzinterventionen. dient. Wir brauchen eine neue, kraftvolle, phantasie- Herr Kollege Fuchtel. volle, soziale Gerechtigkeit gestaltende Bundesregie- rung. Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Kollege Schönen Dank für Ihren Lärm. Schreiner, Sie haben heute wieder einen Beitrag zu (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste einer Neiddiskussion in diesem Land gegeben, — Michael von Schmude [CDU/CSU]: Eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Niveaulosigkeit sondergleichen!) was wir absolut nicht gebrauchen können. Wir sollten uns doch gegenseitig nicht unsere Bemühungen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun erhalten zu absprechen, für die Zukunft wieder bessere Verhält- einer Kurzintervention als erster der Kollege Dr. Wal- nisse auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Ich möchte ter Hitschler und anschließend der Kollege Fuchtel für die Koalition nochmals betonen, daß das Sparen das Wort. kein Selbstzweck ist, sondern zum Ziel hat, daß wir wieder auf die Füße kommen und daß wir wieder Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Frau Präsidentin! Die wirtschaftlich Erfolg haben können, unqualifizierten Tiraden des Kollegen Schreiner (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben mich zu dieser Kurzintervention veranlaßt, weil dies unseren Menschen am meisten nützt, auch (Ottmar Schreiner [SPD]: Damit habe ich denen, für die Sie sich einsetzen wollen. aber viel bewirkt: Sie sind aufgewacht!) Dann möchte ich ganz konkret die Frage stellen: Ab und zwar deshalb, weil er hier ein Bild von einer wann sollen die zusätzlichen Belastungen gelten? Ab neuen Armut gezeichnet hat, das mit der Wirklichkeit welchem Monatseinkommen? Der Herr Scharping ist überhaupt nichts zu tun hat. gestern an das Pult ge treten und hat hier etwas von Statt mich mit Durchschnittszahlen des Statistischen 200 DM Mehrbelastung ab 2 000 DM Einkommen- Bundesamtes zu befassen, habe ich mich bei meiner steuer im Monat erzählt. Aber ich möchte Sie heute einmal festnageln und möchte defini tiv wissen, ein Heimatgemeinde umgehört, was eine sozialhilfebe- - wie hohes Monatseinkommen die Grundlage für Ihre rechtigte Familie im Monat bekommt. Ich gebe zu, es handelt sich um eine sozialhilfeberechtigte Familie Berechnungen ist, damit wir hier einmal Klarheit mit drei minderjährigen Kindern. Ich darf eben, Herr haben, was Sie wollen und ob dies überhaupt reali- Kollege Schreiner, nicht nur die Hilfe zum Lebensun- stisch ist. Ich denke, Ihre Vorschläge sind Luftbuchun- terhalt rechnen, sondern muß all das einbeziehen, was gen, die uns nicht weiterführen; sonst hätten Sie sie die Kommune in bar im Laufe eines Jahres für eine schon längst konkretisiert. sozialhilfeberechtigte Familie aufzubringen hat, bei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) spielsweise an pauschaliertem Wohngeld — es wer- den die gesamten Wohnkosten übernommen —, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Rei- Weihnachtsbeihilfen, Erziehungsbeihilfen usw. Alles mann, ich darf darauf hinweisen, daß Sie sich nach zusammengerechnet hat es in meiner Heimatge- unserer Geschäftsordnung auf den Redner Ottmar meinde einen Monatsbetrag von 3 364 DM netto Schreiner beziehen müssen und jetzt nicht eine Stel- ergeben. lungnahme zu Kurzinterventionen vorheriger Kurzin- Wenn Sie angesichts solcher Verhältnisse sagen, tervenierer geben dürfen. das Abstandsgebot im Hinblick auf die erwerbstätige Bevölkerung sei nicht mehr gewährleistet, wissen Sie offensichtlich nicht mehr, was Erwerbstätige in unse- Manfred Reimann (SPD): Recht schönen D ank, Frau rer Republik zu verdienen pflegen. Präsidentin. Ich beziehe mich auf diesen Beitrag. Es paßt in diesen Beitrag aber auch hinein, daß die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Debatte um die Sozialhilfe, die auch Bestandteil der Ich muß ferner hinzufügen: Wer angesichts solcher Rede war, nicht mit den Argumenten der Republika- Verhältnisse ein solches Bild der Armut skizziert, wie ner hier in diesem Saale fortgesetzt werden sollte. Sie das getan haben, der will in unserer Bevölkerung (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions ganz bewußt desinformieren. Ich bitte Sie auch, zu los]: Die kennen Sie doch gar nicht!) berücksichtigen, Herr Kollege Schreiner, daß wir inzwischen in den neuen Bundesländern bei der Die Rechnung der 3 300 Mark ist nämlich genau das Sozialhilfe bei einem Prozentsatz von 95 % unserer von den REPs Verschickte, ohne daß man zuzugeben Sozialhilfesätze angelangt sind, während die Er- bereit ist, was davon an Miete bezahlt wird und was werbseinkommen noch zwischen 60 und 80 % der letztendlich zum Lebensunterhalt für die fünfköpfige Beträge in den alten Ländern schwanken. Auch in Familie übrigbleibt. Da muß man dem Kollegen diesen Fällen ist das Abstandsgebot zwischen Sozial- Schreiner recht geben: Da muß man etwas differen- transfer und Erwerbseinkommen in der Wirklichkeit ziert herangehen. ganz einfach nicht mehr gegeben. Meine zweite Bemerkung ist: Wenn in der Rede vom Kollegen Schreiner von den Reallöhnen die Rede war, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dann nehmen Sie bitte auch einmal zur Kenntnis, daß sich unter dieser Bundesregierung die Reallohnein- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zu einer zweiten kommen der Arbeitnehmer in den letzten zehn Jahren Kurzintervention spricht der Kollege Fuchtel und zu um 10 % erhöht haben und die Einkommen der 16732 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Manfred Reimann Unternehmer, der Selbständigen und aus Vermögen bei Alleinstehenden von 60 000 DM aufwärts und bei um über 120 %. Verheirateten von 120 000 DM aufwärts. (Zuruf von der CDU/CSU: Und die der So- (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Wie bei zialhilfeempfänger?) Daimler-Benz!) Wer dann hier von den Konservativen behaupten wi ll, Das waren die genauen Grenzen. Die Grenzen sind daß diese 10%ige Reallohnerhöhung eine spürbare vergleichsweise im Mittelfeld, damit da wirk lich Lebensverbesserung gebracht habe, der redet in der Masse zusammenkommt und nicht nur ein paar Trop- Tat an der Sache vorbei. fen. Insofern muß man dem Kollegen Schreiner Unter- Aber das ist erst einmal jenseits der eben vorgeführ- stützung zuteil werden lassen, was seine Betrachtung ten Betrachtungen über die Möglichkeiten, über eine der Zahlen und die realpolitische Annahme der wirk- Vermögensabgabe notwendiges Geld zur Finanzie- lichen Armut in der Bundesrepublik Deutschland rung der Gestaltungskosten der deutschen Einheit — ich bin auch gern bereit, mit Ihnen darüber zu beizubringen. diskutieren — betrifft. Zum Kollegen Hitschler: Man muß bei diesen Zah- (Beifall bei der SPD) len wirklich sehr aufpassen. Es ist nach meiner Kennt- nis zutreffend, daß es bei einem Sozialhilfeempfän- ger-Ehepaar mit drei oder mehr Kindern Gesamtein- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- kommensgrößen gibt, die sich mit den untersten lege Schreiner den Wunsch geäußert, nach unserer Lohneinkommen berühren. Die Antwort kann aber Geschäftsordnung, auf die Kurzinterventionen zu ent- nicht sein, den bei den Sozialhilfeempfängern gegnen. germaßen funktionierenden Kinderlastenausgleich Ich möchte nur noch einmal darauf hinweisen, auch noch zu kürzen. Die Kinder haben es in diesen Kollege Reimann: Das war genau das, was eine Familien wahrlich schwer genug. Die Antwort kann Kurzintervention eigentlich nicht sein soll, nämlich vielmehr nur sein, den äußerst mangelhaften Famili- eine Stellungnahme zur Rede des vorhergehenden enlastenausgleich bei den Familien mit Lohnbezügen Redners. — Nein, Sie sind nicht noch einmal dr an. und Kindern wesentlich besser zu gestalten, als er Der Kollege Schreiner hat das Wort. gegenwärtig gestaltet ist. (Beifall bei der SPD) Ottmar Schreiner (SPD): Frau Präsidentin, ich halte Das ist doch das Problem. Dazu hat die SPD zahllose mich streng an die Regeln. Ich will hier zwei Fragen Vorschläge gemacht. beantworten. (Zuruf des Abg. Dr. Walter Hitschler Der Kollege Fuchtel [F.D.P.]) (Zurufe von der CDU/CSU: Herr „Schreier"!) — Reden Sie einmal mit den Familienverbänden, reden Sie doch einmal — Sie sind doch leidenschaft- hat nach den Größenordnungen gefragt, ab welcher Einkommensgrenze — — licher Bibelsammler — mit der katholischen Kirche oder der evangelischen Kirche. Die Forderungen der (Fortgesetzte Zurufe) SPD-Fraktion, seit Jahren hier vorgetragen, einen Teil — Jetzt sind die schon wieder — — des Ehegattensplittings dazu zu verwenden, das Kin- (Zuruf von der CDU/CSU: Herr „Schreuner" dergeld deutlich aufzustocken, würde den Familien- hat das Wort! — Gegenruf von der SPD: Er lastenausgleich wesentlich erträglicher machen, als er kann sich doch mal vertun!) gegenwärtig ist.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Schreiner, — Schreiner, Sie haben jetzt gerade den Namen des — Kollegen Fuchtel verballhornt, wahrscheinlich unab- sichtlich. Ottmar Schreiner (SPD): Da sollten Sie in diese (Widerspruch bei der CDU/CSU) Richtung diskutieren und nicht in die ganz falsche Richtung galoppieren. — Ich gehe einmal davon aus, weil das nämlich ansonsten ein bißchen kindisch wäre. Danke schön für die Großmut, Frau Präsidentin. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der F.D.P.: Die Rechnung stimmt nur nicht! — Zurufe von der CDU/CSU) Damit haben Sie diese Reaktionen hervorgerufen. Ich möchte Ihnen nur die Verhaltensweisen hier erklä- ren. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Und nun erteile ich das Wort der Frau Kollegin Ina Albowitz.

Ottmar Schreiner (SPD): Der Kollege Fuchtel hat also gefragt, ab welcher Einkommenshöhe die SPD Ina Albowitz (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine sehr zusätzliches Geld abverlangen wird. Soweit ich die verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Beschlußlage meiner Partei kenne — das gilt zumin- Kollegen! Ich finde, das war jetzt eine ganz schön dest für die Forderung nach einer sogenannten Ergän- lebhafte Debatte. zungsabgabe, also nach zusätzlichen Steuerbelastun- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Ich kann nichts gen ab einer bestimmten Einkommensgröße —, gilt: verstehen! Lauter!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16733

Ina Albowitz — Das Mikrofon bediene ich jetzt nicht, Herr Kollege Kollege, die Koalition hat in diesem Jahr ein Sonder- Feilcke. Ich hoffe, das macht die Technik hinter mir. programm in Höhe von 2 Milliarden DM für AB Aber nachdem der Kollege Schreiner uns alle etwas aufgelegt; das wissen Sie. Es gab darin eine Zweck- strapaziert hat, rede ich jetzt etwas leiser. Dann bindung derart, daß die Mittel, die bis zum Herbst müssen alle etwas mehr zuhören. Vielleicht geht das diesen Jahres in den neuen Bundesländern nicht dann. ausgegeben werden konnten, in die westlichen, die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) alten Bundesländer zurückfließen sollten. 200 Millio- nen DM sind zurückgekommen. Offensichtlich sind Ich wollte den Kollegen Schreiner eigentlich vor die alten Bundesländer — auch Nordrhein-Westfalen, dem Kollegen Reimann in Schutz nehmen. Er hat weil Sie soeben Dortmund als Beispiel brachten — natürlich keine republikanischen Thesen hier verkün- nicht in der Lage, jene 200 Millionen DM umzuset- det, sondern eher Klassenkampfparolen aus dem zen. vergangenen Jahrhundert. (Ottmar Schreiner [SPD]: So ein Quatsch! Sie (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) haben keine Ahnung, aber davon jede Aber er hat natürlich auch ein paar ernste Fragen Menge!) gestellt. Es gibt in der Bundesrepublik eine Wahnsinnskam- Im übrigen, Herr Kollege Schreiner, wenn Sie mir pagne, mit der die Arbeitsämter Leute auffordern, sich die folgende Anmerkung noch gestatten: Ich hatte zu melden. Ja, mein Gott noch mal, ist das die streckenweise bei Ihrer Rede den Eindruck, Sie befän- Qualifikationsoffensive, die damit eingeleitet werden den sich noch in der pubertären Phase. Sie waren soll? Das kann doch nicht wahr sein! außerordentlich rüpelhaft. Das würde ich zumindest sagen, wenn Sie zu meinen Kindern gehörten. Ich (Ottmar Schreiner [SPD]: Sie haben keine finde, so sollten wir hier nicht miteinander umge- Ahnung!) hen. — Herr Kollege, wahrscheinlich mehr als Sie, aber das (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- machen wir untereinander ab. Das müssen wir nicht ten der CDU/CSU) hier tun. Das ist auch nicht der Stil, in dem wir eine - Da ich mir keinen Ordnungsruf einhandeln will, habe Debatte führen sollten. Ich möchte mich ungern auf Ihr ich gesagt: Ich würde das sagen, wenn Sie zu meinen Niveau begeben. Kindern gehörten. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Ottmar Schreiner [SPD]: Sie können es mir ten der CDU/CSU) ruhig so sagen!) 130 Milliarden DM für den Sozialhaushalt, meine — Ja, das weiß ich. Sie können es vertragen; Sie teilen Damen und Herren — das ist mehr als der gesamte ja auch aus. Bundeshaushalt der Regierung Brandt in ihrem letz- Sie haben aber mehrere interessante Fragen ten Regierungsjahr. Trotz dieser gewaltigen Summe, gestellt. Ich denke, auf sie sollte man kurz einge- mit der wir heute den Einzelplan 11 abschließen, Herr hen. Bundesarbeitsminister, mußten wir in diesem Jahr Leistungseinschnitte vornehmen, um das Ganze nicht (V o r s i t z: Vizepräsident Hans Klein) zu gefährden. Daß die Bürgerinnen und Bürger natür- Sie haben in Frage gestellt, daß die Löhne zu hoch lich wissen wollen, warum sie gerade auch im Sozial- sind, daß die Lohnnebenkosten zu hoch sind, daß die bereich Einschnitte erfahren müssen, ist verständlich. Sozialhilfe zu hoch ist — alle die Dinge, die die Ein Grund hierfür sind die allgemeine Situation auf Debattenredner vor mir angesprochen haben. Alle dem Arbeitsmarkt und die Prognosen für 1994. Schön- diese Faktoren zusammen sind zu hoch, Herr Kollege. färberei ist nicht mehr angesagt, längst haben die Könnten wir uns darauf verständigen? Wir haben in rezessionsbedingten Anpassungen und Umstruktu- den letzten Jahren in dieser Republik über unsere rierungen auch den Arbeitsmarkt im Westen erfaßt. Verhältnisse gelebt, und deswegen sind wir heute in Wir wissen das alle. einer außerordentlich schwierigen Situation. Die Arbeitslosenquote in den alten Bundesländern (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) erhöhte sich binnen Jahresfrist von 6 % auf 7,6 %; das Sie haben gefragt, um hier eine Klassenkampfpa- sind gut eine halbe Million mehr Arbeitslose als im role hineinzubringen: Wer bezahlt eigentlich die Ein- Oktober 1992. Bei den Arbeitsämtern in den neuen heit Deutschlands? Bundesländern und im Ostteil Berlins erhöhte sich die Quote gegenüber Oktober 1992 von 14,4 % auf (Zuruf von der SPD: Wir!) 15,3 %. Meine Damen und Herren, dazu kommt, daß — Natürlich, genau wir, und zwar wir alle, die Bürger in den neuen Bundesländern speziell Frauen — das dieser Bundesrepublik. Sie können sie nicht trennen macht mich besonders traurig — vom Anstieg der in Steuerzahler, Rentner und Beitragszahler. Jeder an Arbeitslosigkeit betroffen sind und daß darüber hin- seinem Platz und jeder an seiner Stelle trägt zur aus bundesweit die Länge der Arbeitslosigkeit, ein Finanzierung der Einheit Deutschlands bei. Faktor, der für die Be troffenen besonders zermürbend ist, deutlich zugenommen hat. Ich bin dem Kollegen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Diller dankbar, daß er auch auf die Ausweitung des ten der CDU/CSU) Programms — die Mittel dafür haben wir gemeinsam Sie haben einen weiteren Punkt angesprochen und in den Haushalt eingestellt — hingewiesen hat. Ich die mangelnde Ausstattung bei ABM beklagt. Herr denke, wir müssen auf diesem Weg, um dem Problem- 16734 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Ina Albowitz kreis gerecht zu werden, weiter Lösungen finden. Ich Das jetzt noch zusätzlich zu den Zuschüssen einge- bin gern bereit dazu. stellte Liquiditätsdarlehen von 8 Milliarden DM deckt Meine Damen und Herren, wurde noch Mitte des Schwankungsfehlbeträge und zwingt die Bundesan- Jahres mit einem Anspringen der Konjunktur im Jahre stalt zu klarer Haushaltsführung. Außerdem muß sie 1994 gerechnet, so steht heute fest, daß die Zahl der uns Bericht erstatten. Arbeitslosen bundesweit ansteigen wird. Als Reaktion (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) darauf hat der Haushaltsausschuß in seiner „Bereini- Es geht mir aber nicht um Schuldzuweisungen gungssitzung" die Mittel für Arbeitslosenhilfe um jedweder Art. Die bringen uns in der Sache — und da 1 Milliarde DM auf 12,135 Milliarden DM angehoben. sollten wir uns in diesem Hause einig sein — nicht Trotz allem konnte auch der Sozialhaushalt von Kür- weiter. Nach dem Motto jedoch „Schneidet end lich zungen nicht verschont bleiben. Denn das von den alte Zöpfe ab!" ist es längst Zeit, die Struktur der Koalitionsfraktionen im Oktober in diesem Hause Arbeitsverwaltung insgesamt einer genauen Wirt- beschlossene Sparpaket in einer Höhe von schon rund schaftlichkeitsprüfung zu unterziehen. 21 Milliarden DM hat sich, was das Sparvolumen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne betrifft — Herr Kollege Diller, Sie haben das damals ten der CDU/CSU) außerordentlich kritisiert, als ich das gesagt habe —, als nicht ausreichend erwiesen. Der Haushaltsausschuß hat daher den Bundesrech- nungshof aufgefordert, das neue Personalbemes- Einer der Gründe, warum in den nächsten Wochen sungssystem der Bundesanstalt für die Abteilungen noch zusätzlich 5 Milliarden DM eingespart werden Arbeitsvermittlung und Arbeitsberatung und den müssen, ist der Anstieg der Zahl der Arbeitslosen und Bereich Statistik, zunächst nur mit Geltung für die der dafür notwendige Zuschuß an die Bundesanstalt alten Lander, zu prüfen. Er hat darüber hinaus die für Arbeit. Betrachtet man die Zuschußerhöhung des Bemessung der Personalausgaben für die Bundesan- Bundes um über 7 Milliarden DM, dann ist es schon stalt für Arbeit im Jahre 1994 vom Berichtergebnis des ein starkes Stück, meine Damen und Herren, wenn die Rechnungshofes abhängig gemacht. stellvertretende DGB-Vorsitzende, Frau Dr. Engelen- Kefer, trotz und in Kenntnis der entsprechenden Die Bemerkungen des Bundesrechnungshofs" sind in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich: Es ist von Beschlüsse des Haushaltsausschusses verlautbaren - läßt, der Ausschuß boykottiere die sozial verantwort- Verbesserungsmöglichkeiten, vom Klärungs- und baren Beschlüsse von Vorstand und Verwaltungsrat Ergänzungsbedarf und — da horcht der Haushälter der Bundesanstalt. — Das Gegenteil ist der Fall! auf — dem Vorhandensein von Rationalisierungs- reserven die Rede. Ich lese den Bericht so, daß eine (Zuruf von der CDU/CSU: Die kennt doch die qualitative Verbesserung der Arbeit der Bundesan- Ämter nicht!) stalt gerade in den Bereichen Arbeitsvermittlung und — Ja, genau. Arbeitsberatung angemahnt wird. Das ist genau das, was wir schon längst gefordert haben. In die „Feststellung des Haushalts der Bundesan- stalt" hat die Selbstverwaltungskörperschaft erhebli- Ich halte es für unver tretbar, daß in Anbetracht der che Mittel zu Lasten des Bundes eingestellt und dies in vielen Menschen, die heute ohne Arbeit sind, die trauter Gemeinsamkeit — ich kritisiere das ausdrück- Bundesanstalt zwei Drittel der Zeit für die Arbeitslo- lich — von Arbeitgebern und Arbeitnehmern senbetreuung und nur ein Drittel für die so wesentli- beschlossen. che Arbeitsvermittlung aufwendet. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — ten der CDU/CSU) Zuruf von der F.D.P.: Unglaublich!) Hier müssen Strukturveränderungen dringend in Es ist einfach, sich auf fremde Rechnung neue Kleider Angriff genommen werden. Ich möchte den Präsiden- zu kaufen. ten der Bundesanstalt auffordern, eine umfassende (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Organisationsüberprüfung durchzuführen. Der Mo- CDU/CSU) dellversuch zur privaten Arbeitsvermittlung ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Konnte die Bundesanstalt für Arbeit 1985 noch einen Haushaltsüberschuß von 2,3 Milliarden DM (Beifall bei der F.D.P.) aufweisen, so wird von der Bundesanstalt für das Jahr Herr Arbeitsminister, ich höre, daß Sie von Gewerk- 1994 ein Defizit von insgesamt 24,7 Milliarden DM schaftsvertretern in Dortmund wegen des Standortes eingestellt. Dieses Defizit muß der Bund aus Steuer- schon attackiert werden. Lassen Sie sich nicht irritie- mitteln abdecken. Daher muß die Frage gestattet sein, ren, wir sind bei Ihnen. wie es dazu kommen konnte. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Vor dem Hintergrund dieses Fehlbetrags hat der ten der CDU/CSU — Lachen und Zurufe von Haushaltsausschuß mit den Stimmen der Koalition der SPD) einen gesetzlichen Automatismus — jetzt wäre ich vor allen Dingen den Kollegen der Opposi tion dankbar, Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- wenn sie zuhören würden —, der Betriebsmitteldarle- zeit ist schon ein Stück überschritten. hen mit Ablauf des Haushaltsjahres automatisch in nicht rückzahlbare Zuschüsse verwandelte, aus dem Haushalt gestrichen — nicht zuletzt deshalb, um die Ina Albowitz (F.D.P.): Ich weiß, Herr Präsident. — Ich Ausgabenmentalität der Bundesanstalt in die richti- möchte noch einen Schlußsatz sagen: Die Kontrolle gen Bahnen zu lenken. der qualitativen Arbeitsverbesserung innerhalb der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16735

Ina Albowitz Bundesanstalt muß eine gemeinsame Aufgabe aller für die Bundesanstalt für Arbeit senken wollen, son- Fraktionen dieses Hauses sein. Ich finde, daran sollten dern weil Sie Spielraum für neue, staatlich finanzierte wir ohne Polemik mitarbeiten. Beschäftigungsprogramme finden wollen. Vielen Dank. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Genau das ist es!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Das heißt, Sie drücken uns durch das, was Sie hier ten der CDU/CSU) vorschlagen, doppelte Kosten auf. Darüber sollte m an schon ehrlich diskutieren.

Vizepräsident Hans Klein: Als nächster hat der Kollege Dr. Gero Pfennig das Wort. Vizepräsident Hans Klein: Gestatten Sie eine Zwi- schenfrage des Kollegen Schreiner?

(CDU/CSU): Herr Präsident! Dr. Gero Pfennig Dr. Gero Pfennig (CDU/CSU): Wenn es nicht auf Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine meine Zeit geht, bitte. grundsätzliche Vorbemerkung machen und dann auch etwas zur Bundesanstalt für Arbeit sagen. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das geht auf Ihre Nerven, nicht auf Ihre Zeit!) Zum Beitrag des Kollegen Schreiner möchte ich anmerken: Daß die Arbeitslosigkeit in den Staaten — Das geht nicht auf meine Nerven, Frau Kollegin, der Europäischen Union einen so hohen Stand bestimmt nicht! erreicht hat, daß die Kommission der Europäischen Union die Schaffung von 15 Millionen neuen Arbeits- Ottmar Schreiner (SPD): Ich wollte Sie fragen, ob plätzen bis zum Jahre 2000 für vordringlich hält, Ihnen bekannt ist, daß die von mir in dem Beitrag wissen Sie. Die Mitgliedstaaten haben es aber abge- soeben erneut erhobene Forderung von den Ministern lehnt, das als Leitlinie für ihre Wirtschaftspolitik Blüm und Rexrodt dem Grunde nach in der ersten verankern zu lassen, weil sie mit der Kommission Lesung des Bundeshaushalts im September dieses darum streiten, wie die Arbeitsplätze geschaffen wer- Jahres ebenfalls gestellt worden ist, und zwar mit der den können. Trotzdem bleibt die Feststellung richtig, Begründung, hier handele es sich um systemwidrige daß so viele Arbeitsplätze fehlen und geschaffen Belastungen der sozialen Sicherungssysteme. Herr werden müssen. Blüm und Herr Rexrodt sind ausnahmsweise einmal in Strittig ist der Weg zur Schaffung der neuen Arbeits- diesem Doppelgespann meine Kronzeugen. Stimmt plätze gewesen. Unstrittig, Herr Kollege Schreiner, Sie das freudig? zwischen den Mitgliedstaaten ist gewesen, daß nicht die Regierungen verpflichtet werden können, sich Dr. Gero Pfennig (CDU/CSU): Herr Kollege Schrei- selbst für neue Arbeitsplätze zu engagieren. Schon ner, Ihnen ist sicherlich genauso wie mir bekannt, daß gar nicht wurde der Vorschlag des Kommissionspräsi- nicht zwei Minister der Bundesregierung darüber zu denten Delors akzeptiert, für kredit- und/oder staat- entscheiden haben, wo welche Ausgaben getätigt lich finanzierte Arbeitsbeschaffungsprogramme werden, sondern daß dies immer noch dieses Haus 30 Milliarden ECU auszugeben. hier macht. Das ist das Recht des Parlaments. Wenn Ich finde, das müßte die SPD in Deutschland auch dieses Haus Ausgaben an einer bestimmten Stelle einmal zur Kenntnis nehmen; denn unter den Regie- einstellt, dann bleiben sie da auch. rungen der Mitgliedstaaten in der Europäischen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Union sind ja auch solche, die von der Sozialistischen der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Das ist die Internationale gestellt werden. Auch die sind gegen Meinung eines einzelnen Herrn!) den Kommissions-Vorschlag gewesen. Ich finde, es Ich möchte fortfahren in dem, was ich soeben gesagt bringt überhaupt nichts, wenn die SPD unverdrossen habe. Ich denke, über die Politik von CDU, CSU und versucht, uns in Deutschland derartige Arbeitsbe- F.D.P., die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft so schaffungsprogramme als Allheilmittel gegen die zu gestalten, daß verbesserte inte rnationale Konkur- Arbeitslosigkeit zu verkaufen, verpackt in dem Beg riff renzfähigkeit auch zu mehr Arbeitsplätzen führt, „Aufbau eines zweiten Arbeitsmarktes". besteht innerhalb der Europäischen Union absolut Meines Erachtens müßten Sie schon so ehrlich sein Übereinstimmung zwischen allen Regierungen der und sagen: Dahinter steckt nichts weiter als die Mitgliedstaaten — egal, wer die Regierung und wer traditionelle SPD-Forderung nach höheren Ausga- die Opposition stellt. Deswegen sollten wir auch in ben, höheren Steuern und höheren Schulden — mit Deutschland damit fortfahren. Aufgabe der Wirt- der voraussehbaren Folge, daß reguläre Arbeitsplätze schafts-, Geld- und Lohnpolitik ist es, die Rahmenbe- verschwinden und neue reguläre Arbeitsplätze gar dingungen herzustellen. Aufgabe der Arbeitsmarkt- nicht erst entstehen können. politik ist es, das Ziel zu unterstützen, für soziale (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Folgen von Arbeitslosigkeit Ausgleich zu schaffen Zuruf des Abg. Ottmar Schreiner [SPD]) oder der Arbeitslosigkeit vorzubeugen. Aber Haupt- ziel muß doch immer die Heranführung an reguläre — Herr Kollege Schreiner, ich habe Ihnen vorhin, Arbeitsplätze bleiben. ohne Sie durch Zwischenrufe zu unterbrechen, genau zugehört. Ich hatte den Eindruck: Wenn Sie hier (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — verlangen, die Bezahlung von Leistungen aus dem Karl Diller [SPD]: Verhaltener Beifall bei der Bundeshaushalt selbst vorzunehmen, statt aus dem Koalition!) Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit, dann verlan- Wir werden in Deutschland 1994 nach den Progno- gen Sie das doch nicht deswegen, weil Sie die Beiträge sen 3,7 Millionen Arbeitslose haben. 2 Millionen 16736 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Gero Pfennig Menschen haben wir 1992 durch Arbeitsmarktpolitik meine Begriffe Aufgabe des Bundestages, weitere vor der Arbeitslosigkeit bewahrt. 1993 wird die Zahl Verbesserungen in der Arbeitsmarktpolitik herbeizu- eine ähnliche Größenordnung haben; 1994 liegt sie führen. dank der 18 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt Die Erfolge der Bundesanstalt in der Mißbrauchs- erneut in dieser Größenordnung. Es stehen 1994 bekämpfung können nicht darüber hinwegtäuschen, insgesamt über 50 Milliarden DM für Arbeitsmarktpo- daß in manchen Bereichen zwar nicht mißbräuchlich litik bereit, vorwiegend bei der Bundesanstalt für Leistungen bezogen werden, aber völlig überflüssig Arbeit, aber nicht nur dort. Leistungen erbracht werden, weil Beschäftigungs- Gleichzeitig hat der Haushaltsausschuß in Zusam- möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden. Das hat menarbeit mit dem Präsidenten der Bundesanstalt für beispielsweise der sehr langsame Abfluß der Mittel Arbeit und der Selbstverwaltung große Anstrengun- aus dem 2-Milliarden-DM-Sonder-ABM-Programm gen unternommen, den Zuschußbedarf aus dem Bun- des Bundes 1993 gezeigt. Darüber hinaus dürfte aber deshaushalt besser zu kontrollieren und eine sparsa- allen in diesem Hause bekannt sein, daß es genug mere und zielgerichtetere Verwendung aller Mittel zu Arbeitslose gibt, die gewillt sind, Teilzeitarbeit anzu- fördern. Die Bundesanstalt hat inzwischen akzeptiert, nehmen, dies aber aus Furcht vor geringerem Arbeits- daß sie wie alle anderen Bundesbehörden mit dem losengeld bei eventuell erneuter Arbeitslosigkeit vom Bundestag bewilligten Geld im Rahmen ihres von nicht tun. Ich meine, wir müssen hier gemeinsam neue der Bundesregierung genehmigten Haushalts aus- Wege finden, um diese Sperre bei der Arbeitsauf- kommen muß und nicht zu Lasten des Bundeshaus- nahme zu überwinden. halts vorgegebene Ansätze nach Belieben überschrei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ten darf. Damit ist das Prinzip der parlamentarischen der F.D.P.) Verantwortlichkeit wiederhergestellt, das im vorigen Jahr von der Bundesanstalt durchbrochen wurde. Darin sind wir doch wohl alle einig. Ich wünschte mir auch, daß wir alle gemeinsam Es ist dem Präsidenten Jagoda in kürzester Zeit bereit sind, die Arbeitsmarktpolitik daraufhin zu über- gelungen, eine größere Eigenverantwortlichkeit der prüfen, ob sie wirklich die Ausschöpfung aller Arbeitsämter herzustellen. Sie dient der flexiblen Beschäftigungsmöglichkeiten zuläßt. Dabei, finde Reaktion auf den sich ständig verändernden Arbeits- ich, ist es durchaus angebracht, von einigen speziellen markt, verhilft zu kontinuierlicher Mittelbewirtschaf- Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt in den neuen tung und Kontrolle der Ausgaben. Ich gehe deshalb Bundesländern auszugehen. Ich finde es durchaus davon aus, daß die von der Bundesanstalt erarbeiteten bemerkenswert, wenn beispielsweise der Geschäfts- Haushaltsansätze für 1994 auch tatsächlich zutreffend führer der Trägergesellschaft Schiffbau in Rostock sind und wir vor überraschenden Nachforderungen seine Erfolge bei der Schaffung regulärer Arbeits- keine Angst zu haben brauchen. Ich hoffe, es wird sich plätze als modellhaft auch für westdeutsche Krisen- so bewahrheiten. branchen vorweist. Darüber sollte man nicht lächeln. Wir sollten vielmehr diese Erfahrungen aufnehmen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und gemeinsam nach neuen Wegen in der Arbeits- Im übrigen darf ich Ihnen sagen, daß der Haushalts- marktpolitik suchen. Ich glaube, daß im Endergebnis ausschuß davon überzeugt ist, daß angesichts eines dadurch für die Förderung neuer Arbeitsplätze mehr Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit von über geschieht als durch ständige Erhöhung der Geldmittel 100 Milliarden DM und eines Mitarbeiterstabes von für die Bundesanstalt für Arbeit zur Durchführung fast 100 000 Bediensteten noch einiges Einsparpoten- traditioneller Arbeitsmarktpolitik. tial in der Verwaltung der Bundesanstalt selbst vor- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) handen ist. Die Kollegin Albowitz hat schon darauf hingewie- sen, daß das Personalkonzept bei der Bundesanstalt Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Bundes- neu zu gestalten ist. Es ist der Bundesanstalt aufgege- minister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert ben, ihre 100 000 Bediensteten so zu gruppieren, daß Blüm, das Wort. in den neuen Bundesländern die notwendige Zahl von Bediensteten zur Verfügung steht. Überflüssige säch- liche Verwaltungsausgaben hat die Bundesanstalt bereits selbst gestrichen. Üppige Neubauprogramme Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und sind vom Haushaltsausschuß gekürzt worden. Der Sozialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Neubau von Verwaltungsbauten wird zukünftig prin- Herren! Ich möchte meine Rede beginnen mit dem zipiell nur noch in den neuen Bundesländern möglich Dank an all diejenigen, die am Zustandekommen sein. Insgesamt soll sich die Bundesanstalt nicht mehr dieses Haushalts mitgewirkt haben, benötigte Bundesbauten zunutze machen. (Zuruf von der CDU/CSU: Die Steuerzahler Die dadurch erreichten Einsparungen bei der vor allen Dingen!) Anstalt selbst und ihrer Verwaltung gehen in Milliar- in erster Linie die Steuerzahler, denhöhe. Dennoch werden für die neuen Bundeslän- der notwendige Investitionen vorgenommen. Ich halte (Barbara Weiler [SPD]: Die Beitragszahler!) dies für ein gutes Beispiel für eine Politik des Sparens die Beitragszahler und die Berichterstatter, Frau Albo- und Gestaltens. Abgesehen von diesen Verbesserun- witz, gen in der Arbeitsverwaltung selbst bleibt es für (Ina Albowitz [F.D.P.]: Danke schön!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16737

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Herr Pfennig und Herr Diller, auch wenn er mich Frau Babel — die Schlußrede gibt mir immer Gele- beschimpft hat. genheit, auch auf viele wichtige Diskussionsbeiträge einzugehen — hat zu Recht darauf aufmerksam (Karl Diller [SPD]: Nicht beschimpft, sondern gemacht: Die Höhe der Sozialausgaben sagt über- kritisiert!) haupt nichts über ihre Qualität. In der Tat wäre sonst — Ach, Herr Diller, die Gedenkreden, die Sie auf mich — wie Frau Babel sagt — Arbeitslosigkeit ein Beitrag gehalten haben, habe ich alle schon überlebt. zur Erhöhung der Sozialstaatsqualität. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Drehen wir jetzt aber den Spieß wieder um: So wie Aber ich wollte ganz besonders meinem Freund und Sie es darstellen, als hätten wir den Sozialstaat kurz Kollegen Hans-Gerd Strube heute Dank sagen für und klein geschlagen, kann es allein deshalb nicht zehn Jahre Einbringung des Einzelhaushalts 11 hier in stimmen, weil jede dritte Mark dieses Haushalts für den Bundestag. Er hat heute mit etwas Wehmut seine Soziales ausgegeben wird. Meine Damen und Herren letzte Einbringungsrede gehalten. Das waren zehn — auch in der Öffentlichkeit —, nennen Sie mir einen Jahre solide Arbeit, zehn Jahre mit hoher Verantwor- Staat der Welt, der so viel für Soziales investiert! Ich tung, Augenmaß und Sinn für Proportionen. Herzli- würde Ihnen einen Teil meiner Redezeit zur Verfü- chen Dank! gung stellen, wenn Sie das könnten. Sie brauchen sich nicht anzustrengen, stürzen Sie sich nicht in Unkosten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — es gibt ihn nicht, wenn man Kranken-, Arbeitslo- sowie bei Abgeordneten der SPD — Zuruf sen- und Unfallversicherung hinzufügt. von der SPD) Der Sozialstaat wird jedoch nicht aus himmlischen — Ja, er kandidiert nicht mehr für den Bundestag. Quellen finanziert. Er wird immer aus der Arbeit Nun, meine Damen und Herren, ich bin gefragt derjenigen finanziert, die jetzt arbeiten. Deshalb muß worden — obwohl ich diese Vergleiche gar nicht so man doch jede Mark zweimal umdrehen, bevor m an mag, es hilft ja nichts für die Zukunft —, wie das in den sie einmal ausgibt. Und je weniger arbeiten, um so Glanzzeiten 1982 war und wie das heute ist. Meine höher steigen die Sozialausgaben. Aber je höher die Damen und Herren, wenn der Sozialstaat 1990 in dem Sozialausgaben sind, um so weniger arbeiten. Das ist Zustand gewesen wäre wie 1982, hätten wir die der Teufelskreis. Diesen Teufelskreis versuchen wir deutsche Einheit gar nicht geschafft. Wir hätten in den mit diesem Sparprogramm zu durchbrechen. Schul- Sozialkassen gar kein Geld dafür gehabt. den treiben Zinsen hoch, verringern die Investionen und vergrößern die Arbeitslosigkeit. Weniger Investi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tionen bedeuten weniger Arbeitsplätze. Wir sparen Wir mußten die Rentenanpassung verschieben. Sie also für die Arbeitslosen. Das ist die erste Feststel- haben in die Rentenkassen gegriffen! Das ist mir in lung. zwölf Jahren nicht eingefallen. Sie haben den Bundes- Schulden treiben die Preise hoch. Deshalb sparen zuschuß gekürzt! Der Rentenklau spielt sich heute auf wir für Rentner, Sozialhilfeempfänger, kinderreiche wie der Vorarbeiter der Wach- und Schließgesell- Familien, Lohn- und Gehaltsempfänger. Das ist die schaft! zweite Feststellung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, die Kürzung beim Und, lieber Kollege Schreiner, die größte Lei- Arbeitslosengeld macht weniger aus als die realen stung — — Einkommensverluste durch Preissteigerungen. Wenn (Zurufe von der SPD) wir die Preissteigerungen zurückdrängen, verhindern — Ich habe nicht in die Rentenkasse gegriffen. Drei- wir — um Ihr Lieblingswort zu gebrauchen — Lohn- mal dürfen Sie raten, wer in die Rentenkasse gegriffen raub. Inflation ist Lohnraub. Unser Sparprogramm hat. Der letzte Finanzminister, der in die Rentenkasse bedeutet Kampf dem Lohnraub; in der Tat. Durch die gegriffen hat Inflation wurden immer die kleinen Leute be trogen. (Ottmar Schreiner [SPD] und Dr. Uwe Küster Jetzt will ich einmal die SPD zu den Schulden [SPD]: Rexmann war das!) zitieren; seien Sie ganz gespannt. Auf dem Parteitag in Wiesbaden, der ja nicht 100 Jahre zurückliegt, son- — nicht Rexmann! Machen Sie nicht Ihre Spiele, Herr dern erst vor kurzem stattfand, wurde beschlossen: Schreier, bleiben Sie bei der Sache! —, war der Haushalt entschlossen sanieren. — Das wurde kräftig sozialdemokratische Finanzminister. Aber lassen Sie beschlossen und beklatscht. Kurz nach diesem das! Beschluß heißt es: „Die Sparbemühungen der Bun- Der größte Erfolg dieser zwölf Jahre war die deut- desregierung sind die Neuauflage der Sparbemühun- sche Einheit. Das war die größte Leistung des Sozial- gen des Reichskanzlers Brüning: Sie sind Kaputtspa- staates seit Bismarck. Daß wir innerhalb weniger ren." Beide Male gab es Beifall. Wochen in der Lage waren, Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung mit dem Idealismus und Diese Doppelstrategie ist sehr nützlich. Morgens dem Engagement Tausender von Mitstreitern und verkünden die SPD-Grußredner beim Deutschen Mitarbeitern aufzubauen, das ist die größte Leistung Industrie- und Handelstag: Sparen ist gut, es muß des Sozialstaates, von diesem Bundestag und dieser noch mehr gespart werden. Nachmittags beim DGB sagen sie: Sparen ist Kaputtsparen, ist Brüning. — Sie Koalition begleitet. müssen nur achtgeben, daß Sie Ihre Grußreden nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) verwechseln. Sie werden Ihr blaues Wunder erleben, 16738 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Bundesminister Dr. Norbe rt Blüm wenn Sie nachmittags beim DGB das vorlesen, was Sie 54 Milliarden DM werden für die Arbeitsmarktpoli- vormittags bei den Unternehmern gesagt haben! tik ausgegeben. Herr Diller hat die angeblich glanz- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) volle Vergangenheit angesprochen, als hätte es 1982 unter der SPD-Führung die rote Morgensonne gege- Sie bieten für jeden etwas nach dem Motto: Was ihr ben, als gäbe es jetzt nur den schwarzen Abendhim- wollt. Da geht es nach dem Prinzip: Mit dem Standort mel unter Blüm. Ich kann Ihnen nur sagen — ich sage wechselt der Standpunkt, je nachdem, wo man es ausdrücklich in Prozenten —: 1982 bezogen sich redet. 13 % der Ausgaben der Bundesanstalt auf die Arbeits- Sie müssen sich für oder gegen das Sparen entschei- marktpolitik, heute sind es 23 %. In Zahlen ausge- den. Man kann nicht gleichzeitig in zwei Richtungen drückt: Damals waren es 4,3 Milliarden DM, heute fahren. Ein solches Auto ist jedenfalls noch nicht sind es rund 25 Milliarden DM. erfunden. Selbst der Sozialismus hat es nicht zustande gebracht. Das ist der Versuch von Geisterfahrerei in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind gut; besser der Zerreißprobe. ist jedoch ein normaler Arbeitsplatz. Fortbildung und Umschulung sind gut; besser ist jedoch die Weiterbil- (Ottmar Schreiner [SPD]: Wie primitiv! Das dung im Betrieb. Mit fast 10 Milliarden DM finanzie- ist wirklich albern! — Weitere Zurufe von der ren wir Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, und noch SPD) einmal 1,5 Milliarden DM werden für § 249h AFG zur — Ich bewege mich auf Ihrem Niveau. Ich möchte Verfügung gestellt. Und damit keine falschen Zahlen Ihnen klarmachen, daß man nicht zugleich vorwärts auftauchen: Es sind 60 000 AB-Maßnahmen im und rückwärts fahren kann. Sie können nicht einer- Westen und 210 000 im Osten. 15 Milliarden DM für seits mehr Sparen verlangen und andererseits das Fortbildung und Umschulung, davon 280 000 Maß- Sparen attackieren. nahmen im Westen und 290 000 im Osten. (Erneute Zurufe von der SPD) Ich will dazu sagen, damit es mit meinem verehrten — Das soll Ihnen weh tun, weil das eine Hilfe ist, zur Kollegen Pfennig kein Mißverständnis gibt — wir Wahrheit zu finden. machen das ja immer in großer Offenheit —: Ich bin in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Tat der Meinung, daß Fortbildung und Umschu- - lung — das ist keine Frage von heute auf morgen — Die Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen muß jeden nicht von den Beitragszahlern, sondern vom Steuer- umtreiben. Das be trachtet doch niemand als Erfolgs- zahler finanziert werden sollte. Die akademische meldung. Der Bundeszuschuß beläuft sich auf 18 Mil- Bildung ist seit eh und je vom Steuerzahler finanziert liarden DM. Und da will jemand sagen, wir ließen die worden. Wieso zahlen die Arbeitnehmer ihre Fortbil- Arbeitslosen im Stich? dung mit Beiträgen? Im übrigen: Der Bundeszuschuß wird durch die Ich nehme immer als Beispiel: Wenn der Werkzeug- Steuerzahler finanziert. macher Norbert Blüm zum Bauzeichner umschult, (Ina Albowitz [F.D.P.]: So ist es!) bezahlt das der Beitragszahler. Wenn der Akademiker Damit tragen die Höherverdienenden proportional Norbert Blüm ein Zweitstudium beginnt, bezahlt es mehr zur Abdeckung dieses Defizits bei, als hätte man der Steuerzahler. Erkläre das, wer will! eine Arbeitsmarktabgabe, die im übrigen noch nicht (Zuruf von der SPD: Wollen Sie umschu einmal ein Drittel des Bundeszuschusses von 18 Mil- len?) liarden DM einbringt. — Sie brauchen keine Angst zu haben, ich schule im Moment nicht um; ich wollte das nur als theoretisches Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, der Beispiel bringen. Ich will noch lange in meinem Amt Kollege Krause möchte eine Zwischenfrage stellen. bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Das macht doch gar keinen Sinn. Bildung ist Bil- Sozialordnung: Bitte schön. dung. Hier gäbe es in der Tat eine Entlastung bei den Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr Lohnnebenkosten. Minister, Sie sprechen wie viele andere Ihrer Vorred- ner auch von 4 Millionen Arbeitslosen. Sie können uns (Dr. Uwe Küster [SPD]: Hier spricht der sicher sagen, wieviel Menschen exakt von der Bun- Minister über seinen Haushalt!) desanstalt für Arbeit finanziert werden. — Ich spreche über meinen Haushalt, und zwar auch mit den Perspektiven. Ich nenne nicht nur Zahlen, ich Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und möchte diese Haushaltsdebatte auch mit Perspektiven Sozialordnung: Das wollte ich gerade hinzufügen; verbinden. Das ist doch unsere gemeinsame Auf- insofern ist mir Ihre Vorlage sehr willkommen. Die gabe. allgemeine Arbeitsmarktpolitik entlastet den Ar- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) beitsmarkt um 2 Millionen Arbeitnehmer. Hätten wir Ich habe auch die Haushaltspolitiker nie als Erbsen- diese Arbeitsmarktpolitik nicht, hätten wir 2 Millionen zähler verstanden, sondern immer als Vertreter einer Arbeitslose mehr. Sie sehen, daß unsere Arbeits- Politik, die die Weichen für Perspektiven, für Entwick- marktpolitik in der Tat ein Rettungsboot ist. Aber sie lungen stellen. ist nicht das Linienschiff. Wir sollten uns im Rettungs- boot nicht heimlich einrichten. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Sehr gut!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16739

Bundesminister Dr. Norbe rt Blüm Ich will auch davor warnen, den zweiten Arbeits- Mutprobe. Das Notwendige muß auch gegen Wider- markt zu einem Billigarbeitsmarkt umzufunktionie- stände gemacht werden. ren. Vizepräsident Hans Klein: Jetzt möchte der Kollege Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, Reimann gern eine Zwischenfrage stellen. lassen Sie eine weitere Zwischenfrage zu? Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Bitte. Sozialordnung: Gern. Bitte schön. Manfred Reimann (SPD): Herr Minister, ich begleite Barbara Weiler (SPD): Es war gerade sehr interes- Sie jetzt elf Jahre in Ihrer Funktion als Minister und sant, Herr Minister Blüm, zu hören, wie Sie sich die habe öfter in diesem Plenum mit Ihnen gestritten, zukünftige Gestaltung der Finanzierung von Bildung insbesondere über die Änderungen und Novellierun- und Weiterbildung vorstellen. Wer soll denn dann gen des AFG. Es waren die Sozialdemokraten, die Sie nach Ihrer Meinung die Aufstiegsförderung vom in diesen elf Jahren ständig angehalten haben, dafür Gesellen zum Meister bezahlen: der Mensch selbst, zu sorgen, daß versicherungsfremde Leistungen, wie der Steuerzahler oder wie bisher die Bundesanstalt? beispielsweise die Sprachförderung für Aussiedler, Qualifizierungsmaßnahmen und dergleichen mehr, Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und aus diesem Gesetz herausgenommen werden. Sozialordnung: Hier gilt das gleiche Prinzip wie in der akademischen Bildung: Wenn es da BAföG gibt vom Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Staat, dann auch für den Meister. Dabei könnte ich mir Sozialordnung: Ich weiß schon, was Sie sagen wollen; durchaus vorstellen, daß man in beiden Systemen deshalb kann ich Ihnen die Antwort geben, Herr mehr zu Darlehen übergeht, weil ich glaube, daß Kollege Reimann. Wir kennen uns so gut — — diejenigen, die Aufstiegsbildung erfahren, bei höhe- ren Einkommen später dem Staat zurückzahlen soll- Manfred Reimann (SPD): Das auf den Steuerzahler ten, was er ihnen an Hilfe gewährt hat. abzuwälzen, haben Sie immer abgelehnt. Woher (Klaus Lennartz [SPD]: Warum haben Sie kommt jetzt Ihre Einsicht? denn die Aufstiegshilfe kaputtgemacht?) — Weil wir in der Tat sparen müssen und nicht alles Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und bezahlen können. Aber es bleibt dabei, daß 15 Milli- Sozialordnung: Herr Kollege Reimann, ich wollte arden DM eine Rekordsumme sind. Ihnen diese kleine Niederlage ersparen. Deshalb Ich will kurz und ergreifend sagen, daß ich akade- wollte ich Ihnen in die Arme fallen. mische und berufliche Bildung als die zwei Seiten Erstens. Die Sprachförderung haben wir tatsächlich einer Medaille sehe. Ich habe immer etwas dagegen in den Bundeshaushalt übernommen. Ihre Frage ist gehabt, daß die Universitätsbildung höher als die nicht mehr auf der Höhe der Zeit. handwerkliche Bildung gewertet wird. Das fängt bei Zweitens. Das Nachholen des Hauptschulabschlus- der staatlichen Bewe rtung an. ses ist eine klassische Fremdleistung; denn sie gehört (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zur allgemeinen Schulpolitik. Gegen die Heraus- nahme aus dem AFG, die wir durchgesetzt haben, Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Weiler, haben sich die sozialdemokratisch regierten Länder wollten Sie eine weitere Zwischenfrage stellen? mit großer Kraft gewehrt. Sehen Sie, wir wären besser bei dem alten Brauch Barbara Weiler (SPD): Ja. geblieben: Wenn Sie Fragen haben, dann stellen Sie Herr Minister Blüm, Sie haben gerade gesagt, Sie sie nicht hier im Bundestag, sondern wir machen es wollten es auf Darlehen umstellen. Aber es ist doch ein draußen in alter Kollegialität. Widerspruch, wenn Sie jetzt die Darlehen streichen, (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P. die bisher ermöglicht haben, daß Gesellen ihren — Manfred Reimann [SPD]: Zehn Jahre lang Meister machen. haben wir Sie zu überzeugen versucht!) — Auch im zehnten Jahr haben die Sozialdemokraten Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und dieser Verlagerung widerst anden, Sozialordnung: Ja, richtig. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Keine Ahnung!) Barbara Weiler (SPD): Wenn Sie mit dem Sparen gegen diese Herausnahme des Hauptschulabschlus- anfangen, dann doch etwas gerechter und nicht, wie ses aus dem AFG Widerstand geleistet. in diesem Falle — das ist ja unser Vorwurf —, bei den Ich wollte noch ein paar allgemeine Bemerkungen Gesellen. machen. Eine allgemeine Bemerkung bezieht sich darauf, daß ich die Gelegenheit dieser Haushaltsde- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und batte auch nutzen möchte, vor einem vermeintlichen Sozialordnung: Wissen Sie, Frau Weiler, es ist so: Wo Patentrezept der Beschäftigungspolitik zu wa rnen. Ich immer Sparen als Generalüberschrift steht, gibt es nehme mit großem Unbehagen wahr, daß immer mehr Beifall bei allen. Ich kenne aber überhaupt keinen Arbeitsmarktprobleme zu Lasten der älteren Arbeit- konkreten Sparvorschlag, der nicht von einer Gruppe nehmer gelöst werden. Ich war für Vorruhestand, ich attackiert wird. Insofern habe ich es aufgegeben, war für Altersübergangsgeld, aber ich stelle jetzt Sparen mit Beifall zu verbinden. Sparen ist auch eine plötzlich fest: In dem, was einmal als Notlösung 16740 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Bundesminister Dr. Norbert Blüm gedacht war, richtet sich die Gesellschaft langsam Vizepräsident Hans Klein: Ich kann Ihnen, Herr häuslich ein. Die älteren Arbeitnehmer werden nicht Minister, dieses Mikrophon leider nicht zur Verfü- mehr gebraucht. Deshalb müssen wir diesen Weg gung stellen. Vor ein paar Minuten bekam ich die versperren, weil er sonst zur Gewohnheit wird, weil Nachricht, daß die Steuerungszentrale außerstande wir sonst das Alter abwerten. Das wäre in der Tat ein ist, die Saalmikrophone zuzuschalten. kultureller Verlust. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Offensichtlich, weil (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herr Schreiner so geschrieen hat!) Für mich ist der Beschäftigungsort Nr. 1 das Unter- Ganz offensichtlich ist bei dem Versuch, dies in nehmen. Das ist ja auch die Lehre aus dem Zusam- Ordnung zu bringen, jetzt das Mikrophon am Redner- menbruch. Die staatliche Kommandowirtschaft hat pult ausgefallen. nirgendwo funktioniert. Wieso wir ausgerechnet, (Zuruf von der SPD: Weil dahinter ein Schrei wenn sie zusammenbricht, wieder nach diesen hals steht! — Bundesminister Dr. Norbert Mustern Ausschau halten sollen, die doch die Misere Blüm: Ich hatte heute nachmittag um dieses mit heraufbeschworen haben, verstehe ich nicht. Wir Mikrophon schon große Sorgen, als der Kol beseitigen doch gerade die Trümmer der Planwirt- lege Schreiner gesprochen hat!) schaft in den neuen Ländern. Sollen wir denn die Trümmer der Planwirtschaft in den neuen Ländern mit Mein Mikrophon ist im Augenblick offensichtlich den Methoden beseitigen, die diese Misere herbeige- das einzige, das funktioniert. führt haben? Das wäre doch geradezu Geisterfahrerei (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Wir könnten Nr. 2. aber ins Wasserwerk gehen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ich kann dieses Mikrophon aber nicht dem Redner zur ordneten der F.D.P.) Verfügung stellen. Wir brauchen Initiativen, Innovationen, Investitio- (Klaus Lennartz [SPD]: Das darf nicht wahr nen. Ich setze dabei sehr stark auf die kleinen und sein!) mittleren Betriebe. Die größten Arbeitsplatzverluste Unsere Anlage scheint wieder einmal — ich finde das der letzten zehn Jahre hier im Westen sind Arbeits- - ganz besonders bedauerlich, daß gerade ich hier an platzverluste bei den Großbetrieben, und die größten diesem Pult sitze — auszufallen. Arbeitsplatzgewinne liegen bei den kleinen Betrie- ben. Der größte Schub für den Arbeitsmarkt, wie er (Heiterkeit — Bundesminister Dr. Norbert sich in den neuen Bundesländern anbahnt, liegt im Blüm: Immer die Kleinen!) Mittelstand; jetzt 137 000 Handwerksbetriebe mit Ich schlage vor, daß wir die Sitzung unterbrechen. 870 000 Beschäftigten. Das sind 60 000 Betriebe mehr (Zuruf von der CDU/CSU: Gehen wir doch und 450 000 Beschäftigte mehr als in der alten DDR. ins Wasserwerk! — Jochen Feilcke [CDU/ CSU]: Herr Präsident, können wir nicht in Was wir brauchen, ist geradezu ein Frühjahr für den Reichstag gehen?) Produktinnovationen. Wir können nicht einfach nur die alten Klamotten weiterproduzieren. Diese Pro- duktinnovationen kann der Staat nicht bewerkstelli- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und gen, aber er muß die Bremsen wegnehmen. Deshalb Sozialordnung: Ich kann, meine Damen und Herren, finde ich das Gentechnikgesetz meines Kollegen versuchen, die Technik zu überwinden, und ohne Seehofer — — Mikrophon zu sprechen. (Zurufe: Das Mikrophon geht nicht! — Herr (Beifall im ganzen Hause) Präsident, geben Sie für den Minister ein bißchen Gas! — Steht da einer auf der Lei- Zur Arbeitszeit: Ich halte die Verkrampfung auf die tung? — Wahrscheinlich einer, der etwas Frage „Wie lang ist die individuelle Arbeitszeit?" eher gegen Technik hat! — Dr. Gisela Babel für eine Ablenkung. Die Preisfrage ist, wie wir es [F.D.P.]: Wir gehen wieder ins Wasserwerk! schaffen, Maschinenlaufzeiten von individuellen Ar- — Manfred Reimann [SPD]: Aber dafür geht beitszeiten zu trennen und dadurch Produktivitätsge- das Mikrophon hier jetzt, Herr Minister! winne zu schaffen. Dafür brauchen wir individuellere Sollen wir weitermachen? Sprechen Sie doch Arbeitszeitformen als heute. von hier aus weiter! Wir haben das fest in (Beifall bei der CDU/CSU) unserer Hand! — Heiterkeit — Bundesmini- Wir brauchen geradezu einen Durchbruch für die ster Dr. Norbert Blüm begibt sich zu einem Teilzeitarbeit, und zwar nicht nur in der naiven Form Saalmikrophon der SPD-Fraktion) der Tagesteilung, sondern der Teilung über Wochen, Meine Damen und Herren, man muß die Wahrheit über Monate und über Jahre. verkünden, selbst wenn man unter Räuber gefallen Ich habe es nie verstanden — ich wiederhole das ist. hier —, wieso die Maurer im Winter, wenn sie sich die (Heiterkeit) Knochen blaufrieren, dieselbe Wochenarbeitszeit Lassen Sie mich zum Arbeitsmarkt zurückkehren. haben wie im Sommer. Warum versöhnen wir nicht (Das Saalmikrophon der SPD-Fraktion fällt stärker die Arbeitszeit der Betriebe mit dem Lebens- aus — Zurufe: Wir hören schon wieder nichts! rhythmus der Menschen? — Bundesminister Dr. Blüm begibt sich zum (Manfred Reimann [SPD]: Deshalb wird das Rednerpult zurück!) Schlechtwettergeld abgeschafft?) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16741

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Warum hat ein 60jähriger dieselbe Arbeitszeit wie ein Ich rufe auf: 20jähriger? Warum hat man zu Zeiten der Erziehung Einzelplan 15 dieselbe Wochenarbeitszeit wie in Zeiten, wenn die Kinder aus dem Haus sind? Diese Gesellschaft leidet Bundesministerium für Gesundheit an Kreativitätsmangel und Verkalkung. — Drucksachen 12/6015, 12/6030 — (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Berichterstattung: Japan hat bei den Lohnkosten gegenüber der Bun- Abgeordnete Roland Sauer (Stuttgart) desrepublik einen Vorteil von 40 %. Davon sind nur Uta Titze-Stecher ein Drittel die eigentlichen Lohnkosten. In Wirklich- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) keit verschenken wir durch eine veraltete, im Kolon- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die nendenken organisierte Arbeitszeit und durch eine Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen alte Befehlsstruktur in den Betrieben große Produkti- erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist vitätsgewinne. Wir brauchen nicht nur neue Produkte, das so beschlossen. wir brauchen auch eine neue, intelligentere, sozialere Ich eröffne die Aussprache und erteile unserer Arbeitsorganisation. Kollegin Uta Titze-Stecher das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Das Rednerpult wird heruntergefahren — Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Sie ver Herr Bundesminister, es Vizepräsident Hans Klein: schwindet ja fast völlig!) ist nicht mehr eine Frage Ihrer Stimme, sondern inzwischen eine Frage der abgelaufenen Redezeit. (Heiterkeit) Uta Titze-Stecher (SPD): Nein, nein, Rudi, das ist die Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Technik, und zwar die andere. Sozialordnung: Ich habe noch so viel Stoff, daß Sie gar Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! keine Zeit haben, alles anzuhören, was richtig ist und Vor fast einem Jahr hat es Rudi Walther ge troffen. was im Sinne der Arbeitslosen gemacht werden muß. - (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Nein, Theo Waigel!) Diese Regierung jedenfalls wird für die Arbeitslosen Politik machen. Wir wollen Arbeit für alle. Ich lade Sie — Erst Theo Waigel, dann dich, Rudi. Diesmal trifft es ein, nicht zu meckern, nicht zu jammern und nicht zu einen Abgeordneten zu Fuß, nämlich mich. Mir wurde beschreiben, sondern mit uns Lösungen der Probleme gesagt: Solange das Mikrophon funktioniert, leise zu erarbeiten. Beschreiber haben wir genug, sprechen, wenn es nicht mehr funktioniert, laut spre- Beschreier auch; Bearbeiter brauchen wir. chen. Ich traue mir beides zu, weil ich eine sonder schulerprobte Stimme habe. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Heiterkeit — Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Aber wir sind hier keine Sonderschü Vizepräsident Hans Klein: Ich schlage Ihnen vor, ler!) meine Damen und Herren, wir stimmen noch über — Das habe ich nicht gesagt, Kollege Rudi Walther. diesen Einzelplan ab. Haushaltsdebatten, zumindest aber die Beiträge der Ich bekomme die Nachricht, daß für das Inordnung- Mitglieder des Haushaltsausschusses, zeichnen sich bringen der Lautsprecher- und Mikrophonanlage im allgemeinen durch den diskreten Charme von etwa eine halbe Stunde benötigt werden wird — so Sachverstand, Nüchternheit und Unaufgeregtheit Gott will. aus. Wir stimmen jetzt über den Einzelplan 11, Bundes- (Ernst Waltemathe [SPD]: Nüchternheit? Das ministerium für Arbeit und Sozialordnung, in der wollen wir einmal dahingestellt sein las Ausschußfassung ab. Wer stimmt für den Einzel- sen!) plan 11? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan 11 ist angenommen. Diesmal ist alles anders, nicht nur heute, auch an den Ich unterbreche die Sitzung für 30 Minuten. vergangenen Tagen. In dem mir überschaubaren Zeitraum — das sind die letzten drei Jahre — hat es (Unterbrechung von 15.45 bis 16.16 Uhr) noch nie soviel Polemik und Unsachlichkeit gegeben, meine Damen und Herren von der Koalition, wie von Vizepräsident Hans Klein: Wir fahren in der unter- Ihrer Seite in Richtung SPD. brochenen Sitzung fo rt. Ich muß Sie aber darauf Nun geht es um Milliarden, viele Milliarden, je nach hinweisen, daß wir das unter technisch etwas einge- schränkten Umständen tun. Das heißt, daß Zwischen- Einzelplan, und ich verstehe auch, Herr Kollege fragen nur von den stehenden Saalmikrophonen aus Hoffacker, daß es dabei Emotionen gibt. Schließlich ist ja jede haushaltspolitische Entscheidung für die, die gestellt werden können, und selbst da wäre ich mir fft, relevant, in positiver oder negativer Hin- nicht ganz sicher. sie betri sicht. Wenn Sie jedoch, liebe Kolleginnen und Kolle- (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Zwi- gen von der Koalition, sich Ihrer haushaltspolitischen schenfragen kann man auch vom Platz aus Entscheidungen so sicher wären, wie Sie tun, warum laut stellen, ohne Mikrophon!) dann die Aufgeregtheiten und Ausfälle gegenüber — Ja. der Opposition? Der Haushalt trägt doch Ihre H and- 16742 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Uta Titze-Stecher schrift, nicht unsere. Sie verantworten ihn doch, nicht Betrag gesenkt. Nun könnte man ja daraus folgern: Ei, wir. da wird gespart, es ist eine schöne Sache. M an muß aber ganz genau hinschauen. Einmal wird bei den (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Sehr Mitteln für die richtig! — Zuruf von der CDU/CSU: Ist hier allgemeinen Bewilligungen erheblich abgespeckt und dort bei einer Titelgruppe, bei der es irgend jemand aufgeregt?) mir bereits in der Vergangenheit hart angekommen ist Vielleicht äußert sich aber in der Haushaltsdebatte und gegen deren Kürzung ich immer Einspruch erho- diesmal etwas, was Ihr Verhalten in den letzten Tagen ben habe, nämlich bei der Titelgruppe Aids-Bekämp- und an diesem Tag erklären kann, nämlich der Frust fung. Konkret bleiben von den 50,5 Millionen DM, die darüber, daß Sie mit Ihrer Zustimmung zu der globa- wir in diesem Jahr alles in allem zur Verfügung hatten, len Minderausgabe Ihrer eigenen Entmündigung als im nächsten Jahr nur noch 31 Millionen DM übrig. Parlamentarier zugestimmt haben. Hinzu kommen Einsparungen, die ich als kosmeti- (Beifall bei der SPD — Helmut Wieczorek sche Einsparungen, praktisch als ,,Pseudo-Einsparun- [Duisburg] [SPD]: Jawohl! Elegant formu- gen'', bezeichnen möchte. Die Leistungen des Bundes liert!) für Aufwendungen nach dem Mutterschutzgesetz sinken nämlich von 215 Millionen in diesem Jahr auf Dann allerdings sind wir die falsche Adresse. Der nur noch rund 10 Millionen im nächsten Jahr. Ich Adressat muß dann der Finanzminister sein, der Ihnen weiß, was jetzt von Ihnen, Herr Hoffacker, kommen — und uns natürlich auch — diese schallende Ohr- würde, wenn Sie es sagen dürften: Ja, aber die feige versetzt hat. Leistungen für die Be troffenen bleiben. Da setzen sich die Berichterstatter zusammen, rin- (Zustimmung des Abg. Dr. Paul Hoffacker gen ernsthaft um die Eckpunkte des jeweiligen Haus- [CDU/CSU] — Zurufe von der CDU/CSU: halts, sparen auch, zum großen Teil sogar einver- Genau! — So ist es!) nehmlich — wir verstehen ja auch etwas vom Sparen; ein großes Kompliment an meine beiden Kollegen in — Sie nicken, Herr Hoffacker. Nur, was Sie da tun, ist dieser Berichterstatterrunde, Herrn Weng und Herrn eine haushaltspolitische und ordnungspolitische Sauer, mit denen ich die meisten Einsparungen Schweinerei. gemeinsam vollzogen habe —, ja, und dann kommt - (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der eine solche haushalterische Keule wie die globale CDU/CSU) Minderausgabe. Ich frage Sie: Wissen Sie eigentlich, Ich muß es so bezeichnen. Wissen Sie, warum? Wenn was Sie damit anrichten? Die Haushaltsberatungen im sich der zuständige Arbeitsminister Blüm hier hinstellt Haushaltsausschuß, aber nicht nur die, auch die und ständig von der Kassenbelastung redet — — Berichterstatterrunde, werden damit im nachhinein zur schlichten Farce erklärt. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, hier sind Liste) die Sitten in letzter Zeit etwas s trenger geworden. Es ist ja nicht so, daß die SPD den Zwang zum Sparen und zur Haushaltskonsolidierung nicht einsehen oder akzeptieren würde. Auch wir würden sparen müssen, Uta Titze-Stecher (SPD): Ich habe niemanden belei- zweifelsohne. Nur würden wir anders sparen, vor digt. Ich habe niemanden persönlich gemeint, Herr allem woanders, und uns schon gar nicht durch das Präsident. Instrument der globalen Minderausgabe das originäre (Zuruf von der CDU/CSU: Ist hier die Schwei Recht des Parlaments auf Haushaltsgestaltung, und nepest ausgebrochen? — Weitere Zurufe) zwar — hören Sie genau zu — bis ins Detail, aus der Hand schlagen lassen. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Wollen Vizepräsident Hans Klein: Einen Moment, meine Damen und Herren. Ich will nur sagen: Hier sind die wir jetzt über den Einzelplan abstimmen? Sitten in letzter Zeit etwas s trenger geworden, und wir Wir haben die Mehrheit!) gehen mit dem parlamentarischen Vokabular etwas — Das hatten wir schon öfter in der vergangenen behutsamer um. Ich fände es gut, wenn Sie diesen Woche, Kollege Jungmann; es wird aber nichts nüt- Ausdruck etwas relativieren könnten. zen, die anderen trommeln ihre Leute zusammen, und (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Na, dann sind wir wieder in der Minderheit. sagen wir „ Ferkelei " ! ) (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, und so soll es auch bleiben!) Wir sind Realisten und keine Utopisten, Herr Kollege Uta Titze-Stecher (SPD): Eine ordnungspolitische Jungmann; wir warten auf das nächste Jahr. Dann und haushaltspolitische Mogelei. Wissen Sie, warum? werden es die Wahlen schon bringen. Sie wissen das selbst genau. Der Herr Minister weiß, daß ein Bestandteil des von allen Parteien ge tragenen (Beifall bei der SPD) Lahnsteiner Kompromisses zum Gesundheits-Struk- Im Geschäftsbereich des Bundesministers für turgesetz war, die Beitragsstabilität in der gesetzli- Gesundheit werden laut Regierungsentwurf die Aus- chen Krankenkasse auf sozialverträglichem Niveau gaben für 1994 um 213 Millionen DM auf rund zu gewährleisten. 851 Millionen DM sinken, werden also um diesen (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es auch!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16743

Uta Titze-Stecher Genau das, was Sie, Herr Minister, jetzt allerdings mit Ich frage mich, wo dann: bei den gesundheitlichen der Verschiebung der Aufwendungszuschüsse aus Modellmaßnahmen, bei der Forschung zur Erken- dem Bundeshaushalt an die sozialen Kassen tun, ist nung und Bekämpfung neuer Infektionskrankheiten, ein eindeutiger Bruch der zuvor ge troffenen Verein- bei den Maßnahmen auf dem Gebiet der Krebsbe- barungen. In einer Phase, in der die sozialen Kranken- kämpfung oder vielleicht bei der Verbesserung der versicherungen gerade erste Schritte in Richtung Situation chronisch Kranker, bei den Maßnahmen auf einer finanziellen Konsolidierung machen, bürden Sie dem Gebiet des Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs den Kassen gleichzei tig Lasten in Millionenhöhe auf oder wieder einmal bei der Aids-Bekämpfung? Das — Herr Hoffacker, Sie haben genickt —, ohne daß sind für mich alles wichtige und gleichgewichtige dadurch die Leistungen für die Versicherten verbes- gesundheitspolitische Aufgaben. sert würden. Ich denke, es darf nicht dazu kommen, daß Kranke (Zuruf von der CDU/CSU: Aber auch nicht gegen Kranke ausgespielt werden, verschlechtert!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das meine ich mit „haushaltspolitischer Mogelei". Es etwa nach dem Motto: Dem Stärkeren wird gegeben, hat nichts mit Haushaltsklarheit zu tun, sondern schon und die betroffene Gruppe mit der größten Lobby eher mit der Taktik des Verschiebebahnhofs, die Sie hinter sich und mit dem lautesten Protestgeschrei wird sehr oft anwenden. Der Bund entledigt sich hier am meisten geschont. Das darf nicht die Maxime Ihrer originärer Aufgaben zu Lasten der Krankenkassen. Einsparungen sein. (Roland Sauer [Stuttgart] [CDU/CSU]: Aber Ich bin davon überzeugt, daß es auch im Einzel- die Leistungen werden nicht verschlech- plan 15 Luft gibt, wenn man ehrlich an die Sache tert!) herangeht. Mir fallen dabei spontan Ausgaben für — Ich kann sehr schlecht hören, weil ich befürchten Kongresse und Ausgaben für die Datenverarbeitung muß, das Mikrophon fällt aus, Herr Kollege Sauer. — ein, die sinnlos sind, wenn Sie nicht gleichzeitig auch Diese Ausrede hat bisher noch keiner gebrauchen Personalausgaben etatisieren. können; ich nehme sie in Anspruch. (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Staatsse Eine Bemerkung am Rande: Die Kolleginnen und - kretäre!) Kollegen von der Koalition betonen ja immer sehr — Staatssekretäre hat er ja nicht so viele. vollmundig ihre Familienfreundlichkeit. Mir fallen Ausgaben für Baumaßnahmen ein, die (Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! — man — siehe die Bundesanstalt für Arbeit — abspek- Stimmt ja auch!) ken, strecken und aufgeben kann. So manche Vorha- Bei einer solchen Maßnahme entlarvt sich das, ebenso ben ließen sich unter diesem Aspekt strecken. Und, das Gejammere über die hohen Lohnnebenkosten. Herr Minister, das, was bei Ihnen oft so leicht als Dann sollten Sie eben nicht das machen, was Sie in Beratung klassifiziert wird, das ist oft das Geld nicht diesem Fall getan haben, sie nämlich zu erhöhen, wert, weil es unnötig und ineffizient ist. Ich kann Ihnen indem Sie die Versicherungssysteme mit kassenfrem- da aus dem Nähkästchen erzählen. den Leistungen strapazieren. (Zuruf von der CDU/CSU: Tun Sie das Zurück zur globalen Minderausgabe: Meine kon- mal!) krete Frage an Sie, Herr Seehofer, lautet: Wo genau — Wann? Da müssen Sie mir Zeit anbieten. kann in diesem kleinen Einzelplan 15, Gesundheit, gespart werden? (Heiterkeit bei der CDU/CSU) (Bundesminister Horst Seehofer: Das möchte Auch im Einzelplan 15 sind Mittel für Aufgaben ich auch gern wissen!) eingestellt, für die der Bund überhaupt nicht zustän- dig ist. Da freut es mich, vorhin von Herrn Blüm gehört — Ja, ich bin ja nicht verantwortlich. Diese Frage zu haben, daß Akademiker für ihre Fortbildung selber müssen Sie mir beantworten. zahlen sollten, und zwar auf Darlehensbasis. Wenn ich Nun gibt es ja gesetzliche Verpflichtungen, aus das höre, dann frage ich mich, warum in diesem denen können Sie natürlich raus, vorausgesetzt, Einzelplan beispielsweise die Förderung von Fortbil- Gesetze werden zuvor geändert. Das dauert, wie Sie dungsmaßnahmen für Ärzte nach der Approba tion wissen, und ist unbequem. Sie könnten auch Zusagen aus Steuermitteln bezahlt wird. brechen. Ich hoffe, daß Sie sich dabei nicht gerade an (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Qualitätssi Brandenburg vergreifen. Sie wissen, die Beratungs- hilfe für die Umstrukturierung der Polikliniken in cherung!) Gesundheitszentren — — Ja, ja. Qualitätsssicherung ist a lles. (Bundesminister Horst Seehofer: Bleibt!) Fazit: Sie könnten sparen, und das würden wir auch gemeinsam machen, jedoch vermutlich nicht an den — bleibt. Ich bedanke mich. Sie haben das ja auch vor Stellen, an denen Sie es tun werden. Die Chance, das aller Öffentlichkeit, vor Zeugen zugesagt. in Ruhe zu überlegen, und zwar im Rahmen der Leichter ist es für Sie allemal, im Bewilligungsteil zu Berichterstatterrunde und der anschließenden Haus- sparen, also bei den Zuwendungsempfängern. Das ist haltsausschußrunde, wurde in unverantwortlicher uns Haushältern klar. Nur, da haben wir auch schon in Weise durch den Beschluß der globalen Minderaus- der Titelgruppe 12 enorm abgespeckt. gabe verspielt. 16744 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Uta Titze-Stecher Ich komme zu einer Entscheidung der jüngsten Zeit, prinzips wohl angemessener wäre als gerade in die- die auch in bezug auf zu erwartende Sparmaßnahmen sem Falle. genannt werden muß. Auf Drängen der SPD — wie Sie (Beifall bei der SPD) alle wissen — hat der Haushaltsausschuß einstimmig, Wenn wir in den USA wären — da wäre dieses was ich sehr begrüße, Mittel für die humanitäre Thema ganz anders hochgezogen und behandelt Soforthilfe für die Opfer der Behandlung mit HIV- worden. kontaminierten Blutprodukten in Höhe von 20 Millio- nen DM beschlossen, zwar nicht im Einzelplan 60, wie (Zuruf von der SPD: Klatscht doch einmal!) von der SPD bevorzugt — Sie wissen auch warum; da — Die werden jetzt gleich klatschen. Jetzt kommt die wäre es unangreifbar und von der Sparmaßnahme Information, die vielleicht gefehlt hat, um zu klat- nicht so betroffen —, aber ich höre ja, der Minister will schen. an diese 20 Millionen DM unter keinen Umständen herangehen. Sie bleiben. Als Konsequenz aus der Conterganaffäre haben die Versicherungen seit Ende der 70er Jahre — ich Sie alle haben sich dabei bewegt, liebe Kolleginnen glaube, seit 1978 — einen und Kollegen von der Koalition, und zwar von den Pharmapool far Arznei- schadensfälle gebildet. Jahr für Jahr kassiert der ursprünglich anvisierten 2 Millionen DM für die Sache Pharmapool 45 Millionen DM an hin auf 20 Millionen DM. Prämien. Jahr für Jahr! 75 % davon sind in steuerfreien Rücklagen In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Men- angelegt. schen Dank sagen, deren Namen hier im Haushalt Dies alles sind keine Informationen von mir persön- nicht genannt werden, weil sie nicht Mitglieder des lich, sondern in den Ausführungen des Bundeskartell- Haushaltsausschusses sind. Ich möchte ausdrücklich amtes nachzulesen. Das Bundeskartellamt schätzt die den beiden Gesundheitspolitikern Horst Schmid- Einlage im Moment auf etwa 300 Millionen DM. bauer und Paul Hoffacker danken, Dennoch glauben diese Leute, sie könnten sich mit (Zuruf von der SPD: Aufstehen! — Beifall bei 50 Millionen DM, die sie bisher für die aidsinfizierten Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und Bluter gezahlt haben — da ging es nur um die der F.D.P.) Bluter —, aus ihrer Verpflichtung herausstehlen. Des- halb ist es ja wohl nicht unbillig, angesichts dieser die schließlich durch ihr Engagement den Minister Finanzmenge die Versicherungswirtschaft daran zu und die Haushälter, die doch etwas auf Sparsamkeit erinnern, wozu das Geld eigentlich gedacht ist. bedacht sein müssen, überzeugt haben. Aber die 20 Millionen reichen nicht, sie reichen hinten und Die Pharmaindustrie verhält sich noch schlechter. vorne nicht. Denn mit der Etatisierung sind neue Sie hat gerade einmal 2 Millionen DM für den Fonds Probleme entstanden, und zwar mit Ihrem Beschluß, zusammengekratzt — für mich eine beschämende das im Einzelplan 15 zu etatisieren. Summe angesichts der Tatsache, daß diese Firmen im Jahr round about 1 Milliarde DM am Geschäft mit dem Eine Bemerkung zum Fonds, und zwar zur Höhe des Blut verdienen. Fonds. Der Bund, also der Steuerzahler, muß zunächst drei Jahre lang — — Ich hoffe, Herr Minister, Sie gehen mit der gleichen Energie an die Verhandlungen mit diesen beiden (Zuruf von der CDU/CSU) Genannten wie an die Auflösung des BGA heran. — Ja, von was finanziert sich denn der Bund? Doch (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke nicht von dem, was Sie heimlich im Keller drucken Liste) lassen könnten! Unseren Segen haben Sie dazu, und zwar den (Zuruf von der CDU/CSU: Der Bund der gemeinsamen, den einstimmigen Segen des Haus- Steuerzahler!) haltsausschusses. Der Bund will zunächst drei Jahre lang jährlich Ich will ja nicht von der Zerschlagung des BGA 20 Millionen DM für den Hilfsfonds zur Verfügung reden. Ich liebe diese militaristische Ausdrucksweise stellen. Auf meinen Antrag hin hat der Haushaltsaus- nicht. Auf das BGA und Ihre Vorstellungen komme ich schuß einstimmig beschlossen, die Pharmaindustrie dann noch zurück; denn ich halte es heute mit Herrn und die Versicherungswirtschaft aufzufordern, ver- Blüm, der sagte: Wir wissen ja nicht, wann die nächste gleichbare Beträge zum Fonds dazuzusteuern. In Haushaltsdebatte sein wird, wann wir wieder das Zahlen denken wir: Wenn wir ein Drittel geben — also Vergnügen haben werden im nächsten Jahr. Wir 20 Millionen DM der Bund —, dann sind die beiden haben deshalb vor, mehr über Perspektiven zu spre- anderen genannten mit ebenfalls je 20 Millionen DM chen, als Erbsenzählerei zu betreiben, was man uns dabei. Dann hätten wir 60 Millionen DM zur Verfü- sonst gemeinhin nachsagt. gung. Nun zum zweiten Problem, das mit der Etatisierung Dies ist deswegen notwendig, weil angesichts der der 20 Millionen DM im Einzelplan 15 zusammen- schon heute bekannten 2 300 berechtigten Menschen hängt. Ich habe da die Befürchtung — Sie könnten sie und einer unbekannten Zahl weiterer potentieller in Ihrer anschließenden Antwort zerstreuen, Herr Berechtigter — z. B. Infizierte durch Blutgerinnungs- Minister —, daß die 20 Millionen DM, die jetzt mittel oder Immunglobuline — dem Fonds sehr etatisiert sind, als Einsparung vielleicht im nächsten schnell die Luft ausgehen wird — das weiß der oder übernächsten Jahr ausgerechnet aus der Titel- Minister selbst am besten —, abgesehen davon, daß gruppe 12 geholt werden, aus dem Topf der Aidsbe- nirgendwo anders die Anwendung des Verursacher- kämpfung, mit dem freundlichen Hinweis: Nun seid Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16745

Uta Titze-Stecher doch einmal ruhig, wir haben ja gerade 20 Millionen persönlich gemeint. Aber insgesamt war doch DM draufgepackt. bekannt, daß das BGA Schwachstellen hat, die ich als Davor kann ich nur warnen; denn solch ein Vorge- Berichterstatterin im Rechnungsprüfungsausschuß, hen würde in unseren Augen die Kranken spalten, zuständig für den Einzelplan 15 (Wasser-Boden-Luft- und zwar in solche, für die die Hilfe des Staates zu Institut und die Industrienähe), nur zu genau kenne. Recht eingefordert und angeboten wird, weil sie Opfer Wenn ich die unendliche Geschichte der Berichter- von kriminellen Machenschaften mit verseuchtem stattung gerade zu diesem Institut nachlese, angefan- Blut und Blutprodukten geworden sind, und in solche, gen bei Frau Christa Vennegerts, dann wundert es die selbstverantwortlich für ihr Leiden sind. mich, daß bis heute nichts geschehen ist. Ich setze in diesem Punkt auf Ihre Energie, Herr Minister. Wieviel Zeit habe ich noch, Herr Präsident? (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Sie haben noch eine Ich kann aus den Gründen, die eben formuliert Minute. wurden — ich habe jetzt keine Redezeit mehr —, nur noch sagen: Die SPD lehnt diesen Einzelplan, obwohl sie partiell mit einigen Entscheidungen zufrieden ist, Uta Titze-Stecher (SPD): Das darf doch nicht wahr ab, weil er Ihre Handsch rift und nicht unsere trägt. Wir sein. Ehrlich? müssen eben ein Jahr warten, bis wir zustimmen Heiterkeit) können. Dann muß ich aber ganz schnell werden. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) Ich denke, Sie gestatten mir als Haushälterin, Herr Minister, ein abschließendes Wort der Kritik zu Ihrem jüngsten Vorschlag — das muß einfach sein —, zu den Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile als nächstem geplanten gesetzlichen, quasi Reihenuntersuchun- dem Kollegen Roland Sauer das Wort. Herr Kollege gen, den obligatorischen Aidstests bei Blutentnah- Sauer — das sage ich auch an die Adresse der men. nächsten Redner —, da die Uhr am Rednerpult nicht funktioniert, richten Sie vielleicht gelegentlich einen Ich denke, das bringt in der Sache nichts. Wissen Blick auf die Uhr da oben. Dann können Sie sich selbst Sie, warum? Weil Sie nicht auf Verdacht testen, ein bißchen mit orientieren. Ich rufe Ihnen dann aber sondern pauschal — also sowohl den 18jährigen von hinten zu, wie weit Sie sind. Schüler als auch die 80jährige Oma. Ich frage mich, was das politisch und gesundheitlich Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Herr Präsi- bringen soll, und warne Sie vor den finanziellen dent! Meine Damen und Herren! Die Wunder der Kosten dieser pauschalen Reihentestung. Alleine die Technik haben uns heute hier eingeholt, wenn m an Krankenkassen meinen, daß ein Be trag von 400 Mil- hier nun selbst die Zeit ablesen muß. lionen DM jährlich anzusetzen ist. Mit diesem Vor- Liebe Kollegin Titze, wir haben bei den Berichter- schlag sind Sie ohne Rücksichten auf haushälterische statter-Gesprächen so gut zusammengearbeitet, ha- Bedenken vorgeprescht. Da könnten Sie einsparen. ben so gut gespart und diesen HIV-Fonds gebildet. Ich denke, daß es sinnvoller wäre, die Vorschläge Wenn wir nicht mitgemacht hätten und wenn wir das des SPD-Antrags aufzunehmen, die lauten: nicht so wesentlich erhöht hätten, dann könnte m an Erstens die Schaffung einer nationalen Eigenver- heute nicht von einem Erfolg sprechen. Nun kommen sorgung mit Blut und Blutplasma — das haben wir Sie mit den Vokabeln „Schweinerei" usw. Ich glaube, formuliert. Selbst das Europaparlament geht inzwi- das ist unseren Beratungen nicht ganz angemessen. schen davon aus, daß angesichts des Skandals um (Widerspruch bei der CDU/CSU — Dr. Uwe aidsverseuchte Blutkonserven eine europäische Be- Küster [SPD]: Zurückgenommen!) hörde für Blutsicherheit notwendig wäre. — Zurückgenommen, okay. Flegeleien hieß es Zweitens in diesem Zusammenhang die Novellie- dann. rung des Arzneimittelgesetzes, woran Sie, soviel ich (Zuruf von der CDU/CSU: Mogeleien!) weiß, im Moment arbeiten. — Mogeleien. Auch dies, glaube ich, ist nicht ange- Ein aktuelles Wort zum BGA. Sie sind der Vorge- messen. setzte einer Riesenbehörde mit etwas über 3 000 Lassen Sie mich ein Wort vorneweg zu Ihrem Mitarbeitern.sagen? — zu Mich denen wund gert, daß in der ganzen Zeit sogenannten Verschiebebahnhof sagen. Die Leistun- der Skandalchronik ni cht ein Wort — wie soll ich es gen beim Mutterschaftsgeld werden durch die weg- efallen ist, die ihre Arbeit Tag für fallende Erstattung nicht geschmälert. Dies muß m an Tag anständig erledigen. klar betonen. Die Krankenkassen übernehmen dies. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich habe schon bei der ersten Lesung gesagt: Durch der F.D.P. und der PDS/Linke Liste) die positiven Auswirkungen des Gesundheits-Struk- Den Menschen, die mich als Parlamentarierin turgesetzes wird es so sein, daß sich die Beiträge der anschreiben und fragen „Was haben wir denn gesetzlichen Krankenversicherung deswegen nicht getan?", möchte ich sagen: Man könnte mit Kritik an erhöhen werden. Ich meine, m an kann diesen Wegfall das Ministerium daran erinnern, daß es verschiedene der Erstattung durchaus akzeptieren. Gutachten gibt, die auf dem Tisch liegen. Das war (Uta Titze-Stecher [SPD]: Deswegen wurde alles vor Ihrer Zeit, Herr Seehofer, Sie sind hier nicht doch gespart!) 16746 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Roland Sauer (Stuttgart) Die diesjährigen Haushaltsberatungen des Einzel- Schuldzuweisungen, sondern hier geht es um eine plans 15 wurden von der erschreckenden Aidsaffäre schnelle Hilfe für die be troffenen Menschen. Wir überschattet. Das Schicksal der betroffenen Men- haben deswegen — das darf ich lobend sagen — im schen, die durch Blut und Blutprodukte infiziert wur- Haushaltsausschuß einen Antrag der Kollegin Titze den, stand im Vordergrund unserer Überlegungen. angenommen, in dem wir die Bundesregierung noch- Dabei sollte aber nicht vergessen werden: Hier geht es mals auffordern, erneut nachdrücklich mit allen Betei- letztlich um kriminelle Machenschaften einiger skru- ligten zu verhandeln, um höhere Zuschüsse zu errei- pelloser Pharmaunternehmen, die ohne Nachsicht zur chen. Verantwortung gezogen werden müssen. Noch ein Wort zur Opposition: Sie haben zum Teil (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Falschmeldungen produziert, indem Sie behaupteten, der SPD) diese 20 Millionen DM für den Hilfsfonds würden bei den Mitteln für die Aidsbekämpfung abgezogen wer- Zwei Lehren haben wir zusammen mit unserem den. Dies ist eine bösartige Unterstellung, da die Bundesgesundheitsminister aus diesem Aidsskandal Mittel der Aidsbekämpfung im Entwurf mit 31 Millio- gezogen: Zum ersten muß der von uns vorgeschlagene nen DM festgeschrieben waren und auch heute noch Untersuchungsausschuß Licht und Transparenz in die voll mit 31 Millionen DM enthalten sind. bedauerlichen Vorgänge bringen und schonungslos die Affäre aufklären, und zum zweiten haben wir im Eine weitere wichtige Lehre, die wir aus den Vor- Haushaltsausschuß eine schnelle und unbürokrati- gängen um Haemoplas und Co. ziehen: Nie wieder sche humanitäre Soforthilfe für die Be troffenen dürfen mit Aids-Viren verseuchte Blutprodukte wei- beschlossen. Dabei übernimmt der Bund bei dem auf terverbreitet oder gar verabreicht werden. drei Jahre befristeten Fonds mit 20 Millionen DM den Löwenanteil. Bundesminister Seehofer hat die Aidsaffäre mutig und entschlossen angegangen. Dies kann sicher so nicht bleiben. So beteiligen sich z. B. die Länder lediglich mit 3 Millionen DM an (Beifall bei der CDU/CSU) diesem humanitären Hilfsfonds. Gerade angesichts Er hat vor allem nichts vertuscht, und er hat so zur der Arzneimittelaufsicht der L ander — ich denke hier Klärung und Transparenz der Vorgänge beigetra- besonders auch an das Land Rheinland-Pfalz mit dem gen. Beispiel UB Plasma — kann dieser Beitrag der Länder nicht hingenommen werden, er ist viel zu gering. Die Kritik der Ärzteschaft ist daher völlig verfehlt. Sie will sich damit aus ihrer Verantwortung stehlen. Geradezu verantwortungslos ist die Haltung der Der dem Minister gemachte Vorwurf, er habe eine Pharmaindustrie, die mit Kleckerbeträgen ihrer gro- HIV-Show abgezogen und den Aidsskandal erst zu ßen Verantwortung gerecht zu werden glaubt. Zusa- einem solchen gemacht, indem er ihn künstlich auf- gen von nur 2 Millionen DM sind nicht hinzuneh- gebauscht habe, ist geradezu lächerlich. men. Blut und Blutprodukte müssen künftig staatlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der kontrolliert und überwacht werden. Von der Idee, die F.D.P. und der SPD) Blutversorgung ganz in staatliche Hände zu legen, Es ist auch skandalös, daß sich die Pharmaversiche- halte ich allerdings nicht viel. Das Beispiel Frankreich rungsgesellschaften bisher geweigert haben, sich sollte uns hier eine Lehre sein. Wir müssen zweigleisig überhaupt an diesem humanitären Hilfsfonds zu fahren, einerseits mittels Versorgung durch P rivate beteiligen. Dieser Hilfsfonds soll ja ohne Anerken- und andererseits mittels gesteigerter Kontrolle durch nung einer Rechtspflicht — das ist ganz wich tig — den Staat. eingerichtet werden. Bis wir hier zu einer einver- Darüber hinaus sind Spontankontrollen in Blut- nehmlichen Lösung kommen, bleiben 19,5 Millionen spendeeinrichtungen ebenso zu überlegen wie unan- DM des Fonds gesperrt. Damit wird sich hoffentlich gemeldete Überprüfungen von Firmen durch Länder- der Druck der Öffentlichkeit auf die Pharmaunterneh- behörden. Hier kann m an sich am Vorbild der Verei- men und die Versicherungsgesellschaften erhöhen. nigten Staaten von Amerika orientieren. Bei der Mit 500 000 DM sollen aber die Vorarbeiten für diesen Herstellung von Blutprodukten sind wir ja bis zu 60 % Hilfsfonds praktisch anlaufen können, damit die auf ausländische Importe, vor allem aus den USA, Betroffenen auch wirklich ab dem 1. Januar 1994 diese angewiesen. Wir müssen uns überlegen, wie wir den Hilfe bekommen. Bürgern gerade dort einen umfassenden Schutz Es kann auch nicht akzeptiert werden — ich sage zukommen lassen können. dies mit gleichem Nachdruck —, daß sich das Deut- Die Arbeit des Untersuchungsausschusses wird in an dieser Hilfsaktion nicht beteiligt. sche Rote Kreuz diesem Zusammenhang sicherlich noch Hinweise Sicher, das DRK hat sich an der nationalen Aids- zutage fördern, die deutlich machen, wie und wo wir Stiftung mit einer Summe beteiligt, aber als größter die Kontrolle der Herstellerfirmen intensivieren müs- Blutspender kann es sich nicht achselzuckend zurück- sen. Vorhandene Sicherheitslücken müssen bei Bund ziehen. und Ländern geschlossen werden. Der Fall von UB (Beifall bei der CDU/CSU) Plasma und anderen darf sich in der Zukunft nicht Die finanzielle Absicherung der derzeit 1 800 durch wiederholen. Ab dem 1. Juli 1994 werden deshalb die Blut und Blutprodukte infizierten Menschen kann nur Vorschriften über die staatliche Chargenprüfung auch durch ein gemeinsames H andeln erfolgen. Hier geht auf große Teile der Blutzubereitung ausgedehnt. Zwar es aber, urn das auch nochmals klar zu sagen, nicht um werden die Prüfungen in den Händen der Hersteller- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16747

Roland Sauer (Stuttgart) firmen verbleiben, doch werden wir die Kontrollmaß- Horst Seehofer zu begrüßen, HIV-Infizierte juristisch nahmen verschärfen. und finanziell bei einem solchen Musterprozeß zu unterstützen. Hinzu kommt die Neufassung der Quarantänerege- lung. Um Fehldiagnosen durch das vielzitierte dia- Ich halte es im Interesse der Geschädigten für gnostische Fenster vorzubeugen, müssen lagerfähige ebenso richtig, das deutsche Haftungsrecht neu zu Präparate einer Doppelprüfung unterzogen werden. formen und umzugestalten. Dies alles sind erste Schritte, die für die Zukunft die (Beifall bei der CDU/CSU) Versorgung mit Blutprodukten sichern sollen. Doch es Der letzte Aspekt der Sicherung von Blutpräparaten kann noch mehr getan werden. Gefragt sind die bezieht sich auf die Eigenblutspende. Wenn Opera- Verbände. Ich denke hier an erster Stelle an die tionen im Vorfeld absehbar sind, müssen die Ärzte viel Ärzteschaft. Es sollte möglich sein, durch eine Ober- eher an ihre Patienten heran treten, um sie über die prüfung des Therapiestandards sowohl die Verwen- Möglichkeit der Eigenblutspende zu informieren. dung als auch die Verschreibung von Blut und Blut- Wenn wir all dies in der Zukunft umsetzen, können produkten zu reduzieren. Hier gilt es, das medizinisch wir uns wieder auf die Sicherheit der Blutversorgung erforderliche Mittelmaß zu finden, ähnlich wie wir es verlassen. auch bei der Arzneimittelversorgung geschafft haben. Lassen Sie mich noch kurz etwas zur Umgestaltung des Bundesgesundheitsamtes sagen. Lassen Sie mich noch zur zweiten für die Sicherheit von Bluttransfusionen wichtigen Aufgabe der Ärzte- schaft kommen. Damit meine ich die Spenderaus- Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit ist been- wahl. Der Ansatzpunkt muß die sorgfältige Untersu- det. chung des Spendewilligen sein. Der Vorschlag des Gesundheitsministers, einen Aidstest einzuführen, zielt keineswegs darauf hin, die Spender zu verprellen oder sie von vornherein in Mißkredit bringen zu Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Zwei Minuten wollen; denn damit ist doch keine namentliche Mel- noch. — Danke schön. depflicht oder gar ein Zwangstest verbunden. Ich bin Der Bundesgesundheitsminister hat in einem muti- froh, daß der Präsident der Bundesärztekammer die- gen Schritt die Absicht geäußert, das Bundesgesund- sen Aidstest gestern als richtig und gut bezeichnet hat heitsamt 1994 aufzulösen und die ihm zugehörigen und sich zumindest in dieser Beziehung der Meinung Institute neu zu strukturieren. Wir begrüßen diese des Bundesgesundheitsministers anschließt. rasche und energische Entscheidung und sagen schon heute eine zügige Beratung des Gesetzentwurfes im (Beifall bei der CDU/CSU — Horst Jung- mann [Wittmoldt] [SPD]: Hat er sich denn nächsten Jahr zu. entschuldigt?) Es geht hier nicht darum, bewährte Institutionen zu zerschlagen, liebe Kollegin Titze, und Wissenschaftler Wir sollten uns darüber im klaren sein: Es ist der von hohem Renommee zu entlassen. Diese Maßnah- Hilfsbereitschaft der vielen freiwilligen Spender zu men dienen vielmehr dazu, die Kontrolle dieser Ein- verdanken, wenn Unfallopfer oder Bluter überhaupt richtungen durch das Ministerium sicherzustellen. noch mit den für sie lebenswichtigen Präparaten Wir werden angesichts der prekären Finanzlage bei versorgt werden können. den Überlegungen allerdings nicht umhinkommen, (Beifall bei der CDU/CSU) neben den fachwissenschaftlichen Aspekten auch die haushaltsrelevanten Gesichtspunkte zu beachten. Die Trotzdem möchte ich betonen: Risikogruppen haben Arbeitsabläufe von Instituten müssen rationalisiert, bei der Blutspende nichts zu suchen. Dafür ist dies deren Effektivität gesteigert und Kosten eingespart eine zu ernste man kann fast sagen: todernste — werden. Es ist zu prüfen, ob der Umfang der Verwal- Angelegenheit, gerade weil die Antikörper bei einer tung reduziert werden kann. Entlassungen — ich sage Infektion nicht sofort anschlagen. dies — können dabei kein Tabu sein. Auflösung und Ich appelliere an alle, den Blutspendedienst nicht in Umstrukturierung dürfen zu keinen Mehrausgaben Mißkredit zu bringen, nur um sich an ihm zu berei- führen. chern. Die Ärzte sind daher zu scharfen Kontrollen (Beifall bei der CDU/CSU) aufgerufen. Diese liegen schließlich im Interesse a ller Das Ziel heißt, mit einer strafferen Struktur eine Beteiligten. effizientere Arbeit zu leisten. Statt der bislang sechs (Beifall des Abg. Dr. Wolfg ang Weng [Gerlin- Institute und einer großen Anzahl von zentral geleite- gen] [F.D.P.]) ten Dienststellen sollten wir die Zahl auf vier neue Institute reduzieren. Von diesen sollten drei dem Lassen Sie mich ein Wort zu den versicherungstech- Geschäftsbereich des Bundesgesundheitsministeri- nischen Aspekten im Falle einer HIV-Ansteckung ums und eins, nämlich das Institut für Wasser-, Boden- sagen. Hier sind noch einige Fragen offen, was und Lufthygiene, dem des Bundesumweltministeri- Fahrlässigkeitsprobleme und Beweislast angeht. In ums zugeordnet sein. Durch diese Zusammenlegung einem Musterprozeß sollten sich diese Fragen klären von Instituten wird dem Gedanken der Rationalisie- lassen. rung Rechnung ge tragen. Die künftigen Bundesinsti- Angesichts der Verweigerungshaltung der Versi- tute dürfen in ihrer wissenschaftlichen Unabhängig- cherungen, sich bei der Einrichtung des Hilfsfonds in keit und Eigenständigkeit aber nicht angetastet wer- angemessener Weise zu beteiligen, ist die Absicht von den. Deren interne Vorgänge und Forschungsvorha- 16748 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Roland Sauer (Stuttgart) ben müssen künftig jedoch transparenter und kontrol- über seinen Bürgern, auch und insbesondere im lierbarer gestaltet werden. Bereich der Gesundheit. Damit komme ich zu einem Thema, das in einer gesundheitspolitischen Debatte Vizepräsident Hans Klein: Die Zeit ist um. im Herbst des Jahres 1993 nicht ausgespart bleiben kann. Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Hierzu ist die Es ist ebenso begrüßenswert wie vor dem Hinter- intensivere Fach- und Dienstaufsicht der beiden Mini- grund der allgemeinen Finanzsituation beachtlich, sterien erforderlich. daß innerhalb kurzer Zeit ein Fonds zur Soforthilfe für Einen letzten Satz: Der Haushalt des Gesundheits- die Opfer aus der Behandlung mit HIV -kontaminier- ministeriums ist ein Sparhaushalt. Während der Haus- ten Blutprodukten in den Haushalt des Gesundheits- haltsberatungen haben wir nochmals einvernehmlich ministeriums eingestellt wurde. Der einstimmige 8 Millionen DM eingespart. Beschluß des Haushaltsausschusses, den Blutern und (Uta Titze-Stecher [SPD]: Habe ich gesagt!) Transfusionsopfern noch vor einer endgültigen Rege- lung, deren Ausgestaltung Aufgabe des kürzlich ein- Dennoch setzt dieser Haushalt wichtige Akzente. Ich gerichteten Untersuchungsausschusses sein wird, nenne hier drei wichtige Punkte. rasche Hilfe zuteil werden zu lassen, sollte an dieser Stelle Anlaß sein, auch die Beteiligung der Bundes- Vizepräsident Hans Klein: Bitte keine mehr! Die Zeit länder, der Pharmaunternehmen und der Versiche- ist ein gutes Stück überschritten. Nur noch einen rungswirtschaft an diesem humanitären Fonds anzu- Satz. mahnen.

Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Genau, das ist (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der der letzte Satz: Die Forschungsvorhaben gegen neue CDU/CSU) Infektionskrankheiten, die Förderung der medizini- Das Bundesgesundheitsministerium hat seit Be- schen Qualitätssicherung und die Maßnahmen auf kanntwerden der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Gebiet der Psychiatrie, die in besonderem Maße den HIV-verseuchten Blutprodukten bewiesen, wie den Menschen in den neuen Ländern zugute kom- wichtig es ist, Vorgänge, die die Gesundheit der men. Menschen direkt betreffen, aufzudecken. Ich betone Herzlichen Dank. dies auch deshalb, um klarzumachen, wie unange- messen die zum Teil diffamierenden Angriffe hin- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sichtlich der Vorgehensweise des Ministers Seehofer in der Vergangenheit waren. Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Bruno Menzel. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie des Abg. Roland Sauer [Stuttgart] [CDU/ Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine CSU]) sehr verehrten Damen und Herren! Ein oberflächli- Die Geschehnisse der zurückliegenden Wochen cher Blick auf das Haushaltsvolumen des Bundesmi- müssen uneingeschränkt aufgeklärt und alle wirksa- nisteriums für Gesundheit könnte zu der Befürchtung men Möglichkeiten zur Vorbeugung genutzt werden, Anlaß geben, die Bundesregierung widme der damit eine größtmögliche Sicherheit bei der medizi- Gesundheit weniger Aufmerksamkeit. Selbstver- nischen Behandlung mit Blut oder Blutprodukten ständlich würde ich mir als Gesundheitspolitiker wün- wiederhergestellt wird, ohne dabei allerdings in kurz- schen, daß dem Ministerium mehr Mittel zur Verfü- fristigen Aktionismus zu verfallen. gung stünden. Aber Politik ist immer nur die Kunst des Machbaren, und die Machbarkeit bewegt sich derzeit Im Rahmen eines zu entwickelnden Gesamtkon- nun einmal — nicht nur im Bereich der Gesundheits- zeptes ist eine der Aufgaben des Gesetzgebers die politik — im Rahmen der Gesamtsituation der Finan- Novelle des Arzneimittelgesetzes. Blut und Blutpro- zen. dukte müssen in ihrer Behandlung den Impfstoffen und Seren gleichgestellt sein. In diesem Zusammen- Dennoch ist es unter diesen Voraussetzungen hang muß geprüft werden, inwieweit die Kompeten- gelungen, einen ausgewogenen Finanzrahmen für zen der zuständigen Behörden erweitert, Kontroll- das Bundesministerium für Gesundheit aufzustellen, möglichkeiten bei den Herstellern der Präparate mit dem auch weiterhin Akzente gesetzt werden ermöglicht und in welchem Maße die Eigenblutver- können. Das, denke ich, ist vor allem wichtig. Ich sorgung Deutschlands unter nichtkommerziellen Be- möchte dies ausdrücklich betonen: Dieser Plan des dingungen erreicht werden kann. Gesundheitsministeriums findet die Zustimmung der F.D.P.-Fraktion. Ziel aller Anstrengungen muß letztendlich sein, In einem freiheitlichen Gesundheitswesen wie dem durch den weitestgehenden Ausschluß möglicher unseren zählt es nicht zu den Aufgaben des Staates, Risiken das Vertrauen in die oftmals lebensrettende Gesundheit von oben zu oktroyieren, sondern es gilt, und lebensverlängernde Behandlung mit Blut und Eigenverantwortung und Vorsorge zu fördern und Blutprodukten zurückzuerlangen. darüber hinaus eine Aufsichtsfunktion zu erfüllen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) der CDU/CSU) Mit den im Haushalt vorgesehenen Mitteln wird dies, Sollte es darüber hinaus notwendig sein, zusätzliche so denke ich jedenfalls, im kommenden Jahr gelingen. Mittel für Aufklärungsmaßnahmen aufzuwenden, Der Staat besitzt zudem eine Fürsorgepflicht gegen- wird die F.D.P. dies ausdrücklich unterstützen, und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16749

Dr. Bruno Menzel sicherlich sollten wir bei allen Überlegungen, die wir stungen erfolgen. Ebenso unbestritten ist aber auch anstellen, uns in Deutschland insgesamt umsehen und die Tatsache, daß nicht alle der heute in der gesetzli- schauen, wie denn in den einzelnen Ländern die chen Krankenversicherung Versicherten — das sind Vorbeugungsmaßnahmen, die hier eben von meinem ca. 75 % - als absolut schutzbedürftig anzusehen Vorredner eingefordert worden sind — nämlich die sind. ärztliche Untersuchung, nämlich die Spenderaus- Wir werden im nächsten Reformschritt darauf drän- wahl, nämlich die Sicherheit im Transfusionwesen —, gen, daß der besondere Schutz nur denjenigen zugute denn eigentlich organisiert sind, und selbstverständ- kommt, die aus eigenen Mitteln keine ausreichende lich ist es so, daß jeder Spender auf HIV getestet wird. private Vorsorge be treiben können. Für die anderen Das ist eine Grundvoraussetzung für die Blutspende müssen größere Variationsmöglichkeiten, z. B. über überhaupt, und darüber hinaus wollen wir ja, daß der Zusatzversicherungen, eingeräumt werden. Spender ein zweites Mal getestet wird, damit eben das (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne diagnostische Fenster, das hier angesprochen wurde, ten der CDU/CSU) geschlossen wird. Tarife mit und ohne naturheilkundlichen Verfah- Meine Damen und Herren, ich kann Ihnen sagen, es ren, mit und ohne Luxusversorgung bei Zahnersatz gibt schon Länder in Deutschland, die sehr sorgfältig ganz nach den individuellen Bedürfnissen, das muß mit diesen Dingen umgehen, und daran sollten wir uns eines unserer Ziele sein. Eine von Staats wegen orientieren. Ich denke nur an das Bundesland, aus verordnete optimale medizinische Versorgung für dem ich selbst komme. jeden einzelnen kann es nicht geben. Warum also soll (Zuruf von der SPD: Dazu haben Sie allen der Begriff der Eigenverantwortung nicht auch für die Grund!) private Gesundheitsvorsorge eine steigende Bedeu- tung erlangen? Wir haben eine DRK-Blutspendezentrale in meiner (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Heimatstadt. Aus dieser Blutspendezentrale ist noch nicht eine einzige Infektion bekanntgeworden, und so ten der CDU/CSU) möge es in Zukunft auch bleiben, und dafür wollen wir Eine andere, eher mittelbare Konsequenz des Sorge tragen. Gesundheits-Strukturgesetzes ist die wachsende Dia- - logbereitschaft der Ärzteschaft im Hinblick auf die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Weiterentwicklung unseres Gesundheitswesens. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Nach anfänglichen Turbulenzen während des Gesetz- Dessau vom!) gebungsverfahrens und nach Inkrafttreten des Struk- Es sind aber nicht nur die Vorkommnisse im Zusam- turgesetzes scheinen somit nun die Voraussetzungen menhang mit der Verseuchung der Blutprodukte, die für einen konstruktiven und zukunftsorientierten die gesundheitspolitische Diskussion in diesem Jahr Dialog zwischen Politik und praktisch Handelnden geprägt haben. Vor gut zwölf Monaten haben wir im vorhanden zu sein. Dies ist auch dringend geboten; Deutschen Bundestag über das Gesundheitsstruktur- denn nur durch gemeinsames Wirken sind die vor uns gesetz debattiert. Es ist gelungen, die Finanzen der liegenden Gesundheitsaufgaben in der Zukunft zu gesetzlichen Krankenversicherung zu konsolidieren, bewältigen. wenngleich die eigentliche Bewährungsprobe dieses Ich danke Ihnen. zweiten Schrittes der Gesundheitsreform, eine wirkli- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) che Neuorientierung hin zu einem auf Eigenverant- wortung, Subsidiarität und Solidarität basierenden Gesundheitswesen, noch aussteht. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Ursula Fischer Die Umsetzung des Strukturgesetzes hat verdeut- das Wort. licht, daß die Menschen bereit sind, diesen Weg mitzugehen. Wir alle wissen, daß die Bereitschaft, höhere Ausgaben für die Gesundheit zu akzeptieren, Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- in den letzten Jahren gewachsen ist. Es sind also dent! Meine Damen und Herren! Auch der Einzel- weniger die Ausgaben für die Gesundheit insgesamt plan 15 dieses Haushalts ist Teil des von der Bundes- als vielmehr die stetig steigenden Beiträge in der regierung eingeschlagenen radikalen Umvertei- gesetzlichen Krankenversicherung bei gleichzeitiger lungskurses. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal gewisser Schrumpfung des Leistungskatalogs, die betonen: Das zeigt sich zuerst und am deutlichsten an dringenden Handlungsbedarf erzeugen. der Streichung der bisher vom Bund an die Kranken- kassen gezahlten Mutterschaftsgeldpauschale in Es wird in Zukunft immer mehr darauf ankommen, Höhe von 205 Millionen DM. Immerhin führt das zu daß der einzelne weitestgehend darüber bestimmen massivsten Kürzungen eines Teilhaushaltes über- kann, wieviel Geld er für welche Gesundheitsleistun- haupt, und zwar in einer Größenordnung von 20 %. gen aufwendet. In der nächsten Reformstufe müssen Mit anderen Worten: Der Staat zieht sich an einer wir deshalb ein viel größeres Maß an individueller weiteren Stelle aus seiner Verantwortung für das Entscheidungsfreiheit ermöglichen. Funktionieren des Sozialstaatssystems zurück. Unbestritten gibt es einen Teil der Bevölkerung, der Das allein wäre schon Grund genug, diesen Teil- schutzbedürftig ist, ganz besonders bei einem solch haushalt abzulehnen; denn damit wird erneut ein sensiblen Gut wie der Gesundheit. Für diesen Perso- Schritt in eine sozial und gesellschaftspolitisch grund- nenkreis muß eine vernünftige Absicherung der sätzlich falsche Richtung getan — und das ganz medizinisch notwendigen und zweckmäßigen Lei unabhängig davon, daß die be troffenen Frauen das 16750 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Ursula Fischer Mutterschaftsgeld weiter ausgezahlt bekommen, kann, die künftig für diesen ursprünglichen Zweck nunmehr allein von der Krankenkasse, und daß die der eigentlichen Aidsproblematik noch zur Verfü- Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung da- gung gestellt werden. durch im Moment nur unwesentlich belastet werden. (Zuruf von der CDU/CSU: Wieso denn?) Es bleibt richtig: Leistungen wie das Mutterschafts- — Das ist nachweisbar. geld haben eigentlich nichts mit der Krankenversiche- rung zu tun. Sie gehören im Grundsatz aus Steuermit- Im übrigen darf es ja wohl nicht dabei bleiben: teln getragen und nicht von den Beitragszahlern der Wenn es der Pharmaindustrie um ihre Rechte und um gesetzlichen Krankenversicherung, wie selbst der ihren Herr-im-Hause-Standpunkt geht, dann hält sie Minister in der ersten Lesung eingeräumt hat. den Staat ohnmächtig und auf gebührende Distanz. Wenn es aber um dringlichste Hilfen für Arzneimittel- Das alles ist Teil eines verheerenden Weges, auf geschädigte geht, dann darf der Staat vorangehen und dem die Gefahr besteht, daß die Bundesregierung sich möglicherweise sogar allein der Verantwortung dieses Land geradewegs ins sozial- und gesellschafts- stellen. politische Chaos steuert. Ich bin nach der Rede von Herr Minister, an dieser Stelle möchte ich fragen: Herrn Menzel davon noch stärker überzeugt. Haben Sie einmal wirklich die Nachfolgekosten für Im Falle des Gesundheitswesens werden den Men- diese ganze Problematik ausgerechnet? Wie werden schen als nächstes tiefgreifende Einschränkungen des Sie sie ausgleichen? Denn hier geht es nicht um Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversi- Millionen, es geht sogar um Milliarden, und das wird cherung und noch viel stärkere Selbstbeteiligungen von der gesetzlichen Krankenversicherung, also von als bisher offeriert — und all das dann als vermeintlich uns allen, bezahlt. Das sehe ich nicht ein. einziger Ausweg aus einer angeblichen Unbezahlbar- Noch ein Wort zur Aidsbeämpfung: Bekanntlich ist keit sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung. dieses in keiner Weise bewältigte Feld bereits im Aber auch schon heute haben es Regierung und vorliegenden Haushalt von erheblichen Kürzungen Koalition in ihrer Sozial- und Gesundheitspolitik betroffen. Wenigstens das werden Sie nicht abstrei- dahin gebracht, daß es nur noch um Budgetierungen, ten. Wie Vertreter der Aidsstiftungen aber erst vor Streichungen oder, wie im vorliegenden Fall, um kurzem erneut mitgeteilt haben, verschlechtert sich Verschiebungen von Kosten von einem Etat auf den die soziale Lage von Menschen mit HIV-Infektionen anderen geht. Das gleiche findet übrigens auch dann und Aidserkrankungen gegenwärtig in dramatischer statt, wenn, wie gegenwärtig in Ber lin und anderen- Weise. orts praktiziert, das steuerfinanzierte öffentliche Gesundheitswesen weiter zugunsten von Leistungs- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau anbietern reduziert wird, die letztlich ebenfalls über Dr. Fischer, ich muß Sie jetzt bitten, sozusagen Ihre die Krankenversicherungen vergütet werden müs- Phantasie spielen zu lassen und sich vorzustellen, daß sen. da unten das rote Licht anfängt zu leuchten; denn ich bin nicht in der Lage, Ihnen dieses Zeichen zu Immerhin werden dabei solche wichtigen Säulen geben. des öffentlichen Gesundheitsdienstes wie kinder- und jugendärztlicher Dienst, sozialmedizinische Bera- tungsstellen, das Impfsystem und die staatliche Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Ich finde es Hygieneaufsicht weiter geschwächt und beseitigt. sehr belastend, muß ich sagen. Wenn m an hier redet, Nichts anderes als eine solche Finanzierungsverschie- nur fünf Minuten Zeit hat und dann noch ständig auf bung ist es schließlich, wenn die Länder Schritt für solche Gegebenheiten achten muß, wird einem das Schritt ihre finanzielle Verantwortung für die Kran- Reden fast ganz unmöglich gemacht. kenhausfinanzierung abgeben. Auch hier werden den Beitragszahlern plötzlich Lasten für neue Aufgaben Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich habe aufgebürdet, die eigentlich gesamtstaatliche Aufga- ja volles Verständnis dafür. Ich wünschte mir, Ihnen ben sind und bleiben sollten. dieses Signal optisch geben zu können; aber ich kann es nicht ändern. Die Zeit ändert sich aber nicht durch Eine ganz andere Situation ergibt sich dagegen bei dieses Verfahren. den dringlich notwendigen Entschädigungen für die Fahren Sie einmal fort, bitte! Opfer HIV-infizierter Blutprodukte. Hier, wo in der Tat Versicherungen zahlen müßten, nämlich die Rückversicherer der Pharmaindustrie, müssen nun Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Meine Damen primär Bund und Länder im Namen des Steuerzahlers und Herren, das einzige, was neu aufgenommen aktiv werden. wurde, sind die Zuschüsse zur Forschung auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten. Dem ist zuzustim- Damit ich nicht mißverstanden werde: Natürlich men, da auf diesem Gefährdungsfeld in der Tat ganz begrüße ich die Einrichtung eines staatlichen Fonds neue Herausforderungen entstehen können. Ich gebe für HIV-Opfer und die Tatsache, daß entgegen dem allerdings zu bedenken, daß diese Förderung wieder ursprünglichen Ansatz nun 20 Millionen DM gezahlt einmal nicht mehr ist als der Tropfen auf dem heißen werden sollen. Stein. So anerkennenswert das auch ist, so sehr teile ich Am Schluß möchte ich nur noch ganz kurz ein allerdings die von Uta Titze-Stecher geäußerte anderes Problemfeld ansprechen: Wer eine hochqua- Befürchtung, daß die Etatisierung dieser Summe im lifizierte medizinische Versorgung auch künftig Einzelplan 15 und noch dazu im Titel Aidsbekämp- bezahlbar halten will, der muß bereits heute für neue fung schlimme Folgen für die Höhe der Mittel haben Strukturen und andere Denk- und Verhaltensweisen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16751

Dr. Ursula Fischer plädieren. Wo bleiben denn die Modellprojekte, HIV; wir erwarten ihn in absehbarer Zeit auch nicht. meine Damen und Herren, wo es um neue kooperative Jeder Infizierte erkrankt früher oder später an Aids, Formen der Arbeit im ambulanten Bereich, aber und die Latenzzeit zwischen Infektion und Ausbruch natürlich auch um Krankenhausfinanzierung, um von Aids kann bis zu 15 Jahren be tragen. fach- und berufsübergreifende Versorgung geht? Die Summe dieser Merkmale macht Aids zur In der Ärzteschaft ist dazu immerhin eine bemer- gefährlichsten Infektionskrankheit unserer Zeit. kenswerte Diskussion angelaufen. Diese gefährliche Mischung gibt es bei keiner ande- ren Krankheit. Deswegen, meine Damen und Herren, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau kann das Vorsichtsprinzip bei der Blutübertragung Dr. Fischer, ich muß jetzt ernsthaft auf die Zeit und Blutbehandlung nicht ernst genug genommen aufmerksam machen. Ich muß das einmal begründen, werden; denn der drohende Schaden wäre gewaltig, damit Sie das auch verstehen: Nach der jetzigen wenn wir dieses Vorsichtsprinzip nicht beachten. Geschäftslage endet das Plenum heute nacht nach 0.30 Uhr. Wir brauchen auch in der Zukunft maximale Sicher- heit. Jedes noch so kleine Risiko, das vermeidbar ist, Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Ich bin davon muß vermieden werden. Wegen der langen Latenzzeit besonders be troffen. brauchen wir Frühwarnsysteme mit möglichst voll- ständigen Informationen über die Ausbreitung der Infektion und ihre Wege. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Eben; dann haben Sie sicher sehr viel Verständnis dafür. Das Erschrecken über die hohe Zahl der infizierten Bitte schön. Hämophilen in den 80er Jahren, als der HIV-Test schließlich zur Verfügung stand, sollte uns eine War- Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Selbstver- nung sein. Damals, bis 1985, gab es keinen Test. Wir ständlich habe ich für das, was in diesem Parlament haben ihn heute, und ich denke, wir sollten ihn passiert, Verständnis; hierfür allerdings nicht. deshalb heute auch nutzen. Ich fordere von der Regierung an dieser Stelle, daß Deshalb habe ich in diesen Tagen zwei Dinge sie in der Forschung innovative Modellprojekte auf- veranlaßt bzw. vorgeschlagen, nämlich im Hinblick nimmt, die zur Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswe- auf die Vergangenheit einen Aufruf an die Bevölke- sen, zu ganz anderen Formen führen. Wenn sie das tun rung: Wer unsicher ist, ob er in der Vergangenheit würde, dann wäre auch das Gesundheitswesen einem Infektionsrisiko durch Blut oder Blutprodukte bezahlbar. ausgesetzt war, sollte sich von seinem Arzt beraten Die PDS/Linke Liste kann diesem Haushalt auf lassen. Und wenn danach noch Zweifel bestehen, ob keinen Fall zustimmen. eine Infektion stattgefunden haben könnte, rate ich auch heute zu einem HIV-Test. Meine Damen und Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Herren, dieser Test, der von Ärzten oder den örtlichen nunmehr dem Bundesminister für Gesundheit Seeho- Gesundheitsämtern durchgeführt wird, schafft am fer das Wort. schnellsten Sicherheit und Gewißheit. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben Der Test wird beim Gesundheitsamt unentgeltlich fast übereinstimmend in diesem Deutschen Bundes- durchgeführt. Die Kosten für einen Test beim nieder- tag vor gut einem Jahr ein Gesundheits-Strukturge- gelassenen Arzt oder im Krankenhaus übernehmen setz verabschiedet, das den allermeisten Beteiligten für Versicherte die Krankenkassen. im deutschen Gesundheitswesen massive Sparopfer abverlangt. Meine Damen und Herren, ich habe in diesen Tagen auch vorgeschlagen, bei ohnehin anfallenden Blutun- Ich denke, wenn man Apothekern, Pharmaherstel- tersuchungen in Krankenhaus, Arztpraxen und lern, Ärzten, Zahnärzten und zum Teil auch Patienten Labors dieses Blut, das ja sowieso vom Arzt oder einem Sparopfer abverlangt, müssen ein Parlament und ein Labor auf alle möglichen Erkrankungen untersucht Ressortminister auch bereit sein, im eigenen Ressort werden kann, künftig auch einem Aidstest zu unter- zu sparen. Deshalb trage ich diesen Sparhaushalt ziehen. Meine Damen und Herren, wie sollen wir vollinhaltlich mit. Ich denke, wir sollten nicht nur von denn eigentlich einem Blutspender künftig im Zusam- Dritten und anderen das Sparen verlangen, sondern menhang mit der Eigenversorgung in der Bundesre- auch von dem Zuständigkeitsbereich, den wir selbst publik Deutschland klarmachen, daß er als Blutspen- zu vertreten haben. der einmal oder künftig möglicherweise sogar zwei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mal auf HIV-Antikörper getestet werden soll, wenn Dieses Mittragen fällt mir um so leichter, weil ich wir auf der anderen Seite ohnehin notwendige Blut- glaube, daß die wichtigsten gesundheitspolitischen untersuchungen dann diffamieren, wenn ein HIV- Akzente sehr wohl auch weiterhin gesetzt werden Antikörpertest damit verbunden werden soll? können. Das gilt insbesondere auch für Aids, das nach meiner Auffassung die größte Herausforderung ist, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vor der wir heute im Gesundheitswesen stehen. Wenn wir auf der einen Seite sagen, daß die Aids ist nicht heilbar. HIV ist eine Infektionskrank- Menschen zur Blutspende gehen sollen, und wir ihnen heit, die von den Übertragungswegen her praktisch zumuten, daß sie getestet werden, künftig möglicher- jeden treffen kann. Es gibt keinen Impfschutz gegen weise ein zweites Mal getestet werden, dann werden 16752 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Bundesminister Horst Seehofer wir in der Öffentlichkeit nicht herüberbringen kön- — Ich bin schon wieder ruhig. nen, wie wir die Selbstversorgung in der Bundesrepu- Meine Damen und Herren, es ärgert mich manch- blik Deutschland sicherstellen wollen, wenn wir mal, wenn wir immer nur nach dem Haar in der Suppe, gleichzeitig bei anderen Patienten oder Versicherten nicht nach der Qualität der Suppe fragen. Das ist den HIV-Test diffamieren. nämlich die große Frage. Ich bin wirklich dafür, daß wir völlig emotionsfrei (Beifall bei der CDU/CSU) darüber diskutieren, ob es nicht Sinn macht, ohnehin anfallende Blutuntersuchungen künftig mit einem Ich bleibe dabei, daß wir die Möglichkeiten des HIV-Test zu verbinden, wobei natürlich der Patient Tests stärker nutzen sollten. Das hat nichts mit einer Herr des Verfahrens bleibt. Wenn der Patient diesen Veränderung der Aids - Politik zu tun. Es bleibt bei der Test ablehnt, muß das auch künftig in seiner Hoheit Hilfe, der Information, der Prävention. Es bleibt dabei, liegen. daß wir niemanden ausgrenzen oder diskriminieren wollen. Es bleibt ebenfalls dabei, daß die Ergebnisse (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) einer Laboruntersuchung anonymisiert bleiben. — Meine Damen und Herren, wir sollten einmal mit Dabei bleibt es. der typisch deutschen Gründlichkeit aufhören, daß wir bei jedem neuen Vorschlag zuallererst die Frage stellen: Wie können wir die Verwirklichung des Vor- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mini- schlags verhindern? Wir sollten vielmehr zuerst die ster, dies veranlaßt den Abgeordneten Dr. Menzel, eine Zwischenfrage zu stellen, vorausgesetzt, Sie Frage stellen: Wie können wir den Vorschlag verwirk- stimmen zu. — Bitte schön, Herr Menzel. lichen? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Herr Minister, Sie haben mich direkt angesprochen. Habe ich Sie richtig ver- Deshalb sage ich erstens: Der Patient bleibt Herr des standen, daß Sie der Meinung sind, ich hätte verlangt, Verfahrens. Wenn er widersp richt, kann dieser Test daß sich jemand, der auf der Intensivstation liegt, nicht durchgeführt werden, was auch bei jeder ande- sechsmal einem HIV-Test unterzieht? ren medizinischen Behandlung gilt. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Das hat Ein Zweites, meine Damen und Herren: Wie bei er doch gar nicht gesagt!) allen Diagnose - , Hygiene - und Therapiestandards wird es natürlich auch hier künftig in der Hand der Ärzte liegen, Tests auszuschließen, die objektiv kei- Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: nen Erkenntnisgewinn bringen oder wenig Sinn Nein. Lieber Kollege Dr. Menzel, die von Ihnen machen. Wenn also heute der Vorsitzende des Mar- gemeinsam mit Dr. Thomae herausgegebene Presse- burger Bundes fragt: Was macht dieser Vorschlag bei mitteilung zu diesem Thema beinhaltete keine einem 80- oder 90jährigen für einen Sinn?, so sage ich, 100 %ige Zustimmung zu meinem Vorschlag, sondern daß es in der Hand der Ärzte liegt, durch Therapie- nur eine 70 %ige. Ich wollte die Restzweifel, die 30 %, oder Diagnoserichtlinien festzulegen, daß man solche auch noch ausräumen und Ihnen ermöglichen, daß Sie Fälle ausnimmt. Das sollen sie machen. mir zu 100 % zustimmen können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) [F.D.P.]) Ich betone hier noch einmal — zum wiederholten Meine Damen und Herren, Kollege Menzel, wenn Mal von diesem Pult aus —: Im übrigen wird es wegen ein Patient auf der Intensivstation liegt, der fünf- oder der Sicherheit des Bluts und der Blutprodukte keine sechsmal in der Woche Blut entnommen bekommt, so Veränderung der Aidspolitik innerhalb der Bundesre- hat Horst Seehofer natürlich niemals vorgeschlagen, gierung und der Koalition geben. Das versichere ich daß dann jedesmal ein HIV-Test durchgeführt werden hier noch einmal. Es muß aber doch unser gemeinsa- soll. Das macht natürlich wenig Sinn. mer Wille sein, angesichts dieser langen Latenzzeiten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht erst dann zu reagieren, wenn eine Gefährdung der Gesundheit zur Gewißheit geworden ist, sondern Einen solchen Unsinn schlägt nicht einmal ein Ange- wenn diese Gefährdung der Gesundheit durch Blut- höriger des friedliebenden Standes der Bayern vor. behandlung möglich oder sogar wahrscheinlich ist. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Darauf müssen wir uns doch verständigen. Nein, meine Damen und Herren, da muß die Erstun- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Uta tersuchung genügen. Genauso legen wir im gesamten Würfel [F.D.P.]) Medizinbereich fest, daß Mehrfachuntersuchungen Meine Damen und Herren, die Testergebnisse, die vermieden werden sollen. Die Ärzte sollen eine Richt- wir heute bekommen, gehen wegen der langen linie erlassen, wonach die erste Untersuchung genügt Latenzzeit zum Teil noch auf Blutbehandlungen vor und diese im Krankenhaus nicht wiederholt werden dem Jahre 1985 zurück. Deshalb werden wir manches soll. aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre oder der Gegenwart ohne eine breitere Anlage der Tests viel- Von diesen 3 % der Problemfälle her aber dürfen wir leicht erst um die Jahrhundertwende zur Kenntnis doch nicht die Sinnhaftigkeit für die restlichen 97 % bekommen. Unser gemeinsames Bestreben sollte der Fälle in Frage stellen. sein, daß sich diese Katastrophe der 80er Jahre, wo (Dr. Peter Struck [SPD]: Ein wenig leiser!) mehr als 2 000 Menschen durch Blutbehandlungen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16753

Bundesminister Horst Seehofer infiziert wurden, in der Bundesrepublik Deutschland Fortentwicklung des Sicherheitsstandards mit zusätz- nicht mehr wiederholen kann. lichen Instrumenten ausstatten müssen. (Beifall des Abg. Bartholomäus Kalb [CDU/ Wenn alle Beteiligten, einschließlich der Ärzte- CSU]) schaft, übereinstimmend der Auffassung sind, daß der Test notwendig, daß der Rückruf notwendig, daß die Deshalb sind wir nachhaltig dabei und veranstalten notwen- keine Show, keine Panikmache und keine Hysterie. Fortentwicklung des Sicherheitsstandards dig ist, dann kann das Handeln der Koalition und des Meine Damen und Herren, ja, es gab gewisse Gesundheitsministers, auch mit partieller Unterstüt- Irritationen zwischen Teilen der deutschen Ärzte- zung der Opposition, nur richtig gewesen sein. Sonst schaft und dem Bundesgesundheitsminister in der könnte man nicht zu diesem Ergebnis kommen. Frage: Ist der Bundesgesundheitsminister hier richtig vorgegangen? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich darf Sie darüber unterrichten, weil das, wie Ich bleibe gegenüber dem Parlament auch bei vieles, was harmonisch abläuft, in der Öffentlichkeit meinem Vorschlag, das Bundesgesundheitsamt als nicht ausreichend übergekommen ist. Ich habe am einheitliche Behörde aufzulösen. Ich werde dem Par- 23. November 1993, also am Wochenanfang, mit dem lament dazu in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen. Präsidenten der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, Ich habe auch bei der letzten Bundestagsdebatte von und dem Vorsitzenden des Marburger Bundes, Frank diesem Pult aus gesagt, daß die ganz überwiegende Ulrich Montgomery, die gegenwärtige Situation bei Mehrheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im HIV und Aids im Zusammenhang mit Blutbehandlung Bundesgesundheitsamt qualifiziert und motiviert ist. besprochen. Das Ergebnis des Gesprächs war: Es (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Ja, das ist besteht Übereinstimmung, daß zur Sicherheit der richtig!) für die Behandlung mit Blut und Blutprodukten Nur, wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß die Zukunft Handlungsbedarf besteht. Das wird also auch Organisationsstruktur dieser Mammutbehörde, für von der Ärzteschaft bejaht. Für die Zukunft wird der sich genommen, geeignet ist, zu Mängeln zu führen. Vorwurf der „HIV-Show" nicht aufrechterhalten. Diese Mängel erlebe ich Tag für Tag. Sie sind nicht auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- die motivierten und qualifizierten Mitarbeiter zurück- - ordneten der F.D.P.) zuführen, sondern auf die unheimliche Hierarchie, die Damit ist aus meiner Sicht wieder eine belastungsfreie dort herrscht. Zusammenarbeit mit dem Präsidenten der Bundesärz- Bei allem Lob für große Teile des Bundesgesund- tekammer und dem Vorsitzenden des Marburger heitsamtes dürfen wir es nicht durchgehen lassen, daß Bundes möglich. Ich bin dankbar, daß — nach einigem wichtigste gesundheitspolitische Anliegen von einzel- Hickhack über Tage hinweg — von beiden dieses nen Mitarbeitern nicht sorgfältig und nicht mit der Format aufgebracht wurde. notwendigen Sensibilität betrachtet werden. (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Das inter- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. pretieren wir als Entschuldigung, Herr Mini sowie bei Abgeordneten der SPD) ster!) Wir bleiben dabei: Ich werde dem Parlament noch in Meine Damen und Herren, ich möchte noch etwas diesem Jahr den Vorschlag unterbreiten. Wir wollen zum Handlungsbedarf und zu den Vorwürfen der aus diesem großen, schwerfälligen T anker kleinere Panikmache und der Veranstaltung einer Show im Schnellboote machen und damit auch in Deutschl and Prinzip sagen. Erstens. Es gibt heute, nachdem dieses das Prinzip verwirklichen, das wir so gerne von der Thema einige Wochen in der Diskussion war, bei Europäischen Gemeinschaft fordern, nämlich das niemandem mehr Zweifel daran, daß in bestimmten Prinzip der Subsidiarität: Man soll einer größeren Fällen ein Test durchgeführt werden sollte, insbeson- Behörde keine Aufgaben übertragen, die eine klei- dere wenn man in den 80er Jahren mit Blut oder nere genausogut erledigen kann. Blutprodukten behandelt wurde. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Zweitens. Es gibt keinen Zweifel daran, daß die in ordneten der F.D.P.) Frage stehenden Blutprodukte von den bekannten Herr Präsident, meine letzte Bemerkung — im Firmen zurückgerufen werden mußten und noch ein- Hinblick auf die Zeit — betrifft die Hilfe im Bundes- mal nachgetestet werden mußten. Niemand derer, die haushalt für die Opfer der 80er Jahre. Meine Damen sich kritisch zu meinem Vorschlag geäußert haben, und Herren, ich neige nicht leicht zum Pathos, aber ich wäre bereit, diese Blutprodukte bei sich selbst anwen- muß sagen: Was hier vorgeführt wurde, und zwar den zu lassen. parteiübergreifend, ist ein Beispiel für praktizierte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Nächstenliebe. Ich dachte nicht, daß wir als politische ordneten der F.D.P.) Parteien dazu noch in der Lage sind. Es ist eine seltsame Diskussion: Der Bevölkerung (Zuruf von der SPD: Ich auch nicht!) möchte man das zumuten, aber selbst würde man eine Es sieht nicht so aus, als ob dieses Signal der Behandlung mit diesen Blutprodukten niemals durch- Mitmenschlichkeit, das mit der Bereitstellung dieser führen lassen. 20 Millionen DM einheitlich vom Deutschen Bundes- Drittens. Keiner, der sich an der Diskussion betei- tag ausgegangen ist, beim Deutschen Roten Kreuz, ligt, hat nicht die Erkenntnis, daß wir sowohl die bei den Pharmaherstellern, bei der Versicherungs- Einhaltung des Sicherheitsstandards als auch die wirtschaft ausreichende Wirkungen hinterlassen 16754 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Bundesminister Horst Seehofer hätte. Ich fahre anschließend zur Gesundheitsmini- Ich rufe den nächsten Einzelplan auf: sterkonferenz nach Hamburg und hoffe, daß die Einzelplan 17 Bundesländer hier endgültig ihre Zustimmung für die 3 Millionen DM geben. Bundesministerium für Frauen und Jugend — Drucksachen 12/6017, 12/6030 — (Dr. Winfried Pinger [CDU/CSU]: Mehr!) Berichterstattung: Abgeordnete Der Bundeskanzler hat sich heute noch einmal an die Susanne Jaffke Versicherungswirtschaft gewandt. Ich habe gestern Ina Albowitz mit dem Deutschen Roten Kreuz gesprochen und Dr. Konstanze Wegner bekomme nächste Woche eine Antwort. Bei der Phar- maindustrie scheint es unheimlich schwer zu werden, Frau Dr. Konstanze Wegner ist die erste Rednerin. mehr als die 2 Millionen DM zu bekommen. Ich strebe Frau Abgeordnete, Sie haben das Wort. an, in der letzten Sitzungswoche in den Haushaltsaus- schuß zu kommen, um über das Ergebnis zu berichten. Dr. Konstanze Wegner (SPD): Herr Präsident! Ich würde dann darum bitten, daß die 19,5 Millionen Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einem DM entsperrt werden, damit wir im Januar die Hilfen Zitat von Frau Merkel aus ihrer Haushaltsrede zur für die Opfer ausbezahlen können. ersten Lesung: (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Der Haushalt des Jahres 1994 ist Ausdruck unse- SPD) rer politischen Zielsetzung:... Stabilität bei den Ich betone noch einmal: Das ist eine Soforthilfe, Ausgaben ... mit sozial gerechtem Handeln zu weil wir den Opfern nicht zumuten wollen, daß auf verbinden. ihrem Rücken ein weiterer monatelanger S treit oder An diesem selbstgesteckten Ziel muß das Ministe- eine juristische Auseinandersetzung stattfindet. Ich rium nun seine Frauen- und Jugendpolitik messen bin jedoch nach allem, was ich aus dem Untersu- lassen. Ich meine, die Frauenpolitik des Ministeriums chungsausschuß höre, zuversichtlich, daß die Sofort- ist durch einen Widerspruch zwischen Worten und hilfe möglicherweise in wenigen Monaten durch die Taten gekennzeichnet. Es stimmen zwar alle hier im endgültige strukturelle Hilfslösung abgelöst werden Parlament überein, daß Frauen in unserer Gesell- kann. Ich bin jedenfalls zuversichtlich. Aber wir schaft noch massiv benachteiligt sind und daß hier sollten jetzt nicht unter Hinweis auf die strukturelle großer Handlungsbedarf besteht. Wenn ich aber Hilfe die Soforthilfe auf die lange B ank schieben. Revue passieren lasse, Frau Merkel, was konkret Darum geht es mir. gelaufen ist, dann komme ich zu dem Eindruck, daß im (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist Mittelpunkt Ihrer Frauenpolitik der Kampf gegen die wohl richtig!) Quote steht. Das beginnt schon mit den Interpretationsmanö- vern, die vorwiegend die Herren bei der CDU/CSU an Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mi- dem Sätzchen der Verfassungskommission vorge- nister, meine und Ihre Uhr gehen gleich. nommen haben, womit der Art. 3 etwas aufgebessert werden soll: Auf keinen Fall darf das je die Grundlage für die Anwendung der Quote sein. Der Kampf gegen die Quote setzt sich auch in Ihrem Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Ich habe vor 120 Sekunden diese Ankündigung gemacht. Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes fort, dem Ich habe noch 10 Sekunden und wollte mich abschlie- gerade dadurch jeder Biß genommen wird. ßend für die sehr sachliche Atmosphäre, wie ich sie bei (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke diesem Haushalt im Haushaltsausschuß erlebt habe, Liste) bedanken, insbesondere beim Kollegen Sauer, beim Ich glaube, die Quote ist so etwas wie ein Trauma für Kollegen Weng und bei der Frau Kollegin Titze- diese Regierung. Selbst in der von der Bundesregie- Stecher. Ich denke, das war ein angenehmes Beispiel, rung mit Millionen Kosten herausgegebenen Werbe- wie man trotz Sparens parteiübergreifend vernünftige postille — der Abgeordnete Walther weiß, wovon ich Gesundheitspolitik betreiben kann. spreche — „Journal für Deutschland", das laut Regie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. rungsprecher Vogel die Bürger über alle Bereiche der sowie bei Abgeordneten der SPD) Politik informieren soll, taucht das Zwangsthema Quote auf. So wird in dieser Postille unter anderem die Parlamentarische Staatssekretärin Yzer mit einem hübschen Farbfoto vorgestellt mit folgendem Begleit- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Um so text: leichter fällt es nun mehr, zur Abstimmung zu kom- men, und zwar über den Einzelplan 15, Bundesmi- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie ist auch nisterium für Gesundheit, in der Ausschußfassung. hübsch!) Wer stimmt für den Einzelplan 15? — Wer ist dagegen? — Habe ich nicht bestritten, Herr Kollege. Ich — Enthaltungen? — Der Abgeordnete Jungmann hat zitiere —: sich enthalten. Damit ist der Einzelplan 15 angenom- . Rechtsanwältin. Selbstbewußt. men. Ledig. Mag Blumen, am liebsten kübelweise. Ißt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gern italienisch. Beklagt nicht die Lage der der F.D.P.) Frauen. Versucht, ihnen Chancengerechtigkeit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16755

Dr. Konstanze Wegner statt Quotenhuberei zu verschaffen. Nach dem Neuregelung des Bund-Länder-Finanzausgleichs Motto: Ihre 85jährige Großmutter sei für sie die recht gut weggekommen sind emanzipierteste Frau, die sie kennt. Die habe das (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) Wort nie im Munde geführt. und von denen einige ihre Kommunen bei der Umset- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — zung durchaus mehr unterstützen könnten. Zuruf von der SPD: Wer bezahlt denn diesen Schwachsinn?) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) — Das bezahlen wir alle, die Steuerzahler. Also, ich will zur Ehre von Frau Yzer annehmen, daß sie diesen Die Debatte um den Rechtsanspruch zeigt zugleich Schwachsinn nicht selbst zu Papier gebracht hat, exemplarisch, wie problematisch es ist, wenn der sondern irgendein Schreiberling aus dem Bundes- Bund kostenträchtige Gesetze für andere Gebietskör- presseamt. perschaften erläßt, ohne daß zuvor seine eigene Beteiligung bzw. die Kostenverteilung überhaupt (Zuruf von der SPD: Ein Mann!) geregelt ist. Aber ich kann nur sagen, zur Selbstbeweihräuche- (Cornelia Yzer [CDU/CSU]: Falsch! Der Bun rung besteht in ihrer Fraktion gar kein Anlaß. Sie desrat hat zugestimmt, Frau Wegner!) haben mit 13,8 % bei weitem den niedrigsten Frau- — Ich erkläre es Ihnen gerne noch einmal p rivat. Mir enanteil aller Fraktionen. Ich weiß auch, daß die läuft sonst die Zeit weg. CDU-Basis ganz anders über die Quote denkt als ihre Vertreter im Ministerium. (Uta Würfel [F.D.P.]: Das weiß ich!) Ich habe eine Notiz im „Reutlinger Generalanzei- Der sogenannte Frauentitel bringt mit seinen mage- ger" vom 23. Oktober gefunden und dem entnehme ren 25 Millionen DM und seinem Sammelsurium ich folgende Zustandsbeschreibung. Nach der Über- sicher gutgemeinter Projekte auch keine Lösung der schrift: dargestellten Probleme. Ich glaube, er eignet sich nicht einmal als Feigenblatt für eine Frauenpolitik, der Landes-CDU bewegt sich langsam in Richtung - leider jeder Mut zu grundsätzlichen Reformen fehlt. Frauenquote (Beifall bei Abgeordneten der SPD) heißt es: Ich komme zur Jugendpolitik. Die Mittel für den Nicht nur hinter vorgehaltener Hand loben vor Bundesjugendplan werden in diesem endgültigen allem Junge-Union-Frauen das Beispiel der SPD Haushalt leider nicht um 8 Millionen DM angehoben, in dieser Frage. Die Sozialdemokraten hatten vor wie Frau Merkel in ihrer Haushaltsrede freudig ver- nicht weniger als sieben Jahren eine Quotendis- kündet hat, sondern in Wahrheit drastisch gekürzt. kussion geführt und mit entsprechenden Be- (Ernst Waltemathe [SPD]: Da hat die Frau schlüssen beendet. Seither gibt es in der SPD Merkel nicht ganz die Wahrheit gesagt!) einen Trend, von dem wir nicht einmal träumen können, urteilt eine CDU-Stadträtin. Die Koalition im Haushaltsausschuß hat sich entgegen dem Wunsch ihrer eigenen Fachpolitiker und entge- Schluß damit! Ich will Ihnen nur sagen: Auch bei den gen dem Wunsch der Jugendverbände geweigert, den Sozialdemokraten war es nicht leicht, sie durchzuset- gestrichenen Haushaltsvermerk über die Rücklauf zen. Sie ist auch kein Allheilmittel, nur eine Krücke mittel wieder einzuführen, und entzieht dem Bundes- auf Zeit, aber auch Sie werden nicht darum herum- jugendplan damit jährlich etwa 8 Millionen DM. kommen, sie einzuführen. Die zuletzt verhängte globale Minderausgabe von (Beifall bei der SPD) 5 Milliarden DM und die entsprechende Haushalts- sperre bedeutet nun für die Zuwendungsempfänger Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Realität im eine weitere Kürzung von rund 10 %. Das heißt, daß Deutschland des Jahres 93 ist für Frauen vielfach die Verbände, die ohnehin in den letzten Jahren auf bedrückend. Dazu hat die Politik dieser Koalition Grund der mangelnden Anpassung des Bundesju- leider wesentlich beigetragen. gendplans immer mehr Eigenmittel aufbringen muß- (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) ten, nun in große Schwierigkeiten kommen. Der Hickhack um die Interpretation des Verfas- Angesichts der schwierigen sozialen Lage vieler sungsgerichtsurteils zum § 218 geht weiter und wird Jugendlicher und angesichts der Neigung zu Frem- vornehmlich auf dem Rücken be troffener Frauen denhaß und Gewalt bedeuten diese Kürzungen Spa- ausgetragen. Die von Ihnen verabschiedeten Sparge- ren am falschen Platz. setze mit den Kürzungen bei Arbeitslosengeld, (Beifall bei der SPD) Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und im Zivildienst tref- fen auch und gerade die Frauen. Ich möchte ganz dringend an Sie appellieren, den Bundesjugendplan von dieser Kürzung auszuneh- Der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, men, meine Damen und Herren. meine Damen und Herren, der doch die zentrale Voraussetzung für die Vereinbarkeit von Familie und (Beifall bei der SPD) Beruf darstellen soll, bleibt vielerorts uneingelöst und Für die Jugendarbeit generell, besonders aber in damit eine Phrase. Hier tragen auch die Länder Ostdeutschland, sind Berechenbarkeit und eine lang- Mitverantwortung, die beim Solidarpakt und bei der fristige Perspektive der Förderung wichtiger als kurz- 16756 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Konstanze Wegner fristige hochdotierte Programme. Das gilt vor allem für Sie sind auch finanzpolitische Augenwischerei, denn den Teil 3 des sogenannten AFT-Programms. Und hier geht es nicht um echte Einsparungen, qualifizierte Mitarbeiter in der Jugendarbeit kann man nicht über ABM gewinnen, sondern nur, wenn (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Spieß man ihnen eine Perspektive für langfristige berufliche bürger seid ihr!) Arbeit bietet. Leider hat die Koalition unsere entspre- sondern lediglich um den bekannten Verschiebe- chenden Umschichtungsanträge abgelehnt. bahnhof zu Lasten der Kommunen, d. h. der Sozial- Gestatten Sie mir eine Bemerkung zum Komplex hilfe. Und sie sind schließlich Otto-Benecke-Stiftung — GfBA, der mich in den (Zuruf des Abg. Horst Jungmann [Wittmoldt] letzten zwei Jahren als Dauerskandal mehr beschäf- [SPD]) tigt hat, als mir als Berichterstatterin lieb gewesen — Jungmann, sei still! — wäre. Auch das Ministe rium hat in dieser Zeit viel Mühe auf die Bereinigung dieser Affäre investiert. (Heiterkeit — Horst Jungmann [Wittmoldt] Das möchte ich ausdrücklich anerkennen. Was aber [SPD]: Jawohl, Frau Oberlehrerin!) weiter als Aufgabe verbleibt, ist die Prüfung der straf- sozialpolitisch unverantwortlich, weil sie einen drasti- und zivilrechtlichen Verantwortlichkeit in der ehema- schen Einbruch bei der von Frau Merkel laut Zitat ligen GfBA, der OBS und im Ministe rium selbst. hochgelobten Versorgung mit Zivi-Plätzen nach sich (Beifall bei der SPD) ziehen werden. Diese Lücken bei der Be treuung, vor allem im ambulanten Bereich, müssen Sie verantwor- Die Herren Beitz und Grellert handelten nämlich nicht ten. Sie gehen zu Lasten der Schwächsten in unserer allein, sondern sie haben in einem Umfeld gehandelt, Gesellschaft. das ihre Machenschaften durch Beteiligung, wohlwol- lende Duldung und fehlende Kontrolle erst ermög- Es geht ja ein Gerücht um in Bonn: Die Haushälter lichte. Hier herrscht unseres Erachtens noch erhebli- würden behaupten — der Bischof von Hildesheim hat cher Aufklärungsbedarf, den wir weiter einfordern uns das gesagt —, daß der Urheber dieser Kürzungen werden. ja gar nicht im Bundesministerium für Frauen und Jugend zu suchen ist, sondern an höchster Stelle der Festzuhalten bleibt außerdem, daß abgesehen vom - CDU/CSU-Fraktion, beim Fraktionsvorsitzenden geschädigten Steuerzahler die Beschäftigten der ehe- Schäuble selbst. Dieser hat sich über die angeblich zu maligen GfBA die Hauptleidtragenden dieser Affäre teuren Zivis geärgert und jetzt dort ein Einsparpoten- sind. tial geortet. Wie dem auch sei: Die politische Verant- Anschließend möchte ich mich einem Komplex wortung für diese Kürzungen trägt das zuständige zuwenden, der mich im Verlauf dieser Beratungen am Ministerium. meisten beschäftigt und auch geärgert hat. Das sind Zuletzt gestatten Sie mir noch ein Wort zu den die Kürzungen im Zivildienst. Frau Merkel schrieb im Oktober dieses Jahres in der Zeitschrift „Der Zivil- Personalproblemen des Bundesamtes für den Zivil- dienst. In diesem Haushalt wäre die zweite Rate der dienst" — ich zitiere —: auf Grund der Umorganisation des Bundesamtes not- Der Zivildienst hat sich bewährt. Der Dienst der wendigen 151 Stellen fällig gewesen. Es war ange- jungen Männer erfährt eine hohe gesellschaftli- sichts der miserablen Haushaltslage zu erwarten, daß che Anerkennung. Sie prägen die Qualität unse- es keine zweite Rate im vollen Umfang von über res sozialen Systems ganz erheblich mit. Aus 80 Stellen geben würde. Unakzeptabel ist jedoch, daß vielen Bereichen der sozialen Versorgung alter, Sie überhaupt keine neuen Stellen bewilligt und statt kranker und behinderter Menschen sind Zivil- dessen den Titel für Aushilfskräfte aufgestockt haben. dienstleistende kaum noch wegzudenken. Schon jetzt sind ein Drittel a ller Beschäftigten beim Wie wahr! Umso überraschender, daß die gleiche Bundesamt Aushilfskräfte mit Zeitverträgen. Ministerin dann eine Kürzung vorschlug, wonach (Zuruf von der SPD: Das ist unverschämt!) rund 60 % aller Beschäftigungsstellen keine Geldlei- Ich sage Ihnen: Die Qualität der Arbeit des Amtes stungen mehr erhalten und sich irgendwie anderswo refinanzieren sollten. leidet darunter, und die Politikverdrossenheit gerade bei jungen Leuten nimmt dadurch zu. Da dieser Plan auf erheblichen Widerstand der betroffenen Wohlfahrtsverbände stieß, entschloß man (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke sich zur zweiten Kürzungsvariante, wonach nun das Liste) Rasenmäherprinzip zum Einsatz gelangt. Bei Erstat- Die Regierung liebt den Zivildienst nicht; sie behan- tung der Geldbezüge wird nämlich generell um 25 % delt ihn seit Jahren so, als ginge es dabei um eine gekürzt. Dazu werden — und das finde ich besonders vorübergehende Aufgabe. Dabei gibt es in diesem kleinkariert — den Zivis vom täglichen Zuschuß für Jahr 135 000 Zivildienstleistende, und wir werden die Abnutzung ihrer Kleidung noch 45 Pfennig pro bestimmt auf lange Sicht eine sich auf einem hohen Tag gestrichen. Niveau einpendelnde Zahl haben, d. h. über 100 000. Frau Merkel hat ja den Zivildienst über den grünen (Zuruf von der SPD: So etwas Kleinliches!) Klee gelobt. Ich denke, dann muß sie auch für die Diese Kürzungen sind rechtlich problematisch. Denn Gleichbehandlung des Zivildienstes mit dem Wehr- der Zivildienst ist Teil der Wehrpflicht, und deshalb dienst eintreten muß der Bund auch die Kosten dafür tragen. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke (Beifall bei der SPD) Liste) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16757

Dr. Konstanze Wegner und die Arbeitsfähigkeit des ihr unterstellten Amtes erlauchten Gremium, schon im Übergangsparlament wahren. angehören. Das war eine sehr interessante und lehr- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, auch in reiche Zeit. diesem Bereich findet sich ein Widerspruch zwischen (Uta Titze-Stecher [SPD]: Ohne Großtiere!) den Worten und den Taten des Ministeriums. Dieser Widerspruch charakterisiert die Politik der Koalition Vielleicht ist es auch ganz wichtig, daß wir uns insgesamt und auch die des Bundesministeriums für einmal ein wenig daran erinnern, was wir in diesen Frauen und Jugend. vier Jahren geleistet haben. Wir sind damals mit viel Vielen Dank. Enthusiasmus an die Dinge herangegangen, ohne zu wissen, was auf uns zukommt. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) Heute — gestatten Sie mir als Bürger aus den neuen Bundesländern, daß ich Ihnen allen das sage — habe ich oft das Gefühl, alle sind zum sogenannten Tages- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile geschäft übergegangen. Man pflegt seinen Lokalego- nunmehr der Abgeordneten Frau Susanne Jaffke das ismus und wahrt seinen Besitzstand. Daran hält man Wort. fest. Neue Dinge und neue Wege möchte man nur ungern beschreiten. Denn die müßte man vielleicht zu Hause auch irgendwie begründen. Susanne Jaffke (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kenne den „Reutlinger (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Generalanzeiger" nicht; man möge mir es nachsehen. Ich komme aus dem äußersten Nordosten Deutsch- Ich bin der Meinung, daß diese Polemik weder in lands. Vielleicht darf ich soviel sagen: Es ist sicherlich Frauen- noch in Jugendpolitik hineingehört. nicht möglich, irgendwo so pauschal über die CDU zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schimpfen. Von den Abgeordneten des neuen Bun- der F.D.P.) deslandes Mecklenburg-Vorpommern — wir haben ja nur neun Wahlkreise; wir sind ein Raum ohne Volk; Die allgemeine Situation in unserem Lande ist von wir haben nicht so viele Einwohner — sind acht direkt Dienstag bis heute in den großen Debatten und in den gewählt, davon drei Damen. Auch sie sind direkt großen Redebeiträgen von den geübten Politikern gewählt. Ich denke schon, das ist eine beachtliche eigentlich gut beleuchtet worden. Es scheint wie Quote ohne „Quote". immer, daß Frauen von der Umstrukturierung in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) diesem Lande und vor allen Dingen in den neuen Bundesländern besonders betroffen sind. Abgesehen davon stellen wir natürlich sofort zwei Minister, einer davon weiblich. Auch dabei kann man Warum sage ich eigentlich „es scheint" ? Ich denke, nicht unbedingt von einer schlechten Quotierung auch hier sollte m an wieder differenzieren. Es gibt sprechen. Ich gehe einfach einmal davon aus: Da hat unterschiedliche Erfahrungen, es gibt unterschiedli- eigentlich der Sachverstand den Ausschlag gegeben; che Statistiken, und es gibt unterschiedliche Situati- ansonsten wäre das sicherlich nicht zu machen gewe- onen. Es gibt Statistiken, die interpretieren die Lage sen. der Frauen als verheerend und bezeichnen die Frauen Man kann sich auch in unserer Landesregierung als Verliererinnen der deutschen Einheit. Es gibt umschauen. Auch da regieren reichlich Damen, und Statistiken, die sagen aus: Noch nie waren Frauen so zwar gar nicht schlecht, obwohl wir ja das a lles zum innovativ, haben sich so toll auf den Weg gemacht und ersten Mal machen. konnten sich endlich einmal so entfalten wie nach der deutschen Einheit. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Joachim Hörster [CDU/CSU]: Sie hat sich ja (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch nur über die eigene Fraktion be -klagt!) Es gibt diesbezüglich unterschiedliche Interpretatio- nen. Ich gehe davon aus, daß die Wahrheit irgendwo — Es war ein bißchen pauschal. Ich denke, wir sollten in der Mitte liegt. Sie ist auch regional sehr unter- nicht derart pauschal übereinander herfallen. schiedlich. Zum vierten Mal mache ich Haushaltsberatungen mit. Ich gebe ja zu: Ich bin immer noch ein Laie, ein Ich komme aus dem Teil Deutschlands, in dem es Lernender in dieser Bundesrepublik Deutschland. Ich 70 % Arbeitslosigkeit gibt, direkte und indirekte. Vor habe mich ja vorher 18 Jahre lang mit Großtieren im allen Dingen sind die Frauen be troffen. Das ist sehr ländlichen Raum beschäftigt. bitter. Aber auch im Sozialismus hatten die Frauen wenig Chancen. Die Frauen in meiner Heimat waren (Heiterkeit) die Handarbeitskräfte auf dem Acker. Sie haben Manchmal habe ich doch den Eindruck — Sie gestat- kaputte Knochen, sie haben kaputte Bandscheiben, ten, daß ich das sage —, daß sich das Arbeitsumfeld und sie sind fix und fertig. Dennoch sind sie diejeni- wenig verändert hat. gen, die wieder nicht auf die Maschinen kommen. (Heiterkeit — Uta Titze-Stecher [SPD]: Oh Dort beherrschen jetzt wieder die Männer das Feld. Susi, schwach!) Hier sollten wir uns verbünden und etwas tun, damit auch Frauen mit Technikverstand überall die gleichen Aber vielleicht kann ich auch sagen: Ich habe schon Chancen haben. vorher ein klein wenig Parlamentsluft geschnuppert, denn ich durfte dem Haushaltsausschuß, diesem (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) 16758 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Susanne Jaffke Es gibt viele Äußerungen bezüglich des Einkom- Arbeitskräfte, wie es zu Zeiten der LPG betrieben mens. Mein Sohn lernt jetzt hier in Bonn auf dem wurde. Heute muß jeder sehen, wie er an seinen Gymnasium im Politikunterricht, daß die Einkommen Arbeitsplatz kommt. der Frauen hier bei vergleichbarer Arbeit nicht denen der Männer entsprechen. Das ist nicht in Ordnung. Ich Aber ich denke, das sind Probleme, die der Bundes- finde es überhaupt nicht in Ordnung, wenn irgendwo haushalt der Bundesministerin für Frauen und Jugend von Politikern auch noch darüber diskutiert wird, daß allein nicht lösen kann. Da sollten wir etwas ressort- bei vergleichbarer Arbeit die Löhne in Ost und West übergreifender weiterdenken. Der Bundeshaushalt nicht vergleichbar ansteigen sollten. Wie wollen wir wird diesbezüglich seine Projektarbeit weiterführen. Frauen das Berufsleben erleichtern, wie wollen wir sie Er wird die Probleme beschreiben und erfassen, und in Teilzeitarbeit bekommen, wenn wir nicht einem wir sollten dann die richtigen Schlußfolgerungen Teil der Familie eine hundertprozentige Einkom- daraus ziehen. menschance geben? Ich finde es politisch verwerflich, Im Rahmen der von uns insgesamt durchgeführten wenn so diskutiert wird. Das hat in unserem Teil Konsolidierungspolitik blieb natürlich auch der Deutschlands, der strukturell doch noch ein bißchen Haushalt des Bundesministeriums für Frauen und anders ist, keine Sympathien ausgelöst. Jugend nicht von Einsparungen verschont. Ich habe Wir bekommen Frauen nur sehr schwer in Teilzeit- darauf auch schon in der Einbringungsrede hingewie- jobs, auch wenn sie sie annehmen möchten. Sie sind sen. Ich denke, mit Vernunft und guten Ideen — da schlecht bezahlt. In der heutigen unsicheren Zeit sagt möchte ich mich von der Einbringungsrede her wie- sich jeder: Wenn ich einen Teilzeitjob annehme, derholen — kann m an auch damit noch gute Projekte vielleicht mit 600 oder 700 DM brutto, und er ist nicht und innovative Dinge auf den Weg bringen. von Dauer, so daß ich dann in die Arbeitslosigkeit gehen muß, wie schnell bin ich dann im sozialen Zu den Einsparungen innerhalb der Titelgruppe 01. Abseits! Vorhin war ein bißchen das Thema: Der Bundesju- gendplan wird zu sehr abgeschmolzen. Aus dem Diese Dinge müssen wir in Deutschl and insgesamt Bundesjugendplan sind 3 Millionen DM herausgelöst lösen. Wir müssen sie mit der Standortdiskussion worden für das Deutsch-Polnische Jugendwerk. Das lösen. Wir sollten aktive Arbeitsmarktpolitik betrei- hat eine Aufstockung in einem bilateralen Vertrag ben. Dann können wir den Frauen helfen. Ich finde es erfahren und wird mit 4 Millionen DM im Bundes- schön, daß wir das so machen, aber dann sollten wir haushalt festgeschrieben. uns auch nicht verschließen, wenn es darum geht, den Energiekonsens,- eventuell das Standortsicherungs (Uta Würfel [F.D.P.]: Sehr löblich!) und das Gentechnikgesetz sowie neue Technologien durchzusetzen. Dennoch hat der Bundesjugendplan insgesamt finan- ziell einen Aufwuchs erfahren. Er lag, so habe ich mich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — informieren lassen — 1989 war ich noch nicht in der Zuruf von der SPD: Das schafft Arbeitsplätze Bundesrepublik Bundesbürger —, 1989 wohl bei für Frauen?) 129 Millionen DM. Er hat jetzt stattliche 225 Millionen — Das schafft Arbeitsplätze für Frauen. Sehen Sie mal, DM. Das ist für die kritischen Zeiten des Haushalts, die Ministerin für Frauen und Jugend ist eine ausge- denke ich, schon ein ganz erklecklicher Aufwuchs. bildete Physikerin. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der CDU/CSU: Die kann etwas!) Nun ist auch die Problematik Zivildienst angespro- chen. Gestatten Sie mir bitte eine persönliche Bemer- Die kann bestimmt in solchen Bereichen arbeiten. kung. Ich war schon einigermaßen verwirrt, als Davon gehe ich aus. Mensch mit DDR-Erfahrung — wo Jugendliche wenig (Uta Würfel [F.D.P.]: Aber wir brauchen sie oder überhaupt nicht einen Zivildienst in Anspruch hier, Frau Kollegin! Wir wollen sie nicht im nehmen konnten, sondern zur Nationalen Volksar- Kernkraftwerk haben!) mee verpflichtet wurden und da mit 90 Mark Wehr- sold ausgestattet waren und mit 350 Mark, alles Mark Wir haben viele gut ausgebildete Frauen mit der DDR, nach Hause gingen — feststellen zu müssen, Hochschulabschluß — auch in den neuen Bundeslän- daß es hier in diesem Staat eine sehr stattliche dern —, die bereit sind, in neue Arbeiten, in wissen- Ausstattung für junge Leute gegeben hat. Ich glaube, schaftliche Arbeiten einzutreten und im wahrsten bei gutem Willen und gutem Verständnis kann m an Sinne des Wortes — wie es so schön heißt — ihren auch mit den jetzigen Entlassungsgeldern und mit den Mann zu stehen. jetzigen Wehrsoldbezügen monatlich recht ordentlich (Zurufe von der SPD) auskommen. — Ja, auch ich habe mit Gentechnik gearbeitet. Kein Mein Sohn dient gerade bei der Bundeswehr in Mensch hat mich danach gefragt. Ich habe es gern Eggesin, dem Standort der drei Meere — Kiefernmeer, gemacht, und es war sehr interessant. Sandmeer, gar nichts mehr —, liebevoll so in meiner Warum bekommen wir aber z. B. auch im ländli- Heimat genannt; eben dort, wo fast gar nichts mehr ist. chen Raum ABM oder die Förderung nach § 249h Ich denke, mit einem bißchen guten Willen kann man nicht voll besetzt? Die Frauen, die im ländlichen Raum auch damit noch Jugendliche begeistern, Zivildienst wohnen, sind weniger mobil als die Frauen im städti- zu leisten, und die freien Träger auch noch animieren, schen Raum. Sie haben zum Teil keinen Führerschein. mit den 4 DM Abschmelzung im Tagessatz noch eine Weggebrochen ist natürlich das Einsammeln der gute Zivildienstarbeit zu leisten. Ich bin sehr optimi- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16759

Susanne Jaffke stisch, daß sich die Aufwandszuschüsse, dieser gefun- Ich bedanke mich. dene Kompromiß, als tragfähig erweisen werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ich denke, auch die neuen Förderrichtlinien für den ordneten der F.D.P.) Bundesjugendplan werden vor allen Dingen den Empfängerorganisationen vor Ort in den Kommunen eine wesentliche Erleichterung bringen. Darüber, daß Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort da vieles aufgebröselt werden muß, daß alte und hat nunmehr die Abgeordnete Frau Uta Würfel. verkalkte Strukturen aufgelöst werden müssen, sind wir uns einig mit der Kollegin Wegner. Denn man hat Uta Würfel (F.D.P.): Sehr geehrter Herr Präsident! oft das Gefühl, das Geld bleibt irgendwo in den Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Frau Ministerin Verbandsstrukturen hängen, und am Jahresende sind Merkel wird sich im einzelnen sicherlich mit den die paar tausend DM, die ein kleiner freier Träger Modellvorhaben ihres Haushaltes auseinandersetzen, irgendwo in der Kommune sehr sinnbringend anwen- die gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen ge- den wollte, nicht bei ihm unten gelandet. richtet sind. Ich kann deshalb meine Ausführungen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) etwas allgemeiner halten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Beginn meiner Wir beschäftigen uns in diesem Haushalt mit der parlamentarischen Tätigkeit war auch ich manchmal Lebenssituation von Frauen und Jugendlichen im der Meinung, daß es vielleicht nicht so ganz sinnvoll gesamten Deutschland. Wie wir heute nachmittag ist, ein Ministerium extra für Frauen und Jugend zu gehört haben, ist die Analyse bei allen Fraktionen des haben. Ich habe meine Meinung geändert. Ich habe Deutschen Bundestages eindeutig. Die weltweite nämlich nachhaltig den Eindruck, daß man mit einem Rezession fordert ihre Opfer auch in Deutschland. Die recht überschaubaren Ministe rium viele Dinge im zunehmenden Verteilungskämpfe, der Wettbewerb Detail lösen kann. Da kann ich es nicht verstehen, daß um die Arbeits- und Ausbildungsplätze berühren jetzt auf Ihrem Parteitag — mehrheitlich von Män- Frauen und Jugendliche in einem nicht gekannten nern, nehme ich an — beschlossen wurde, daß man Ausmaß. Die Folgen hieraus sind um sich greifende Frauenpolitik irgendwo wieder zusammenwerfen will Unruhe, die Bevölkerung ist aufgerüttelt, die Men- in ein Sammelsurium-Ministerium, das man dann von schen werden unsicher. Nichts ist mehr so, wie es war. der Wertigkeit und der Wichtigkeit her ein bißchen - Die Zeiten haben sich geändert. Vorbei sind die unterbuttert. Ich bin glattweg dagegen. Ich hoffe, Sie, Zuwächse an Einkommen und bezahlter Freizeit, an liebe Kolleginnen von der SPD, werden sich wehren. die sich viele von uns offensichtlich schon sehr Geben Sie Ihren Männern da nicht die Überhand! gewöhnt hatten und die sie für selbstverständlich gehalten haben. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- Nun zwingt eine Krisenlage immer zum Beleuchten geordnete Jaffke, dankenswerterweise verhalten Sie des Zustandes und auch dazu, die Lage zu analysie- sich geschäftsordnungsmäßig korrekt: Sie sprechen ren. Sie zwingt zum Nachdenken und auch zum frei. Also fällt es Ihnen auch nicht allzu schwer, Überprüfen der bislang angewandten Konzepte und nunmehr Ihre Rede zu beenden, denn die Zeit ist Instrumente. überschritten. Es ist schon gesagt worden: Manche Menschen sehen ihre Besitzstände gefährdet, andere fühlen sich ausgegrenzt von der Teilhabe an entlohnter Beschäf- Susanne Jaffke (CDU/CSU): Ich werde zum Schluß kommen. Herr Präsident, ich wollte mich vor allen tigung, und für viele fehlt eine Zukunftsperspektive. Dingen noch bei der Kollegin Wegner bedanken. Es Vieles, liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir ist sicherlich richtig und auch dem geschuldet, daß es Sozialpolitiker schon längst als änderungsbedürftig ein kleines und überschaubares Ministerium gewor- erkannt, aber als nicht änderbar hingenommen den ist, daß Sie mit einer Akribie die Aufklärung haben, müssen wir in diesen Zeiten regeln. Es kann dieser Geldverschiebungen von OBS und GFBA — ich keine Ausrede mehr geben für Untätigkeit, z. B. wußte mein Lebtag nicht, daß es so etwas gibt; ich dagegenstehende Ideologien, zu fest gefahrene hoffe, Sie sehen mir das nach — betrieben hat. Das Strukturen oder zu große Machtblöcke. Gerade wir Ministerium hatte einen Haufen Arbeit. Ich danke der Sozialpolitiker sind gefordert, diese Strukturen aufzu- Ministerin, ich danke der Parlamentarischen Staatsse- brechen. kretärin, ich danke dem Staatssekretär. Sie geben Von dem Wegfall an Arbeitsplätzen, von dem diesen Dank bitte auch an Ihre fleißigen Mitarbeiter Verlust ihrer Beschäftigung sind die Frauen im Osten weiter! Deutschlands besonders betroffen. Die Frauen bekla- Ich danke gleichermaßen für das Verständnis und gen zu Recht ihren Verlust an finanzieller Selbstän- für die ruhige und fleißige Arbeit, die z. B. die Bun- digkeit, und sie fühlen sich auch in ihrem Selbstwert desprüfstelle für jugendgefährdende Schriften macht. herabgesetzt, wie wir als F.D.P.-Fraktion es bei einer Sie hat es verdient, ein neues Arbeitsumfeld zu Anhörung im Osten Deutschlands selbst festgestellt bekommen, damit sie aus ihren engen Räumen aus- haben. Wir verlassen uns hier nicht auf Statistiken. ziehen kann. (Beifall bei der F.D.P.) Ich danke auch den Mitarbeitern im BAZ und Herrn Ohne eine berufliche Perspektive zu sein und zäh- Hackler für die geleistete Arbeit und für das große neknirschend von dem Geld derer zu leben, die Arbeit Verständnis, auch wenn sich nicht immer alle Perso- haben, beglückt niemanden. Auf einen arbeitslosen nalwünsche so erfüllen lassen, wie man sie sich Mann treffen im Durchschnitt im Osten Deutschlands erträumt. zwei erwerbslose Frauen. Wie konnte es dazu kom- 16760 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Uta Würfel men, daß doppelt so viele Frauen ihre Arbeit verloren Die Versäumnisse der Vergangenheit dürfen nicht wie Männer? länger fortgeschrieben werden, und Bundespolitike- rinnen und -politiker können hier nicht alles leisten. Wir Frauen müssen uns mit den ausein- Ursachen Deswegen fordere ich jede Mutter und jeden Vater andersetzen und für die Zukunft vorbauen. Frauen auf, zu prüfen, wie die Rahmenbedingungen an ihrem dürfen nicht länger die Verliererinnen sein. Wenn es Wohnort für sie aussehen und welche Prioritäten die ein Menschenrecht ist, durch Berufstätigkeit für sich Kommunen setzen. Sie müssen sich schon fragen: selbst und sein Kind sorgen zu können, dann gilt das Werden die Mütter und Väter von ihren Kommunen auch für Frauen und erst recht für Mütter. entsprechend unterstützt, oder gilt das Interesse mehr (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Helmut der Sanierung der Altstadt und dem Straßenrück- Wieczorek [Duisburg] [SPD]) bau? Es kann nicht mehr so weitergehen, daß Arbeitgeber Die Länder sind für das Erziehungswesen verant- nur deshalb auf Frauensachverstand verzichten, weil wortlich. Die Länderpolitiker — wir haben es dan- sie das Risiko der Mutterschaft für den Betrieb fürch- kenswerterweise von Ihnen, Frau Wegner, schon ten. gehört — haben bei den Finanzverhandlungen mit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dem Bund für einen erheblichen Zuschlag bei der Umsatzsteuer gesorgt. Es gibt überhaupt keine Aus- Wir brauchen hier eine andere Weichenstellung, um rede mehr. Die Unterstützungsmaßnahmen für Mütter die Finanzierung der Kosten des betrieblichen Aus- und Familien müssen endlich geschaffen werden, und falls einer Mutter anders abzufangen als bisher. die Versäumnisse aus der Vergangenheit dürfen nicht länger fortgeschrieben werden. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin- gen] [F.D.P.]) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der SPD) Liebe Frau Merkel, ich halte die geplante Studie über das Abfragen des Einstellungsverhaltens von Seit sieben Jahren, meine Damen und Herren, Arbeitgebern und deren Einschätzung hinsichtlich beschäftigt uns das Thema ungewollte Schwanger- der Beschäftigung junger Frauen, die Kinder bekom- schaften und deren Verhinderung. Ich kann Ihnen men können, im Grunde genommen für hinausgewor- - eines sagen: Ich für meinen Teil nehme nicht länger fenes Geld. Sie wollen prüfen, ob es Vorbehalte von hin, daß ungewollt schwangere Frauen ausgerechnet Arbeitgebern bei der Einstellung von Frauen gibt, die in der Mehrzahl von denen zur Fortsetzung der Kinder kriegen können. Frau Merkel, es gibt diese Schwangerschaft bedrängt werden, die nach der Vorbehalte, und es gibt sie in weitem Umfang. Die Geburt des Kindes nicht bereit sind, die benötigte Frauen sind allein deshalb benachteiligt, weil sie Hilfe und Unterstützung zu leisten. Kinder bekommen können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wie entlarvend ist es doch, sich durch Worte zum Leider wahr!) Lebensschutz für das Ungeborene zu bekennen, den wir alle wollen, und dem geborenen Leben, d. h. der Wir können es doch nicht länger leugnen: Die Mutter und dem Kind, dann nicht durch Taten zu Frauen im Westen werden an der Ausübung eines helfen. Berufs dadurch gehindert, daß Kinderbetreuungsein- richtungen nicht in dem Umfang geschaffen worden (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne sind, wie sie gebraucht wurden. ten der SPD) Dies führt mich zu einem weiteren Problembereich. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Seit Jahren bemühen wir uns alle um mehr gesell- ten der CDU/CSU) schaftliche Gerechtigkeit für Mütter und Familien. Und das ist eine sehr subtile Maßnahme, um Frauen Dennoch: Die Erziehungsleistung — darüber sind wir vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. uns alle hier im Hause im klaren — muß besser honoriert werden. Die Zeit ist reif für grundlegende Dies betrifft übrigens alle Berufssparten, die Arbei- neue Weichenstellungen. Kollege Hoyer hat vor weni- terin genauso wie die Akademikerin, die sich von gen Stunden die Funktion des Bürgergeldes hier ihrem Gehalt einen Vollarbeitsplatz für eine Kinder- dargestellt, das für mehr Gerechtigkeit sorgen wird. frau im Hause nicht leisten kann. Was wir also Dennoch kann es hierbei nicht bleiben. Wir müssen zu dringend brauchen, sind die Anerkennung des Haus- einer anderen Prioritätensetzung kommen. Das geht halts als Betrieb mit allen steuerlichen Folgen auch bei leeren Kassen. Es ist eine Frage der Umver- teilung. (Beifall bei der F.D.P.) Die Förderung von Kindern ist keine Privatangele- und mehr Kinderkrippen- und Kindergartenplätze. genheit der Familien; denn die gesamte Gesellschaft Ich möchte an dieser Stelle all diejenigen warnen, profitiert von ihnen. Für mich ist erschütternd, daß wir die mit dem Gedanken spielen, den Vorgaben des in der Vergangenheit eher geneigt waren, einen Bundesverfassungsgerichts auf diesem Gebiet nicht teuren Reparaturbetrieb zur Behebung gesellschaftli- nachzukommen. Die Kinderkrippen- und Kindergar- cher Fehlentwicklungen zu finanzieren, anstatt durch tenplätze müssen durch die Kommunen bis zum eine großzügige Unterstützung der Familien und 1. Januar 1996 geschaffen worden sein! Mütter gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu ver- hindern. Wir waren in der Vergangenheit viel zu (Beifall bei der F.D.P.) zurückhaltend. Wir haben immer gesagt: Familien Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16761

Uta Würfel dürfen nicht benachteiligt werden. Nein, meine Mit der Neuauflage der geschlechtshierarchischen Damen und Herren, Familien müssen bevorzugt wer- Arbeitsteilung wird ihnen erneut die Rolle in Haushalt den. und Familie mit allen negativen Folgen für eine (Beifall bei der F.D.P.) eigenständige ökonomische Absicherung zugewie- Die Jugendlichen, die heute randalieren, die sen. Ich verweise nur darauf, daß die Hälfte aller Rauschgift nehmen, die unter Vollrausch die Telefon- Renterinnen in den alten Bundesländern weniger als zellen demolieren oder zu Hunderttausenden die 500 DM Rente erhalten, also als arm gelten müssen, Lehre abbrechen, die Jugendlichen, die klauen und und 20 % aller alleinerziehenden Frauen von der Gewalt ausüben, sind nicht vom Himmel gefallen. Sie Sozialhilfe leben. Entsprechend wirkt sich auch der haben Eltern, zumindest haben sie Mütter. Sie hatten gegenwärtig begonnene Abbau des Sozialstaates mit und haben auch Lehrerinnen und Lehrer. Sie hatten Kürzungen bei Lohnersatzleistungen, Sozialhilfe und und haben auch Nachbarn. Das heißt, sie hatten Erziehungsgeld auf Frauen besonders gravierend Menschen um sich, die ihnen Vorbilder hätten sein aus. können, die ihnen Orientierung hätten bieten müssen Von gleicher Teilhabe der Frauen in allen gesell- und die ihnen die Werte hätten vermitteln können, die schaftlichen Bereichen kann nach wie vor nicht die ihre Erziehung sichergestellt hätten. Rede sein. Die Vorstandsetagen, Aufsichtsräte und auch die Zusammensetzung des Bundestages sind dafür ebenso beredte Beispiele wie die männerweit Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Kol- legin, ich muß darauf aufmerksam machen: Eigentlich verbreitete Angst vor der Quote. müßte jetzt das rote Licht blinken. Ein männerdominiertes Verfassungsgericht hat das Grundrecht der Frau auf Würde und Selbstbestim- Uta Würfel (F.D.P.): Darf ich es noch ein bißchen mung zur Manövriermasse moralisierender Beliebig- blinken lassen? keit verkommen lassen und die Ostfrauen nach mehr als 20 Jahren relativer Selbstbestimmung per staatli- Offensichtlich hat es an dieser Erziehung gefehlt. chem Gewaltmonopol mit Gebärzwang belegt. Statt dessen dreht sich die Spirale des schlechten Benehmens, der Rücksichtlosigkeit und der Gewalt in Gewalt gegen Frauen und Mädchen nimmt unüber- unserer Gesellschaft immer schneller. Nur in einer sehbar zu. Allein in diesem Jahr forde rte der Frauen- konzertierten Aktion wird es möglich sein, der Kräfte haß mehrere hundert Todesopfer. Stündlich werden in Herr zu werden, die unsere Gesellschaft aushöhlen. der Bundesrepublik Frauen mißhandelt, vergewaltigt Gewaltsame Aneignung fremden Eigentums, gewalt- und gedemütigt. Darauf will ich am heutigen interna- sames Eindringen in fremde Wohnungen, Gewalt tionalen Tag gegen die Gewalt an Frauen nachdrück- gegen staatliches, d. h. gesamtgesellschaftliches Ei- lich hinweisen und darüber informieren, daß terre des gentum sind keine Kavaliersdelikte. Ächten wir mehr femmes heute in Köln und München Protestaktionen die Gewalt, als wir es in der Vergangenheit getan veranstalten. haben! Dies alles ist Realität für Frauen in Deutschl and, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- einem der reichsten Länder der Erde. Dabei habe ich ten der CDU/CSU und der SPD) bisher nur von den hier als Staatsbürgerinnen leben- Investieren wir in unsere Familien und ihre Erzie- den Frauen gesprochen und nicht von den vor Krieg, hungsfähigkeit, investieren wir in die Ausbildung Hunger, Folter und sexueller Gewalt zu uns geflohe- unserer Kinder, in die Lehrer, in die Schulen, in die nen Frauen, deren Lage noch sehr viel schlechter Hochschulen! Diese Zukunftsinvestition wird uns ist. allen guttun. Was aber tut die Bundesregierung, um die offen- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- sichtliche Geschlechterapartheid im eigenen L and ten der CDU/CSU) wirksam zu bekämpfen? Schließlich ist sie laut Grund- gesetz verpflichtet, Defizite bei der Gleichberechti- gung von Frauen und Männern zu beseitigen. Voll- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort mundige Versprechungen sind seit Jahren immer hat nunmehr die Abgeordnete Petra Bläss. wieder zu hören. Anders sieht es schon aus, wenn den Worten Taten folgen sollen, die finanziert werden Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! müssen. Da gibt es dann „finanzielle Zwänge, die es Meine Damen und Herren! Wenn es einen Wettbe- nicht erlauben", „Defizite im Haushalt" und „einen werb um den zynischsten Slogan des Jahres gäbe, Schuldenberg, der abzutragen ist". hätte 1993 das Motto des DGB „Frau geht vor" alle Wir erleben gerade wieder, wie bei der Frage der Chancen zu einem Sieg. In der Tat: Frau geht vor, und Finanzierung des Anspruchs auf einen Kindergarten- zwar bei Arbeitslosigkeit und Stellenabbau, bei platz das ganze Register der Ausreden gezogen wird. geringfügiger Beschäftigung und niedrigen Löhnen, Auch da sind die Be troffenen die Frauen, die Kinder bei kleinen Renten und den Armutsstatistiken, bei der zur Welt bringen, ohne daß die erforderlichen Rah- Bewältigung unbezahlter Familienarbeit und als menbedingungen dafür verbessert werden. Adressatin männerdominierter Entscheidungen über Sexualität und Gebärfähigkeit. (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) Wie in keiner anderen gesellschaftlichen Gruppe 249 Abgeordnete dieses Hauses konnten die Mehr- hat sich bei den Frauen die Angleichung des Ost- heitsentscheidung des Bundestages zur Neuregelung niveaus an das schlechtere Westniveau in rasanter des Schwangerschaftsabbruchs nicht aushalten und Geschwindigkeit vollzogen. gingen zum Bundesverfassungsgericht. Dieses hat 16762 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Petra Bläss entschieden und als einen wichtigen Bestandteil Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile — Frau Würfel hat darauf aufmerksam gemacht — nunmehr der Ministerin für Frauen und Jugend, seiner Verfassungsinterpretation dem Gesetzgeber Dr. Angela Merkel, das Wort. die Schaffung der Rahmenbedingungen für ein Leben mit Kindern auferlegt. Dieselben Abgeordneten, die Karlsruhe angerufen haben, fühlen sich nun bei der Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Frauen Kürzung der Sozialleistungen plötzlich nicht mehr an und Jugend: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und den Richterspruch gebunden. Kollegen! Es ist in der Tat so — die Frauen- und (Zustimmung bei der SPD) Jugendpolitik findet in der realen Welt der Bundesre- publik Deutschl and von 1993 statt, und das bedeutet, Meine Damen und Herren, in der gegenwärtigen daß sie sich auch in die gesamtfinanzielle Situation Situation wäre ein völlig anderer Haushaltsansatz einpassen muß; denn für den Erfolg von Frauen- und erforderlich, um der Dimension des Problems ad- Jugendpolitik ist Voraussetzung, daß es eine solide äquate Mittel zur Verfügung zu stellen, ein Haushalts- und vernünftige Finanzpolitik in diesem Lande gibt. ansatz, in dem Frauenförderung und Beseitigung der Benachteiligung von Frauen nicht ressortgebunden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den Frauen selbst zugeschoben werden, sondern der Deshalb werden auch wir uns auf das Machbare in allen Einzelplänen Voraussetzung für die Zuwei- konzentrieren. sung von Mitteln wäre. Für mich bedeutet das in bezug auf die Frauenpoli- Aber selbst wenn ich die Logik des jetzigen Haus- tik, daß Frauen verbesserte Teilhabe an den Ressour- haltsansatzes zugrunde lege, kann ich nur Ungereimt- cen dieser Gesellschaft haben, heiten entdecken. In einer Situation, in der die (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) Benachteiligung von Frauen selbst nach Ansicht des Arbeitgeberverbandes ständig größer wird, müßten und sie haben in der tatsächlichen Welt noch keine nach den Gesetzmäßigkeiten der Logik eigentlich die gleichberechtigte Teilhabe, und deshalb haben wir vorhandenen Mittel so eingesetzt werden, daß dieser uns ja glücklicherweise auch parteiübergreifend auf steigenden Ungerechtigkeit gegengesteuert würde. eine Änderung des Art. 3 unserer Verfassung einigen Im Klartext: Die in den einzelnen Haushalten geplan- können. ten Mittel müßten daraufhin überprüft werden, ob sie Aber, liebe Frau Wegner, ich muß Ihnen eines in ihrer Mehrzahl vor allem Frauen direkt oder zumin- sagen: Für mich bedeutet Frauenpolitik, daß wir die dest mittelbar zugute kommen. Der Haushalt Frauen Realität nicht außer acht lassen und praxisnah arbei- und Jugend müßte in spürbaren Größenordnungen ten, aufgestockt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Was aber geschieht statt dessen? Damit der Bereich d. h nicht lebensfremden und ideologiebestimmten des Ministers für Arbeit und Sozialordnung um 1,7 % Idealen nacheilen; und dazu gehört für mich die gesteigert werden kann — eine von vornherein unzu- Quote. Das muß ich Ihnen leider sagen. reichende Summe beim Ausmaß der sozialen Pro- bleme hierzulande —, soll der Bereich des Ministeri- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sagen Sie ums für Frauen und Jugend um 9,1 % reduziert doch, daß Sie es besser können!) werden. Dabei stehen ihm mit 2,645 Milliarden DM Aus diesem Grunde möchte ich Ihnen sagen, daß ohnehin nur die geringfügigen Mittel einer Alibiinsti- wir uns um einen gesellschaftlichen Konsens im tution zu. Die reduzierten Mittel kommen dann in der Hinblick auf das Gleichberechtigungsgesetz küm- bisher schon bekannten Gerechtigkeit Frauen und mern. Sie von der SPD haben mir nach der Anhörung Männern zugute. Den ohnehin benachteiligten empfohlen, dieses Gesetz zurückzuziehen. Frauen wird also zugemutet, den Sozialabbau etwas Daher muß ich Sie fragen: Wie halten Sie es mit abzufedern, weil die Bundesregierung nicht in der einer wirklichen Verbesserung der Situation von Lage und nicht willens ist, die notwendige generelle Umstrukturierung des sozialen Sicherungssystems in Frauen, wenn Sie auch das, was machbar, was im die Wege zu leiten. Konsens tragbar ist, nicht wollen, sondern es verhin- dern? Der Haushaltsentwurf zum Einzelplan 17 ist in Wirklichkeit eine Bankrotterklärung der Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gierung — Sie haben es in Ihrer Regierungszeit nicht geschafft, ein Gleichberechtigungsgesetz durchzusetzen, und ich möchte vermuten, auch das, was Sie uns jetzt vorgelegt haben, würde, wenn Sie Regierungsverant- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ihre Rede- wortung trügen, niemals Gesetzeskraft erlangen, zeit ist beendet. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) weil es realitätsfern ist und weil es mit der wahren Petra Bläss (PDS/Linke Liste): — das ist der letzte wirtschaftlichen Situation dieses L andes nichts zu tun Satz — auf dem Gebiet der Gleichstellung der hat. Geschlechter. Daran ändern 100 000 DM weniger (Zuruf von der SPD: Aber mit den Frauen hat oder mehr auch nichts mehr. es was zu tun!) Deshalb wird die PDS/Linke Liste dem Entwurf Weiter frage ich Sie, warum Sie es verhindern nicht zustimmen. wollen, daß dieses Gesetz eine neue Qualität im Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16763

Bundesministerin Dr. Angela Merkel Verhältnis von Frauen und Männern im öffentlichen gungen unserer Arbeitswelt in Einklang bringen kön- Bereich, im Bereich des Bundes begründet, warum Sie nen. verhindern wollen, daß mehr Frauen in die Gremien Es gehört für mich schon zu den bedauerlichen kommen, die im Einflußbereich des Bundes sind und Entwicklungen, daß über Flexibilisierung der Arbeits- von denen er beraten wird, warum Sie es verhindern zeit erst dann gesprochen wird, wenn es wirtschaftlich wollen, daß sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zum schlecht geht, aber nicht dann, wenn es aus familien- erstenmal auch gesetzlich sanktioniert wird. politischen Gründen notwendig wäre. Ich bitte Sie noch einmal, daß Sie sich konstruktiver an diesen Beratungen beteiligen und hier nicht ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. fach von Zurückziehen und Kapitulieren sprechen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Aber ich denke, es gehört auch dazu, daß wir jetzt Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Mini- das frauenpolitisch Machbare und Sinnvolle tun, sterin, da ist die Bitte nach Beantwortung einer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Zwischenfrage. Sind Sie prinzipiell bereit? Bitte sehr. die Chancen ergreifen und zu einer besseren Verein- barkeit von Beruf und Familie kommen. Die Chancen dafür stehen gut. Im übrigen gibt es auch eine Reihe Bundesministerin für Frauen Dr. Angela Merkel, von Modellen aus der Frauenpolitik, die hier durchaus und Jugend: Ja, ich bin prinzipiell und auch im mehr Beachtung finden könnten. konkreten Falle bereit. (Heiterkeit) Wir haben einen sehr konkreten Schritt im Hinblick auf eine bessere Verankerung der Frauenpolitik in die Wirtschafts- und Strukturpolitik mit unserer ,,Konzer- Hanna Wolf (SPD): Frau Ministerin, darf ich Sie tierten Aktion Frauenerwerbstätigkeit" gemacht. Ich folgendes fragen? möchte dem Bundeswirtschaftsminister, dem Bundes- Wir hatten ja eine Anhörung zu unseren beiden arbeitsminister und der Bundesanstalt für Arbeit dan- Entwürfen. Würden Sie mir erstens nicht bestätigen, ken, daß sie zusammen mit dem Deutschen Frauenrat, daß die Anhörung ergeben hat, daß Ihre Gesetzent- den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden - würfe vollkommen unzureichend sind, in der Durch- an einem Tisch ganz deutlich gemacht haben, wer setzung dadurch nicht erfolgreich sind, und daß zwei- welche Beiträge leisten kann, um der Arbeitslosigkeit tens die Quotierung aus unserem Gesetzentwurf als in wirklich besserer Weise zu begegnen. ein erfolgreiches Mittel angesehen wurde und daß an- drittens Ihr Gesetz selbst im öffentlichen Dienst nur Was die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen belangt, Frau Wegner: Es ist so, daß ich sehr realitäts- ganz wenig erreicht? nah immerhin mit dafür gesorgt habe, daß in § 2 des Würden Sie mir das so als Ergebnis dieser Anhörung Arbeitsförderungsgesetzes steht, daß Frauen entspre- bestätigen können? chend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit an den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen beteiligt wer- Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Frauen den sollen. Das ist ein Beitrag für Frauen und keine und Jugend: Das würde ich Ihnen als Ergebnis dieser allgemeine, starr definierte Quote. Anhörung so einfach nicht bestätigen können, auch wenn ich nicht ausschließen will, daß es solche Stim- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) men bei der Anhörung gab, auf der ja durchaus auch Wir versuchen in verschiedenen Modellprojekten Sympathisanten Ihres Gesetzentwurfs vertreten wa- Beiträge zu leisten, insbesondere in den neuen Bun- ren. desländern, um in ländlichen Bereichen neue Arbeits- Ich darf Ihnen leider keine Frage stellen, sonst plätze zu schaffen und um Frauen verstärkt in Füh- würde ich Sie fragen: Würden Sie mir bestätigen, daß rungspositionen der Wirtschaft zu bringen. Denn das weiten Teilen der Wirtschaft auch mein Gesetz zu weit war sowohl in der DDR als auch in der alten Bundes- geht und daß Demokratie daraus besteht, daß man republik nicht in ausreichendem Maße möglich. Des- einen Konsens findet und mehrheitsfähige Entwürfe halb halte ich es für ein ganz wesentliches Thema, macht? Frauen in Entscheidungspositionen hineinzubrin- gen. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Nun würde ich gerne zu meinem zentralen Thema Auch ich möchte an dieser Stelle noch einmal kurz kommen, zu dem, was auch in der Arbeit meines auf den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz Ressorts sehr wichtig ist, zur Bekämpfung der Arbeits- eingehen. Ich muß Ihnen sagen, Frau Wegner — lesen losigkeit und zu der Frage, in welchem Maße hier Sie das im Bundesratsprotokoll nach —: Im Bundesrat Frauenpolitik einen Beitrag leisten kann. ist von den SPD-Ländern einhellig erklärt worden, daß Hier geht es aus meiner Sicht nicht um die Quote, sie dann, wenn der Umsatzsteueranteil für die Länder sondern darum, daß Frauenförderung in der Wirt- verbessert wird, bereit und fähig sind, den Rechtsan- schafts- und Strukturpolitik verankert wird. Deshalb spruch auf einen Kindergartenplatz umzusetzen. ist es ganz wichtig, daß wir uns als Frauenpolitikerin- (Beifall bei der CDU/CSU) nen damit befassen, wie sich die Lebensentwürfe von Frauen geändert haben und wie wir die Lebenswelt Jetzt ist es so, daß, ausgehend von Nordrhein der Frauen, ihren Wunsch nach einer Vereinbarkeit Westfalen — hier habe ich ganz andere Töne ge- von Beruf und Familie besser mit den Rahmenbedin- hört —, gesagt wird, daß dies nun leider nicht zu 16764 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Bundesministerin Dr. Angela Merkel schaffen sei. Wir sind uns ganz einig da rin, daß Weiterhin werden wir das Programm gegen Aggres- hinsichtlich der Bereitstellung von Kindergartenplät- sion und Gewalt fortsetzen. zen Probleme auf dem Rücken von Eltern ausgetragen werden, weil angeblich andere Dinge immer größere (Beifall bei der CDU/CSU) Priorität haben. Das darf und kann nicht sein. Liebe Frau Wegner, ich bitte Sie, auch das einzuse- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hen, was mir in der allgemeinen Diskussion oft fehlt: Die Arbeit mit gewaltorientierten Jugendlichen ist Wir werden uns im nächsten Jahr auch ganz inten- nicht ohne Risiko. Dabei wird es auch immer wieder siv mit Fragen der internationalen Frauenpolitik Mißerfolge geben. Wenn wir im Bemühen um die beschäftigen. Ich möchte an dieser Stelle nur die Integration von Menschen nicht bereit sind, diese Weltfrauenkonferenz der UNO im Jahre 1995 in Mißerfolge hinzunehmen, dann haben wir von vorn- Peking und die Präsidentschaft der Bundesrepublik herein aufgegeben. Deshalb bitte ich Sie hier um Deutschland in der Europäischen Union nennen, wäh- Unterstützung. rend der wir versuchen wollen, mehr Gleichberechti- gungspolitik im europäischen Maßstab durchzuset- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Konstanze zen. Wegner [SPD]: Sie predigen die Falsche an !) Wir werden uns im Jugendbereich im nächsten Jahr weiter mit dem Thema der Gewalt unter Jugendlichen — Ich predige nicht in die falsche Richtung. Ich habe und der Gewalt in unserer Gesellschaft zu befassen sehr wohl die Diskussionen über eine mögliche Auf- haben. Ich bin sehr froh, daß es uns gelungen ist, eine stockung dieses Titels in Erinnerung. Ich weiß, wovon Studie von zwei Trierer Wissenschaftlern, eine Ana- ich spreche, Frau Wegner. lyse über die Ursachen von Fremdenfeindlichkeit und (Zuruf der Abg. Dr. Konstanze Wegner Gewalt in unserer Gesellschaft vorzulegen. Diese [SPD]) Studie macht deutlich, wie wichtig es ist, eine sehr differenzierte Diskussion zu führen, worum ich Sie alle — Ich entschuldige mich. Ich bitte Sie um weitere bitten möchte. Die Fremdenfeindlichkeit in der Bun- Unterstützung. desrepublik Deutschland ist nicht, wie sehr häufig leichthin behauptet wird, gestiegen. Im Gegenteil: In (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der den 80er Jahren ist, bezogen auf die Gastarbeiter, ein SPD) deutlicher Rückgang an Fremdenfeindlichkeit fest- Die Vertiefung der internationalen Beziehungen im stellbar. Gestiegen ist die Bereitschaft, Gewalt in der Jugendbereich, vor allem zu den westeuropäischen Auseinandersetzung um eigene Interessen anzuwen- Staaten, zur Türkei, zu Israel und zu den USA, ist für den. Das Gemisch aus Fremdenfeindlichkeit und uns ein weiterer Schwerpunkt. Wir werden versu- Gewaltbereitschaft sollte uns alle außerordentlich chen, die Arbeit im Deutsch-Polnischen Jugendwerk beschäftigen. zu intensivieren. Die Finanzausstattung ist hier noch Ich muß Ihnen an dieser Stelle sagen: Es muß uns nicht ausreichend; hier brauchen wir noch Verbesse- gelingen, von diesem Bundestag aus das Signal zu rungen. Wir werden weitere Kontakte mit den mittel- senden, daß Gewalt kein probates Mittel in der und osteuropäischen Staaten pflegen. Auseinandersetzung bei Interessenkonflikten ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der der F.D.P.) SPD und der PDS/Linke Liste) Ich möchte noch auf den Zivildienst zu sprechen Wir werden mit dem Bundesjugendplan versuchen, kommen. Uns ist es in den Haushaltsberatungen die jungen Menschen — auch hier sind wir sehr gelungen — Frau Wegner, davon haben Sie nicht realitätsnah — tatsächlich zu erreichen. gesprochen —, in einer guten und vernünftigen Zusammenarbeit mit den Wohlfahrtsverbänden das Es ist hier an verschiedener Stelle Kritik geäußert zunächst vorgesehene Sparvolumen im Zivildienst worden. Ich möchte sagen, daß der Bundesjugendplan deutlich zu verringern. Dennoch sind Einsparungen insgesamt ein bewährtes Ins trument ist. Es ist aber unumgänglich. immer wieder notwendig, den Entwicklungen der Zeit auch hier Rechnung zu tragen. Wenn Sie die 45 Pf Bekleidungszuschuß angespro- chen haben, müssen Sie dazusagen, daß es sich um Wir haben deshalb ausgiebig mit dem Bundesju- einen Ausgleich für die Abnutzung von Freizeitklei- gendkuratorium über eine Neufassung von Richtli- dung handelt, daß hier also die Einschnitte doch wohl nien gesprochen. Wir wollen erreichen, daß die Ju- wirklich sozialverträglich sind. gendlichen, die wir heute noch nicht in ausreichen- dem Maße erreichen und auch modellhaft nicht för- Ich weiß, was die Zivildienstleistenden zu tun dern, besser berücksichtigt werden. Ich nenne insbe- haben, was sie für unsere Gesellschaft bedeuten. Aber sondere Jugendliche mit geringerem Bildungs- und ich weiß auch, daß es in unserem Lande die Wehr- Berufsabschluß. Ich nenne auch ausländische Ju- pflicht gibt und daß deshalb vor allen Dingen die gendliche und auch Mädchen. Wehrgerechtigkeit durchgesetzt werden muß. Des- halb wirken wir auf eine Gleichbehandlung von Wir werden das AFT-Programm, das Programm Zivildienstleistenden und Wehrdienstleistenden hin. zum Aufbau freier Träger, auch 1994 fortsetzen Aber daß es natürlich immer gravierende Unter- können, allerdings in einem beschränkteren Umfang. schiede zwischen Zivildienst und Wehrdienst geben Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16765

Bundesministerin Dr. Angela Merkel wird, das wissen Sie, und das wissen wir alle gemein- Frau Dr. Konstanze Wegner kann wie beim Einzel- sam. plan 17 die Debatte eröffnen, wenn das Haus damit (Zuruf von der SPD: Rechtlich nicht, oder?) einverstanden ist, daß wir eine Stunde Debattenzeit vereinbaren. — Das ist offensichtlich der Fall. Lassen Sie mich abschließend noch einen Satz zu der allgemeinen Diskussion über eine allgemeine Frau Abgeordnete, Sie haben das Wort. Dienstpflicht sagen. Ich persönlich bin der Meinung, daß die allgemeine Dienstpflicht nicht die richtige Antwort auf Herausforderungen in unserer Gesell- Dr. Konstanze Wegner (SPD): Vielen Dank. Herr schaft ist Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Haushalt des Ministeriums für Familie und Senioren ordneten der SPD) steht auch im Zeichen der Sparpolitik. Es war erfreu- und daß wir deshalb beim Wehrdienst und beim licherweise durch das gute Einvernehmen unter den Zivildienst bleiben sollten. Ansonsten sollten wir das Berichterstatterinnen und Berichterstattern dennoch freiwillige soziale Jahr und das freiwillige ökologi- möglich, einige positive Zeichen zu setzen, die aller- sche Jahr als Angebote für interessierte junge Men- dings jetzt, das muß m an sagen, durch die globale schen weiter fördern. Minderausgabe wieder gefährdet erscheinen. Herzlichen Dank. (Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) So ist es uns einvernehmlich gelungen, z. B. den — Darf ich noch einen Satz sagen? gekürzten Titel über die Förderung der Behinderten um rund 200 000 DM auf insgesamt 3 Millionen DM aufzustocken. Das ist zwar angesichts des Bedarfs Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ja, Sie sicher nur ein Tropfen auf den heißen Stein, aber es haben noch Zeit. Sie brauchen sich nicht zu beei- ermöglicht zumindest, die Förderung etwas auszuwei- len. ten. Mein Eindruck ist, daß die Behinderten im Ministe- Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Frauen rium im Gegensatz zu den Familien und zu den und Jugend: Den allerwichtigsten Satz habe ich Älteren keine Lobby haben und lediglich als Rand- vergessen: Ich möchte mich ganz herzlich bei den gruppe angesehen werden. Angesichts der Probleme, Mitgliedern des Haushaltsausschusses bedanken, die die Behinderte gerade haben, denke ich, man sollte für unseren Einzelplan verantwortlich sind, bei Frau versuchen, zu überlegen, ob nicht so etwas wie eine Susanne Jaffke, Frau Ina Albowitz und Frau Wegner. Schwerpunktförderung in diesem Ministerium ge- Wir haben bei allen Unterschieden vernünftig im schehen könnte. Ich weiß, daß das schwierig ist, aber Sinne von Jugendlichen und Frauen in dieser Gesell- ich weiß auch, daß z. B. der Verweis auf den Haushalt schaft zusammengearbeitet. des Blüm-Ministeriums, wo erhebliche Mittel für Behinderte etatisiert sind, uns nicht weiterhilft, weil es (Zuruf von der SPD: Wo bleiben die Män- hier ausschließlich um Mittel für die berufliche Ein- ner?) gliederung geht. — Wo da die Männer bleiben, das weiß ich nicht. Positiv zu werten ist auch, daß es gelungen ist, (Heiterkeit und Beifall) wenigstens eine gewisse Planungssicherheit für die Aber auch da gab es manchen, der uns in kritischen Wohlfahrtsverbände bei der Betreuung von Aussied- Abstimmungen unterstützt hat. lern und Flüchtlingen zu erreichen. Wir konnten zwar (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht von der geplanten Kürzung Abstand nehmen, weil wir keine Deckung hatten, aber mein Vorschlag wurde akzeptiert, mittelfristig zumindest auf die vor- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich gehe gesehene weitere Absenkung zu verzichten. Dem hat davon aus, daß die Männer wenigstens bei der die Ministerin zugestimmt, und das steht auch im Abstimmung jetzt mitmachen. Protokoll. Und ich hoffe, daß sich auch eine sozialde- Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- mokratisch geführte Regierung, die wir ja 1994 haben plan 17, Bundesministerium für Frauen und Jugend, in werden, daran hält. der Ausschußfassung. Wer stimmt für den Einzelplan (Beifall bei der SPD — Zuruf von der F.D.P.: 17? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß wir die der Einzelplan 17 mit den Stimmen der Koalitionsfrak- haben werden!) tionen angenommen. — Man muß immer optimistisch sein. Wenn einer das noch verhindern kann, ist es nur die SPD selbst. Ich rufe nunmehr den Einzelplan 18 auf: (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Einzelplan 18 Erfreulicherweise ist es auch gelungen, den soge- Bundesministerium für Familie und Senioren nannten Wuermeling — das ist die Bahnermäßigung — Drucksachen 12/6018, 12/6030 — für Kinderreiche — zu erhalten. Dieser Wuermeling Berichterstattung: verbleibt zunächst im Haushalt des Verkehrsministe- Abgeordnete Irmgard Karwatzki riums, und wenn die Bahnreform dann hoffentlich mal Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) abgeschlossen ist, wird man sich neu Gedanken Dr. Konstanze Wegner machen, wo man ihn etatisiert. 16766 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Konstanze Wegner Einvernehmlich haben wir auch die Mittel für Das ist eine Schande für ein so reiches Land wie die Öffentlichkeitsarbeit im Jahr der Familie etwas Bundesrepublik Deutschland! gekürzt, weil wir der Meinung waren, daß gerade in einem Superwahljahr Zurückhaltung angebracht ist. (Beifall bei der SPD) Außerdem muß man sagen, daß das Haus mit Mitteln Ich glaube, es ist allerhöchste Zeit, daß Politik und für Öffentlichkeitsarbeit und Fachinformationen gut Familienverbände sich einmal zusammensetzen und ausgestattet ist. über neue Wege nachdenken, die Situation von grundlegend zu verbessern. Hier gibt es Das waren so die angenehmen Teile. Ich komme Familien Ansätze. Ich verweise z. B. auf das, was der Sozial- jetzt zu den etwas unbef riedigenderen Teilen. Da rechtler Jürgen Borchert dazu gesagt hat. haben wir nach wie vor das Problem des Familienla- stenausgleichs. Man muß immer wieder daran erin- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Jürgen nern, daß erst einmal Steuergerechtigkeit hergestellt Borchert? — Rudi Walther [Zierenberg] werden muß. Erst dann kann ein Familienlastenaus- [SPD]: Der redet doch über Schweinepest!) gleich überhaupt beginnen. Von einer annähernd befriedigenden Lösung in beiden Bereichen sind wir — Nein, es handelt sich nicht um Ihren Minister. Der ganz weit entfernt. Das derzeitige Existenzminimum beschäftigt sich vorwiegend, wie schon gesagt wurde, von 517 DM ist viel zu niedrig. Da sind sich alle mit der Schweinepest und ähnlichem. Es handelt sich Familienorganisationen durch die Bank einig. Es vielmehr um den Sozialrechtler Jürgen Borchert, den müßte mindestens 650 bis 700 DM be tragen. auch die SPD gut lesen sollte; denn das ist auch für sie lesenswert. Die Familienverbände weisen ebenfalls zu Recht darauf hin, daß die Familien noch mehr als durch die Ebenfalls verweise ich auf das, was mein Kollege vorgesehenen Kürzungen beim Kinder- oder Erzie- Michael Habermann in der ersten Lesung gesagt hungsgeld durch die in diesem komischen — ich hat. sage: — Konsonantengesetz eingebauten Kettenwir- (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Beifall kungen betroffen sind. Die Deckelung, nämlich das der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) Einfrieren der Sozialhilfe führt ja nicht nur zur Bela- stung der Betroffenen. Vielmehr wird es, weil sie Erstaunt hat mich die Kaltschnäuzigkeit, mit der die durch das Verfassungsgericht an das Existenzmini- Ministerin die Deckelung bzw. das Einfrieren der mum gebunden ist, auch keine Erhöhung des Kinder- Sozialhilfe befürwortet hat. geldes und der Freibeträge geben. (Beifall des Abg. Dr. Peter Struck [SPD]) Sie kennen unser Modell eines gleichen Kinder- Wer heute glaubt, meine lieben Kolleginnen und gelds für alle von 250 DM mit einem Zuschlag in Höhe Kollegen, bei 517 DM Sozialhilfesatz sei noch ein von 100 DM ab dem vierten Kind. Wir glauben zwar, großes Einsparpotential vorhanden, der muß die daß es wesentlich gerechter ist als das Modell, das Sie Bodenhaftung total verloren haben. von der Koalition fahren. Man muß aber ehrlich sagen, daß auch dies nicht annähernd ausreichend ist, um (Beifall bei der SPD) einen echten Familienlastenausgleich zu gewährlei- Auch das Argument des Lohnabstandsgebots zählt sten. „Die Stimme der Familie" — das ist die Zeit- hier nicht. Wenn dies in manchen Fällen nicht gewahrt schrift des Familienbunds der Deutschen Katholiken, sein sollte, liegt das nicht an zu hohen Sozialhilfesät- also kein SPD-Kampfblatt — bezeichnet die Familien- zen, sondern an der Tatsache, daß es in Deutschland politik der Parteien resignierend als „Hülsenfrüchte" immer noch Berufe gibt, wo einfach zu wenig verdient und sagt: wird. Es verbleibt wieder einmal das Bundesverfas- (Beifall bei der SPD) sungsgericht als Hoffnungsträger für Familien. Diese Kürzung und Deckelung, die Sie durchgesetzt (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!) haben, ist sozial- und konjunkturpolitisch gleicherma- ßen unsinnig; denn sie wird die Armut in Deutschl and Man muß sagen, daß heute Familien mit Kindern, vergrößern und die Nachfrage absinken lassen. vor allem jene, wo nur ein Elternteil Erwerbsarbeit Unverfroren im Verfahren und inhaltlich problema- leistet und sich der andere Teil um die Erziehung der tisch war auch die Art, wie die Koalition im Haushalts- Kinder kümmert, die Benachteiligten, man kann ausschuß die Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger sagen: die Dummen in unserer Gesellschaft sind. durchgedrückt hat. Ohne Vorberatung im zuständi- (Zuruf von der F.D.P.: Und werden durch die gen Fachausschuß, ohne daß es auf der Tagesordnung Kappung des Ehegattensplitting noch einmal stand, ohne begleitende fachliche Begründung und benachteiligt!) Diskussion wurde dies in der Bereinigungssitzung einfach auf den Tisch geknallt. Ich denke, eine Ent- — Im Ehegattensplitting sind noch Mäuse d rin. Daran scheidung von solcher Tragweite, die auch unter sollten Sie mal gehen. Das aber trauen Sie sich Experten außerordentlich umstritten ist, hätte in der nicht. Tat vorher in einer Anhörung breit diskutiert werden (Beifall bei der SPD) müssen. (Beifall bei der SPD) Kinderreichtum und Alleinerziehung bilden heute die größten Risiken, in Armut zu geraten. Das ist in der Was Sie da betreiben, ist populistischer Aktionismus EG so; das ist auch in unserem Land so. Ich muß sagen: und hilft den betroffenen Kommunen überhaupt nicht. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16767

Dr. Konstanze Wegner Diese nämlich brauchen echte neue Arbeitsplätze und Eine Pflegeversicherung als Volksversicherung nicht solche Scheinmanöver. z. B., die das Abgleiten in die Sozialhilfe wirklich verhindert, hat die F.D.P. bisher erfolgreich konterka- (Beifall bei der SPD) riert. Ich komme zur Altenpolitik. Angesichts der demo- Die vom Frauen- und Jugendministerium vorge- graphischen Entwicklung hat sich der Altersbegriff schlagene Kürzung beim Zivildienst läuft dem Kon- grundlegend gewandelt. Alter kann heute vier bis fünf zept des Ausbaus einer ambulanten Versorgung, das Jahrzehnte dauern, also länger als die Zeit des diese Regierung, auch ihre Sozialpolitiker, zu Recht Arbeitslebens. Das heißt, daß sich unter dem Etikett propagiert, total entgegen. „Alter" Menschen mit ganz unterschiedlichen Be- dürfnissen und Möglichkeiten der Teilhabe am gesell- (Beifall bei der SPD) schaftlichen Leben befinden. Verdrängt wird auch der von mir angesprochene Gedanke eines humanen Sterbens, das als Teil des (Beifall des Abg. Rudi Walther [Zierenberg] Lebens begriffen werden sollte. Ich verweise in die- [SPD]) sem Zusammenhang auf die Anfrage der SPD-Frak- Wir sprechen also von jungen Alten — lieber Rudi, tion zum Thema Hospiz, in der sehr wichtige Anstöße dazu gehörst du —, enthalten sind. (Heiterkeit) Bei den Seniorenbüros — das ist eines der Pro- jekte — stellt sich für mich die Frage, wie es weiter- von mittleren Alten und von alten Alten. Es stellt sich gehen wird. Werden sie angesichts leerer Kassen von die Frage: Was haben sie für Bedürfnisse? den Kommunen weitergeführt werden, wenn die (Heiterkeit — Manfred Richter [Bremerha- Modellphase beendet ist? Ich bin da skeptisch. Auch ven] [F.D.P.]: Disco!) hier fragt sich, ob das Ministerium ein Konzept hat. Rudi, ich gucke auch dich an! (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Nein! Woher soll es das haben?) (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) Überfällig und begrüßenswert ist, daß die große — Herr Präsident, bitte bewahren Sie mich einmal vor -Zahl der bei uns lebenden älteren Ausländer und ihre überzogenem Beifall meiner eigenen Fraktion! Das Bedürfnisse jetzt mehr ins Blickfeld tritt. Erfreulich ist nimmt mir nämlich die Zeit weg. auch, daß es einvernehmlich gelungen ist, die institu- (Heiterkeit) tionelle Förderung des Zentrums für Altersfragen in Heidelberg zu sichern. Ich sehe hier Frau Lehr. Sie Also: Die jungen Alten brauchen z. B. Weiterbil- wird sich sicherlich gefreut haben. dungseinrichtungen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ältere Menschen (Heiterkeit) sind keine Randgruppe; sie sind im Begriff, die größte und Möglichkeiten zur Nutzung ihres beruflichen und Gruppe der Gesellschaft zu werden. Sie werden die sonstigen Sachverstands. Politik künftig wesentlich stärker bestimmen, als es bisher der Fall war. Deshalb, so glaube ich, ist die (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Volkshoch- Politik auf allen Ebenen gefordert, die Rahmenbedin- schule für den Bundestag!) gungen für humanes Altwerden zu sichern. Das Was brauchen die älteren und die wirklich alten erreicht man nicht durch Werbeplakate mit dem Bild Alten? Die älteren Alten — dazu werden wir hoffent- von Frau Rönsch, sondern dafür brauchen wir ein lich alle einmal gehören — wollen vor allem altenge- tragfähiges Konzept, das auch finanzierbar ist. Wir rechte Wohnungen, sie wollen den Ausbau ambulan- brauchen auch etwas mehr Phantasie und Kreativität ter und teilstationärer Dienste, sie wollen eine Pflege- als bisher. versicherung, die das Abrutschen in die Sozialhilfe Vielen Dank. wirklich verhindert, und sie wollen — das kommt (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke immer viel zu kurz — das Nachdenken über die Liste) Chance eines humanen und liebevoll begleiteten Sterbens. (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Wer organi- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort der siert das?) Kollegin Irmgard Karwatzki. Dieses Thema wird in unserer Gesellschaft absolut (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Bring mal verdrängt. Stimmung in die Bude, Irmgard!) Angesichts der Fülle von Aufgaben, die sich stellen, war es, so denke ich, eine zukunftsweisende Entschei- Irmgard Karwatzki (CDU/CSU): Herr Präsident! dung, in diesem Ministe rium eine eigene Abteilung Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine für Altersfragen einzurichten. Die Frage ist natürlich, Vorbemerkung machen: Ich habe mich sehr gefreut welche Antwort der Bundeshaushalt insgesamt — und gerade dieses Ministerium — auf die Problemstellun- (Zuruf von der SPD: Über Konstanze Weg gen gibt. Dazu sage ich: Ein Gesamtkonzept kann ich ner?) nicht erkennen. Ich erkenne einzelne Projekte, von — die lobe ich gleich —, daß die Kollegen aus der denen manche durchaus vernünftig sind. Aber ich Koalition der Kollegin Würfel soviel Beifall gespendet erkenne keine große Linie. haben, als sie uns ihre Forderungen zur Familienpoli- 16768 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Irmgard Karwatzki tik zur Kenntnis gab. Wir sitzen beide in einem Boot bauen, die der staatlichen Zuwendung kraft ihres und klagen das gemeinsam ein, Frau Würfel. Ja? Einkommens nicht bedürfen. (Uta Würfel [F.D.P.]: Ja!) (Beifall bei der CDU/CSU) Als Abgeordnete, die ich mich seit vielen Jahren Damit komme ich zum zentralen Punkt. einer zukunftsorientierten Familien- und Senioren- (Uta Titze-Stecher [SPD]: Dann fangen Sie politik engagiert verpflichtet weiß, habe ich als mal beim Ehegattensplitting an!) Berichterstatterin für den Einzelplan 18 den Entwurf für das Haushaltsjahr 1994 besonders sorgfältig dar- — Das ist richtig. Das habe ich in meiner letzten aufhin durchgesehen, inwieweit die Einsparauflagen Haushaltsrede sehr differenziert dargelegt. — Das noch mit einer familiengerechten Politik vereinbar zahlenmäßig zu Buche schlagende Einsparvolumen sind. Ich verhehle nicht, daß es mir zuweilen schwer- im Einzelplan 18 wird beim Kindergeld erbracht, weil gefallen ist, auch dort Kürzungen vorzunehmen, wo es der größte Ausgabeposten in diesem Einzelplan ich mir eher eine Aufstockung gewünscht hätte. ist. Die Maßnahmen im einzelnen greifen weder an die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Substanz der bewährten Kindergeldregelung, noch sowie bei Abgeordneten der SPD) wird hier auf Kosten der sozial Benachteiligten Dennoch bin ich der Meinung, daß wir alles in allem gespart. Es geht um die oberen Einkommensgruppen, ein respektables Ergebnis vorzeigen können, wie bei denen das Kindergeld für das dritte Kind und Konstanze Wegner eben schon ausgeführt hat. Der weitere Kinder auf einen Sockelbetrag von 70 DM Haushalt des Einzelplans 18 weist gegenüber dem festgeschrieben wird. Jahr 1993 ein — ich meine: niedriges — Kürzungs- Mit der Einziehung von Einkommensgrenzen wird potential von 5 % aus. sicherlich ein Stück mehr Gerechtigkeit in der Fami- Meine Damen und Herren, es wird oft unterstellt, lienförderung erreicht. Die vorgesehenen Freibeträge egal, wer gerade regiert, daß in Wahljahren soziale betragen bei Verheirateten 100 000 DM und bei Wohltaten verteilt werden. Ledigen 75 000 DM netto, was einem Bruttoeinkom- men von 140 000 DM bzw. 110 000 DM entspricht. (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Nicht bei Hinzu kommt ein weiterer Freibetrag von 9200 DM ab uns!) dem vierten Kind. Dieser Gefahr sind wir nicht erlegen, im Gegenteil. Auch das Erziehungsgeld wird unter Zugrundele- Wir sind verantwortungsbewußt. Die so selbstver- gung der gleichen Freibeträge bereits ab dem ersten ständlich gewordenen Besitzstände der Verteilungs- Monat einkommensabhängig gewährt. Die weiteren gesellschaft stehen auf dem Prüfstand. Dennoch wol- Maßnahmen wie die stärkere Berücksichtigung des len wir das, was wir in den letzten Jahren in der eigenen Einkommens von Kindern in der Ausbildung, Familien-, Senioren- und Wohlfahrtspolitik auf den der Ausschluß des Verzichts auf einen Teil der Aus- Weg gebracht haben und sich bewährt hat, erhalten bildungsvergütung sowie die Beschränkung des Kin- und weiter ausbauen, aber auch korrigieren, wo wir dergeldanspruchs auf Ausländer, die eine Aufent- Defizite erkennen. Das bedeutet beileibe nicht, daß haltserlaubnis oder -berechtigung haben, tragen sich die Politik des Sozialstaates in immer höheren ebenso dazu bei, Ungleichgewichte im sozialen Leistungsangeboten erschöpfen müßte. Sozialpolitik Gefüge zu bereinigen. hat zwar viel mit Finanzpolitik zu tun, aber nicht Meine Damen und Herren, mit großer Sorge beob- nur. achte ich in den neuen Bundesländern die stark zurückgegangene So haben wir uns an moderate Haushaltskürzungen Zahl der Geburten. Sie ist seit dem herangearbeitet. In Zeiten der knappen Kassen muß Jahre 1989 um die Hälfte gesunken. Dafür ist nicht der an die Sparbereitschaft aller, nicht nur an die des Kanzler verantwortlich, damit das hier klar ist. Staates, appelliert werden. Daß der soziale Rechts- (Heiterkeit) staat die besserverdienenden Bürger an den sozialen Im Zweifelsfall kommen solche Zurufe. Wohltaten nicht im gleichen Maße teilhaben läßt wie die einkommenschwächeren Bürger, sollte eine Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Im Vorder- Selbstverständlichkeit sein und ist es bei uns. Deshalb grund stehen sicherlich die seit der Wiedervereini- basieren die von uns eingebrachten Einsparvor- gung veränderten Möglichkeiten zur individuellen schläge weitgehend auf strukturellen Veränderun- Lebensgestaltung, aber auch die Sorge um den gen, die sich an der sozialen Ausgewogenheit orien- Arbeitsplatz. Die jungen Frauen wollen ihre Wettbe- tieren und einen Kompromiß zwischen dem finanzier- werbschancen in der Arbeitswelt nutzen. Ein Kind bar Nötigen und dem finanzierbar Möglichen darstel- könnte sie dabei möglicherweise behindern oder len. stören. Deshalb erachte ich es auch als besonders vordringlich, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Familie (Karl Diller [SPD]: Wo holt ihr die 5 Milliar- und Beruf auf einen gemeinsamen Nenner gebracht den DM her? — Rudi Walther [Zierenberg] werden können. Ganz wichtig ist hierfür unter ande- [SPD]: Aus dem Keller!) rem der ab dem 1. Januar 1996 gesetzlich verankerte — Es geht nicht darum, lieber Kollege Diller, den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für alle sozial Schwächeren etwas wegzunehmen, die auf die Kinder ab dem dritten Lebensjahr. soziale Sicherung durch unseren Staat vertrauen dür- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. fen, sondern Sozialleistungen bei denjenigen abzu- sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16769

Irmgard Karwatzki Angesichts der allgemeinen Haushaltsdefizite wer- Und trotzdem ist ihre Arbeit so immens wichtig, weil den zunehmend die Stimmen lauter, die die Finanzie- sie vor Ort in der Nähe der Hilfesuchenden als rung der Kindergartenplätze und damit den Rechtsan- Ansprechpartner präsent sind und aus ihrer Kenntnis spruch in Frage stellen wollen. Ich warne davor. der lokalen Gegebenheiten oft bessere Lösungen Kinder sind unsere Zukunft. Hier darf kein Wechsel finden, als staatliche Institutionen es vermögen. ausgestellt werden, dessen Einlösung auf den S ankt- Es sind das soziale Umfeld und das soziale Engage- Nimmerleins-Tag fällt. ment, die zur Befriedigung unserer Gesellschaft bei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. tragen. Nicht nur Hilfe empfangen, sondern auch sowie bei Abgeordneten der SPD) Hilfe geben können kann auf beiden Seiten Genug- Haushaltskürzungen sind nie populär. Aber daß uns tuung, ja Freude auslösen. Die ehrenamtliche Tätig- kaltblütige Kürzungen von seiten der Opposition keit der sozial engagierten Bürgerinnen und Bürger ist vorgeworfen werden außerordentlich hoch zu bewerten. Wir müssen uns alle dafür einsetzen und noch mehr dafür werben, (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Ich nicht!) diesen Kreis zu erweitern. Deshalb betone ich noch — du hast das nicht gemacht, du hast das sehr moderat einmal: Sozialpolitik ist eben nicht nur Finanzpolitik. gemacht; aber wir haben auch die Haushaltsreden bei Unser aller persönliches Engagement ist gefragt. der Einführung zu berücksichtigen —, weil wir z. B. Auch ist es eine alte Weisheit, liebe Kolleginnen und die Zuschüsse für die Wohlfahrtsverbände einfrieren, Kollegen, daß leere Kassen Kreativität produzieren die Mittel für die Selbsthilfeorganisationen beschnei- können. den oder die Mittel für die Stiftung „Hilfswerk für (Uta Titze-Stecher [SPD]: Das ist wohl wahr! behinderte Kinder" kürzen mußten, kann nicht unwi- Eine alte Weisheit! — Zuruf von der CDU/ dersprochen so stehenbleiben. CSU: Das hat die SPD nie verstanden!) Richtig ist, daß die Zuschüsse für die Wohlfahrtsver- — Wir wissen, wo wir die herholen. bände mit 42 Millionen DM genauso hoch wie im Haushaltsjahr 1993 ausfallen — du hast dankenswer- (Zuruf des Abg. Karl Diller [SPD]) terweise darauf hingewiesen, Konstanze. Wir werden das in großer Ruhe und Gelassenheit auf (Uta Titze-Steucher [SPD]: Praktisch eine den Weg geben. Dann erfährst auch du, lieber Kollege Kürzung um 4 %!) Diller, wie wir das machen. Aber bei den so dringend notwendigen Haushaltskon- Für die Förderung zentraler Maßnahmen und Orga- solidierungsmaßnahmen ist doch jeder disponible nisationen der Selbsthilfe stehen im Jahr 1994 2,2 Mil- Haushaltsansatz des Vorjahres, der nicht dem Rotstift lionen DM zur Verfügung. Von diesem Betrag gehen geopfert werden muß, bereits ein haushaltsmäßiges rund 2 Millionen DM in die neuen Bundesländer. Seit Zugeständnis und zugleich die Bestätigung, daß die 1991 läuft in den neuen Bundesländern ein Modell- Aufgaben, die die freien Wohlfahrtsverbände im projekt „Förderung der sozialen Selbsthilfe" mit staatlichen Interesse wahrnehmen, hohe Priorität einem vorgesehenen Bundeszuschuß von insgesamt genießen. 10 Millionen DM. Das Ende des Projekts ist für Juni 1996 terminiert. Es sollen 17 Selbsthilfe-, Kontakt- und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Unterstützungsstellen gefördert werden. der F.D.P. — Zuruf von der SPD) Der Selbsthilfegedanke und seine Umsetzung in die — Das kommt so dünn an. Früher, als wir zusammen soziale Realität war und ist ein wesentlicher Bestand- im Wasserwerk waren, war es heimeliger. Da verstan- teil unserer Politik. In den alten Bundesländern gibt es den wir uns eigentlich immer. So geht vieles unter. ca. 50 000 aktive Selbsthilfegruppen mit über Bereits seit vielen Jahren ist es mir — und das darf 150 Kontaktstellen. Schon diese Zahlen verdeutli- ich durchaus einmal so sagen — ein besonders wich- chen, wieviel Gewicht wir der institutionalisierten tiges Anliegen, immer wieder auf die wertvolle Arbeit Selbsthilfe beimessen und warum wir die Förderung der freien Wohlfahrtsverbände aufmerksam zu ma- in den neuen Bundesländern als so vordringlich chen. Sie genießt einen hohen Stellenwert, nicht nur erachten, daß wir fast den gesamten Haushaltsansatz in sozialer, sondern auch in volkswirtschaftlicher dafür verwenden. Eine moderate Ansatzkürzung Sicht. Und dabei sollten auch die vielen freiwilligen haben wir lediglich deshalb vornehmen können, weil Helferinnen und Helfer nicht unerwähnt bleiben, die Verpflichtungen aus Vorjahren rückläufig sind. ohne Entgelt ihre Aufgabe darin sehen, die Sorgen Die Förderung der Familienarbeit ist nach wie vor und Nöte ihrer Mitmenschen zu lindern. Ihnen gilt zentrales Thema unserer Politik. Sie steht auch welt- unser besonderer Dank. weit auf der Tagesordnung. Für das Jahr 1994 hat die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- UNO das „Internationale Jahr der Familie" ausgeru- ordneten der SPD) fen. Es soll der Schärfung des Bewußtseins für die Aber auch hier bedarf es weitgehend organisatori- Belange und Leistungen der Familie in Gesellschaft scher Strukturen bzw. der notwendigen Infrastruktur, und Staat dienen. die wiederum die Wohlfahrtsverbände zur Verfügung (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Hoffentlich!) stellen, um eine sinnvolle Bündelung dieses Arbeits- kräftepotentials zu erreichen und entsprechend zu — Wir glauben das, und wir wünschen Ihre Unterstüt- nutzen. Diese Leistungen gehen in keine volkswirt- zung. schaftliche Gesamtrechnung ein, liefern, statistisch Die Familienpolitik umfaßt ein breites Spektrum. gesehen, keinen Beitrag zum Bruttosozialprodukt. Sie beginnt mit dem Schutz des ungeborenen Lebens 16770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Irmgard Karwatzki und endet mit der Pflege und Versorgung des alten, Die Zustimmung zu diesem Haushalt fällt deswegen hilfsbedürftigen Menschen. etwas leichter, weil es eine Alternative dazu nicht gibt. (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Auch um Denn das, was als Alternativen dazu angeboten wird, humanes Sterben geht es!) wäre noch sehr viel problematischer. Der schnelle Wandel der Gesellschaft verändert So sagt die SPD immer wieder, dieses sei sozial auch die Rahmenbedingungen und Wertvorstellun- ungerecht. Unter „sozial gerecht" würde die SPD gen der Menschen. Die Politik ist gefordert, Verände- wahrscheinlich verstehen, daß wir den Unternehmen rungen, ihre Richtungen und ihre Ursachen aufzuzei- Geld wegnehmen und für soziale Bereiche, also kon- gen. Wir sind deshalb offen für neue Entwicklungen, sumtiv, ausgeben. Der Finanzminister, meine Damen auch für veränderte Lebensformen von Familien, und und Herren, brachte in der ersten Lesung das Beispiel versuchen, insbesondere im Rahmen der Familienfor- vom Saatgut, das wir nicht verfrühstücken dürfen. Ich schung mit Hilfe von Modellprojekten Antworten auf will dieses Beispiel aufnehmen und mit der Sozialpo- neue Herausforderungen zu finden. litik vergleichen. Die Mittel für die Familienarbeit sind deshalb nur In einer Zeit geringer Erträge muß man mehr Felder unwesentlich gekürzt worden. Rechnet m an aller- bestellen, mehr anbauen, um mehr Ertrag zu haben. dings die Ausgaben für das „Internationale Jahr der Das heißt, man braucht mehr Saatgut. Man braucht Familie" hinzu, überschreiten sie die Vorjahresan- mehr Geräte zum Bestellen des Bodens und zum sätze. Ernten. Man muß vom Ertrag, also von der Ernte, mehr Ich merke, daß der Präsident hinter mir schon absparen, um sich die Geräte zulegen zu können. nervös wird. Ich komme zum Schluß. Oder anders ausgedrückt: Man muß den Gürtel enger schnallen. Umgesetzt in die Sozialpolitik heißt dies: Ob es uns gefällt oder ob es uns nicht gefällt, wir Frau Kollegin, da Sie hier Vizepräsident Hans Klein: müssen auch in sozialen Dingen sparen. das vertraulich-kollegiale „du" in der Anrede der Kollegen eingeführt haben: Liebe Irmgard, du hast Die SPD macht es umgekehrt: Damit die Wirtschaft deine Redezeit schon überschritten. in Schwung kommt, möchte sie mehr Geld ausgeben (Heiterkeit) und mehr konsumieren. (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Herr Irmgard Karwatzki (CDU/CSU): Ich habe ja Eimer, Sie tragen wieder die alten Popanze gemerkt, daß da hinten Nervositäten waren. Ich vor sich her!) komme zum Schluß. — Ich brauche mir ja nur anzuhören, was Ihre Redner Ich möchte mich herzlich bedanken bei den Mitar- hier gesagt haben. Die haben das ja immer wieder beitern des Ministeriums, bei der Leitung des Hauses eindrucksvoll bestätigt. — Sie will weniger Getreide und natürlich bei der lieben Mitberichterstatterin in Gerätschaften umtauschen, sie will weniger Saat- Konstanze Wegner, dem Mitberichterstatter Wolf- gut für die nächste Pe riode sparen, damit der Lebens- gang Weng — er ist leider nicht mehr anwesend — standard heute einigermaßen gehalten wird. (Zuruf von der F.D.P.: Er kommt sofort wie- Meine Damen und Herren, ich wollte eigentlich der!) lieber Kritik an dem heutigen System des Familienla- und bei allen Kolleginnen und Kollegen des Haus- stenausgleichs üben, und diese Kritik ist meiner haltsausschusses. Meinung nach nicht nur berechtigt, sondern auch Ich danke für die Zwischenrufe. notwendig, wenn man die Systematik des Familienla- stenausgleichs heute betrachtet. Ich habe in den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. letzten Reden an dieser Kritik nicht gespart. Ich habe sowie bei Abgeordneten der SPD) heute nachgegraben und festgestellt, daß ich bereits im März 1985 diese Kritik geübt, eine Vielzahl der Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen Leistungen aufgezählt und die Unübersichtlichkeit Norbert Eimer das Wort. unseres heutigen Systems dargestellt habe. Vor zwei (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Gibt es Wochen habe ich auf die Verfassungswidrigkeit der den auch noch? Den habe ich lange nicht gewählten Einkommensgrenzen hingewiesen, die gesehen! — Gegenruf von der F.D.P.: Sie vorhin gerade wieder gelobt worden sind. müssen öfter hierherkommen!) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Ich will die Kritik nicht wiederholen; man kann sie Norbert Eimer (Fürth) (F.D.P.): Ja, Sie müssen öfter nachlesen. Aber ich glaube, wir sollten heute in die hier sein. Zukunft schauen und danach trachten, neue Systeme Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine aufzuzeigen. Rede zu diesem Haushalt fällt einem Familienpolitiker Der Finanzminister hat bereits darauf hingewiesen, schwer. Wie wir gerade von Frau Karwatzki gehört daß wir in Zukunft, nach diesem Sparkurs, wieder haben, geht es den Kollegen und Kolleginnen der mehr für die Familien tun müssen. Die F.D.P. ist der Union auch nicht viel besser. Meinung, daß dies nicht genügt. Wir müssen uns Es ist kein Haushalt der Freude. Es ist ein Haushalt ebenfalls der Systematik des Familienlastenaus- der bitteren Notwendigkeiten. gleichs annehmen. Unser Vorschlag dazu ist bekannt (Hans Georg Wagner [SPD]: Lauter be tretene und kann in dem Wort „Bürgergeld" zusammengefaßt Gesichter!) werden. In der Öffentlichkeit mehren sich die Stirn- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16771

Norbert Eimer (Fürth) men, daß dieses Konzept weiterverfolgt werden soll. tangiert werden. Ich bin aber zuversichtlich, daß wir Es gibt genügend Stimmen in der Union oder z. B. im es schaffen können, zumal ich den Eindruck habe, daß Verband Junger Unternehmer, die dieses System mit es in diesem Parlament mittlerweile keine ernsthaften uns weiterentwickeln wollen. So wollen wir mit die- Stimmen mehr dagegen gibt. Die SPD hat auch einen sem System ca. 90 verschiedene Transferleistungen Antrag dazu eingebracht. Wir sind auf einem guten aus 40 verschiedenen Töpfen ersetzen, die Verwal- Weg. tung vereinfachen und das ganze System für den Ich will diese Haushaltsrede zu dem Appell nutzen, Bürger durchschaubarer, verständlicher und gerech- daß wir uns alle in die Pflicht nehmen, auf diesem ter gestalten. Gebiet weiterzukommen und das Kindschaftsrecht in der nächsten Legislaturperiode zum Abschluß zu Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Eimer, darf bringen. Wir haben schon in dieser Legislaturpe riode ich sie eine Sekunde unterbrechen? in einer Reihe von Gesetzen einige Bereiche vorgezo- gen und konnten sie verabschieden. Besonders dank- Norbert Eimer (Fürth) (F.D.P.): Ja. bar muß ich vermerken, daß dies in diesem Haus in großer Einmütigkeit geschehen konnte. Ich meine, Ich muß zur Erklärung wir haben alles ganz gut auf den Weg gebracht. Das Vizepräsident Hans Klein: wird nicht mehr umkehrbar sein. unserer gutbesetzten Besuchertribüne sagen: Der Vorgang, der sich hier soeben abgespielt hat, hat Ich will mit dem Hinweis schließen - und damit nichts mit dem Nikolaus zu tun; es h andelt sich um den zum Haushalt zurückkommen —: Die F.D.P. wird parlamentarischen Geschäftsführer Oswald, der seine diesem Haushalt zustimmen, obwohl dies für Famili- Kollegen zu später Stunde mit einem kleinen Bonbon enpolitiker kein Haushalt der Freude ist, sondern nur versorgt. ein Haushalt der Notwendigkeiten. (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Er darf Vielen Dank. auch hier herüberkommen!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Bitte, Herr Kollege Eimer, fahren Sie fort!

- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dr. Barbara Norbert Eimer (Fürth) (F.D.P.): Ich hoffe, daß ich Höll, Sie haben das Wort. später auch ein solches Bonbon bekomme. Wir wollen also, liebe Kollegen, das System verein- fachen und wollen verhindern, daß das, was heute Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Szenario ist jedes Jahr sehr oft passiert, die sogenannte Brutto - Netto- Umkehrung, nicht mehr stattfindet, d. h., daß jemand, das gleiche. Erste Lesung Haushalt 1994: Die Koalition der brutto mehr verdient, netto weniger hat. Ich habe und Frau Ministerin begründen die Größe der erneut den Eindruck, daß wir, wie gesagt, mittlerweile von vollbrachten Leistung. Alles Sachlich-Kritische, das vielen Seiten Unterstützung bekommen. Dieses von der Opposition dazu ausgeführt wird, läßt die System ist ja im Moment unter den verschiedensten Koalition über sich ergehen — kommentiert mit über- Begriffen wie „Bürgergeld", „Bürgersteuer", „Nega- heblichen Zwischenrufen. In den Beratungen der tivsteuer" bekannt. Gemeint ist immer das gleiche: Ausschüssse dominiert der Fraktionszwang, über die der Umbau unseres Systems zu einem gerechteren Beschlußfassung ist somit schon vor Beginn der Bera- und einfacheren System. tung entschieden. In der zweiten Lesung wird voll- mundig und blumig noch einmal „Nabelschau" sei- Die Gemeinsamkeit in dieser Koalition besteht nicht tens der Regierungskoalition betrieben. Auf alle Fälle nur im Handeln bei der Notwendigkeit dieses Haus- werden keine Änderungen zum Positiven zugelas- halts, sondern wird gerade auch deutlich, wenn ich auf sen. die Zukunftsaufgaben blicke. Ich habe den Eindruck, daß die Gemeinsamkeiten eher größer werden als Das gilt für den Haushalt insgesamt, für jeden geringer. Ich meine, die SPD macht einen Fehler, Einzelhaushalt, also auch für den Haushalt Familie wenn sie die Kritik, die ich in den letzten Reden an und Senioren. Dieser Logik folgend, müßte ich eigent- unserem System geäußert habe, als eine Kritik an lich sagen: Nichts Neues, ich gebe meine Rede von der dieser Koalition ansieht. Im Gegenteil: Ich sehe in ersten Lesung am 9. September zu Protokoll. dieser Koalition den Wunsch und das Bestreben, zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) besseren familienpolitischen Systemen zu kommen, Ich glaube, diese Art von Demokratie rechtfertigt als wir sie heute haben. Wir Liberale haben die Vision dies vielfach, aber ich tue das trotz Ihres gönnerhaften von einer neuen Systematik dieses Sozialsystems. Ich Beifalls, den ich natürlich vorausgeahnt habe, nicht, bin überzeugt, wir können es auch gemeinsam mit der sondern nutze meine Redezeit; denn ich glaube, dazu Union verwirklichen. bin ich den „Haushaltsopfern" gegenüber verpflich- Da die Debatte über den Haushalt immer auch eine tet. Die erwarten hier ein anderes Verhalten. Generaldebatte ist, will ich einen Bereich ansprechen, (Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] der viele Betroffene sehr anspricht, und zwar meine [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischen ich die Reform des Kindschaftsrechts. Vielen Betroffe- frage) nen geht es viel zu langsam. Sie meinen, daß die Ungerechtigkeiten endlich beseitigt werden müssen. Wir alle wissen aber auch, wie ungeheuer kompliziert Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Weng, wir die Neugestaltung des Kindschaftsrechts ist. Ich können zwar unter den erschwerten Umständen von glaube, es werden davon einige tausend Paragraphen den stehenden Saalmikrophonen aus Zwischenfragen 16772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Vizepräsident Hans Klein stellen, aber es kompliziert das etwas empfindlich und dem Sparprogramm gesehen werden muß. Dies gewordene System. bedeutet einen unerhörten Anschlag auf die Lebens- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sie haltung der abhängig Beschäftigten, wird familien haben mich überredet, Herr Präsident!) feindlich und kinderunfreundlich. Wie anders sollen die Wirkungen von Kürzungen in der Sozialhilfe, das Bitte fahren Sie fort. überproportionale Zur-Kasse-Bitten von Personen mit Kindern, das Absenken der Mittel für die Organisatio- nen der Selbsthilfe, das Reduzieren der Einlagen in Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Danke schön. die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" sein? — Deshalb will ich hier noch einmal sagen: Es gibt hier Es bleibt auch dabei, daß die Vorteile aus dem etliche populistische Worthülsen, die den ach so Ehegattensplitting, die den Empfängern von höheren heilen Sozialstaat beschwören. Ich möchte hier, um Einkommen unbestritten zugute kommen, zu Steuer- das nicht als Behauptung stehenzulassen, einige ausfällen von 40 Milliarden DM führen. Zitate kurz aneinanderreihen. Wenn das Deutsche Institut für Wirtschaftsfor- Der Kanzler sagt in seiner Regierungserklärung: schung auf der Grundlage der Sparmaßnahmen, die „Es bleibt die vornehmste Pflicht, die Familie zu hier bereits in den Haushaltsbegleitgesetzen verab- stärken." Frau Ministerin Rönsch sagt: „Mit unserer schiedet wurden, mit einem Konsumrückgang im Familienpolitik werden wir in Gesellschaft und Staat nächsten Jahr von 33 Milliarden DM rechnet, so ist Bedingungen schaffen, die eine Entscheidung für ein klar, daß das ein Rückgang bei Menschen ist, die Leben mit Kindern und mit älteren Menschen erleich- sowieso ihr gesamtes Einkommen zur Lebenssiche- tern. " Weiter sagt sie: „Die Angleichung der Lebens- rung unmittelbar ausgeben müssen, die eben nicht verhältnisse ist weiterhin in Ost und West eine vor- sparen können. Das trifft Kinder, die nichts dafür dringliche Aufgabe. " können, ob ihre Eltern Sozialhilfe empfangen oder ob (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) sie arbeiten. — Ja, das sind schöne Worthülsen. Wir würden uns So — man muß kein Prophet sein — werden die freuen, wenn Sie sie umsetzen würden. Aussagen aus dem Armutsbericht des Deutschen - Caritasverbandes progressiv fortgeschrieben werden In der ersten Lesung wurden von der Regierung können. Die Geburtenzahl in Deutschland wird weiter bestimmte Sicherungen eingebaut, die den gravieren- sinken. Die Armutsgruppe von Kindern, Jugendlichen den Widerspruch zwischen der tatsächlichen Politik und jungen Erwachsenen wird weiter ansteigen. und diesen Worthülsen verwischen sollen. Auch dazu einige Zitate. Frau Rönsch erklärte: Alles Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- wird gar nicht so schlimm. Eigentlich ist es doch zeit ist abgelaufen. überhaupt nicht schlimm, was gespart werden muß. Ich zitiere: „Der Zwang zum Sparen hat auch vor dem Familienetat nicht haltgemacht" — welch akrobati- Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Ich bin beim sche Leistung angesichts der realen Vorgänge. Aber letzten Satz, Herr Präsident. weiter: „Es ist nicht nur gelungen, unabwendbare Es ist bezeichnend, daß Sie sich hier in diesem Einsparungen sozialverträglich zu gestalten, vielmehr Hohen Hause wehren, wenigstens die reale Lage wurde sogar die Familienförderung insgesamt ein — z. B. im Kinderbericht — zu erfassen. Deshalb: Stück gerechter. " Dieser Politik, festgeschrieben in diesem Haushalt, Ich möchte nur sagen: Auch wenn es von Ihrem werden wir als PDS/Linke Liste nicht zustimmen. Standpunkt aus unabwendbare Einsparungen sind, so Ich danke Ihnen. ist das nicht die Meinung des gesamten Parlaments (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei und sicher nicht die Meinung der Bevölkerung. Abgeordneten der SPD) Nach Ihrer Meinung ist es gelungen, die notwendi- gen Einsparungen ohne generelle Einschnitte in das Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort der Leistungssystem vorzunehmen. Ich glaube, aus dieser Bundesministerin für Familie und Senioren, Frau Logik heraus können nur störrische und uneinsichti- Hannelore Rönsch. ge Familien, Alleinerziehende, Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen, Asylbewerber und Asylbewer- berinnen oder geduldete Ausländer, Seniorinnen und Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie Senioren und Pflegebedürftige keine Dankbarkeit und Senioren: Herr Präsident! Meine sehr geehrten empfinden. Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gen! Wie der gesamte Haushalt des Jahres 1994 ist Die Wahrheit ist doch anders. Es gibt natürlich in natürlich auch der Einzelplan 18 des Ministeriums für einzelnen Positionen nach der ersten Lesung be- Familie und Senioren geprägt von Sparsamkeit. stimmte Veränderungen nach oben und unten, etwa bei Dienstreisen und dem Informationsprogramm (Zuruf von der F.D.P.: Nichts bleibt ver „Zukunft der Familie". Aber auch hierbei ist die schont!) weitere Reduzierung der Mittel für Familienpolitik Ich denke, es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, den um eine weitere Million durchgesetzt worden. Bürgerinnen und Bürgern dies deutlich zu sagen. Noch einmal muß vor allem gesagt werden, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dieser Teilhaushalt im Zusammenhang mit dem soge- Ich bedanke mich nachdrücklich bei den Bericht- nannten Solidarpakt, dem Standortsicherungsgesetz erstattern der Koalitionsfraktionen und der SPD. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16773

Bundesministerin Hannelore Rönsch Denn, Frau Dr. Wegner, auch Ihre Ausführungen Miete und Heizkosten hinzu. Das sind insgesamt rund waren moderat. Auch Sie haben die Notwendigkeit 2 694 DM. Das ist der Sozialhilfebedarf für eine des Sparens erkannt, wobei Sie aber auch deutlich Familie mit zwei Kindern. gemacht haben, daß wir bei diesem Haushalt noch so (Zuruf von der SPD: Die brauchen das aber gerade davongekommen sind. Wir haben die Mittel auch!) für Leistungen — oft schweren Herzens — umge- schichtet und brauchten so diejenigen, die uns anver- — Selbstverständlich brauchen die das. Allerdings traut sind, nicht über Gebühr zu belasten. stimmt dann die Zahl, die der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz gestern hier genannt hat, 1 700 bis Ich meine, daß wir gerade in Zeiten des knappen 1 800 DM, nicht. Das möchte ich richtigstellen. Geldes und der schwierigen wirtschaftlichen Situation auch den Familien und den älteren Menschen gegen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge über ehrlich bleiben müssen. Wir müssen ihnen aber ordneten der F.D.P.) auch deutlich machen, welche Leistungen ihnen Gerade wenn die Zeiten schwierig sind und die zustehen. Deshalb bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kassen leer sind, müssen wir denen, denen wir helfen Kollegen von der Opposition: Sagen Sie Ihrem Mini- wollen, richtige Informationen geben. Ich will nicht, sterpräsidenten von Rheinland-Pfalz, der gestern von daß wir auf dem Rücken von Familien Politik machen. dieser Stelle aus unrichtige Zahlen genannt hat, Ich bitte Sie, informieren Sie Ihren Ministerpräsiden- (Widerspruch bei der SPD) ten, damit er die Zahlen, die er gestern hier verwandt hat, nicht mehr benutzt. er möge bitte den Männern und Frauen, den Familien, denen er die Wahrheit versprochen hat, auch die (Zuruf der Abg. Dr. Konstanze Wegner richtigen Zahlen nennen. [SPD)] Ich will den Ministerpräsidenten nicht zitieren, Herr — Entschuldigen Sie bitte, Frau Dr. Wegner, ich habe Präsident, sondern lediglich sinngemäß das wiederge- den Zwischenruf nicht mitbekommen. ben, was er gestern gesagt hat. Er sagte, man dürfe (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Er hat gesagt, keine politischen Floskeln gebrauchen; daß er z. B. den Rechtsanspruch auf Kinder (Dr. Peter Struck [SPD]: Da hat er recht! — - gartenplätze umgesetzt habe!) [CDU/CSU]: Na!) — Mit der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen jedenfalls könne sich der Familienvater, der mit 1 700 Kindergartenplatz hat seinerzeit eine von der CDU bis 1 800 DM im Monat seine Familie mit zwei Kindern geführte Regierung begonnen. ernähren müsse, in unserer Familienpolitik nicht wie- (Widerspruch bei der SPD) derfinden. Er hatte gar keine andere Wahl, als diesen Anspruch Ich denke, daß Sie, die Sozialpolitiker, die Familien- umzusetzen. Ich würde mir wünschen, daß die ande- politiker der SPD-Fraktion, Ihren Ministerpräsidenten ren sozialdemokratischen Länder, die im Bundesrat sofort aufgeklärt haben, im vergangenen Jahr so vollmundig diesen Rechtsan- (Zuruf von der SPD: Der war aufgeklärt!) spruch gefordert haben, dem Beispiel von Rheinland Pfalz folgen. wie die Zahlen tatsächlich sind. Er konnte sie viel- leicht nicht kennen aber ich halte es für fahrlässig, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wenn man solche Zahlen — daß ein Familienvater in ordneten der F.D.P.) der Bundesrepublik Deutschland mit zwei Kindern Helfen Sie mit, überzeugen Sie Ihre Ministerpräsiden- nur 1 700 DM im Monat zur Verfügung habe — ten, ganz besonders den von Nordrhein-Westfalen, wiedergibt. Ich meine, wir müssen darüber informie- dann sind wir uns einig. Ich denke schon, daß es ren, welche Möglichkeiten es über die Sozialhilfe möglich ist. hinaus für einen solchen Familienvater gibt. Ich bin in den letzten Wochen dafür geprügelt (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der worden, daß ich eine bestimmte Äußerung get an SPD: Tun Sie das mal!) habe. Sehr geehrte Frau Dr. Wegner, auch Sie haben (Zuruf von der F.D.P.) heute nur den Eckregelsatz in der Sozialhilfe ange- — Nein, so schlimm war es nicht, es kamen ein paar sprochen. Auch Sie haben gesagt: Wie kann jemand Briefe von Bürgermeistern. — Ich habe gesagt, daß von 518 DM leben? Auch Sie wissen es besser. Es sind man bei der Stadtgestaltung und auch beim Straßen- nicht nur die 518 DM, sondern es kommt das Wohn- bau ein wenig zurückhaltender sein sollte. geld dazu, es kommt die einmalige Zulage dazu. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ich will Ihnen ganz einfach von dieser Stelle aus die ordneten der F.D.P.) Zahlen nennen, damit sie in der Öffentlichkeit sind, damit die Familien über ihre Ansprüche voll Das wiederhole ich von dieser Stelle. Das gilt für alle informiert sind, damit ein Familienvater mit zwei Bürgermeister, egal, von welcher Fraktion sie gestellt Kindern weiß, welchen Sozialhilfebedarf die Familie werden. hat, nämlich die durchschnittlichen Eckregelsätze: Meine sehr geehrten Damen und Herren, Familien 514 DM, die Mutter 411 DM, jedes Kind 330 DM — das haben Zukunft. Männer und Frauen wollen Familien sind 1 585 DM. Die einmaligen Leistungen betragen gründen; die Familie hat einen zentralen Rang in ihrer 286 DM, dann kommt der durchschnittliche Betrag für Lebensplanung. Es ist ganz erstaunlich: 56 % der 16774 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Bundesministerin Hannelore Rönsch jungen Männer und Frauen wollen zwei Kinder, aber noch viel mehr Unternehmen Arbeitszeiten flexibili- nur 26 % haben dann auch zwei Kinder. Das zeigt uns, sieren. daß wir mit der Familienunterstützung, dem Fami- Ich will an dieser Stelle ganz bewußt sagen, daß wir lienlastenausgleich auch in der Zukunft fortfahren die Kommunen bei der Bereitstellung von Kindergar- müssen. tenplätzen nicht alleinlassen wollen. Auch die Unter- Kinder sind die wichtigste Zukunftsvoraussetzung nehmen sind aufgefordert, Kinderbetreuungseinrich- unserer Gesellschaft. Deshalb müssen wir alles tun, tungen anzubieten und damit möglich zu machen, daß um den Eltern die Entscheidung für Kinder zu erleich- junge Männer und junge Frauen berufstätig sein, aber tern. Gerade heute aber nehmen die Familien mit gleichzeitig auch den Wunsch nach Familie verwirk- Kindern im Vergleich zu kinderlosen erhebliche lichen können. materielle Einschränkungen in Kauf. Daher muß die (Beifall bei der CDU/CSU) Herstellung der sozialen Gerechtigkeit auch in der Zukunft, auch in einer Zeit knappen Geldes für uns Ich habe hier dauernd die Frage gehört, wo die eine herausragende politische Herausforderung 5 Milliarden DM eingespart worden sind. Ich komme sein. noch dazu, Herr Kollege, Ihnen zu sagen, wo auch ich in meinem Haushalt — leider — Opfer bringen Ich empfinde es als ganz besonders schmerzlich, muß. daß auch im Bundeshaushalt 1994 im Bereich des (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Aber Sie Kindergeldes und des Erziehungsgeldes Einsparun- bringen die Opfer doch nicht!) gen vorgenommen werden mußten. Dies war in der Höhe von 1 Milliarde DM unvermeidlich. Die Kürzun- Bei den Sozialhilfeempfängern haben wir, Frau gen greifen bei denjenigen, bei denen das Einkom- Kollegin, seinerzeit auf Wunsch der Bundesländer men eine bestimmte Höhe übersteigt: bei Familien und auch auf Anregung der kommunalen Spitzenver- 100 000 DM und bei Alleinerziehenden 75 000 DM. bände z. B. über die gemeinnützige Arbeit in der Wir haben den Kindergeldanspruch damit stärker als Sozialhilfe neu nachgedacht. bisher an der tatsächlichen Belastungssituation der (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Über Eltern ausgerichtet. Ich muß allerdings sagen, daß ich Zwangsdienste, über Arbeitsdienste!) eine gewisse Erleichterung darüber verspüre, daß ungerechte generelle Kürzungen verhindert werden Ich bin sehr neugierig, wie sich die SPD-geführten konnten; denn pauschale Kürzungen bei Kindergeld Länder im Bundesrat verhalten werden, wenn das oder bei Erziehungsgeld wären für uns alle sicher sehr Ganze zur Abstimmung steht. bitter. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich noch kurz Wir müssen den Familienlastenausgleich auch in auf einige Punkte der Seniorenpolitik eingehen. Es ist der Zukunft fortentwickeln; wir sollten uns im näch- heute hier schon über die demographische Entwick- sten Jahr intensiv damit beschäftigen. Dann, Kollege lung gesprochen worden. Da mittlerweile der Vorsit- Eimer, wird es die unterschiedlichsten Vorstellungen zende des Haushaltsausschusses wieder hier ist, geben, wie man den Familienlastenausgleich weiter fortführen kann. Insbesondere müssen wir uns der (Zuruf von der SPD: Er war die ganze Zeit noch zu lösenden Aufgabe stellen, daß das Existenz- hier!) minimum von Kindern im Steuerrecht in voller Höhe möchte ich ihm ein kleines Geschenk machen, indem freigestellt wird. Ich glaube, das ist die zentrale ich Ihnen die Zahlen nenne, wie sich in bezug auf die Aufgabe, der wir uns im nächsten Jahr zuwenden Männer die demographische Entwicklung darstellen müssen. wird. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das näch- (Dr. Wolfg ang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: ste Jahr wird das Internationale Jahr der Familie sein. Der Rudi hätte auch ein richtiges Geschenk Ich bin sehr froh, daß der „Familienreport 1994" der genommen!) Nationalkommission jetzt vorgelegt wurde. Wir haben in diesem Familienreport sehr viele Herausforderun- Die heute 60jährigen haben noch gut 20 Jahre vor gen für die Zukunft. Familienpolitik wird nach diesem sich. Lieber Herr Kollege Walther, ich habe es neulich Katalog neu gestaltet. Ich freue mich darüber, daß wir schon einem anderen Kollegen gesagt: Auch Sie mit allen Gruppierungen in der Gesellschaft zusam- werden irgendwann zu der Klientel gehören, die ich menarbeiten und darüber diskutieren konnten. betreue, und darauf freue ich mich. (Zuruf des Abg. Rudi Walther [Zierenberg] Männer und Frauen wollen Familie und Beruf [SPD]) miteinander vereinbaren. Auch das wird eine zentrale Aufgabe in der Zukunft sein. Wir werden für Frauen — Da wäre ich mir nicht so sicher. Da Sie Ihr Alter noch und Männer die Arbeitswelt anders gestalten müssen. ein Stückchen hinausschieben wollen, werden wir das Im vergangenen Monat haben wir im Ministerium für schon gemeinsam hinbekommen. Familie und Senioren einen Bundeswettbewerb aus- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch gelobt. Es war ganz erstaunlich, zu sehen, wie Handel, immerhin ein Angebot! — Weitere Zurufe Banken, Handwerk und Industrie schon sehr umfang- von der CDU/CSU) reich kreativ Modelle entwickelt haben und wie in die Unternehmensphilosophie die Vereinbarkeit von — Das ist eine Sache, die mich nicht schreckt. Familie und Beruf schon eingeflossen ist. Ich kann Sie haben vorhin gefragt: Was haben wir denn den auch von dieser Stelle aus nur dazu ermuntern, daß älteren und alten Menschen anzubieten? Ich bin sehr Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16775

Bundesministerin Hannelore Rönsch glücklich darüber, daß wir im Bundesaltenplan 1994 Wohlfahrtsverbände von der Sperre ausnehmen zu noch einmal 3,5 Millionen DM draufsatteln konnten. können. Wir konnten die Summe von 10 Millionen DM auf jetzt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge 13,5 Millionen DM erhöhen. Irgendwann kommt auch ordneten der SPD) Ihnen der Bundesaltenplan zugute. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der mir Mit unserem Modellprojekt Seniorenbüro sind wir verbleibenden Redezeit möchte ich mit allem Nach- quer durch alle Fraktionen offensichtlich auf einem druck den Berichterstatterinnen und dem Bericht- guten Weg; denn sehr viele Kolleginnen und Kollegen erstatter — Frau Dr. Wegner, Frau Karwatzki und haben sich an mich gewandt und für ihr Umfeld, ihren Herrn Dr. Weng —, aber auch dem Ausschuß insge- Wahlkreis ein Seniorenbüro gewünscht. Es sind be- samt sehr herzlich danken für die sehr verständnis- reits 32 Seniorenbüros eingerichtet. 1994 werden es volle Zusammenarbeit. Das ist nicht immer eine 54 sein. Dort besteht die Möglichkeit, daß ältere und Selbstverständlichkeit. alte Menschen persönliche Einsatzfelder finden, daß Der Haushaltsausschuß hat die Leistungen der Mit- sie sich selbst einbringen, aber auch Leistungen selbst arbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministe riums für nachfragen können. Familie und Senioren in den vergangenen Wochen und Monaten anerkannt. Dafür möchte ich meinen In diesen Tagen wird noch einmal die Kommission ganz besonders herzlichen Dank aussprechen. Wir zusammentreten, die die Lösungen im Zusammen- waren nämlich in der vergangenen Zeit zu sehr vielen hang mit der Pflegeversicherung diskutiert. Ich hoffe gesetzlichen Änderungen und auch zu neuen Geset- und wünsche für die uns anvertrauten alten und zen gezwungen. Dafür, daß diese Leistungen aner- pflegebedürftigen Menschen und für diejenigen, die kannt wurden, bedanke ich mich. sie pflegen, daß diese Kommission endlich zu einem Ergebnis kommt. Ich darf mich auch dafür bedanken, daß die Bera- tungen im Haushaltsausschuß, aber auch die Gesprä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. che mit den Berichterstattern in einem guten K lima Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]) stattgefunden haben. Ich würde mir auch gerade in dem vor uns liegenden Jahr wünschen, daß solche Ich meine, daß wir es uns nicht länger leisten dürfen, - Gespräche in der Zukunft öfter möglich sind. die Pflegebedürftigen und diejenigen Frauen und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Männer, die die Pflegearbeit leisten — es sind zum größten Teil die Frauen —, noch weiter zu vertrösten und auf deren Rücken unsere politischen Diskussio- Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- nen zu führen. ren, ich muß, glaube ich, den Kolleginnen und Kolle- gen, die den Vorgang in ihren Büros oder sonstwo (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Das ist nicht mitbekommen haben, und auch den Ministerin- aber ein Eigentor! — Dr. Konstanze Wegner nen und Ministern, denen ihre Mitarbeiter das nicht [SPD]: Das müssen Sie zur F.D.P. sagen, nicht berichtet haben, erklären, daß hier seit einigen Stun- zu uns!) den die normale Lautsprecheranlage wieder einmal Bewegen Sie sich, finden Sie eine Möglichkeit für die nicht funktioniert. Wir benutzen also die Notanlage. Kompensation! (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Der Nor malzustand ist hergestellt!) Mir wird gerade gesagt, daß ich nur noch eine — Hebt euch eure humorigen Bemerkungen für später Minute Redezeit habe. Herr Präsident, hier am Red- auf! nerpult leuchtet aber nicht das rote Licht. Ich habe nicht mitbekommen, daß die Lampe überhaupt nicht Das bedeutet, daß die Lichter hier nicht aufleuchten, funktioniert. und das bedeutet auch, daß keine Zeit angegeben wird. Das heißt also, ich rufe dem Redner dann immer (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist nicht von hinten zu „Sie haben noch eine oder zwei Minuten das einzige, was hier nicht funktioniert!) Zeit", damit er sich ein bißchen darauf einstellen kann. Ich möchte gern auch auf die Frage zurückkommen, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: wo denn die 5 Milliarden DM eingespart werden. In Das ist immer, wenn Sie präsidieren!) unserem Haushalt wird das möglicherweise bei den Wohlfahrtsverbänden der Fall sein. Das tut mir bitter — Herr Weng, Sie waren auch schon origineller. weh, weil wir quer durch die Fraktionen die Arbeit der Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- Wohlfahrtsverbände kennen und ausgesprochen plan 18 — Bundesministerium für Familie und Senio- schätzen und immer wieder unterstützt haben. Die ren — in der Ausschußfassung. Wer stimmt für den Wohlfahrtsverbände haben in unserem gegliederten Einzelplan 18? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — System so viele wichtige Aufgaben. Es ist mein Der Einzelplan 18 ist angenommen. Wunsch gewesen, daß diese Mittel von der Sperre ausgenommen werden. Ich rufe auf: Trotz der Schwierigkeiten werden wir weiterarbei- Einzelplan 12 ten müssen. Wir werden die Lebensbedingungen von Familien, Kindern und älteren Menschen in unserem Bundesministerium für Verkehr Lande zum Besseren gestalten. Ich wünsche mir, die — Drucksachen 12/6012, 12/6030 — 16776 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Vizepräsident Hans Klein Berichterstattung: und ich fange wider jegliche Gewohnheit mit Artig- Abgeordnete Ernst Waltemathe keiten an — bei den Kollegen Bohlsen und Zywietz Wilfried Bohlsen und bei Herrn Bundesminister Wissmann, aber vor Werner Zywietz allen Dingen, Herr Minister, auch bei Ihren Mitarbei- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die terinnen und Mitarbeitern im Bundesverkehrsmini- Aussprache eine Stunde vorgesehen. sterium möchte ich mich herzlich für die jederzeit kollegiale und gute Zusammenarbeit bedanken. Das (Unruhe — Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Haushaltsreferat hat uns wie üblich stets die Informa- Rufen Sie mal die Regierungsbank zur Ord- tionen geliefert, die wir für unsere Knetarbeit an nung, Herr Präsident!) einem 53-Milliarden-Etat zu leisten hatten. — Ich habe keine Ordnungsgewalt über die Regie- rungsbank. Außerdem will ich auch — ganz gegen die üblichen Rituale — nach dem Motto „Wo bleibt das Positive?" (Dr. Peter Struck [SPD]: Wir sind sofort dafür, schon gleich zu Anfang, bevor ich zu meinen kriti- daß Sie die Ordnungsgewalt bekommen, schen Äußerungen komme, Herrn Minister Wissmann Herr Präsident! Das unterstützen wir!) danken, daß er dafür gesorgt hat, daß mit den USA ein Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. neues Luftverkehrsabkommen abgeschlossen wor- (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) den ist, Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der unserem Kollegen Ernst Waltemathe. F.D.P.) das, wie wir alle hoffen, die Wettbewerbslage der Ernst Waltemathe (SPD): Vielen Dank, Herr Präsi- Lufthansa auch in diesem Bereich verbessern wird. dent. Ich selbst bin zusammen mit dem F.D.P.-Kollegen Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über die Manfred Richter in der zweiten Juliwoche in Washing- üblichen Rituale bei Haushaltsberatungen habe ich ton gewesen, um — und zwar einheitlich von Regie- mich schon des öfteren im Bundestag in ironischer rungsseite und Oppositionsseite — dem Verkehrsmi- Weise ausgelassen. Im letzten Jahr habe ich das etwas nister der USA zu signalisieren und dem Verhand- ausführlicher getan. Sie wissen aber alle schon längst, lungsleiter des State Department klipp und klar dar- daß Debatten zum Haushalt Höhepunkte parlamenta- zulegen, daß wir in den diesjährigen Haushaltsbera- rischer Rhetorik sind mit vielen Zahlen, die kein tungen unserer Bundesregierung als Parlament Mensch begreift, mit Platitüden und dem immer anempfehlen würden, das Luftverkehrsabkommen wiederkehrenden Rollenspiel, wonach die Opposition von 1955 zu kündigen, wenn es nicht gelänge, die sagt, daß die Regierung nichts taugt, und daraufhin Verhandlungen, die ins Stocken geraten waren, zu die Koalitionsabgeordneten mit Empörung solche einem Abschluß zu bringen. Vorwürfe zurückweisen und allen Ernstes behaupten wollen, eine bessere Regierung könnten sie sich gar Sie, Herr Minister Wissmann, haben diese ins Stok- nicht vorstellen ken geratenen Verhandlungen mit der US-Seite hart- näckig zu einem Ergebnis geführt, das zufriedenstel- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — lend ist und jedenfalls mehr Fairneß in die Luftfahrt- Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach: Das beziehungen zwischen den USA und Deutschl and ist wahr!) bringt. — siehst du, man bekommt Beifall auch von der Regierungsseite — und es gebe keine Alternative. Das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kennen wir alles. Ich schlage erneut vor, daß wir uns Und ein Zweites: Nachdem ich feststelle, daß wir diese seit 1949 eingeübte Veranstaltungsart schen- sicherlich auch gemeinsam hoffen, daß sich die Deut- ken. sche Lufthansa, deren Mehrheitsanteilseigner nun (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen [Bön-einmal die Bundesrepublik Deutschland — sprich: der strup] [CDU/CSU]) deutsche Steuerzahler — ist, wieder zu einem Unter- Schließlich ist es ja schon ein Höhepunkt, wenn hier nehmen entwickelt, das in schwarze Zahlen kommt nacheinander als Berichterstatter des Haushaltsaus- und somit keine größeren Haushaltsrisiken mehr schusses zum Verkehrsetat drei Abgeordnete das aufwerfen wird, will ich als Artigkeit, die für mich Wort ergreifen, die dem nächsten Bundestag nicht keineswegs eine Pflichtübung darstellt, die Feststel- mehr angehören werden und auf deren Formulier-lung treffen, daß Herr Wissmann dafür gesorgt hat, kunst unsere Nachfolger und sogar das ganze Hohe daß sich die Bundesregierung bei den schwierigen Verhandlungen mit den Bundesländern und mit der Haus in ordentlichen Haushaltsdebatten leider wer- den verzichten müssen. Opposition, also mit uns, bewegt hat und nunmehr eine Bahnreform zustande kommt, die, wie ich hoffe, (Heiterkeit) breite Zustimmung finden wird. — Sie sehen also: Ich habe das Wort ergriffen, und nun sind Sie es auch. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Erneute Heiterkeit) Das große Haushaltsrisiko Bahn ist nach wie vor aus dem Verkehrsetat abzulesen. Die Übernahme von Aber nun werde ich wieder ganz Ernst, Bahnschulden und Altlasten beseitigt nicht sämtliche (Zuruf von der CDU/CSU: Ganz E rnst Walte-Risiken, aber hilft für die Zukunft, die rasante Talfahrt mathe!) in einen Finanzkollaps zu beenden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16777

Ernst Waltemathe Ich stelle fest, daß der Bund bei der Finanzierung 32,3 Milliarden DM, nämlich lediglich 6,4 Milliarden der Regionalisierung des schienengebundenen Perso- DM, für reine Investitionen in den Fahrweg bereitste- nennahverkehrs den Ländern weit entgegengekom- hen werden. men ist. (Zuruf von der SPD: Leider wahr!) (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Aber das Nun ertappe ich mich dabei, in haushälterischer reicht nicht!) Manier einen Zahlensalat vorzutragen. Aber in die- Ich hoffe, daß das Kamingespräch — ich nehme an, sem Fall läßt sich das nicht ganz vermeiden. Es geht daß es jetzt stattfindet — zwischen dem Bundeskanz- nämlich um den Vergleich von Größenordnungen. ler und den Ministerpräsidenten der Bundesländer Der Straßenbauplan weist selbst nach Kürzungen und eine endgültige Einigung bringt und die Vereinba- einer wahrscheinlichen Inanspruchnahme zur Erwirt- rung vom 12. November 1993 bestätigen wird. schaftung der globalen Minderausgabe voraussicht- (Werner Zywietz [F.D.P.]: Die haben wir doch lich 10,5 Milliarden DM auf, von denen bis zu 8,8 Mil- schon!) liarden DM Investitionen in Neu - und Ausbau von Fernstraßen darstellen. Es ist also falsch, Herr Mini- Ich hoffe, Herr Minister Wissmann, in Ihrem Inter- ster Wissmann, wenn Sie in der ersten Lesung zum esse, daß Ihnen diese oppositionelle Lobrede nicht für Bundeshaushalt meinten, feststellen zu können, daß das bevorstehende Jahr, in welchem Sie der noch die Prioritäten zwischen Schienenweg und Straße amtierenden Regierung angehören werden, schaden zugunsten des ersteren neu gesetzt würden. wird, aber ich wollte vorweg mit diesen Artigkeiten beginnen. (Beifall bei der SPD) (Dr. Peter Struck [SPD]: Das mit den Artigkei- Nach wie vor dominiert bei den Investitionen der ten ist aber jetzt genug! — Eduard Oswald Straßenbau. [CDU/CSU]: Sie bekommen Schwierigkeiten (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das würde mit der eigenen Fraktion!) ja auch die Autoindustrie nicht mitma Nun aber zum Verkehrsetat 1994. Es handelt sich, chen!) meine Damen und Herren, um den zweitgrößten Auch hinsichtlich der Lärmsanierung an bestehen- operativen Einzelplan nach dem für Soziales. Ich habe - den Verkehrswegen ist die Straße im Haushalt die Bundesschuld weggelassen; das ist ja kein opera- berücksichtigt, der Schienenverkehr aber nicht. Unser tiver Plan. Mit 53,8 Milliarden DM liegt er jetzt höher erneuter Versuch, auf Grund zahlreicher vom Bundes- als der Verteidigungsetat. Er macht ungefähr ein tag akzeptierter und zur Berücksichtigung vorgesehe- Neuntel des gesamten Staatsbudgets 1994 aus. ner Petitionen lärmgeplagter Bürger an Schienenwe- Diese Feststellungen sind zweifellos richtig und gen wenigstens einen ganz bescheidenen ersten entsprechen der Wahrheit. Sie täuschen gleichwohl Zuschußbedarf von 200 Millionen DM bei den Dotie- über die tatsächliche Verfügungsmasse hinweg. So ist rungen für die neue Bahn AG zu berücksichtigen, z. B. der investive Anteil innerhalb des Verkehrsetats wurde von der Koalition mit dem Hinweis abgelehnt: von 58 % auf 49 % abgesunken. Da man eigentlich Milliardenbeträge brauche, die ( [F.D.P.]: Immer noch der man aber nicht habe, wolle m an lieber gar nichts höchste!) tun. Der Verkehrshaushalt bleibt zwar der Einzelplan mit (Thea Bock [SPD]: Seit drei Jahren macht ihr dem höchsten Investitionsanteil, aber der Zuwachs das! — Weiterer Zuruf von der SPD: Sehr der Ausgabenmittel um rund 10 Milliarden DM originelle Begründung!) gegenüber dem jetzt laufenden Haushalt 1993 beruht Wenn diese Argumentation, meine Damen und Her- eben nicht auf konjunkturfördernden Investitionen, ren, richtig wäre, dann dürfte der Deutsche Bundestag sondern ist ausschließlich auf die haushaltsmäßigen gar keinen Bundesverkehrswegeplan verabschie- Konsequenzen im Zusammenhang mit der Bahnre- den. form zurückzuführen. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Bravo!) Die Bahnreform und die Bahnfinanzierung schla- Ich habe vorhin festgestellt, daß der Straßenbau bei gen nämlich allein mit 32,3 Milliarden DM zu Buche. den Investitionen nach wie vor dominiert. Ich weiß Von diesen 32,3 Milliarden DM dienen der Über- selbstverständlich längst, daß ich von meiner Fraktion nahme der Schulden und der Personalaltlasten großen Beifall bekomme, wenn ich fordere, bei den 11,8 Milliarden DM. Die neuzugründende Bahn AG Investitionsmaßnahmen endlich zugunsten des Schie- erhält zur Abgeltung von be triebswirtschaftlich nicht nenweges im Haushalt umzuschichten, und zwar zu einzufahrenden sogenannten Gemeinwirtschaftsko- Lasten des Straßenbauetats. sten 10,4 Milliarden DM entsprechend dem europäi- schen Recht. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Ein Hau- fen Geld!) Ich weiß auch, daß anschließend die einzelnen Kolle- ginnen und Kollegen ankommen und sagen: Aber Für Investitionen bleiben dann „nur" 10,1 Milliar- meine Straße und meine Ortsumgehung müssen noch den DM, von denen 3,6 Milliarden DM für den finanziert werden. technisch bedingten Rückstand der ehemaligen Reichsbahn eingesetzt werden müssen. Das heißt nun (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der im Klartext, daß nur ein knappes Fünftel von den F.D.P.) 16778 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Ernst Waltemathe Sehen Sie: So ist das Leben. Eine echte p rivate Finanzierung würde nur funktio- nieren, wenn Private eine Straße bauen und be treiben (Heiterkeit) und über „road pricing", d. h. auf gut deutsch, Stra- Meine Damen und Herren, der vor der Sommer- ßenbenutzungsgebühren, einen Ertrag ihrer p rivaten pause verabschiedete Bundesverkehrswegeplan ist Investitionen erwarten könnten. das größte Märchenbuch, das wir uns leisten. Jeder Ich stelle fest: Künftige Haushalte sind schon jetzt weiß, daß die als vordringlicher Bedarf eingestuften mit 2,7 Milliarden DM für die Abfinanzierung der Projekte noch nicht einmal zur Hälfte finanziert wer- genannten sechs Projekte vorbelastet. den können. Das Märchenbuch Bundesverkehrswe- geplan hat Koalitionsabgeordnete zu Märchenerzäh- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das ist ja lern degradiert, die dem staunenden Wahlvolk in unglaublich!) ihrem Wahlkreis weismachen wollen, ihre Straße sei Nach dem Willen des Haushaltsausschusses und im vordringlichen Bedarf und werde also gebaut. Das wahrscheinlich dieses Hauses — wir haben ja noch wird sich in mehr als der Hälfte aller Fälle als Lüge nicht abgestimmt — sollen weitere acht Projekte, herausstellen. davon fünf Ortsumgehungen, hinzukommen, für die (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Nein! Nein! — ebenfalls Verpflichtungsermächtigungen eingestelli Weitere Zurufe von der CDU/CSU) werden müssen. Mit Wahrheit, Klarheit und finanzpolitischer Zuver- Diese sogenannten privat finanzierten Projekte ver- lässigkeit hat das nichts zu tun. schieben also in Wahrheit andere im Verkehrswege- plan als vordringlich eingestufte Maßnahmen nach (Beifall bei der SPD) hinten. Kaum waren Sie, Herr Bundesminister, in das Amt (Beifall bei der SPD) des Bundesverkehrsministers gewechselt, sah sich Ihr Neben Straße und Schiene gibt es besonders ener- Haus sogar gezwungen, die Länderverkehrsminister giesparende und umweltschonende Verkehrsträger. im Westen per Erlaß darüber zu informieren, daß Für ein außenhandelsorientiertes Land tun See- und keine einzige Maßnahme neu begonnen werden Küstenschiffahrt sowie auch die Binnenschiffahrt not. dürfe, da aus dem Straßenbauhaushalt 1,3 Milliarden Dazu kann ich Ihnen, Herr Minister Wissmann, meh- DM in die neuen Länder umgeschichtet würden. rere Feststellungen leider nicht ersparen. (Norbert Otto [] [CDU/CSU]: Sehr rich- Erstens. Außer dem Verkehrsprojekt Deutsche Ein- tig!) heit Nr. 17 gibt es kaum ausreichende Investitionsmit- Nun gibt es ein weiteres, die Wahrheit verschleiern- tel für den Ausbau der Binnenwasserwege. des Stichwort, sozusagen einen Zaubertrick: Privatfi- (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Man muß nanzierung. Dagegen ist nichts einzuwenden. die Schiffe dem Wasser anpassen und nicht (Zustimmung bei der SPD und der CDU/ das Wasser den Schiffen!) CSU) Die Gesamtinvestitionssumme von rund 1 Milliarde Sechs Projekte sollen nach dem sogenannten Konzes- DM aus dem Einzelplan 12 für die Bundeswasserstra- sionsmodell privat finanziert werden. Das ist schön für ßen macht offensichtlich, daß die Wasserstraße der die Maßnahmen, die auch von mir in ihrer Notwen- vergessene Verkehrsträger bleibt. digkeit gar nicht bestritten werden. Sie kommen eben Im Zusammenhang mit den Bundeswasserstraßen schon jetzt und brauchen nicht auf schwierige Stra- möchte ich eine zusätzliche Bemerkung machen: Die ßenbauhaushalte zu warten. Zufahrten der Seehäfen an Ost- und Nordsee müssen Aber mit Privatfinanzierung hat das eigentlich in ökologisch verantwortlicher Weise so gestaltet wenig zu tun. In Wahrheit handelt es sich darum, daß werden, daß Fahrwassertiefen für Schiffe der näch- Private den Bau vorfinanzieren und der Bund dann bei sten Generation ausreichend sind. Entsprechende Fertigstellung hinsichtlich der Raten für das Abstot- Umweltverträglichkeitsprüfungen vorausgesetzt, ist tern der aufgewendeten Kosten über den Straßenbau- der Bund gefordert, für die notwendige Ausgestaltung etat zur Kasse gebeten wird. der Fahrrinnen Sorge zu tragen. Wir haben uns bemüht, die Finanzierungsvoraussetzungen dafür zu (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Alles schaffen. wird verdreht! — Zuruf von der SPD: Eine richtige Kreditaufnahme!) Das bezieht sich neben Rostock auch auf die drin- gend erforderlichen Unterhaltungsbaggereien für den — Herr Kollege Fischer, ich spiele hier nie das Tiefseehafen Wilhelmshaven. Gerade die Menschen Spielchen — Sie wissen ja, ich bin Küstengang- an der Küste sind daran interessie rt, das ökonomische Mensch — zwischen Bremen und Hamburg; das Standbein beispielsweise von Ölanlandungen mit machen wir draußen. Aber in den sechs Projekten ist dem größtmöglichen Schutz vor Tankerunfällen zu die Elbtunnelröhre drin. Da ist nichts von Bremen verknüpfen. enthalten. (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Sehr (Zuruf von der F.D.P.: Das ist nicht wahr, Herr gut!) Kollege!) Um Ökologie und Ökonomie geht es auch bei der In den sechs Projekten, habe ich gesagt. — Bundeswasserstraße Ems und dem Werftstandort (Weiterer Zuruf von der F.D.P.: Sie sind nicht Papenburg. Der Haushaltsausschuß hat einvernehm- auf dem neuesten Stand!) lich Mittel zur Herstellung einer ausreichenden Was- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16779

Ernst Waltemathe sertiefe für die Überführung georderter Schiffsneu- Meine Damen und Herren, der Bundestag und der bauten zur Nordsee in den Haushalt eingestellt. Dabei Bundesrat haben mit dem Tarifaufhebungsgesetz EG- ist aber auch darauf hingewiesen worden, daß es Recht in nationales Recht umgesetzt. Als guter - sowohl ökonomisch bzw. fiskalisch als auch umwelt- päer stehe ich dazu. Gleichwohl mahnen die Binnen- politisch Grenzen der Machbarkeit gibt. schiffer völlig zu Recht, daß sie gleiche Wettbewerbs- bedingungen vorfinden wie ihre Kollegen aus den (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Niederlanden, aus Belgien und Frankreich. Hier ist Wenn sie einen Flugzeugträger bauen, wird offensichtlich erneut der Grundsatz verletzt, daß Libe- es zuviel!) ralisierung auch Harmonisierung voraussetzt. Die Im Klartext: Die Breite und Tiefe einer Wasserstraße Binnenschiffahrt kann nicht für sich einen Natur- bestimmen, welche Schiffsgrößen in Auftrag gegeben schutzpark verlangen, aber die Bundesregierung werden können. Das heißt, weder haushaltspolitisch kann auch nicht tatenlos zusehen, wenn trotz des noch ökologisch können die Voraussetzungen umge- EG-Rechts andere Staaten ihren Binnenschiffern sol- dreht werden. che Naturschutzparks einrichten und unliebsame aus- ländische Konkurrenz von ihren Märkten fernhal- Was will ich damit sagen? Der Staat ist eben nicht ten. verpflichtet, Eingriffe in die Umwelt und Eingriffe in (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) die Staatskasse dann zuzulassen, wenn ein Unterneh- men Aufträge annimmt, die zu groß dimensioniert Hier sind Sie gefordert. sind. Ein gleiches Problem haben wir jetzt übrigens auch im Straßengüterverkehr, wo sich der Ausflaggungs- (Zuruf von der F.D.P.: Das ist richtig!) trend auch nicht vermeiden lassen wird. Deshalb gehen wir davon aus, daß wir mit der Herr Minister Wissmann, ich fordere Sie überhaupt jetzigen Veranschlagung der Finanzmittel für die Ems nicht auf, Ihre Fahne in den Wind zu hängen, den die das Ende der Fahnenstange erreicht haben. Wir haben Opposition manchmal so erzeugt, gleichzeitig aber auch alles getan, um für einen erfreulicherweise sehr konkurrenzfähigen und mo- (Heiterkeit im ganzen Hause) dernen Schiffbaubetrieb und seine Sicherung ausrei- aber Sie müssen sehr wohl Flagge zeigen für die chende Infrastrukturbedingungen zu schaffen. deutsche Flagge. Maritime Interessen und auch die Konkurrenzfähigkeit unserer Binnenschiffahrt sind (Beifall des Abg. Dr. [CDU/ nationale Aufgaben. Entscheidungen mit dem Rücken CSU] und des Abg. Dr. Wolfgang Weng zu den Wasserwegen verletzen unsere Interessen als [Gerlingen] [F.D.P.]) Industriestandort und als Außenhandelsnation. Meine Damen und Herren, die See- und Küsten- (Beifall bei der SPD) schiffahrt wird hinsichtlich der von ihr nicht verschul- Meine Damen und Herren, es wäre jetzt ein Vortrag deten Wettbewerbsnachteile auf dem internationalen fällig — den ich nicht mehr halten werde — über das, Schiffahrtsmarkt stiefmütterlich behandelt. Die Rah- was die SPD-Bundestagsfraktion Ihrer Verkehrspoli- menbedingungen sind nicht verläßlich. Weil der Bun- tik entgegenzusetzen hat. Glauben Sie mir, es wäre desfinanzminister mehrfache Aufforderungen aus viel besser. Da Ihre Verkehrspolitik schlechter ist, allen Fraktionen dieses Hauses seit dem Jahre 1991, sehen wir uns leider gezwungen, den Haushalt abzu- auf steuerlichem Gebiet gesetzesinitiativ zu werden, lehnen. in den Wind geschlagen hat, konnte der zunehmende Ausflaggungstrend nur mühselig durch den Beschluß (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des Bundestages gestoppt werden, weiterhin Finanz- DIE GRÜNEN — Werner Zywietz [F.D.P.]: So beiträge, also direkte Betriebskostensubventionen, zu ein schlechter Schluß!) gewähren. Die zum Haushalt 1993 von den Berichterstattern Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Wilfried des Haushaltsausschusses vorgeschlagene Verpflich- Bohlsen, Sie haben das Wort. tungsermächtigung auf das Haushaltsjahr 1994 in Höhe von 100 Millionen DM findet sich deshalb als (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Baransatz im Einzelplan 12 wieder. Es wäre aber jetzt Wilfried Bohlsen Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Her- erforderlich gewesen, erneut eine Verpflichtungser- mächtigung auf das Jahr 1995 aufzunehmen, was die ren! Berichterstatter ursprünglich auch einvernehmlich (Karl Diller [SPD]: Erni hat eine gute Rede vorgeschlagen hatten, und zwar insbesondere im gehalten!) Hinblick darauf, daß der Bundeshaushalt 1995 vor — Das will ich bestätigen. Aber wir sind ja auch — das Mitte 1995 parlamentarisch nicht beraten sein wird. will ich dem Kollegen Diller bestätigen — in großen (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Wird das Zügen der Verkehrspolitik im Haushaltsausschuß in so schnell gehen?) wesentlichen Punkten recht einig gewesen. (Zurufe von der SPD) Nachdem sich die Koalition für die Aufnahme der Verpflichtungsermächtigung nicht bereit gefunden — Ich komme noch darauf. Wenn Sie den Etat dann hat, muß man kein Hellseher sein, um zu wissen, daß doch leider ablehnen, liegt es nicht an mir. Das sind eine nationale Schiffahrtspolitik nicht mehr stattfin- dann vielmehr die Widersprüche bei sich selbst. den und die Flucht in Billigregister in großem Ausmaß Der Etat des Bundesministers für Verkehr mit dem stattfinden wird. Volumen von 53,8 Milliarden DM ist immerhin der 16780 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Wilfried Bohlsen drittgrößte Einzeletat, den wir zu verabschieden Dauer sonst nicht mehr Herr des Geschehens in der haben, und er beinhaltet immerhin Investitionen mit finanzpolitischen Entwicklung. einem Volumen von 26 Milliarden DM. Mit diesem Investitionsvolumen leistet der Bund einen erhebli- Gestatten Sie mir, daß ich auf Ausschußberatungen chen Beitrag für den Wirtschaftsstando rt Deutschland. eingehe, die eine Veränderung in den bisherigen Er bietet gute Möglichkeiten zur Ankurbelung der Haushaltsansätzen beinhalten. Großer Diskussions- Wirtschaft und fördert gerade im Verkehrsbereich das punkt war die Weiterführung des Wuermeling - Pas- Zusammenwachsen der alten und neuen Bundeslän- ses. Für 1994 haben die deutschen Bahnen die Wei- der. terführung als freiwillige Leistung übernommen. Über die Fortführung nach 1994 wird das Bundesministe- Da wir durch den Vorredner schon gut über die rium für Familie und Senioren entsprechende Ver- Zahlen informiert worden sind, lassen Sie mich zu handlungen mit der Deutschen Bahn AG führen. einem wichtigen Anliegen des Einzelplans 12, zur Strukturreform der Eisenbahn, noch einiges sagen. Ein zweiter wichtiger Punkt bei uns war die Ver- Hier ist es nach fünfmonatigen Verhandlungen mit kehrserziehung. Im Regierungsentwurf hatten wir den Ländern gelungen, im Verhandlungsergebnis hierfür für das kommende Jahr 15 Millionen DM erheblich voranzukommen. Auch heute findet das in angesetzt. Wir wußten aber, daß hier dringende Gesprächen zwischen den Ministerpräsidenten wie- Arbeiten auch in ehrenamtlicher Weise zu leisten der seinen Niederschlag. sind. Deswegen war es unser Bemühen, diesen Ansatz zu erhöhen. Ich bin den Haushältern dankbar, daß wir Der Bundesregierung und insbesondere Ihnen, Herr uns durchsetzen konnten und daß wir den Regie- Bundesverkehrsminister Wissmann, möchte ich herz- rungsansatz von 15 Millionen DM um 10 Millionen lichen Dank sagen für die enormen Bemühungen, die DM auf 25 Millionen DM erhöht haben. Das war Sie geleistet haben, und auch für die viele Zeit, die Sie insofern ein Kraftakt, als wir innerhalb unseres Ein- gerade in den letzten Wochen und Monaten aufge- zelplans Deckung finden mußten. Dieses aber ist wandt haben, um die Strukturreform der Bundesbahn gelungen. voranzubringen. (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen [Bön (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-- strup] [CDU/CSU]) ordneten der F.D.P.) Der Kollege Waltemathe hat schon auf die Proble- Ein wesentlicher Verhandlungspunkt, meine Da- matik der deutschen Handelsflotte hingewiesen. Für men und Herren, war bis zuletzt die Regionalisierung 1994 haben wir einen gesunden Ansatz von 100 Mil- des Schienenpersonennahverkehrs und ihre Finan- lionen DM. Sorge aber bereitet natürlich auch unserer zierung. Bei den Verhandlungen zwischen dem Bun- Fraktion der Fortgang in den Folgejahren. Insofern deskanzler und den Ministerpräsidenten der Länder möchte ich dieses, Herr Bundesverkehrsminister, am 12. November 1993 wurde eine Lösung gefunden, noch einmal zum Anlaß nehmen, die Bundesregie- wodurch die Verantwortung für den Schienenperso- rung zu bitten, hier noch einige Schularbeiten zu nennahverkehr ab dem 1. Januar 1995 vom Bund auf machen. Es geht ja — das ist unser politisches Ziel — die Länder übergehen kann und die Bahnreform zum um den Erhalt einer angemessenen deutschen H an 1. Januar 1994 verwirklicht werden kann. -delsflotte unter deutscher Flagge. Als wir im Haushaltsausschuß über diesen Komplex Es sind mehrfach steuerliche Maßnahmen wie z. B. beraten mußten, haben wir bei den be treffenden die Entlastung von der Gewerbesteuer und die Befrei- Bahnkapiteln qualifizierte Sperren einbringen müs- ung von der betrieblichen Vermögensteuer angespro- sen, da zu diesem Zeitpunkt eine Einigung zwischen chen worden. Wenn dies geschieht, können wir auf dem Bund und den Ländern noch ausstand. Wenn die Zuschüsse verzichten. Wenn das aber nicht politisch Länder nunmehr ihr Einverständnis signalisieren, umgesetzt wird, dann müssen wir uns über die Haus- können wir im Haushaltsausschuß die entsprechen- haltsjahre 1995 und 1996 Gedanken machen, damit den Entsperrungen vornehmen. Das setzt natürlich wir wieder den Einsatz von Mitteln ermöglichen. voraus, daß an dem gefundenen Kompromiß auch festgehalten wird. Ansonsten laufen wir Gefahr, daß Der Kollege Waltemathe hat die Konzessionsmo- die Bahnreform scheitert. delle im Straßenbau angesprochen. Die Zahl der Maßnahmen im Straßenverkehr haben wir von sechs Die Einzelheiten der Bahnstrukturreform sollen auf zwölf erhöht. Dazu gehört dann auch noch ein Anfang Dezember im Parlament erörtert und als weiteres Modell im Schienenverkehr. Ich glaube, daß Gesetzespaket verabschiedet werden. Insofern kann wir mit der Aufstockung auf zwölf Modelle einen ich mir hier besondere Bemerkungen zu den Einzel- regional besseren Ausgleich gefunden haben, der für punkten ersparen. uns doch recht wichtig ist. Mit der Bahnreform soll die Rentabilität erheblich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) verbessert werden. Aus dieser Sicht müssen wir noch einmal die Einspareffekte prüfen; zumindest macht Dadurch verbessern wir auch den Zeitfaktor erheblich der Bundesrechnungshof noch einige kritische An- und bekommen andererseits im vordringlichen Bedarf merkungen zu dem Zahlenwerk. Luft für andere Ortsumgehungen und andere drin- gend benötigte Teilmaßnahmen. Insofern freue ich An dieser Stelle will ich deutlich machen, daß es im mich, daß es uns gelungen ist — Kollege Waltemathe, Verkehrsbereich Bahnen einen dringenden Hand- das wurde einvernehmlich im Haushaltsausschuß lungsbedarf gibt; denn wir als Haushälter wären auf beschlossen —, die Anzahl der Konzessionsmodelle zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16781

Wilfried Bohlsen erhöhen. Das will ich an dieser Stelle noch einmal Entlastung des Landweges leisten?" Wir sollten das vermerken. Ergebnis abwarten. Man rechnet damit, daß es uns Ende März zur Verfügung stehen wird. (Beifall der Abg. Irmgard Karwatzki [CDU/ CSU]) Bevor ich zu den Schlußbemerkungen komme, will ich Ihnen, Herr Minister, herzlichen Dank für Ihren Die ist angesprochen worden. Auch Emsvertiefung Erfolg bei den Luftverkehrsverhandlungen mit den hier war es ein schwieriger Kraftakt, den Regierungs- USA sagen. entwurf um Barmittel in Höhe von 20 Millionen DM und 5 Millionen DM bei den Verpflichtungsermächti- gungen für das Folgejahr zu erhöhen. Auch hier Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, darf ich Sie mußte Deckung im selben Einzelplan erbracht wer- einen Moment unterbrechen? — Diese drehbaren den. Das war nicht einfach; das war ein schwieriger Stühle hier verführen natürlich dazu, eine Art Clubat- Akt, der aber nunmehr gelungen ist. Damit tragen wir mosphäre in einzelnen Teilen des Saales herzustel- in besonderem Maße zum Erhalt des Werftenstandor- len. tes Papenburg bei. (Heiterkeit — Dr. Uwe Küster [SPD]: Also, (Ekkehard Gries [F.D.P.]: Das ist regional- ordentliche Stühle wären mit lieber!) spezifischer Lobbyismus!) Ich wäre aber dankbar, wenn alle Kollegen die Mini- — Das ist wahr, verehrter Herr Gries. Aber da wir alle malregeln der Höflichkeit gegenüber dem Redner wissen, welche Bedeutung Flugzeugindustrie und einhalten würden. Werftenstandorte für uns haben, wissen wir auch, (Dr. Klaus Rose [CDU/CSU]: Herr Präsident, welch hohen Beschäftigungsgrad dieser ganze der Redner ist hier nicht zu verstehen!) Bereich hat. — Die anderen verstehen es. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — (Dr. Erich Riedl [München] [CDU/CSU]: Sie Zuruf von der CDU/CSU: Beifall auch vom verstehen uns wenigstens! — Dr. Wolfgang Süden!) Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Alles CSU-Leute! Ich will einen anderen Punkt ansprechen. Es kam in — Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist eine unserem einzigen Tiefwasserhafen, den wir in der - gute Gruppe! Eine starke Truppe!) Bundesrepublik haben — das ist der Hafen Wilhelms- Bitte fahren Sie fort, Herr Kollege. haven —, erstmals vor, daß ein tiefgehender Öltanker zurückgeschickt werden mußte, weil tiefes Fahrwas- ser nicht gegeben war. Wir sahen dringenden Hand- Wilfried Bohlsen (CDU/CSU): Herr Minister, D ank lungsbedarf. Ich freue mich, daß wir für die Vertiefung also für Ihre Erfolge bei den Luftverkehrsverhandlun- der Jade einvernehmlich 10 Millionen DM einbringen gen mit den USA und Dank für Ihre Verhandlungen konnten. Denn wenn wir es uns leisten, daß Schiffe und für Ihre Erfolge auf EG-Ebene bei der Harmoni- zurückgeschickt werden, stärken wir doch die Häfen sierung der Straßenbenutzungsgebühr. Auch hier des Auslandes. Dies können wir uns nicht leisten. sind Sie ein Stück weitergekommen. Wenn wir Raffinerien haben, die funktionieren, dann müssen wir auch dazu beitragen, daß es entsprechend Wir möchten Ihnen, Herr Minister, bei den Schluß- tiefes Fahrwasser gibt. Dies ist gelungen. verhandlungen mit den Ländern zur Bahnreform den Rücken stärken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich meine, wir sollen hier noch einmal sagen: Lassen Sie mich noch einige wenige Sätze zur Stärkung des Seeverkehrs sagen. Die Kollegen Wal- (Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Die Bahn temathe und Zywietz waren zusammen mit mir vor reform haben wir noch gar nicht verabschie einem Jahr zu Gesprächen im schwedischen Ver- det!) kehrsministerium. Das vom Bund vorgelegte Angebot kann nicht verbes- (Glocke des Präsidenten — Zuruf von der sert werden. Insofern bitten wir die Länder, nun auch SPD: Die CSU-Runde da oben stört!) bei dem einzulenken, was sie als Verhandlungsergeb- nis vorgelegt haben. Wir hatten Gelegenheit, die Absicht der Schweden zu beleuchten, in die EG einzutreten. Durch den Beitritt Es gab eine gute Zusammenarbeit mit den Beamten wird sich der Güterverkehr erheblich vermehren. Das des Haushaltsreferats. Dafür möchte ich mich bedan- Nadelöhr Hamburg läßt im Straßenverkehr nicht mehr ken. Ich freue mich auch über das angenehme Mitein- viel Luft für Erweiterungen. Deswegen war es unser ander mit den Kollegen Berichterstattern, das viel Bemühen, gegebenenfalls die Möglichkeiten des See- harmonischer ist, als es hier zum Ausdruck kommt. Ich weges zu prüfen. Ich freue mich, Herr Minister, daß es freue mich auch, daß es ein so gutes Zusammenarbei- in dieser Woche zum Abschluß eines Forschungsauf- ten mit der Arbeitsgruppe Verkehr gab. trages für ein Gutachten kommen wird, in dem unter- Abschließend, meine Damen und Herren, möchte sucht wird, wie sich die Verkehre entwickeln und wie ich Ihnen vorschlagen, der vorliegenden Fassung es zu einer Verkehrsverbindung auf dem Seewege zuzustimmen. Der Verkehrsetat paßt sich in das Kon- zwischen Göteborg und den deutschen Nordseehä- zept der Haushaltskonsolidierung ein und ist mit fen kommen könnte. Das Gutachten hat zum Thema: einem hohen Anteil an Investitionen beschäftigungs- „Welchen Beitrag kann der Seeweg von Göteborg politisch von besonderer Bedeutung. Er trägt dem Ziel nach Westeuropa über deutsche Nordseehäfen zur des Zusammenwachsens von Ost und West Rechnung. 16782 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Wilfried Bohlsen Der Verkehrsetat schafft die Voraussetzungen zur Auch über den Transrapid könnte m an in diesem Durchführung der Bahnstrukturreform, die längerfri- Zusammenhang sprechen. stig wiederum zur Konsolidierung des Haushalts bei- tragen wird. Daher empfehle ich Ihnen die Annahme Kurzum: Ich glaube schon, daß sich der Ausbau der dieses Etats. Infrastruktur, der sich in diesem Haushaltsplan mit 53 Milliarden DM widerspiegelt, auch für die Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kehrsprodukte motivierend und hilfreich auswirkt. Ich möchte Ihren Blick noch auf einen anderen Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Kalb, ich Aspekt lenken. Er ist aus F.D.P.-Sicht mehr als die habe Ihre Meldung zu einer Zwischenfrage nicht Haushalte in den Jahren zuvor ein Haushalt mit deshalb heruntergespielt, weil ich den Redner nicht besonderer Weichenstellung zu mehr Privatisierung. unterbrechen wollte. Wir können vielmehr im Das Hauptstichwort ist zweifelsohne die Bahnreform, Moment ausschließlich die stehenden Mikrophone im die hier schon angesprochen worden ist. Damit erfüllt Hintergrund des Saals benutzen. Sie müßten also sich aus liberaler Sicht fast so etwas wie ein bestimm- hinaufgehen. Da das System auf Notbetrieb geschal- ter Privatisierungstraum. Ich kann mich an die vielen tet ist, besteht die Gefahr, daß es ganz zusammen- Reden von hier anwesenden Kollegen und auch vom bricht, wenn wir es zu kompliziert machen. Kollegen Kohn erinnern, der immer wieder versucht (Heiterkeit) hat, eine Bahnreform auf den Weg zu bringen. Ich Da ich das ungern erneut unter meiner Präsidentschaft meine, daß diese verdienstvollen Anstrengungen hier hätte, nicht ganz verschwiegen werden sollten. Ich finde es (Heiterkeit und Beifall) auch gut, daß — soweit ich im Bilde bin — die SPD-Bundestagsfraktion offensichtlich dieser Bahn- schlage ich vor, daß wir versuchen, ohne Zwischen- reform zustimmt. Das ist wohl das Entscheidende. fragen oder nur mit solchen, die man rufen kann, auszukommen. Nicht ganz so glücklich kann man eigentlich über Ich erteile dem Kollegen Werner Zywietz das die Nachkartversuche einiger Bundesländer verschie- Wort. dener politischer Couleur sein. Ich glaube, das ist nicht in Ordnung. Die Bundesländer haben sich bei anderen - Sparbemühungen aus meiner Sicht eigentlich ganz Werner Zywietz (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe Kol- gut bedient. leginnen und Kollegen! Angesichts der unkonventio- nellen Ausstandsrede des Kollegen E rnst Waltemathe (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) und angesichts Ihrer Bemerkung, Herr Präsident, Sie sollten hier bei der Zustimmung zur Bahnreform, Zwischenfragen aus technischen Gründen nicht zuzu- so wie sie ausgehandelt worden ist, Vernunft und lassen, lege ich mein vorbereitetes Manuskript bei- Realismus walten lassen. seite und will es mit ein paar Anmerkungen zum Einzelplan 12, zum Bereich Verkehr, einmal so versu- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne chen. ten der CDU/CSU) Der Kollege Ernst Waltemathe hat neben launigen Ein Nachkarten an dieser Stelle ist überhaupt nicht Bemerkungen diesen Plan zutreffend charakterisiert. sinnvoll. Er hat darauf hingewiesen, daß es mittlerweile ein wirklicher Aufsteigeretat geworden ist. Mit seinem Wenn wir allerdings die Reform der Bahn, d. h. die Volumen von 53 Milliarden DM ist er an die zweite Aufteilung der Bahn in drei Aktiengesellschaften vor Stelle gerückt, zugegebenermaßen durch die Ober- Augen haben, dann ist es aus meiner Sicht mehr nötig, nahme von besonderen Leistungen für die Bahnre- als aus der Behörde Bahn drei Unternehmen zu form. Ich möchte hinzufügen, daß dieser Einzelplan machen. In Zukunft müssen sich auch die Einstellung seine Bedeutung auch darin hat, daß er für die und die Vorgehensweise ändern. Mobilität der Bürger und für eine prosperierende (Beifall bei der F.D.P. — Dr. Wolfgang Weng Wirtschaft sehr fundamentale Voraussetzungen lie- [Gerlingen] [F.D.P.]: Sonst sind es drei Behör fert. den!) Ich meine, daß er durch den Ausbau der Infrastruk- Nur eine Etikettenänderung, die zu mehr und besser tur im Straßen-, im Schienen- und im Luftverkehrsbe- bezahlten Vorständen und vielleicht leitenden Ange- reich sowie bei den Wasserstraßen zumindest atmo- stellten führt, mag denen ja vergönnt sein; nötig ist sphärisch auch eine gute Voraussetzung schafft, gutes allerdings für die Sanierung ein Stück mehr, damit in Verkehrsgerät zu produzieren, das man möglichst in Zukunft nicht wieder öffentliche Mittel gebraucht alle Welt exportieren kann. Mir ist aufgefallen, daß werden, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Nötig ist gute Straßen zum Bau von guten Autos motivieren. guter Service. Nötig ist ein stärkeres Marktverhalten, Ordentliche See- und Binnenwasserstraßen sind ein ist Rationalisierung, ist ein klares Ausrichten an Lei- Anreiz, vernünftige Schiffe zu bauen, nicht nur für das stungskriterien in den zukünftigen Aktiengesellschaf- heimische Publikum. Ich denke auch, daß ein attrak- ten, wenn denn die Operation ihr Ziel erreichen tiver Flughafen wie beispielsweise München dazu soll. anreizt, gute Flugzeuge zu bauen oder zumindest gute Flugzeuge der Airlines anzuziehen und damit ökono- Liebe Kolleginnen und Kollegen, über die Bahn ist mische Stimulanzen zu geben. Gleiches gilt sicherlich schon von den Vorrednern gesprochen worden. Mit auch für einen guten Schienenausbau. Dazu paßt kein Blick auf die knappe Zeit — ich glaube, ich habe nur rumpelnder Zug, sondern nur ein anständiger ICE. sieben oder acht Minuten — — — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16783

Vizepräsident Hans Klein: Jetzt nur noch eine! wird, eine deutliche Verbesserung sein. Es wird näm- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die Zeit ver- lich die private Schneise sowohl für die Durchführung geht! — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] als auch für die Vorfinanzierung erweitern, und das ist [F.D.P.]: Du hast noch gar nicht so viel allemal gut. gesagt!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Nenn doch wenigstens das Gerlinger Pro Werner Zywietz (F.D.P.): Noch eine? — Herr Präsi- jekt!) dent, hier leuchtet aber gar keine rote Lampe auf. Bei Die Projekte, die wir ausgesucht haben, sind auch dieser riesigen Technik, muß ich sagen, hat mich das gut. Der Kollege Waltemathe sollte eigentlich zufrie- in der Tat irritiert. den sein, denn der Weser-Tunnel, den er vorhin so schamhaft verschwiegen hat, ist, wie ich gehört habe, Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, ich hatte auch dabei. mir erlaubt, darauf hinzuweisen, daß dieses Licht Den gleichen Duktus der Privatisierungsschneise nicht leuchtet. Als ich das gesagt habe, waren Sie haben wir auch — — schon im Saal. Also, für alle, die es nicht mitbekommen haben: Die Herr Kollege Zywietz, Sie Anlage ist nicht in Ordnung. Das Licht leuchtet nicht, Vizepräsident Hans Klein: sind jetzt zwei Minuten über Ihre Zeit. die Uhr geht nicht, auch die Mikrophone an den Plätzen gehen nicht. Werner Zywietz (F.D.P.): Herr Präsident, ich weiß (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ihre Güte zu schätzen und will Sie nicht überstrapa- Das Trüffelschwein hat die Kabel angenagt! zieren. — Weiterer Zuruf von der F.D.P.: Aber der Haushalt ist in Ordnung!) Vizepräsident Hans Klein: Bitte noch ein Satz. Werner Zywietz (F.D.P.): Herr Präsident, aber viel- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Aber ohne leicht gibt es für mich angesichts des Mißverständnis- Komma!) ses mildernde Umstände. Ich bemühe mich, Ihnen - immer sehr aufmerksam zuzuhören, aber das war mir Werner Zywietz (F.D.P.): Ich möchte sagen, daß der offensichtlich entgangen. gleiche Grundgedanke der Privatisierung auch in der Luftfahrt Raum gefunden hat. Die Flugsicherung ist Vizepräsident Hans Klein: Ja, also noch eine privatisiert. An Flughäfen neuerer Art wollen wir uns Minute. nicht beteiligen, sondern uns eher zurückziehen. Eine Kapitalerhöhung bei der Lufthansa wird es auch nicht Werner Zywietz (F.D.P.): D ann wird manches nicht geben. gesagt werden. Ich hoffe, darüber freut sich niemand. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ich habe mir hier vernünftige Notizen gemacht. Gut!) Zum Straßenbau aus unserer Sicht nur einige Dinge Damit möchte ich meine kurzen Anmerkungen im Stakkato: Der Verkehrswegeplan ist kein Mär- beenden und sagen, daß die F.D.P. diesem Etat chenbuch. Er ist schon eine sinnvolle Angelegenheit, zustimmt und daß der Minister, nachdem er sich so aber wir müssen zugeben, daß er unterfinanziert ist schnell eingearbeitet hat, eine glückliche Hand haben und daß eine Prioritätenüberprüfung vonnöten ist. Ich möge, die Projekte in diesem Sinne umzusetzen. möchte in aller Klarheit sagen: Die Großprojekte der deutschen Einheit werden wie geplant durchgezogen, Vielen Dank. und sie werden durch die Finanzenge keinen Schaden (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nehmen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dr. Dagmar Ich möchte all denen aus den Ländern, die gerne Enkelmann, Sie haben das Wort. Kritik üben und es als permanente Entschuldigung nutzen, daß beim Bund die Straßenbaumittel viel- Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr leicht zu gering sind, sagen, daß sie lieber darauf Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Wiss- achten sollten, daß sie baureife Pläne haben. Man hört mann, ich schätze, von mir werden Sie keine Artigkei- schon, daß manch einer in den Ländern das man- ten erwarten. Da werde ich sie mir gleich schenken. gelnde Geld beklagt und gar keine baureifen Pläne (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist schade!) hat. Meine Damen und Herren, nach einer Umfrage (Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]: Dafür fühlen sich mehr als 60 % aller Kinder durch den braucht man auch Geld!) zunehmenden Verkehr gefährdet. 57 % wünschen Hier wollen wir doch keine billigen Entschuldigungen sich einen sicheren Schulweg. Die Zahlen getöteter in den Raum stelllen. oder verletzter Kinder im Straßenverkehr zeigen, daß Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen, diese Ängste nicht unbegründet sind. daß wir sehr zufrieden sind, daß wir den Einstieg Aber Sie machen weiter wie bisher. Ich lese jeden- hinsichtlich der Privatisierung auch im Straßenbau- falls aus diesem Verkehrshaushalt kein anderes Fazit bereich machen. Die Zeit erlaubt nicht, das auszufor- heraus. Kein Wort von Verkehrsvermeidungsstrate- men, aber es geht nicht um Schenkungsaktionen. Das gien, von Stärkung des öffentlichen Personennahver- was vorgesehen ist, wird, wenn es richtig gehandhabt kehrs oder Verlagerung von Transporten auf die 16784 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Dagmar Enkelmann Schiene! Demagogisch wird die Aufstockung der Warum verliert der ÖPNV durch Verteuerung, Gesamtsumme des Etats mit der Bahnreform begrün- Streckenausdünnung bzw. Stillegung an Attraktivität det. Dabei ist von einer wirklichen Reform weit und für die Bürgerinnen und Bürger? breit nichts zu sehen. Wir werden in der nächsten Warum ist das Lager auf der Straße, die sogenannte Woche noch ausführlich darüber sprechen können. Just-in-time-Produktion, trotz Staus, verlängerter (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sie Fahrzeiten etc. immer noch kostengünstiger als das werden die Bahnreform nicht verhindern!) Lager im Unternehmen? — Das machen wir nächste Woche. Die Liste der Fragen ließe sich beliebig fortset- zen. Die zusätzlichen Mittel dienen hauptsächlich der Entschuldung der Bahn. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wir wollen Antworten hören!) (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das nichts?) Meine Erfahrungen aus Diskussionsrunden hier im Auf der Prioritätenliste steht nach wie vor der Westen, aber auch im Kommunalwahlkampf in Br an Straßenbau an vorderster Stelle. Das, was dringend -denburg besagen, daß diese Fragen die Bürgerinnen nötig wäre, eine Aufstockung der Gemeindeverkehrs- und Bürger sehr wohl bewegen und daß sie mit den finanzierung, die Stärkung der Selbstverwaltung der Antworten, die sie aus Bonn darauf bekommen, sehr Kommunen in diesem Bereich, die vorrangige Förde- unzufrieden sind. rung von Technologieentwicklung und Forschung bei Großes Unverständnis herrscht bei vielen Leuten den Bahnen sucht man im Haushalt 1994 vergeblich. auch über solche Prestigeobjekte wie den Ausbau von Von einer verkehrspolitischen Umkehr bzw. Neu- Elbe, Havel, Oder und Spree. Warum sollen denn aber orientierung kann keine Rede sein. Die von Minister Flüsse und Kanäle in Brandenburg, die heute gerade Wissmann euphorisch als Revolution gefeierte private einmal zu 30 % ausgelastet sind, auf Euroschiffgröße Finanzierung von Straßen ist eine Konterrevolution in getrimmt werden? Milliarden werden in ökologisch Sachen zukünftiger Verschuldung des Bundes, die und ökonomisch sinnlose Projekte gepumpt, und für dann — sicher mit leichtem Zeitverzug — auf die die dringend notwendige Ortsumgehung z. B. von Bürgerinnen und Bürger abgewälzt wird. Bernau fehlt das Geld. Machen Sie das den Bürgerin- Die Gruppe PDS/Linke Liste wird diesen Einzelplan nen und Bürgern einmal begreiflich! ablehnen. Bereits vor Monaten haben wir hier ein Meine Damen und Herren, ich möchte meine Rede integriertes, ökologisch orientiertes Gesamtverkehrs- beenden mit dem Ausschnitt aus einem Gedicht des konzept eingefordert und einen entsprechenden Vor- diesjährigen deutschen Preisträgers des Europäi- schlag unterbreitet. Daß dieser für Sie nicht annehm- schen Umweltpreises, Herrn Kurt Kretschmann aus bar war, hatte in diesem Fall weniger damit zu tun, daß Bad Freienwalde, der sich zum Thema Kanalausbau der Antrag von der PDS/Linke Liste kam. Ihre Ableh- wie folgt geäußert hat: nung beruht auf der Unfähigkeit, weiter als bis zur Totengräber der Flußlandschaft nächsten Wahl zu denken. Was soll das Geschwafel Sie nehmen die erschreckenden Prognosen für die über Elbe, Oder, Spree und Havel! Verkehrsentwicklung bis zum Jahre 2010 in Kauf, Danach sind sie allemal ohne auch nur im Ansatz daraus Konsequenzen für zu krumm, zu flach und zu schmal. eigenes politisches Handeln zu entwickeln. Das, Doch darf man den Leuten vertrauen, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, ist die Flüsse nach den Schiffen bauen? Ignoranz gegenüber der Wissenschaft, und das ken- Da stirbt die Natur, nen wir aus DDR-Zeiten nur zu gut. Das Ende vom es nutzt kein Klagen, Lied kennen wir alle. wir müssen unsere Meinung sagen. Eine verkehrspolitische Neuorientierung muß dort Ein entschiedenes NEIN zu diesem Wahn! ansetzen, wo Verkehr entsteht. Sie muß Fragen beant- Steckt die Milliarden in die Eisenbahn. worten wie: Warum werden Transporte zunehmend Mehr Achtung, mehr Ehrfurcht auf die Straße verlagert? So wurden z. B. Produkte der vor Strömen und Seen . . . Brikettfabrik Sonne in Großräschen bis 1990 zu fast Ja, Achtung vor der Natur — genau das lassen Sie 100 % auf der Schiene transportiert. Heute sind es vermissen. gerade einmal 40 bis 50 %. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Warum werden Waren des täglichen Bedarfs über (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Hunderte von Kilometern aus den alten in die neuen Bundesländer gekarrt? Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Klaus-Dieter Feige. Fragen über Fragen!) Hier entsteht nicht nur zusätzlicher unsinniger Ver- Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kehr; gleichzeitig werden regionale Wirtschaftskreis- NEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen läufe im Osten zerstört und Arbeitsplätze massenhaft vernichtet. und Herren! Angesichts dieser großen Harmonie wagt man ja gar nicht mehr, so richtig draufzuhauen. Das Warum entstehen verkehrserzeugende Gewerbe- Grobe hat Frau Enkelmann jetzt schon besorgt. Ich gebiete, Baumärkte, Supermärkte etc. auf der grünen denke, es sollte vielleicht angesichts der lockeren Wiese außerhalb der Ortschaften? Atmosphäre — keiner wagt ja, laut zu sprechen, weil Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16785

Dr. Klaus-Dieter Feige jeder Angst davor hat, daß wieder alle Mikrophone dung angeboten wurde, war schon ziemlich bezeich- ausfallen — darüber nachgedacht werden, ob in nend. Es wurde allen Ernstes behauptet, daß eine unserem Haushalt auch Aufträge für die Firma Sie- Verbandsbeteiligung z. B., die ja bei uns demokra- mens dabei sind, die die Verkehrsleittechnik oder so tisch vorgeschrieben ist, in einer Dauer von ganzen etwas in Gang setzen soll. Man sollte einmal darüber 14 Tagen ausreichend ist, um eine wirklich sachliche nachdenken, ob man die Aufträge noch an diese und fachliche Beurteilung, so wie sie das Gesetz Firma vergeben kann. vorschreibt, zu ermöglichen. Damit sind nicht etwa nur die 800 Seiten gemeint, die all meinen Kollegen (Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS/Linke vorliegen Liste] — Zuruf von der CDU/CSU: Wenn der Architekt Schmarrn baut, kann die Firma (Ernst Waltemathe [SPD]: Die haben alle Siemens nichts dazu!) gelesen!) Angesichts dieser großen Koalition ist es für mich als — wir müssen ja wahrscheinlich in zwei Wochen Nichthaushälter ein bißchen schwierig. Ich möchte gründlich darüber sprechen —, sondern es waren also heute gar nicht groß auf Zahlen eingehen. Ich mehrere dicke, dicke Ordner, die dort durchzuarbei- habe es mir vielleicht einfach gemacht und greife einmal ein Beispiel dessen heraus, was gebaut werden ten waren. Das ist also die „Gewissenhaftigkeit", mit der wir solch einen Plan vorbereiten. soll, und zeige Ihnen, auf wie typische Weise dort diese Politik gemacht wird. Es traten dann die Vertreter der betroffenen Kom- Angesichts der Arbeit in den Fachausschüssen zu munen auf, auch die der Stadt Wismar, und forderten diesem Haushalt muß ich sagen, daß ich bei der eine Entlastung von dem Durchgangsverkehr in der Diskussion des Bundesverkehrswegeplanes vor we- Stadt Wismar. Das kann ich natürlich verstehen. Daß nigen Wochen die Hoffnung schon fast aufgegeben es aber gleich eine Autobahn sein muß, die m an als habe, daß sich der Block — so sage ich es einmal — der Entlastungsstrecke haben will, ist dann schon weni- Koalitionsdisziplin auch nur um einen Millimeter ger verständlich. Man tut ja manchmal so — das war verschieben läßt. Ich hatte schon beinahe auch heute auch in dieser Beratung zu hören —, als hätten wir das bei dieser Debatte der eitlen Harmonie Sorge, daß es Geld wirklich im Überfluß. In der Beratung zum sich überhaupt nicht mehr lohnt, über Änderungen - Haushalt sind nämlich gerade die Projekte, die Umge- oder Wünsche zu sprechen. hungsstraßen und damit eine Entlastung bringen sollen — so borniert bin ich nicht, daß ich nicht wüßte, (Ernst Waltemathe [SPD]: Aber selbstver- daß wir sie auch in den neuen Ländern brauchen —, ständlich!) abgelehnt worden, weil das Geld nicht mehr da Nun hat aber der Bundeskanzler selbst in der war. gestrigen Debatte z. B. den Herrn Heitmann so sehr verteidigt, daß man meinen könnte, eher würde er Auf die Frage nach der Wirtschaftsverträglichkeit zurücktreten, als daß er Heitmann fallenläßt. Nun ist der A 20 bekommt man dann zu hören, insbesondere das aber auch alles wieder Schnee von gestern, oder von den Einwohnern von Wismar, daß sie eigentlich besser: von heute früh. Ich muß vielleicht in Erinne- die Nord - Süd - Anbindung brauchen, also gar nicht rung rufen: Andererseits hat der Bundeskanzler diese Autobahn. Sie wollen die Nord-Süd-Anbin- gestern als einziges Maßnahmeprojekt der Serie dung; die ist für Wismar viel wichtiger. Wenn Sie dann „Deutsche Einheit" die A 20, die Ostseeautobahn, noch weiter nach Osten kommen, nach Mecklenburg hervorgehoben und verteidigt. Vorpommern, — — (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Es (Zuruf von der CDU/CSU) kann doch nicht jeder feige sein!) — Nein, ich will Ihnen einfach nur die Argumentation Da ihm offenbar zur Zeit alles, was er ankündigt und wie einen Spiegel hinhalten. verteidigt, in die Hose geht, habe ich die Hoffnung bezüglich des Planes der A 20 nicht aufgegeben und In Mecklenburg-Vorpommern wird gesagt: Wir sind möchte dies heute als Beispiel nehmen und Ihre Politik als Rostocker froh, daß wir die Nord-Süd-Anbindung ein bißchen, auch im Spiegel dieses Haushalts, her- haben. Die A 20, die uns die Warenströme bis nach ausheben. Stettin bringen wird, ist für uns verhängnisvoll. Die Stadt Rostock und die Hafenbetriebe werden Arbeits- So haben z. B. die Berichterstatter zu diesem Projekt plätze verlieren, weil in Stettin — diese Fahrtstrecke vor wenigen Tagen eine Vor-Ort-Reise nach Wismar ist dann kein Problem mehr — genau das eintreten gemacht, um sich in einer be troffenen Region einmal wird, daß unsere Häfen mit Dumpingpreisen geschä- über die Auswirkungen unserer haushaltspolitischen digt werden. Entscheidungen ein Bild zu machen. Es ist schon makaber, daß die Anreise eines Teils der Kollegen Damit kann ich mich als Mecklenburg-Vorpommer nach Wismar mit dem Hubschrauber erfolgte. Das nicht abfinden. Das wird noch viel komplizierter geschah mit dem Argument, daß man auf den Auto- werden. Denn ich sehe auch schon die Schlagzeilen, bahnen wegen der vielen Staus vielleicht nicht recht- die dann heißen: Dumpingpreise der polnischen zeitig nach Wismar käme. Hafenbetriebe fressen unsere Arbeitsplätze. Die (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Deshalb sollen Autobahn wird also nicht nur Arbeitsplätze kosten, sie sie gebaut werden!) wird meines Erachtens leider auch Fremdenhaß schü- ren helfen. Das ist symptomatisch für viele dieser Planungsvor- bereitungen. Denn was uns vor Ort an Wahrheitsfin- (Widerspruch bei der CDU/CSU) 16786 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Klaus-Dieter Feige — Das ist doch heute so. Schauen Sie sich doch bitte Stau stecken, weil sie die Zuwachsraten sehen, mit alle Ursachen an, sie liegen ausdrücklich im wirt- Taten oder mit Rhetorik reagieren. schaftlichen Bereich. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Nun gut, sagt manch einer, die Autobahn bringt uns natürlich auch Vorteile und Arbeitsplätze. Ich werde Ich sehe hier — ich sage das ausdrücklich auch für den das heute sicher wieder hören. Es müßte Ihnen jedoch Kollegen Waltemathe —, daß wir bei allen Unterschie- spätestens seit den 30er Jahren klar sein, daß das den, die natürlich bleiben und die wir nicht kosme- damals schon ein Flop war und nicht hingehauen tisch wegretuschieren, das gemeinsame Bestreben hat. haben, in der Verkehrspolitik Taten zu setzen, um Man könnte behaupten, vielleicht entwickeln sich damit Glaubwürdigkeit für die Politik zurückzuge- in der Region neue Arbeitsplätze. Aber selbst dort gibt winnen. es keine Belege, die nachweisen, daß dies für unser So gesehen waren die letzten Monate auch d ank der Bundesland einen wirtschaftlichen Vorteil bringt. Ich Arbeit meines Vorgängers von Handlungen gekenn- weiß, daß wir Verkehr und Infrastruktur in diesem zeichnet, die zum Teil weitreichende Wirkungen Bereich brauchen. Aber ich bin inzwischen als haben. Sie sind von den Kollegen erwähnt worden. Umweltpolitiker ein viel besserer — und ich sage: auch ideologiefreier — Rechner geworden und Wir haben nach jahrelangen Verhandlungen in glaube, daß gerade deshalb das Prüfen und das Europa endlich, wenn auch zunächst mit einem Vorlegen von Alternativen mit dem gleichen Effekt bescheidenen Beitrag, die LKW - Vignette durchge- viel, viel billiger hätte vonstatten gehen können. setzt. Ich werde das Abkommen nächste Woche para- phieren können. Was ich bedaure — und das habe ich vor Ort gehört, und zwar immer wieder und sehr deutlich: Ihr habt es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) uns versprochen, nun müßt Ihr auch bauen — ist, daß Wir haben nach jahrelangen Verhandlungen — es ein reines Prestigeobjekt ist. Frau Enkelmann hat viereinhalb Jahre ist darüber gestritten worden, und schon gesagt, daß nur in diesen Vierjahrestakten, von ich will die Beiträge der Kollegen aus allen Fraktionen Wahl zu Wahl gedacht wird. dazu ausdrücklich hervorheben — endlich ein Ergeb- Ich muß Ihnen sagen: Ich liebe mein Bundesland. nis bei den deutsch - amerikanischen Luftverkehrs- Ich möchte, daß die Menschen dort bleiben und Arbeit verhandlungen erreicht, das nicht nur den amerikani- finden und daß sie die Arbeit dort behalten. schen Gesellschaften Rechte auf deutschem, sondern auch den deutschen Gesellschaften gleichgewichtige Vizepräsident Hans Klein: Herr Feige, Sie sind Rechte auf amerikanischem Boden gibt, und das damit schon über die Zeit. der Lufthansa die Zusammenarbeit mit United Air- lines ermöglicht und damit eine s trategische Koopera- Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tion, die auch die Voraussetzung dafür ist, daß die NEN): Mit diesem Satz wollte ich schließen. Lufthansa wirklich eine Privatisierungsperspektive (Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!) bekommt. Weil ich mein Land mag, möchte ich Sie bitten, genau (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) in diesem Falle, beim Projekt der A 20, noch einmal nachzudenken und deutliche Korrekturen anzuset- Insofern ist dies ein wichtiger Fortschritt in einem zen. Unternehmen, wo Mitarbeiter und Management gewaltige Anpassungsleistungen in diesen Jahren Nun muß ich fragen: Würden Sie jemandem, der erbringen. Ihnen einen solchen Plan vorlegt, ein Auto abkaufen? Sie wären sehr vorsichtig. Würden Sie ihm gar einen Wir haben drittens nach den schwierigen Verhand- Haushaltsplan abnehmen? Da ich vermute, daß alle lungen, die Sie alle kennen, Dank der Mitarbeit vieler, anderen Projekte mit der gleichen Gründlichkeit und endlich auch für Westdeutschland die notwendige Demokratie — oder Nichtdemokratie — geplant wur- Planungsvereinfachung erreicht. Das Planungsver- den, muß ich Ihnen sagen, können wir diesen Haus- einfachungsgesetz kann in Kraft treten; denn, meine halt nicht unterstützen. Damen und Herren, wenn ich bei einer Streckeneröff- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei nung — es wird Ihnen ähnlich gehen —, bei einer Abgeordneten der SPD) S-Bahnstrecke Stuttgart-Stuttgart/Flughafen, erlebe, daß mir gesagt wird: Die erste Idee zu dem Projekt Ich erteile dem Bundes- kam aus dem Jahre 1968; der erste Zug fährt dann Vizepräsident Hans Klein: schließlich im Frühjahr 1993, dann sage ich: Das sind minister für Verkehr, unserem Kollegen Matthias Zeiten für Planung und Bau wie in einem Industrie- Wissmann, das Wort. museum, aber nicht wie in einem modernen Industrie- staat. Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) empfinde die Tonlage dieser Debatte auch deswegen Das mußte und das wird sich ändern. als erfreulich, weil ich glaube, wir werden am Ende — das gilt auch für andere Politikfelder, aber es gilt vor Wir sind schließlich viertens dabei, gemeinsam die allem für die Verkehrspolitik — nicht an der Schärfe Bahnreform durchzusetzen. Sie ist, das schrieb mir in unserer Reden gemessen, sondern daran, ob wir in diesen Tagen als Antwort auf den B rief zum 90. Ge- einer verkehrspolitischen Situation, in der die Bürger burtstag der frühere Präsident der Bundesbahn, Pro- spüren, wie schwierig sie zunehmend wird, weil sie im fessor Oftering, eigentlich seit 30 Jahren überfällig. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16787

Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, der der mit Kompetenz und mit Entschiedenheit dieses Kollege Urbaniak findet es richtig — trotz aller Hin- Projekt in seiner Fraktion vertreten hat. weise, daß wir das System jetzt nicht beschweren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wollen —, eine Frage zu stellen. Gestatten Sie das? Ich finde, es gehört nicht zur Courtoisie, sondern zum selbstverständlichen Respekt unter Kollegen, daß Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: man so etwas auch einmal öffentlich in einer Haus- Aber selbstverständlich. haltsdebatte sagt. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Minister, der Kollegen, ich nenne die vielen anderen, die als Präsident hat aber gesagt: Von hier aus geht es, und Berichterstatter mitwirken. Ich bin dafür ausdrücklich man würde das System nicht belasten. dankbar. Ich danke auch den Berichterstattern des (Zuruf von der CDU/CSU: Frage stellen!) Haushaltsausschusses, Herrn Waltemathe, Herrn Kol- legen Bohlsen, Herrn Kollegen Zywietz für diese Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß es Vorgänge sachliche Art, in der sie an den Haushalt herange- bei dem Bau von S-Bahnen gibt, die bis heute noch hen. nicht realisiert sind und deren Ideen oder Vertragsent- würfe bereits im Jahre 1965 zum Abschluß gebracht Trotzdem, Herr Kollege Waltemathe, muß ich Ihnen worden sind? sagen: Sie irren sich in einem Punkt, wenn Sie nämlich behaupten, wir würden in diesem Haushalt eine (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: falsche Prioritätensetzung vornehmen. Vom gesam- Die Pläne für die Mondlandung waren ten Investitionsvolumen sind 1994 rund 10 Milliarden 300 Jahre alt!) DM für die Bahn und 8,7 Milliarden DM für die Fernstraßen sowie rund 1 Milliarde für die Wasserstra- Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: ßen vorgesehen. Ich glaube, das Gewicht stimmt Herr Urbaniak, natürlich sind mir solche Fälle ökonomisch und ökologisch. bekannt. Mir sind auch Fälle, nicht zuletzt aus Ihrer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Region, bekannt, wo noch 1988 der regionale Ver- kehrsverbund die Notwendigkeit bestimmter Strek- Die Balance, meine ich, müssen wir gemeinsam ken ausdrücklich bestritten hat. Trotzdem sage ich: immer wieder finden. Das Bundesverkehrsministerium ist jederzeit bereit, Wenn Sie zu Recht die Frage nach der Entwicklung immer wieder den Sinn und die Wi rtschaftlichkeit der Binnenwasserstraßen stellen, solcher Strecken zu untersuchen, aber wir werden uns (Zuruf von der SPD: Von den Fahrwegen!) natürlich nicht über regional Verantwortliche hin- wegsetzen, sondern mit ihnen zusammen vernünftige dann sage ich: In dem im Sommer verabschiedeten S-Bahnkonzepte entwickeln, und das liegt sicher auch ersten gesamtdeutschen Bundesverkehrswegeplan in Ihrem Interesse. für die nächsten 20 Jahre geben wir 47 % für die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Schiene, 46 % für die Straße und rund 7 % für die Binnenwasserstraßen aus, mehr als je zuvor in der Aber lassen Sie mich, meine Damen und Herren, Nachkriegsgeschichte. liebe Kolleginnen und Kollegen, zu dem Thema Bahnreform zurückkehren. Hier haben wir gemein- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sam in den letzten Monaten — seit fünf Monaten wird Ich will diese Linie auch ausdrücklich weiterverfol- verhandelt — ein Konzept so weit ge trieben, daß wir gen. Ich will sie weiterverfolgen unter Wahrung aller sagen können: Alle großen Fraktionen des Bundesta- ökologischen Aspekte, die auch beim Binnenwasser- ges wollen die Bahnreform, wollen die Befreiung von straßenbau zu beachten sind. der Behördenstruktur, wollen die Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs, wollen die Ent- Wir haben uns jetzt mit der Bayerischen Staatsre- schuldung von Bundesbahn und Reichsbahn, wollen gierung darüber verständigt, daß wir bei dem notwen- die Öffnung des Schienennetzes für Dritte. digen Ausbau der Donau, um Mittel-, Ost- und Süd- osteuropa zu erschließen, alle Methoden, auch die Meine Damen und Herren, ich finde, es schadet den Ogris-Methode, einer ernsthaften Untersuchung un- großen Gruppierungen dieses Hauses nicht, sondern terziehen werden, bevor wir im Raumordnungsver- es nützt ihrem Ansehen, wenn sie für eine große fahren weitergehen und es zum Abschluß bringen. Bei gemeinsame Reform auch gemeinsam eintreten und uns gibt es keine Betonkopfmentalität, aber es gibt sie nicht in der Diskussion zerreden lassen. sehr wohl das Vertreten notwendiger Ausbauziele (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit. Denn wir SPD) bewältigen die Verkehrsströme der Zukunft nicht Natürlich werden wir erst in der nächsten Woche ohne den Mut, — ich hoffe, dann endgültig — das grüne Licht einer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Zweidrittelmehrheit der Länder haben und dann ver- tieft diskutieren. Aber ich darf schon heute all denen, uns auch für notwendige große Verkehrsvorhaben die an dieser Arbeit mitgeholfen haben, sagen: Allen hinzustellen. Fraktionen will ich ausdrücklich danken — gerade Herr Kollege Dr. Feige, auch wenn es Ihnen nicht auch den Sprechern Dirk Fischer und Ekkehard Gries. gefällt — ich respektiere natürlich Ihre andere Mei- Aber ich nenne auch ausdrücklich — obwohl dies im nung —, sage ich nach einer sorgfältigen Abwägung Bundestag nicht so üblich ist — Klaus Daubertshäuser, auch mit Betroffenen aus der Region ausdrücklich: Wir 16788 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Bundesminister Matthias Wissmann können es uns nicht erlauben, ein von seiner geogra- Meine Damen und Herren, das hört niemand gern, phischen Lage her so an den Rand der Republik ich weiß das sehr wohl. Aber als wir zu der Mittelkür- gedrücktes wichtiges Bundesland wie Mecklenburg- zung von 1,2 Milliarden DM gegenüber der mittelfri- Vorpommern weiterhin nicht verkehrspolitisch zu stigen Finanzplanung gezwungen waren — kein erschließen, Wunsch des Verkehrsministers, aber eine finanzpoli- tische Notwendigkeit! —, haben wir die klare Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) scheidung ge troffen: keine Kürzungen in Ostdeutsch- sondern wir müssen alles daran setzen, daß auch land, Fortfahren der Verkehrsprojekte Deutsche Ein- Straßenanbindungen, also auch die A 20, möglich heit! werden, um dieser Region auch eine wirtschaftliche (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Perspektive zu geben. Ich glaube, diese Entscheidung war gesamtstaatlich, (Zuruf von der F.D.P.: Wir sind nicht feige!) gesamtwirtschaftlich und verkehrspolitisch richtig. Deswegen die bittere Wahrheit als Folge, daß wir zwar Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, das merke in Westdeutschland selbstverständlich weiter Stra- ich, seit ich Bundesverkehrsminister bin, natürlich ßenbau betreiben, aber daß wir manches später noch mehr als vorher, als ich mich zwar mit Verkehrs- beginnen müssen, als wir es gern hätten beginnen politik beschäftigt habe, sie aber nicht im einzigen wollen. Ich glaube, das werden letztlich auch die Vordergrund meiner täglichen Parlamentsarbeit Bürger akzeptieren. stand. Wir haben in der Verkehrspolitik mehr als in anderen Bereichen — vielleicht nicht zwischen den Meine Damen und Herren, mir kommt es in der großen Fraktionen und in der Koalition, aber sonst in Verkehrspolitik aber darauf an, daß wir den Blick über der Öffentlichkeit — manchmal stärker als sonstwo den Tag hinaus wenden, daß wir erkennen, daß wir im mit ideologischen Vorurteilen zu tun. Da gibt es den Grunde genommen in der Verkehrspolitik drei Steue- einen oder anderen Autofanatiker, der sich nicht rungsinstrumente als Optionen haben: Gebote und vorstellen kann, daß es auch im Interesse des Auto- Verbote, den Weg über den Preis als Signal, um fahrens ist, wenn m an Verkehr auf die Schiene verla- Menschen zu einem ökologisch und ökonomisch ver- gert, den öffentlichen Nahverkehr attraktiver macht, nünftigen Handeln zu bringen, und den Einsatz den Schienenpersonennahverkehr ausbaut, die Bahn moderner Verkehrstechnologien. modernisiert und damit die Schiene stärkt. Ich sage ganz eindeutig: Wo immer ich kann, werde Da gibt es aber auch den einen oder anderen ich den Weg der Gebote und Verbote vermeiden. Das heißt aber auch, daß wir den Preis als Signal zur (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Verkehrssteuerung, auch zu einer begrenzten Ver- Radfahrer!) teuerung des Straßenverkehrs, nutzen müssen, was in einer Ökonische, der sich nicht vorstellen kann, daß wir mit der Mineralölsteuererhöhung, die keiner von man in einem modernen Industrieland, in dem jeder uns gern durchsetzt, tun, und daß wir moderne Ver- sechste Arbeitsplatz vom Automobil abhängig ist, eine kehrstechnologien zur Verkehrsverlagerung besser autofeindliche Politik nicht verantworten kann. als bisher in den Dienst einer Zukunftsstrategie stellen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deswegen haben wir in diesen Monaten als erstes Ich glaube, die Aufgabe des Verkehrsministers ist es europäisches Verkehrsministerium ein Konzept zum nicht, irgendeiner dieser Gruppen nach dem Munde Einsatz moderner Verkehrstechnologien, zur Tele- zu reden, sondern sich zwischen solchen ex tremen matik, erarbeitet. Wir wollen dafür in den nächsten Anschauungen und Vorurteilen die Gasse zu bahnen zwei Jahrzehnten rund 6 Milliarden DM einsetzen. zu einer klaren, auf die Zukunft ausgerichteten und Denn, meine Damen und Herren, wenn 40 % des nicht von Reden, sondern von Taten geprägten Ver- Großstadtverkehrs parkplatzsuchender Verkehr sind, kehrspolitik. wenn 30 % des Güterverkehrs Leerverkehr sind, dann muß es uns darum gehen, mit dem Einsatz von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Information und Technologie solch unnötigen Ver- Genau das ist mein Ziel. kehr zu verringern und zu vermeiden Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Kollegen, das schließt auch die Notwendigkeit ein, sowie bei Abgeordneten der SPD) unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Ich und damit besser als bisher Verkehrsprobleme der glaube, das geht uns allen so. Vertrauen bei den Zukunft zu lösen. Bürgern gewinnen wir nicht zurück, wenn wir jedem sagen, was er gerne hören will. Vertrauen bei den Ich möchte allen danken, den Berichterstattern, den Bürgern gewinnen wir zurück, wenn wir ihnen auch Sprechern, nicht zuletzt auch den tüchtigen Beamten die unangenehmen Wahrheiten nicht ersparen. Und des Bundesverkehrsministeriums, die uns in einer wer etwa den Ausbau der Verkehrswege in Ost- solchen Zeit harter Arbeit massiv unterstützt haben. deutschland stärken will, die Verkehrsprojekte Deut- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sche Einheit trotz knapperer Kassen durchsetzen will — und ich glaube, das wollen wir letztlich gemein- Ich glaube, heute haben wir in der Öffentlichkeit ein sam —, der kommt nicht darum herum, einige Stra- breiteres Bewußtsein für eine Verkehrspolitik, die ßenprojekte in Westdeutschland, so wünschenswert nicht den vordergründigen Beifall sucht, sondern die sie sind, im Bau später beginnen zu lassen, als die Kraft zu den notwendigen Entscheidungen hat. ursprünglich vorgesehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16789

Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- angesprochen habe, aber nun noch einmal aufgreifen che. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- möchte. plan 12 — Bundesministerium für Verkehr — in der Wir haben unter den Kollegen in Erfahrung bringen Ausschußfassung. Wer stimmt für den Einzelplan 12? können — es haben uns viele Briefe erreicht —, daß — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der die Schließung der Postämter bei sehr vielen Bürgern Stimme? — Der Einzelplan 12 ist angenommen. und Kollegen außerordentlich großen Ärger verur- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, so sehr sacht hat. Ich will nicht noch einmal auf das Thema ich im einzelnen Ihren Weggang bedauere, bitte ich eingehen; denn darüber habe ich bereits gesprochen. Sie doch, ihn schnell zu vollziehen; denn ich möchte Ich möchte aber den Eindruck wiedergeben, den viele gern den nächsten Einzelplan aufrufen: Bürger haben. Viele Bürger setzen die zu erwartende Postreform II mit einer Privatisierung gleich und Einzelplan 13 befürchten, daß sie mit der Einschränkung von Dienst- Bundesministerium für Post und Telekommu- leistungen einhergeht. nikation (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke — Drucksachen 12/6013, 12/6030 — Liste]) Berichterstattung: Insofern bestätige ich das, was ich auch beim Abgeordnete M anfred Kolbe letztenmal sagte. Das Postunternehmen hat sich in der Werner Zywietz Beziehung einen Bärendienst erwiesen. Es hätte Rudi Walther (Zierenberg) anders, sensibler, mit den Interessen der Bürger Ich sehe keinen der Berichterstatter. umgegangen werden sollen. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Ähnliches gilt für das Briefkonzept, welches zum Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen 1. April 1993 eingeführt wurde. Auch hierbei waren erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist mangelnde Aufklärung und mangelnde Berücksichti- das so beschlossen. gung von Kundeninteressen zu beklagen. Beim Bür- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem ger war der Eindruck entstanden, daß ein Monopolun- Kollegen Arne Börnsen. ternehmen seine Preise erhöht. (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]) Arne Börnsen (Ritterhude) (SPD): Herr Präsident! Dies war dem Unternehmen abträglich. Meine Damen und Herren! Der Einzelplan 13 gibt Reklamation von Telefonrechnun- hinsichtlich der nackten Haushaltszahlen in der Regel Ein Hinweis zur es sind immerhin 430 000 im Jahr. Wir haben den nicht allzuviel her. Ich will mich auch nicht auf Zahlen gen; Eindruck, daß das Unternehmen Telekom bei der beziehen, sondern auf einen Titel des Einzelplans 13, Einrichtung objektiver Gebührenzähler doch etwas nämlich die Bundesdruckerei. schwerfällig vorgeht. Ich sage aber auch, daß die Die Bundesdruckerei soll zu einer GmbH umge- Einführung — dafür werden wir auch selber sorgen wandelt werden. Das halten auch wir für richtig. Ich müssen — eines Einzelgebührennachweises überfäl- möchte Sie, Herr Bundesminister, aber herzlich bitten, lig ist. diesen Start der Bundesdruckerei in der neuen Rechtsform nicht mit betriebsbedingten Kündigungen Nächster kurzer Unterpunkt ist die Breitbandverka- zu belasten, sondern Sie bitten, alles zu tun, damit der belung. Mit der Entscheidung von 1982 für die Kup- notwendige Personalabbau sozialverträglich durch- ferverkabelung, meine Damen und Herren, ist eine geführt werden kann und nicht zu Lasten der betrof- Technologiebremse eingeführt worden. In der Spät- fenen Kollegen geht. phase der Koax-Technik wurde mit massiven Investi- tionen in dieses Geschäft eingestiegen — mit dem (Beifall bei der SPD) Ergebnis enormer Verluste bis heute, aber auch mit Meine Damen und Herren, es wäre sehr attraktiv dem Ergebnis, daß für die notwendigen technischen und auch verführerisch, heute abend über die Postre- Innovationen, auf die wir heute angewiesen sind, form II zu sprechen, aber ich möchte die letzten nicht das notwendige Kapital zur Verfügung steht. Besprechungen und Gespräche dazu nicht stören. Ich Insbesondere gilt dies für die Glasfasertechnik und die will der Hoffnung Ausdruck geben, daß wir hier — bei Optoelektronik. einer funktionierenden Lautsprecheranlage — im Meine Damen und Herren, in den neuen Bundes- Januar die Einbringung der entsprechenden Gesetze ländern ist die Telekom eine Zusammenarbeit mit diskutieren können. D ann werden wir uns auch über US - Unternehmen eingegangen. Grundsätzlich ist die Inhalte auseinandersetzen können. Ich möchte eine solche internationale Zusammenarbeit zu begrü- heute nur am Rande dazu Stellung nehmen und auf ßen. Es muß aber nach meiner Ansicht gerade, wenn die Einzelheiten verständlicherweise nicht einge- es sich um Zukunftstechnologien h andelt, geprüft hen. werden, ob diese Unternehmen denn auch in Deutsch- Der Blick auf Unzulänglichkeiten, die im betriebli- land Wertschöpfung verursachen oder ob wir mit einer chen Ablauf der Bundespostunternehmen festzustel- solchen Auftragsvergabe durch die Telekom die Wett- len sind, muß — auch wenn es nichts mit der Reform zu bewerbsfähigkeit der US-Indus trie stärken und tun hat — hier doch zur Sprache kommen. unsere eigene belasten. Ich möchte einige Beispiele nennen, meine Damen Bedenklich, meine Damen und Herren, ist der und Herren, die ich schon beim letztenmal teilweise Ausbildungsstopp bei der Telekom, insbesondere 16790 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Arne Börnsen (Ritterhude) beim Kommunikationselektroniker. Dafür mag es nahezu unbekannt. Heute gehört er sogar bei Abge- einige Gründe geben; aber angesichts der aktuellen ordneten zur Selbstverständlichkeit. Und das will Situation am Arbeits- und Ausbildungsmarkt halte ich etwas heißen. Vier Jahre später, als Präsident Bush eine solche Entscheidung, auch wenn sie auf nur ein gewählt wurde, stritten wir uns hier im Hause um die Jahr befristet gefällt wird, für nicht zuträglich und für Einführung des Wettbewerbs beim Mobilfunk. Wir nicht akzeptabel. Wir werden dies im Ausschuß ent- lagen damals falsch, das will ich gar nicht bestreiten; sprechend beraten und behalten uns weitere Schritte denn heute, fünf oder sechs Jahre später, muß man vor. feststellen, daß dieser Markt, der Mobilfunkmarkt, boomt und die Zuwachsraten auch in der Zukunft Pikant ist, daß die Postbank — um auch diesen noch enorm sein werden, wenn wir die Marktdurch- Bereich zu nennen — über das Angebot von Invest- dringung in Deutschland beispielsweise mit der in mentfonds versucht, Kunden in Luxemburg zu gewin- England oder in Schweden vergleichen. nen, die von der Waigelschen Zinsabschlagsteuer aus Deutschland vertrieben wurden. Das ist ein ganz Wenn ich eben diese selbstkritische Bemerkung pikantes Aperçu auf dem Wege der Postbank zur machte, möchte ich auch fragen: Wo sind eigentlich Privatisierung. die deutschen Anbieter von Mobilfunkgeräten? Wo sind die eigentlich? Wir haben im wesentlichen drei (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Firmen, die den Markt unter sich aufteilen. Das sind Liste]) Motorola, eine Firma, die immerhin noch eine Produk- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum tion in Flensburg hat, Nokia und Ericson. Wo sind die Hauptpunkt kommen. Die Diskussion in Deutschland deutschen Anbieter? konzentriert sich seit nunmehr zweieinhalb Jahren Es ergibt sich die Frage — nachher komme ich noch auf die Postreform II, und man muß nach diesem einmal auf Schweden zu sprechen —: Wie ist eigent- Zeitraum zumindest kritisch feststellen, daß diese lich das Verständnis von Industriepolitik? So, wie der Diskussion oftmals vergangenheitsbezogen und rück- Wirtschaftsminister es heute dargestellt hat, ist es wärtsgewandt ist und daß damit verbunden die bestimmt nicht. Man muß analysieren, wo sich Märkte Gefahr besteht, daß Zukunftschancen verloren entwickeln, wo sich neue Produktionsnischen eröff- gehen. nen und wo man die Industrie entsprechend drängen In Deutschland ist es manchmal recht schwer, sich kann, tätig zu werden. Das ist in Schweden mit E ricson auch in der Politik darüber klar zu werden und andere geschehen, und diese Initiativen vermissen wir hier in zu der Erkenntnis zu bringen, daß die Telekommuni- Deutschland. Das verstehen wir u. a. unter Industrie- kation der Markt der Zukunft ist. Der Umsatz in der politik. Europäischen Union betrug im Telekommunikations- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) markt 1990 180 Milliarden DM und wird von der Meine Damen und Herren, Mobilfunk ist ein Punkt Europäischen Kommission für 2010 auf 650 Milliarden aus der Gegenwart; die Zukunft läuft unter dem Motto DM geschätzt — eine Steigerung von 180 Milliarden „Multimediale Kommunikation". Ich weiß, jetzt auf 650 Milliarden DM. eröffne ich ein Feld, welches nicht gerade attraktiv ist, Die Beschäftigtenzahl ist zwar nicht wesentlich aber ich tue es gerade deswegen, weil ich meine, daß angestiegen, aber im Gegensatz zu anderen Berei- dort so gewaltige Chancen liegen; darüber muß auch chen, wo die Beschäftigtenzahlen erheblich zurück- hier im Parlament einmal gesprochen werden. gegangen sind, hat man hier immer noch eine Steige- Nach einer Pressemeldung der Telekom vom 1. Juli rung von 1,8 Millionen auf 1,9 Millionen Beschäf- 1993 möchte ich wie folgt zitieren: tigte. Der weltweiten Bedeutung der Multimedia-Kom- Gerade nach dem Einzelplan, den wir vorher disku- munikation trägt auch die Telekom verstärkt tiert haben, möchte ich wiederum daran erinnern, daß Rechnung. Im französischen La Napoule hob das auch von der EG-Kommission behauptet wird, im Bonner Telekommunikationsunternehmen aus Jahre 2000 werde die Telekommunikationsindustrie diesem Grund zusammen mit BT, die Bedeutung erlangen, die heute die Automobilin- dustrie hat. Da ist es auch eine Forderung an uns — British Telecom — selbst, angesichts der heutigen Krise in der Automo- Telecom, Northern Telecom, IBM Coope- bilindustrie alles zu tun, um zu verhindern, daß eine France tion, Intel Corporation und Telstra Corporation ähnliche Entwicklung bei der Telekommunikations- ra timedia Communica industrie in Deutschland eintritt. Ltd. die „Mul tion Commu- nity of Interest (MCCOI) aus der Taufe. Im Gegenteil, wir sind aufgefordert, gerade ange- Es ist wieder die breite Beteiligung deutscher Indu- sichts der Situation am Arbeitsmarkt die Beschäfti- strieunternehmen festzustellen. gungschancen, die mit neuen Technologien im Bereich der Telekommunikation verbunden sind, tat- Was ist Multimedia? — Man versteht darunter die sächlich zu nutzen. Wir müssen dabei feststellen, daß Anwendungen, die es ermöglichen, Texte, Bilder, die Technologieentwicklung besonders in diesem Grafiken und Bewegtbilder auf einem PC-Bildschirm Bereich von einer dramatischen Geschwindigkeit zu betrachten und in einen Dialog mit anderen Anbie- ist. tern einzutreten. Ich erinnere Sie daran: Als Präsident Reagan zum Multimedia ist ein unscharfer Begriff, der nach den zweitenmal gewählt wurde — es war im Jahr 1984 —, entsprechenden Diensten aufgeschlüsselt werden war der PC, der Personal Computer, am Arbeitsplatz muß. Aber bereits diese wenigen Merkmale deuten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16791

Arne Börnsen (Ritterhude) darauf hin, daß sich die Wirtschaftsabläufe und das Dabei sei es einmal gestattet, die Phantasie ein Informationskonsumverhalten der Menschen ändert bißchen walten zu lassen. Ich glaube, daß mit der und somit neue Bedarfsfelder kreiert werden, vorhan- multimedialen Kommunikation das Bildungswesen dene Prozesse wesentlich effizienter gestaltet werden revolutioniert werden kann, die Lehrer-Schüler- und neue Firmen und Branchen entstehen werden, Beziehung sich auf die direkte Förderung einzelner also die geeigneten Voraussetzungen vorliegen, die Schüler konzentriert — auch Studenten, nicht nur derzeitige Stagnation durch Wirtschaftswachstum in Schiller selbstverständlich —, während in der Ober- den richtigen und zukunftsorientierten Branchen zu stufe vielleicht beginnend, aber mehr noch im berufs- überwinden. bildenden Schulwesen, an Universitäten und im berufsbegleitenden Qualifizierungssystem die PC- Bei der Frage, meine Damen und Herren, ob das gestützte Kommunikation mit Informationssystemen Noch-Staatsunternehmen, die Telekom, diese Ent- und mit Dritten innerhalb von Arbeitsgruppen Norma- wicklung ausreichend berücksichtigt, ist ein eindeuti- lität wird. ges Ja gerechtfertigt. 1988 hat dieses Unternehmen begonnen — mit einer Gesellschaft, die in Berlin Ich glaube, daß im Bereich der Gesundheitsfür- gegründet wurde, der De Te Berkom —, entspre- sorge und der Altersfürsorge bei der Vorsorge- und chende Forschungen vorzunehmen, die heute bis zu Betreuungsfunktion der Mensch nicht etwa durch einem Demonstrationsprojekt, also bis zur Anwen- Technik ersetzt wird, sondern der Einsatz des Men- dungsreife gediehen sind, nämlich dem ATM-Breit- schen sehr viel effizienter gestaltet werden kann. bandprojekt Hamburg-Berlin-Bonn mit dem Ziel Man kann über diese Risiken und Chancen streiten. einer multimedialen Kommunikationsverbindung Aber man muß sich mit ihnen auseinandersetzen, um zwischen Bonn und Berlin. die meines Erachtens nach wahrscheinliche Entwick- lung politisch zu beeinflussen, z. B. durch Organisa- Fazit also: Die Telekom ist auf diese Entwicklung tion eines öffentlichen Dialogs, um die möglichen des Marktes bestens vorbereitet. Zwischenschritte Risiken herauszuarbeiten. Aber wir dürfen dies nicht werden genutzt, z. B. im Bereich der arbeitsplatzbezo- erst übermorgen, sondern müssen es heute tun; denn genen Videokommunikation, und es gibt Anzeichen die Anwendung dieser Technologien kann sehr viel für die technische Entwicklung, die für die Zukunft die schneller möglich sein, als wir uns das vorstellen. - Versorgung mit Geräten wie z. B. einem PC sicher- Diese Technologien dürfen uns in der Politik nicht zur stellt, der mit magneto-optischen Disketten arbeitet Reaktion verführen, sondern wir müssen agieren, und eine wesentlich größere Speicherfähigkeit hat. auch bei der Gestaltung dieser Technologien. Die Optoelektronik ermöglicht zudem den Bau eines Glasfasernetzes nicht nur für überregionale Verbin- Meine Damen und Herren, einen solchen fast tech- dungen, sondern auch bis an das Haus des p rivaten nokratischen Vortrag bei einer Haushaltsdebatte zu Verbrauchers. halten, mögen einige von Ihnen als Zumutung emp- finden. Mögliche Anwendungsgebiete in der Zukunft, (Zuruf von der SPD: Richtig!) meine Damen und Herren, das ist die viel entschei- dendere Frage als die Frage danach, wie denn die — Da hörte ich auch noch „Richtig! " . Ich bin trotzdem technische Situation sich darstellt. Langfristig werden selbstbewußt genug zu sagen: Das ist nicht der Bildkommunikationsanwendungen in Multimedialö- Kern. sungen einmünden, nämlich den Fernzugriff zu Infor- Im Gegenteil: Die Entwicklung der nächsten fünf bis mationsdatenbanken. Es entstehen selbständige In- sieben Jahre kann, wenn wir rückblickend betrach- formationsmärkte mit eigenständigen Dienstlei- ten, wie lange es mit der Einführung des PC gedauert stungszentren; es entstehen neue Formen der Zusam- hat, so entscheidend sein, daß tatsächlich heute menarbeit von Arbeitsteams an unterschiedlichen gehandelt werden muß. Elf Jahre konservativer Orten; es entstehen neue Kooperationsmodelle zwi- Regierungszeit haben den Standort Deutschland an schen Kunden und Lieferanten von der Projektierung Wettbewerbsfähigkeit verlieren lassen, und viele bis zur Bestellabwicklung, und die Entwicklungszy- Menschen haben im Zuge dieser Entwicklung ihren klen bei komplexen Produkten wie z. B. dem Automo- Arbeitsplatz verloren. bil lassen sich wesentlich reduzieren. In der Teleme- dizin werden Röntgenbilder von der Praxis zum Spe- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist zialisten übertragen und gemeinsam analysiert, und richtig!) im privaten Bereich werden TV-Programme nicht nur Die industriepolitischen Weichen, die Anfang der 80er konsumiert, sondern gezielt „on dem and" abgerufen, Jahre gestellt bzw. vernachlässigt wurden, haben wobei ich nun allerdings nicht dem Fehler verfallen diese Entwicklung mit gestärkt. will und auch den Interpreten bitte, diesem Fehler nicht zu verfallen, als sei die multimediale Kommuni- (Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgit kation im wesentlichen auf das Fernsehverhalten zu ter] [SPD]) reduzieren. Das ist tatsächlich ein ganz schmaler Die industriepolitischen Weichen, die heute gestellt Randbereich; auch wenn der Zusammenschluß in werden, entscheiden über die Arbeitsplätze und über Amerika vielleicht andere Vermutungen zuläßt, bin die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Indust rie im ich davon überzeugt. Jahre 2000. (Beifall bei der SPD) Die Frage ist nun, meine Damen und Herren: Gelingt es uns, neue Märkte und neue Beschäfti- Bei allem Verständnis für die Inanspruchnahme des gungspotentiale zu erschließen? Postministers durch die zweite Postreform — bis auf 16792 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Arne Börnsen (Ritterhude) die asymmetrische Regulierung der Telekom und die lage. Vielmehr muß hier ein Projekt auch von der Liberalisierung des Marktes im Vorgriff auf EG- politischen Seite forciert werden, Entscheidungen herrscht dort im Hause meistens (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Funkstille — meine ich doch, daß sich der Postminister mit diesem Thema stärker auseinandersetzen sollte, damit die Gestaltung, die in Berlin neue Chancen um einen öffentlichen Dialog mit anzustoßen, einen eröffnet und auch ein effizienteres Arbeiten ermög- Dialog, der die Indust rie in dem vorhin erwähnten licht, durch entsprechende industriepolitische Beglei- Zusammenhang zwingt, sich damit auseinanderzuset- tung und Entwicklungen hier in Deutschl and realisiert zen sowie Märkte zu analysieren und zu entwik- werden kann. keln. Notwendig wäre eine permanente Begleitung durch den Postminister, durch den Wirtschaftsmini- Gleiches gilt für das BMFT, in dem zwar die ster, sogar durch das Kanzleramt. Informations- und Kommunikationstechnologien ein Arbeitsfeld sind, von dem wir aber nichts über den Meine Damen und Herren, die Zeit ist abgelaufen — weiteren Schritt hin zur Anwendung hören. Ich würde aber nur für diese Rede. Ich fürchte, daß die Bedeu- den Forschungsminister gerne einmal fragen; aber ich tung dieses Themas noch nicht genügend erkannt weiß seinen Namen nicht. worden ist, daß man es noch nicht an die entspre- chende Stelle nach oben auf die Tagesordnung (Widerspruch bei der CDU/CSU — Eduard gesetzt hat. Oswald [CDU/CSU]: Ha, ha, ha! Das macht Ich würde mich freuen, wenn ich das durch diesen man nicht! Das ist unter Ihrem Niveau!) Beitrag vielleicht etwas forciert habe. Ich würde mich — Laßt mich hier doch mal ein paar Scherze machen. noch mehr freuen, wenn die Bundesregierung dieses Ich dachte, der Lautsprecher überträgt das gar nicht; Thema mehr forcieren würde. aber das war doch der Fall. Herzlichen Dank. Schließlich das Wirtschaftsministerium. Nach mei- (Beifall bei der SPD) ner Auffassung, meine Damen und Herren, ist Indu- striepolitik eine Aufgabe des Bundeswirtschaftsmini- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem sters mit dem Ziel, deutsche Unternehmen an der Kollegen Jürgen Timm. Fertigung moderner Produkte teilhaben zu lassen, so wie es die schwedische Regierung, wie vorhin kurz skizziert, im Falle Ericson erfolgreich unternahm. Jürgen Timm (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr Es ist zu fragen, ob dies alles genügend forciert wird, verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und auch wenn es noch keine ausreichend konkreten Kollegen! Daß die deutschen Postunternehmen nicht Zukunftsszenarien, wie ich sie ansprach, gibt. Ich nur in einem gewaltigen Umstrukturierungsprozeß, möchte zum Abschluß ein konkretes Projekt nennen, sondern auch vor der größten Herausforderung ihrer welches uns, weil wir einen Startvorteil haben, die Geschichte stehen und daß wir dabei helfen müssen, Chance gibt, einen Markt zu erschließen und zu ist, glaube ich, allgemeine Erkenntnis. besetzen, nämlich den Kommunikationsverbund zwi- Das, was der Kollege Börnsen zum Schluß gesagt schen Bonn und Berlin. hat, stimmt mich schon beinahe optimistisch. Bloß, immer, wenn wir bisher gedacht haben, wir hätten Bisher wird nach herkömmlichem Denken verfah- eine Kuh vom Eis, war jemand wieder da, der eine ren: Konzentration der Bonner Ministerien an einem neue aufs Eis geführt hat. In diesem Rahmen bewegen Ort in Berlin. Kommunikation findet durch Akten- wir uns leider immer noch. Ich komme noch darauf tran sport statt. Der PC wird bestenfalls als Schreibau- zurück. tomat benutzt. Die Alternative ist der Aufbau eines multimedialen Kommunikationsverbundes zwischen Im Zeitalter der Information und Kommunikation, den Leitungsfunktionen und Stäben der Ministe rien in die gerade in dieser Zeit durch das Aufbrechen Berlin mit Verwaltungseinheiten in Bonn, eine dezen- politischer Machtblöcke einen besonderen Auftrieb trale Anordnung der Ministerien und Ämter in Berlin, und eine besondere Liberalisierung erlangt haben, ist, eine Vernetzung der Häuser in Berlin und Bonn und glaube ich, die Frage, was mit unseren Postunterneh- ein Kommunikationsverbund zwischen beiden Städ- men in der Zukunft geschieht, eine ganz eminente. ten auf einer quasi Datenautobahn. Dies ist keine Unsere Postunternehmen müssen sich ihren Platz Zukunftsmusik, sondern ein konkretes Projekt der im neuen Spiel der Marktkräfte und der Herausforde- Telekom, ihrer De Te Berkom in Berlin. Hier kann rung an Innovation und Technologisierung unverzüg- Anwendung demons triert werden, kann ein Startvor- lich erarbeiten. Sie müssen den neuen Anforderungen teil für die deutsche Dienste- und Industrielandschaft beim Wettbewerb in der Bundesrepublik, in Europa erarbeitet werden. und in der Welt gerecht werden. Sie müssen sich in die Lage versetzen, selber Normen zu setzen, um in Ich fürchte, daß in der Praxis der Umsetzung dieses diesem Wettbewerb zu bestehen. Projektes immer noch schwerfällige Bürokratie und kleinliches Feilschen um die Frage — ich überspitze Die enorme Wiederaufbauleistung der Postunter- das —: Kann's auch eine Leitung weniger sein? im nehmen in den neuen Bundesländern, die Anwen- Vordergrund steht. dung neuester Technologien und die Einführung neuer Organisationsformen wirken sich — das, glaube Das Aushandeln eines Zukunftsprojektes in ge- ich, kann man sagen — durchaus auch jetzt schon schlossenen Amtsstuben ist nicht die richtige Grund- positiv aus. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16793

Jürgen Timm Der erreichte Investitionsschub in ganz Deutsch- hohe Bereitschaft der europäischen und internationa- land z. B. durch die Einrichtung neuer Dienstlei- len Konkurrenz, sich ihren Platz in der Wachstums- stungszentren ist ein weiterer Schritt in die richtige branche „Dienstleistung" zu erkämpfen, zwingen Richtung. dazu, unsere Unternehmen aus der staatlichen Gän- gelung herauszulösen. (Vorsitz : Präsidentin Dr. Rita Süssmuth) Ich stimme Herrn Börnsen zu: Wenn auch die bundes- Wenn sie nicht bald in die Lage versetzt werden, deutsche Industrie eine solche neue Richtung im unter gleichen, ich meine sogar möglichst unter bes- gleichen Sinne einschlagen würde, wäre das sehr seren Bedingungen zu arbeiten wie ihre Konkurren- gut. ten, dann haben sie keine Zukunftschance. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Wer immer von uns heute politische Verantwortung SPD) in diesem Bereich trägt, muß sich darüber im klaren Sicherlich waren nicht alle Entscheidungen in der sein, daß jede Verzögerung, jede noch so geschickt Vergangenheit richtig, aber die jetzt getätigten Maß- gestrickte Mitwirkung des Staates bei unternehmeri- nahmen zeigen deutlich, wie groß der Nachholbedarf scher Leitung der hoffentlich bald installierten aus den letzten Jahrzehnten wirklich war. Aktiengesellschaften eine derartige Beeinflussung des operativen Geschäfts bedeutet, die sich nur nach- Um das Thema Bundesdruckerei aufzugreifen: Wie teilig auf die neuen Unternehmensstrukturen auswir- wohl hätte es uns getan, wenn wir hier schon viel ken kann. früher zu einer Privatisierung gekommen wären! Ich glaube, wir hätten manches, was sich jetzt entwickelt Meines Erachtens muß es völlig ausreichen, allen hat, dadurch verhindern können. späteren Wettbewerbern — natürlich auch den deut- schen Postunternehmen — die gleichen Bedingungen Die Postunternehmen waren dabei, ihren Anschluß zur Einhaltung einer flächendeckenden Infrastruktur an die nachbarlichen Konkurrenten zu verlieren. Bei aufzuerlegen. der bevorstehenden europaweiten Liberalisierung im Bereich der Post- und Telekommunikation ist das Wir sind bei unseren Entscheidungen alle gemein- eigentlich ein schrecklicher Gedanke. sam verpflichtet, den Weg in eine vernünftige Zukunft Ich möchte deswegen die Leistungen der Mitarbei- der Unternehmen zu ebnen und zu gehen, schnell, terinnen und Mitarbeiter der Postunternehmen beim ohne parteipolitische Bedingungen, ohne Brems- Wiederaufbau und der zukunftsweisenden Moderni- klötze falsch verstandener Einflußvorbehalte. sierung in relativ kurzer Zeit besonders hoch einschät- Unsere Verhandlungen zur Postreform II sind noch zen. Die jetzt eingesetzten Mittel sind richtig einge- im Gange, haben sich allerdings bisher vornehmlich setzt, reichen aber noch nicht aus. Deshalb müssen um den organisationspolitischen Teil bewegt. Ich neue Finanzmittel erschlossen werden. denke, das muß jetzt auch schnell ein Ende haben; Genauso müssen verbesserte Betriebsstrukturen denn wenn wir das gemeinsame Ziel erreichen wol- eingeführt werden. Dann kommt es eben zwangsläu- len, im Januar hier schon Gesetzesberatungen zu fig dazu, daß sich der Service in der Fläche auch betreiben, dann müssen wir uns in der nächsten Zeit anpassen muß. unbedingt über den ordnungspolitischen Bereich unterhalten, müssen dort für die Entscheidungen den (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seife rt [PDS/Linke Rahmen genauso abstecken. Liste]) Es ist überall nachzulesen und zu erfahren, daß sich Das vorgelegte Konzept zur Neuorganisation z. B. der die Konkurrenten bereits sammeln. Es sieht fast so Poststellen ist unvermeidlich, genauso wie die Auto- aus, als wenn hier schon Marktaufteilungsstrategien mation zu weniger Personalbedarf führen wird. Wir verfolgt werden. erwarten allerdings und fordern hier auch sinnvolle und verträgliche Durchführung, die aber trotzdem (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist dem betriebswirtschaftlichen Aspekt und auch den wohl wahr!) Erfordernissen der Unternehmen gerecht werden Wenn wir politisch versagen, dann wird das „Fell" der muß. deutschen Postunternehmen in absehbarer Zeit von Mich bedrückt es auch, daß gerade im Bereich der anderen aufgeteilt. Ausbildung erhebliche Probleme auftauchen. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß unsere Postunterneh- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — men in den vergangenen Jahren auch aus politischen Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das kann Gründen und aus, wie ich meine, allgemein gewoll- nicht sein!) tem Verständnis heraus über ihren Bedarf ausgebildet Ich denke, so darf das nicht kommen. haben. Jetzt haben wir ein Problem. Man sieht, man wird immer wieder von den Ereignissen eingeholt. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Bei dem Minister nicht!) Es ist richtig und vernünftig, trotz alledem, daß sich die Politik hier nicht als der bessere Entscheidungs- Ich halte unsere Postunternehmen für stark genug, finder aufspielt. Die Politik ist nicht der beste Unter- sich jeder Wettbewerbssituation zu stellen, wenn wir nehmer. sie nur lassen. Der nächste Schritt in eine neue Zukunft der Post- Ein Wort zu dem, was der Kollege Börnsen über die unternehmen muß jetzt unmittelbar folgen. Der Fall sogenannte konservative Regierungszeit sagte. Kol- der Monopole, die Liberalisierung des Marktes, die lege Börnsen, ich frage: Was ist denn mit der heutigen 16794 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Jürgen Timm sozialdemokratischen Regierungsvision in dieser Beteiligten ist dafür Anerkennung und Dank von Frage? politischer Seite auszusprechen. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Die hatten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die doch noch nie!) Meine Damen und Herren, der Haushalt für das Ich denke, daß für die Postunternehmen das Jahr 1994 Postministerium ist einer der kleinsten Haushalte, die das letzte Haushaltsjahr nach alter Struktur sein muß. in diesen Tagen vom Deutschen Bundestag beraten 1995 wird sich ohnehin etwas ändern, z. B. bei der und verabschiedet werden. Dabei darf natürlich nicht Steuerpflicht. Es ist deshalb notwendig, daß wir noch verschwiegen werden, daß sich hinter diesem Haus- 1994 mit der Gesetzgebung soweit kommen, daß die halt die politische Verantwortung für drei Unterneh- Aktiengesellschaften der Postunternehmen errichtet men verbirgt, die mit einem Geschäftsvolumen von werden können und daß sie im Sinne einer vernünfti- 160 Milliarden DM einen erheblichen Wirtschaftsfak- gen unternehmerischen, tor in der Bundesrepublik Deutschland darstellen. (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seife rt [PDS/Linke Die ganz schwierige finanzielle Situation des Bun- Liste]) deshaushalts und die Notwendigkeit des Sparens gleichzeitig durch die Verfassung geforderten und konnte natürlich auch vor dem Haushaltsplan 13 nicht abgedeckten Infrastruktur arbeiten können. Das dient haltmachen: Die Personalausgaben wurden gesenkt, den Bürgern, das dient den Benutzern unserer Post- die Verwaltungsausgaben gekürzt, die Zuweisungen unternehmen, das dient vor allem aber auch den an internationale Organisationen wurden reduziert, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Postunterneh- und die Investitionen wurden ebenfalls vermindert. men, und das dient unserem Staat. Das Haushaltssoll, das im vergangenen Jahr 549 Mil- (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke lionen DM betrug, wurde im Haushalt 1994 um Liste]) nahezu 17 % gekürzt. Das ist ein gewaltiger Solidari- tätsbeitrag, den das Postministerium gegenüber ande- Denn eines ist klar — auch wenn Sie immer dazwi- ren Haushalten, vor allem dem des Sozialministeri- schenrufen, Herr Kollege —: Wir können uns nicht ums, leistet. erlauben, für die Postunternehmen eine ähnliche Situation heraufzubeschwören, wie das über die Jahr- Respekt und Anerkennung deshalb für Sie, Herr zehnte mit der Deutschen Bundesbahn geschehen Minister Bötsch, ist. (Beifall bei der CDU/CSU: Leider nur die!) Die Unternehmen sind in einem Wachstumsmarkt daß Sie dennoch mit dieser Ihrer Mannschaft gerade tätig. Sie sind ausreichend solvent und ausreichend jetzt in vielen Extrastunden wirklich hervorragende gut ausgerüstet, um im Wettbewerb zu bestehen und Arbeit leisten. die Finanzmittel, die sie brauchen, um Innovationen und Investitionen zu betreiben, durch ihre eigene Zu diesem Haushalt der Solidarität kommt, daß der Aktivität zu erwirtschaften. Das müssen wir erreichen, Bundesfinanzminister 122 Millionen DM mehr an das ist unsere Aufgabe. Davon ist niemand in diesem Ablieferung von der Telekom in seine Kasse erhalten Hause ausgenommen. hat. Es darf hier noch einmal festgehalten werden, daß Vielen Dank. der Bund auch in diesem Jahr, wie schon im vergan- genen Jahr, auf Ablieferungen aus dem Beitrittsgebiet (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) verzichtet. Die Zeichen stehen dennoch auf Sturm. Die Tele- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich erteile jetzt dem kom soll in diesem Jahr 800 Millionen DM an Verlust- Kollegen Elmar Müller das Wort. ausgleich für Postdienst und Postbank bezahlen. Dadurch wird dieses Unternehmen, das seit der Wie- Elmar Müller (Kirchheim) (CDU/CSU): Frau Präsi- dervereinigung mehr als 10 Milliarden DM jährlich in dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren den neuen Bundesländern investiert hat, zum ersten- Kollegen! Kollege Börnsen hat mich nun endgültig mal in die roten Zahlen geraten. von der Postreform überzeugt. Ich versuche im Diese veränderte Situation sollte jeder Abgeordnete Gegenzug, auch seine lichten Reihen von dieser und jeder Bürger vor Augen haben, der in den Maßnahme zu überzeugen. Wenn ich die Abgeordne- vergangenen Wochen kritisiert hat, daß die Deutsche ten abzähle, kann ich nur sagen: O Häuflein klein, Bundespost/Postdienst nicht mehr jede Poststelle auf- verzage nicht! — Wir werden es aber versuchen. rechterhalten kann. Da die Bürger Schalterdienstlei- Meine Damen und Herren, man muß in der stungen allein in den letzten drei Jahren rund ein Geschichte der Deutschen Bundespost weit zurück- Drittel weniger in Anspruch genommen haben, muß schauen, um eine solche Fülle fundamentaler Verän- ein wirtschaftlich denkendes Unternehmen handeln. derungen und Ereignisse in einem so kurzen Zeitraum Wenn Unternehmen, wenn Kommunen ihre Leistun- zu finden, wie wir sie in den vergangenen drei Jahren gen vom Wünschenswerten auf das Erforderliche dieser Legislaturpe riode erlebt haben. reduzieren, dann muß das auch für die gelbe Post gelten. Das zentrale politische Ereignis war das Zusam- menfügen der beiden Postunternehmen in den alten Subventionen — das wissen wir aus anderen Berei- und neuen Bundesländern mit ihren ungeheuren chen leidvoll — haben einen Gewöhnungseffekt und organisatorischen Veränderungen. Man kann heute, verleiten zur Trägheit. Um so erfreulicher ist es, daß nach dreieinhalb Jahren Aufbauarbeit, sagen: Diese wir feststellen dürfen: Alle drei Unternehmen sind große Herausforderung hat die Post bestanden. A llen dabei, Konzepte umzusetzen, die langfristig die Wett- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16795

Elmar Müller (Kirchheim) bewerbsfähigkeit und die Sicherheit der Arbeits- Reihen der Deutschen Postgewerkschaft muß doch plätze ihrer Mitarbeiter gewährleisten: aufgeschreckt worden sein, als er vor wenigen Wochen lesen konnte, daß die US-Telefongesellschaft Die gelbe Post ist dabei, ihr Frachtkonzept und ihr Bell Atlantic für die gigantische Summe von 52 Milli- Briefkonzept mit Milliardeninvestitionen auf die arden DM den größten Kabelfernsehanbieter Ameri- Zukunft auszurichten, um künftig im wachsenden Wettbewerb bestehen zu können. Die Postbank nutzt kas übernommen hat. ihren engen gesetzlichen Rahmen mit neuen Produk- (Beifall bei der CDU/CSU) ten, um im scharfen Wettbewerb der Finanzdienstlei- — Ob das so gut ist, weiß ich nicht. stungen überleben zu können. Wie stranguliert dieses Unternehmen ist, zeigt der Prozeß vor dem Oberlan- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: desgericht Stuttga rt, in dem neun Großbanken dieser War gut vorgetragen! — Heiterkeit) Postbank sogar verbieten möchten, den Postgirokun- Alle Experten sagen voraus, daß von den 150 bedeut- den einen dreimonatigen Überziehungskredit zu samen Telekommunikationsunternehmen der Welt gewähren. Von der Telekom, die ihren Infrastruktur- am Ende dieses Jahrzehnts noch acht bis zehn übrig- auftrag in den neuen Bundesländern mit insgesamt bleiben werden. 60 Milliarden DM verwirklichen wird, habe ich schon gesprochen. Die Deutsche Postgewerkschaft wendet viel Ener- gie auf, um ihre eigene Zukunft zu sichern. Sie sollte Meine Damen und Herren, dies alles zeigt: Die endlich ihre ganze Kraft darauf verwenden, die deutschen Postunternehmen sind im Vergleich zu Zukunft ihrer Mitglieder und damit die der Mitarbei- ihren Wettbewerbern in einem liberalisierten Markt ter der Postunternehmen zu sichern. erschwerten Bedingungen unterworfen. Politische Einflußnahme, eingeschränkte unternehmerische (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Freiheit und fehlende Möglichkeiten sind heute gra- Viele Probleme bei uns, viele Aufgeregtheiten, die vierende Hemmnisse auf dem Weg zu einer leistungs- Orientierungslosigkeit scheinen mir mit dem zusam- fähigen Marktstrategie. menzuhängen, was Hermann Lübbe die Probleme der Meine Damen und Herren, Carl Friedrich von Anpassung an die schnellen Veränderungen in allen Weizsäcker hat einmal gesagt: „Das demokratische Bereichen genannt hat. Viele Menschen und viele System, zu dem unser Staat sich bekennt, beruht auf Interessenve rtreter verstehen die schnellen Verände- der Überzeugung, daß man den Menschen die Wahr- rungen um uns herum nicht mehr. Sie möchten am heit sagen kann". Genau das will ich tun: Wenn wir liebsten alles so lassen, wie es ist, weil es bisher doch nichts unternehmen, droht den Postunternehmen in so gutgegangen ist. wirtschaftlicher Hinsicht — ich wiederhole das, was In Frankreich hat man in jüngster Zeit überlegt, ob der Kollege Timm gesagt hat — das gleiche Schicksal man nicht durch technische Störsender die Zahl der wie Bundesbahn und Reichsbahn; sie würden zum Satellitenfemsehprogramme aus dem Ausland be- Sanierungsfall. grenzen sollte. Meine Damen und Herren, unsere Eine Verbesserung der Situation kann deshalb nach Aufgabe ist es, den deutschen Telekommunikations- unserer Ansicht und nach Ansicht eigentlich aller am systemen die Grenzen zu öffnen, und nicht, Grenzen Wirtschaftsleben Beteiligten nur über eine Privatisie- aufzubauen. rung erfolgen, die über den Gang zur Aktiengesell- schaft die Möglichkeit eröffnet, den Unternehmen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Geld am Kapitalmarkt zu beschaffen. Gerade die Jeder sollte wissen, daß die Deutsche Bundespost/ Telekom ist sonst nicht in der Lage, die im zukünftigen Telekom dieses Potential für sich und für die deutsche Wettbewerb um die Telekommunikationsmärkte Industrie nur dann weiter wird verstärken können, erforderlichen Investitionen aufzubringen. wenn das Unternehmen seine Aktivitäten konsequent (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — auf die Auslandsmärkte ausdehnen kann. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Da (Beifall des Abg. Karl Diller [SPD]) spricht doch ernste Besorgnis!) Wer diese Chance verhindern wi ll, der macht sich Wichtig ist, daß auch die Rahmenbedingungen so mitschuldig, daß wir vom weltweit größten Zuwachs- gestaltet sein müssen, daß die Unternehmen auch markt ausgeschlossen werden. Er macht sich an einem börsenfähig sind. Verlust von Arbeitsplätzen in einer Größenordnung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mitschuldig, die um ein Vielfaches höher liegen wird als bei einem schnellen, konsequenten Ausrichten auf — Wenn ihr soviel klatscht, komme ich mit meiner Zeit diese Zukunftsmärkte. nicht hin. Ich wollte sagen, was ich mir heute morgen zurechtgelegt habe. Noch ein Wort zu den Monopolen, an denen einige so eisern festhalten wollen: Schon heute spielen die (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Darum klassischen Argumente der Regulierungstheorie ge- geht es uns ja! — Heiterkeit bei der CDU/ gen Netzwettbewerbe kaum noch eine Rolle. Betrach- CSU) ten Sie nur die Mobilfunkkommunikation, wo in Der Verteilungskampf auf dem internationalen kürzester Zeit drei neue Netze aufgebaut bzw. betrie- Telekommunikationsmarkt wird in diesen Tagen aus- ben werden: D 1, D 2 und E 1 neben dem bereits gefochten. Nahezu jeden Tag können wir nachlesen, installierten C-Netz. Außerdem verfügen die Bundes- daß weltweit Fusionen und Kooperationen eingegan- bahn, die Energieversorgungsunternehmen und p ri gen werden. Auch der letzte Reformgegner in den -vate Breitbandkabelnetzbetreiber über weitver- 16796 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Elmar Müller (Kirchheim) zweigte Kommunikationsnetze mit direktem Zugang Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht zu den Haushalten. Digitale Standards bieten die der Abgeordnete Dr. Ilja Seifert. Möglichkeit, lokale Funknetze mit kleinen Funkzel- len aufzubauen. Damit können 100 000 Nutzer pro (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Quadratkilometer an Dr. Ilja Seifert eine ideale Zuliefererinfrastruk- Meine Damen und Herren! Wenn ich die Debatte hier tur für Mobilfunknetze angebunden werden. Werden verfolge, klingt es so, als ob die Privatisierung Mono- GSM- bzw. PCN-Telefone mit dieser Technik kombi- pole aufbrechen würde. Ich lache mich tot, wenn Sie niert, kann die stationäre Infrastruktur des alteinge- im selben Satz sagen, sessenen Netzbetreibers tatsächlich auch ohne Mono- pol umgangen werden. Der Telekom steht also ein (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: funktionstüchtiger Wettbewerb im Ortsnetz bevor. — Nicht heute!) Soweit die Gefahren für das Ortsnetz. — nicht ganz tot; den Gefallen tue ich Ihnen nicht —, daß am Ende nur acht bis zehn neue Monopole Nun zu den Fernnetzen. Hier ist das Umgehen der übrigbleiben. Sagen Sie mir doch bitte einmal: Worin Monopole schon heute Wirklichkeit. Englische und besteht der Unterschied zwischen einem amerikanische „global player" nutzen die Möglich- staatlichen und einem keit, Mietleitungen von der Telekom anzuheuern. Monopol privaten Monopol? — Aus- schließlich darin, daß bei einem p Deutsche Kunden werden über eine Auslandsvermitt- rivaten Monopol die lung weitergeleitet, und das Ganze zu einem Preis, der Profite an amerikanische, japanische oder deutsche Milliardäre gehen und nicht an den Staatshaushalt. 20 % bis 30 % unter den Telefongebühren der deut- schen Telekom liegt. Das sind alarmierende Zei- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Also wie chen. das früher bei Honecker war!) Meine Damen und Herren, Politik heißt nicht ver- Die angespannte Debatte zum Haushalt 1994 — ich hindern, sondern gestalten. Angesichts der technisch sage wohlgemerkt: die angespannte Debatte, nicht: rasanten Entwicklung, die ich bruchstückhaft aufge- die Debatte zum angespannten Haushalt — in diesem zeigt habe, ist es unverständlich, daß die Deutsche Hause macht deutlicher denn je, daß nicht nur ein- Postgewerkschaft, Herr van Haaren und Teile der SPD zelne Haushaltsposten zum Gegenstand der Ausein- bis heute versuchen, die Postreform II zu verhin- andersetzung werden, sondern die Regierungspolitik dern. als Ganzes auf den Prüfstand kommt. Bedenkt man die permanente Infragestellung und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Veränderung vieler vorgelegter Planposten sowie das Klaus Lennartz [SPD]: Dafür gibt es gute andauernde Hin- und Herrechnen, wodurch der Gründe!) Gesamthaushalt auch nicht besser wird, so hat m an Herrn van Haaren und seinen Mitverhinderern in der wahrlich keinen Anlaß für Lobgesänge. Ihnen aller- SPD möchte ich eine alte Weisheit aus meinem dings scheint es anders zu gehen. Das kenne ich aus Kaufmannsberuf mit auf den Weg geben: Wer nicht DDR-Zeiten. Da war das auch immer so: Die Regie- mit der Zeit geht, geht selbst mit der Zeit. rungsleute haben sich selbst beweihräuchert. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Der von der gegenwärtigen Bundesregierung ver- folgte unsoziale Spar- und Privatisierungskurs wird Der Bundeskanzler und der CDU/CSU-Fraktions- auch im Einzelplan 13 deutlich sichtbar. vorsitzende — darauf komme ich jetzt zurück — haben gestern in ihren Reden ausdrücklich denen gedankt (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: — auch in der SPD —, die uns mit dem nötigen Wer hat denn zu DDR-Zeiten das ganze Verantwortungsbewußtsein auf unserem Weg des ordentlich kritisiert?) Mutes und der Kreativität bei der Postreform II unter- — Leider war das nicht der Fall, was ich sehr stützen. Das sind wichtige Teile der SPD. Das sind alle bedauere. Das war einer der großen Fehler dieses Bundesländer, unabhängig von ihrem politischen Staates. Standort. Das sind viele Mitarbeiter und die Vorstände (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: der drei Postunternehmen. Gerade in diesen Zeiten Aber die liberalen Leute auch nicht!) muß sich die Politik vom Prinzip Verantwortung leiten Ist es schon ein geniales Kunststück oder nur ein lassen. fauler Zaubertrick, Haushaltsmittel in beträcht lichen Reste der SPD — diejenigen, die die Postreform II Größenordnungen für Post und Telekommunikation verhindern wollen — und die Deutsche Postgewerk- zu verplanen, wenn zugleich klar ist — gemäß Ihrem schaft fordere ich auf, über den eigenen Schatten zu erklärten politischen Willen —, daß sich die Bundes- springen. zuständigkeit in den kommenden Jahren nur noch auf deren noch nicht privatisierte Teile bzw. Bereiche (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie sind absolut beschränken wird? Einsparungen bei vielen Einzelpo- klasse!) sten, die vom Haushaltsausschuß empfohlen werden, Im Erkennen dessen, was not tut, liegt die Herausfor- stehen verhältnismäßig große Verpflichtungsermäch- derung und in der Bereitschaft zur Veränderung und tigungen des Bundes für die nächsten Jahre gegen- im mutigen Handeln die gemeinsame Chance zur über. Ich verstehe das so, daß damit zunächst ein- Gestaltung der Zukunft. Wir und Sie werden an mal schwerpunktmäßig die Telekommunikation für unseren Taten gemessen. potentielle und natürlich potente Käufer möglichst Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. schnell attraktiv gemacht werden soll, damit die bevorstehende Privatisierung gegen alle Widerstände (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Gewerkschaften, von Teilen der SPD und selbst- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16797

Dr. Ilja Seifert verständlich der PDS bald vollzogen werden kann. Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin, Prognosen über einen boomenden europa- und ich danke für den Hinweis. Es ist sehr schwierig, wenn zunehmend weltweiten Telekommunikationsmarkt die Uhr hier nicht läuft. mit vielversprechenden Gewinnen sind ja kein Geheimnis und heute auch wieder in den höchsten Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Deswegen sage ich Tönen gelobt worden. es Ihnen. Wir von der PDS/Linke Liste halten diese Politik des (PDS/Linke Liste): Dann darf ich den Ausverkaufs, die auf kommunaler Ebene ihre Ent- Dr. Ilja Seifert letzten Satz sagen. sprechung in der Privatisierung kommunaler Einrich- tungen und Betriebe findet, im Grundsatz für ver- hängnisvoll und unverantwortlich. Selbst wenn der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ja, bitte. teilweise oder gar vollständige Verkauf von Telekom- munikation und Post zunächst einmal größere Geld- Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Ich bin leider - - summen einbringt — die aller Wahrscheinlichkeit (Zuruf von der CDU/CSU) nach sofort benutzt werden, um den löcherigen Haus- — Das machen Sie mit großer Perfektion. Ich will das halt zu sanieren — , nicht alles nachmachen. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wir können diesem Haushalt natürlich nicht zustim- Wissen Sie etwas Besseres?) men, weil er nicht den Erfordernissen einer soliden Haushaltspolitik entspricht. Außerdem wird die Post- so geht doch damit dem Bund nur eine potentielle reform II verhängnisvolle Folgen haben. Ich fürchte, ständige Einnahmequelle verloren. Herr Waigel daß Sie das wieder mit einer Brachialgewalt durch- müßte der heftigste Verteidiger der Bundespost peitschen, die den betroffenen Menschen — denen, sein. die dort arbeiten, und denen, die diese Dienstleistun- (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions- gen in Anspruch nehmen wollen — nur zum Schaden los]: Die Verlustquelle geht verloren!) gereichen wird. — Wenn es eine Verlustquelle ist, verstehe ich nicht, Ich danke trotzdem für die Aufmerksamkeit und für daß die Privaten Schlange stehen und es erwerben die freundlichen Zwischenrufe. wollen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Sogar Beifall ist gekommen! Statt durch kluge — ich möchte fast sagen: von — Gegenruf von der SPD: Aber nicht von staatsmännischer Weitsicht getragene — politische uns!) Entscheidungen, Post und Telekommunikation zu einer effektiven Springquelle für Staatseinnahmen zu Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter in dieser machen, wird seitens der Regierung die Privatisie- Debatte spricht Herr Bundesminister Bötsch. rungsvariante gewählt. Das ist das einzige, was Ihnen noch einfällt. Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister für Post und Mir fällt es übrigens schwer, hier in der Haushalts- Telekommunikation: Frau Präsidentin! Meine sehr debatte ausschließlich über Geld zu reden. Ich würde verehrten Damen und Herren! Ich möchte zum Ab- viel lieber über die Leute reden, die davon betroffen schluß der Beratungen des Einzelplans 13 einige sind, daß die Poststellen immer weiter entfernt sind. kurze Ausführungen machen. Da wir hier aber über Geld reden, werde auch ich das Die besonders schwierige Lage des Bundeshaus- tun. halts wurde bereits in dem mit dem Bundesfinanzmi- nisterium festgelegten Regierungsentwurf berück- Gewinnversprechende Einrichtungen wie die Tele- sichtigt. Das wurde gegenüber 1993 um kommunikation privaten Betreibern zu verkaufen Haushaltssoll zunächst 16,1 % auf 469 Millionen DM vermindert. Im verschlimmert doch entgegen allen Erwartungen die Berichterstattergespräch ist die Höhe der Ausgaben Kalamität, in der sich die Regierung befindet. Denn sie bei einer großen Zahl von Titeln um weitere 4,5 Mil- trägt ja weiter auch die finanzielle Verantwortung für lionen DM auf 464 Millionen DM gesenkt worden, so die bei ihr verbleibenden, für sich genommen also daß die Kürzung jetzt insgesamt 16,5 % beträgt. unwirtschaftlichen Dienstleistungsbetriebe, die sich eben nicht rechnen. Nachdem jetzt noch eine globale Minderausgabe von 5 Milliarden DM im Haushalt erwirtschaftet Das bedeutet doch schlicht und einfach, daß die werden soll, sind wir inzwischen bei 452 Millionen Einnahmen spärlicher fließen, während sich die erfor- DM angekommen. Das heißt: Im Haushalt des Bun- derlichen Ausgaben nicht verringern lassen bzw. desministers für Post und Telekommunikation ist eine weiter steigen. Eine Besserung des Haushalts bedeu- Senkung der Ausgaben um insgesamt 19,1 % zu ver- tet das auf keinen Fall. Als Alternative bliebe nur eine zeichnen. Neuorganisation von Postleistungen und -diensten Sie werden verstehen, daß dies natürlich den mit unsozialen Wirkungen vor allem für die Kleinkun- Geschäftsablauf beeinträchtigen kann — jedenfalls den. kann —, denn das ist mit Sicherheit nur mit einem erheblich verstärkten Kostenbewußtsein und einer sehr genauen Ausgabenplanung zu bewältigen. Das ist nicht ganz leicht, insbesondere in einer Zeit, in der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Seifert, Ihre mein Ministerium das überaus wichtige Projekt der Redezeit ist beendet. Postreform II, die hier ja schon verschiedentlich 16798 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch angesprochen wurde, vorzubereiten hat. Wenn wir im Ich hatte am letzten Freitag das Vergnügen, die Januar die erste Lesung durchführen, ist ja die Arbeit Freude, die Ehre — wie immer man das formulieren noch nicht getan, sondern dann gibt es eine Menge will —, bei der Konferenz der Wirtschaftsminister der Arbeit, um die Umwandlung der Postunternehmen Länder als Gast zugegen zu sein. Ich kann Ihnen, überhaupt erst durchzuführen. meine Damen und Herren, sagen: Das ist keineswegs Ich sage das auch all denjenigen, die in der Vergan- eine Veranstaltung, in der es herüber und hinüber um genheit — ich sage das ganz vorsichtig — vorschnell Parteipolitik geht. Dort geht es, um ein Wort aus der mit Stellenkürzungen und ähnlichem zur Stelle waren ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einmal und aus der Ausgliederung der Postunternehmen etwas abzuwandeln, nach der Devise „Ich kenne Postbank, Telekom und Postdienst meines Erachtens keine Parteien, ich kenne nur noch Länder. " teilweise sehr voreilige Folgerungen gezogen ha- ben. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Das sagt ein Bayer!) Wenn ich die Postreform II erwähne, will ich jetzt natürlich keine umfassende Darstellung des derzeiti- — Kollege Baum, ich möchte das noch ein wenig gen Diskussionsstands geben. präzisieren: Es geht um die Privatisierung der Postun- ternehmen. Wir wollen aus der Deutschen Bundespost (Zuruf von der F.D.P.: Schade!) nicht eine Post Deutscher L ander machen. Das — Das kann man doch a lles in der Zeitung lesen, machen wir natürlich nicht. täglich. Wir sind nach der kürzlich durchgeführten Klausur- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tagung, glaube ich, auf einem guten Wege. — Wenn mir mein Landesgruppenvorsitzender dabei (Beifall bei der CDU/CSU) zustimmt, dann kann ich ja beruhigt der weiteren Die Notwendigkeit der Reform brauche ich in die- Entwicklung entgegensehen. sem Hause sicherlich nicht mehr besonders zu beto- Meine Damen und Herren, selbstverständlich nen, insbesondere weil ich davon ausgehe, daß wir haben die Länder großes Interesse daran, daß der uns jetzt, zu dieser Stunde, ja im Kreise ausschließlich Infrastrukturauftrag auch in Zukunft gesichert wird. von Fachleuten aufhalten. Das ist unser gemeinsames Interesse. Kollege Börnsen Meine Damen und Herren, internationaler Wettbe- hat eingangs einige Punkte angesprochen. werbsdruck, Liberalisierung im Rahmen der Europäi- schen Union — das sind Stichworte, die der Kollege Ich hoffe nur, daß es jetzt keine Verzögerung im Müller erwähnt hat und die ich nur noch einmal in weiteren Verfahren gibt. Ich will nicht all das wieder- Erinnerung bringen will. Nach dem gegenwärtigen holen, was über die Notwendigkeit dieser Maßnah- Stand habe ich den Eindruck, obwohl immer wieder men gesagt worden ist. eine neue Kuh auftaucht — Lassen Sie mich noch einige Anmerkungen machen (Jürgen Timm [F.D.P.]: Es gibt auch kleine zu der Aufbauleistung, die gerade die Unternehmen Kühe!) der Deutschen Bundespost in den neuen Bundeslän- — manchmal werden etwas kleinere Tiere auf das Eis dern erbracht haben, weil auch dies angeklungen ist. geführt, Kollege Timm; aber immerhin, ich stimme Ohne die Flexibilität, die die Telekom hier gezeigt hat, Ihnen zu —: Wir sind einem politischen Konsens allerdings auch nicht ohne die Möglichkeit, p rivate jedenfalls nahe. Wir brauchen ja diesen Konsens, weil Großunternehmer zu verpflichten, schlüsselfertige wir, wenn wir die Postreform II bewältigen wollen, Anlagen zu errichten, wäre die schnelle Verbindung eine Zweidrittelmehrheit in diesem Hause zur Verfas- und Angleichung der Telekommunikationsinfrastruk- sungsänderung benötigen. tur in den neuen Bundesländern nicht möglich gewe- sen. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte auch noch einmal an die Sozialdemokra- ten appellieren, sich der Reform nicht zu versagen. Die Sanierung und Modernisierung des alten DDR- Alle, die in der Öffentlichkeit sagen, der Postminister Netzes wurde von Politik und Wirtschaft zu Recht müßte da jetzt einmal richtig heran, er müßte Führung gefordert, und die Telekom hat darauf mit entspre- zeigen und die Sache vorwärts bringen, er zögere zu chenden Maßnahmen reagiert. Nicht alles, was in den lange, lade ich gern einmal ein, an den Verhandlun- letzten Tagen von angeblich sachkundiger Seite gen teilzunehmen. Eine Zweidrittelmehrheit zu- geäußert wurde, war auch wirklich sachkundig, wenn stande zu bringen — das wissen auch andere — ist man das Tempo und die Aufgabe in der richtigen eine durchaus sportliche Angelegenheit — darauf wi ll Relation sieht. ich hinweisen —, Immerhin wurden seit 1990 28 Millionen DM in den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) neuen Bundesländern investiert und mehr als 2,2 Mil- und zwar deshalb, weil man dazu natürlich nicht nur lionen Anschlüsse, davon rund 700 000 in dem disku- die größte Oppositionspartei hier im Bundestag tierten Turn-key-Verfahren, zusätzlich geschaltet. Im braucht, sondern weil ja auch noch die Länder mit von Ausland wird das allüberall als eine große Leistung der Partie sind. angesehen. (Zuruf von der CDU/CSU: Immer schlim- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Auch im mer!) Inland!) 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Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch Ich glaube, wir sollten auch den Damen und Herren, Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die die das bei uns geleistet haben, hier die Anerkennung Aussprache eine Stunde vorgesehen. Einverstanden? nicht versagen. — Das ist der Fall. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Der Kollege Hans Georg Wagner eröffnet die Aus- Die Telekom hat damit ihr Versprechen eingehal- sprache. ten, in den neuen Bundesländern eines der modern- der Welt zu installie- sten Telekommunikationsnetze Hans Georg Wagner (SPD): Frau Präsidentin! Meine ren. Wenn wir bis Ende des Jahres 1996 den Plan sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich zum vollendet haben, 60 Milliarden DM investiert zu eigentlichen Thema etwas sage, möchte ich ein paar haben, dann ist das Ziel erreicht. Bemerkungen machen. Wenn hier einige Projekte — ich habe das geschil- Ich weiß, daß an Abenden wie diesem zu einer dert — wegen des Tempos, das notwendig war, ohne gewissen Zeit immer hektische Betriebsamkeit Raum Ausschreibung vergeben wurden, dann halte ich die greift. Die Versuche mehren sich, daß m an die Reden Vorwürfe, wie sie hier geäußert wurden, für unbe- zu Protokoll gibt. Die Verabschiedung des Staatshaus- rechtigt und falsch. halts ist eine originäre Aufgabe des Parlaments. Des- Natürlich gibt es Bürgerinnen und Bürger gerade in halb finde ich es falsch, Reden zu Protokoll zu geben, den neuen Bundesländern — ich habe seit Beginn obwohl die Möglichkeit zur Diskussion gegeben ist. meiner Amtszeit dort zehn Besuche an verschiedenen Ich erinnere daran, daß das Europäische Parlament, Stellen getätigt —, die einem sagen: Halt, ich habe von uns sehr stark unterstützt, darum kämpft, das auch noch kein Telefon, könnten Sie mir vielleicht Haushaltsrecht zu bekommen. Deshalb bin ich eigent- helfen? Die Leistung insgesamt jedoch wird aner- lich etwas enttäuscht, nicht nur über die geringe kannt. Die Bürger wissen diese Leistung besser zu Anzahl der Anwesenden, sondern auch über diejeni- würdigen als manche Fernsehmagazine, die hinterher gen, die sicherlich draußen fasziniert an den Fernseh- sowieso alles besser wissen. geräten zuschauen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist sowie bei Abgeordneten der SPD) doch Unsinn, so viele Leute haben Sie zu Ich möchte abschließend den Kolleginnen und Kol- Hause nicht!) legen, die insbesondere im Postausschuß die Arbeit des Ministeriums begleiten, und den Berichterstattern — Ich sage doch, daß das Haushaltsrecht ein originä- im Haushaltsausschuß, dem Kollegen Kolbe und dem res Recht des Parlaments ist. Kollegen Zywietz, danken. Der Postminister fühlt sich (Beifall bei der SPD — Weitere Zurufe von in besonderer Weise geehrt, daß die Opposition als der CDU/CSU) Mitberichterstatter den Vorsitzenden des Haushalts- — Das haben Sie nicht begriffen. Ich weiß: Ihr Parla- ausschusses, den Kollegen Walther, benannt hat. mentsverständnis ist ein anderes. Meines ist halt ein Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. demokratisches — im Gegensatz zu Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, ich könnte ja sagen: Ich Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und grüße alle, die fasziniert am Fernseher sitzen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur zuhören. Da werden auch eine Menge sitzen, Herr Abstimmung über den Einzelplan 13 — Bundesmini- Kollege Rüttgers. Dieser Zwischenruf war so dumm, sterium für Post- und Telekommunikation — in der wie er hier auch angekommen ist. Ausschußfassung. Wer stimmt für den Einzelplan 13? (Beifall bei der SPD — Dr. Jürgen Rüttgers — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Damit ist der [CDU/CSU]: Spielen Sie sich nicht so auf!) Einzelplan 13 mit den Stimmen der CDU/CSU und F.D.P. gegen die Stimmen der SPD und der PDS/Linke — Er war so dumm, wie er hier angekommen ist, so wie sich Ihre Zwischenrufe oftmals durch eine besondere Liste angenommen. „Qualität" auszeichnen. Meine Damen und Herren, vor einigen Tagen ging Ich rufe auf: die Meldung durch die Presse, wonach sich der Einzelplan 16 deutsche Umweltminister um die Leitung der Kom- Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz mission für nachhaltige Entwicklung der UNO und Reaktorsicherheit bewerben werde. Wir erinnern uns: Die Kommission — Drucksachen 12/6016, 12/6030 — wurde zur Umsetzung der Beschlüsse der UN- Berichterstattung: Abgeordnete H ans Georg Umweltkonferenz im vergangenen Jahr in Rio de Wagner Janeiro gegründet. Michael von Schmude In einer Erklärung des Ministeriums hieß es, daß die Dr. Sigrid Hoth Kommission Garant dafür sein müsse, daß der in Rio Zum Einzelplan 16 liegen ein Änderungsantrag der eingeleitete Prozeß für wirtschaftliche, soziale und Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Drucksache ökologische Entwicklung weltweit dynamisch fortent- 12/6208 sowie ein Änderungsantrag der Abgeordne- wickelt werde. ten Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Helmut Wieczorek Ich muß gestehen, daß diese Meldung bei mir einige (Duisburg), Hans Georg Wagner und weiterer Abge- Verwunderung ausgelöst hat, hatte ich doch bei der ordneter auf Drucksache 12/6207 vor. ersten Lesung des Bundeshaushalts im September 16800 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Hans Georg Wagner dieses Jahres aufzulisten versucht, was aus den vom Genau das ist es, meine Damen und Herren. Nur, Bundeskanzler und vom Umweltminister in Rio Herr Töpfer, der Haushalt zeigt gerade das umge- gemachten Zusagen und Versprechungen geworden kehrte Bild: Ihre Gelder werden genau in diesem ist. Bereich gekürzt. Da können Sie zwar sagen „guter (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Mann", aber er und auch Sie haben nicht dafür gesorgt, daß das wiederhergestellt wird, was 1992 an Die Bilanz, die seinerzeit von Nichtregierungsorga- IstAusgaben vorhanden war. nisationen, von Umweltverbänden, vom Kollegen Feige vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und von einer (Beifall bei der SPD) Heerschar von Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion gezogen wurde, war eine niederschmet- Wer sich so wenig um seinen Haushalt kümmert, ternde. Nicht eine einzige Zusage ist auch nur in der kann doch nicht erwarten, daß die Koalition mit Ansätzen einer Lösung nähergebracht worden. ihm wie mit jemandem umgeht, den man einen liebgewonnenen Freund nennt. Meine Damen und Herren, wer sich in Rio als internationaler umweltpolitischer Moralist aufspielt, (Bundesminister Dr. Klaus Töpfer setzt sich in muß es sich gefallen lassen, daß man sehr genau unter eine vordere Reihe auf der Regierungs die Lupe nimmt, was die Umsetzung im eigenen bank) Lande angeht. — Das ist ein netter Zug von Ihnen, so daß man sich (Beifall bei der SPD) nicht ganz herumdrehen muß, um mit Ihnen sprechen Vor dem Hintergrund der derzeitigen deutschen zu können. Üblicherweise sollte es auch so festgelegt Umweltpolitik kann man bezüglich der Bewerbung werden, daß die Minister, die angesprochen werden, um den Kommissionsvorsitz nur den Kopf schütteln hier vorne sitzen. Das ist schon richtig. Ich danke vor so viel Arroganz und Selbstüberschätzung. Ihnen, daß Sie das machen, Herr Minister Töpfer. Aber das ändert nichts daran, daß die Forschungsmit- Ich teile die weitverbreitete Meinung, daß der tel in Ihrem Haushalt erheblich gekürzt worden Bundesumweltminister sich lediglich für die Abtei- sind. lung „Versprechen und Verkündigen" zuständig - Bekanntlich ist die Umweltpolitik, meine Damen fühlt, eine Erfolgskontrolle allerdings fürchtet wie der und Herren, eine Zukunftstechnologie. Das ganze Teufel das Weihwasser; denn ich kann mir einfach Gerede der Koalition vom gefährdeten Wirtschafts- nicht vorstellen, daß er es nicht merken soll, wenn standort Deutschland erweist sich im Umweltbereich niemand daran denkt, seine Versprechen in die Wirk- als Luftblase. lichkeit umzusetzen. Um Ihnen die praktischen Auswirkungen Ihrer Meine Damen und Herren, ich habe im September Sparwut in diesem Bereich zu verdeutlichen: Das unter heftigem Widerspruch der Koalitionsparteien Umweltbundesamt sah sich 1993 nicht in der Lage, behauptet, daß der Umweltminister der eigentliche neue Umweltforschungsaufträge zu erteilen, weil die Verlierer des Haushalts 1994 sei. Folgefinanzierung nicht gesichert war. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Richtig! Es kommt noch schlimmer: Die erneute Kürzung Das stimmt!) durch die Koalition bedeutet das Aus für die zukunfts- Nun liegt der endgültige Beweis vor Ihnen. Die trächtige Umweltforschung, die heute notwendiger zunächst von der Regierung und danach von den denn je ist; denn nur modernste Techniken sind unsere Ch Koalitionsparteien übernommene Kürzung der Um- ance. weltforschungsgelder um fast 25 % oder ein Viertel Wer so dilettantisch mit dem Wirtschaftsstandort gegenüber dem Haushalt 1992, d. h. um 10 Millionen Deutschland umgeht, darf sich nicht wundern, daß DM gegenüber den Ist-Ausgaben, bedeutet das Aus unsere weltweite Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr für die Umweltforschung und damit für die Entwick- gerät; lung von Techniken, die unsere weltweite Führung in (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) der Umwelttechnik auf Dauer absichert und dem Wirtschaftsstandort Deutschland zur Sicherung hoch- oder die Gefährdung wird bewußt in Kauf genommen, qualifizierter Arbeitsplätze sowie zur Chance, Export- um etwa den sozialen Kahlschlag zu rechtfertigen. weltmeister in der Umwelttechnik zu bleiben, ver- Wie diese Koalition mit dem Umweltminister hilft. umgeht, wie gering zugleich sein Durchsetzungsver- Wie makaber, meine Damen und Herren, muß sich mögen ist, belegt ein Vorgang, der in der Geschichte diese Aussage ausnehmen, wenn man liest, was heute der Bundesrepublik Deutschl and bisher ohne Beispiel morgen der Parlamentarische Staatssekretär im Bun- ist. Ich meine die Umsetzung des Errichtungsgesetzes desumweltministerium, , für das Bundesamt für Strahlenschutz mit gesetzlich fixiertem Standort in Salzgitter. Ich halte es schlicht (Bundesminister Dr. Klaus Töpfer: Guter weg für einen Skandal, wie man hier mit den Mitar- Mann!) beiterinnen und Mitarbeitern des Amtes, mit der Stadt und dem Kreis Salzgitter umgeht. in Frankfurt gesagt hat. Er hat die „Weiterführung der anspruchsvollen Umweltpolitik der Bundesregie- (Beifall bei der SPD — Helmut Sauer [Salz rung" als eine Zukunftsinvestition in den Standort gitter] [CDU/CSU]: Salzgitter ist eine kreis Deutschland gewertet. freie Stadt!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16801

Hans Georg Wagner — Dann ist es das Land Niedersachsen; das bleibt sich Südostasien, Zukunftsmärkte erschließen und bei uns wohl gleich. zu Hause Millionen krisensichere Arbeitsplätze schaf- Die Standortfestlegung von Bundesbehörden kann fen, meine Damen und Herren. doch nicht zum Würfelspiel der Koalition werden. Die (Beifall bei der SPD) SPD wird dies verhindern. Doch zur Durchsetzung dieser Strategie fehlt der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) jetzigen Koalition die Kraft. Dies belegen die Fak- Damit ist der eigentliche koalitionsinterne Skandal ten. noch nicht angesprochen, meine Damen und Herren. (Zuruf von der CDU/CSU) Ich meine die Tatsache, daß der Bundesumweltmini- ster noch nicht einmal gefragt oder informiert wurde. — Der Kollege hat das ganz große Glück, daß ich gern Das hat es in Deutschland noch nicht gegeben, daß der das sagen möchte, was ich mir aufgeschrieben habe, betroffene Bundesminister uninformiert gehalten sonst würde ich ihn vorführen und ihm beibringen, wurde und daß er im Haushaltsausschuß gleichzeitig wie man mit einem Schreier dieser Art umgeht. Zur mit der Opposition von der Änderung der Zweckbe- Umweltpolitik haben Sie nichts beizutragen, zum stimmung erfuhr. Schreien im Parlament ein ganz erhebliches Maß. Heute pfeift die Koalition ihre Haushälter wieder (Beifall bei der SPD) zurück. — Sie haben den Antrag vor sich liegen —; Das muß ich Ihnen gern bestätigen. auch das ist ein ungewöhnlicher Vorgang. Ich weiß natürlich, wie die neueste Entwicklung ist. Knapp 80 Milliarden DM Einnahmen aus allen Nachdem ruchbar wurde, was die Koalition mit dem Energiesteuern und - abgaben entsprechen nur 11 % Standort Salzgitter vorhatte, haben der Kollege Wil- des bundesdeutschen Steueraufkommens. Dieser helm Schmidt und andere eine große Aufführung Anteil ist seit 20 Jahren stabil geblieben. Der Anteil inszeniert mit dem Ergebnis, daß die Koalition jetzt der Lohn- und Einkommensteuer stieg von 1972 bis sagt: Gut, Standort bleibt Salzgitter; aber Geld wird 1992 von 36,9 % auf 40 %, derjenige der Mehrwert- nicht eingestellt, wofür man in diesem Jahr Verständ- steuer verzeichnet im gleichen Zeitraum ebenfalls nis haben kann. Es ist nun so, daß Salzgitter Standort einen Anstieg von 23,8 % auf etwa 28 %. Obwohl bleiben soll. zwischen 1988 und 1992 das Aufkommen aus der Mineralölsteuer verdoppelt wurde, nämlich von Möglicherweise wird der Kollege von Schmude 27 Milliarden auf 54 Milliarden DM, lag der Preisindex noch sagen, es sei sein großer Kampf gewesen und er für Kraftstoffe 1992 noch unter dem des Jahres 1985. hätte erreicht, daß die Stadt Salzgitter dem Bund jetzt Sinkende Weltmarktpreise für Rohöl sind dafür ver- das Grundstück schenkt, nachdem er vorher den antwortlich. Minister im Haushaltsausschuß des Deutschen Bun- destages so an die W and fahren ließ. Das kann Die heutigen Preise, meine Damen und Herren, durchaus möglich sein. berücksichtigen in keiner Weise die durch Energie- umwandlung und Verkehr hervorgerufenen gesell- (Zuruf von der CDU/CSU: Reine Spekulation schaftlichen Kosten. Die Einbeziehung der Folgeko- ist das!) sten in die Energiepreise, etwa in einer allgemeinen Ich sage: Wir haben den Antrag gestellt, den alten Energiesteuer, führt zur Verringerung der Schäden Zustand wiederherzustellen. Ich finde es auch richtig, und zur Nutzung des technischen Fortschritts. daß dann darüber abgestimmt wird und m an nachher Schockartige Sprünge müssen wir dabei vermeiden. sieht, wer tatsächlich für Salzgitter und damit den Die Energiesteuer wird für die Entlastung des Faktors ursprünglichen Standort stimmt. Arbeit wie auch für ökologisch wichtige Investionen Meine Damen und Herren, es ist mehr als dringend verwendet werden. Die Investitionsfelder liegen auf geboten, die Lösung der Frage anzugehen, wie man der Hand: Klima- und Umweltschutz, Energieeinspa- die Massenarbeitslosigkeit möglichst schnell besei- rungen, Erhöhung des Energie- und Materialeinsat- tigt. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemo- zes erneuerbarer Energien, öffentlicher Personennah- kraten ist dabei vollkommen klar, daß die ökologische verkehr. Modernisierung unserer Volkswirtschaft die Chance Meine Damen und Herren, eine Möglichkeit liegt dazu darstellt. Dabei spielt die Verbindung zwischen sicherlich in dem Versuch, einen energiepolitischen dem Kampf gegen die globalen und ökologischen Konsens zu finden. Konsens, Herr Minister Töpfer, Gefahren und der Bekämpfung der Massenarbeitslo- kann nicht bedeuten, daß die eine Seite die andere sigkeit die wichtigste Rolle. Die Überschrift über erpreßt. dieses Kapitel ist klar: Der Faktor Arbeit muß entlastet (Beifall bei der SPD) und der umweltschädliche Energie- und Materialver- brauch stärker belastet werden. So haben Sie es mit uns versucht! (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Der Herr Denn die Erfahrung der Vergangenheit lehrt: Plötz- Schröder ist doch unterlegen bei Ihnen!) lich kommen die richtigen Preissignale, die notwendi- Daß der Bundesumweltminister sich nicht zu schade gen produktiven Investitionen, die Marktwirtschaft ist, dieses hochsensible Thema zum Gegenstand par- reagiert mit neuen Produkten, die umweltverträgli- teipolitisch motivierter Überlegungen zu machen, ist cher sind sowie Energie und Rohstoffe sparen. Damit eine traurige Angelegenheit. könnte sich unsere Wirtschaft weltweit, vor allem — wie gestern auch vom Kanzler gefordert — in (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 16802 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Hans Georg Wagner Gerade ihm, der wie ich aus einem kohleproduzieren- mit bis zu 150 Milliarden DM. All dies zahlt der den Land kommt, aus dem , kann einfach Verbraucher. Mit viel, viel Geld! Das interessiert Sie nicht verziehen werden, daß er vor kurzem dem aber überhaupt nicht. Daraus folgt, daß ohne Rück- Bundeskanzler geschrieben hat — ich zitiere den sicht auf kommende Generationen auf einen Ener- genauen Wortlaut —: gieproduzenten gesetzt worden ist, der menschlich Sollte die SPD allerdings einem Konsens in der nicht beherrschbar war und ist. Sol ange menschliches Kernenergie nicht zustimmen, müßte der Vor- Fehlverhalten nicht auszuschließen ist — und dies wird immer so sein —, ist Atomenergie nicht zu schlag zur Kohle sowohl dem Zeitpunkt als auch verantworten. dem Inhalt nach überdacht werden. (Zurufe von der SPD) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste) Herr Minister, deshalb sind die Beschlüsse des Bundeskabinetts vom Dienstag dieser Woche nichts Trotzdem — so kann man lesen — entscheiden sich anderes als die Geiselnahme des deutschen Steinkoh- „Nieten in Nadelstreifen" von Politik und Wirtschaft lebergbaus. Sie wollen den Sicherheitspfeiler unserer für diese lebensgefährdende Variante. Energieversorgung planmäßig zerstören! Ich frage Sie, Herr Minister Töpfer: Warum geben (Beifall bei der SPD) Sie nicht zu, daß Sie für die Endlagerung des atoma- ren Malls keinen sicheren Standort haben? Warum Ich weiß, daß nun ein Riesengeschrei anhebt, nicht sagen Sie nicht, was die Entsorgung des atomaren wegen dieser Aussage, sondern weil Sie sagen: Aha, Mülls tatsächlich kostet? Warum sagen Sie nicht, Herr die CO2 - Belastung durch die deutsche Steinkohle, Minister Töpfer, wieviel Milliarden in der Atomin- durch die Steinkohle generell! — In der Tat entfällt auf dustrie zu Lasten der Allgemeinheit, zu Lasten der die Steinkohle ein Anteil von fast einem Viertel der Verbraucher bereits in den Sand gesetzt wurden? Ich globalen CO2-Belastung, allerdings trotz weltweit denke an Wackersdorf oder Hamm. steigenden Steinkohlenbedarfs mit fallender Ten- denz, weil umweltfreundliche, CO2-vermindernde (Beifall bei der SPD) Kraftwerkstechniken weltweit eingesetzt werden. Wieso beginnen Sie, Herr Minister Töpfer, ausgerech- Doch wo bleibt eigentlich die Diskussion über das net im Jahre 1993, wo keine Aussicht auf Konsens in Mineralöl und seinen 50prozentigen Anteil an der der Atomenergie besteht, die unselige Diskussion weltweiten CO2-Verschmutzung? über den Bau eines Hochtemperaturreaktors? (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Wie erklären Sie unseren Bergleuten, Herr Minister Die Koalition erweist sich als unfähig, den Men- Töpfer, daß ihr Arbeitsplatz jeweils mit 70 000 DM im schen die Wahrheit zu sagen. Die größte Gefahr für Jahr subventioniert wird, aber der Arbeitsplatz eines unsere Luftqualität geht vom Verbrauch des Mineral- Arbeiters in der Kernkraftindustrie mit über 200 000 öls aus. Deshalb ist eine Reduzierung des Kraftstoff- DM? Da sagen Sie, der Bergbau müsse zugemacht und verbrauchs im Pkw auf etwa 5 Liter auf 100 km die die Kernkraftwerke sollten weitergeführt werden. Das wirksamste CO2-Reduzierung. ist für mich nicht nachvollziehbar, Herr Minister (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Töpfer. der F.D.P.) (Beifall bei der SPD) Ich rate den „Nieten in Nadelstreifen" — wie unsere Ich fordere deshalb, die Umweltforschung nach alter- Industriemanager wegen der von ihnen verschlafenen nativen, energiesparenden Verfahren zu verstärken. technologischen Entwicklung teilweise wohl zu Recht Auch hierin liegt nämlich eine große Chance, mit genannt werden — dringend, sich dieser Tatsachen neuen Innovationen auf den Weltmarkt zu gehen und bewußt zu werden. Wenn ich manche Entwicklungen dadurch unseren Arbeitsmarkt zu entlasten. des Jahres 1993 sehe, dann frage ich mich wirklich, wo Hinzu kommt: Unser Bundesumweltminister hat diese Leute ihre Reputation herholen. weltweit, insbesondere in den osteuropäischen Staa- Die Kohletechnologie ist heute schon so weit, daß ten, Erwartungen geweckt, die haushaltsmäßig durch sie über verbesserte Kraftwerkstechnologien, über nichts gedeckt sind. Dies nährt Zweifel an unserer Kraft-Wärme-Kopplung eine erhebliche Reduzierung Glaubwürdigkeit, und dies ist nicht zu verantworten. der CO2-Belastung erreichen kann. Deshalb muß Die Chance, Umwelttechnik in diese Länder zu ver- unsere energie - und umweltpolitische Strategie sein: kaufen, auch in Form von Joint Ventures, sinkt in dem erstens drastische Energieeinsparungen, zweitens Maße, wie diese Unglaubwürdigkeit zur Gewißheit umweltfreundlichster Einsatz der Stein- bzw. Braun- wird. Deshalb werden wir im Gegensatz zu Ihnen kohle als Übergangstechnologie, drittens Stärkung größten Wert auf Seriosität und Glaubwürdigkeit alternativer Energiearten und Ausstieg aus der unserer Aussagen legen. lebensbedrohenden Kernenergie. (Zurufe von der CDU/CSU: Ach ja! Ach (Klaus Harries [CDU/CSU]: Was sagt denn Gott!) Schröder dazu?) Meine Damen und Herren, dabei wäre in der In der „Wirtschaftswoche" Nr. 45 vom 5. November Bundesrepublik schon genug zu tun. Kollege Michael 1993 wird von „Rissen in den Nähten" bei den Müller hat neulich zu Recht festgestellt: Die Entwick- Kernkraftwerken berichtet. Sinkt die Betriebsdauer lung des Dualen Systems Deutschland, DSD, nimmt von Kernkraftwerken um nur 15 Jahre — so steht dort immer mehr einen verhängnisvollen Verlauf. Die geschrieben —, dann trifft dies die Energiewirtschaft tagtäglichen Meldungen belegen dies auch. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16803

Hans Georg Wagner Ist Ihnen, Herr Minister Töpfer, eigentlich entgan- Aber die Aussage an sich ist richtig. Ich habe es gen, daß bereits 200 Firmen Konkurs haben anmelden anfangs im Hinblick auf die 25%ige Kürzung der müssen, weil das Instrument DSD, wenn auch von Umweltforschung gesagt: Hier wird die Zukunft Ihnen öffentlichkeitswirksam propagiert, konkret Deutschlands verspielt. Die Reduzierung der Umwelt- nicht zu Stuhle kommt? Das von Ihnen gepriesene forschung in dieser Größenordnung wird sich noch als DSD ist zu einem reinen Müllsortier- und Müllbesei- verhängnisvoll erweisen und unsere Exportchancen tigungssystem degeneriert. Insbesondere im Bereich erheblich vermindern. Kunststoff gibt es immer noch erhebliche Widersprü- Ich wiederhole deshalb unsere politischen Forde- che. rungen: (Zuruf von der CDU/CSU: Reden Sie einmal Erstens. Deutschland muß auf die ökologische mit Herrn Klein, was er dazu meint!) Modernisierung setzen. Wieso, Herr Minister, wurden dem DSD 500 000 t Zweitens. Umweltfreundliche Produkte müssen Plastikmüll in Rechnung gestellt, obwohl sich nur steuerliche und politische Vorteile genießen. 150 000 t auf dem Markt befinden, die den DSD- Drittens. Die Vereinbarung über den Kohlevorrang Vorgaben entsprechen? Zugleich fehlt dem DSD das von 1977 gilt bei Einsatz modernster Kraftwerkstech- Geld für Kunststoffrecycling, nik bis auf weiteres — bis ausreichende alternative (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Energiearten zur Verfügung stehen. Fragen über Fragen! — Gerhart Rudolf Baum (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Das wollen [F.D.P.]: Der Töpfer ist doch nicht Geschäfts- Sie alles bezahlen?) führer beim DSD!) — Herr Kollege Baum, Sie waren damals nicht ganz so daß auf über 100 Zwischenlager verteilt der unbeteiligt und in der Bundesregierung, die 1977 gesamte Plastikmüll jahrelang aufbewahrt werden unter den Kohlevorrang durchge- muß. — Ich kann nur sagen: Gott sei Dank ist er es setzt und gesagt hat: Die Kernenergie ist eine Über- nicht, Herr Baum. Wäre er es doch, was käme dann gangsenergie. Damals waren Sie dabei. Ich war nicht heraus? Ich will es nicht untersuchen. dabei; ich habe es nur begrüßt und politisch mit (Beifall bei der SPD) vertreten. Deshalb sollte es Sie doch freuen, wenn ich sage, der Kohlevorrang von 1977 müsse mit all den Ihr entscheidender politischer Fehler — deshalb Konditionen, die Sie seinerzeit eingebracht haben, sind Sie als Umweltminister politisch persönlich ver- wieder hergestellt werden. Es ist eine Sache, die Sie antwortlich — ist: Wer Müll vermeiden, vermindern nicht ablehnen sollten. und verwerten will, muß die gesetzlichen und politi- (Beifall bei der SPD — Gerhart Rudolf Baum schen Voraussetzungen dafür schaffen, statt dem [F.D.P.]: Sie sind 30 Jahre zurück!) vorhandenen Zustand einfach eine p rivate Sammelor- ganisation draufzusatteln. Herr Wagner, Ihre Weil es ein Weg in die Bürokratisierung und Mono- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Redezeit ist zu Ende. polisierung ist, kostet dies die Bürgerinnen und Bür- ger nur viel Geld. Ihr Versagen in der Plastikmüllent- sorgung ist für jedermann spürbar, weil es an den Hans Georg Wagner (SPD): Einen Satz noch, Frau eigenen Geldbeutel geht. Jeder kann dies nachvoll- Präsidentin. ziehen. (Zurufe von der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, dieser Tage fand eine Viertens. Kernenergie ist als gefährlichste und Anhörung zur notwendigen und überfälligen Novel- teuerste Energieart so schnell wie möglich abzuschal- lierung des Bundesnaturschutzgesetzes statt. Seit ten; eine strahlensichere Endlagerung muß gewähr- vielen Jahren verkünden Sie die baldige Vorlage leistet sein. eines Gesetzentwurfs. Doch bis heute konnten Sie sich Fünftens. Energieeinsparung bleibt unser Schwer- nicht durchsetzen. punkt in der Energieversorgung. Die Umweltpolitik Diejenigen, die an einer Novellierung des Bundes- bestimmt unsere Zukunft. Dieser Haushalt trägt die- naturschutzgesetzes interessiert sind, muß ich auf die sem Ziel nicht Rechnung. Deswegen werden wir ihn Zeit nach der nächsten Bundestagswahl vertrösten, auch ablehnen. Vielen D ank. wenn wir unseren längst vorliegenden Entwurf reali- (Beifall bei der SPD) sieren werden.

(Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Vorsichtig, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der kostet viel Geld!) unser Kollege Michael von Schmude. Weiter auf Herrn Töpfer zu hoffen ist völlig zweck- los. Michael von Schmude (CDU/CSU): Frau Präsiden- (Beifall bei der SPD) tin! Meine Damen und Herren! Der Haushalt des Meine Damen und Herren, Professor Dr. Walter Bundesministers für Umwelt liegt auch nach zwi- Kröll, Vorstandvorsitzender der Deutschen For- schenzeitlicher Korrektur deutlich über dem Etat schungsanstalt für Luft- und Raumfahrt in Köln, warnte 1993. Die Umweltschutzausgaben im Bundeshaushalt vor kurzem mit den Worten: „Wer die Forschung steigen von 8,48 Milliarden DM auf rund 9 Milliarden kürzt, verschärft die Krise." Er meinte die Luft- und DM im Jahr 1994. Erhöht werden auch die Umwelt- Raumfahrtindustrie. Diese Auffassung teile ich nicht. schutzkredite aus dem ERP-Sondervermögen und der 16804 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Michael von Schmude Banken des Bundes um 970 Millionen DM auf jetzt Dann hat der Kollege Wagner vorgeschlagen, wei- 4,9 Milliarden DM. tere 2,7 Millionen DM beim Neubau des Bundesamtes für Strahlenschutz zu kürzen. Schon in der ersten Lesung dieses Haushalts ist vom Kollegen Wagner der ergebnislose Versuch unter- (Unruhe bei der CDU/CSU) nommen worden, diese gewaltige Finanzleistung des Diesen Sparvorschlag haben wir gerne aufgenommen Bundes für unsere Umwelt herunterzureden und und darüber hinaus den gesamten Baransatz von abzuwerten. 12 Millionen DM aus dem Haushalt herausgenom- (Lachen bei der SPD) men. Da wird totgeschwiegen, daß wir mit dem neuen (Zuruf von der SPD: Unglaublich!) § 249h im Arbeitsförderungsgesetz rund 50 000 Men- Angesichts der Gesamtkosten von 52,3 Millionen DM schen einen Arbeitsplatz im Bereich der Umweltsanie- für den geplanten Neubau ist die vom Bundesminister rung zur Verfügung stellen. Da wird unterschlagen, der Finanzen vorgesehene Kostenüberprüfung drin- daß unsere international führende Umweltpolitik in gend notwendig. Deutschland Arbeitsplätze für insgesamt 700 000 (Zuruf von der SPD: Das hätten Sie schon vor Beschäftigte ermöglicht hat. Und da beklagt der drei Jahren machen sollen!) Kollege Wagner Kürzungen im Umwelthaushalt, an denen er selbst und seine Fraktion ganz kräftig Der Grundstückskaufpreis von 2,9 Millionen DM in mitgewirkt haben. Ja, in einigen Fällen gingen ihnen einer standortschwachen Region ist völlig überhöht. die Kürzungen gar nicht weit genug. Es zeichnet sich bereits jetzt ab, daß durch Nachver- handlungen eine Reduzierung um wahrscheinlich (Unruhe bei der SPD) 800 000 DM möglich erscheint. Ich bin dem Kollegen Schmidt von der SPD für seine diesbezüglichen Hin- Das gilt auch für die Öffentlichkeitsarbeit. Und da weise außerordentlich dankbar. beklagen Sie, Herr Kollege Wagner, gleichzeitig, daß die Öffentlichkeit schlecht über den Umweltschutz (Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Wie informiert ist. bitte?) Die SPD, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat bei Bei allem Verständnis für die Wünsche der Stadt den Haushaltsberatungen aber auch den Antrag Salzgitter nach einer städtebaulich repräsentativen gestellt, die Umweltforschungsmittel um 10 Millionen Lösung muß ich doch feststellen, daß wir hier einen DM zu erhöhen. Dabei wird völlig außer acht gelas- Behördenzweckbau errichten wollen, ohne Schnör- sen, daß im Haushalt für die Folgejahre 1995 bis 1997 kel, ohne Marmor, ohne Mahagoni. Mit der Beibehal- zusätzliche Verpflichtungsermächtigungen in einer tung der Verpflichtungsermächtigung über 25 Millio- Höhe von 103,6 Millionen DM vorliegen. Damit ist die nen DM wird auch klargestellt, daß wir an dieser Kontinuität in der Umweltforschung gesichert. Nicht Neuunterbringung des Strahlenschutzamtes festhal- allein entscheidend ist im übrigen, wieviel Geld wir ten. Die eingetretenen Verzögerungen sind zwar ausweisen, sondern was dabei herauskommt. bedauerlich, ändern aber nichts daran, daß die Bun- desregierung ihre Zusage eingehalten hat, das Strah- (Lachen bei der SPD) lenschutzamt in Salzgitter einzurichten. Ein fester Termin für einen Neubau wurde nie genannt. Interessant war der Deckungsvorschlag für diese 10 Millionen DM. Da wurde vom Kollegen Wagner Die Neufassung des Titels betont jetzt noch einmal vorgeschlagen, die Umweltschutzpilotprojekte im den Standort, obwohl dieser bereits durch Gesetz Inland, die zu einem Großteil auf die neuen Bundes- festgeschrieben worden ist. Der Kollege Helmut Sauer länder entfallen, um 7,3 Millionen DM zu kürzen. (Salzgitter) hatte sich für diese Klarstellung noch einmal eingesetzt, und ich begrüße das auch. (Unruhe bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Mittel betragen sowieso nur 123,5 Millionen DM Mit den vorgesehenen Verpflichtungsermächtigun- und werden nach Feststellung des Ministeriums drin- gen ist es möglich, wenn der Finanzminister seine gend benötigt. Prüfungen abgeschlossen hat, noch im Laufe des Jahres 1994 den Grunderwerb zu tätigen. (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Für Kohle mehr Geld, für die neuen Bundesländer (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: nicht!) Wir machen mit!) Die SPD-Abgeordneten im Umweltausschuß hatten Es ist bedauerlich, daß diese Überprüfungen zu einer merkwürdigerweise eine Erhöhung dieser 123,5 Mil- Kampagne politischer Art mißbraucht wurden, aber es lionen DM, die der Kollege Wagner kürzen wollte, ist auch bezeichnend, daß gerade jene sich für den beantragt, und zwar um 50 Millionen DM. Das ist Bau des Strahlenschutzamtes eingesetzt haben, die schon eine merkwürdige Konzeptionslosigkeit bei der die Errichtung des Endlagers Schacht Konrad strikt SPD! boykottieren, obgleich auch sie wissen, daß das Hauptsachargument für das Strahlenschutzamt in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Salzgitter gerade die Nähe zu Schacht Konrad ist. Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist exem- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) plarisch!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in jüngster Zeit — Das ist mehr als exemplarisch. mehren sich Umweltschäden außerhalb Deutsch- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16805

Michael von Schmude lands, für die wir in Regreß genommen werden. Die Michael von Schmude (CDU/CSU): Bitte schön. Rückführung und Entsorgung von Pflanzenschutzmit- (Abg. Eckart Kuhlwein begibt sich zu einem teln aus früherer DDR-Produktion von Rumänien nach Mikrophon im Bereich der Gruppe PDS/ Deutschland kostet uns 9,66 Millionen DM. Linke Liste.) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Unglaublich!) Eckart Kuhlwein (SPD): Ich muß die Frage leider von Die Lander haben es abgelehnt, sich daran auch nur hier stellen, weil die Technik offenbar noch nicht zu beteiligen. Die Bundesregierung wird dies nicht wieder funktioniert. hinnehmen. Es kann nicht sein, daß der Bund bei der Herr Kollege von Schmude, da der von Ihnen ge- Beseitigung von Erblasten aus der früheren DDR nannte Kreis auch mein Heimatkreis ist, möchte ich wieder einmal alleingelassen wird. Ihnen gern die Frage stellen, ob Sie nicht meine Ich begrüße die Absicht von Minister Klaus Töpfer, Auffassung teilen, daß Abfälle, die im Zusammen- einen Gesetzentwurf über die finanzielle Mitverant- hang mit dem Be trieb auf Bundesfernstraßen entste- wortung der Länder in derartigen Fällen zu veranlas- hen, auch eine gewisse Verantwortung des Bundes sen. bei der Schadensbeseitigung und der Finanzierung der Schadensbeseitigung zur Folge haben müßten. Bereits im August 1990 kenterte eine norwegische (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wohnplattform 110 km westlich von Sylt auf dem Und das Asphaltwerk, das die Straße gebaut deutschen Festlandsockel. Das Wrack ist immer noch hat, auch!) nicht beseitigt und stellt nicht nur ein Hindernis für die Schiffahrt dar, sondern wegen des befürchteten Aus- tritts von Hydrauliköl auch ein Risiko für die Um- Michael von Schmude (CDU/CSU): Herr Kollege welt. Kuhlwein, die Bundesländer haben mit Ausnahme von Schleswig-Holstein einstimmig festgestellt, daß Die internationalen Vereinbarungen sollten auf die die Abfallbeseitigung eine Angelegenheit der Kreise finanzielle Verantwortung hin überprüft werden, ist, damit in derartigen Schadensfällen schneller und un- (Zustimmung bei der CDU/CSU) bürokratischer vorgegangen werden kann. und der Bund kann nicht zusätzliche Lasten wie Die Bewältigung finanzieller Lasten bei der Aufar- immer übernehmen, wenn die Länder sich weigern, beitung von Umweltschadensfällen wird zunehmend grundsätzlich weigern, wie das hier aber nur bei zu einem Problem. Ein Beispiel mag dies verdeutli- Schleswig-Holstein der Fall ist, auch ihren Teil dazu chen. beizutragen. Im Januar 1989 hatte ein Tanklastfahrer 5 000 1 Deshalb rege ich an, daß, weil durch derart krimi- Kresol auf einem Autobahnparkplatz in meinem Hei- nelle Handlungsweisen Folgeschäden entstehen, der matkreis Stormarn abgelassen. Schwere Umweltschä- Bundesumweltminister mit den Ländern Gespräche den waren die Folge. Monatelang verschleppte der führt, damit ein Hilfsfonds angelegt wird, der bei jetzt endlich zurückgetretene schleswig-holsteinische gravierenden Umweltschadensfällen an Bundesauto- Umweltminister Heydemann die Entsorgung. 12 Mil- bahnen und Bundesstraßen dafür sorgt, daß die lionen DM Kosten sind aufgelaufen. Kosten der Kreise von einer breiteren Ebene getragen Das Land Schleswig-Holstein verweigert — wie werden. kann es anders sein — eine Kostenbeteiligung und wird nun allerdings veranlaßt, den Kreis zu verklagen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zusatzfrage? Der Bund deklariert das Kresol als Abfall, der Kreis sei zuständig. Der Kreis beruft sich auf den Status des Bundes als Eigentümer von Bundesstraßen. Das Ver- Michael von Schmude (CDU/CSU): Bitte. fahren könnte sich zu einem Musterprozeß entwik- keln. Eckart Kuhlwein (SPD): Darf ich Ihnen noch eine Inzwischen gibt es einen neuen Fall in meinem Zusatzfrage stellen, weil ich dieses Modell mit einem Kreis. Zwei polnische Fahrer hatten im August dieses Hilfsfonds durchaus für akzeptabel hielte? Wäre es Jahres, diesmal auf einem Rastplatz an der Bundes- nicht dem Verursacherprinzip entsprechend, daß die straße 404, Chemikalien aus ihrem Lkw abgelassen, Betreiber solcher Transporte, die gelegentlich zur wodurch 350 m3 Boden verseucht wurden. Durch Deponierung von giftigen Abfällen führen, dafür in derartige kriminelle Handlungen entstehen Folge- Form einer besonderen Versicherung aufkommen? schäden, mit denen die Kreise, wenn sie denn von (Beifall bei der SPD) ihren Ländern alleingelassen werden, absolut über- fordert sind, zumal auch Versicherungen sich weigern zu zahlen. Michael von Schmude (CDU/CSU): Die Transport- unternehmen haben Versicherungen. Sie haben Haft- pflichtversicherungen. Aber die Beispiele der Praxis haben gezeigt, daß sich diese Versicherer, wenn es darauf ankommt — so ergeht es oft ja auch Privatleu- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr von Schmude, ten, die versichert sind —, dann zurückziehen und auf gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten den Standpunkt stellen, sie seien in solchen Fällen Kuhlwein? nicht gezwungen zu zahlen. Solche Fälle haben wir 16806 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Michael von Schmude hier vorliegen. Deswegen meine ich, daß über diesen Wir haben eine Menge, wie wir jetzt wissen, zu spät Hilfsfonds Gespräche geführt werden müssen. oder nicht gemacht; aber wir haben mit einem konse- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: quenten Ausbau, zunächst mit dem vielgescholtenen Aber in aller Ruhe!) Ordnungsrecht unser Land in die Lage gebracht, daß wir bei unserer Produktion und bei Produkten eine — Aber in aller Ruhe und mit dem Ziel, daß auch die internationale Spitzenstellung haben. Länder hier in gebührender Weise in die Pflicht genommen werden, Herr Kollege Dr. Weng. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Heiterkeit) Der Standort Deutschland ist jedenfalls nicht durch den Druck, den wir ausgeübt haben und den unsere Zwei Bereiche der internationalen Zusammenar- Gesellschaft ausgeübt hat, oder durch die Vorgaben, beit möchte ich zum Schluß ansprechen. die wir gemacht haben, gefährdet worden. Bei unse- Erstens das deutsch-polnische Vorzeigeobjekt Bau ren Produkten, das zeigen alle internationalen Stati- einer gemeinsamen Kläranlage in Swinemünde mit stiken, sind wir Spitzenreiter. Anschluß von deutschen Gemeinden auf der Insel Usedom. Dieses Projekt kommt gut voran. Der Bund Es gibt jetzt Schwierigkeiten. Wir merken das als stellt Fördermittel von insgesamt 20,8 Millionen DM, Umweltpolitiker. Wir müssen sehr hart argumentie- davon allein 10,3 Millionen DM in 1994, zur Verfü- ren, um überzeugend unter Beweis zu stellen, daß die gung. Das Projekt ist ausgeschrieben, und es steht Umweltpolitik ein unverzichtbares Element des schon jetzt fest, daß deutsche Technologie zum Ein- Standorts Deutschland ist. satz kommt. Bedauerlich ist, daß die polnische Seite Wir müssen nachweisen, daß wir die Mittel effizient die Prüfrechte des Bundesrechnungshofs mit Hinweis einsetzen. Wir müssen altes Recht auf überflüssige auf die eigene Souveränität ablehnt und lediglich dem Regulierungen und Hemmnisse bei Investitionen Bundesumweltminister Prüfrechte einräumt. Wir kön- durchforsten. Wir müssen unser Ordnungsrecht kri- nen das vielleicht in diesem Fall ausnahmsweise tisch ansehen. Wir müssen bei jedem neuen Vorhaben akzeptieren. Das darf aber kein Präzedenzfall für die prüfen, ob es wirklich schnell die Ziele, auch die künftige deutsch-polnische Zusammenarbeit wer- Umweltziele, realisiert, die wir anstreben. den. Eines möchte ich kritisch zu einer gewissen Stim- Zweitens möchte ich die interna tionale Zusammen- mung sagen, die wir auch in der Wirtschaft feststel- arbeit auf dem Gebiet der Reaktorsicherheit anspre- len— das haben auch Sie, Herr Töpfer, vor einigen chen. Wir stellen hier 11 Millionen DM für die osteu- Tagen zusammen mit den Umweltministern festge- ropäischen Staaten zur Verfügung. Die Aus- und stellt —: Die Umweltpolitik ist in unserer Republik Weiterbildung von Personal in Kernkraftwerken wird nicht der Arbeitsplatzkiller. schwerpunktmäßig in der Simulatorenanlage in Lub- min bei Greifswald vorgenommen. Dieses von der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Treuhand privatisierte Objekt hat Monopolcharakter, Er ist auch nicht der Rezessionsverursacher, sondern weshalb die uns berechneten Kosten von uns beson- in der Regel ein Motor für sinnvolle, nützliche ders sorgfältig zu prüfen sind. Zukunftsinvestitionen. Dabei soll es bleiben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Schluß. Die Koalitionsfraktionen stimmen dem Haus- SPD) halt des Bundesumweltministers zu und bedanken Der Haushalt ist auch nicht der Indikator für das, sich zugleich bei ihm und seinen Mitarbeitern für die was im Umweltschutz getan wird. Das kann er nach überaus erfolgreiche Arbeit. unserer Auffassung auch nicht sein; denn jede Inve- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) stition, jede Ausgabe, die jeder einzelne vornimmt, finden Sie doch nicht im Haushalt. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster erhält Wir wollen Rahmenbedingungen für umweltpoliti- der Kollege das Wort. sche Investitionen schaffen. Umweltpolitik wird immer mehr zum Bestandteil der anderen Haushalte, zum Bestandteil der anderen Politiken. Das ist Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Frau Präsidentin! gewollt. Die Umweltpolitik findet in der Verkehrs- Meine Damen und Herren! Herr Kollege Wagner, ich politik, in der Agrarpolitik, in der Finanzpolitik statt wünsche mir, daß Sie sich die Ruhe und Gelassenheit und ist allein am Haushalt des Umweltministers — das angewöhnen, die Mitglieder von Regierungsparteien wäre traurig — nicht abzulesen. ihrer Regierung gegenüber an den Tag legen. Das (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gehört dazu, wenn Sie regieren wollen. Im übrigen ist es so: Ich habe bei internationalen Umweltpolitik ist also ein Teil der Umorientierung, in Begegnungen festgestellt, daß unser L and sehr gut der wir uns jetzt befinden. dasteht. In der UNO haben wir einen hervorragenden Herr Kollege Wagner, es ist ja sehr schön, von dem Ruf, einen sehr viel besseren offenbar als bei der Naturschutzgesetz zu reden; auch ich habe das viele Opposition. Jahre lang getan. Aber ich habe dann hier im Plenum (Zuruf von der SPD: Das stimmt!) gesagt: Es geht nicht mehr so. Wir können nicht die großen Lasten, auch die Umweltlasten, im Osten Den haben wir uns durch eine konsequente Umwelt- bewältigen und dann alten Träumen nachhängen. politik erworben, übrigens in allen Koalitionen. Denn das Naturschutzgesetz muß finanziert werden. (Eckart Kuhlwein [SPD]: Mal so, mal so!) Es gibt keinen vernünftigen Finanzierungsvorschlag Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16807

Gerhart Rudolf Baum von Ihnen. Deshalb haben wir, die Koalition, richtig dung vorzulegen. Ich werde mich dafür einsetzen, daß gehandelt, daß wir dieses Vorhaben zurückstellen in diesem Artikelgesetz auch deutliche Hinweise zur und jetzt nicht in die vorderste Linie stellen. Energieeinsparung, zu erneuerbaren Energien und Wir wollen das Bodenschutzrecht reformieren. Herr höherer Energieeffizienz enthalten sind. Töpfer, da haben wir eine gewisse Sorge, ob wir noch Aber dies ändert nichts an der Feststellung, daß eine rechtzeitig den Regierungsentwurf bekommen. Einigkeit notwendig ist, auch im Hinblick auf die (Beifall bei der SPD) Kohle; auch sie ist notwendig. Es gibt Länder, die an ihrer Kohle überhaupt kein Interesse haben. Herr Der Zeitplan rückt sehr weit in das nächste Jahr. Wir Schröder würde lieber die Importkohle verfeuern, die sind sehr daran interessiert — ich sage das hier für in Wilhelmshaven für 80 DM angelandet wird. meine Partei —, auch im Interesse der Investitionssi- cherheit möglichst schnell das Bodenschutzgesetz Wir setzen als Liberale auf eine möglichst breite hier im Parlament beraten zu können. Palette marktwirtschaftlicher Instrumente, vor allen Dingen auf eine ökologische Weiterentwicklung des (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Steuersystems. Wir sind auch für eine stufenweise Wir sehen eine enge Beziehung zu den Entwicklun- Erhöhung der Mineralölsteuer. Das Autofahren ist zu gen in Osteuropa; das ist hier schon erwähnt worden. billig. Wir haben Energiepreise, Mineralölpreise, die, Wir begrüßen, daß im Haushalt dazu nach wie vor gemessen an den Einkünften, niedriger sind als vor Mittel enthalten sind. Wir begrüßen auch Ihre Initia- zehn Jahren. Wir wollen nicht das Auto verteufeln, tiven, Herr Töpfer. Sie haben von früh an international aber die Automobilindustrie endlich veranlassen, hier eine Meinungsführerschaft übernommen. Autos zu bauen, die weniger Sp rit verbrauchen. Ich halte es für unverantwortbar, daß die ukraini- (Beifall bei der F.D.P. — Klaus Lennartz sche Regierung Tschernobyl wieder teilweise in [SPD]: Das haben Sie schon oft gesagt!) Betrieb genommen hat. Die Erhöhung der Preise ist ein wirksames Lenkungs- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU instrument, und ich freue mich, daß ein großer Auto- sowie bei Abgeordneten der SPD) mobilhersteller jetzt von sich aus das umweltfreundli- che Auto wesentlich preiswerter anbietet als die Sie haben das kritisiert, wir müssen das hier kritisie- anderen Typen. ren. Es wird noch schlimmer, wenn wir wissen, daß aus diesem Elektrizitätsverbund Strom in das westliche (Beifall bei der F.D.P.) Ausland geliefert wird, während z. B. in Österreich ein Ein wichtiger Schritt ist für uns die Abschaffung der moderner Reaktor nicht in Betrieb genommen wird Kraftfahrzeugsteuer. Das habe ich hier schon mehr- und der Strom aus den maroden, hochgefährlichen fach gesagt. Hier gibt es auch einen Handlungsbedarf Kraftwerken der alten RBMK-Reaktoren in der frühe- in der Koalition. Meine Partei ist seit langem für die ren Sowjetunion gewonnen wird. Abschaffung der Kraftfahrzeugsteuer. Sie muß auf- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: kommensneutral auf die Mineralölsteuer umgelegt Selbst Mülheim-Kärlich!) werden. Hier haben wir dann auch einen Abbau an — Mülheim-Kärlich ist ein anderes Beispiel. Vor die Verwaltung als Folge. Wahl gestellt, Tschernobyl oder Mülheim-Kärlich, Wir wollen das Ordnungsrecht entrümpeln, und wir wüßte ich, wie ich mich zu entscheiden hätte. setzen schließlich auf die konsequente Privatisierung von Umweltleistungen. (Zuruf von der SPD: Weder noch!) Die Privatisierung ist eine der Voraussetzungen für Ich bin sehr enttäuscht, daß die Energiekonsens- die Investitionen in den neuen Bundesländern. Hier ist gespräche nicht zu einem Abschluß gekommen sind. Es gab in Ihrer Partei sehr unterschiedliche Strömun- viel geredet worden, aber auf dem privaten Sektor im gen, Herr Wagner. Es wäre ja sehr schön gewesen, Umbau von Wasser-, Abwasser- und Abfallanlagen wenn sich Herr Schröder hätte durchsetzen können. viel zu wenig in Gang gekommen. Das wäre ja eine Basis gewesen. Wir müssen dafür sorgen — das wird in den näch- sten Tagen hier diskutiert werden, auch innerhalb der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Koalition und der Regierung —, daß die Wasserent- Ich kann es nicht einsehen, daß wir es in einem sorgungs- und Abfallentsorgungsanlagen mit den Industrieland, in einem hochentwickelten Land der Versorgungsanlagen steuerlich gleichgestellt wer- westlichen Welt, eingebunden in eine europäische den, d. h. auch den ermäßigten Steuersatz erhalten. Gemeinschaft, verpflichtet zur Kooperation mit Osteu- Auch die privatrechtliche Organisationsform der ropa, nicht einmal fertigbringen, uns über wesentliche Abwasser- und Abfallentsorgung muß der öffentli- Grundzüge unserer Energiepolitik zu einigen. chen Form steuerlich gleichgestellt werden. Hier ist (Hans Georg Wagner [SPD]: 11. November ein großer Hinderungsgrund etwa für die Gemeinden 1991!) in Ostdeutschland, die p rivate Organisationsform zu wählen. Wir werden darauf drängen, daß dies abge- Es müßte doch wenigstens möglich sein, sich über die schafft wird. Entsorgung, über die Nutzung erneuerbarer Energien und auch über die Kohle zu einigen. Das ist leider nicht geschehen. Wir werden jetzt ein Artikelgesetz vorlegen, wo wir Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Baum, ich versuchen werden, Ihnen einige Dinge zur Entschei- sagte Ihnen, daß die Redezeit zu Ende ist. 16808 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Ja. Ich habe leider ökologische Meßlatte angelegt werden könnte. Aber hier auch keine Uhr, die funktioniert; die hier geht wir brauchen heute nichts Dringenderes. nicht. Ich werde jetzt eine Schlußbemerkung machen. Dabei stößt das grenzenlose Wachstum eines an Profit orientierten Wirtschaftens mit seinem Zwang Ich habe schon gesagt, daß wir uns intensiv um das zur Konkurrenz, zu Egoismus, Ellenbogengesellschaft Bodenschutzgesetz kümmern wollen. und verschwenderischem Konsum zunehmend an Wir sind jetzt dabei, das Kreislaufwirtschaftsgesetz seine Grenzen. zum Teil nach intensiven Debatten in der Koalition neu zu konzipieren. Die PDS/Linke Liste fordert daher eine an ökologi- schen und sozialen Kriterien orientierte Wirtschafts- Wir halten das Ausführungsgesetz zum Baseler politik, die den Menschen und der Umwelt dient und Übereinkommen über Abfallexporte für überfällig. nicht erstrangig der Verbesserung der Kapitalverwer- Hier müssen übrigens — Herr Kollege von Schmude tungsbedingungen. Wir fordern eine Wirtschaftspoli- hat das gesagt — die Länder an ihre finanzielle tik, die auf die Befriedigung wirklicher Bedürfnisse Verantwortung erinnert werden. gerichtet ist, nicht auf Verschleiß und Verschwen- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dung. Wir sind der Meinung, meine Damen und Herren, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Bei daß wir guten Gewissens dem Haushalt des Bundes- diesem Gelaber fällt mir noch nicht einmal umweltministers zustimmen können. Das werden wir ein gescheiter Zwischenruf ein!) auch gleich tun. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) — Sie sind heute wohl für Zwischenrufe zuständig, Herr Dr. Weng. Eine ernstgemeinte ökologische Politik muß statt Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich sage es noch auf nachsorgende Umwelttechnokratie auf die Verän- einmal: Ich gebe jeweils das Ende der Redezeit an , derung der herrschenden umwelt- und sozialzerstöre- weil wir zur Zeit zwar eine gute Akustik, aber keine rischen Produktionsweise Uhr haben. Die Notanlage ist akustisch besser als die hinarbeiten. Dies gilt ins- Hauptanlage. besondere in den Metropolen des Kapitals, den west- lichen Industriestaaten; denn genau hier liegt der (Eckart Kuhlwein [SPD]: Wie wäre es mit der Schlüssel dafür, daß die Umweltzerstörung in den Uhr aus dem Wasserwerk? — Zuruf von der Ländern der sogenannten Dritten Welt beendet CDU/CSU: Es wird Zeit, nach Berlin umzu- wird. ziehen!) Herr Töpfer hatte sich auf dem Umweltgipfel in Rio Als nächste spricht die Abgeordnete Dr. Dagmar ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, als er über die Enkelmann. Verantwortung der Industriestaaten sprach. Das aller- dings muß nun endlich in nachvollziehbare Politik Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Vor umgesetzt werden. allem, Frau Präsidentin, fehlt hier das rote Licht. Das So wie sich die PDS/Linke Liste für ein ökologisches, bedaure ich außerordentlich. auf effizienter Energienutzung erneuerbarer Ener- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der gieträger und Energiesparmaßnahmen beruhendes vorliegende Umwelthaushalt 1994 ist eine Mogelpak- Energieversorgungssystem einsetzt, so kämpfen wir kung, und das ohne Grünen Punkt. Er ist ein Atom- auch für die Durchsetzung eines hum anen Verkehrs- haushalt, besser noch: ein Atommülihaushalt. systems. Fast die Hälfte seines Etats soll das Bundesamt für (Zuruf von der CDU/CSU) Strahlenschutz schlucken. Weitere Millionen gehen — Das muß man bei dieser Regierung aber. für das, was so schönfärberisch „Reaktorsicherheit und Strahlenschutz" genannt wird, drauf. Was wir Konsequente ökologische Politik heißt darüber hin- hier eigentlich brauchten, wäre nicht ein als Umwelt- aus nicht nur ökologische Produktion, sanfte, dezen- etat getarnter Atomhaushalt, sondern eine Ökologi- tralisierte vergesellschaftete — wohlgemerkt: nicht sierung des gesamten Bundeshaushalts. verstaatlichte — Chemie, sondern auch Veränderung Was diese Haushaltsdebatte so deutlich auszeich- der Arbeit, so daß Menschen durch sie nicht abge- net, ist im Grunde genommen ein Töpfchendenken, stumpft, deformiert, krank, invalide oder gar getötet und keiner wagt, über die eigene Suppenschüssel werden. hinaus zu denken. Insofern könnte m an auch „Töpfer- Es gibt viele Schnittstellen zwischen ökologischer chen-Denken" sagen. Politik und unseren sozialen, ökonomischen, femini- (Heiterkeit) stischen und antirassistischen Grundpositionen. Eine — Da freut sich selbst der Herr Umweltminister. davon ist unsere Abscheu gegenüber denjenigen, die mit Begrifflichkeiten wie „Asylantenflut" oder „Be- Konsequente ökologische Politik ist eben ein Quer- völkerungsexplosion" Menschen mit Naturkatastro- schnittsthema. Sie darf auch nicht vor dem Wirt- phen gleichsetzen, die notfalls gewaltsam zu bekämp- schaftsetat und dem Verkehrsetat haltmachen, vom fen sind. Hinter dieser Sprache steht nicht nur ein Verteidigungsetat ganz zu schweigen; denn Rüstung rassistisches Bewußtsein, sondern ein um der sozialen ist mit Ökologie unvereinbar. Frage entleerter Naturbegriff. Die Natur läßt sich Ich weiß, die Herren Rexrodt, Wissmann und Rühe nicht gegen die Menschen verteidigen, sondern nur schaudert es bei dem Gedanken, daß an ihre Etats die mit ihnen. Entfremdete Arbeit, Elend, Ausbeutung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16809

Dr. Dagmar Enkelmann und Armut haben dieselbe Ursache wie die Zerstö- dann z. B. in das Biosphärenreservat Schorfheide rung der Natur. gesteckt werden. (Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Über Ich sehe einige Kollegen hier — Herrn Klinkert, welchen Etat reden wir denn hier?) Herrn Harries, und vor allem auch Herrn Norbert Rieder —, von denen ich mir vorstellen kann, daß sie — Ich habe eingangs gesagt: Hier geht es nicht nur um dieser Idee durchaus zustimmten. den Umweltetat, es geht um wesentlich mehr. Das müssen Sie endlich begreifen. Diesen Haushalt, den Umweltetat von Herrn Töpfer, jedenfalls müssen wir ablehnen. Meine Damen und Herren, der kapitalistische Indu- strialismus ist wie ein alter, löchriger Socken. Es reicht Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. auch nicht, ihn einfach auf „links" ziehen zu wollen, (Beifall bei der PDS/Linke Liste) wie dies in den Ländern des Staatssozialismus ver- sucht wurde. Es bleibt eben ein alter löchriger Socken, wenn auch unter umgekehrtem Vorzeichen, also mit Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht quantitativer Wachstumsideologie um jeden Preis, mit der Abgeordnete Dr. Rudolf Krause. Tonnenideologie usw. Michael Müller [Düsseldorf [SPD]: Muß das Heute gilt es, einen ganz neuen ökologischen und sein? — Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/ sozialverträglichen Strumpf zu stricken. CSU]: Wo sind die GRÜNEN hier bei dem Etat? Eduard Oswald [CDU/CSU]: Interes (Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: sant: Die GRÜNEN sind bei diesem Etat nicht Keine roten Socken!) hier!) — Es kann auch ein roter Strumpf sein. Dies bedeutet: Dezentralisierung der Entscheidun- Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Frau gen über Politik und Produktion. Nur eine zutiefst Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deutschl and demokratische Politik kann den ökologischen und leistet den mit Abstand größten anteiligen Beitrag sozialen Anforderungen der Zukunft gerecht wer- zum Umweltschutz. Nicht nur der deutsche Steuer- den. zahler, auch die deutsche Wirtschaft leisten dafür die Zentralismus nach Art von Brüssel und Maastricht - größten Opfer. Für den Haushalt des Umweltministers ist genau das Gegenteil von ökologischer und sozialer mit 9 Milliarden DM wird es von meiner Seite nur volle Politik. Es ist antiquierte, allein an Profit orientierte Zustimmung geben. Deshalb wird man auch bei Wachstumspolitik in westeuropäischem Rahmen. dieser Debatte von meiner Seite keinerlei pauschale Maastricht und die herrschende EG-Politik stehen für Beschimpfung hören, wie das sonst leider viel zuviel immer mehr Energie- und Rohstoffverbrauch, Indu- üblich ist. strialisierung und Chemisierung von Landwirtschaft Deutsche Umweltpolitik muß drei Zielen dienen: und Nahrungsmittelproduktion, für die Erzeugung erstens dem anteiligen Schutz dieser Erde, zweitens von unnötigen Verkehrsströmen bei gleichzeitiger dem Schutz des deutschen Verbrauchers vor Schädi- Verelendung und Freisetzung von immer mehr Men- gungen durch in- und ausländische Produkte und schen. Umwelteinflüsse; Umwelteinflüsse, die auf seinen Aus diesen Gründen, also aus ökologischen und Körper, seine Seele und seinen Geist einwirken, sozialen, lehnt die PDS/Linke Liste diese Art Europa schließe ich ein. Drittens muß Umweltpolitik dem der Konzerne und die Verträge von Maastricht ab. Schutz ausländischer Käufer deutscher Waren dienen. Das heißt, deutsche Waren müssen sauber bleiben. Aber das beruht eben auch auf Gegenseitigkeit. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Enkelmann, Eine grüne Eigendiskriminierung der deutschen Ihre Redezeit geht zu Ende. Wirtschaft dagegen schadet allen diesen Zielen und fördert letztendlich die Massenarbeitslosigkeit. (Eckart Kuhlwein [SPD]: Wir sind nicht auf (PDS/Linke Liste): Ja; ich Dr. Dagmar Enkelmann dem Kasernenhof!) bin gleich fertig. Es schadet der ganzen Erde, wenn saubere Produzen- Meine Damen und Herren, vielleicht gelingt es uns ten wegen hoher eigendiskriminierender Umweltko- ja, bei den nächsten Haushaltsberatungen einige sten vom Markt verschwinden und dadurch ökolo- ökologische Akzente in den Bundesetat einzufüh- gisch verantwortungslosere Konkurrenz inte rnational ren. wächst. Dies schadet der deutschen Wi rtschaft, und es (Ulrich Klinkert [CDU/CSU]: Wer ist denn schadet letztlich auch dieser Erde. „uns"?) Wodurch muß geschützt werden? Erstens muß — Ich schließe mich voll mit ein, Herr Klinkert. sicher durch Umweltauflagen für die deutschen Vielleicht haben dann auch Ideen eine Chance, die Erzeuger geschützt werden. Aber es ist eine grüne auf den ersten Blick eher abwegig erscheinen, so die Eigendiskriminierung, wenn Importe diese Auflagen Idee von Hanns L anger, die Zeitbombe Kosloduj nicht zu erfüllen brauchen und wenn kontaminierte durch Energiesparlampen zu entschärfen. So jeden- Billigprodukte eine unlautere Konkurrenz darstel- falls könnte man einige Millionen einsparen, die in len. eine mehr als fragwürdige „Verbesserung der techni- Zweitens. Geschützt werden muß auch durch Ein- schen Sicherheit von Kernkraftwerken sowjetischer fuhrverbote und Einfuhrzölle, wenn zu importierende Bauart" hineingesteckt werden sollen. Die könnten Waren nicht deutschen Vorschriften entsprechen. 16810 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) Wenn belastete Produkte teurere saubere deutsche tiges Entwickeln, auch in Deutschland zu erarbei- Produkte unlauter vom Markt verdrängen, müssen wir ten. auch gegen diese Eigendiskriminierung vorgehen. Ich danke den Mitarbeitern in meinem Ministe rium, (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: aber auch den Mitarbeitern in den Bundesämtern. Ich „Deutschland, Deutschland über alles!" danke denen, die in der Stadt bleiben, in der sie sind, Pfui!) und denen, die sie verlassen müssen. Das heißt auch: Wenn wir Energiesteuern wie höhere Heute ist viel über Salzgitter gesprochen worden. Benzinsteuern einführen und damit die deutsche Ich bin dankbar dafür, daß wir klar und deutlich Wirtschaft belasten, dann muß das in Zukunft auch sagen: Salzgitter ist der Standort. Dort wird entspre- durch entsprechende Energiezölle kompensiert wer- chend gebaut und die Unterkunft auf Dauer vernünf- den. Sonst liegt auch hier eine Eigendiskriminierung tig gemacht. der deutschen Wirtschaft vor, und wir bekommen letztendlich höhere Arbeitslosigkeit. (Beifall des Abg. Helmut Sauer [Salzgitter] Letztens. [CDU/CSU] sowie des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]) An gleicher Stelle danke ich auch den Mitarbeitern Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ihre Redezeit geht zu Ende. im Umweltbundesamt. Wir verlangen ihnen ab, daß sie aus Berlin nach Sachsen-Anhalt gehen. Damit (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Glück- leisten sie einen Beitrag dazu, daß deutsche Einheit licherweise!) auch in diesem Bereich gelebt wird. Das ist nicht selbstverständlich. Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Danke. — Wir brauchen eine Kennzeichnungspflicht, sowie bei Abgeordneten der SPD) mit der ökologische Herstellungsbedingungen und limitierte Inhaltsstoffe angegeben werden. Wir müs- Gerade deshalb möchte ich denen danken, die das sen nicht nur Lebensmittel, sondern auch Holz, Benzin mitmachen und nicht allein danach fragen, ob sie im und Atomstrom in unsere Restriktionen einbeziehen, Haushalt mit dieser Millionensumme vertreten sind wenn wir die Weltökologie nicht nur anteilig, sondern oder nicht. Ich muß ganz ehrlich sagen, so gern und so mit unserem ganzen Einfluß in der Welt schützen schnell ich ein neues Amt in Salzgitter hätte, meine wollen. Damen und Herren: Wenn sich die deutsche Umwelt- (Klaus Lennartz [SPD]: Mein lieber Schwan! politik an dem ein oder zwei Jahre früheren Bau eines Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?) Amtes in Salzgitter messen lassen kann, dann sind wir an der falschen Ecke. Das muß ich ganz deutlich — Manche denken selbst. sagen. (Klaus Lennartz [SPD]: M anche!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Danke. der F.D.P.) (Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Wenn wir wirklich in einer schwierigen wirtschaftli- Prost!) chen Situation auch von Mitarbeitern in Salzgitter erbitten, daß sie länger in einem Provisorium arbeiten, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter nimmt in dann tun wir dort nichts anderes als das, was ich mit dieser Aussprache Bundesminister Töpfer das Wort. meinen Mitarbeitern hier in Bonn seit vielen Jahren mache. Wir sind auf neun verschiedene Standorte Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, verteilt, und keiner leidet darunter, sondern jeder Naturschutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! erbringt seine Leistung. Das ist gut und richtig so. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst Lassen Sie uns die Dimension wieder in die richtige einmal möchte ich am Ende dieser Diskussion, viel- Ebene setzen und uns nicht an Dingen erhitzen, wo es leicht auch rückblickend auf dieses Jahr, all denen wirklich unnötig ist. Die Dinge sind ja geregelt. sehr herzlich danken, die in einer für die Umwelt- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber politik schwierigen Zeit engagiert weiter Umweltpoli- die Notbremse war notwendig!) tik mitbetrieben haben. Dies sage ich in diesem Hohen Hause an die Adresse vieler, die auch heute hier Nun lassen Sie mich wiederum in aller Klarheit und anwesend sind. Ich glaube, wir sollten mit großem Deutlichkeit die Grundphilosophie unserer Umwelt- Nachdruck darauf hinweisen, daß unsere Umwelt- politik nennen. Alles das, was der Kollege Wagner politik weltweit ein Markenartikel geworden ist und hier gesagt hat, führt eigentlich dazu, daß er fordern daß wir dies gerade in einer wirtschaftlich schwieri- müßte: Verändert Preise! Dann müßte er sagen: Über- gen Zeit weiter be treiben müssen. prüft jede Mark im Haushalt, ob eines Landes oder des Bundes, ob sie noch hineingehört. Denn jede Mark, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die in einem öffentlichen Haushalt über Steuermittel Ich danke an dieser Stelle in ganz besonderer Weise für Umweltmaßnahmen eingesetzt wird, ist ein Hin- allen meinen Mitarbeitern, die, obwohl auch sie sehen, weis darauf, daß wir vor dem Verursacherprinzip daß der Gegenwind etwas stärker geworden ist, kapitulieren. Dazu fordere ich Sie wirklich gerne (Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: So ist es!) heraus. kreativ weiter darum bemüht sind, vernünftige Lösun- (Monika Ganseforth [SPD]: Das ist viel zu gen für ein Sustainable Development, für ein nachhal- kurzsichtig!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16811

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Das ist gegenwärtig in einer Wirtschaft schwierig, die Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Herr Bundesminister, das Verursacherprinzip als Kostenbelastung sieht. wie bewerten Sie die Tatsache, daß angesichts der Verursacherprinzip durch Verordnungen und Ge- Debatte um Ihren Haushalt die Vertreter der grünen setze umzusetzen und jemandem zu sagen: Du mußt Partei hier von Anbeginn an fehlen? in den Preis deines Produkts die Abfallkosten einkal- kulieren, das ist eine verdammt schwierige Auf- gabe. Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, (Beifall der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.] Naturschutz und Reaktorsicherheit: Herr Kollege sowie der Abg. Thea Bock [SPD]) Hitschler, ich wollte darauf zurückkommen. Das ist viel schwieriger, als dafür zu sorgen, daß wir (Helmut Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Die 10 Millionen DM im Haushalt haben. sind doch nicht so wichtig!) Sagen Sie uns bitte auch hier: Das ist das Marken- Ich werde das in die Kategorie einordnen, daß es zeichen unserer Umweltpolitik. offenbar dringlich dieser Koalition bedarf, um in Deutschland vernünftige Umweltpolitik zu betreiben. (Hans Georg Wagner [SPD]: Leider nicht! Noch. Das ist gerade schiefgegangen! — Thea Bock [SPD]: Umsetzen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Lachen bei der SPD — Wilhelm Schmidt Das ist nicht nur meine Meinung. Eine Überschrift [Salzgitter] [SPD]: Ihr Lächeln ist entlar lautet: „Von Japan und Deutschl and lernen". vend!) (Manfred Hampel [SPD]: Das ist aber schon Meine Damen und Herren, Clinton: „Jobs, jobs, lange her!) jobs" — sein Wahlkampfmotto. „Von Japan und Aussage: Deutschland lernen" seine Antwort. Ich wäre gar nicht Wir haben im Wahlkampf gehört, übertriebener so weit gegangen, aber man wird einmal zitieren Umweltschutz sei einer der Hauptgründe für den dürfen. Niedergang unserer Volkswirtschaft, und wir (Hans Georg Wagner [SPD]: Al Gore hat noch müßten zwischen einer gesunden Umwelt und - mehr gesagt!) einer starken Volkswirtschaft wählen. Beides, so Wir werden es gut machen können, Herr Kollege wird behauptet, können wir nicht haben. Wir Wagner. müssen von Deutschland und Japan lernen. Ich bin wirklich außerordentlich zufrieden darüber, Das ist nicht lange her, Herr Kollege. Es ist fast genau daß ich heute von der Umweltkonferenz hierher vor einem Jahr veröffentlicht worden. Der Autor heißt komme. Also, sprechen Sie sich doch wenigstens Bill Clinton, Präsident der Vereinigten Staaten. Ver- einmal mit Ihrem Parteifreund ab. Das wäre öffentlicht wurde das u. a. in der Wochenzeitung „Die doch einfach ganz sinnvoll. Wir haben eine Umwelt- Zeit". Ich kann Ihnen diese Que lle gerne zur Verfü- ministerkonferenz hinter uns gebracht, in der man all gung stellen. das bestätigt hat, was man hier gegenwärtig kritisiert. (Hans Georg Wagner [SPD]: Das war wahr- Sie sind doch aus dem Saarl and. Ich auch. scheinlich vor der Wahl! Al Gore hat noch (Hans Georg Wagner [SPD]: Gebürtig! Im mehr geschrieben!) Gegensatz zu Ihnen! — Dr. Wolfgang Weng Ich zitiere gerne weiter: [Gerlingen] [F.D.P.]: Der Leinen hatte Leinen Einer der Gründe, warum deutsche Arbeiter um in den Augen!) ein Viertel mehr produzieren als ihre amerikani- — Welch eine kleine Münze! Herr Kollege Wagner, schen Kollegen, liegt darin, daß sie um die Hälfte wissen Sie was? Ich bin im Jahre 1938 geboren, weniger Energie verbrauchen, um die gleiche (Hans Georg Wagner [SPD]: Ich auch!) Warenmenge herzustellen. Japanische Firmen können ihre Produkte auf dem Weltmarkt um 5 % in Schlesien. Ich wäre herzlich dankbar, wenn wir uns günstiger anbieten, weil sie mit der Energie über unsere gemeinsame Geschichte genauso unter- besser haushalten. halten könnten wie mit dem Hinweis, ich bin da geboren. Wenn es der Fall wäre, sich einmal in Das ist nicht meine Aussage. Das schrieb vor einem Deutschland auseinanderzusetzen, dann sollten Sie Jahr Bill Clinton: „Von Deutschen und Japanern ler- sich über diesen Zuruf noch einmal Gedanken nen". machen, was denn heute in Deutschland möglich (Hans Georg Wagner [SPD]: Vermutlich vor ist. seiner Wahl!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bo nese] [fraktionslos]) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, Ich komme wieder darauf zurück, was ich sagen gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten wollte. Ich sage Ihnen doch eines: Wir haben im Hitschler? Saarland doch gegenwärtig bereits, wie Sie wissen, um Luxemburg herum, so etwas wie eine tankstellen- freie Zone, weil wir keine Abstimmung von den Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Energiesteuern haben. Ja, wir wollen in Europa eine Naturschutz und Reaktorsicherheit: Mit großer gemeinsame Energiesteuerveränderung erreichen. Freude. Dafür haben wir uns eingesetzt. Das haben wir jetzt in 16812 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Saarbrücken beschlossen. Dann sollten wir uns doch Dann hat man mir gesagt, das Duale System und die wirklich hinsetzen und sagen: Lassen wir es uns Verpackungsverordnung seien ganz gescheitert. Ich gemeinsam in einem gemeinsamen Europa machen! habe heute nicht nur die Freude gehabt, Herr Kollege Wir wollen die Steuern harmonisieren. D ann müssen Wagner, die Umweltministerkonferenz mit zu besu- wir wirklich bei den Energiesteuern anfangen, damit chen, sondern ich war heute nachmittag bei dem dies nicht zu Standortverzerrungen führt, sondern zu Landkreistag in Rheinland-Pfalz, gemeinsam mit mei- einer Entlastung der europäischen Wirtschaft insge- ner dortigen Kollegin Martini. Wir haben dort über samt. Dies ist doch der Zusammenhang. Kreislaufwirtschaft gesprochen. Die Frau Kollegin (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Martini hat mir gesagt, von Anfang an habe sie überhaupt nicht vorgehabt, das Duale System schei- tern zu lassen, denn es habe gewirkt.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister Töp- (Zuruf von der F.D.P.: Ach, das ist ja interes fer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordne- sant!) ten Ganseforth? Es wirkt wirklich. Zum erstenmal, meine Damen und Herren, bekommen wir auf einmal weniger Verpak- kungsmaterial und nicht mehr. 500 000 t Verpak- Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Aber gerne. kungsmaterial brauchen unsere Bürgerinnen und Bürger nicht mehr zu bezahlen. Die haben sie früher bezahlt. Jetzt sind es weniger geworden. Wir haben urplötzlich keine Diskussion mehr über Plastik. Da Monika Ganseforth (SPD): Herr Minister, würden muß man sich doch einmal informieren. Sie es nicht für sinnvoll halten, wenn Bill Clinton schon so ehrlich ist, zu sagen, von Deutschland und von Herr Kollege Wagner, ich gehe gern einmal mit Japan kann man etwas lernen, wenn wir z. B. das Ihnen zu den Entsorgern im Saarland. Diese sind bei gleiche sagen könnten, von den USA können wir mir gewesen und haben gesagt: Herr Minister, wir einiges lernen, sicher nicht den Energieverbrauch, brauchen dringlich einige Mengen von Verpackungs- aber least-cost-planning. Wir können eine ganze - kunststoffen, wir wollen nämlich damit etwas machen, Menge von Dänemark lernen — finden Sie das nicht es gibt keine mehr, sie sind alle bereits verteilt. — Das auch? —, wenn man an Windenergie denkt. Wäre es Problem Verpackung und Kunststoffrecycling ist nicht sinnvoll, sogar von Frankreich etwas zu lernen gelöst, weil die Marktwirtschaft darauf mit moderner oder von den Niederlanden? Also, ist der Umwelt nicht Technik geantwortet hat. am meisten damit gedient, (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Luxemburg!) Das ist der entscheidende Punkt. wenn jeder nicht nur das heraussucht, wo er selber vielleicht gut ist — da gibt es bei uns auch ein paar Meine Damen und Herren, wenn wir also in einer Sachen —, sondern wenn jeder vom anderen lernt und solchen Debatte Grundsätzliches erörtern wollen, guckt, wo dort etwas zu lernen ist und was besser ist dann füge ich hinzu: Diese Regierung und die sie als im eigenen Land, als wenn Sie sich als Minister hier tragende Koalition wollen eine ökologische und hinstellen und sagen, Bill Clinton sagt, er könne von soziale Marktwirtschaft. Wir wollen Steuerung nicht uns etwas lernen? Wäre der Umwelt damit nicht mehr über den Steuerhaushalt, sondern wir wollen Steue- gedient? rung über Preise. Wir wollen ökologisch ehrliche Preise, um damit Verhalten zu ändern und Technik zu (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: stimulieren. Und dies tun wir in hohem Maße selbst in Das war die längste Frage, die ich in den einer Zeit, in der diese Internalisierung externer letzten fünf Minuten gehört habe!) Kosten weiß Gott nicht leicht ist und für jeden einzel- nen erhebliche Schwierigkeiten macht. Aber genau das tun wir, und das bringt in der Tat wirklich gute Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Zukunftschancen. Das bringt Zukunftschancen in den Naturschutz und Reaktorsicherheit: Aber, Frau Kolle- Bereichen, wo wir mit dieser modernen Technik gin, nichts tue ich lieber als das. Ich habe eine weltweit auf dem Markt sind. Ich zitiere noch einmal, hervorragende Zusammenarbeit mit meinem Kolle- Frau Kollegin Ganseforth, Bill Clinton: gen Svend Aucken aus Dänemark und mit Hans Alders in den Niederlanden. Wir sind diejenigen, die Die Beweise liegen auf dem Tisch. Bedeutende in der Europäischen Gemeinschaft die Umweltpolitik Märkte sind uns bereits verlorengegangen. 1980 massiv mit voranbringen. Ich bin der letzte, der die hielten die USA noch drei Viertel des Weltmarkts Meinung vertritt, wir alle hätten schon als einzige alles für Solartechnologie in ihren Händen. 1990 hat- gut gemacht. Nur, eines steht fest: Die einzigen, die ten deutsche und japanische Konkurrenten unse- wirklich einen Einstieg in eine Kreislaufwirtschaft ren Anteil auf 30 % gedrückt. Früher haben wir und eine Ôkologisierung der Marktwirtschaft ge- die restliche Welt mit unserer Technologie zur macht haben, sind nun einmal wir. Andere gehen Kontrolle von Luftverschmutzung versorgt. Heute hinter uns her. Das muß man doch erwähnen dürfen. müssen wir 70 % dieser Technologie einführen. Dies ist die Situation. Dies sagt nicht der Bundesumweltminister, sondern (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Präsident der Vereinigten Staaten. Sie haben Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16813

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Märkte im Umweltschutz verloren, weil wir mit kon- Wer stimmt für den Einzelplan 16 in der Ausschuß- sequenter Umweltpolitik diesen Markt durch mo- fassung mit der soeben beschlossenen Änderung? — derne Techniken für uns gewonnen haben. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Ein- zelplan 16 gegen die Stimmen der SPD und der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) PDS/Linke Liste angenommen. Dies ist die Situation, und an dem Punkt werden wir weitermachen. Meine Damen und Herren, ich freue mich darüber, Ich rufe nunmehr auf: daß wir international dafür auch so akzeptiert werden. Und seien Sie ganz sicher, Herr Kollege Wagner: Ob Einzelplan 25 wir in der UNO die Kommission für nachhaltige Bundesministerium für Raumordnung, Bau- Entwicklung präsidieren werden oder nicht, das ist wesen und Städtebau eine sicherlich wichtige Frage. Aber wenn wir sie — Drucksachen 12/6022, 12/6030 — präsidieren, dann u. a. deswegen, weil alle wissen, daß wir mit dieser Ökologisierung unserer Marktwirt- Berichterstattung: schaft ernst machen, und weil wir damit Technologien Abgeordnete Dieter Pützhofen entwickeln, die andere dringlich brauchen. Carl-Ludwig Thiele Thea Bock Dies ist unsere Aussage, und deswegen bin ich — um es abschließend festzuhalten — sicherlich der (Abgeordnete verlassen den Saal) Meinung, daß wir auch in diesem Haushalt an der einen oder anderen Stelle gern mehr gesehen hätten, — Ich bitte Sie, zu warten; wir müssen noch abstim- mehr hätten machen wollen. Wer will das denn men. bestreiten? Aber auch der Bundesumweltminister (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die können muß sich in einer Zeit, in der die Rahmendaten dies ruhig gehen! — Weitere Zurufe von der erzwingen, mit an der Decke ausrichten. Wir werden CDU/CSU) alles daransetzen, mit den uns zur Verfügung gestell- ten Finanzmitteln kreative Umweltpolitik für eine — Reicht es? Zukunftsfähigkeit des Standortes Deutschland zu ent- wickeln. Ich bin ganz sicher: Dazu haben wir die Zum Einzelplan 25 liegt ein Änderungsantrag der richtigen Mitarbeiter, dazu haben wir die Unterstüt- Gruppe PDS/Linke Liste vor. zung in dieser Koalition, wofür ich mich sehr herzlich bedanke. Die Kolleginnen und Kollegen, die zu diesem Tagesordnungspunkt als Redner vorgesehen waren, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben ihre Debattenbeiträge zu Protokoll gegeben.*) Sind Sie damit einverstanden? — (Beifall) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Aussprache. Dagegen sehe ich keinen Widerspruch. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzel- Dann können wir jetzt zur Abstimmung über den plan 16: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz Einzelplan 25 kommen. und Reaktorsicherheit. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe PDS/ Dazu liegen ein Änderungsantrag der Fraktionen Linke Liste auf Drucksache 12/6238 vor, über den wir der CDU/CSU und der F.D.P. sowie ein Änderungs- zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungs- antrag der Abg. Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Helmut antrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Wieczorek (Duisburg), Hans Georg Wagner und wei- Änderungsantrag ist bei mehreren Enthaltungen terer Abgeordneter vor. mehrheitlich abgelehnt. Bevor ich zur Abstimmung komme, teile ich noch mit, daß der Kollege Wilhelm Schmidt eine Erklärung Wer stimmt für den Einzelplan 25 in der Ausschuß- zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung fassung? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit schriftlich vorgelegt hat.*) ist der Einzelplan 25 gegen die Stimmen der SPD und der PDS/Linke Liste angenommen. Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag der Abg. Wilhelm Schmidt, Helmut Wieczorek, Hans Weitere Wortmeldungen liegen mir für die heutige Georg Wagner und weiterer Abgeordneter auf Druck- Sitzung nicht vor. sache 12/6207 ab. Wer stimmt für diesen Änderungs- antrag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- der Änderungsantrag abgelehnt. destages auf morgen, Freitag, den 26. November 1993, 9 Uhr ein. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktio- nen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksache Ich schließe unsere Debatte und wünsche Ihnen ein 12/6208? — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — paar Stunden Schlaf. Damit ist der Änderungsantrag einstimmig angenom- men. (Schluß der Sitzung: 23.02 Uhr)

*) Anlage 2 *) Anlage 3 16814 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Berichtigungen

173. Sitzung, Seite 14942 C, 13. Zeile von unten: Statt „1,5 Millionen" ist „1,5 Billionen" zu lesen.

192. Sitzung, Seite 16657 A, Zeile 25: Die Worte „Opfer als" sind zu streichen; einzufügen ist das Wort „oftmals". Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16815*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Wohlleben, Verena SPD 25. 11. 93 entschuldigt bis Wollenberger, Vera BÜNDNIS 25. 11. 93 Abgeordnete(r) einschließlich 90/DIE Andres, Gerd SPD 25. 11. 93 GRÜNEN Augustin, Anneliese CDU/CSU 25. 11. 93 Zierer, Benno CDU/CSU 25. 11. 93 * SPD 25. 11. 93 * Blunck (Uetersen), * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Lieselott lung des Europarates Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 25. 11. 93 Clemens, Joachim CDU/CSU 25. 11. 93 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 25. 11. 93 Herta Anlage 2 Ehrbar, Udo CDU/CSU 25. 11. 93 Erklärung nach § 31 GO Dr. Fuchs, Ruth PDS/LL 25. 11. 93 des Abgeordneten Ganschow, Jörg F.D.P. 25. 11. 93 Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD) Gerster (Mainz), CDU/CSU 25. 11. 93 zur Abstimmung über den Änderungsantrag Johannes zum Einzelplan 16 - Gleicke, Iris SPD 25. 11. 93 Geschäftsbereich des Bundesministeriums Dr. Göhner, Reinhard CDU/CSU 25. 11. 93 für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dr. Herr, Norbe rt CDU/CSU 25. 11. 93 auf Drucksache 12/6207 SPD 25. 11. 93 Heyenn, Günther Mit dem Gruppenantrag von 46 SPD-Abgeordneten Hiller (Lübeck), Reinhold SPD 25. 11. 93 wird der Versuch unternommen, den ursprünglich Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 25. 11. 93 von der Bundesregierung vorgelegten Haushaltsan- Janz, Ilse SPD 25. 11. 93 satz und seine Zweckbestimmung wiederherzustel- Dr. Kahl, Harald CDU/CSU 25. 11. 93 len, nicht mehr und nicht weniger - aber eine Sache, Kiechle, Ignaz CDU/CSU 25. 11. 93 die für die Koalition offensichtlich nicht mehr selbst- Dr. Kolb, Heinrich L. F.D.P. 25. 11. 93 verständlich ist, obwohl mit dem Errichtungsgesetz Kraus, Rudolf CDU/CSU 25. 11. 93 von 1989 der Standort Salzgitter festgeschrieben Kretkowski, Volkmar SPD 25. 11. 93 wurde und nach mehr als vier Jahren des Arbeitens in Kronenberg, CDU/CSU 25.11.93 Provisorien endlich ein Beginn für eine vernünftige Heinz-Jürgen Unterbringung der Sacharbeit von rund 300 Mitarbei- Dr.-Ing. Laermann, F.D.P. 25. 11. 93 ter/innen nötig wäre. Alles andere wäre ein Gesetzes- Karl-Hans bruch und ein Bruch des Vertrauens durch den Bund Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 25. 11. 93 gegenüber den Mitarbeiter/innen des Bundesamtes Lenzer, Christian CDU/CSU 25. 11. 93 und gegenüber der Stadt Salzgitter, die in Abstim- Dr. Matterne, Dietmar SPD 25. 11. 93 mung mit dem Bundesumweltministerium und der Bauverwaltung seit langem die Stadtplanung auf Meißner, Herbert SPD 25. 11. 93 dieses Projekt ausgerichtet hat und dabei über Dr. Ortleb, Rainer F.D.P. 25. 11. 93 Gebühr lange zum Warten verdammt war. Palis, Kurt SPD 25. 11. 93 Priebus, Rosemarie CDU/CSU 25. 11. 93 Wer hat Salzgitter nicht alles Versprechungen und Dr. Probst, Albert CDU/CSU 25. 11. 93 * Zusagen gemacht, das Errichtungsgesetz war der „Punkt auf dem i". Mehr als 4 Millionen DM Pla- Rappe (Hildesheim), SPD 25. 11. 93 nungskosten wären in den S and gesetzt, wenn die Hermann Erstellung des BfS-Neubaus abgeblasen werden Reuschenbach, Peter W. SPD 25. 11. 93 würde. Vom bisher ermittelten Grundstückskaufpreis Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 25. 11. 93 - 2,9 Millionen DM - würden übrigens 1,2 Millionen Ingrid DM an die Bundesbahn gehen und damit praktisch in Dr. Scheer, Hermann SPD 25. 11. 93 * der Bundeskasse verbleiben. Ein weiteres Bremsen Schmidt (Salzgitter), SPD 25. 11. 93 des Projekts ist somit auch finanzwirtschaftlich unsin- Wilhelm nig. Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 25. 11. 93 Daß die Stadt Salzgitter schon wieder durch eine Schwanhold, Ernst SPD 25. 11. 93 Bundesentscheidung bestraft werden würde, scheint Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 25. 11. 93 die Mehrheit im Haushaltsausschuß nicht zu interes- Christian sieren. Schon bei der Festlegung des Standorts der Spilker, Karl-Heinz CDU/CSU 25. 11. 93 Deutschen Bundesstiftung Umwelt - Osnabrück -, Stachowa, Angela PDS/LL 25. 11. 93 die mit Mitteln in Höhe von mehr als 2,3 Milliarden Dr. von Teichman, F.D.P. 25. 11. 93 DM aus dem Verkauf der Salzgitter AG an die Cornelia Preussag AG gespeist worden ist, wurde von der CDU Türk, Jürgen F.D.P. 25. 11. 93 parteipolitisch entschieden. Daß der Alleingang eines Vosen, Josef SPD 25. 11. 93 Abgeordneten wie der des Kollegen von Schmude 16816* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 eine solche Unterstützung im Haushaltsausschuß angelangt. Die dann schnell wachsende Zahl von gefunden hat, muß bedenklich stimmen, vor allem, Haushalten, aber insbesondere die enormen Zuwan- wenn man die lange bekannten vorher von mir derungsraten, machten aus dem Überangebot überra- aufgeführten Fakten berücksichtigt. schend schnell Wohnungsmangel. Auf diese Situation Ich will auch hier auf die besondere Dimension der konnte es in unserer marktwirtschaftlichen Grundord- Arbeit der Föderalismuskommission von Bund und nung nur eine Antwort geben: Das Wohnungsangebot Ländern hinweisen, wie dies auch im Gruppenantrag zu steigern, und die Wohnungsbautätigkeit wieder in geschehen ist. Völlig unnötig ist das BfS zum Thema in Schwung zu bringen. Dazu war es erforderlich, die der Föderalismuskommission gemacht worden. Nach- notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, war dem dort gegen den Standort Salzgitter einstimmig es erforderlich, die öffentliche Förderung des Woh- keine Bedenken bestanden haben, würde mit einer nungsbaus, ob nun die direkte Förderung im sozialen Gefährdung dieser Entscheidung das ganze in der Wohnungsbau oder die steuerlichen Förderinstru- Kommission geschnürte Paket aufgebrochen werden. mente, zu stärken. Dieses Interesse kann doch ernsthaft niemand haben Heute können wir feststellen, daß wir dieser Her- — es sei denn, es gibt Kräfte in der Regierung, die sich ausforderung gerecht geworden sind. Jahr für Jahr aus „Finanzpanik" an keinerlei Absprachen mehr sind die Wohnungsbauzahlen fast sprunghaft gestie- halten. Aus dem Finanzministerium sind solche Töne gen. Allein in den alten Bundesländern werden wir zu hören. Ich warne ausdrücklich — auch nach schon in diesem Jahr ein Fertigstellungsvolumen von Abstimmung mit der niedersächsischen Landesregie- deutlich über 400 000 Wohnungen erreichen, also die rung — vor einem solchen H andeln. Zahlen des Jahres 1989 verdoppeln. Und diese Ent- Wenn die CDU/CSU und F.D.P. mit einem Ände- wicklung wird sich fortsetzen. In den alten Bundeslän- rungsantrag heute zeitgleich die Zweckbindung in dem werden die Genehmigungszahlen in diesem Jahr nahezu ihrer alten Form wiederherstellen, so ist das weit über 500 000 liegen und ein entsprechendes zwar zu begrüßen, denn sie nehmen die von der Stadt Fertigstellungsvolumen im kommenden Jahr garan- Salzgitter, den BfS-Mitarbeiter/innen und mir sehr tieren. Wir werden im kommenden Jahr die besten nachdrücklich vorgetragenen Bedenken ernst. Sie Fertigstellungszahlen im Wohnungsbau seit Mitte der stellen damit aber nur einen Teil des ursprünglichen 70er Jahre erreichen. Ein Fertigstellungsvolumen von Zustands wieder her, nämlich den am Gesetz orien- mehr als 500 000 Wohnungen hat es zuletzt 1974 — tierten Standort. Es bleibt zu fragen, ob mit einem damals 606 000 — gegeben. weiteren Verzicht auf die Aufnahme eines Baransat- Was für den Wohnungsbau insgesamt festzustellen zes das jahrelange Gezerre um die endgültige Ansied- ist, gilt für den sozialen Wohnungsbau gleichermaßen. lung des Bundesamtes wie bisher weitergehen soll. Auch hier konnten die Förderzahlen kräftig auf rund Ich fordere die Regierungskoalition auf, endlich ihre 130 000 gesteigert werden. Ich weiß, daß wir damit die Blockade zu beenden und ihre selbst gestellten Ver- Wohnungsmarktprobleme noch nicht gelöst haben pflichtungen zu realisieren. Hören Sie dabei auf das und daß dies nur ein Etappenziel ist. Dennoch halte Bundesumweltministerium, meine Damen und Her- ich diese Entwicklung im Wohnungsbau für eine der ren von der Koalition. Dies hat zu jeder Zeit eindeutige ganz herausragenden Leistungen dieser Bundesre- positive Erklärungen in dieser Sache abgegeben und gierung. sollte nicht länger daran gehindert werden, den Voll- zug der lange notwendigen Maßnahmen in Gang zu Mit diesen Leistungen am Wohnungsmarkt werden bringen. wir nicht nur den sozialen Anforderungen an die Wohnungspolitik gerecht, sondern wir haben zu- gleich auch einen erheblichen Beitrag zur Konjunk- turentwicklung geleistet. Der Wohnungsbau ist heute in der allgemein so schwierigen konjunkturellen Situation die tragende Säule der Baukonjunktur und Anlage 3 damit auch ein wichtiges, positives Element für die Gesamtkonjunktur. Auf diesem Weg müssen wir wei- Zu Protokoll gegebene Reden ter vorangehen und gerade der Haushalt 1994 ist zu Tagesordnungpunkt I 28 deutlicher Beleg für die Entschlossenheit der Bundes- Einzelplan 25 regierung, das zu tun. Mit mehr als 10 Milliarden DM Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen erreicht der Etat für den Wohnungs- und Städtebau und Städtebau das höchste Volumen, das bislang für diesen Aufga- benbereich zur Verfügung gestellt wurde. Wer da Dieter Pützhofen (CDU/CSU): Wir beraten heute noch dem Bund vorwirft, den Wohnungs- und Städte- abschließend den Haushalt 1994. Das ist der letzte bau zu vernachlässigen, der kann dies nur gegen Haushalt für diese Legislaturpe riode. Ich denke, dies besseres Wissen tun. ist ein Anlaß, eine erste Bilanz der Ergebnisse der Arbeit der Koalition auf den Feldern des Wohnungs- Die enorme Steigerung der Bundesmittel für den und Städtebaus in den vergangenen Jahren zu zie- Wohnungs- und Städtebau im Haushalt 1994 trotz hen. aller Sparzwänge ist Ausdruck unserer sozialen Ver- antwortung, die die Wohnung als Grundvorausset- Zu Beginn der Legislaturperiode, in den Jahren zung menschenwürdigen Lebens sieht. Und sie ist 1989 und 1990, war der Wohnungsbau in unserem Beleg dafür, wie abwegig der ständig wiederholte Land auf Grund des Überangebotes, das noch Mitte Vorwurf ist, es werde eine Politik einseitig zu Lasten der 80er Jahre festzustellen war, auf einem Tiefpunkt der sozial Schwachen betrieben. Wenn nun trotzdem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16817* unbeirrt von den positven Zahlen der Ruf nach dirigi- Einkommen orientierte Wohnungsbauförderung und stischen, staatlichen Eingriffen ertönt, dann wäre es damit die Abkehr vom starren Kostenmietenprinzip: kaum wert sich mit diesen gebetsmühlenhaften For- Es ist inzwischen gelungen, für diese Reformüberle- derungen auseinanderzusetzen, wenn sie nicht so gungen eine breite Zustimmung quer durch Parteien gefährlich wären für die Investionsbereitschaft am und Verbände zu erreichen. Sozialer Wohnungsbau, Wohnungsmarkt, die wir auch in den kommenden allein in der klassischen Form des ersten Förderwe- Jahren dringend brauchen. ges, ist von der Wohnungsmarktsituation her nicht Liebe Frau Kollegin Bock, Sie erkennen ja im mehr sachgerecht und ist, wie Sie alle wissen, nicht Grunde die wirtschaft lichen Notwendigkeiten im mehr finanzierbar, wi ll man die notwendigen, hohen Wohnungsbau genauso gut wie wir. Nur, Sie reden Förderzahlen erreichen. Auch bei sozialdemokratisch dann nach draußen so, als sei es möglich, Wohnungen geführten Landesregierungen hat sich — der Not zu Niedrigtarifen für jedermann zur Verfügung zu gehorchend — diese Erkenntnis ja inzwischen durch- stellen. Wenn der wohnungspolitische Sprecher der gesetzt. Wenn etwa der Berliner Bausenator Nagel SPD, der Kollege Zöpel, vor Fachleuten spricht, wie feststellt, daß der durchschnittliche Förderaufwand vor wenigen Wochen beim Verbandstag des Volks- für eine Sozialwohnung mit einer Bindung über 30 heimstättenwerkes, dann finden sich da Formulierun- Jahre derzeit in Berlin bei mehr als 700 000 DM liegt, gen, die man durchaus unterstreichen kann. — Zitat im dort praktizierten neuen Förderweg mit Orien- —: „Nur wenn der Preis die Kosten deckt, werden tierung am Einkommen der Mieter und durch- Wohnungen produziert. " Und an anderer Stelle: „Es schnittlichen Bindungen von 18 Jahren aber nur bei ist von entscheidender Bedeutung, an den Rahmenbe- 280 000 DM, dann ist dem nichts hinzuzufügen. In dingungen für den Wohnungsbau so wenig wie mög- Berlin werden heute schon Wohnungen direkt geför- lich zu ändern. Deshalb sollte es auch im mietrechtli- dert mit Anfangsmieten von 14, 16 und 18 DM und in chen Bereich keine weiteren Änderungen mehr der Förderbilanz dann den Zahlen für den sozialen geben. " Wohnungbau zugerechnet. Das ist die Rea lität. Vor der verschließen Sie hier die Augen. Gleichzeitig und an anderer Stelle erwecken die Sozialdemokraten Wunschvorstellungen von der Sicher gibt es auch berechtigte Kritik an Einzelre- Wohnung als Bestandteil staatlicher Daseinsfürsorge, gelungen des Modells der einkommensorientierten die billigst zur Verfügung zu stellen wäre. Sie wecken Förderung. Das stellt aber die grundsätzliche Richtig- Hoffnungen, die nicht einzulösen sind. keit dieses Modells in keiner Weise in Frage. Gerade deshalb haben wir in diesem Haushalt Möglichkeiten Frau Kollegin Bock, wollen die Sozialdemokraten geschaffen, einen Teil der Mittel für den sozialen denn nun kostendeckende Preise oder nicht? Wollen Wohnungsbau — 150 Millionen DM in den alten und Sie denn nun Änderung der Rahmenbedingungen 100 Millionen in den neuen Bundesländern — für oder nicht? Wollen Sie denn nun Änderungen im Pilotprojekte zur Erprobung der einkommensorien- mietrechtlichen Bereich oder nicht? Wenn Sie jedem tierten Förderung einzusetzen. Ich hoffe, daß es damit das sagen, was er gerne hören möchte, dann ist das gelingt, noch bestehende Widerstände gegen dieses zwar ein gutes Mittel, um im Moment Applaus zu Fördersystem abzubauen. erhalten. Aber Sie müßten dann gleichzeitig froh sein, nie die Regierungsverantwortung übernehmen zu Ich verstehe die Widerstände ja. Die alte Kosten- müssen; denn dann käme die Stunde der Wahrheit! miete ist aus Sicht der klassischen Investoren im Aber in diese Verlegenheit werden Sie ja nicht kom- sozialen Wohnungsbau ausgesprochen bequem, men. wenn die WB stimmt, auch auf Jahre hinweg gut zu disponieren, und wenn das Sozialamt die Miete über- Die Bundesregierung stellt im nächsten Jahr für den nimmt, auch ohne Risiko: Nur: Solche Bequemlichkeit sozialen Wohnungsbau Finanzhilfen in Höhe von können wir uns nicht mehr leisten. Die Zukunft des insgesamt rd. 3,5 Milliarden DM zur Verfügung. 2,5 sozialen Wohnungsbaus liegt in mehr Flexibilität und für die alten, 1 Milliarde für die neuen Bundesländer. in der Überwindung alter Schemata. Diese Zahlen sind Garant dafür, daß Wohnen bezahl- bar bleibt, daß der Wohnung in ihrem Charakter als Den zweiten großen Block in diesem Haushalt fürs Sozialgut unter dieser Bundesregierung Rechnung Bauen und Wohnen bildet das Wohngeld. Wir haben getragen wird. im Verlauf der Einzelberatungen über den Etat 94 den Ansatz noch einmal um 80 Millionen angehoben — Gerade diese enormen, finanziellen Anstrengun- auf jetzt mehr als 3,6 Milliarden DM. Diese Wohngeld- gen verpflichten uns aber dafür Sorge zu tragen, daß leistungen sind nach wie vor unverzichtbare, soziale die Mittel so effizient wie irgend möglich eingesetzt Flankierung des Wohnungsmarktes. Auch hier ver- werden. Deshalb ist es unverzichtbar, nach neuen, vor suchen Sie, durch Hinweise auf niedrigere Ansätze in allem auch gerechteren Förderbedingungen im sozia- der mittelfristigen Finanzplanung für die Folgejahre len Wohnungsbau zu suchen. Was wir brauchen, ist Unruhe und in den neuen Ländern teilweise Panik zu eine grundlegende Reform des Fördersystems im verbreiten unter dem Motto, die Bundesregierung sozialen Wohnungsbau, das ja in seinen heute prakti- wolle das Wohngeld reduzieren. Sie wissen, daß das zierten Grundzügen noch aus den 50er Jahren stammt unsinnig ist! Sie wissen, daß die Ansätze in der und den weitgehend veränderten Rahmenbedingun- mittelfristigen Finanzplanung Schätz-Titel sind, die gen am Wohnungsmarkt nicht mehr gerecht wird. Das vom heute geltenden Wohngeldgesetz ausgehen Stichwort Fehlbelegung zeigt, zu welchen höchst müssen und über die künftigen Wohngeldleistungen unsozialen Folgen dies führt. wird eben nicht im Haushalts-Aufstellungsverfahren Über die Notwendigkeit der Reform sind sich alle entschieden, auch nicht in der zweiten und dritten Experten einig. Ziel ist die Umstellung auf eine am Lesung, sondern bei der Debatte über Änderungen 16818* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 des Wohngeldgesetzes, das die verbindliche rechtli- Ländern Modernisierungs- und Instandsetzungsmaß- che Grundlage für die notwendigen Haushaltsleistun- nahmen durchgeführt wurden. gen schafft. Auch für den Wohnungsneubau ist ein beachtlicher Etwas zurückgetreten in der öffentlichen Diskus- Fortschritt festzustellen. Die Genehmigungszahlen sion ist die Städtebauförderung. Dennoch veran- für die erste Hälfte dieses Jahres liegen mit 27 500 schlagt der Haushalt insgesamt für die Städtebauför- schon höher als sie im gesamten vergangenen Jahr derung auch im Jahr 1994 einen Verpflichtungsrah- waren. Und sie werden sich in dieser Schnelligkeit men von insgesamt 1 Milliarde DM. Aber wir wollten weiter steigern. Auch hier mußten ja erst eirural wieder einmal mit 920 Millionen DM in den neuen Grundlagen für den Neubau geschaffen werden. Da Bundesländern den eindeutigen Schwerpunkt setzen. ist in drei Jahren viel erreicht worden. In diesen ersten Damit verstetigt der Bund seine Finanzhilfen in den Jahren lag eben das Schwergewicht, wenn ich etwa an neuen Ländern für städtebauliche Sanierungs- und die Baulandausweisung denke, im gewerblichen Entwicklungsmaßnahmen für den städtebaulichen Bereich. Dafür gab es Gründe, die ich begreife, aber Denkmalschutz und die städtebaulichen Modellvor- dennoch kritisiere. Inzwischen scheint sich das ja auch haben auf hohem Niveau. Förderhilfen für die gewandelt zu haben. Es ist das Bewußtsein gewach- Erschließung von Wohnbauland und die städtebauli- sen, wie notwendig vor allem die Ausweisung von che Weiterentwiclung der großen Plattensiedlungen Wohnbauland ist. sind hinzugekommen. Auch hier werden gerade von Mit der Lösung der Altschuldenproblematik hat die diesen Mitteln erhebliche wirtschafts- und arbeits- Bundesregierung schließlich ein letztes gravierendes marktpolitische Anstoßeffekte ausgehen. Hier wird Investitionshemmnis für die Wohnungswirtschaft in ein entscheidender Beitrag zum ökonomischen Struk- den neuen Ländern beseitigt. Damit steht eine Inve- turwandel in den neuen Ländern geleistet. Wenn sich stitionsoffensive in zweistelliger Milliardenhöhe be- heute irgendwo in den neuen Ländern die Aufwärts- vor. Mehr als 2 Milliarden DM an Zinshilfen für die entwicklung und die Verbesserung der Lebensbedin- Altschulden im Etat 1994 sind auch hier Beleg für die gungen dokumentiert, dann auf diesem Feld. enormen Anstrengungen der Bundesregierung. Der zugegeben geringe Ansatz im Jahr 1994 von 80 Wir beraten den Haushalt, und wir wissen, daß es Millionen DM für die alten Bundesländer in der beim Wohnungsbau allein mit Haushaltsantrengun- Städtebauförderung ist ein Signal dafür, ein Merk- gen und -daten nicht getan ist. Die Entwicklung ist von posten dafür, daß wir auf diesem Feld weiterhin vielfältigen anderen Rahmenbedingungen abhängig: wichtige Aufgaben sehen. Ich weiß aus der Arbeit des Von den bau- und planungsrechtlichen, von den Deutschen Städtetages, daß wir hier in den kommen- mietrechtlichen, den steuerrechtlichen, um nur einige den Jahren wieder verstärkt Schwerpunkte werden zu nennen. Auch auf diesen, teilweise sehr schwieri- setzen müssen. Aber die Welt geht nicht unter. Und gen Feldern hat die Bundesregierung die notwendi- wenn wir es dann im Westen wieder verstärkt tun, gen Entscheidungen getroffen, und es sind entspre- müssen es städtebauliche Maßnahmen einer andern chende gesetzliche Neuregelungen in Kraft. Ich Qualität sein, als dies vielfach in den letzten Jahren in nenne das Wohnbaulandgesetz, das unseren Gemein- den Gemeinden der westlichen Bundesländer der Fall den die notwendigen Instrumente für die schnelle war. Ausweisung neuen Baulands an die Hand gibt. Dieses Frau Kollegin Bock, Herr Kollege Thiele und ich Gesetz ist erst vor wenigen Monaten in Kraft getreten, haben uns in einem Gespräch mit Fachleuten bestäti- und es zeichnet sich schon jetzt ab, daß es in den gen lassen, daß einer der großen Vorteile der Städte- Kommunen außerordentliche Akzeptanz findet und bauförderung in dem erheblichen konjunkturellen sehr positive Auswirkungen haben wird. Ich nenne im Anstoßeffekt liegt, den diese Mittel mit sich bringen. Blick auf die Rahmenbedingungen auch die miet- Hier bringt eine eingesetzte Fördermark ein angesto- rechtlichen Regelungen, die Anfang September in ßenes Bauvolumen, das je nach Maßnahme beim Kraft getreten sind und einen der aktuellen Marktsi- sechs- bis zehnfachen liegt, wenn — wenn sie nicht tuation angemessenen Ausgleich zwischen Interessen mehr der Verschönerung des Marktplatzes oder der von Mietern und Vermietern geschaffen haben. Straßenmöblierung dient. Es müssen Maßnahmen Was die Rahmenbedingungen für den Wohnungs- sein, die im Zusammenhang mit wohnungspolitischen bau anbelangt, werden wir uns verstärkt auch dem Erfordernissen oder umweltpolitischen Notwendig- Bemühen um kostensparendes Bauen und, damit keiten stehen. verbunden, dem Abbau der Bürokratie stellen müs- Ich habe schon darauf verwiesen, daß wir in der sen. Die Einsetzung einer Expertenkommission soll Städtebauförderung derzeit den Schwerpunkt in den dies in Gang setzen. Mit zu starren Regelungen, mit zu neuen Ländern setzen. Auch die Anstrengungen für umfangreichen Normen und Standards verschenken den Wohnungsbau in den neuen Ländern sind unver- wir einfach viel an notwendiger Dynamik und engen mindert. Ich nenne nur als Stichworte die Verdoppe- eigene Handlungsspielräume ein. Ich denke, es darf lung des KfW-Programms für Modernisierung- und dabei keine Tabus geben, weder was Normen anbe- Instandsetzung auf 60 Milliarden DM, die Verlänge- langt noch was Honorarordnungen, bürokratische rung der günstigen Abschreibungsregelungen für Abläufe in den Verwaltungen Kostenobergrenzen im Modernisierungsmaßnahmen und für den Neubau sozialen Wohnungsbau bis hin zu Fragen der H and- und nicht zuletzt natürlich die Lösung der Altschul- werksordnung anlangt. denfrage. Heute können wir feststellen, daß dank Der Haushalt 1994 bringt schließlich auch das der massiven Förderleistungen des Bundes schon in notwendige Signal in Richtung Berlin, über das in den einem Drittel aller Bestandswohnungen in den neuen letzten Wochen so viel diskutiert worden ist. Wir Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16819* haben den Haushaltsentwurf im Verlauf der Haus- Die Fakten, mit denen wir uns zu beschäftigen haltsberatungen auf diesem Feld ergänzt. Es stehen haben, sind doch eindeutig: In der Bundesrepublik jetzt die notwendigen Mittel für Planungen und Wett- Deutschland fehlen ca. 2,5 Millionen Wohnungen, die bewerbe und mit einem Volumen von 200 Millionen Mieten steigen weiter, und die Zahl der Obdachlosen DM auch die notwendigen Mittel für Maßnahmen der oder der von Obdachlosigkeit bedrohten Menschen Wohnungsfürsorge bereit. Wir schaffen also von liegt mittlerweile bei 1 Million. Haushaltsseite her die erforderliche Sicherheit. Diese Bundesregierung hat unter Verantwortung Sicherheit müssen wir im Blick auf das Thema Berlin des Bundeskanzlers seit 1982 aufgrund katastrophaler schaffen, für die Wirtschaft ebenso wie für die Lebens- Fehleinschätzungen und einer ideologischen Woh- planung derer, die von der Hauptstadtentscheidung nungsbaupolitik durch die fast völlige Kappung des berührt sind. sozialen Wohnungsbaus in den vergangenen Jahren das wichtigste Steuerungsinstrument verrotten lassen und damit den Wohnungsmarkt in eine tiefe Krise Thea Bock (SPD): Die Debatte über die Wohnungs- gebracht. Die Ergebnisse dieser Politik sind allerorten politik der Bundesregierung in den vergangenen zu sehen. Rechtsradikale Stimmenfänger ziehen jetzt 11 Jahren hat gerade in den letzten Tagen eine den Profit auch aus der Wohnungsbaupolitik der traurige Aktualität bekommen. Der vorzeitige Winter- letzten Jahre. einbruch hat bereits zu den ersten Todesopfern unter den Obdachlosen geführt. Die steigende Obdachlo- Wir haben derzeit in der Bundesrepublik nur noch sigkeit ist ein erschreckendes Spiegelbild für die 2,8 Millionen Sozialwohnungen. Und jährlich werden verfehlte Wohnungspolitik dieser Regierung. Es ist es weniger, weil mehr Wohnungen aus der sozialen kaum vorstellbar, daß bundesweit rund 1 Million Bindung herausfallen als neue hinzukommen. 1992 Menschen ohne festes Dach über dem Kopf leben. Die stand den ca. 100 000 neu bewilligten Sozialwohnun- Handlungsfähigkeit der Bundesregierung darf aber gen der Verlust von 150 000 Wohnungen gegenüber, nun bei den Kommunen nicht zu einer Verdrängung die aus der Bindung ausschieden, weil die öffentlichen dieses Problems führen. Darlehen vorzeitig zurückgezahlt wurden. Das allein ergibt einen Negativ-Saldo von 50 000 Wohnungen, Ich fordere deshalb die Länder und Kommunen auf, nicht eingerechnet den Wegfall der Sozialwohnun- sich ihrer politischen und sozialen Verantwortung für gen, deren Darlehen planmäßig zurückgezahlt wur- die Obdachlosen bewußt zu werden und verstärkt den. Wohnungsbauexperten gehen davon aus, daß angemessene Unterbringungsmöglichkeiten für diese — wenn diese Entwicklung anhält — sich der Bestand Menschen zu schaffen. Es ist völlig unverständlich, an Sozialwohnungen im Jahr 2000 auf 1 Million daß sich gerade in den Großstädten die politisch verringert haben wird. Verantwortlichen immer noch weigern, über Nacht Aber schon heute ist eine ausreichende Versorgung z. B. die beheizten U- und S-Bahnstationen für Ob- von breiten Schichten der Bevölkerung mit preis- dachlose offenzulassen. Durch derartiges unverant- wertem und bezahlbarem Wohnraum nicht mehr wortliches Handeln sind weitere Todesopfer vorpro- sichergestellt. grammiert. Es macht mich traurig, daß ich in der Bundesrepublik Deutschland, in einer der führenden Frau Ministerin, sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Industrienationen, diesen Appell von diesem Ort aus legen von den Koalitionsfraktionen, wie sieht denn nötig habe. Gegenüber dem Ausland schäme ich mich Ihre Perspektive für den Wohnungsmarkt für das Jahr für diese Situation. 2000 aus? Die Mittel für den sozialen Wohnungsbau sind zwar im Haushalt für 1994 kurzfristig erhöht Obdachlosigkeit ist weder ein saisonales noch ein worden, aber schon mittelfristig nimmt die Bereitstel- Randgruppenproblem. Sie kann mittlerweile jeden lung dieser Mittel wieder ab. Unseren Antrag im von uns treffen. Neben den Mieterhaushalten sind in Haushaltsausschuß auf Aufstockung des Verpflich- den letzten Jahren auch zunehmend Haus- und Woh- tungsrahmens für den sozialen Wohnungsbau auf nungseigentümer meist durch unverschuldete Notla- 5 Milliarden DM für 1994 haben die Koalitionsfraktio- gen wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und falsche nen abgelehnt. Wann begreifen Sie endlich, daß Finanzberatung in die Zahlungsunfähigkeit geraten Wohnungsbaupolitik investive Sozialpolitik ist? und nach der Zwangsversteigerung obdachlos gewor- Insgesamt müßten jährlich 500 000 bis 600 000 den. Wohnungen gebaut werden. Die SPD strebt deshalb Ein Ende der Wohnungsnot ist nicht abzusehen. die Förderung von 200 000 Sozialwohnungen jährlich Wohnungsnot und zunehmende Obdachlosigkeit sind an, davon 50 000 in Ostdeutschland. Dafür notwendig auf die Wohnungspolitik dieser Bundesregierung wäre eine Erhöhung der Bundesfinanzhilfe für die zurückzuführen, die es seit ihrem Amtsantritt ver- Förderung des Wohnungsbaus und deren Versteti- säumt hat, preiswerten Wohnraum für einkommens- gung über mindestens zehn Jahre. Zusammen mit den schwache Bevölkerungsschichten zu sichern. Auch Mitteln der Länder und Kommunen würden dann fast der für 1994 vorgelegte Einzelplan 25 kann mit drei 20 Mrd. DM für den sozialen Wohnungsbau zur Begriffen kurz und treffend charakterisiert werden: Verfügung stehen. perspektivlos, unsozial und ineffizient. Ich habe Ziel dieser von uns beabsichtigten Förderung ist die bereits im letzten Jahr in der Haushaltsberatung die Schaffung von bezahlbaren Wohnungen für Haus- Wohnungsbaupolitik der Bundesregierung als kon- halte mit geringem Einkommen und für normal ver- zeptionslos kritisiert und brauche angesichts des uns dienende Arbeitnehmerfamilien. Wir forde rn zu- nun vorliegenden Haushalts in seiner heutigen Fas- gleich, auch die Eigenheimförderung auf einen sozial sung davon kein Wort zu revidieren. gerechten einkommensunabhängigen Abzug von der 16820* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Steuerschuld umzustellen. Auf diese Weise erhielten Jede öffentliche Mark, die hier investiert wird, zieht zukünftig Haushalte mit mittlerem Einkommen eine ein Vielfaches an privaten Investitionen nach sich und wesentlich höhere Förderung als heute. Und: Mitnah- bewirkt somit einen Multiplikationseffekt, der zudem meeffekte bei Steuerbegünstigungen müssen endlich Arbeitsplätze sichert. abgebaut werden, genossenschaftliches Bauen ist bei der steuerlichen Förderung zu berücksichtigen, ein Wir von der SPD haben gefordert, den Verpflich- tungsrahmen für 1995 wieder auf 380 Millionen DM, verbessertes Baukindergeld soll auch Familien mit also auf den Stand von 1992, hochzufahren, denn die mittlerem Einkommen zu Wohneigentum verhelfen. Städte brauchen — in ihrer katastrophalen finanziel- Aus Spekulationsgründen gehortetes Bauland ist len Situation — mehr Geld für die Sicherung und dadurch für den Wohnungsbau zu mobilisieren, daß Erweiterung des Wohnungsbestandes. Auch wollte Einkünfte aus Bodenwertsteigerungen in Zukunft die SPD eine flexiblere Handhabung der Mittel für genauso versteuert werden müßten wie sonstiges Einkommen. den ersten, den zweiten und den dritten Förderungs- weg erreichen. Das hätte den Ländern die Möglich- Das ist eine Perspektive für den Wohnungsmarkt. keit gegeben, selbständig zu entscheiden, mit wel- Mit diesen Maßnahmen kann man Wohnungsnot chen Zuschüssen und Darlehen sie ihre Wohnungs- bekämpfen. bauprogramme finanzieren. Aber auch das war mit Zu viele Arbeitnehmer und ihre Familien sind heute Ihnen nicht zu machen. Die Koalitionsparteien haben vom sozialen Wohnungsbau ausgeschlossen, weil die diesen SPD-Antrag im Bauausschuß und im Haus- Einkommensgrenzen seit 10 Jahren unverändert sind haltsausschuß abgelehnt. Dieses ist nicht zuletzt vor und nicht der Einkommensentwicklung angepaßt dem Hintergrund, daß die Bauwirtschaft fast die wurden. Eine Anhebung der Einkommensgrenzen um einzige Branche ist, die nicht von der Rezession durchschnittlich 10 Prozent, so fordern wir von der betroffen ist, um so unverständlicher. SPD, ist dringend notwendig, damit diese Haushalte, Frau Ministerin, Ihr Ansatz ist perspektivlos, weil er die die Mieten im freifinanzierten Wohnungsbau nicht das weitere Wegbrechen des sozialen Wohnungsbaus bezahlen können, endlich Zugang zu bezahlbaren nicht verhindern kann. Wohnungen erhalten. Auch dafür brauchen wir mehr und nicht weniger sozialen Wohnungsbau. Er ist unsozial, weil er immer mehr Menschen dem freien Wohnungsmarkt mit nicht mehr zu bezahlen- Bedingt durch die Vernachlässigung des Woh- den Mieten aussetzt. Und er ist unsozial, weil sich Ihre nungsbaus und den entstandenen Wohnungsmangel Regierung der Notwendigkeit entzieht, sich endlich ist es in den letzten Jahren zu einer regelrechten durch eine Änderung des Wohngeldgesetzes den Mietenexplosion auf den Wohnungsmärkten gekom- sozialpolitischen Notwendigkeiten in diesem Lande men. Die Belastung der kleineren Haushalte durch anzupassen. Er ist ineffizient, weil sie den Ländern Wohnkosten liegt derzeit bei durchschnittlich über und Kommunen mit der Absage an eine flexiblere 30 Prozent des verfügbaren Nettoeinkommens. Wäh- Handhabung der Förderungswege und durch die rend die Einkommensentwicklung auch in Zukunft Kastrierung der Städtebauförderung wichtige Hand- mit den zu erwartenden Mietsteigerungen nicht mit- lungsmöglichkeiten verweigern, um auf die Probleme halten können wird, verlieren immer mehr Sozialmie- auf dem Wohnungsmarkt angemessen zu reagieren. ter ihren Förderungsanspruch, wenn durch Ihre Poli- tik, meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht Die SPD-Fraktion hat in punkto Wohnungsbau eine endlich eine Anpassung des Wohngeldes und der ganze Reihe von Anträgen gestellt, die zusammenge- Miethöchstgrenzen im Rahmen einer Änderung des nommen ein Konzept der Wohnungsbauförderung Wohngeldgesetzes und des Wohngeldsondergesetzes darstellen. Sie haben sie alle abgelehnt. Ich fordere an die gestiegenen Mieten erfolgt. Ich fordere Sie auf, Sie auf, geben Sie ihre Verweigerungshaltung auf. das Wohngeld und Wohngeldsondergesetz endlich Die Ministerin wird uns mit Sicherheit in der heuti- der sozialen Wirklichkeit in unserem Land anzupas- gen Debatte wieder erzählen, wie erfolgreich ihre sen und dafür zu sorgen, daß nicht immer mehr Politik ist. Dieses wird sie uns mit Sicherheit lächelnd Menschen aus der Förderung herausfallen. vortragen. Angesichts der großen Not der von Woh- Der SPD-Antrag und auch ein Antrag des Bundes- nungsmangel und Obdachlosigkeit Be troffenen ist rates zur Änderung des Wohngeld- und Wohngeld- das allerdings ein unerträglicher Zynismus. sondergesetzes wird morgen in die entsprechenden Ich kann von dieser Stelle aus den Be troffenen nur Ausschüsse überwiesen. Ich kann Sie nur dringend versprechen, daß eine Scharping-Regierung 1994 die- bitten, diesen Anträgen zuzustimmen. Aber ich bin ses Problem mit aller Kraft und Entschlossenheit wenig optimistisch, denn die Stellungnahme der Bun- entschärfen wird. desregierung zum Antrag des Bundesrates macht schon deutlich, daß dergleichen nicht beabsichtigt wird. Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Im Einzelplan 25 des Bundeshaushaltsplanes wird der nunmehr seit Amts- Auch unseren Antrag auf Erhöhung der Mittel für antritt von Frau Dr. Schwaetzer eingeschlagene Kurs die Städtebauförderung West lehnen Sie, die Kollegen einer außerordentlich erfolgreichen Wohnungspolitik von den Koalitionsparteien, ab. Dabei ist die Städte- auch im Jahr 1994 fortgesetzt. Im Vergleich zu den bauförderung ein entscheidendes Instrument — ge- Einzelhaushalten der anderen Ressorts wird deutlich, rade in unseren Großstädten mit ihrer besonders daß die Bundesregierung der Wohnungspolitik im brisanten Situation auf dem Wohnungsmarkt — die Osten wie im Westen einen besonderen Stellenwert Sicherung und Erweiterung des Wohnungsbestandes einräumt dadurch, daß hier ein eindeutiger Ausga- zu gewährleisten und das Wohnumfeld zu verbessern. benschwerpunkt mit einem außerordentlich hohen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16821*

Investitionsanteil gebildet wurde. Und auch bei den Drittens. Für die neuen Bundesländer wurden Medien scheint neuerdings durch, was sich nicht enorme Mittel bereitgestellt, um die Modernisierung länger leugnen läßt: Der Wohnungsbau in Deutsch- des Altwohnungsbestandes einzuleiten. Die Maßnah- land floriert auf hohem Niveau mit weiterhin steigen- men haben voll gegriffen, die Modernisierung läuft den Zuwachsraten. Die Baufertigstellungen werden auf vollen Touren und bietet noch für viele Jahre im Jahr 1993 die Grenze von 400 000 Wohnungen Beschäftigungsmöglichkeiten. Durch das Altschul- übersteigen, die Baugenehmigungszahlen für 1994 denhilfegesetz, die Übernahme von 31 Milliarden DM mit weit über 500 000 Wohneinheiten einen neuen Altschulden und die Zinshilfen hat der Bund die Rekord erreichen. Die Opposition versucht weiterhin Voraussetzungen dafür geschaffen, daß auch die beharrlich, diese Erfolgsstory mit immer neuen Hor- kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und rorszenarien einer empirisch nicht belegten Woh- -genossenschaften ihren Modernisierungsverpflich- nungsnot zu übertünchen. Je stärker die Baufertigstel- tungen nachkommen können. Auch die dringlich lungszahlen steigen, um so höher wird die Zahl der notwendige Privatisierung, die mit der Altschulden- angeblich fehlenden Wohnungen behauptet. Und übernahme verbunden ist, beginnt sich durchzuset- dies ausgerechnet von jenen, welche durch das Ein- zen. Die Mieter erkennen zunehmend die Vorteile des treten für einen ungebremsten Zuzug die Wohnungs- Wohneigentums. not noch bewußt vergrößern wollen. Viertens. Die Subjektförderung in Form des Wohn- Am deutlichsten schlägt sich die positive Entwick- geldes nimmt im Rahmen der Wohnungspolitik immer lung am Arbeitsmarkt nieder. Die Bauwirtschaft ver- stärker an Bedeutung zu. Sie macht für einkommens- meldete diese Woche stolz: „Der Aufschwung am Bau schwächere Mitbürger die Miete tragbar. Das Wohn- hat endlich den Arbeitsmarkt erreicht. " In den neuen geld im Westen bedarf einer baldigen Anpassung an Bundesländern sind 1993 360 000 Bauarbeiter be- die Entwicklung, das Sonderwohngeld Ost sollte bis schäftigt, in den alten Bundesländern 1 080 000, Ende 1995 verlängert werden. zusammen also 1,44 Millionen beschäftigte Bauarbei- ter. Dies bedeutet, daß der Bausektor in Ost und West Fünftens. Mit der Berufung von zwei Expertenkom- einen bedeutsamen Teilarbeitsmarkt darstellt, der missionen wurden auch wichtige Weichen für die darüber hinaus auch weiterhin aufnahmefähig ist und Zukunft gestellt. Zum einen benötigen wir Vorschläge insbesondere jungen Menschen eine gute Ausbil- zur Deregulierung und Baukostensenkung. Zu die- dungschance und eine günstige berufliche Perspek- sem Zweck soll das Dickicht von Vorschriften und tive für die Zukunft bietet. Zugegeben, solche Markt- Normen gelichtet und sollen verschiedene Standards erfolge sind kein Zufall, viele günstige Rahmenbedin- auf ihre Sinnhaftigkeit geprüft werden. Zum zweiten gungen haben sie bewirken helfen. Die Situation auf bedarf der Gesamtkomplex der Wohnungsbauförde- dem Kapitalmarkt zum Beispiel begünstigt Bauinve- rung einer marktwirtschaftlichen Neuorientierung. stitionen. Aber auch diejenigen Faktoren, die zumin- Da die Empfehlungen dieser wissenschaftlichen Korn- dest vom Bund beeinflußbar waren, haben die Auf- missionen vor der Bundestagswahl sehr wahrschein- wärtsentwicklung gefördert. Dabei ist auf folgendes lich nicht mehr umgesetzt werden können, beabsich- hinzuweisen: tigt die Koalition wenigstens noch eine kleine Lösung dergestalt herbeizuführen, daß Elemente einer ein- Erstens. Mit dem Investitionserleichterungs- und kommensorientierten Förderung gesetzlich verankert Wohnbaulandgesetz haben die Bundesregierung und werden und die Einkommensgrenzen durch eine die Koalitionsfraktionen deutliche Zeichen gesetzt, Vereinheitlichung des Einkommensbegriffs beson- um Bauland schneller mobilisieren und bereitstellen ders für Erwerbstätige angehoben und strukturell zu können. Die Fristverkürzung in der Bauleitpla- verbessert werden. Ferner soll der Dritte Förder- nung, aber auch die neugeschaffenen Instrumente weg zu einem echten Instrument vertraglicher För- haben dazu beigetragen, das Angebot an Wohnbau- derung ausgebaut werden. Wir können uns den Un- land deutlich zu erhöhen. Der dritte von Bundesmi- sinn des Ersten Förderweges in der Tat nicht nisterin Dr. Schwaetzer vorgelegte Baulandbericht mehr lange leisten. Da aber in der Wohnungs- signalisiert zwar noch keine Entspannung, aber doch politik der Bund nicht allein das Sagen hat, son- eine tendenziell zunehmende Verbesserung der dern auf die Mitwirkung von Ländern und Ge- Situation. meinden angewiesen ist, müssen auch die Länder endlich die sozialen Bewilligungsmieten und ihre För- Zweitens. Entgegen den Ratschlägen der Opposi- derrichtlinien im sozialen Wohnungsbau an die tion haben die Regierung und die Koalitionsfraktio- Marktentwicklung anpassen. Sie sollten ihren Bür- nen klugerweise vermieden, sowohl im gewerblichen gern gegenüber sich von dem gleichen Mut beseelen als auch im Wohnsektor die Mietenentwicklung stran- lassen, den sie dem Bund gegenüber beim Fordern gulierend zu reglementieren. Wären wir Ihren Rat- zusätzlicher Mittel immer wieder nachhaltig bewei- schlägen gefolgt, hätten sich die p rivaten Investoren sen. weitgehend aus dem Immobiliengeschäft zurückge- zogen. Der Staat selbst wäre nicht in der Lage gewe- Die Freien Demokraten sind stolz darauf, daß sie im sen, diesen Ausfall zu kompensieren. Auch das von Sektor der Wohnungspolitik als Garant für den Erhalt Ihnen geforderte generelle Umwandlungsverbot im marktwirtschaftlicher Bedingungen wirken konnten. Bestand konnte bei Ausweitung des Kündigungs- Das ist der Wohnungspolitik gut bekommen, weshalb schutzes für die Mieter gottlob verhindert werden. Die wir klug beraten sind, die marktwirtschaftlichen Ele- Investitionsbereitschaft am Bau ist deshalb so hoch, mente nicht zu schwächen, sondern zu stärken. Dies weil sich das Bauen für den Investor wieder rech- kommt sowohl den Mietern als auch den Vermietern net. letztlich zugute. 16822* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993

Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Obwohl alle Par- westdeutschen „Wohnungsmarktes" verstärken, die teien Wohnungsnot konstatieren, verdeutlicht der gekennzeichnet ist durch eine steigende Anzahl von Bundeshaushalt 1994, daß die Regierung nicht einmal Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen den Versuch unternimmt, die in Deutschland zuneh- und vom massenhaften Auslaufen von Sozialbindun- mende Wohnungsnot ernsthaft zu bekämpfen. Die gen. Das Gegeneinander-Ausspielen von Mieterin- ersten Toten dieses Winters wurden auf den Straßen nen und Mietern in Ost und West hat Methode. Es ist schon gefunden! Wen das nicht alarmiert, dem ist die gleiche Methode, die arbeitende und Sozialhilfe nicht zu helfen! empfangende Menschen in Ost und West gegenein- Aber: Für die direkte Förderung des Wohnungsbaus ander ausspielt. Es ist die gleiche Methode, die sind — wie in den vergangenen Jahren — lächerliche Deutsche und Ausländer gegeneinander ausspielt. Es Summen im Vergleich zu den anderen Etatbereichen ist die gleiche Methode, die Menschen mit Behinde- vorgesehen und das im Wissen, daß auch der finan- rungen gegen solche ohne ausspielt usw. Es ist die zielle Spielraum der Länder und Kommunen für den Methode, die davon ablenkt, daß der wirklich wich- Wohnungsbau eher geringer wird, anstatt zu wach- tige Unterschied zwischen Oben und Unten, zwischen sen. Statt dafür zu sorgen, daß Reiche immer reicher Reich und Arm liegt. werden, ich denke dabei an den unsäglichen § 10 e des Zurück zum Bauetat: Die Formulierung, daß dem Einkommensteuergesetzes, statt immer mehr Geld für Verkauf an die derzeitigen Mieter der Vorrang einzu- Rüstung, Verwaltungsbürokratie und Prestigeobjekte räumen ist, steht im krassen Gegensatz zur Einkom- auszugeben, ist unseres Erachtens eine radikale mens- und Vermögenslage der Mehrheit der Ostdeut- Änderung in der Prioritätenliste des Bundeshaushal- schen. Der vorgelegte Haushaltsplan suggeriert tes vonnöten. zudem, daß die 31 Milliarden DM, also der Teil, der Wir sind in erster Linie dafür, daß das Recht auf über der Kappungsgrenze von 150 DM pro Quadrat- bezahlbare Wohnungen für alle als Menschenrecht meter liegt, mit dem „Erblastentilgungsfonds" durch mittels der Politik verwirklicht wird. Verstärkter Woh- den Bund getragen wird. Aber in Wirklichkeit sollen nungsbau könnte zugleich als kräftige Konjunkturlo- diese 31 Milliarden DM in diesem Fonds nur geparkt komotive wirken. Wir bekräftigen unsere Forderung, werden. Aufzubringen sind sie durch die Menschen in ein umfassendes nationales Wohnungsbauprogramm Ostdeutschland, durch die aus der Zwangsprivatisie- für ganz Deutschland aufzulegen. Städtebauliche, rung erzielten Erlöse. Nimmt man die anderen Bela- ökologische und soziale Aspekte sollten dabei — stungen für die Mieterinnen und Mieter in Ost- ebenso wie die Schaffung von Arbeitsplätzen — deutschland hinzu, dann wird deutlich, daß die Men- gleichrangig beachtet werden. Unsere Forderung ist, schen, welche unter zum Teil schlechten Wohnver- mittelfristig mindestens 8 % der öffentlichen Haus- hältnissen und bei geringen Einkommen in der DDR halte für die Verwirklichung dieses Menschenrechtes gelebt haben, dafür noch mal bezahlen sollen. Die einzusetzen. Auf dem Weg dorthin sollte bereits jetzt Menschen aus der DDR haben von den 220 Milliarden durch Verdopplung der für die Wohnungsbauförde- Mark, die für den Wohnungsbau ausgegeben wurden, rung, für das Wohnumfeld und für den Ausbau der ca. 170 Milliarden Mark von ihrem Einkommen aus sozialen Infrastruktur angesetzten Beträge ein deutli- der sogenannten zweiten Lohntüte bezahlt. Dieses ist ches Zeichen gesetzt werden. Mit dem vorliegenden also deren Eigentum. Das soll aber nicht anerkannt Haushaltsplan wird das Gegenteil bewirkt, Ausgaben und der unbestrittene Sanierungsrückstau soll auch für Wohnungsbau und Städtebauförderung werden in noch von ihnen ge tragen werden. Solche Politik den nächsten Jahren abgebaut, und es wird auch nicht spaltet, sie ist unsolidarisch und amoralisch. darauf verzichtet, die Kommunen in Ost und West Auch nach der fragwürdigen Mieterhöhung zum gegenseitig auszuspielen. 1. Januar 1994 um durchschnittlich 60 Pfennig je Die konkrete Situation in den östlichen Bundeslän- Quadratmeter ist die Kette der weiteren Wohnkosten- dern — einschließlich Ostberlin — verlangt, für diese erhöhungen vorprogrammiert. Dabei denke ich an die ein maßgeschneidertes Konzept zu entwickeln. Das Mieterhöhungen durch Modernisierungsumlagen, an der Bundesregierung meine ich damit aber nicht. „freiwillige Instandsetzungsumlagen" und steigende Die Bundesregierung hat es mit Hilfe des einver- Betriebskosten, durch die zu erwartende Erhöhung nehmlich von CDU/CSU, SPD und FDP beschlossenen der Grundsteuer und an die aus der ungerechtfertig- Altschuldenhilfe-Gesetzes geschafft, die Zerstörung ten Altschuldenbelastung von 150 DM je Quadratme- des kommunalen und genossenschaftlichen Woh- ter hinzukommende Mieterhöhung von ein bis zwei nungsbestandes in Ostdeutschland auf den Weg zu Mark je Quadratmeter und die Einführung des Ver- bringen. Liest man zwischen den Zeilen, dann wird gleichsmietensystems mit der dann entsprechend klar, warum. Das Ziel ist eine möglichst vollständige möglichen Mieterhöhung nach dem Miethöhegesetz. Privatisierung. Wie stichhaltig das Argument von der Und dies alles im Kontext zu der nicht gerade optimi- eigentumsfeindlichen Politik in der DDR ist, zeigen stisch stimmenden Prognose über die wirtschaftliche aktuelle Untersuchungen. So liegt die Wohneigen- und soziale Lage der Menschen in Gesamtdeutsch- tumsquote in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thü- land. Angesichts dieser Fakten den Menschen ist ringen in etwa auf dem Niveau von Nordrhein- Ostdeutschland zu erzählen, daß es bis zur Bundes- Westfalen, wesentlich geringer sind die Quoten in tagswahl bzw. bis Mitte 1995 keine weiteren Miet- Hamburg und Westberlin. Folgt man der Logik der erhöhungen gibt, halte ich für eine ziemliche Unver- Regierung, dann stehen als nächstes Zwangsprivati- frorenheit. sierungen bei westdeutschen Wohnungsbaugenos- Gestatten Sie mir zwei Bemerkungen zum Wohn- senschaften und -gesellschaften auf der Tagesord- geld, einer nicht unwesentlichen Position im Haus- nung. Das würde die unsoziale Entwicklung des halt: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 16823*

Erstens. Das Wohngeldsystem und damit subjekt- lösen sind, wenn wir die notwendigen Voraussetzun- statt objektbezogene Subventionierung halten wir gen dafür schaffen, daß sich p rivates Kapital hier in durchaus für ein probates Mittel im Sinne sozialer hohem Maße engagieren kann. Gerechtigkeit. Aber Wohngeld als Regelfall statt für Wer die Illusion hegt, mit viel Geld und Eingriffen in Ausnahmen kann nicht als normal be trachtet werden. marktwirtschaftliche Regelungen lasse sich das Pro- Die statistischen Durchschnittsrechnungen der Bau- blem lösen, der streut den Menschen Sand in die ministerin täuschen über die wahre Situation hinweg. Augen. Man kann es auch noch deutlicher sagen: Der Es ist eben ein Unterschied, ob die Wohnkostenbela- vertreibt privates Kapital und produziert die Konflikte stung 20 % eines Ministergehaltes ausmacht oder der Zukunft. 20 % eines Rentnerhaushaltes in Ostdeutschland ver- Unsere sozialverantwortliche und an den Bedin- schlingt. Prozentual sind die Wohnkosten in Ost- gungen des Wohnungsmarktes orientierte Politik setzt deutschland inzwischen annähernd die gleichen wie demgegenüber auf vernünftige Rahmenbedingungen in Westdeutschland. Vergessen wird dabei aber, daß für die Investoren. Sie setzt auf eine wirkungsvolle erstens die Menschen nur durchschnittlich 65 % des soziale Absicherung des Wohnens und auf Förderin Einkommens haben und daß sie zweitens die gleichen strumente, die das notwendige p rivate Kapital für Kosten für in der Regel kleinere und schlechter bessere Wohnverhältnisse in Ost und West mobilisie- ausgestattete Wohnungen aufzubringen haben. Viele ren. Die Bundesregierung setzt diesen Weg auch Wohnungen in Berlin — Friedrichshain, konsequent mit dem Haushalt 1994 fort. oder — sind jetzt schon teurer als vergleichbare oder bessere Sozialwohnungen im Der Haushalt des Bundesbauministeriums erreicht Wedding, in Charlottenburg oder in Kreuzberg. im Jahre 1994 mit einem Volumen von über 10,5 Mil- liarden DM eine nie dagewesene Rekordhöhe. Mit Zweitens. Die angekündigte Verlängerung des einer Steigerung der Ausgaben um 32 Prozent weist Wohngeldsondergesetzes um ein Jahr löst das Pro- dieser Haushalt den mit Abstand größten Zuwachs blem auch nicht. Ich glaube nicht, daß diese einmalige aller Ressorts auf. Der Gesamtverpflichtungsrahmen Verlängerung aus Gründen sozialer Gerechtigkeit steigt sogar um über 47 Prozent. erfolgen soll, zumal seit 1. Oktober diesen Jahres sich der wohngeldfähige Teil aus warmen Be triebskosten Diese Zahlen machen deutlich, daß die Bundesre- Schritt um Schritt verringert. Vielmehr gibt es für - gierung ihre Mitverantwortung für die Wohnungssu- diese Verlängerung wahltaktische Gründe seitens der chenden in Ost und West, aber genauso für die Regierungen von Bund und ostdeutschen Ländern konjunkturelle Entwicklung in der Bundesrepublik und Kommunen. Deutschland wahrnimmt und auch die richtigen Prio- Auch zu anderen Teilen dieses Einzelplanes wäre ritäten setzt. noch einiges anzumerken, so zum Beispiel zu den 200 Die Daten der Wohnungsbautätigkeit sprechen eine Millionen DM, die für den Abriß des Palastes der eindeutige Sprache: Seit Jahren steigen die Fertigstel- Republik bereitgestellt werden sollen. Davon abgese- lungen fast durchgängig mit zweistelligen Zuwachs- hen, daß man Geschichte nicht mit der Abrißbirne raten. Sie haben sich im vergangenen Jahr mit bewältigen kann, ist dieser Abriß auch finanzpolitisch 375 000 Einheiten gegenüber 1988 fast verdoppelt. unvertretbar. Ich hoffe, daß Sie, liebe Kolleginnen und Auch in diesem Jahr verzeichnen wir für die ersten Kollegen, die erforderliche Courage besitzen und drei Quartale einen weiteren Anstieg der Fertigstel- einer Neubestimmung des Einsatzes dieser 200 Mil- lungen um 14 Prozent (132 000 Einheiten). In der lionen DM, wie wir es in einem Änderungsantrag Summe dürften dieses Jahr alleine in den alten vorgeschlagen haben, zustimmen. Lassen Sie den Ländern erstmals seit über 15 Jahren wieder deutlich Berlinerinnen und Berlinern, lassen Sie uns allen über 400 000 neue Wohnungen an den Markt kom- diese Kulturstätte, geben Sie sie uns zur Nutzung men. zurück — und bauen Sie Wohnungen! Menschenwür- Und auch die Genehmigungen stiegen im bisheri- dige, bezahlbare Wohnungen, damit niemand mehr gen Jahresverlauf um 14 Prozent. Mit insgesamt auf den Straßen erfrieren muß! 525 000 Genehmigungen West erreichen wir dieses Die PDS/Linke Liste kann diesem Einzelplan in der Jahr wieder ein Niveau wie zuletzt vor 20 Jahren. derzeitigen Form nicht zustimmen, und ich fordere Sie In den neuen Ländern konnten allein infolge der auf, gleiches zu tun. massiven Förderhilfen inzwischen bereits an fast jeder dritten Wohnung Modernisierungs- und Sanierungs- Joachim Günther, Parl. Staatssekretär bei der Bun maßnahmen durchgeführt werden. Und schließlich desministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städ- nimmt auch hier der Wohnungsneubau mit — grob tebau: Wenn man die Beiträge der Redner der Oppo- geschätzt — etwa 75 000 neuen Genehmigungen sition hört, drängt sich der Eindruck auf, daß weniger einen Aufschwung, den viele vor wenigen Monaten fundierte Kenntnisse über den Wohnungsmarkt und noch für unerreichbar gehalten haben. praktische Lösungsansätze im Vordergrund stehen als parteipolitische Profilierungsversuche. Die Bundesre- Wer vor diesem Hintergrund von einer unsozialen gierung hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß eine Wohnungspolitik spricht, der muß schon erklären, Überwindung des Wohnungsmangels in den alten wieso eine so kräftige Erweiterung des Wohnungsan- Bundesländern und die Bewältigung der gigantischen gebots dem sozialen Frieden in unserem Land scha- Sanierungsaufgaben im Osten nicht über Nacht zu det! leisten sind. Und ebenso deutlich hat die Bundesre- Hinzu kommt, daß diese hohe Wohnungsbautätig- gierung immer betont, daß die großen wohnungs- und keit in der aktuell schwierigen Konjunkturlage die städtebaupolitischen Aufgaben der Gegenwart nur zu maßgebliche Stütze der gesamtwirtschaftlichen Ent- 16824* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 193. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 25. November 1993 wicklung ist. Insbesondere in den jungen Bundeslän- terzumachen wie bisher, der beweist finanzpolitische dern ist der Wohnungsbau mit seinen positiven Inve- Blindheit und wohnungspolitische Einäugigkeit. stitions- und Beschäftigungswirkungen die zentrale Triebfeder der Konjunktur. Das bestätigt auch der Wir werden die vorgetragene Kritik aufgreifen, aber Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten 1993, wir werden nicht den Fehler begehen, vor Schwierig- der in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch die keiten zurückzuscheuen und deshalb das weitere Heil hohen finanziellen Förderleistungen für den Woh- in überholten Denkschemata zu suchen. Deshalb nungsbau hervorhebt. Gleichwohl haben wir noch ein wollen wir im kommenden Jahr insgesamt 250 Millio- gutes Stück Arbeit vor uns, bis der Mangel an Wohn- nen DM Bundesmittel für Pilotprojekte zur Verfügung raum im Westen überwunden ist und in den östlichen stellen, mit denen gemeinsam mit zukunftsorientier- Bundesländern angemessene und qualitätsvolle ten Investoren und Ländern die einkommensorien- Wohnverhältnisse geschaffen sind. Umso mehr tierte Förderung praktisch erprobt werden wird. kommt es darauf an, die kräftig wiedererstarkte Woh- Problembewußtsein und zielorientiertes Handeln nungsbauentwicklung weiter voranzutreiben, die zeichnen auch die Wohnungspolitik der Bundesrepu- aktuell günstigen Baubedingungen zu verstetigen blik für die neuen Bundesländer aus. Mit der Lösung und Investoren die dafür notwendigen Sicherheiten der Altschuldenproblematik ist nach langem Ringen zu geben. auch das letzte gravierende Investitionshemmnis für Das bedeutet zum einen, daß endlich die immer die Wohnungswirtschaft Ost beseitigt worden. Die Kosten der Teilentlastung in Höhe von 31 Milliarden wieder belebte, unselige Diskussion über weitere mietrechtliche Verschärfungen ein Ende findet. Es ist DM und der Zinshilfe in Höhe von 7 Milliarden DM kontraproduktiv und unsozial, massiven Wohnungs- sind eine außerordentliche Vorleistung der öffentli- bau einzufordern und im selben Atemzug die Ertrags- chen Haushalte zugunsten der Menschen in den neuen Bundesländern. Dieses in der Geschichte der aussichten der Investoren beschneiden zu wollen. Deshalb wird es keine weiteren Verschärfungen des Wohnungspolitik einmalige Engagement, das sich Mietrechts geben. Wie notwendig und richig das ist, alleine 1994 im Einzelplan 25 mit Ausgaben von weiß auch der Bauminister des Schattenkabinetts 2,2 Milliarden DM niederschlägt, öffnet in unmittelba- Scharping, Herr Zöpel, der auf dem Verbandstag des rer Konsequenz den Weg zu einer dynamischen deutschen Volksheimstättenwerks am 30. September Investitionswelle, die die Wohnungswirtschaft selbst 1993 gefordert hat: „Hier muß erst einmal für vier auf zweistellige Milliardenbeträge schätzt. Jahre Ruhe sein". Vielleicht sollten sich in dieser Der Modernisierungs- und Instandsetzungsprozeß elementaren Frage manche Oppositionspolitiker erst entfaltet jetzt erst seine richtige Dynamik. Zugleich ist einmal intern abstimmen, bevor der Eindruck ent- mit dem Altschuldenhilfegesetz ein umfangreicher steht, hier werde mit gespaltener Zunge gespro- Schub zu mehr privatem Eigentum in den ostdeut- chen. schen Bundesländern verbunden. Das mögen manche Vorgestrigen vielleicht nicht gerne hören, aber für die Erhalt und Stärkung der guten Wohnungsbaukon- Menschen in Ostdeutschland ist das eine große junktur erfordert aber auch im Rahmen des finanzpo- Chance, den Traum von den eigenen vier Wänden litisch Vertretbaren eine Verstetigung der Förderlei- endlich zu erfüllen. Niemand sollte ihnen jetzt diese stungen des Bundes auf hohem Niveau. Ich sage dies Chancen verwehren. ganz bewußt auch im Hinblick auf die Bundesmittel für sozialen Wohnungsbau. Hier stellt der Bund im Parlament, Bundesregierung und die Länder stehen nächsten Jahr Finanzhilfen von insgesamt 3,5 Milliar- auch heute zu diesem Gesetz. Angesichts des großen den DM zur Verfügung: 1 Milliarde DM für die neuen finanziellen Entgegenkommens sind die mit dem Länder und 2,5 Milliarden DM für die alten Länder. Altschuldenhilfegesetz verbundenen Auflagen auch keine unzumutbaren oder nicht zu realisierenden Der öffentlich geförderte Wohnungsbau bleibt auch Gegenleistungen. Die Unternehmen haben den Erfolg künftig ein Schwerpunkt unserer Wohnungspolitik. dieses Gesetzes in ihrer Hand. Wir werden ihnen bei der Umsetzung weiterhin mit Rat und Hilfe zur Seite Bei alledem aber gilt es, ein Op timum an Neubau- stehen. Aber sie sollten jetzt nicht über das eine oder volumen, Fördereffizienz und sozialer Gerechtigkeit andere Detail jammern, sondern die Chance ergreifen aus den Förderansätzen herauszuholen. Deshalb wol- und ihre Wohnungen tatkräftig instandsetzen, mode- len wir mit dem neuen Konzept der einkommens- rat modernisieren und sich zugunsten der jetzigen orientierten Förderung die hinreichend bekannten Mieter von Wohnungen trennen. Die Bürgerinnen Mängel der bisherigen Förderung des sozialen Woh- und Bürger in den neuen Ländern warten zu Recht nungsbaus überwinden. darauf, daß sich ihre Wohnungssituation weiter schrittweise verbessert. Die Voraussetzungen dafür Die breite Zustimmung quer durch Parteien und waren noch nie so günstig wie jetzt. Verbände, die diese Konzeption im Grundsatz erfah- ren hat, zeigt, daß wir hier auf dem richtigen Weg sind. Die Bundesregierung setzt mit diesem Haushalt Daran ändern auch einige Kritikpunkte nichts, die an Akzente für mehr Wohnungen in Ost und West. Sie dem Planspiel in Würzburg geäußert wurden. Wer gibt der Konjunktur im Bauwesen notwendige deshalb aber — so wie Herr Großmann — fordert, die Impulse und setzt damit die richtigen Aktzente für die gesamte Konzeption „ad acta" zu legen und so wei- Menschen in Deutschland.