Plenarprotokoll 12/14

Deutscher Bundesta g

Stenographischer Bericht

14. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): Dr. Karl-Heinz Hornhues CDU/CSU . . . 799B a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. Rose Götte SPD 801B rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes über die Feststellung des Bundes- Irmgard Karwatzki CDU/CSU 803 A haushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) (Drucksache Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 804 D 12/100) Dr. Sigrid Hoth FDP 806 A b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Christina Schenk Bündnis 90/GRÜNE 807D, 814 A Bundes 1990 bis 1994 (Drucksache 12/101) (Fürth) FDP 808 C Dr. Hans-Jochen Vogel SPD 737 B Norbert Eimer (Fürth) FDP 809 D Dr. CDU/CSU 747 D Hannelore Rönsch, Bundesminister BMFuS 809D, 815 B Dr. PDS/Linke Liste . . . 752A Dr. Rose Götte SPD 812B Dr. FDP 756 C Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . 812C Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 760D Gudrun Weyel SPD 813A Dr. Günther Krause (Börgerende) CDU/ CSU 764 A Margot von Renesse SPD 814 C

Dr. , Bundeskanzler 764 D SPD 815A, 820C Dr. Konstanze Wegner SPD 815C Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . 777D, 791C CDU/CSU 818 A Dr. Carl-Ludwig Wagner, Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz 783 A Ingrid Matthäus-Maier SPD 820A (Worms) SPD 785 C Dr. , Bundesminister BMFJ 820C, 827 B Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 787 C Regina Kolbe SPD 822D Dr. Klaus Rose CDU/CSU 789 B Dr. Konrad Elmer SPD 823 A Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister AA 790D, 791D Dr. Edith Niehuis SPD 823 D Dr. Ingomar Hauchler SPD 796D Dr. Joseph-Theodor Blank CDU/CSU 824 C II Deutscher — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Ursula Männle CDU/CSU 827 C Anlage 2

Doris Odendahl SPD 829A Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- Uta Würfel FDP 829 C nungspunkt 2 a) Erste Beratung des von der Bundesregie Dr. Konrad Elmer SPD 830 B eingebrachten Entwurfs eines Ge--runmg Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister setzes über die Feststellung des Bundes- BMI 830 B haushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) Gerd Wartenberg () SPD 833 B b) Beratung der Unterrichtung durch die Dr. FDP 836 B Bundesregierung — Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . . 837D CDU/CSU 857* C Dr. Burkhard Hirsch FDP 839 B Wolfgang Roth SPD 858* D Dr. PDS/Linke Liste . . 840B Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) FDP . . 862* D Ingrid Köppe Bündnis 90/GRÜNE . . . 842 C Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ Linke Liste Wilfried Seibel CDU/CSU 843 C 863* D (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 864* C Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU . 843 D Dr. CDU/CSU 866* B Doris Odendahl SPD 845 B Dr. Uwe Jens SPD 868* B Dr. Hans de With SPD 847 A Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 830*A CDU/CSU 849 B Jürgen W. Möllemann, Bundesminister Dr. Bündnis 90/GRÜNE 851A BMWi 871*B Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister BMJ . 852 C Bernd Wilz CDU/CSU 873* D SPD 875* B Nächste Sitzung 856 D Carl-Ludwig Thiele FDP 878* D Andrea Lederer PDS/Linke Liste 880* B Anlage 1 Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 881* C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 857* A Hans-Werner Müller (Wadern) CDU/CSU 883* B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 737

14. Sitzung

Bonn, den 13. März 1991

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen, der Freude darüber, daß das Leiden und Sterben und liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröff- das Werk der Zerstörung jedenfalls insoweit ein Ende net. gefunden haben, als sie auf unmittelbaren Kriegs- handlungen beruhten. Bei allem, was wir uns an frü- heren Entscheidungen anders gewünscht haben Wir setzen die Aussprache über den Tagesord- — und wir haben davon nichts zu korrigieren —, nungspunkt 2, das Haushaltsgesetz 1991 und den Fi- danke ich in diesem Zusammenhang dem amerikani- nanzplan 1990 bis 1994, fort: schen Präsidenten, daß er in der Schlußphase des a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Krieges nicht denen nachgegeben hat, die die Kämpfe eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über zur Erreichung von Zielen fortgesetzt wissen wollten, die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für die über die UNO-Resolution hinausgingen, sondern das Haushaltsjahr 1991 daß er am 28. Februar das Ende der offensiven Ope- (Haushaltsgesetz 1991) rationen befohlen hat. — Drucksache 12/100 — (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Überweisung: Haushaltsausschuß GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- regierung Jetzt geht es darum, den Frieden zu gewinnen und Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1994 zunächst einmal denen zu helfen, die unter den Fol- gen der brutalen Politik Saddams und unter den — Drucksache 12/101 — Kriegsfolgen in ähnlicher Weise leiden, wie die Älte- Überweisung: Haushaltsausschuß ren unter uns das aus dem Frühjahr 1945 in Erinne- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für rung haben. Das sind die Kuwaitis, das ist aber das die heutige Aussprache 12 1/2 Stunden vorgesehen. — irakische Volk, dem Saddam zuerst mit dem von ihm Ich sehe dazu keinen Widerspruch. begonnenen achtjährigen Krieg gegen den Iran und Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- dann mit der Okkupation Kuwaits und der zerstöreri- ordnete Herr Dr. Vogel. schen Fortführung eines endgültig sinnlos geworde- nen Krieges schwere Blutopfer aufgebürdet hat und das jetzt zusätzlich von einem mörderischen Bürger- krieg heimgesucht wird. Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Folgende Punkte erscheinen uns bei dem Ringen Kollegen! Die Aussprache über den Einzelplan 04, um den Frieden wesentlich: über Ihren Haushalt, Herr Bundeskanzler, hat tradi- Erstens. Sofortige humanitäre Hilfe. Die Menschen tionell die zentralen Fragen der Außen- und der In- in der Region müssen erkennen, daß dem Westen nenpolitik unserer Republik zum Gegenstand, vor al- diese Hilfe ebenso wichtig ist wie zuvor das militäri- lem die Politik, die Sie als Bundeskanzler und damit sche Engagement. als Inhaber der Richtlinienkompetenz in besonderer Weise zu verantworten haben. In dieser Aussprache (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ werden Gegensätze und tiefgreifende Unterschiede GRÜNE sowie der Abg. Dr. Solms [FDP] und in den Analysen und Konzepten, an manchen Stellen Dr. Keller [PDS/Linke Liste]) aber auch Übereinstimmungen deutlich werden. Dazu gehört der Einsatz aller verfügbaren Mittel zur Ich beginne mit einer Feststellung, mit der wohl das Abwehr und dann zur Beseitigung der ökologischen ganze Haus übereinstimmt, nämlich dem Ausdruck Schäden. Ich fürchte, das Ausmaß dieser Schäden der Freude darüber, daß am Golf seit zwölf Tagen die steht uns noch immer nur ganz unzulänglich vor Waffen schweigen und der Krieg ein Ende gefunden Augen. hat, Zweitens. Die Mitwirkung daran, daß in der Region (Beifall im ganzen Hause) ein Prozeß in Gang kommt, der in etwa dem KSZE- 738 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Hans-Jochen Vogel Prozeß entspricht. Hier sind in erster Linie die kon- gleicher Weise, die chemischen wie die atomaren und struktiven Kräfte in der Region und die Vereinten die biologischen. Nationen gefordert. (Beifall im ganzen Hause) Die Resolutionen der Vereinten Nationen, die Ku- wait betrafen, sind mit größter Entschiedenheit, mit Viertens. Eine wesentliche Konsequenz aus den Er- bislang beispiellosen militärischen Anstrengungen eignissen der letzten Monate ist für uns die Stärkung und schweren Opfern durchgesetzt worden. Das ver- der Vereinten Nationen. Dazu bedarf es konkreter pflichtet die Vereinten Nationen, jetzt auch früheren Reformen, wie sie Kollege Brandt vor kurzem vorge- Resolutionen, die andere Elemente einer künftigen schlagen hat. Kern dieser Reformen muß sein, daß die Friedensordnung in dieser Region betreffen, mit Vereinten Nationen als solche an Gewicht gewinnen, Nachdruck Geltung zu verschaffen. daß sie nicht nur bestimmte Maßnahmen für zulässig erklären und dann die Verwirklichung in andere (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Hände legen, sondern daß sie diese Maßnahmen un- GRÜNE) ter ihrer eigenen Verantwortung und ihrer eigenen Leitung durchführen. Das gilt für den gequälten Libanon. Das muß auch für das kurdische Volk gelten, dessen Rechte nicht nur (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ von Saddam, wenn auch von ihm in besonders grau- GRÜNE) samer Weise, mißachtet worden sind. Das setzt die Stärkung der Stellung des General- Das gilt für die Lösung des Palästinenserproblems. sekretärs, eine zunehmende Selbstbeschränkung Solange hier nicht die Anerkennung des Rechtes — Selbstbeschränkung sage ich — bei der Aus- Israels darauf, in sicheren Grenzen zu leben, mit der übung des Vetorechts und insgesamt eine Entwick- Verwirklichung der legitimen Rechte des palästinen- lung voraus, bei der die Vereinten Nationen Schritt für sischen Volkes in Einklang gebracht worden ist, wird Schritt in die Rolle einer Weltregierung hineinwach- es im Nahen Osten keinen dauerhaften Frieden ge- sen, einer Institution also, die nicht erst eingreift, ben. wenn im nationalen Bereich die Polizei tätig werden müßte, sondern die schon weit im Vorfeld aktiv wird, (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ um soziale, ökologische und politische Spannungen GRÜNE) zu überwinden oder wenigstens zu mildern, damit es Israel hat in den vergangenen Wochen ein bewun- nicht zur Konfrontation kommt. dernswertes Maß an Besonnenheit und Verantwor- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ tungsbewußtsein an den Tag gelegt. Ich bitte unsere GRÜNE) israelischen Freunde, in gleicher Weise jetzt auch an diese Frage heranzugehen. Es wäre gut, wenn der Denn auch das ist sicher eine Lehre, die ernst genom- Stärkere — und gegenüber den Palästinensern ist Is- men werden muß: Sicherheit ist nicht länger nur ein rael gerade jetzt deutlich der Stärkere — den ersten militärischer Beg riff. Schritt unternähme. Die amerikanischen Initiativen der letzten Tage und Wochen zielen erfreulicherweise Ökonomische und ökologische Fehlentwicklungen in diese Richtung, und die Vorschläge, die Shimon können den Frieden ebenso, nein, eher noch stärker Peres, der Vorsitzende der israelischen Labour-Party, bedrohen. Ich sage das mit besonderem Nachdruck, vor wenigen Tagen vorgelegt hat, tun es ebenfalls. weil da und dort — leider auch in der Bundesrepu- Und sie sind besonders ermutigend, weil sie sowohl blik — dieser Tage der Meinung Vorschub geleistet den Gedanken „Land für Frieden" als auch den eines wird, Kriege seien wieder führbar geworden, jeden- internationalen Daches für die notwendigen Ver- falls der technische Präzisionskrieg sei wieder ein handlungen einschließen. Wir wünschen, daß diese Mittel der Politik und der Durchsetzung nationaler Linie die allgemeine Linie der israelischen Politik wer- oder regionaler Interessen. Wir widersprechen dieser den könnte. Auffassung mit allem Nachdruck und mit großem Ernst. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE) (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Drittens. Wir unterstützen das Bemühen, die ganze Linke Liste) Region von A-, B- und C-Waffen freizumachen. Die entsprechende Forderung wäre allerdings noch Für uns gilt: Die soziale Frage im Weltmaßstab kann glaubhafter und überzeugender, wenn atomwaffen- heute ebensowenig durch Anwendung militärischer freie Zonen auch in anderen Regionen, etwa in Mit- Gewalt gelöst werden, wie die Anwendung von Ge- teleuropa, verwirklicht werden würden. walt eine Antwort auf die sozialen Fragen im nationa- len Maßstab war. Gelöst werden kann sie vielmehr (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ nur durch die ökologisch gebändigte Entwicklung der GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste) weltweiten Produktivkräfte, einen solidarischen Inter- essenausgleich und durch die Mitbestimmung der Be- Wenn Länder der Dritten Welt sagen, für Atomwaf- teiligten, auch der Milliarden von Menschen in der fen, zumal für taktische Atomwaffen, dürfe im Ergeb- südlichen Hemisphäre, die aus der Objektrolle her- nis nichts anderes gelten als für chemische Waffen, austreten müssen. dann ist das wahrlich nicht ganz abwegig. Ich jeden- falls verabscheue — und ich meine, gemeinsam mit (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ der Mehrheit dieses Hauses — beide Waffenarten in GRÜNE) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 739

Dr. Hans-Jochen Vogel Fünftens. Die Bundesrepublik muß an der Reform dere" auf der schicksalhaften Verflechtung der deut- und dem Engagement der Vereinten Nationen in dem schen Geschichte mit dem Holocaust beruht. Maße teilnehmen, das ihrem politischen und wirt- schaftlichen Gewicht, aber auch ihren geschichtlichen An dem, was gewissenlose Elemente hier getan Erfahrungen und ihren allgemeinen politischen Ziel- haben, Elemente, die sich von ihrem mörderischen vorstellungen entspricht. Da wir den raschen Über- Tun noch nicht einmal von den furchtbaren Bildern vergaster kurdischer Kinder abschrecken ließen, wer- gang zu einer Europäischen Union wollen — soweit ich sehe, quer durch das ganze Haus —, wäre es unse- den wir noch lange und schwer zu tragen haben. Die- res Erachtens nicht sinnvoll, einen deutschen, also jenigen in der Bundesregierung und den Koalitions- einen weiteren nationalen, ständigen Sitz im Welt- parteien, die dabei trotz aller Warnungen und Hin- sicherheitsrat anzustreben. Vielmehr sollte hier eine weise untätig geblieben sind und den Rüstungsexport europäische Lösung gefunden werden, die unser Ge- insgesamt immer wieder gefördert haben, haben das wicht im europäischen Rahmen zum Tragen bringt. in vollem Umfang mitzuverantworten. Dafür gibt es verschiedene Optionen. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Nach Überwindung der deutschen Teilung muß GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste) auch die Wahrnehmung unserer Pflichten aus der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen neu über- Ich wundere mich im übrigen, wie eilfertig einige dacht werden. Meine Partei wird sich damit auf ihrem von diesen Herren im Januar in Sachen Rüstungsex- nächsten Parteitag befassen und über einen Vor- port vorübergehend die Fronten gewechselt haben schlag befinden, der das Grundgesetz so verändern und jetzt schon wieder ganz ungeniert dabei sind will, daß eine Beteiligung deutscher Streitkräfte an — so etwa kürzlich ein Staatssekretär im Bundes- friedenssichernden Einsätzen im Rahmen der UNO rat — , vor zu strengen Vorschriften und übermäßigen und unter UNO-Kommando — sogenannte Blauhelm- Beschränkungen zu warnen. missionen — möglich wird. Dabei wird auch diskutiert werden, ob das den Verpflichtungen nach der UNO- Es möge sich keiner täuschen: Über diese Dinge Charta in ausreichendem Maße entspricht, insbeson- wird kein Gras wachsen. Wenn Sie nicht selber alle dere den Verpflichtungen aus Kapitel VII der UNO- Fakten auf den Tisch legen und die nötigen personel- Charta. len und sachlichen Konsequenzen ziehen, dann wird das ein Untersuchungsausschuß des Deutschen Bun- Einer Grundgesetzänderung, die darüber hinaus destages leisten müssen. auch die Beteiligung an Operationen außerhalb unse- res Bündnisgebietes erlauben würde, die von den (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ Vereinten Nationen nur für zulässig erklärt worden GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste) sind, werden wir nicht zustimmen. Ansonsten sehen wir zu deutschen Entschuldigun- Nicht zustimmen werden wir auch, daß die hier in gen reihum an die verschiedenen Adressen keinen Rede stehende Grundgesetzänderung vorweg vorge- Anlaß. Manches, was hierzu aus den Reihen der Bun- nommen wird. Sie stellt sich als eine Frage im Gefolge desregierung in den letzten Wochen gesagt und getan der deutschen Einigung. Deshalb muß sie zusammen wurde, erscheint unnötig, beflissen, ja in einzelnen mit allen anderen Entscheidungen getroffen werden, Akzenten fast liebedienerisch. die sich im Zusammenhang mit dem Übergang vom Im übrigen: Was die Pflege der deutschamerikani- Grundgesetz zur endgültigen Verfassung der Bundes- schen Beziehungen angeht, so bin ich davon über- republik als notwendig erweisen. Dafür haben wir im zeugt, daß sich die Haltung der Bundesrepublik bei Einigungsvertrag übereinstimmend eine F rist von den GATT-Verhandlungen und ihre Weige rung, in zwei Jahren in Aussicht genommen. der Frage der Subvention von Agrarexporten auf die jahrelang geäußerten und berechtigten Wünsche der (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ USA einzugehen, auf Dauer viel nachteiliger auswir- GRÜNE — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Vorwärts, ken Kameraden, wir müssen zurück! Zurück - marsch marsch!) (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Sie müssen Informa tionen einholen!) Sechstens. Die Bundesrepublik war in den vergan- genen Wochen Gegenstand lebhafter Kritik, vor allem als die Tatsache, daß in der Bundesregierung erfreu- in der öffentlichen Meinung befreundeter Länder. licherweise keine Kriegsbegeisterung aufgekommen Dieser Kritik haben sich einige deutsche Medien an- ist. geschlossen, und zwar gelegentlich in einer Weise, als (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ ob sie zumindest eine klammheimliche Freude über GRÜNE — Lachen bei der CDU/CSU — diese ausländische Kritik empfänden. Rühe [CDU/CSU]: Wollen Sie den Amerika Wir halten die Kritik in einem Punkt für berechtigt, nern Kriegsbegeisterung unterstellen? Das nämlich soweit sie sich gegen die Mitwirkung Deut- ist doch abwegig!) scher an der Produktion chemischer Waffen und der In diesem Zusammenhang noch ein Wort zur Kritik Entwicklung von Raketen und insbesondere dagegen an Herrn Genscher. Wir sind als Opposition nicht richtet, daß dadurch Israel in Mitleidenschaft gezogen dazu berufen, den Außenminister gegen Ang riffe zu worden ist. Ich sage: „insbesondere" ; nicht: „nur" . verteidigen, Denn mich bedrückt und bekümmert auch, daß mit diesen chemischen Waffen auch andere Menschen (Rühe [CDU/CSU]: Der große Schutzhei und Völker bedroht werden, wobei das „insbeson- lige!) 740 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Hans-Jochen Vogel die aus der Koalition gegen ihn geführt werden. dieses Vorgehen, das Menschenleben gekostet hat, mit aller Entschiedenheit. Die serbischen Machthaber (Rühe [CDU/CSU]: Gegen alle Ang riffe!) müssen lernen, daß sie ein System, das von den Men- Schließlich gehört Herr Kollege Genscher dieser Ko- schen abgelehnt wird, nicht auf Dauer mit Waffenge- alition und der Regierung nicht gegen seinen Willen walt aufrechterhalten können. Auch das Selbstbe- an. stimmungsrecht der einzelnen Völker Jugoslawiens (Heiterkeit im ganzen Hause) wird auf Dauer nicht mit Waffengewalt unterdrückt werden können. Aber ich sage noch einmal: Nicht nur mir wäre sehr unwohl, wenn an Stelle des Kollegen Genscher dieje- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nigen für die deutsche Außenpolitik verantwortlich Wir appellieren, daß an die Stelle der Konfrontation wären, die ihn jetzt Tag für Tag wegen angeblicher und der blutigen Auseinandersetzung f riedliche Ver- Laschheit attackieren. handlungen unter dem Gesichtspunkt des Selbstbe- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ stimmungsrechts treten. GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, — Na, sehen Sie! mit dem Ende des Golfkriegs gewinnen der Fortgang und der gegenwärtige Stand der deutschen Einigung (Bohl [CDU/CSU]: Knappe Vogel!) wieder die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihnen ge- Natürlich gibt es außer dem Golfkonflikt wichtige bühren. Diese Entwicklung ist durch eine dramatische außenpolitische Themen. Ich nenne als Stichworte nur Verschlechterung der Lebensbedingungen in den die Entwicklung in der Sowjetunion, die Lage in den neuen Bundesländern gekennzeichnet. Das ist nicht Staaten des östlichen Mitteleuropas nach der Wieder- Schwarzmalerei, wie Sie gelegentlich behaupten. Das herstellung ihres Selbstbestimmungsrechts, die Situa- ist die Realität, auf die die Ministerpräsidenten der tion Jugoslawiens und vor allem den Fortgang der neuen Länder immer nachdrücklicher hinweisen, an europäischen Einigung. Dazu werden Kolleginnen ihrer Spitze die Herren Biedenkopf und Stolpe. und Kollegen meiner Fraktion heute mittag das Wo rt Aber auch die Menschen selber weisen darauf hin: nehmen. Deshalb beschränke ich mich hier auf zwei Sie gehen von neuem in wachsender Zahl auf die kurze Bemerkungen zur Lage in der Sowjetunion und Straße und protestieren, vorgestern zum erstenmal zur jüngsten Entwicklung in Jugoslawien. auch wieder bei einer Leipziger Montagsdemonstra- Hinsichtlich der Sowjetunion bedauern wir, daß die tion — diesmal im Protest gegen die explodierende von Michail Gorbatschow eingeleitete Politik der Arbeitslosigkeit, gegen den Zusammenbruch wirt- und der Perestroika ins Stocken geraten ist schaftlicher Strukturen, gegen die Verteuerung der und da und dort sichtbare Rückschläge erlitten hat. Lebenshaltungskosten, mit der die Steigerung der Wir sprechen auch offen aus, daß es uns Sorge berei- Einkommen nicht Schritt hält, und dagegen, daß der tet, wenn erneut Kräfte in Erscheinung treten, die frü- wirtschaftliche Aufschwung nicht in Gang kommt. here Machtstrukturen erhalten oder gar wiederher- An die Stelle der Freude und der Zuversicht, die die stellen wollen. Wir können uns aber auch nicht wün- Menschen nach der Wende erfüllt haben, sind zu- schen, daß die Entwicklung in der Sowjetunion außer nächst Enttäuschung und dann Bitterkeit getreten, Kontrolle gerät und chaotische Züge oder sogar For- Bitterkeit, die sich zunehmend mit Aggression verbin- men gewaltsamer Konfrontation annimmt. det. Schon schließen nüchterne Beobachter und Ken- Ich bezweifle, daß uns allen klar ist, was dies für die ner der Verhältnisse — Ministerpräsidenten der Entwicklung der Zuwanderung aus Osteuropa bedeu- neuen Bundesländer gehören dazu — soziale Unru- ten würde. Ich bezweifle aber auch, daß uns klar ist, hen nicht mehr aus. was es bedeuten würde, wenn beispielsweise die zen- Dies alles hat seine Wurzel in dem schlimmen Zu- trale Kontrolle über die große Anzahl von Atomwaffen stand, in dem die ehemalige DDR am Ende der mehr verlorenginge, die in vielen Republiken der Sowjet- als 40jährigen Herrschaft der SED und der Blockpar- union an nicht wenigen Plätzen lagern. teien war. Das lasten wir Ihnen, Herr Bundeskanzler, (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das ist richtig!) und der Bundesregierung nicht an. Diejenigen, die sich selber als Nachfolgepartei der SED bezeichnen, Im übrigen glaube ich nach wie vor nicht, daß Prä- sollten besser schweigen, sident Gorbatschow sein bisheriges Werk in Frage stellen oder gar zerstören will. Im Gegenteil: Die Rati- (Rühe [CDU/CSU]: Sehr wahr!) fizierung des Zwei-plus-Vier-Vertrags zeigt, daß er an als sich jetzt als Fürsprecher der Menschen aufzuspie- seiner großen außenpolitischen Linie auch gegen Wi- len, deren Not in erster Linie eben diese SED zusam- derstände festhält. Für diese Ratifizierung spreche ich men mit den Blockparteien herbeigeführt hat. auch von dieser Stelle noch einmal den Dank aus. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ FDP) GRÜNE und bei der FDP sowie des Abg. Rühe [CDU/CSU]) Ich wiederhole etwas, was ich an dieser Stelle schon früher gesagt habe, nämlich daß Sie, Herr Bundes- Die Entwicklung in erfüllt uns mit Jugoslawien kanzler, zur Herstellung der staatlichen Einheit Ihren größter Sorge. Sie hat zuletzt in Serbien dazu geführt, vollen Beitrag geleistet haben. daß Panzer und Soldaten gegen Demonstranten ein- gesetzt wurden, die von ihrem Recht auf freie Mei- (Rühe [CDU/CSU]: Das war das Understate- nungsäußerung Gebrauch machten. Wir verurteilen ment des Jahres!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 741

Dr. Hans-Jochen Vogel Aber Sie haben durch vier gravierende Fehlent- den ganz wesentlich Verdrossenheit und Bitterkeit scheidungen den Fortgang des Einigungsprozesses verursacht, die eben nicht beflügeln, sondern läh- belastet und sind deshalb für die Enttäuschung der men. Menschen und für Härten, die vermeidbar waren, weithin verantwortlich. Dabei waren die Menschen in unserem Volk in den alten und in den neuen Bundesländern durchaus zu Herr Bundeskanzler, Sie haben die Größe der Auf- solidarischen Anstrengungen bereit. Die Menschen in gabe verkannt. Sie haben die Zusammenarbeit der den alten Bundesländern waren bereit, ihren Beitrag politischen Kräfte, die dringend angezeigt war und zu leisten, und die Menschen in den neuen Bundes- die wir Ihnen im Herbst 1989 angeboten haben, abge- ländern waren bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß lehnt. Sie haben — das wiegt am schwersten — die der Übergang von einem System ins andere zunächst Menschen in den neuen und den alten Bundesländern mit Härten und Umstellungsschwierigkeiten verbun- vor den Wahlen und auch noch danach mit unhaltba- den sein werde. ren Versprechungen getäuscht. Sie haben viele Mo- nate ungenutzt verstreichen lassen, in denen bereits Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Durchgreifendes hätte geschehen können und ge- Sie haben nun einmal den Menschen in den neuen schehen müssen. Bundesländern versprochen, niemandem werde es schlechter gehen als zuvor, aber vielen bald besser. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Den Wählerinnen und Wählern in den alten Bundes- GRÜNE) ländern haben Sie versprochen, es werde keine Steu- Das ist keine Auseinandersetzung in die Vergan- ererhöhungen geben. Muß man wirklich alle Zitate genheit hinein. Das sind Fehlentscheidungen, die von damals noch einmal zur Kenntnis bringen? Es fortwirken und mit deren Folgen wir uns jetzt zu be- genügt wohl diese Zeitungsanzeige vom November schäftigen haben. 1990. Da heißt es: „Keine Steuererhöhung für die In der Euphorie des vergangenen Jahres haben Sie deutsche Einheit! " und „Wir reden vor der Wahl nicht den Eindruck entstehen lassen, mit der Währungs- anders als nach der Wahl. " und Wirtschaftsunion und der staatlichen Einheit sei (Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Hahaha!) das Wesentliche bereits geschehen; alles andere werde der Markt leisten. Unsere Mahnungen, daß Überboten wurde das nur durch den Grafen. Der sagte dies nicht genüge, daß die Finanzausstattung der Län- nämlich noch Mitte Februar: „Ich behaupte nach wie der und Gemeinden unzureichend sei — ich erinnere vor," — Mitte Februar, Graf Lambsdorff! — „daß diese an die Dispute am Tisch im Bundeskanzleramt, als wir Aufgabe ohne Steuererhöhungen zu leisten ist." Ori- immer wieder darauf hingewiesen haben, daß eine ginalton Graf Lambsdorff vom 19. Februar! Ausstattung mit 70 Milliarden DM keinen Pfennig für Investitionen übriglassen würde — , daß für die jetzt Das ist der gleiche Graf Lamsdorff, der nicht einmal notwendigen beispiellosen Strukturveränderungen drei Wochen später — es waren genau 19 Tage — eine umfassende staatliche Strukturpolitik und Struk- Steuererhöhungen mit einem Volumen von zunächst turhilfe notwendig seien, wurden immer wieder als einmal rund 100 Milliarden DM in den nächsten Schwarzmalerei abgetan. 4 Jahren zustimmte und der kurz zuvor noch behaup- tete, die CDU sei — Originalton — steuerpolitisch Dabei ist es doch mit Händen zu greifen. In den noch niemals völlig zuverlässig und verläßlich gewe- neuen Bundesländern kann sich doch nicht in Mona- sen. Er sagte, nur auf die FDP sei in Steuerfragen Ver- ten sozialverträglich das vollziehen, was in den alten laß. Bundesländern Jahr um Jahr gedauert und viele Mil- liarden gekostet hat. Hier wären doch — um nur ein (Heiterkeit bei der SPD) Beispiel zu nennen — die Werften genauso zusam- mengebrochen und die Arbeitslosenzahlen an der Kü- Ich sehe da zwischen der CDU/CSU und der FDP nicht ste genauso explodiert, wie sie es jetzt in Rostock tun, den geringsten Unterschied! wenn Bund und Länder den Strukturwandel nicht über einen langen Zeitraum und unter Einsatz öffent- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten licher Mittel in zweistelliger Milliardenhöhe sozial- der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/ verträglich gestaltet hätten. Wir können doch nicht GRÜNE — Matthäus-Maier [SPD]: Ja, beide den Menschen drüben zumuten, in Wochen und Mo- sind nicht verläßlich!) naten Prozesse ablaufen zu lassen, die wir miteinan- der aus guten Gründen sozialverträglich über Jahre Sie haben beide ihr Wort gebrochen, und sie sind haben ablaufen lassen, damit die Menschen nicht un- beide umgefallen. ter die Räder kommen. Lieber Graf, das, was eine Zeitung mit großen Buch- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ staben schon in der Vergangenheit öfter proklamiert GRÜNE) hat, hat sich einmal mehr bestätigt. Den Eindruck, alles Wesentliche sei schon gesche- (Beifall bei der SPD — Der Redner zeigt die hen, haben Sie durch Wahlversprechungen verstärkt. Titelseite einer Ausgabe der „Bild"-Zeitung Statt die solidarischen Kräfte des ganzen Volkes durch mit der Schlagzeile „FDP fiel wieder um". — eine wahrheitsgemäße Darstellung des einmaligen Heiterkeit bei der SPD) Ausmaßes der zu bewältigenden Aufgabe zu wecken und den Menschen reinen Wein einzuschenken, sind Diese Zeitung holt immer wieder den alten Stehsatz die Menschen getäuscht worden, und dadurch wur- heraus, weil er stets zu verwenden ist. 742 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Hans-Jochen Vogel — Doch? Hat er es? Dann habe ich eine deutbare (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: So kann man auch Stelle günstiger ausgelegt, als sie es verdient. mit kleinen Sachen großen Kindern Freude machen! — Weitere Zurufe von der CDU/ (Beifall bei der SPD und bem Bündnis 90/ CSU — Glocke der Präsidentin) GRÜNE) — Frau Präsidentin, ich habe volles Verständnis für Aber vielleicht kann der Bundeskanzler klarstellen, diese Reaktion. wofür die Steuern denn nun eigentlich erhöht worden sind. (Dr. Vogel [SPD] trinkt einen Schluck Wasser — Zurufe von der CDU/CSU: Prost!) Statt dessen sagen Sie jetzt, Herr Bundeskanzler, Sie hätten sich geirrt — wobei sich in Ihrer Regierung —Sie sind schon ziemlich tief gesunken, daß Sie jetzt jeder über etwas anderes geirrt haben will. schon bei reinem Leitungswasser „Prost!" rufen; das war bei der CSU früher anders. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Sie, Herr Bundeskanzler, haben sich über die Ent- (Heiterkeit im ganzen Hause — Beifall bei wicklung des Handels mit den RGW-Ländern geirrt. der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/ Der Graf hat sich schon etwa breiter geirrt, nämlich Linke Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE nach eigenem Geständnis über den Anstieg der — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das war leider Löhne und über die Dauer der Privatisierung. Herr gut!) Graf, es tut Ihrem Ruf als Wirtschaftsfachmann nur Sie nehmen unsere Aufforderung zur Sparsamkeit bedingt gut, daß Sie solche Irrtümer am laufenden jetzt sehr ernst; ich komme darauf noch zurück. Band eingestehen. Zunächst haben Sie Ihren Wortbruch mit den Ko- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und bei sten des Golfkrieges begründet. Das aber war durch- Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE) sichtig und peinlich zugleich. Es war durchsichtig, Lieber Graf, in diesem Punkt ist Ihnen Herr Mölle- weil Sie selber die Kosten des Einigungsprozesses für mann wieder ein kleines Stück voraus. Er sagt näm- 1991 mit 150 Milliarden DM und die Höhe der Lei- lich frank und frei, er habe sich überhaupt geirrt; ganz stungen, die durch den Golfkrieg bedingt sind, mit generell habe er sich geirrt. 15 Milliarden DM angegeben haben. — Im übrigen scheint sich inzwischen nach den Berechnungen, die- (Heiterkeit bei der SPD) wir bekommen, in den Vereinigten Staaten ein Gut- Herr Waigel macht es sich noch bequemer. Er er- haben anzusammeln. klärt sich einfach für überfordert und sagt, er habe (Heiterkeit bei der SPD) überhaupt nichts voraussehen können. Das sagt er auch heute noch! Wir wären dankbar, wenn wir vom Außen- oder vom Finanzminister hören könnten, was mit diesem Über- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) schuß, der sich dort gebildet hat, eigentlich geschehen Diese Unfähigkeit, irgend etwas vorauszusehen, qua- soll. lifiziert ihn in besonderer Weise für das Amt des Fi- nanzministers! Aber der Kollege Waigel hat ja auch in (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ anderen Funktionen mit der Voraussicht manchmal GRÜNE — Rühe [CDU/CSU]: Kosten ent- Probleme. Auch die politische Entwicklung der DSU stehen auch jetzt noch!) hat der Ehrenvorsitzende dieser Partei offenbar nicht — Entschuldigung, fragen wird man doch noch dür- vorausgesehen. Das ist also so eine Sache mit der Vor- fen. Ich bin ja froh, daß die Kriegskosten hinter den aussicht. eingeplanten Kosten zurückgeblieben sind, aber man (Zustimmung bei der SPD) darf doch nachfragen. Oder ist das Geld einfach be- dingungslos, à fonds perdu gegeben worden? Das Meine Damen und Herren auf der Regierungsbank, traue ich nicht einmal Ihnen zu. empfinden Sie diese Ansammlung einander wider- sprechender Ausreden nicht selber als ziemlich — na, (Zurufe von der SPD: Doch!) ich bin einmal milde — unglücklich? Sie erscheinen ja — Ich lasse mich in der Beziehung gerne übertref- als ein Kabinett der Irrenden. fen. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Es war peinlich, weil Ihnen selber die Frage, was GRÜNE) das eigentlich für eine Politik sei, die in Wochenfrist — Ich habe „der Irrenden" gesagt. die Steuern erhöht, um den Krieg zu finanzieren, eine Steuererhöhung zugunsten der existentiellen Siche- Dabei ist Ihre Ausrede, Herr Bundeskanzler, eigent- rung von Millionen unserer Landsleute aber ablehnt, lich diejenige, die man am wenigsten belasten wohl unangenehm wurde, was Sie im Grunde ja ehrt. kann. Jedenfalls verschwand diese Begründung genauso (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Da war der Komö schnell, wie sie aufgetaucht war. Selbst Herr Waigel dienstadl trotzdem noch besser, Herr Vo hat es nicht mehr gewagt, diese Begründung für die gel!) Steuererhöhung hier vorzutragen. — Lieber Herr Bötsch, nun kennen wir uns so lange. (Zurufe von der SPD: Doch! — Gestern! — Wenn Sie all das, was unsere Menschen nun wirklich Matthäus-Maier [SPD]: Ja, er bleibt dabei!) bewegt und umtreibt — ich zeigen Ihnen nachher Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 743

Dr. Hans-Jochen Vogel noch mehr von dem, was die Menschen bewegt —, als und Wähler, die Ihnen geglaubt und die Ihnen des- Komödienstadl betrachten — — halb ihre Stimme gegeben haben.

(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Nein, Ihre Ausfüh- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ rungen! — Gegenruf des Abg. Duve [SPD]: GRÜNE) Das ist der Herr Missionar!) Jetzt kommt ja eine neue Verteidigungslinie auf. — Aha, aber ich bitte Sie um alles in der Welt: Ich Die ist nun ganz besonders pfiffig. Sie lautet: Das kann werde doch ehrerbietigst die Ausführungen der Her- eigentlich gar kein Betrug gewesen sein, weil die ren, worüber sie sich alles geirrt haben, hier vortragen Wähler das dem Bundeskanzler ohnehin nicht ge- dürfen. Dann bin ich doch nur Berichterstatter über glaubt hätten. Ich glaube, darauf sollte sich eine hono- einen Komödienstadl, und der sitzt dort, auf der Re- rige demokratisch-parlamentarische Regierung wirk- gierungsbank! lich nicht berufen. Das offenbart nämlich einen noch größeren Defekt im Umgang mit den Wählerinnen (Lebhafter Beifall bei der SPD — Beifall bei und Wählern. der PDS/Linke Liste und beim Bündnis 90/ GRÜNE) (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE) Herr Bötsch, ich weiß selber: Zwischenrufe sind manchmal hilfreicher für den, der sie empfängt, als für Die Wählerinnen und Wähler, die sich am 2. De- den, der sie macht. Auch uns geht das manchmal zember geirrt haben, bereuen das inzwischen bitter — so. in Ost und West. Wenn Sie es nicht glauben, dann gehen Sie bitte noch einmal auf die Plätze in Leipzig, Herr Bundeskanzler, Ihre Ausrede ist nun wirklich Rostock, und Magdeburg, auf denen Sie vor der die am wenigsten haltbare; denn daß der Absatz der Wahl so eindrucksvoll gesprochen haben. Folgen Sie ehemaligen DDR in den RGW-Ländern, wie Sie der doch der Einladung, die, glaube ich, Kollege Schulz in staunenden Bundespressekonferenz dargelegt ha- einer durchaus angemessenen und maßvollen Weise ben, drastisch zurückgehen würde, haben Sie doch an Sie gerichtet hat. selber dem Parlament bereits im Oktober 1990 Es wird Ihnen auf manchen Plätzen und in manchen (Bundeskanzler Dr. Kohl: Aber nicht auf Sälen der alten Bundesländer ebenfalls vieles an Fra- Null!) gen begegnen. Sie würden, Herr Bundeskanzler, si- cher anders empfangen werden als vor der Wahl, und — die Zahlen kommen noch, Herr Bundeskanzler — Sie wissen das. Bei nächster Gelegenheit werden Sie in Ihrer Antwort auf eine von uns gestellte Große auch die Quittung bekommen; so zuerst einmal der Anfrage mitgeteilt. In der Antwort heißt es u. a. von Herr Kollege Wagner in Rheinland-Pfalz. Das prophe- neuem, daß die Einkäufe der Sowjetunion bereits im zeien Ihnen ja inzwischen schon Ihre eigenen Leute. ersten Halbjahr 1990 um 15 % zurückgegangen sind Insbesondere Ihr bereits angekündigter Nachfolger, und daß für das zweite Halbjahr 1990 mit einem wei- Herr Wilhelm, läßt daran keinen Zweifel. Wenn das teren Rückgang von 30 % zu rechnen sei. Das sind Bedürfnis besteht, lese ich Ihnen das schöne Montags- dann schon 45 %. Bei den Einkäufen der kleineren interview im Deutschlandfunk vor, wo Herr Wilhelm RGW-Länder — das sind alle anderen; wenn man sie sagte, es sei schon alles verloren. Das sei keine Politik, zusammenzählt, sind sie auch ganz schön groß; Sie sondern „management by surp rise". wissen ja, was an Exporten aus der DDR nach Ungarn, nach Polen und in die Tschechoslowakei ging — sei Das kann ich Ihnen vorlesen. Sie kennen ja Herrn mit 60 °A° Rückgang zu rechnen. Wilhelm.

(Zuruf von der SPD: Er glaubt sich selber (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der nicht!) SPD) Anschließend wird ausgeführt, daß ein weiterer spür- Auch die Familie Vogel kennt Herrn Wilhelm. barer Rückgang — die Exporte waren also schon auf unter die Hälfte zurückgegangen — des Handels mit (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der der UdSSR und den anderen RGW-Ländern ab 1991 SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE) nicht auszuschließen sei. Ich kann Ihnen, Herr Wagner, nur zur Vorsicht raten. Herr Bundeskanzler, das ist doch genau das, was Sie haben keinerlei Gewähr, daß die zwei Jahre, wenn Sie erst jetzt entdeckt haben wollen. Dabei wußten Sie es passierte — aber es passiert nicht — , eingehalten es schon im Herbst 1990, es sei denn, Sie berufen sich werden, weil es zwischendurch bei Ihnen noch einen jetzt nicht mehr auf Irrtum, sondern auf Vergeßlich- Parteitag gibt. Seien Sie deshalb vorsichtig. keit. Aber auch das wäre nicht gut. Damit wir uns recht verstehen: Der Skandal liegt (Beifall bei der SPD — Matthäus-Maier nicht darin, daß die deutsche Einigung Opfer erfor- [SPD]: Blackout!) dert und daß deshalb Steuern erhöht werden. Das ist ein Gebot der Solidarität, und das haben wir schon Herr Bundeskanzler, so leicht, glaube ich, kommen vor der Wahl nicht nur als notwendig bezeichnet, son- Sie nicht davon. Ich bezweifle auch — aber ich lasse dern wir haben auch bereits Vorschläge dazu ge- das offen — , daß Sie sich geirrt haben. Aber geirrt macht, welche Steuern erhöht werden sollten. Der haben sich mit Sicherheit diejenigen Wählerinnen Skandal besteht da rin, daß die Menschen getäuscht 744 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Hans-Jochen Vogel wurden und daß die vorhandene Bereitschaft zur Soli- andere Aufgaben — solche, die hier die Gemeinden darität nicht gefördert, sondern gelähmt erledigen — zudiktiert hat. (Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das ist der (Dr. Struck [SPD]: Sehr wahr!) Punkt!) Wir haben gesagt: Die Altschulden müssen insgesamt und mit Mehltau überlagert worden ist. wenigstens um den Anteil der bet riebsfremden Lasten vermindert werden. Jetzt tun Sie das wenigstens bei (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ der Landwirtschaft. GRÜNE) Wir haben bei den Verhandlungen über den Eini- Inzwischen geben Sie ja mehr oder weniger unver- gungsvertrag vor einer Investitionsblockade durch blümt zu, daß Oskar Lafontaine und wir in vielen unklare Eigentumsverhältnisse gewarnt. Jetzt reden Punkten der Wahrheit viel näher waren als Sie. Sie selber — manche mit einer sehr forschen Tonart — von einer solchen Blockade. Ich muß noch einmal die (Widerspruch bei der CDU/CSU und der gesamte Bundesregierung, nicht nur den Bundes- FDP) kanzler, fragen: Was alles hätte schon in Gang gesetzt —Na ja, gut. Sie machen das sicherlich pflichtgemäß. werden können, wenn diese Forderungen schon im Ich wundere mich überhaupt, daß Herr Gerster so letzten Jahr erfüllt worden wären? lange so ruhig ist. Übrigens bildet sich da eine Legende weil Sie im- (Zuruf von der CDU/CSU: Der ist gar nicht mer von den 15 Milliarden DM reden, deren Zahlung da! — Weitere Zurufe) an die Regierung Modrow/de Maizière wir angeblich verlangt hätten. — Er ist krank? Gute Besserung! (Zuruf von der CDU/CSU: Nur Modrow!) Sie übernehmen ja von uns auch eine Position nach der anderen und kaschieren das auch gar nicht — Herr de Maizière hat die 15 Milliarden DM genauso mehr. verlangt wie Herr Modrow. Wir haben gesagt — Herr Kollege Waigel, ich wi ll (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Es gibt ja wohl das vor allem Ihnen in Erinnerung rufen, weil ich als einen Unterschied zwischen de Maizière und ehemaliger Oberbürgermeister nun wirklich wußte, Modrow!) - wovon ich spreche — , daß die Finanzausstattung der — Entschuldigung, Herr de Maizière war Stellvertre- Gemeinden völlig unzureichend ist. Sie haben das bei ter von Herrn Modrow, war Mitglied des Kabinetts den Verhandlungen über den Einigungsvertrag — wir und hat hier in Bonn öffentlich die 15 Milliarden DM saßen uns schräg gegenüber — bestritten. Jetzt, mit genauso eingefordert wie Herr Modrow. Das ist doch sechs Monaten Verspätung, tun Sie das, was wir ge- die Wahrheit! fordert haben, wenn auch noch immer nicht in ausrei- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ chendem Maße. Reicht denn Ihre Phantasie nicht, sich GRÜNE) vorzustellen, was die Gemeinden schon hätten auf den Weg bringen können, wenn man ihnen die 5 Mil- Meine Damen und Herren, hier bildet sich eine Le- harden DM an freien Investitionsmitteln schon vor gende. Wir haben nie verlangt, daß Herrn Modrow einem halben Jahr gegeben hätte diese 15 Milliarden DM rasch überwiesen werden. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ (Zuruf von der CDU/CSU: In die eigene Ta GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ sche!) Linke Liste) Ich sage aber: Welche Investitionen hätten in der öf- und wenn die Selbständigen, die Handwerker, die fentlichen Infrastruktur bereits laufen können, sich selbständig gemacht haben und die händerin- (Widerspruch bei der CDU/CSU) gend auf Aufträge warten, diese Aufträge von den Gemeinden schon im November oder im Dezember wenn damals oder jedenfalls sofort nach der Volks- bekommen hätten? Es weiß doch jeder von uns, daß kammerwahl eine entsprechende Verpflichtungser- auch der deutsche Wiederaufstieg in den alten Bun- mächtigung gegeben worden wäre und mit der Pla- desländern damit begonnen hat, daß die Gemeinden nung und Vorbereitung der Projekte schon hätte be- für ihre Infrastruktur und für Baumaßnahmen endlich gonnen werden können. Das ist auch die Wahrheit! Aufträge geben konnten. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Wir haben gefordert, die Altschulden der Woh- GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ nungsbaugesellschaften zu reduzieren, weil diese Linke Liste) sonst zusammenbrechen. Jetzt, nach einem halben Ich sagte: Sie haben einen Teil unserer Forderun- Jahr, ringen sie sich wenigstens zu einem Moratorium gen übernommen. Wir begrüßen auch andere Ele- durch. Ich sage Ihnen voraus: Sie werden mit dem mente der Beschlüsse, die Sie in der letzten Woche Moratorium allein das Problem nicht bewältigen. endlich gefaßt haben, so insbesondere die direkte Verstärkung der Gemeindefinanzen zur Instandset- (Beifall bei der SPD) zung von Schulen, Krankenhäusern und Altershei- Sie müssen die Wohnungsbaugesellschaften von Alt- men. Vor allen Dingen ist es gut, daß Sie diese Beträge schulden entlasten, die zum Teil mit dem Wohnungs- jetzt pauschal zur Verfügung stellen. Die Gemeinden wesen gar nichts zu tun haben, sondern ihnen oktro- drüben sind völlig außerstande, die hochkomplizier- yiert worden sind, weil das alte System ihnen ganz ten Förderungs- und Zuschußverfahren zu handha- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 745

Dr. Hans-Jochen Vogel ben, was wir hier im Laufe vieler Jahre gelernt haben. Überzeugendes zu sagen. Ich glaube, das Instrument Es war dringend notwendig, daß ihnen das Geld ein- der Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaft fach gegen den Nachweis, daß sie Aufträge für Inve- wäre ein Weg. stitionen und für die Bauwirtschaft erteilt haben, ge- Lassen Sie uns auch eine große Gemeinschafts- geben wird. Das sollte man fortsetzen. initiative unternehmen, damit wir den sowjetischen Wir begrüßen auch die zusätzlichen Arbeitsbe- Soldaten drüben — 400 000 an der Zahl — eine Um- schaffungsmaßnahmen. Aber Entscheidendes muß schulung und eine Qualifizierung anbieten können. noch geschehen. Unter Bezugnahme auf das, was Herr Kollege Lafontaine bereits gestern gesagt hat, (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ nenne ich aus dem nationalen Aufbauplan, den wir GRÜNE) vorgelegt haben, vor allem folgende Punkte: Nehmen Sie die alten Handwerks- und Werkmeister Erstens. Es bleibt dabei: Korrektur des Gesetzes dazu; das wäre eine sinnvolle Aufgabe. über offene Vermögensfragen, die über das, was jetzt Ich sage hier in vollem Ernst: Arbeitslosenanteile in einem fast nicht nachzuvollziehenden Verfahren von 40 und 50 % — ich zitiere mit diesen Zahlen den vorgelegt worden ist, hinausgeht, durch die Normie- Bundesarbeitsminister — sind unerträglich. Ihre Ab- rung des Vorrangs der Entschädigung vor der Rück- wendung erfordert außerordentliche Maßnahmen. gabe überall da, wo das Gemeinwohl dies erfordert. Dafür, daß diese Maßnahmen getroffen werden und Ich fürchte, wir geraten in ein neues Gestrüpp, das die daß die Treuhand in eine solche Politik eingebunden Behörden drüben nicht anwenden können, wenn es wird, sind der Gesetzgeber und der Bundesfinanzmi- detaillierte Aufzählungen mit Unterausnahmen, Ge- nister verantwortlich. Solange die dafür notwendigen genausnahmen, Hauptausnahmen und Befristungen Änderungsgesetze und die Richtlinien nicht ergehen, gibt. Es kann nur der klare Satz helfen: Überall da, wo richtet sich unsere Kritik gegen die Bundesregierung das Gemeinwohl es erfordert, hat die Entschädigung und nicht so sehr gegen die Treuhand. Ich habe jetzt Vorrang vor der Rückgabe. nämlich den Eindruck daß da und dort und gerade (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ auch bei Ihnen die Treuhand stellvertretend für an- GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ dere geprügelt wird, weil sich die Regierung hinter Linke Liste) der Treuhand verborgen hält. Ich will die Debatte nicht vorwegnehmen, aber dies (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ entspricht dem Recht in den alten Bundesländern. GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Hier können Sie Grundstücke enteignen, um eine Linke Liste) Straße zu bauen. Sie können sogar enteignen, um Drittens: Korrektur des von Ihnen vorgelegten einen Sportplatz zu bauen. Dann muß es doch, wenn Steuer- und Abgabenerhöhungspakets in den Punk- es um die Arbeit für Millionen von Menschen geht, ten, die Herr Kollege Lafontaine gestern dargelegt möglich sein, zu verlangen, daß dieselben Grundsätze hat. Ich wiederhole nur zwei Forderungen, die für uns gelten, daß sich der bisherige Eigentümer mit Ent- von besonderer Bedeutung sind; und wenn Sie unsere schädigung zufriedengibt und daß die Menschen drü- Mitarbeit wünschen, würde ich Ihnen empfehlen, ge- ben eine Chance haben. Es geht doch nicht um das rade diese beiden Punkte sorgfältig zu erwägen. einzelne Haus, es geht doch nicht um das Eltern- haus! (Vogel [Ennepetal] [CDU/CSU]: Wie lange redet der noch?) (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE) — Mit Ihrer Erlaubnis, bis ich fertig bin, Herr Kol- lege! So lange, wie nicht eine handhabbare, einfache For- mel gegeben wird, wird das nicht funktionieren. Die erste Forderung ist auf die Ersetzung der Erhö- hung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge durch Zweitens: Entwicklung einer aktiven Struktur-, In- eine generelle Arbeitsmarktabgabe oder einen Ar- dustrie- und Beschäftigungspolitik, die sich die ent- beitsmarktbeitrag gerichtet. sprechenden Aktivitäten in den Montanregionen und den Werftregionen der alten Bundesländer zum Vor- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ bild nimmt. Ich habe es vorhin schon ausgeführt: Sie GRÜNE) werden den Menschen drüben nicht erklären können, Wir werden nicht müde werden, zu sagen: Es ist grob warum sie bei der Umstrukturierung härter herange- ungerecht, zur notwendigen — das unterstreiche nommen werden, als wir selbst es unseren Menschen ich — Finanzierung eines Strukturwandels solchen aus guten Gründen je zugemutet haben. Dabei muß Ausmaßes nur die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber auch das Instrument der Beschäftigungs- und der heranzuziehen. Die Heranziehung der anderen Grup- Qualifizierungsgesellschaft eingesetzt werden. pen — Selbständige, Beamte, natürlich auch wir alle Ich weiß nicht, ob Ihnen so deutlich ist — mir ist es in hier miteinander — ist ein Gebot der Gerechtigkeit. Gesprächen deutlich geworden —, was es für die (Zustimmung bei der SPD und beim Bündnis Selbstachtung von Menschen bedeutet, die drüben 90/GRÜNE) auch 20, 30 oder 40 Jahre tüchtig und anständig gear- beitet haben, wenn ihnen gesagt wird: Für Euch ist Herr Waigel, Sie haben nicht recht, wenn Sie sagen, kein Bedarf mehr. Für Euch ist kein Platz mehr. Euch das sei eben Arbeitslosigkeit, und da gelte das Soli- können wir nicht brauchen. Geht nach Hause! — Ich darprinzip der Arbeitnehmer. Dies ist aber keine nor- bin selber in Verlegenheit, den Menschen dann etwas male Arbeitslosigkeit, sondern eine gewaltige Struk- 746 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Hans-Jochen Vogel turveränderung. Diese Aufgabe stellt sich uns allen. werden soll, stimmen wir doch weitgehend darin Wir alle müssen zu ihrer Lösung beitragen. überein, daß der Schutz des vorgeburtlichen Lebens (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ viel stärker als bisher durch Hilfen bewirkt werden GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ muß, die Schwangerschaftskonflikte abwenden oder Linke Liste) doch mildern. Von Frauen aus meiner Fraktion sind dafür zusammen mit Frauen aus anderen Fraktionen Ich verstehe auch folgendes nicht. Sie kämen doch in der letzten Legislaturpe riode neue Rechtsansprü- in eine viel günstigere Position, wenn Sie den Arbeit- che und Verbesserungen bestehender Rechtsansprü- nehmern sagen würden: Von euch verlangen wir nur che in einem Gesamtbetrag von damals 4,7 Milliarden das, was wir selber auch erbringen, weil wir diesen DM gefordert worden. Dieser Betrag bedarf auf Grund Beitrag auch leisten. der Koalitionsvereinbarungen — darin steht ja man- (Zuruf von der SPD: Dann müßten sie ja auf ches — der Aktualisierung; er wird aber jedenfalls etwas verzichten!) beträchtlich sein. Außerdem würde es ein Mehr von 7 Milliarden DM Für mich — und ich hoffe, nicht nur für mich — ist es gegenüber Ihren Plänen ergeben. Diese 7 Milliarden ein Prüfstein für die Ernsthaftigkeit vielfältiger Be- DM werden wir noch bitter notwendig brauchen. kundungen über den Lebensschutz, ob die Politik be- reit ist, diese Mittel zur Verfügung zu stellen. Wer sich Die zweite Forderung von sehr großem Gewicht ist für Lebensschutz ausspricht — das tun ja viele und der Verzicht auf die Streichung der Vermögensteuer manche mit besonderer Ve rve —, der muß sich an die- und der Gewerbekapitalsteuer. Wenn Sie diese Steu- ser Stelle prüfen lassen und an dieser Stelle bewäh- ern in den neuen Bundesländern suspendieren, weil ren. die Voraussetzungen für die Erhebung nicht gegeben sind, dann ist das für uns nicht der Knackpunkt. Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kann man verstehen, denn die Einheitswerte sind der CDU/CSU und der FDP) noch nicht ermittelt. Außerdem ist die Zahl derer, die Wer bereit ist, Steuern innerhalb kürzester F rist zu dort ein Millionenvermögen haben, von Herrn erhöhen — ich verweise noch einmal leise auf den Schalck-Golodkowski abgesehen — aber der hat ja Bezug zum Golfkrieg — , der darf keinen Augenblick hier Aufnahme gefunden —, zögern, die Steuereinnahmen unseres Gemeinwesens (Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Bayern! Tegern- zu verbessern, wenn es um den Schutz des vorgeburt- see! — Dr. Struck [SPD]: CSU!) lichen Lebens geht. nicht so groß. (Beifall bei der SPD) (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Gestern bei Wenn Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Waigel, eine Herrn Lafontaine klang das aber anders!) geeignete Steuermaßnahme vorschlagen, um dies zu — Langsam! — Wir widersetzen uns mit aller Ent- gewährleisten, dann werden Sie jedenfalls mich an schiedenheit der Beseitigung der Vermögensteuer der Seite derer haben, die dem zustimmen, weil es ein und der Gewerbekapitalsteuer hier in den alten Bun- Prüfstein ist. desländern. (Zustimmung bei der SPD) (Beifall bei der SPD und des Abg. Schulz Fünftens. Notwendig ist die rasche Rehabilitierung [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE]) derer, die unter dem vergangenen System durch Will- Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, einer handvoll von kür und staatliche Repression in ihren Persönlich- Millionären in dem Zeitpunkt die Erleichterung der keitsrechten verletzt worden sind. Es ist eher bedrük- Steuerlast um Millionenbeträge zuzusagen, in dem kend, daß wohl ständig und lautstark über Verluste an die Belastungen für die Gemeinschaft notwendiger- Grund und Boden, aber kaum über die Wiedergutma- weise erhöht werden. Wenn das kritisiert wird, ist das chung der Schäden diskutiert und geredet wird, die so nicht Neid. Die Kritik richtet sich gegen einen Verstoß viele Menschen an ihrer Freiheit, an ihrer Gesundheit gegen die Gerechtigkeit! und an ihrem beruflichen Fortkommen erlitten haben. Ich appelliere an uns alle, daß das ganz oben auf die (Beifall bei der SPD und des Abg. Schulz Tagesordnung unserer politischen Arbeit kommt. [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE]) (Beifall bei der SPD) Verglichen mit dem Skandal, den Sie hier auslösen, ist der seinerzeitige Flugbenzin-Skandal, an den ich Sechstens. Erforderlich ist auch die unverzügliche Sie erinnern darf — auch Sie, Herr Bötsch — , harmlos. Ingangsetzung des Verfassungsdialogs, weil das Zu- Das sagen Ihnen ja inzwischen Ihre eigenen Partei- sammenwachsen der Menschen in den alten und den freunde. Herr Scharrenbroich könnte Herrn Hörsken neuen Bundesländern und die Entwicklung eines ge- und andere zitieren, auch den Herrn Wilhelm. Ich meinsamen Bewußtseins dadurch gefördert und be- nehme an, daß auch Herr Wagner hier an dieser Stelle lebt werden. und nicht nur draußen in Rheinland-Pfalz dagegen Siebtens sage ich, ohne daß ich mich an dieser Stelle protestieren wird. Außerdem wäre es gut, wenn Sie jetzt in der Sache äußere: Bitte keine unnötige Verzö- Ihre Einsparungsankündigungen nun selber ernst gerung der Entscheidung über den Sitz des Bundes- nehmen würden. tages! Beide Städte haben einen Anspruch darauf, daß Viertens liegt mir persönlich etwas sehr am Herzen. bald Klarheit geschaffen wird; sonst wird die Entwick- Bei allen Auffassungsunterschieden in diesem Hause lung beider Städte gebremst. Über diese Frage sollte darüber, wie das Schwangerschaftsrecht novelliert nicht überhastet, aber bald entschieden werden; ich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 747

Dr. Hans-Jochen Vogel meine, bis zur oder jedenfalls kurz nach der Sommer- So Helmut Kohl in der Funktion, in der ich hier heute pause. rede, nämlich als Oppositionsführer, gegenüber dem damaligen Bundeskanzler im Jahre 1976. (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Richtig!) Diese Frage und die Feststellung, die Sie damit ver- Es wäre gut, Herr Bundeskanzler, wenn Sie in die- bunden haben, fallen heute mit ihrem ganzen Ge- ser Frage allmählich auch Ihre Meinung öffentlich wicht auf Sie selber zurück. erkennen ließen. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ (Bundeskanzler Dr. Kohl: Was soll denn das? GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ — Bohl [CDU/CSU]: Nun mal langsam! Grü- Linke Liste) ßen Sie mal Herrn Ehmke!) Ich bitte Sie eindringlich, den Schaden, der hier ent- Über diesen zentralen Themen der deutschen In- standen ist, zumindest dadurch zu mindern, daß Sie nenpolitik dürfen wir die anderen Probleme nicht ver- heute und hier nicht mit Ausreden und Irrtumsbe- gessen, von deren Bewältigung das Wohlergehen un- hauptungen fortfahren, sondern daß Sie gegenüber seres Volkes ebenfalls abhängt. Es ist ja wahrlich der Öffentlichkeit ein klares und deutliches Wort und nicht so, daß in den alten Bundesländern nichts zu auch ein Wort der Entschuldigung finden. Ich glaube, ändern und nichts zu verbessern wäre. Zu den anste- die Menschen haben einen Anspruch darauf, und un- henden Aufgaben gehören die ökologische Erneue- sere Demokratie braucht das. rung unserer Wirtschaft und die substantielle Vermin- derung unseres Energieverbrauchs; dazu gehören das (Beifall bei der SPD) Zuwanderungsproblem, die Pflegeproblematik, die Solange Sie das nicht tun, ist Ihre Regierung mit Wohnungsnot, der drohende Verkehrsinfarkt und die einem doppelten Makel belastet: mit dem Makel, daß Gleichstellung der Frauen, um nur einige Stichworte Sie Ihre Mehrheit und damit das Zustandekommen zu nennen. Meine Kolleginnen und Kollegen werden Ihrer Regierung — ich formuliere vorsichtig — auch darauf noch näher eingehen. einer Täuschung verdanken — das ist ein Makel, der Herr Bundeskanzler, zum Schluß muß ich noch ein- Sie begleiten wird — , und dem Makel, daß diese Re- mal auf Ihr Versprechen, es werde keine Steuererhö- gierung nicht die Kraft aufbringt, wenigstens im nach- hungen im Zusammenhang mit der deutschen Eini- hinein die Wahrheit zu sagen und dadurch diesen gung geben, und auf die Tatsache, daß dieses Ver- Makel wenigstens zu mildern. - sprechen gebrochen wurde, zurückkommen. Das ist Wie immer Sie sich entscheiden, unsere Verantwor- ein gravierender Vorgang, der die politische Kultur, tung, die Verantwortung der Opposition, ist durch der die Glaubwürdigkeit der Politik insgesamt be- diese Vorgänge gewachsen, schon deshalb, weil die schädigt hat. Wie tief, das zeigt die Tatsache, daß sich Menschen erkannt haben: Wir sagen die Wahrheit Bürgerinitiativen an die Bevölkerung wenden und ih- auch dann, wenn sie unpopulär klingt. Wir sind rer Empörung über diesen Vorgang in ganzseitigen — ohne Verwischung der Funktionen, die uns in die- Anzeigen Ausdruck geben und das sogar mit der For- sem Hause übertragen worden sind — zur Zusam- derung nach Neuwahlen verbinden. Sie und wir alle menarbeit bereit, wo immer die Größe der Aufgabe — denn wir sind immer mit betroffen von solchen Vor- das erfordert. Wir werden alles tun, was in unserer gängen — sollten das nicht auf die leichte Schulter Kraft steht, um dieser gestiegenen Verantwortung ge- nehmen. recht zu werden, d. h. Schaden von unserem ganzen Sie selbst glaubten, als Oppositionsführer im Jahre Volk abzuwenden und seinen Nutzen zu mehren. Je- 1976 einmal zu einem entsprechenden Vorwurf Anlaß der wird verstehen, wenn ich das jetzt vor allem auf zu haben. Herr Bundeskanzler, Sie haben diesen Vor- die Menschen in den neuen Bundesländern konzen- wurf damals vom Podium des Deutschen Bundestages triere. aus wie folgt formuliert — ich empfehle auch deswe- Herzlichen Dank. gen Aufmerksamkeit, weil es sich um Ausführungen des Bundeskanzlers handelt — : (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abge Herr Bundeskanzler ordneten der PDS/Linke Liste) —Sie hatten den damaligen Bundeskanzler als Adres- saten — das für mich Unfaßbare ist, daß Sie es nicht fassen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der können, daß sich Bürger auf das Wort des Kanz- Abgeordnete Herr Dr. Dregger. lers verlassen und daß diese Bürger empört sind, wenn der Kanzler sein Wort einfach bricht, so, als (Gansel [SPD]: Herr Kohl soll sich selbst ent wäre dies das Natürlichste von der Welt. Wer schuldigen!) — so fuhr Helmut Kohl als Oppositionsführer fort — soll Ihnen jetzt eigentlich noch glauben? Dr. Alfred Dregger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren! Es hat in den letzten Wo- chen viel Kritik gegeben. Sie war allerdings nur selten Wer so die Axt an die Wurzel des Vertrauens in konstruktiv, den Staat legt, ist dabei, den Lebensnerv der De- mokratie zu gefährden, wenn nicht gar zu zerstö- (Zustimmung bei der CDU/CSU — Lachen ren. und Widerspruch bei der SPD) 748 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Alfred Dregger häufig oberflächlich, manchmal heuchlerisch trägt wesentlich zur Entmilitarisierung der Ost-West- Beziehungen bei, die nicht nur uns, sondern allen (Beifall bei der CDU/CSU — Gansel [SPD]: Europäern zugute kommt. Wir Deutsche zahlen dafür Schon wieder ein Irrtum! — Weitere Zurufe 13 Milliarden DM und vermindern — im Vorgriff auf von der SPD) diesen Abzug — die deutschen Truppen auf 370 000 und vor allem in keiner Weise den großen Aufgaben Mann. Das ist wenig mehr als die Hälfte des vorheri- angemessen, vor denen wir jetzt alle stehen. gen Bestandes von Bundeswehr und NVA. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir begrüßen es, daß der Oberste Sowjet den Zwei- Zunächst: Der soeben wiedervereinigte deutsche plus-Vier-Vertrag, den großen Partnerschaftsvertrag Staat hat nicht nur normale staatliche Aufgaben zu und den Vertrag über die wirtschaftliche und techni- erfüllen. Hinzu kommen Sonderaufgaben in einer sche Zusammenarbeit ratifiziert hat. Den Vertrag über Dichte und Dramatik, wie sie zur Zeit keinem anderen den Truppenabzug hat der Oberste Sowjet grundsätz- Staat der Erde gestellt sind. lich gebilligt. Ich möchte diese Sonderaufgaben aufzählen. Weil dies zu Spekulationen geführt hat, sage ich: Erstens. Aus der vor weniger als einem halben Jahr Wir werden diesen Vertrag erfüllen wie die anderen wiederhergestellten staatlichen Einheit muß nun Verträge auch. Zu irgendwelchen Nachbesserungen sehen wir keinerlei Anlaß. wirtschaftliche und soziale Wirklichkeit werden. Das ist nach 45 Jahren kommunistischer Unterdrückung (Beifall bei der CDU/CSU) und Mißwirtschaft eine gigantische Aufgabe, meine Damen und Herren, Wir erwarten ferner, daß die Republik Polen die Erfül- lung dieses Vertrages erleichtert. Auch in Polen wird (Beifall bei der CDU/CSU) man einsehen müssen, daß es Solidarität auf Dauer eine Aufgabe, für die es in der Geschichte kein Bei- nur auf der Grundlage der Gegenseitigkeit geben spiel gibt. kann. (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Für Sie auch Vierte Sonderaufgabe: Wir hatten und haben die nicht!) Aufgabe, im Golfkonflikt zur Solidarität mit der Wer diese Wirklichkeit übersieht, verliert die Fähig- UNO, unseren atlantischen Verbündeten sowie Israel keit, diese Wirklichkeit zu verändern und grundle- beizutragen. Wir haben das nicht mit Soldaten getan gend zu verbessern. — die Gründe dafür kennen Sie — , wir haben es aber durch Sachleistungen und finanzielle Beiträge getan. Zweite Sonderaufgabe: Wir haben den Staaten Ost- Dafür haben wir 17 Milliarden DM aufwenden müs- mitteleuropas beizustehen. Nach der Auflösung des sen. Nun, nach dem Sieg der Alliierten, im Auftrag der RGW-Systems und des Warschauer Paktes wenden Vereinten Nationen, geht es dort um eine stabile Ord- sich Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen vor al- nung des Friedens und um den Wiederaufbau. Der lem uns zu. Der polnische Ministerpräsident hat vor Wiederaufbau Kuwaits und des Irak wird vor allem seiner Reise nach Bonn gesagt: „Der Weg Polens nach eine Sache der reichen Golfländer sein, aber auch wir Europa führt über Deutschland. " — Es liegt auch in werden unseren Beitrag leisten. In einer Region, für unserem deutschen Interesse, daß diese Länder mit die wir zur Abwehr des Aggressors und Diktators viel uns und durch uns Halt für ihre wirtschaftliche Ent- Geld aufgewandt haben, mit der wir aber auch seit wicklung und ihre Sicherheit in Europa finden. Wür- langem wertvolle kulturelle Beziehungen unterhal- den sie das nicht, würden sie Notstandsgebiet blei- ten, werden wir in der Lage sein, für die Entwicklung ben. Dann wäre die Massenauswanderung von dort- einen positiven Beitrag zu leisten. her zu uns die unvermeidliche Folge. Zur Diskussion über den möglichen Einsatz der (Zuruf vom Bündnis 90/GRÜNE: Das ist Rea Bundeswehr in ähnlich gelagerten Fällen sage ich: -lität!) Wir, die CDU/CSU, wollen durch eine klarstellende Dritte Sonderaufgabe: Wir müssen die politischen Grundgesetzänderung die Konsequenz aus den ge- Anstrengungen in der Sowjetunion unterstützen, zu machten Erfahrungen ziehen. Deutschland, dessen einer besseren gesellschaftlichen und wirtschaftli- Lage sich grundlegend verändert hat, muß nach Über- chen Ordnung zu finden. Uns Deutschen geht es da- windung der Teilung und nach Rückgewinnung der bei vor allem um eine tragfähige Grundlage für gute Souveränität im Rahmen der kollektiven Sicherheits- Beziehungen zwischen dem deutschen Volk und den systeme, denen dieses Deutschland angehört — das Völkern der Sowjetunion. Wir Deutsche sind heute sind die UNO, die NATO und die WEU — bereit sein, Verbündeter des Westens und zugleich wichtiger seinen militärischen Beitrag zur Friedensicherung zu Partner des Ostens; beides wollen wir bleiben. Diese leisten. Konstellation, ein Ergebnis der Außenpolitik von Kon- rad Adenauer bis Helmut Kohl, ist für unser Land in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Mitte Europas eine Traumkonstellation, die dem Wären wir dazu nicht bereit, dann wären wir nicht Bismarck-Reich, das bald allein stand, nie vergönnt bündnisfähig, zum Schaden für unser Land, zum war. Schaden für unsere Bundesgenossen und zum Scha- Wir sind daran interessiert, meine Damen und Her- den auch für die Völkergemeinschaft. Wir hoffen, daß ren, daß die Sowjetunion ihre Truppen — zur Zeit sich die SPD, die sich seit 1959 zum Bündnis bekennt, noch über 350 000 Mann — wie vereinbart, spätestens dieser Einsicht, Herr Kollege Vogel, nicht verschlie- bis 1994, von deutschem Boden abzieht. Dieser Abzug ßen wird. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 749

Dr. Alfred Dregger In meiner Rede auf der Sondersitzung des Deut- pas. Ich hoffe, daß alle Partnerländer bereit sind, ihre schen Bundestages vom 17. Januar 1991 habe ich die Sicherheitspolitik zu europäisieren, auch Frankreich, solidarische Haltung der CDU/CSU-Bundestagsfrak- das in dieser Frage eine Schlüsselrolle hat. tion zur UNO, zu den USA und zu den anderen Betrof- fenen so klar zum Ausdruck gebracht, daß zu Zweifeln Meine Damen und Herren, die genannten fünf Son- an unserer Haltung kein Anlaß bestand. Da solche deraufgaben — zusätzlich zu den normalen Staatsauf- Zweifel dennoch geäußert wurden, nicht was unsere gaben — sind ein ungewöhnliches Arbeitsprogramm. Unionsposition, aber was die gesamtdeutsche Position Ich sage das nicht, um über unsere Arbeitsbelastung angeht, erlaube ich mir, auf diese Rede noch einmal zu klagen, im Gegenteil: daß sich diese Aufgaben stel- len, ist ein ungeheurer Erfolg unserer Politik und da- hinzuweisen. her insgesamt erfreulich und beflügelnd. Mir geht es Fünfte Sonderaufgabe: Wie müssen die europäi- nur darum, ins öffentliche Bewußtsein zu rufen, daß sche Wirtschafts- und Währungsunion in einer Weise man politische Entwicklungen und finanzielle Bela- zustande bringen, die sich an der Geldwertstabilität stungen in diesen Sonderbereichen nicht so voraus- der D-Mark und an der unabhängigen Stellung der schätzen konnte und zum Teil auch heute noch nicht Deutschen Bundesbank orientiert. kann, wie das bei normalen Staatsausgaben möglich Das alles, meine Damen und Herren, wird nicht ist, bei denen man nach der Regel „simile, simile" — leicht sein; denn die Ausgangslage der europäischen „es war alles schon einmal da" — einigermaßen sicher Partner ist sehr unterschiedlich. Die Divergenzen neh- vorausschätzen kann, was zu erwarten ist. men in letzter Zeit sogar zu. Wie groß die Unter- Meine Damen und Herren, das finanzielle Funda- schiede sind, zeigt das Beispiel eines europäischen ment für die Wiedervereinigung Deutschlands haben Partnerlandes, dessen Nettoneuverschuldung nicht wir in den Jahren 1983 bis 1989 gelegt. Wir haben in 0,8 % beträgt wie bei uns vor Wiederherstellung der nur sieben Jahren die öffentlichen Haushalte konsoli- Einheit, sondern 10,8 % — nicht 0,8 %, sondern sage diert und die Steuerzahler drastisch entlastet. Die und schreibe 10,8 % Nettoneuverschuldung! Bundesausgaben stiegen in dieser Zeit im Jahres- Ebenso besorgniserregend ist die Divergenz der In- durchschnitt um 2,5 %. Dies war nur halb so viel wie flationsraten. In einem anderen europäischen Partner- der Anstieg des Bruttosozialprodukts, das im selben land beträgt die Geldentwertungsrate nicht 2,7 % wie Zeitraum im Jahresdurchschnitt um 5,1 % zunahm. zur Zeit bei uns, sondern 23%. Dies ist auch im internationalen Vergleich eine ganz Meine Damen und Herren, ich will das nicht drama- ungewöhnliche Leistung, die es verdient, vor dem tisieren. Wir müssen aber und können unsere europäi- deutschen Bundestag und vor dem deutschen Volk schen Partner bitten, bereits vor der Vergemeinschaf- hervorgehoben zu werden. tung von Wirtschaft und Währung, also jetzt, und das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) heißt im nationalen Rahmen, zu stabilen Verhältnis- sen zu kommen. Das alles der künftigen Europäischen Die Nettoneuverschuldung des Bundes haben wir Union überlassen zu wollen, könnte deren Scheitern in derselben Zeit von 2,3 % des Bruttosozialprodukts bedeuten. Ich teile die Auffassung des britischen Pre- auf 19 Milliarden DM — das sind 0,8 % des Bruttoso- mierministers, daß gesundes Geld wichtiger ist als zialprodukts — zurückgeführt. Das angemessen zu dasselbe Geld. würdigen, ist ebenfalls nur im internationalen Ver- (Zuruf von der SPD: Viel Geld ist wichtiger gleich möglich. Ich verweise auf das vorher von mir als wenig!) dazu in die Debatte eingeführte Beispiel. Ich meine: wenn wir alle dasselbe Geld in Europa Unsere große Steuerreform hat die Steuerzahler um haben werden, dann muß es eben gesundes Geld 50 Milliarden DM netto entlastet. Die Steuerquote be- sein. trug 1990 22,5 %. So niedrig war sie seit 30 Jahren nicht mehr. Auch das ist im internationalen Vergleich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Spitze. Unser besonderer Dank dafür gilt dem Bun- ordneten der FDP) deskanzler Helmut Kohl und seinen beiden Finanzmi- Das ist eine dringend notwendige Voraussetzung. Je- nistern und . der sollte vorher sein Haus in Ordnung bringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Eine Wirtschafts- und Währungsunion wird es nicht geben, wenn nicht auch eine Europäische Sicher- Meine Damen und Herren, für 1991 lautet ange- heitsunion zustande kommt. Beide Felder betreffen sichts der zusätzlichen Belastung in einigen der fünf die Kernstücke der staatlichen Souveränität. Man Sonderbereiche die Alternative aber nicht mehr: Steu- kann nicht das eine an Europa übertragen und das ererhöhung ja oder nein? sondern: Steuererhöhung andere für sich behalten wollen. Ich freue mich, daß oder Nettoneuverschuldung über die Grenze von die Bundesregierung diesen Standpunkt mit Nach- 70 Milliarden DM hinaus? druck vertritt. Ich möchte das ausdrücklich unterstüt- zen, zumal wir immer dafür eingetreten sind. Das zweite wäre im Hinblick auf die Geldpolitik der Bundesbank, auf die Geldwertstabilität der D-Mark (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und die Auswirkungen auf die internationalen Fi- ordneten der FDP) nanzmärkte nicht verantwortbar gewesen. Deshalb Die Europäische Sicherheitsunion wird zwei Aufga- haben wir uns zu einer begrenzten Steuererhöhung ben haben. Sie wird Pfeiler der Atlantischen Allianz entschlossen. Neben Verbrauchsteuererhöhungen, sein, die unentbehrlich bleibt, und zugleich sicher- insbesondere der Mineralölsteuer, geht es um einen heitspolitische Grundlage der Politischen Union Euro- auf ein Jahr bef risteten, nämlich von Mitte 1991 bis 750 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Alfred Dregger Mitte 1992 geltenden Solidarzuschlag zur Einkom- darauf hingewiesen — — men-, Lohn- und Körperschaftsteuer. (Poß [SPD]: Als Fraktionsvorsitzenden habe (Becker-Inglau [SPD]: Wer es glaubt!) ich Sie auch nicht gemerkt!) Dieser Zuschlag wird auf zwei Haushaltsjahre verteilt, — Ich habe es nicht gemerkt, das kann ich wohl als so daß die Belastung je Jahr in 1991 und 1992 nur freier Parlamentarier hier sagen, denke ich! — 3,75 % beträgt. (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der (Wettig-Danielmeier [SPD]: Ihnen glaubt CDU/CSU: Weiß Gott!) doch keiner mehr!) Herr Lafontaine hat darauf hingewiesen, daß entge- — Ja, Sie glauben nicht. gen der üblichen Rollenverteilung zwischen Regie- rung und Opposition die SPD lange vor der CDU/CSU Einige zweifeln an der Einhaltung der Befristung, Steuererhöhungen vorgeschlagen habe. Das ist zu- dazu sage ich: Daß diese Bef ristung eingehalten wird, treffend, liegt nicht nur im Interesse der Steuerzahler, sondern auch im Interesse des Fiskus, denn die Fortsetzung (Poß [SPD]: Das war unvermeidbar!) des wirtschaftlichen Aufschwungs in Westdeutsch- aber in meiner Sicht kein Pluspunkt. land und ein sich anbahnender Aufschwung in den neuen Bundesländern lassen mehr Steuereinnahmen (Zuruf von der SPD: Aber die Wahrheit!) erwarten, als sie aus Steuererhöhungen hervorgehen Ich sehe darin mangelnden Respekt vor dem Porte- können. monnaie des Bürgers 1991 leistet der Bund an Hilfen für die neuen Bun- (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der desländer insgesamt 93 Milliarden DM. Davon sollen SPD) 57 Milliarden DM für Investitionen verwendet wer- den. Meine Damen und Herren, das haben wir zu- und außerdem eine Fehleinschätzung stande gebracht, nachdem, die politische Einheit noch (Matthäus-Maier [SPD]: Sie lügen!) keine sechs Monate hergestellt ist, im Hinblick auf die Vorteile von Steuererhöhungen (Bundeskanzler Dr. Kohl: So ist es!) für das Gemeinwohl. Wir glauben mehr an die Kraft der Bürger, die den Wohlstand schafft, und nicht an eine erstaunliche Leistung, finde ich. Steuererhöhungen, die Sie nachher verteilen kön- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nen. ordneten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Das ist ein gewaltiger Betrag. Wir könnten ihn heute Lebhafte Zurufe von der SPD) nicht aufbringen, wenn wir nicht durch die Haushalts- Sie, meine Damen und Herren, sind die klassische konsolidierung der Jahre 1983 bis 1989 und die mas- Steuererhöhungspartei. sive Steuersenkung um 50 Mil liarden DM in den Jah- ren 1986, 1988 und 1989 dafür die Voraussetzungen (Widerspruch bei der SPD) geschaffen hätten. Jeder weiß es: Es gibt keine Partei in Deutschland, die Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion — das dem kleinen Mann so unverfroren in die Tasche greift, möchte ich unterstreichen — , sind weiterhin auf den wie Sie es getan haben und wieder tun wollen. wirtschaftlichen Aufschwung und nicht auf Steuerer- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) höhungen eingestellt. Auch wir können in besonderen Situationen Steuer- (Lachen bei der SPD) erhöhungen nicht ausschließen. Darin unterscheiden wir uns g rundsätzlich von der (Kuhlwein [SPD]: Der hat die falsche Rede SPD. mit! Das ist die Rede aus dem Wahlkampf!) (Beifall bei der CDU/CSU) Unsere Grundtendenz zielt jedoch, wie unsere Steuer- politik seit Anbeginn und auch jetzt beweist, in die Wir haben nicht vergessen, meine Damen und Her- entgegengesetzte Richtung. ren, daß die SPD in ihrer Regierungszeit die Ver- brauchssteuern sage und schreibe 17mal erhöht und (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der in den letzten Jahren 48 Steuer- und Abgabenerhö- SPD: Tauschen Sie doch mal das Manusk ript hungspläne präsentiert hat. aus, Herr Dregger!) (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Meine Damen und Herren, wir werden Ihnen das nicht ersparen. Zum Zeitpunkt der von uns vorge- Dazu gehört auch der Vorschlag einer Mineralöl- schlagenen begrenzten Steuererhöhung läßt sich steuererhöhung um 50 Pfennig, also doppelt so viel, rückblickend sagen: Natürlich hätte man schon 1990 wie wir es beschlossen haben. eine Steuererhöhung sozusagen auf Vorrat ankündi- Meine Damen und Herren, gestern hat Ihr Debat- gen oder gar beschließen können. tenredner Lafontaine — daß er Ministerpräsident ist, (Zuruf von der SPD: Das ist ja ganz neu!) war gar nicht zu merken — Ich halte diesen Gedanken allerdings für absurd. Wir (Dr. Struck [SPD]: Na, na!) jedenfalls erhöhen Steuern nur, wenn zweifelsfrei Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 751

Dr. Alfred Dregger nachgewiesen ist, daß es dazu keine Alternative gibt, tschechoslowakische Staatspräsident Vaclav Havel meine Damen und Herren. hat vor kurzem das Sekreta riat der KSZE in Prag eröff- net. (Beifall bei der CDU/CSU) Im übrigen: Wie hätten wir damals das Volumen für Wesentlich für eine dauerhafte europäische Frie- eine Steuererhöhung bemessen sollen? Weder die densordnung sind zwei in sämtlichen KSZE-Do- Aufwendungen für den späteren Golf-Krieg noch die kumenten verbriefte Grundsätze: unveräußerliche Lasten, die durch den Zusammenbruch des RGW- Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht Systems für die Exportwirtschaft in den neuen Bun- der Völker und Staaten. Erst die Verwirklichung die- desländern entstehen, waren 1990 abschätzbar. ser beiden Prinzipien macht freie Gesellschaften in freien Staaten möglich, die innerlich befriedet sind. (Zuruf von der SPD: Von Ihnen nicht ab- Entscheidend ist die Verwirklichung dieser Grund- schätzbar!) sätze, nicht das Papier, auf dem sie stehen. Sie müssen Für die Wirtschaftsentwicklung und die Wahrung der immer neu durchgesetzt werden. In den letzten bei- Haushaltsdisziplin wäre ein solcher steuerlicher Vor- den Jahren haben diese Grundsätze den f riedlichen griff ausgesprochen schädlich gewesen. Auch die Wandel in Ost- und Ostmitteleuropa ermöglicht. Da- Auseinandersetzungen mit Herrn Lafontaine und der für danken wir unseren Verbündeten, insbesondere SPD wären durch eine vorweggenommene Steuer- den Vereinigten Staaten von Amerika. Dafür danken erhöhung oder ihre Ankündigung nicht versachlicht wir auch der Sowjetunion und den Reformkräften in worden. Lafontaine ging es ja gar nicht um einen Osteuropa. Steuerkonsens. Ihm ging es darum, mit Kostenargu- Nun steht diese Politik im Baltikum zur Bewährung menten gegen die Vereinigung Deutschlands Stim- — und nicht nur dort. In dieser außergewöhnlichen mung zu machen. Lage, in der über die Zukunft des europäischen Re- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — formprozesses entschieden wird, wende ich mich an Bohl [CDU/CSU]: Bravo!) die sowjetische Führung und an die Führungen der Er wollte die Deutschen von der Wiedervereinigung baltischen Republiken mit der Bitte, gemeinsam dafür abschrecken, die ihm ganz und gar zuwider war. Sorge zu tragen, daß die Früchte der im letzten Jahr feierlich verkündeten Charta von Paris nicht im Balti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kum durch Relikte des unseligen Hitler-Stalin-Paktes Abschließend: Es besteht kein Anlaß, die Inkompe- verdorben werden. tenz Lafontaines und der SPD in der Deutschland- (Beifall bei der CDU/CSU) politik jetzt in eine Sachkompetenz für die Steuerpo- litik umzufälschen. Das heißt — ich bitte genau auf die Wortwahl zu ach- (Beifall bei der CDU/CSU) ten — : Das Selbstbestimmungsrecht der baltischen Völker muß gewahrt, und das Interesse der Sowjet- Meine Damen und Herren, wer Steuererhöhungen union an einer kooperativen Lösung muß berücksich- auf Verdacht will — nur darum konnte es 1990 tigt werden. gehen —, der ist in der Steuerpolitik nicht kompetent, sondern inkompetent. Es wäre schädlich für die (Beifall bei der CDU/CSU) wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere der neuen Bundesländer, Welche Seite auch immer einen vernünftigen Kom- solchen Leuten das finanzpolitische Steuerrad zu promiß ablehnt: Sie läuft Gefahr, dadurch das Ganze, überlassen. Das werden wir verhindern. das für beide Seiten notwendig und nützlich ist, zum Scheitern zu bringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Lassen Sie mich noch einen weiteren Gedanken Wir, die CDU/CSU, wollten die deutsche Einheit. hinzufügen. Auf der Grundlage der Menschenrechte Wir wollten sie immer. Wir sind glücklich, sie durch- und des Selbstbestimmungsrechts der Völker und gesetzt zu haben, auch wenn das zu Finanzschwierig- Staaten wird, so hoffen wir, eine Friedensordnung für keiten führt. Wir hätten die deutsche Einheit auch Europa entstehen, an der beide Weltmächte beteiligt dann gewollt, wenn sich diese Schwierigkeiten als sind, die Sowjetunion im Osten und die Vereinigten größer herausgestellt hätten, als sie es sind. Denn die Staaten im Westen und die politische Union Europas Wiedervereinigung Deutschlands als entscheidender von Polen bis Portugal in der Mitte. Ein so vereinigtes Schritt zur Vereinigung Europas und die Veränderun- Europa, das alle Völker und Staaten umfaßt, die nach gen in der Sowjetunion, die mit diesen beiden Ein- ihrem kulturellen und historischen Selbstverständnis heitsprozessen zusammenhängen, sind der größte zum Abendland gehören, könnte und sollte zur frie- Beitrag, den wir Deutschen Europa und den Europa denserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten dem Frieden der Welt leisten konnte. werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Bundeskanzler, wir fordern Sie und Ihre Regie- Eine gesamteuropäische Friedensordnung, um die es rung auf, Ihre so außerordentlich erfolgreiche Ein- letztlich geht, kann nicht ohne die beiden Weltmächte heits- und Freiheitspolitik für Deutschland und Eu- geschaffen werden. Im KSZE-Prozeß, an dem die So- ropa fortzusetzen. wjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika beteiligt sind, haben wir schon wesentliche Bausteine (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Struck für eine gesamteuropäische Friedensordnung zusam- [SPD]: Ach du lieber Himmel! Das ist ja ganz mengefügt. Ich will den letzten Baustein nennen. Der überraschend!) 752 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Alfred Dregger Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, werden Sie Die Bundesregierung hat sich an diesem Krieg mit dabei auch in Zukunft unterstützen, verläßlich und 17 Milliarden DM beteiligt. Das ist eine ungeheure wirksam. Summe, und niemand hat auch nur geahnt, daß dies (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und innerhalb weniger Wochen von der Bundesregierung Beifall bei der FDP) einfach so zur Verfügung gestellt werden kann. Ich frage mich, weshalb so viele Bürgerinnen und Bürger diesen Krieg, den sie nicht wollten, mitfinanzieren Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der müssen. Sollen doch jene ihn bezahlen, die für ihn Abgeordnete Dr. Gysi. eingetreten sind, vor allem aber die Unternehmen, die an Rüstung und insbesondere an Rüstungsexporten, auch in den Irak, enormes Geld verdient haben. Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) tin! Meine Damen und Herren! Wenn man sich mit den Grundzügen der Regierungspolitik auseinander- Die veränderte Situation in der Welt, insbesondere setzt, müssen die neuen Möglichkeiten, die sich durch in Europa, hätte meines Erachtens auch ein neues die Veränderungen im internationalen Kräftever- Denken in bezug auf NATO und Rüstung verlangt. hältnis, durch die Reformen im Osten Europas erga- Über Jahre und Jahrzehnte wurde die Existenz der ben, als Maßstab dienen. Es gibt keinen Warschauer NATO und die Notwendigkeit einer steigenden Rü- Vertrag mehr, und auch der RGW ist aufgelöst. Damit stung in der Bundesrepublik Deutschland mit der Be- sind insbesondere in Europa Veränderungen einge- drohung aus dem Osten, insbesondere aus den Staa- treten, die zweifellos die gravierendsten seit 1945 ten des Warschauer Vertrages, begründet. Dieser sind. Aus dieser neuen Gesamtlage ergab sich auch Staatenverbund existiert aber als Verbund nicht die Chance der Vereinigung der beiden deutschen mehr. Die Nationale Volksarmee ist aufgelöst. Soweit Staaten. sie noch besteht, ist sie Bestandteil der Bundeswehr geworden. Niemand kann mehr behaupten, daß von Nun ist einfach zu fragen, ob in der Politik der Bun- den Militärpotentialen Polens, der CSFR, Rumäniens, desregierung dieser neuen Gesamtlage ausreichend Ungarns oder Bulgariens irgendeine Bedrohung der Rechnung getragen worden ist bzw. getragen wird NATO-Staaten oder gar der Bundesrepublik aus- oder ob sich hier altes Denken fortsetzt. In diesem geht. Zusammenhang ist es nicht nur gerechtfertigt, son- dern auch legitim, sich über die gewachsene Verant- Mit der Sowjetunion wurden Verträge ausgehan- wortung der Bundesrepublik Deutschland Gedanken delt, die ein friedliches Zusammenleben garantieren. zu machen. Dennoch gibt es auch in dieser Hinsicht keinen einzi- Für gefährlich halte ich es aber, über eine Groß- gen neuen Gedanken der Bundesregierung. Im Ge- machtrolle nachzudenken, weil ich glaube, daß es die genteil: Immer wieder wird betont, wie notwendig die notwendige Demokratisierung der internationalen NATO ist und bleibt. Der Rüstungshaushalt, der mit Beziehungen erfordert, sich von der Vorstellung zu den vorliegenden Haushaltsgesetzen beschlossen trennen, daß eine Macht oder einige Mächte letztlich werden soll, unterscheidet sich nicht vom Rüstungs- darüber entscheiden, wie sich die anderen Völker und haushalt der vergangenen Jahre. Staaten der Erde zu verhalten haben. Die tatsächlich eingetretenen Veränderungen ver- Wir sind für eine Demokratisierung der internatio- langen aber, daß auch durch die Bundesregierung an nalen Beziehungen und damit auch für eine Demo- diese Fragen völlig neu herangegangen wird. Kriege kratisierung der UNO. Wir sind daher gegen ein wei- dürfen künftig nicht mehr mitfinanziert werden. Die teres Vetorecht — z. B. der Bundesrepublik Deutsch- NATO ist aufzulösen und durch die Schaffung ge- land oder auch Europas — , sondern eher für die Ab- samteuropäischer Sicherheitsstrukturen unter Ein- schaffung vorhandener Vetorechte, um die Beziehun- beziehung der Sowjetunion abzulösen. gen zwischen den Staaten gleichberechtigter zu ge- stalten. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Wir sehen auch nicht ein, daß die gewachsene Ver- Der Rüstungshaushalt kann drastisch reduziert, und antwortung der Bundesrepublik Deutschland damit als Schritt der Abrüstung kann die Wehrpflicht abge- beantwortet werden soll, daß Grundgesetzänderun- schafft werden. gen angestrebt werden, die militärische Einsätze au- (Zustimmung bei der PDS/Linke Liste) ßerhalb des NATO-Bereiches und damit in die Welt hinaus möglich machen. Mit den freiwerdenden Mitteln könnte viel zur Lösung (Beifall bei der PDS/Linke Liste) sozialer und ökologischer Probleme getan werden. Abrüstung selbst ist schon eine ökologische Maß- Das veränderte Kräfteverhältnis in der Welt hat zu- nahme. nächst nicht zu mehr Frieden, sondern zu mehr Krieg geführt, wie der Golfkrieg deutlich zeigte. Diejeni- Neues Denken wäre meines Erachtens auch in be- gen, die vor diesem Krieg wegen seiner ungeheuren zug auf Europa erforderlich. Wer zu Europa ja sagt, Opfer in der Zivilbevölkerung, wegen der Gefähr- muß das ganze Europa und nicht nur das halbe mei- dung Israels und wegen der ökonomischen und öko- nen. Er darf die Mitgliedschaft europäischer Länder in logischen Folgen warnten, behielten diesbezüglich der EG nicht ablehnen und muß sich gleichzeitig ge- leider recht. Fest steht auch, daß kein einziges bishe- gen jeden Eurozentrismus wenden, weil sich anson- riges Problem im Raum des Nahen Ostens durch die- sten die Probleme mit der sogenannten Dritten Welt sen Krieg gelöst wurde. immer weiter verschärfen werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 753

Dr. Gregor Gysi Auch in dieser Beziehung gibt es in der Politik der wird, und zwar auch solche Menschen, die keine Ver- Bundesregierung keine neuen Denkansätze. Nach brechen begingen und große Bereitschaft zeigen, sich wie vor wird der Tatsache nicht Rechnung getragen, demokratisch einzuordnen. Diese Ausgrenzung führt daß der Abstand zwischen den führenden Industrie- zu völlig unnötigen politischen Spannungen. Gerade staaten und den sogenannten Entwicklungsländern von der Bundesregierung wäre hier eine völlig andere permanent wächst und eine Katastrophe für die ge- Politik zu erwarten gewesen, nachdem in diesem Teil samte Zivilisation heraufbeschworen wird. Es gibt Deutschlands nach 1945 eine vielleicht in jeder Hin- keine nennenswerten Initiativen der Bundesregie- sicht übertriebene Integrationspolitik betrieben rung, wenigstens für eine Entschuldung der Länder wurde. Die Praxis der Berufsverbote, der Ruf der der sogenannten Dritten Welt aktiv einzutreten. Es Bayerischen Staatsregierung nach dem Verfassungs- geht dabei um Schulden, die durch diese Völker be- schutz in bezug auf die PDS, die Abwicklung fast aller reits mehrfach zurückgezahlt worden sind. marxistischen Wissenschaftler zeugt nicht nur von ei- Das Ausbeutungsverhältnis spitzt sich immer weiter nem hohen Maß an Intoleranz, sondern ist auch poli- zu. Ob es uns nun recht ist oder nicht: Wir alle leben tisch unklug und letztlich ideologisch bestimmt. auch auf Kosten dieser sogenannten Dritten Welt. Ebenso, wie es absolut falsch war, außerhalb der theo- Wenn hier nicht bald eine grundsätzliche Korrektur logischen Fakultäten der Universitäten in der DDR im Denken und im Handeln der führenden Industrie- nur die marxistische Philosophie zuzulassen, ist es staaten einsetzt, so bedeutet das nicht nur, die Ver- jetzt falsch und intolerant, die marxistische Philoso- elendung der Menschen dieser Region einfach hinzu- phie an allen Universtäten und Hochschulen abzu- nehmen, sondern es wird auch zur Folge haben, daß wickeln. Das Gegenteil von einem Fehler ist eben spätestens unsere Kinder und Enkelkinder vor unlös- zumeist auch ein Fehler. baren ökologischen, ökonomischen und sozialen Pro- Noch schlimmer ist aber, daß die Praxis der demo- blemen stehen werden. kratischen Struktur nach dem Herbst 1989 in der DDR Die Unfähigkeit oder der mangelnde Wille, den ver- nicht studiert und genutzt, sondern bewußt abgelehnt änderten Bedingungen in der Welt und in Europa wird. Es lohnt sich aber, über bürgernahe Einrichtun- Rechnung zu tragen, wurde im vergangenen Jahr gen wie Runde Tische und ähnliches nachzuden- auch bei der Politik der Vereinigung der beiden deut- ken. schen Staaten deutlich. Dabei geht es mir nicht um das Ob, sondern um das Wie. Was die Rechtsstaatlichkeit angeht, will ich mich - nur mit einer Einschränkung befassen. Das gesamte Erstens bestand meines Erachtens die Aufgabe, in Rechtssystem in der Bundesrepublik Deutschland ist den neuen Bundesländern ein Höchstmaß an politi- so unüberschaubar und so unverständlich, daß eine scher Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu garantieren. Heerschar von Spezialisten erforderlich ist, um die Niemand wird leugnen, daß es seit dem Herbst 1989 Anwendung dieses Rechts zu ermöglichen. bis zum heutigen Tag auf diesem Gebiet erhebliche Fortschritte im Vergleich zu früherer Zeit gibt. Das gilt (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Arbeitsbeschaf insbesondere für solche Rechtsinstitute wie die Mei- fungsprogramm!) nungsfreiheit, die Redefreiheit, die Versammlungs- Obwohl ich selber Rechtsanwalt bin, kann ich nicht freiheit oder z. B. das Demonstrationsrecht. Ich bin einsehen, daß es die Aufgabe des Gesetzgebers in durchaus in der Lage, es zu schätzen, daß mir hier im erster Linie wäre, das Recht so undurchschaubar wie Bundestag Oppositionsreden möglich sind, an die in nur möglich zu gestalten, damit Steuerberater und der vor dem Herbst 1989 nicht einmal Rechtsanwälte ausreichend beschäftigt sind. Die zu denken gewesen wäre. Kompliziertheit eines Rechtssystems verhindert im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der übrigen auch die Inanspruchnahme von Rechten, weil FDP und der SPD) die Rechte nur ungenügend Bekanntwerden. Des- Auch durch die Abschaffung großer Teile des poli- halb, meine ich, wäre es ein großes Werk, hier im tischen Strafrechts hat sich die Rechtsstaatlichkeit be- Sinne der Vereinfachung tätig zu werden. achtlich erhöht. Das gilt auch für die fast vollständige Noch kritischer sind die Zustände in Wirtschaft, Öffnung des Gerichtsweges im Verwaltungsrecht und Ökologie und im Sozialbereich zu beurteilen. Tatsa- auf anderen Gebieten. che ist selbstverständlich, daß es durch den Braunkoh- (Dr. Mahlo [CDU/CSU]: Was heißt „fast"?) letagebau, durch die Chemieindustrie in Bitterfeld und in anderen Bereichen zu erheblichen ökologi- — Weil es natürlich Ausnahmen gibt — wie in jedem schen Schäden in der früheren DDR gekommen ist. Recht. Aber es ist eben auch undifferenziert, wenn nicht (Dr. Mahlo [CDU/CSU]: Es gibt keine Aus- gleichzeitig darauf hingewiesen wird, daß es in der nahmen!) DDR ein für Europa vorbildliches System der Sekun- därrohstofferfassung gab, ein System, das auch große — Doch, das kann ich Ihnen beweisen. Vorteile gegenüber vergleichbaren Versuchen in der (Gansel [SPD]: Was heißt „Rechtsstaatlich- Bundesrepublik hatte. Nun frage ich Sie: Warum keit erhöht" ! ) konnte dieses System nicht erhalten und für Gesamt- deutschland eingeführt werden? Warum mußte es zer- Das gilt auch für andere Bereiche, die ich jetzt hier im stört werden? — Nur weil man nicht zugeben wollte, einzelnen nicht zu benennen brauche. daß es auch auf diesem Gebiet zumindest einen Aber dem steht die Tatsache gegenüber, daß eine Posten gab, der fortschrittlicher geregelt und organi- Vielzahl von Menschen jetzt politisch ausgegrenzt siert war als in den alten Bundesländern! 754 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Gregor Gysi Nicht gerechtfertigt ist es, in diesem Zusammen- liche Ministerien und Einrichtungen der DDR offen. hang zu verschweigen, daß es natürlich auch beacht- Überallhin entsandten Sie Ihre Beamten. Spätestens liche ökologische Probleme in den alten Bundeslän- seit dieser Zeit hatten Sie deshalb auch exakte Kennt- dern gibt. nisse. Was nun die Wirtschaft bet rifft, folgendes: Tatsache Ferner begründen Sie den angeblichen Irrtum da- ist, daß die marktwirtschaftlichen Strukturen in allen mit, daß niemand damit rechnen konnte, daß die Au- führenden westlichen Industriestaaten zu einer höhe- ßenhandelsbeziehungen im Rahmen des RGW zu- ren Effektivität und Produktivität im Vergleich zu al- sammenbrechen. Das ist nun eine glatte Lüge; denn len Staatswirtschaften der früheren sogenannten so- mit der Abschaffung des transferablen Rubels haben zialistischen Länder geführt haben. Es bringt aber Sie selber die Voraussetzung dafür geschaffen, daß überhaupt nichts ein, permanent von 40jähriger sozia- dieser Außenhandel zusammenbrechen mußte. Sie listischer Mißwirtschaft zu sprechen und damit wieder wußten aber, daß über 70 % des Außenhandels der die Pauschalierung an die Stelle einer differenzierten DDR mit den Staaten des RGW betrieben wurde. Wäre Wahrheit zu setzen. Sie wissen, daß es durchaus öko- es nicht sinnvoll gewesen, diesen Außenhandel zu nomische Bereiche gab, in denen Produkte hergestellt stützen, z. B. an eine Swing-Vereinbarung oder ähnli- wurden, die auf dem Weltmarkt Bestand hatten. Als ches zu denken? Beispiel sei nur der Werkzeugmaschinenbau ge- nannt. (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Wer zahlt das denn?) Aber anstatt hier zunächst eine differenzierende Analyse vorzunehmen, um darauf mit gezielten, diffe- Damit hätten Sie den Staaten Osteuropas und den renzierten Maßnahmen zu reagieren, wird angestrebt Betrieben in der DDR geholfen. Viele Beschäftigte in oder doch zumindest in Kauf genommen, den gesam- der früheren DDR hätten noch ihre Arbeit oder wür- ten Industriestandort in der früheren DDR zu vernich- den sie nicht in den nächsten Monaten verlieren. Da- ten. Diese Vernichtung schließt aber auf Jahre und mit wiederum hätte der Bundeshaushalt große Ausga- Jahrzehnte einen wirklichen wirtschaftlichen Auf- ben für Kurzarbeitergeld und Arbeitslosenunterstüt- schwung aus. Ohne einen Industriestandort kann sich zung eingespart. Vorbeugen ist eben besser als heilen auch der Mittelstand nicht entwickeln und bleiben und wesentlich billiger. oder werden die Kommunen lebensunfähig, weil sie (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Darüber kannst eben nicht über die entsprechenden Steuereinnah- du lange streiten!) men verfügen. — Ja, dazu bin ich gerne bereit. Das alles ist bekannt. Dennoch fehlten bei der Ein- führung der Währungsunion fast alle notwendigen Letztlich führt die Bundesregierung noch an, daß sie wirtschaftspolitischen Begleitmaßnahmen. Wer Un- mit dem Ausbruch des Golfkrieges nicht rechnen gleiches gleich behandelt, sorgt nicht nur dafür, daß konnte. Auch das ist eine glatte Lüge; denn seit dem es ungleich bleibt, sondern er vertieft die Ungleich- Herbst 1990 ist das Ultimatum an den Irak bekannt, heit. — Das ist übrigens eine Erkenntnis von Marx, die das so formuliert worden war, daß von Anfang an auch nach wie vor Gültigkeit hat. an einen militärischen Eingriff gedacht wurde — es sei denn, Sie wollen uns heute plötzlich erklären, daß Sie Nun erklärt die Bundesregierung, daß sie sich geirrt an das Gute in Saddam Hussein geglaubt haben. Das habe, daß sie von falschen Voraussetzungen in bezug allerdings wäre wohl schwer nachzuvollziehen. auf die Wirtschaft der ehemaligen DDR ausgegangen ist und auch bestimmte internationale Entwicklungen Wenn also von einem Irrtum nicht die Rede sein nicht voraussehen konnte. Kurzum: Der Irrtum wird kann, dann muß die Bundesregierung von Anfang an sogleich entschuldigt. gewußt haben, daß es zu Steuererhöhungen kommen wird. Wenn sie das aber gewußt hat, dann waren die Aber der Irrtum — wenn es denn einer war — ist Wahlversprechungen der Regierungsparteien eine voll verschuldet. Zunächst einmal kann die Bundesre- Täuschung. gierung nicht ernsthaft behaupten, daß sie keine Kenntnis von der Struktur der Wirtschaft in der DDR Hinsichtlich der Menschen aus den neuen Bundes- hatte. Seit Jahren gab es immer enger werdende wirt- ländern ist dies besonders übel, weil ein Motiv der schaftliche Verflechtungen zwischen der Bundesre- Herbstrevolution von 1989 für eine Vielzahl der Akti- publik und der DDR. Es gab nicht nur den Warenaus- visten darin bestand, endlich Ehrlichkeit in die Politik tausch, sondern auch Swing-Vereinbarungen und einziehen zu lassen. Niemand hat deshalb das Recht, Kredite, zum Teil in Milliardenhöhe. Betriebsdirekto- gerade diesen Bürgern etwas vorzumachen. ren und Wirtschaftspolitiker — insbesondere Herr Herr Waigel, Sie waren es, der am 23. Mai 1990 im Dr. Günther Mittag — aus der DDR waren ständige Bundestag sagte, daß mit der Errichtung der Wirt- Gäste in Betrieben, auch bei der Bundesregierung schafts- und Währungsunion außerordentlich gün- und bei Landesregierungen. Umgekehrt erfolgten stige Startchancen für Investoren aus der DDR, aus der auch zahlreiche Besuche in der DDR. Bundesrepublik und aus der ganzen Welt geschaffen Sie diskreditieren Ihre gesamte diesbezügliche bis- werden. herige Wirtschaftspolitik, wenn Sie heute so tun, als Sie, Herr Bundeskanzler, waren es, der laut „Wirt- ob sie jeweils auf vollständiger Unkenntnis der wirt- schaftswoche" vom 1. März 1991 im Mai 1990 er- schaftlichen Verhältnisse der DDR beruhte. klärte, daß die Wirtschafts- und Währungsunion von Insbesondere aber, seitdem Lothar de Maizière Mi- niemandem hierzulande Sonderopfer verlangt. Sie nisterpräsident der DDR wurde, standen Ihnen sämt- waren es auch, der am 21. Juni im Bundestag sagte: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 755

Dr. Gregor Gysi Niemandem wird es schlechtergehen als zuvor, dafür nieren sollen, wenn Sie die 650 000 Beschäftigten des vielen besser. öffentlichen Dienstes in eine Warteschleife versetzen und niemand von den Beschäftigten weiß, ob er nach Herr Waigel, geradezu kabarettistisch klingt Ihr dem 30. Juni 1991 noch im Beschäftigungsverhältnis Satz im Bundestag vom 21. Mai 1990, daß der Vertrag steht. Es ist doch völlig klar, daß dies die eigene Qua- über die Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und lifizierung, das Schöpfertum und den Fleiß in der Ar- Sozialunion in der DDR die Freiheit der Arbeitsplatz- beit nicht befördert, sondern die Betroffenen völlig wahl bringe. Die Menschen in den neuen Bundeslän- entmotiviert. dern wären schon glücklich, wenn sie ihren Arbeits- platz behalten könnten. Wer glaubt, Verwaltungsprobleme in den neuen Ist es nicht zutreffend, daß Sie vor der Einführung Bundesländern durch Zwangsversetzung von Beam- der Währungsunion erklärt haben, daß diese unbe- ten aus den alten Bundesländern lösen zu können, dingt so überstürzt erforderlich sei, weil ansonsten die bereitet den nächsten großen Irrtum vor. Auch diese Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften in sind nämlich nicht motiviert. Sie kennen die Probleme den Westen nicht zu verhindern sei? Ist es nicht ande- in den neuen Bundesländern nicht. Selbstverständlich rerseits zutreffend, daß diese Abwanderungszahlen sollen Spezialisten aus dem Westen im Osten helfen. heute schon weit höher liegen? Aber die grundlegenden Probleme können auf diese Art und Weise nicht gelöst werden. Zu Recht wurde an der Wirtschaftspolitik der DDR der überdimensionale Zentralismus kritisiert. Er Im sozialen Bereich ist festzustellen — ob Sie das machte die Wirtschaft zu einem großen Teil unflexi- nun wahrhaben wollen oder nicht —, daß es vielen bel. Die Treuhandanstalt ist aber wohl das zentrali- Menschen in den neuen Bundesländern heute stischste Instrument, das es je gab. In der Hand einer schlechtergeht als früher. Niemand versteht, weshalb Behörde wird praktisch alles entschieden, was für die er gewonnene Freiheiten mit einer sozialen Schlech- Wirtschaft in den neuen Bundesländern maßgeblich terstellung bezahlen soll. Menschenrechte sind uni- ist. Nach wie vor verschließt sich aber die Bundesre- versell. Sie haben nicht nur eine politische, sondern gierung der Forderung, die Treuhandanstalt wesent- eben auch eine soziale Seite. lich zu dezentralisieren. Wenn das ein Fehler war Die Renten in der DDR waren für einen Großteil der —ich habe in der Volkskammer übrigens gegen das Rentner immer extrem niedrig. Aber durch die Stüt- Gesetz gestimmt — , dann bedürfte es eben dringend zung der Mieten, der Energiepreise, der Preise für der Korrektur. Grundnahrungsmittel, der Preise im öffentlichen Ver- Von vielen Betrieben wurden Konzepte für die Sa- kehr und in anderen Bereichen gab es keine Existenz- nierung bei der Treuhandanstalt eingereicht. Die mei- angst. Inzwischen sind die Renten in der DDR nicht sten Konzepte wurden jedoch abgelehnt. Sozialpläne viel höher; aber die Abzüge und die gestiegenen werden unter der Bedingung genehmigt, daß sie aus Preise verschlechtern die Situation vieler Rentner er- —nicht vorhandenen — Gewinnen der Betriebe be- heblich. stritten werden. Seit der Existenz dieser Treuhandan- Dann gibt es immer wieder irgendwelche Verspre- stalt gibt es lediglich einen einzigen Bet rieb, der ent- chungen über Erhöhungen. Aber die Bundesregie- schuldet wurde. rung klärt nicht gleichzeitig darüber auf, welche An- Der Präsident der Treuhandanstalt hat darauf hin- rechnungen und Abzüge damit verbunden sind, was gewiesen, daß sein Auftrag bet riebswirtschaftlicher dabei also real mehr für die Betroffenen herauskommt und nicht volkswirtschaftlicher Natur ist. Schon darin — zumeist nichts oder nur sehr wenig. Stimmen Sie liegt ein klarer Konstruktionsfehler. Es ist nicht mög- wenigstens unserem Entschließungsantrag auf Miet- lich, an Hand des einzelnen Bet riebes zu überprüfen, preisstopp für die neuen Bundesländer — vorerst bis ob er saniert werden soll, und alle anderen Faktoren zum 31. Dezember 1991 — zu, um hier einen weiteren außer Betracht zu lassen. Das bedeutet nämlich, jegli- Sozialabbau zu verhindern. che Überlegung auszuschließen, welche Bedeutung Erschütternd ist, mit welcher Selbstverständlichkeit die Schließung eines Betriebes für die Infrastruktur über die Notwendigkeit von Arbeitslosigkeit und einer Region und vieles andere mehr haben kann. Kurzarbeit gesprochen wird. Arbeitslosigkeit und Wenn es schon ein großer Fehler ist, mit der Treu- Kurzarbeit führen aber nicht nur zu einer Verschlech- handanstalt den Zentralismus zu festigen, so besteht terung der materiellen Lebenslage, sondern zusätz- ein weiterer Fehler da rin, daß sie so undemokratisch lich zu einer enormen psychischen Belastung der Be- strukturiert ist. Im Verwaltungsrat der Treuhandan- troffenen. Niemand in der DDR hatte gelernt, mit Ar- stalt sind die Kommunen und Länder und die Gewerk- beitslosigkeit zu leben. schaften völlig unzureichend vertreten. Wir haben ei- Hinzu kommt die Unsicherheit. Niemand sagt den nen Änderungsantrag eingebracht — er wird Ihnen Besitzern von Grundstücken und Eigenheimen, wie es zugestellt — , der die Vertretung dieser Einrichtungen um ihr Eigentums- oder Nutzungsrecht in Zukunft und übrigens auch der Unternehmerverbände sichert. bestellt sein wird. Die ganze Sorge der Bundesregie- Wir sind also auf diesem Auge nicht blind. Ich hoffe, rung gilt diesbezüglich irgendwelchen Großgrundbe- daß der Antrag Ihre Zustimmung finden wird. Es ist sitzern, die ihre Ländereien in der früheren DDR zu- erforderlich, hier so schnell wie möglich Änderungen rückfordern. Wenn man früheres Unrecht beseitigen zu beschließen. will, dann frage ich, weshalb man diesbezüglich erst Zu Recht wird im übrigen darauf hingewiesen, daß im Jahre 1945 oder 1949 beginnen will. Man könnte die Verwaltungen in den neuen Bundesländern nicht sich ja einmal darüber unterhalten, wieviel Eigentum funktionieren. Ich frage Sie aber, wie diese funktio- in der Bundesrepublik besteht, das z. B. über die soge- 756 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Gregor Gysi nannte Arisierung von Unternehmen und Geschäften psychologische Befindlichkeit man auch beachten erworben wurde. muß. Hören Sie auf, sie so zu behandeln, als kämen sie gerade aus dem Urwald. Anerkennen Sie, daß auch Kurzum: Wenn wir in die Geschichte hinsichtlich sie nicht wenig in den vergangenen mehr als 40 Jah- des Erwerbs von Eigentum zurückgehen wollten und ren geleistet haben. hier Gerechtigkeit herstellen wollten, dann gäbe es auch in den alten Bundesländern eine Menge zu tun. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Sie finden es eben normal, und ich halte es für den Gipfel, daß die IG Farben in Liquidation ihre Ansprü- che in der früheren DDR geltend macht. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- Um auch hier Mißverständnissen vorzubeugen: Es ordnete Dr. Graf Lambsdorff. gibt natürlich Fälle, in denen solche Ansprüche be- (Poß [SPD]: Aha!) rechtigt sind. Aber es ist eine Differenzierung erfor- derlich. Man muß den Tatsachen und den Verhältnis- sen Rechnung tragen, die in der früheren DDR ent- standen sind, oder wir müssen wirklich zurück bis Dr. Otto Graf Lambsdorff (FDP): Herr Präsident! zum Mittelalter, d. h. bis zu der Zeit, als Thurn und Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 4. März Taxis noch Posträuber waren. hat das sowjetische Parlament den Zwei-plus-Vier- Vertrag ratifiziert. Die Sowjetunion, allen voran ihr All die Probleme, die in den neuen Bundesländern Präsident Michail Gorbatschow, hat Wort gehalten. entstanden sind und weiterhin entstehen, sind zu ei- Wir bedanken uns dafür. nem nicht unbeachtlichen Teil der verfehlten Politik der Bundesregierung zuzuschreiben. Ich sehe einen (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Mißbrauch dieser Probleme auch da rin, damit von al- und beim Bündnis 90/GRÜNE) len Problemen, die in den alten Bundesländern beste- Ich war an diesem Tage in Riga. Es war der Tag der hen, abzulenken. Deshalb verstehe ich auch, daß die Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses für die Menschen hier unzufrieden werden, weil niemand Unabhängigkeit Lettlands. Beide Ereignisse machen mehr darüber spricht, daß es auch hier Wohnungsnot, wohl deutlich, welche Probleme gelöst sind und wie Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger gibt. viele es noch zu lösen gilt. (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) Für eine Weile hatte der Golfkrieg alles andere in Zu den Steuererhöhungen wurde gestern ausführ- den Hintergrund gedrängt. Dieser Krieg ist von den lich gesprochen und wird auch heute noch gespro- Alliierten gewonnen worden. chen werden. Gestatten Sie mir nur den Hinweis, daß Wird auch der Frieden gewonnen werden? wir Steuererhöhungen nicht zustimmen können, die Deutschland wird dabei gebraucht werden, nicht nur einerseits die Sozialschwachen erheblich belasten für den wirtschaftlichen Wiederaufbau. Welche Rolle und die andererseits Reiche befördern. sollen wir dabei spielen? Wie definieren wir unsere Wir schlagen vor, eine Ergänzungsabgabe, die im aus der Einheit gewachsene größere internationale Grundgesetz vorgesehen ist, für Alleinstehende, die Verantwortung? Was erwartet die Welt von uns, und mehr als 60 000 DM im Jahr verdienen und für Ehe- was gesteht sie uns zu? paare, die mehr als 120 000 DM im Jahr verdienen, Herr Vogel hat die Verfassungsdiskussion ange- einzuführen. Wir schlagen statt der Abschaffung der sprochen. Sollen alle Verfassungsänderungen in ei- Vermögensteuer eine zusätzliche Belastung für sol- nem Paket — diese auch — zusammengefaßt wer- che Bürgerinnen und Bürger vor, die steuerpflichtiges den? Vermögen von 500 000 DM und mehr besitzen. Ich fürchte, Herr Vogel, wir werden bei unseren Lassen Sie mich zum Schluß darum bitten, Wirt- Freunden im Westen einige Schwierigkeiten bekom- schaftspolitik und nicht nur Finanzpolitik zu machen; men, wenn wir unsere sehr einzelnen, nationalen Fra- aktive Wirtschaftspoli tik, d. h. Struktur- und Beschäf- gen in diesen internationalen Zusammenhang ein- tigungsprogramme. bauen und damit Lösungen blockieren bzw. zeitlich verzögern. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: in Greifswald muß das Kernkraftwerk geschlossen werden. Es muß (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — ein neues Kraftwerk, kein Kernkraftwerk — das ist Dr. Vogel [SPD]: 40 Jahre lang haben Sie es viel zu unsicher — , errichtet werden. Aber das soll gemacht!) nun in einer anderen Region gebaut werden, was — Ja, 40 Jahre lang haben Sie dies anders gesehen. diese Region zerstört. Das zweite ist: Der Auftrag soll Aber die Situation hat sich eben im Vergleich zu den an eine Westfirma und nicht an Bergmann/Borsig ge- letzten 40 Jahren verändert, Herr Vogel. hen, die einzige Firma in der früheren DDR, die Kraft- werke erbauen kann. (Dr. Vogel [SPD]: Ist schon wieder etwas im Busch? — Zuruf des Abg. Gansel [SPD]) Würde der Auftrag an Bergmann/Borsig gehen, Das hat nichts mit Krieg zu tun, Herr Gansel. dann wäre wirklich vieles gerettet. Die Menschen in — den neuen Bundesländern sind eben nicht nur eine Niemand hängt hier neuen Großmachtträumen rechnerische Größe. Sie sind nicht nur Wählerinnen nach, wie das gelegentlich behauptet wird. Verwun- und Wähler, denen man etwas versprechen kann, das dert haben wir doch wohl alle gelesen, daß uns die- man dann nicht zu halten braucht. Es sind in erster selben, die uns im Sommer 1990 vor solchem Irrweg Linie Menschen mit Verstand, Herz und Seele, deren und solchen Träumen warnten, im Januar 1991 zum Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 757

Dr. Otto Graf Lambsdorff aktiven militärischen Eingreifen am Golf aufforder- Wie soll eine zielgerichtete Zusammenarbeit ohne ten. grundlegende Reformen aussehen? Die Frage ist schnell gestellt, aber Vorsicht vor der schnellen, vor (Beifall bei der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Das der zu schnellen Antwort: Kein Geld ohne Reformen ist wohl wahr!) — das ist ja wohl richtig. Aber Reformen ohne Aber gewiß, meine Damen und Herren, waren das Geld? nicht die Regierungen unserer westlichen Verbünde- Uns ist klar, daß ein Auseinanderfallen der wirt- ten. Wir würden uns aber täuschen, glaubten wir, daß schaftlich gebeutelten Sowjetunion ein Problem für gute Beziehungen zwischen Regierungen allein aus- ganz Europa, auch darüber hinaus, bedeuten würde. reichten. Es bedarf des Vertrauens der Völker, der Herr Vogel hat die Zuwanderung angesprochen. Die- Menschen, der Parlamente, auch der Medien zuein- sen Weg der Proliferation, statt einer Nuklearmacht ander. Erst das bildet das Fundament von Freund- plötzlich acht haben zu wollen, wird wohl auch nie- schaft zwischen demokratisch regierten Ländern. mand ernsthaft in Erwägung ziehen mögen. Wir können das übrigens am Verhältnis zu unserem (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das widersp richt Nachbarn Frankreich ablesen. Ohne jede Abwertung, auch dem Atomsperrvertrag!) Herr Bundeskanzler: Ich halte das deutschfranzösi- Wir können das alles nicht wollen. sche Jugendwerk für ebenso wichtig wie die regelmä- ßigen Treffen des Bundeskanzlers mit dem Staatsprä- Meine Damen und Herren, der polnische Minister- sidenten. präsident Bielecki hat in Bonn daran erinnert, daß sein Land nach der Mitgliedschaft in der Europäischen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Gemeinschaft strebt. Die FDP unterstützt diesen der CDU/CSU) Wunsch. Sie unterstützt den Wunsch Polens, Ungarns und der CSFR. Er lenkt unser Augenmerk auf die Wei- Sehr bald werden Ost-West-Probleme wieder im terentwicklung der Europäischen Gemeinschaft. Wir Vordergrund der internationalen Politik stehen — das wollen Erweiterung u n d Vertiefung. ist keine gewagte Voraussage —, und wieder wird nach uns gefragt werden. Die europäische Friedens- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ordnung, zu der das Tor mit der Pa riser KSZE-Konfe- der CDU/CSU) renz im November vergangenen Jahres aufgestoßen Erfreulich entwickeln sich die Dinge im euro- wurde, wird erst dann verwirklicht sein, wenn Freiheit päischen Binnenmarkt. Dieser Prozeß ist unum- und Demokratie in allen Ländern Europas verwirk- kehrbar, und er wirft schon jetzt vielfältige Erträge ab. licht sind, wenn Gewalt als Mittel der Politik ausge- Dieses Werk gilt es zügig bis zum 1. Januar 1993 zu schlossen bleibt. Vorgänge, wie sie im Januar im Bal- vollenden und weiterzuentwickeln. Sorge müssen wir tikum geschahen, dürfen sich nicht wiederholen. dafür tragen, daß die Entwicklung zur Wirtschafts- und Währungsunion so positiv ausfällt wie die zum (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gemeinsamen Binnenmarkt. Hier gibt es noch erheb- der CDU/CSU — Zustimmung des Abg. liche Hürden zu überwinden. Die Positionen sind Gansel [SPD]) durchaus nicht kongruent. Meine Damen und Herren, das sozialistische plan- Für die FDP besteht kein Zweifel daran, daß die wirtschaftliche System hat versagt. Alle Länder des Weiterentwicklung zur Währungsunion nur auf Ostens befinden sich in einem schwierigen Reform- einem Wege erfolgen kann, der uns eine Währung prozeß zu marktwirtschaftlichen Strukturen. Zurück beschert, die der D-Mark ebenbürtig oder überlegen zum alten System — das gibt es nicht. Aber die Länder ist. müssen durch eine tiefe Anpassungskrise, so wie wir sie jetzt auch in den neuen Bundesländern erleben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Darin liegen aber erhebliche Gefahren des Rückfalls der CDU/CSU) in politische Systeme der Unterdrückung und Bevor- Eine rasche Währungsintegration ist nur zwischen mundung. Wir müssen diesen Ländern deshalb bei Mitgliedstaaten möglich, deren monetäre Rahmenbe- ihren Reformen helfen. Der Erfolg der Reformen liegt dingungen weitgehend angeglichen sind. Herr Dreg- auch in unserem Interesse. Hilfe ist leichter bei den ger, Sie haben Herrn Major zitiert, der uns eine stabile Ländern, die sich mutig auf den Weg gemacht haben Währung empfiehlt: Er sollte doch einmal über den — wie Polen, Ungarn, CSFR —; es ist schwieriger bei hard ECU und über die Situation des Pfund Sterling den anderen Ländern. nachdenken, denn so überzeugend ist das zur Zeit nicht. Besondere Sorge bereitet die Entwicklung in der Sowjetunion, weil die Reformen nicht vorankommen Es kann weiter keinen Zweifel daran geben, daß und das Nationalitätenproblem nicht gemeistert wird; Kompetenzübertragungen in so wichtigen Bereichen die Fernsehbilder heute morgen waren wieder wie der Geld- und Währungspolitik, die mit der Wirt- schrecklich. Die wirtschaftliche Lage in der Sowjet- schaft und Währungsunion verbunden sind, einherge- union ist trostlos. Weder Plan- noch Marktwirtschaft, hen müssen mit gleichzeitigen Fortschritten in der sondern ein hybrides Gemisch aus beidem ist die politischen Union Europas. Schlimmste aller Welten. Wie lange noch kann das Das zweite große internationale wirtschaftspoliti- gutgehen? Die Namensliste verabschiedeter sowjeti- sche Thema, bei dem wir eine Führungsaufgabe scher Wirtschaftsreformer wird immer länger: Bogo- wahrnehmen müssen, ist die GATT-Runde. Ein freies, molov, Albalkin, Schatalin, Aganbegyan, um nur ei- offenes Welthandelssystem ist eine der entscheiden- nige zu nennen. Aber keine Reformen! den Quellen des Wachstums und des Wohlstands in 758 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Otto Graf Lambsdorff der westlichen Welt. Die GATT-Runde muß bald ein Ordnung. Dabei entgehen Ihnen Milliardenbeträge, Erfolg werden. Das liegt nicht nur in unserem eigenen meine Damen und Herren. Interesse. Es ist wichtig zur Integration der Länder (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Osteuropas in die Weltwirtschaft. Es liegt im Interesse der vielen Entwicklungsländer, die mit wirtschaftli- Wir bieten Investoren finanzpolitische Anreize wie chen Reformen ihrer Probleme Herr zu werden versu- nie zuvor in Deutschland. Die Tarifpartner schließen chen. Tarifverträge, deren Höhe man vielleicht beanstan- den kann, die wegen ihrer Langfristigkeit und der erst (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten spät einsetzenden kürzeren Wochenarbeitszeit aber der CDU/CSU) eine verläßliche Kalkulationsbasis bieten. Das ist ein Wir dürfen die Hoffnungen dieser Länder nicht ent- erheblicher Vorteil für die Investitionslandschaft. Es täuschen. gibt ja auch mehr p rivate Initiative als für viele Beob- achter erkennbar. Meine Damen und Herren, unsere größte innen- politische Aufgabe bleibt die ökonomische, die gesell- Wir warnen, meine Damen und Herren, ganz gewiß schaftliche Vereinigung Deutschlands. Ich will versu- vor Schönfärberei. 1991 — das sagen wir nicht erst chen, dies mit so wenig Polemik wie möglich zu be- jetzt — wird ein überaus schwieriges Jahr. Die Ar- handeln. Der Wahlkampf ist vorbei, dieser Wahl- beitslosigkeit wird steigen, und vieles kommt langsa- kampf ist vorbei. Wie wir auf die Dauer mit der Frage mer in Gang, als wir es erwarteten. fertig werden sollen, daß wir 16 Landtagswahlen in- Herr Vogel, im Zusammenhang mit der Arbeitslo- nerhalb von vier Jahren plus plus plus an Wahlen zu sigkeit stimmen wir Ihnen zu, wenn Sie sagen, Quali- bestreiten haben, ist wohl auch ein Thema, dem wir fizierung müsse angeboten werden, entsprechende uns einmal widmen müssen. Anstrengungen müßten verstärkt werden. Ich füge Wir unternehmen mit dem Gemeinschaftswerk hinzu: Es muß aber auch die Bereitschaft vorhanden Aufschwung-Ost mit den Haushalten 1991/92 eine sein, sich dann zu qualifizieren. Auch das ist notwen- gigantische Kraftanstrengung. Der Bundeswirt- dig. schaftsminister wird das heute noch im einzelnen dar- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stellen. Sie haben den Vergleich der Werftindustrie in Ro- Herr Vogel, Sie haben uns noch einmal empfohlen - stock mit ähnlichen Entwicklungen der Werftindu- und noch einmal das Thema angeschnitten, ob wir die strie bei uns angesprochen. Ich habe ja wenig Nach- 15 Milliarden DM, die Herr Modrow von uns forderte, holbedarf, denn ich mußte damals, vor der Wahl zur nicht vor der Volkskammerwahl oder gleich danach, Bremer Bürgerschaft, 2 000 Mitarbeitern der AG We- wie Sie gesagt haben, hätten zur Verfügung stellen ser sagen: Bei euch ist es in 14 Tagen zu Ende. Das sollen. sind keine einfachen Situationen. (Dr. Vogel [SPD]: Verpflichtungsermächti- Sie haben gesagt: Wir können nicht in Wochen und gungen!) Monaten verlangen, was bei uns Jahre gedauert hat. — Vor der Einführung der D-Mark, frage ich. Nur, dies konnte man im Norden bei den Werften oder im Saarland bei Arbed-Saarstahl zu Lasten der gan- Die FDP hat rechtzeitig, frühzeitig einen Vorschuß zen ertragreichen und wirtschaftlich starken Bundes- für die Kommunen gefordert, weil wir genau gewußt republik finanzieren. Den ganzen Abwicklungspro- und gesehen haben, daß z. B. die Entwicklung des zeß, der sich in den fünf neuen Bundesländern als mittelständischen Handwerks nicht vorwärtsgehen unausweichlich zeigt, über Jahre hinaus zu finanzie- kann, wenn die öffentlichen Auftraggeber nicht in der ren, das ist wahrscheinlich nicht zu schaffen. Lage sind, solche Aufträge zu finanzieren. Wir hätten uns das gerne früher gewünscht. Jetzt kommt es, und (Dr. Vogel [SPD]: Nicht in Wochen und Mo soweit ist das in Ordnung. naten!) (Gansel [SPD]: Zwei Jahre zu spät!) Zur sozialen Abfederung und sozialen Verträglich- keit sagen wir ja. Aber das künstliche Erhalten nicht Aber steht das alles, meine Damen und Herren, wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze wird uns vor ganz etwa in der Verantwortung der Bundesregierung? erhebliche Schwierigkeiten stellen. Wenn meine In- Hat es allein bei der Bundesregierung gelegen, daß formationen zutreffen, dann decken von den auf Kiel das finanzielle Gesamtaufkommen so spät zustande liegenden Schiffen in Rostock zwei nicht den Materi- kam? Wie haben sich die Länder verhalten? Wie ha- alwert und kein einziges den Produktionswert dessen, ben sich sozialdemokratisch geführte Länder — ich was dort noch hergestellt werden kann. erwähne zuvörderst Niedersachsen — in dieser Frage verhalten? (Dr. Vogel [SPD]: Und wie war das bei uns?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das ist ja kein Vorwurf an die dort Beschäftigten; das Da der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz hier weiß doch jeder. Aber das ist eine Situation, aus der ist, möchte ich der rheinland-pfälzischen Landesre- wir einen sozial abgefederten, aber wirtschaftlich und gierung ausdrücklich unseren Dank dafür sagen, daß finanziell überhaupt vertretbaren und erträglichen sie auf dem Wege mitgeholfen hat, zu positiven Er- Ausweg finden müssen. In diesem Sinne ist der Bun- gebnissen zu kommen, die jetzt endlich erzielt worden deswirtschaftsminister in Rostock tätig geworden. sind, aber doch auch nur in Teilbereichen. Noch im- mer nehmen die fünf neuen Bundesländer erst ab Dabei kommt auch das Stichwort RGW-Handel zur 1995 am Länderfinanzausgleich teil. Dies ist nicht in Sprache. Natürlich haben wir gewußt, daß der RGW- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 759

Dr. Otto Graf Lambsdorff Handel, wenn wir hier eine konvertible Währung ein- gungsvertrag geführt. Dessen Vorschriften reichen führen, in seinen wesentlichen Beständen zusammen- nicht; das wissen wir inzwischen alle. Wir verbessern brechen würde. Aber die Frage heißt: Wie reagieren sie jetzt; wir machen das Gesetz für Investoren, für wir darauf? Wie teuer reagieren wir darauf? Länder und Kommunen und für die viel kritisierte Treuhandanstalt handhabbar. (Dr. Gysi [PDS/Linke Liste]: Wie denn?) (Dr. Vogel [SPD]: Wenn es nicht klappt, ha Die Art und Weise, die gewählt worden ist und die ben Sie wieder eine neue Entschuldigung!) Herr Möllemann in Moskau ausgehandelt hat, ist mit Rücksicht auf die Sozialverträglichkeit eine teure Art Es bleibt beim Grundsatz: Rückgabe vor Entschädi- und Weise geworden. Ich unterstreiche: Wir unter- gung. Die verfassungsrechtlichen Risiken bei einer stützen das, wir halten das für richtig. Umkehr wären riesengroß, und die finanzpolitische Entschädigungsdimension wäre nicht zu verantwor- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ten. Eine einstweilige Anordnung des Bundesverfas- der CDU/CSU — Poß [SPD]: Monate zu spät! sungsgerichts, wenn wir etwas anderes täten, würde Wo war denn Möllemanns Vorgänger?) uns den ganzen Weg blockieren. Nur, auf die Dauer wird man in dieser Weise nicht verfahren können, wenn man nicht wettbewerbsunfä- Schließlich, meine Damen und Herren, einfach auch hige Strukturen festschreiben will. ganz praktisch: Auf halbem Wege umzukehren, das erinnert an die französische Lebensweisheit: „ordre, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten contre ordre, désordre". der CDU/CSU) Herr Vogel sagt, überall, wo es das Gemeinwohl Ich habe Informationen — ich werde versuchen, ih- erfordere, solle man nach seinen Vorstellungen ver- nen nachzugehen — , daß nun auf derselben Basis, auf fahren. Das sieht in der Praxis, in der Auslegung, in der wir die existierenden Verträge gesichert haben, den Streitigkeiten darüber ganz genauso aus wie das, wieder neue Verträge abgeschlossen werden, in der was wir jetzt vor uns haben, Herr Vogel. Es gibt kein schönen Beruhigung oder Gewißheit: Sie werden uns Patentrezept; auch Sie haben es nicht. dann auch finanziert werden. Da werden wir vorsich- tig sein müssen. Hüten wir uns aber davor, die Eigentumsfrage zum monokausalen Investitionshemmnis zu erklären. Das Meine Damen und Herren, Geld ist ganz gewiß ist falsch. wichtig; aber es ist nicht alles. - (Poß [SPD]: Das hat doch keiner getan!) (Matthäus-Maier [SPD]: Das ist richtig!) Die Verwaltung funktioniert nicht — darauf ist hinge- Ich bin sicher, daß wir Ende 1991 sehen werden, daß wiesen worden —, es fehlen Bebauungspläne, es gibt nicht alle Mittel, die wir jetzt vorgesehen haben, aus- in der Tat Rechtsprobleme und Schwierigkeiten bei gegeben werden konnten. Das wäre ja auch gar keine der Anwendung des umfassenden bundesdeutschen neue Erfahrung. Rechts innerhalb von sechs Monaten — wie soll das Neu sind Investitionshemmnisse, die in ihrer Art bewältigt werden; Herr Gysi hat zu Recht darauf auf- und Vielfältigkeit nicht erkannt worden sind. Da spie- merksam gemacht — , es fehlen Flächennutzungs- len die Rechtsfragen Eigentum, Nutzungsrechte und pläne, es fehlen kommunale Haushalte, es gibt Verfügungsrechte eine erhebliche Rolle. Grundbuchprobleme. All das gilt es zu bewältigen. Ich sehe, daß wir mit den Sozialdemokraten grund- Gestern habe ich einen B rief gesehen, in dem ein sätzliche Meinungsunterschiede in der Frage des Pri- Investor schrieb: Ich übernehme den Laden nicht; vateigentums haben. Das ist ja nicht völlig neu. Ich § 613 a BGB hindert mich daran, die Arbeitsplätze ab- will das jetzt gar nicht streitig austragen. Ich möchte zubauen, die ich abbauen muß, wenn ich rentabel nur fragen, Herr Vogel: Was würden Sie denn wohl wirtschaften will. sagen, wenn man Ihre wahrscheinlich berechtigten Der Aufbau der Telekommunikation geht nach — das wird zu prüfen sein — Rückerstattungsansprü- Auffassung der FDP deutlich zu langsam. che bezüglich früher einmal im sozialdemokratischen Eigentum stehender Zeitungen einfach bestreiten (Beifall bei der FDP) würde, weil man sagte: Da kommt ein stärkerer, ein Bundespost und Telekom blockieren den Zutritt Pri- größerer Investor; dieser bekommt sie; er sichert die vater zu diesem Markt. Es wird immer noch nicht ein- Arbeitsplätze; auf euch warten wir nicht. So kann es ja gesehen, daß funktionierende Telefonverbindungen nicht gehen. eine der wesentlichen Voraussetzungen für Investi- (Dr. Vogel [SPD]: Das ist ja nicht der Punkt! tionsbereitschaft sind. Ent Wenn, treten wir zurück und nehmen Meine Damen und Herren, wir verdanken es der -schädigung!) soliden Finanz- und Wirtschaftspolitik seit 1982, daß Meine Damen und Herren, die FDP war die erste wir zu dieser gewaltigen Anstrengung überhaupt in Partei, die darauf hingewiesen hat, daß für Investitio- der Lage sind. Ich teile die Meinung des Finanzmini- nen der Produktionsfaktor Grund und Boden verfüg- sters, wir hätten die Finanzierung der deutschen Ein- bar sein müsse. Wenn Sie den Produktionsfaktor heit jedenfalls 1991 ohne Steuererhöhungen bewäl- Grund und Boden in einer Marktwirtschaft nicht dis- tigt. Wer Zahlen lesen und rechnen kann, der weiß ponibel haben, gibt es keine Investitionen und keine das. Aber alles zusammen an zusätzlichen Anforde- Arbeitsplätze. Wir haben das im August 1990 in Han- rungen, das war ohne Steuererhöhungen nicht zu nover gesagt. Das hat zum Investitionsgesetz im Eini- schaffen. 760 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Otto Graf Lambsdorff Ich habe gesagt: Ich halte mich von Polemik fern. tung". Ich empfehle eher das Studium des Aufsatzes Ich will deswegen auf polemische Äußerungen auch von Christian Meier in der „Frankfurter Allgemeinen nicht eingehen. Wer hier aber sagt, für den Golf seid Zeitung" vom 5. März 1991 mit dem Untertitel „Ein ihr zu zahlen bereit, für die deutsche Einheit nicht, der Plädoyer für mehr Großzügigkeit" im Hinblick auf die benutzt schlimme und vergiftete Polemik in unserem psychologische Befindlichkeit unserer Mitbürger in Lande. den fünf neuen Bundesländern. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — (Beifall bei der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Die Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Ganz übel! — Überschrift in der „Bild-Zeitung" ist bes Poß [SPD]: Sie haben noch im Februar er- ser!) klärt: ohne Steuererhöhungen!) — Diese Balkenüberschrift entspricht Ihren Bedürf- Ich kann ja verstehen, daß der Kollege Vogel heute nissen; es reicht für Sie wahrscheinlich, Herr Vogel. so aufgetreten ist, wie er das getan hat. Wer hätte das Lesen Sie doch nicht nur die Überschriften, sondern an seiner Stelle in dieser Situation wohl nicht getan! auch den Inhalt! Ob es gleich vom Komödienstadel bis zu der Frage (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der gehen mußte, ob Rheinland-Pfalz ein Vogelschutzge- CDU/CSU — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: biet ist oder nicht, das lasse ich einmal dahinge- Und nicht nur die „Bild-Zeitung" !) stellt. Es gilt jetzt, unseren Mitbürgern Mut zu machen, Ich habe von dieser Stelle aus am 21. Februar das ihnen zu erklären, daß wir alles tun, um die Durst- Nötige gesagt. Ich habe bekannt und erklärt, daß es strecke so kurz wie möglich zu halten. Noch nie ist ein Irrtümer gegeben hat. Wer in dieser einmaligen histo- Land in einer Stimmung von Neid und Mißgunst, von rischen Situation, mit der wir es wi rtschaftspolitisch Verzagtheit und Angst wiederaufgebaut worden. und wirtschaftshistorisch zu tun haben, behaupten Nehmen wir bitte alle die Ängste der Menschen in den wollte, er sei von Irrtümern frei, muß ein Übermensch neuen Bundesländern ernst! Fahren wir hin, reden wir sein. mit ihnen, machen wir ihre Sorgen zu unseren Sorgen! Ich sage noch einmal für meine Person und meine Dann werden wir dies auch gemeinsam schaffen. Partei — ich habe an der Spitze der Partei diese Posi- Ich bedanke mich. tion zu vertreten gehabt und habe sie vertreten — : (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Den Vorwurf der Täuschung und der Lüge weise ich - Matthäus-Maier [SPD]: Sagen Sie das doch mit allem Ernst zurück. dem Bundeskanzler!) (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Aber wahr ist er! — Matthäus-Maier [SPD]: Er bleibt richtig — Dr. Götte [SPD]: Wie nennen Sie das Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem denn?) Abgeordneten Dr. Feige. Ich habe in meinem politischen Leben dem Wähler manchen Irrtum gesagt. Meinethalben können Sie auch über Kompetenz streiten; das ist etwas ganz an- Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE) : Herr deres, als wenn man über „lügen" und „bewußt täu- Präsident! Meine Damen und Herren! Ein wohlbe- schen" streitet. Über Kompetenz kann man streiten. kanntes Sprichwort sagt: Irren ist menschlich. — Das ist normalerweise alles nicht so schlimm. Die Auswir- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — kungen von Irrtümern in der Politik können aber Dr. Vogel [SPD]: Dolus eventualis!) durchaus auch unmenschlich sein. Noch schlimmer ist — Das ist ein gutes Stichwort, Herr Vogel. Es wäre es, wenn sich hinter den vermeintlichen Irrtümern jetzt bei mir sowieso vorgekommen. nicht etwa Inkompetenz oder Dummheit, sondern so- gar ein ausgeklügeltes System von Absichten und Ich habe mich hinsichtlich der Frage geprüft, ob ich Unterlassungen verbirgt. nicht vielleicht gern einer Selbsttäuschung im Sinne von dolus eventualis erlegen bin. Ich glaube: nein. (Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Auauau!) Herr Lafontaine hat gestern gesagt: Es irrt der Welche großen Hoffnungen hatten die Bürgerinnen Mensch, solang er lebt. Das Zitat ist falsch. Es heißt und Bürger in beiden Teilen Deutschlands nach dem richtig: solang er strebt. Ich habe es ihm aufgeschrie- friedlichen Aufbruch im Herbst 1989 für die DDR und ben. Wenn wir im Irrtum befangen wären, solange wir für die Zukunft ganz Deutschlands gehabt! Gerade leben, wäre das eine traurige Sache. Wer nicht mehr diese Hoffnungen wurden durch viele Politiker der strebt, unterliegt auch keinem Irrtum. heutigen Koalition in den Wahlkampfmonaten beson- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ders genährt und für die eigene Profilierung, aber nicht für Deutschland ausgenutzt. Für die Liberalen, meine Damen und Herren, steht fest: Wir müssen so schnell wie möglich zu der soliden „Niemandem soll es nach der Einheit schlechter Haushaltspolitik der 80er Jahre zurück, auch und ge- gehen", so der Bundeskanzler im vergangenen Jahr. rade im Interesse der fünf neuen Bundesländer. Das „Wir brauchen Motivation statt Demotivation. Steuer- Konzept der marktwirtschaftlichen Erneuerung war erhöhungen wären genau das falsche Signal" , so der in den 80er Jahren erfolgreich. Es bleibt für die 90er gleiche Kanzler vor der Wahl; man kann es gar nicht Jahre richtig. Jetzt aber gilt es, unseren Mitbürgern oft genug sagen. Mut zu machen, ihnen zu erklären, daß wir alles tun, Aber was ist jetzt von diesen Ehrenworten geblie- um die Durststrecke so kurz wie möglich zu halten. Da ben? Da liegen sie plötzlich, die riesigen unsozialen lesen Sie besser nicht alte Anzeigen in der ,,Bild-Zei- Steuerpakete. Da geht es den in die Massenarbeitslo- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 761

Dr. Klaus-Dieter Feige sigkeit Entlassenen schlechter als vor ihrem Schritt in Wenn sich das ostdeutsche Gebiet heute im Zustand die Freiheit. eines Entwicklungslandes befindet, so ist dies nicht mehr allein das Ergebnis von 40 Jahren sozialistischer (Dr. Vogel [SPD]: Leider wahr!) Planwirtschaft. Wenn man den Menschen im Osten Da fliehen immer noch zigtausende Menschen von alle Voraussetzungen nimmt, weiterhin fleißig zu sein, Ost nach West über eine Grenze, die es gar nicht mehr darf man sich neun Monate nach der Währungsunion geben sollte. nicht darüber wundern, daß man in den fünf neuen Die Menschen in den neuen Bundesländern sind im Bundesländern nicht einen Schritt weiter vorange- allgemeinen nicht nachtragend. Aber sie haben eine kommen ist. Angewohnheit: Sie merken sich alles. (Dr. Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Sehr (Dr. Vogel [SPD]: Ja!) richtig!) Wir lernen ja bei uns gerade erst Demokratie, und in Diese Regierung ist mit dem Aufbau des einigen dieser Phase — das können Sie mir glauben — prägt Deutschlands völlig überfordert. Es mag sein, daß der das die Menschen, was sie jetzt erleben. Kanzler als „Kanzler der Vereinigung" in die Ge- schichte eingehen wird, aber als „Kanzler der Ein- Noch haben die Menschen im Osten nicht verges- heit" sicherlich nicht. Die Nachrichten aus den fünf sen, wie sie einmal von Honecker & Co. be trogen wur- neuen Bundesländern sprechen dazu ihre eigene den. Die Erinnerungen sind noch frisch, und so darf Sprache. Die Werften an der Ostseeküste, in Mecklen- man sich nicht wundern, wenn die Bürgerinnen und burg und Vorpommern stehen vor dem Zusammen- Bürger auf ihren neuerlichen Massendemonstratio- bruch. Aufträge aus den osteuropäischen Ländern lie- nen auf ihren Transparenten die Politik des Bundes- gen nicht mehr vor. Aufträge aus westeuropäischen kanzlers mit der des abgelösten Regimes vergleichen. Ländern kommen nicht über Hamburg hinaus. Dieser An dieser Rückbesinnung ist nicht nur die Blockpar- Zusammenbruch kommt uns sicherlich teuer. Graf tei-Vergangenheit der Ost-CDU und der ehemaligen Lambsdorff, teurer als eine Übergangssubventionie- Bauernpartei schuld, sondern auch die aktuelle Politik rung. Darüber hinaus fehlt die von Ihnen angeforderte der Koalition steht bei den Menschen in den neuen Solidarität aus der Wirtschaft. Ländern zur Diskussion. Nicht die Steuererhöhungen sind das Verwerfliche an den Ergüssen des Kabinetts. Die für die Sanierung der ostdeutschen Wirtschaft Die hat die Opposition im Gegensatz zur Koalition bereitgestellten Gelder erreichen die Bet riebe nicht längst vorhergesehen, und eine gute Regierung hätte oder nicht rechtzeitig. In der Landwirtschaft melden sie ebenfalls vorhersehen müssen. immer mehr Produktionsgenossenschaften, aber auch bereits neue Familienbetriebe Konkurs an. In den Die Bereitstellung von Geldmitteln für den Aufbau Ställen krepiert das Vieh, der Ackerboden bleibt un- im Osten geht soweit in Ordnung. Aber hierin besteht gepflügt. Die Bauern werden ihre zum Teil hochwer- ja noch gar kein nennenswertes Verdienst dieser Re- tigen oder zumindest mit westlichen Produkten ver- gierung; die Mittel werden ja nicht durch sie erarbei- gleichbaren Waren an die Handelsketten oder ihre tet. Und Geld ausgeben kann ja heutzutage jeder. Monopolwirtschaft nicht mehr los. Aber es kommt darauf an, wie ich das Geld verteile. Besonders hoch ist der Anteil der Arbeitslosigkeit Erst wenn es zum Vorteil der Bürger im ganzen Land bei den Frauen. Sie sind durch diese Ruinpolitik dop- wirken kann, hat eine Regierung ihre Hausaufgaben pelt betroffen. Was meines Erachtens noch viel gemacht. Dafür ist aber zumindest eine Konzeption schlimmer ist: Diese sogenannte Politik der Regierung für eine Volkswirtschaft erforderlich. Diese elemen- führt zu einer neuartigen Teilung Deutschlands. Das tare Voraussetzung kann ich im gesamten Haushalts- Mißtrauen zwischen den Menschen aus Ost und West plan nicht erkennen. nimmt zu. Die Teile-und-herrsche-Politik hat dazu ge- Steuern haben durchaus etwas mit dem Steuern der führt, daß immer mehr Menschen aus den westlichen Wirtschaft zu tun. Doch das Boot mit dem schönen Bundesländern Angst haben, daß sie die deutsche Namen „Ostdeutschland-Politik" droht augenblick- Einheit in ihrem persönlichen Wohlstand einschrän- lich an den Klippen der Wirtschaft in den fünf neuen ken wird. Viele Menschen in den neuen Bundeslän- Ländern zu zerschellen. Die Regierungscrew wird sich dern vermissen immer mehr die einmal im Herbst bald eines Besseren besinnen und zu steuern begin- 1989 nach der Öffnung der Grenzen gezeigte begei- nen müssen. Vielleicht trifft schon in naher Zukunft sterte Solidarität. auch für sie das Gorbatschow-Wort zu, das er einmal Ich möchte all diese Ungerechtigkeiten, all die Fol- — ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammen- gen einer neuen Mißwirtschaft, wie ich sie Woche für hang — gesagt hat: Wer zu spät kommt, den bestraft Woche persönlich in der ehemaligen DDR erlebe, aus das Leben. Oder, um mit zu sprechen: Ist mir herausschreien. Ich bin erschüttert von der Hoff- man in Deutschland vielleicht manchmal geneigt, sich nungslosigkeit der Menschen, ich bin erschüttert von die Zwirnsfäden selbst zu ziehen, über die man dann einer steigenden Selbstmordrate, erschüttert von ei- stolpert und — in eigener Ergänzung — schließlich ner neuen sozialen Verelendung durch diese soge- sogar umfällt? nannte Politik. Das haben die Menschen, die die deut- Die Wirtschaft der DDR war nicht sehr effektiv. Daß sche Einheit im Osten auch für Sie vorbereitet haben, sie aber 1989 nicht völlig am Boden lag, ist vor allem nicht verdient. Es stimmt, Graf Lambsdorff, allein dem großen Fleiß vieler Menschen in der ehemaligen Geld rüberzureichen, das genügt nicht. Diese Politik DDR zu verdanken. braucht ein menschlicheres, ein sozialeres Gesicht. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der und der PDS/Linke Liste) SPD und der PDS/Linke Liste) 762 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Klaus-Dieter Feige Ich bezweifle wirklich, daß alle Abgeordneten die- das die Ökologie und das vernetzte Denken zur Leit- ses Hauses eigentlich wissen, welche Katastrophe sich schnur des Handelns macht. dort in Ostdeutschland vollzieht. Um sich hierüber (Pfeffermann [CDU/CSU]: Also kein Geld, wirklich ein Bild zu vermitteln, reicht es nicht aus, nur wenn ich Ihre Rede zu den Steuererhöhun Zeitungen zu lesen oder die Nachrichten im Fernse- gen richtig verstanden habe! Machen Sie hen zu verfolgen. Ich fordere alle Abgeordneten auf, doch mal einen konkreten Vorschlag!) sich in irgendeiner Kommune, in irgendeiner Stadt persönlich umzusehen, nur dort eine Woche einmal zu — Nein, nicht ohne Geld. Selbstverständlich sollen leben, um wirklich beurteilen zu können, was sie hier das soziale Steuerpakete und nicht solche sein, die tun. den Schwachen etwas nimmt und den Reichen das läßt. Das ist kein Steuerpaket, mit dem man operieren (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der kann. SPD und der PDS/Linke Liste) (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der Umsehen bedeutet nicht etwa, wie es z. B. der Wirt- SPD und der PDS/Linke Liste — Pfeffermann schaftsminister in Rostock tut, wenn er dort weilt, über [CDU/CSU]: Das ist doch seichtes Ge die Zukunft der Werften nachzudenken, sich hinter schwätz, was Sie da machen!) die festen Mauern — von mir aus eines Rathauses — — Das ist überhaupt nicht seichtes Geschwätz. Sie zurückzuziehen. Da muß man schon einmal in die müssen dort hinkommen; dann werden Sie erleben, Werft gehen und mit den Menschen dort direkt und was „seichtes Geschwätz" heißt, und werden erleben, persönlich sprechen. Sie haben darauf gewartet; das was ich Tag für Tag miterlebe. Haben Sie den Mut, weiß ich persönlich. gehen Sie dorthin! Dazu gehört heute schon wieder Mut, denn in ihrer (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der Verzweiflung rufen die Menschen heute nicht mehr SPD und der PDS/Linke Liste) nach Wohlstand, sondern nur noch nach Arbeit, nicht Mit einem klaren und modernen Konzept der Wirt- nach Reisen in ferne Länder, sondern nach sicheren schaftsentwicklung könnten die ostdeutschen Länder Wohnungen. den Sprung ins 21. Jahrhundert schaffen. Moderne Herr Bundeskanzler, ich fordere Sie — bitte — noch und leistungsfähige Technologien und hochqualifi- einmal auf: Kommen Sie am 18. März nach Leipzig, - zierte Beschäftigte im Produktions- und Dienstlei- und erklären Sie diese Ihre Politik den Bundesbürgern stungssektor, eine saubere Umwelt mit einem großen im Osten! Kultur- und Freizeitangebot, das ist die Alternative (Pfeffermann [CDU/CSU]: Und alles ohne (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD Steuererhöhungen?!) und der PDS/Linke Liste) zu einer von Irrtümern geprägten Politik, die letztend- Haben Sie den Mut dazu, sich zu entschuldigen! Es lich Ostdeutschland zum Hinterhof Mitteleuropas sind nicht nur Irrtümer, Wählertäuschungen oder degradiert. Black-outs, es ist die ideologische Verblendung, mit der die Koalition glaubt einen Wirtschaftsumschwung Meine Damen und Herren von der Regierung, Sie wie in den 50er Jahren kopieren zu können. haben sehr wenig getan, um die Investitionshemm- nisse im Osten Deutschlands zu beseitigen, fast gar Wir haben jetzt eine völlig neue Situation: Der An- nichts. Sie haben in Kauf genommen, daß Ostpro- gleichungsdruck ist ungleich stärker, die Randbedin- dukte einen schlechten Ruf genießen, sowohl bei Kon- gungen sind andere als vor 40 Jahren. Allein die um- sumwaren als auch bei Investitionsgütern. weltpolitische Situation muß völlig neu bewertet wer- (Pfeffermann [CDU/CSU]: Das ist nicht zu den. fassen! — Zuruf von der CDU/CSU: Fahren Die jüngsten Steuererhöhungen kommen einem Sie doch einmal in die neuen Länder, damit politischen Offenbarungseid gleich. Neue Irrtümer Sie wissen, wie die Situation dort ist! — Wei sind bereits fest einprogrammiert; die Steuerschraube tere Zurufe von der CDU/CSU) wird spätestens 1993 erheblich weiter gedreht wer- Sie wußten doch, daß der alte RGW-Markt den, nämlich dann, wenn die Mehrwertsteuer erhöht wird. (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU) —das wußten Sie vorher — nach der Währungsunion Es ist z. B. bezeichnend, daß nach jüngsten Umfra- zusammenbrechen wird. gen gerade noch 19 % der Bundesbürger glauben, daß die Lohn- und Einkommensteuer nach einem Jahr (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei wieder gesenkt wird, wie es angekündigt ist. Selbst der PDS/Linke Liste — Pfeffermann [CDU/ 65 % der Unionsanhänger glauben diesen Verspre- CSU]: Unverschämter, arroganter Bursche!) chungen nicht mehr. Nur eine Mischung aus Unfähigkeit und Überheblich- keit konnte Sie das übersehen lassen, daß die Privati- Den Mannen und Frauen um Helmut Kohl ist offen- sierung des Treuhandvermögens mühselig oder lang- bar noch nicht aufgegangen, daß die Angleichung der sam über die Bühne gehen wird. Das sind die Hemm- Lebensverhältnisse der neuen Bundesländer an die nisse. Oder war das gar das Ziel? der alten die Herausforderung der 90er Jahre schlechthin ist. Hier könnte ein neuer Geist des Wirt- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der schaftens demonstriert werden, eines Wirtschaftens, PDS/Linke Liste) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 763

Dr. Klaus-Dieter Feige Dazu kam die fatale ideologische Fixierung bei den In den ostdeutschen Bundesländern ist der struktu- Eigentumsverhältnissen. Es war kein Problem, mobi- relle Rahmen für eine dezentrale und effiziente Ener- les Eigentum, Sparguthaben und ähnliches zu enteig- giepolitik sowie für eine Verkehrs- und Städtebaupo- nen oder abzuwerten. Mit der Formel „Rückgabe vor litik zu schaffen, die sich nicht an den gescheiterten Entschädigung" bei immobilem Eigentum haben Sie Vorstellungen der 60er Jahre im Westen orientiert, selbst die möglichen Investoren abgeschreckt und sondern aus dessen Fehlentwicklung lernt. Das liest gleichzeitig bei ehemaligen Eigentümern Begehrlich- man sogar in westdeutschen Zeitungen. Zu diesen keiten geweckt, die nicht erfüllbar sind. Fehlentwicklungen zählt auch der von Bundeswirt- (Pfeffermann [CDU/CSU]: Sie sind doch der- schaftsminister Möllemann angekündigte und geför- jenige, der bei allen Abstimmungen mit der derte Bau von zwei neuen Atomkraftwerken in Ost- PDS abstimmt! Das sind Sie doch?) deutschland. Ich glaube, es lohnt sich, erst darüber nachzudenken und mit der Opposition zu reden, — Ich stimme so, wie es mir mein Gewissen erlaubt; wenn Sie, Herr Möllemann, eine merkliche Vergan- und wenn dann einmal eine Abstimmung mit der PDS genheitsbewältigung der Ereignisse von Tschernobyl dabei ist, dann ist das mein freies Recht in diesem erkennen lassen. Parlament. Im Energiebereich ist darüber hinaus dafür Sorge zu (Pfeffermann [CDU/CSU]: Ich wollte das nur tragen, daß der Stromvertrag der westdeutschen mal zu Protokoll geben! — Dr. Vogel [SPDJ: EVUs und der Treuhand sowie der ehemaligen DDR, So eine Arroganz! Wie habt ihr denn in der der die auf die einseitig auf mehr Umsatz und Gewinn Volkskammer gestimmt? Mein Gott noch zielende Struktur der Energiewirtschaft West über- mal, überhebliche Arroganz!) nimmt, für null und nichtig erklärt wird. Wenn es z. B. um den Straßenbau geht, wird die Statt dessen ist die Rekommunalisierung der Ener- „heilige Kuh" Eigentum relativ schnell wieder ge- gieversorgung zu fördern. Notwendig ist, wo immer es schlachtet. Der Entwurf eines Gesetzes zur beschleu- gewünscht wird, der Aufbau kommunaler Stadtwerke nigten Planung für die Verkehrswege des Bundes in den ostdeutschen Bundesländern. Der Kommunal- vom 7. Februar 1991 läßt brutale Enteignung zu. Mit verfassungs- und -vermögensgesetzgebung der ehe- dem darin vorgesehenen schnellen Enteignungsver- maligen DDR muß unverzüglich Geltung verschafft fahren entlang von geplanten Trassen steigen Sie in werden, damit die ostdeutschen Kommunen mit Ener- gefährlich ausgetretene Fußstapfen der jüngsten gieeinsparung, Kraft-Wärme-Kopplung und Energie- DDR-Vergangenheit. dienstleistungsunternehmen einen Beitrag zu einer Die Verwaltungen von Kommunen, Kreisen und modernen und effizienten Energieversorgung leisten Ländern tun sich schwer. So war aus dem Finanzmi- können. nisterium zu hören, daß 5 Milliarden DM für Ostlän- Notwendig ist auch ein Stadterneuerungspro- der ungenutzt bei den Banken liegen. Doch wer fühlt gramm, das von den Kommunen der ostdeutschen sich zwischen dem Finanzministerium und den Kom- Bundesländer gestaltet wird. Mit einem solchen Stadt- munen für die Nutzung des Geldes verantwortlich? erneuerungsprogramm kann nicht nur ein Beitrag zur Statt diese Vollzugsdefizite abzubauen, hat die Koali- Anwendung drohender Beschäftigungslosigkeit ge- tion ein ganz neues Hindernis ausgemacht, den leistet werden, sondern auch eine umweltgerechte „mündigen Bürger" nämlich. Genehmigungsverfah- Stadtsanierung erfolgen. Eine beschäftigungsorien- ren sollen beschleunigt werden. Die öffentliche Betei- tierte, kleinteilige Stadterneuerung, nicht die Fortset- ligung wird als unerwünscht angesehen. Mittels eines zung industrialisierter Großplattenbauweise, ist ein Maßnahmengesetzes soll zentral entschieden wer- wirksames Mittel, um zahlreiche Arbeitsplätze in den, was gut für die Menschen ist. Das erinnert fatal handwerklichen und mittelständischen Bet rieben so- an die zentralistische Planwirtschaft der Vergangen- wie in Beschäftigungsgesellschaften zu schaffen. Das heit. Stellen Sie Ihre Planung zur Diskussion! Ver- hätte bisher schon in Gang gesetzt werden können. trauen Sie doch auf die Urteilskraft der Menschen in diesem Lande, die noch kein überzeugendes und ver- Stadterneuerung umfaßt aber nicht nur die Siche- nünftiges Konzept behindert haben. rung, Instandsetzung, Modernisierung und den Neu- bau von Wohn- und Gewerberaum sowie öffentlicher Der Kurs von Bündnis 90/GRÜNE für den Osten Infrastruktureinrichtungen, sondern auch den Aufbau und ganz Deutschland ist klar: Wir brauchen einen von lokalen Entwicklungsträgern, Beratungsbüros für wirtschaftspolitischen Rahmen, der die ökologische Mieter und Mieterinnen und eine demokratische Mit- Sanierung und den ökologischen Umbau mit der bestimmung durch Stadtteilvereine, Durchführungs- schnellen Schaffung zukunftsgerichteter Arbeits- gesellschaften und vieles mehr. plätze verbindet. Hier sind auch angesichts der Bedro- hung der Menschheit durch die Erwärmung der Erd- Im Verkehrssektor sind die strukturellen Bedingun- atmosphäre Eckdaten zu setzen, um das Umweltvor- gen für den Vorrang des öffentlichen Personenver- sorgeprinzip als Leitlinie bundesdeutscher und globa- kehrs zu schaffen. Dazu bedarf es der vorrangigen ler Wirtschaftspolitik durchzusetzen und zu praktizie- Vergabe öffentlicher Mittel für die Sanierung und den ren. Dies ist um so notwendiger, als verhindert werden Ausbau des Schienennetzes bzw. der Einrichtungen muß, daß die bereits erkannten Fehlentwicklungen in der Deutschen Reichsbahn und von mir aus auch der den alten Ländern im Osten potenziert werden. Kluge Bundesbahn. Hierdurch kann ein eindeutiges Signal und weitsichtige Entscheidungen in dieser Hinsicht gegen den individuellen Pkw-Verkehr gesetzt wer- sind auf Dauer wesentlich preisgünstiger als die den, der sich angesichts der drohenden Klimakata- nachträgliche Reparatur von Fehlentscheidungen und strophe zunehmend als Fossil einer falschen Mobili- Irrtümern. tätspolitik erweist. 764 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Klaus-Dieter Feige Ähnliches gilt auch für den Güterverkehr, der in Straßenverkehr vorgesehen sind, um beispielsweise Ostdeutschland nach wie vor in erster Linie auf der im Gütertransport maßgeblich die Binnenschiffahrt Schiene erfolgt. und die Schiene zu fördern? Fassen wir zusammen: Diese Regierung hat auf (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Sie sollen keinen keine der drängenden Fragen der Zukunft eine ver- Vortrag halten, sondern eine Frage stellen!) nünftige Antwort parat. Das gilt nicht nur für die Si- Akzeptieren Sie, daß hier der Umweltgedanke maß- tuation in Ostdeutschland, das gilt für die Umweltpo- geblich einfließt? litik, hier besonders für konsequente Maßnahmen zur Bekämpfung der drohenden Klimakatastrophe, das gilt für die Außenpolitik, für die Beziehungen zu den Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Ich Staaten der Zweidrittelwelt, das gilt insbesondere für akzeptiere, daß die Zahlen, die Sie nennen, in Ord- das deutsch-sowjetische Verhältnis, aber auch für die nung sind, aber zwischen der einfachen Aufzählung Entwicklung einer europapolitischen Konzeption zum von ein, zwei oder drei Maßnahmen und dem, was an Ende der Ost-West-Konfrontation. Meine Kollegen Substanz dahintersteht, können sehr große Unter- werden dazu noch detaillierte Ausführungen machen schiede, können Welten liegen. Ich glaube, daß es können. eine Disproportion zwischen dem tatsächlich notwen- Ich appelliere auch an die Koalitionsabgeordneten digen Einsatz für den Schienenweg im Verhältnis zum aus den fünf neuen Bundesländern, gerade an Sie: Straßenbau gibt und daß Sie den durchsetzen wol- len. Haben Sie den Mut — — (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter, ver- der SPD) zeihen Sie bitte: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ich bitte also in dieser Situation auch die Abgeord- Kollegen Krause? neten der Koalition aus den neuen Bundesländern, mit Mut und Selbstvertrauen für die Menschen der ost- Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE) : Ja, deutschen Länder, die sie mit Ihrem Mandat hierher bitte schön, wenn es auf meine Zeit nicht angerechnet nach Bonn geschickt haben, einzutreten. Durchbre- wird. chen Sie auch einmal die Schranken des Fraktions- zwangs! Eine Regierung, die ihr Wort derart bricht, Vizepräsident Hans Klein: Natürlich nicht. - die die elementarsten Auswirkungen der Einführung der D-Mark in den fünf neuen Ländern nicht vorher- (Börgerende) (CDU/CSU): Herr Dr. Günther Krause sehen konnte, darf der wirtschaftlichen Entwicklung Dr. Feige, Sie polemisieren über die Maßnahmenge- in Ostdeutschland nicht länger im Wege stehen. Zie- setze und haben hier laut den Vorwurf verkündet, daß hen Sie mit uns, der Opposition, an einem Strang, und die Regierung nichts tue, um schnell handeln zu kön- machen Sie mit uns deutlich, daß diese Regierung, nen. Ist nicht auch Ihrer Meinung nach der Notstand daß dieser Kanzler im Land keine Mehrheit, kein Ver- in der Verkehrsinfrastruktur in Ostdeutschland offen- trauen mehr haben! Sorgen Sie gemeinsam mit uns sichtlich und deshalb die Maßnahmengesetzgebung dafür, daß die Menschen in diesem Land Gelegenheit ein schnelles Mittel, um diesen Notstand zu beseitigen bekommen, des Kanzlers Irrtümer zu korregieren! und nicht wieder von Investitionshemmnissen spre- chen zu müssen? Warum sind Sie gegen die schnelle Vielen Dank. Beseitigung des Notstandes? (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der (Dr. Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Das SPD und der PDS/Linke Liste) stinkt nach Eigenlob!) Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundeskanzler, Sie Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE) : Herr haben das Wort. Krause, ich bin nicht gegen die schnelle Beseitigung dieses Notstands, sondern ganz im Gegenteil dafür, (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord daß verhindert wird, daß ein neuer Notstand auf Jahre neten der FDP — Zuruf von der SPD: Er hat ja im voraus festgelegt wird, der, daß nur die Straßen noch gar nichts gesagt!) entwickelt werden und im Schienenverkehr nichts passiert. Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Herr Präsident! (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte SPD) dem geschätzten Kollegen, der gerade vor mir sprach, nur sagen: Man kann über vieles von dem streiten und Es ist einfach die Frage, wie ich diese Mittel propor- streitig diskutieren, was Sie gesagt haben, aber Sie tioniere. sollten hier vor dem Forum der deutschen Offentlich- keit nicht den Eindruck erwecken, als würde irgend- Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage? einer der Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion oder Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): der FDP-Fraktion gehindert sein, seiner Überzeu- Bitte. gung, seinem Gewissen entsprechend abzustimmen. Lassen Sie also bitte derartige Behauptungen aus der Dr. Günther Krause (Börgerende) (CDU/CSU): An- Diskussion heraus! Es gibt keinen Fraktionszwang. erkennen Sie, daß in dem Projekt Deutsche Einheit, in Das wissen Sie in Wahrheit so gut wie ich. dem siebzehn Maßnahmen vorgesehen sind, neun (Widerspruch bei der SPD und der PDS/ Maßnahmen für die Schiene, eine Maßnahme für die Linke Liste — Dr. Rose [CDU/CSU]: Bei uns Binnenschiffahrt und nur sieben Maßnahmen für den nicht!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 765

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl — Nun, meine Damen und Herren, bei uns in der Tat Ich habe von dem, was ich gesagt habe, nichts zurück- nicht! Ich verdächtige Sie doch auch nicht. zunehmen. Wir werden mit Sicherheit in diesem Jahr bei zwei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Abstimmungen, die ich allerdings hinsichtlich ihrer Ich nenne eine zweite wichtige Herausforderung: Gewissensbelastung doch unterschiedlich sehe, quer durch alle Fraktionen ein unterschiedliches Abstim- unsere Hilfe für die Reformländer Mittel-, Ost- und auf ihrem mungsverhalten haben. Das kann man doch schon Südosteuropas Weg zu mehr Demokratie Das allein ist der jetzt sagen. Es wird der Fall sein, wenn es um Bonn und zu Sozialer Marktwirtschaft. Weg, der zu dauerhaftem, zu wirklichem Frieden oder Berlin geht. Wir sollten auch stolz darauf sein, daß solche Abstimmungen bei uns möglich sind und führt, zu gesicherter Freiheit und zur Einheit unseres niemand sie einschränken kann. Kontinents. (Zurufe von der SPD — Gegenrufe von der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — CDU/CSU) Zuruf von der SPD: Ab und zu!) — Lassen Sie sie doch ruhig lärmen. Wer das für einen Das wird sicherlich auch der Fall sein — und das ist passenden Beitrag in einer ernsten Stunde unseres dann eine der wirklich seltenen Gewissensentschei- Landes erachtet, kann selbst nicht ernstgenommen dungen im Leben eines Parlamentariers — , wenn es werden. um den Schutz des ungeborenen Lebens geht, den § 218 und all die Probleme, die damit zusammenhän- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen. Ich nenne zum dritten unsere Unterstützung für Wir sollten gegenüber der Öffentlichkeit doch nicht Frieden und Ausgleich am Golf und im gesamten den Eindruck erwecken, als wären wir untereinander Nahen Osten. Denn dort gilt es, jetzt — nach dem gar nicht mehr gesprächsfähig. Waffenstillstand — eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung zu schaffen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle führen die heutige Debatte in dem Bewußtsein unse- All diese Herausforderungen, deren Dimension für rer besonderen Verantwortung für die Menschen in jedermann erkennbar ist, müssen von uns bestanden den neuen Bundesländern, für die Entwicklung unse- werden. Aber ich füge hinzu — im Gegensatz zu man- rer Bundesrepublik Deutschland, und wir wissen, daß- chem, der hier heute gesprochen hat — : Kaum je- dies in einer schwierigen Zeit geschieht. Wir stehen mand hat mit einem zeitlichen Zusammentreffen die- national wie international vor großen Herausforde- ser gravierenden Entwicklungen gerechnet. rungen. Ich will nur drei Bereiche nennen. Jetzt stehen wir im eigenen Land vor der großen Ich nenne den wirtschaftlichen Neuaufbau in den Aufgabe, nach der staatlichen Einheit auch die innere neuen Bundesländern. Trotz aller Übergangspro- Einheit Deutschlands zu vollenden. Wir alle wollen, bleme können und werden wir schrittweise erreichen, daß dieses Ziel möglichst schnell erreicht wird. was wir gemeinsam wollen: gleiche Lebensverhält- 40 Jahre SED-Regime haben die ehemalige DDR in nisse in ganz Deutschland. den Bankrott geführt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Pfeffermann [CDU/CSU]: So ist es!) Zuruf von der SPD: Wann denn?) Man kann es nicht oft genug sagen; denn die Legen- Und, meine Damen und Herren, ich habe überhaupt denbildung ist bereits im Gange. Ich kann es nicht oft nichts von dem zurückzunehmen, was ich auf vielen genug wiederholen: Wenn es nicht zur deutschen Ein- Kundgebungen gesagt habe und auch in sehr naher heit gekommen wäre, wäre der SED-Staat wirtschaft- Zukunft bei Veranstaltungen in den neuen Bundes- lich genauso kollabiert wie andere Länder in Mittel-, ländern wieder sagen werde: Wir haben alle Chan- Ost- und Südosteuropa. cen, durch unsere gemeinsame Arbeit in — wie ich es formuliert habe — einem Zeitraum von drei bis fünf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jahren dieses Ziel zu erreichen. Herr Kollege Vogel, es ist doch einfach wahr: Selbst (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) als der Kollaps der sozialistischen Kommandowirt- schaft schon ganz unübersehbar war, gab es in Ihren Wer diese Debatte heute und gestern hörte, mußte Reihen noch genügend Sprecher — denken Sie an das sich doch manchmal fragen, ob man hier eigentlich Jahr 1989; das ist immerhin erst zwei Jahre her — , die den Kalender völlig außer Betracht gelassen hat. An- für die damalige DDR an einem Weg festhalten woll- fang Oktober ist die deutsche Einheit vollzogen wor- ten, der sich längst als katastrophal abgezeichnet den. Nur fünf Monate danach kann doch nun wahr- hatte. Es gab Unverbesserliche, die an eine Zukunft haft niemand erwarten, daß wir die gigantischen Pro- dieser Art von Sozialismus glaubten. bleme bis dahin hätten lösen können. Ich will gleich einiges dazu sagen. (Zuruf von der CDU/CSU: Die gibt es immer noch! — Dr. Vogel [SPD]: Herr de Maizière Ich habe vor insgesamt vielen Millionen Zuhörern zum Beispiel! — Dr. Rose [CDU/CSU]: Die immer wieder gesagt: Es wird ein schwerer Gang; er Jusos jetzt wieder!) wird Opfer kosten, aber wir werden es schaffen. Auf diese Weise wurde eine Wende zum Besseren auf (Zuruf von der SPD: „Keiner wird schlechter- gehalten. Deswegen sind manche Ratschläge, die Sie gestellt" !) heute uns und vor allem auch mir geben, für mich 766 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl nicht sehr überzeugend. Denn auf dem Weg zur deut- gehören der Vergangenheit an. Die Kaufkraft hat zu- schen Einheit haben Sie schlicht versagt: genommen. Aus niedrigen Einheitsrenten sind — wie im alten Bundesgebiet seit 1957 — jetzt dynamische (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der Renten geworden. Das heißt: sie steigen in gleichem FDP) Maße wie die Einkommen der Beschäftigten. die einen, weil sie kleinmütig waren und an den Auf- trag der Geschichte nicht glaubten, und die anderen, Meine Damen und Herren, wer sich dies alles be- weil sie sich aus ganz anderen Gründen mit der deut- wußt macht, wird erkennen, daß wir bei allen vorhan- schen Teilung abgefunden hatten. Herr Kollege denen — und niemand will das beschönigen — Honecker — — schwierigen Problemen der Gegenwart ein gutes Stück vorangekommen sind. Wir werden diesen Weg (Lachen bei der SPD, beim Bündnis 90/ unbeirrt fortsetzen. GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste) — Sie sind sehr leicht zu erheitern. Ich sage es Ihnen noch einmal: Wir stehen jetzt erst gut fünf Monate nach dem Tag der deutschen Eini- (Zuruf von der SPD: Sie haben die Blockpar- gung. Wir haben in diesen fünf Monaten wichtige teien in Ihrem Kopf!) Marksteine errichtet, und wir werden weiter voran- Herr Kollege Vogel, kommen. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) (Duve [SPD]: Keinen Zentimeter!) daß aus Ihren Reihen bei jeder nur denkbaren Gele- — Herr Kollege, Ihr Beitrag ist außer, zugegebener- genheit bis in die letzten Tage auch der Modrow- maßen, ungewöhnlich lauten Zwischenrufen ziemlich Regierung hinein die Aufforderung kam, wir, die alte unerheblich für den Fortgang der Debatte. Bundesrepublik und die Bundesregierung, sollten zahlen, läßt sich wirklich nicht leugnen. Ich kann Ih- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge nen nur sagen: Lesen Sie die Schmähungen nach, die ordneten der FDP — Zuruf von der CDU/ damals aus Ihren Reihen gegenüber der Bundesregie- CSU: Von ihm kann man nichts erwarten!) rung laut wurden, als Herr Modrow im Feb ruar 1990 in Bonn zu Besuch war und Sie erklärten, wir müßten Die Bundesregierung hat in diesen Tagen eine jetzt unbedingt alles tun, um ihm zu Hilfe zu eilen. ganze Reihe wichtiger Kabinettsbeschlüsse gefaßt, - die ich noch einmal kurz ansprechen will: Wir verbes- (Widerspruch bei der SPD) sern die Finanzausstattung der Länder, Städte und Wir haben das nicht getan. Gemeinden in den neuen Bundesländern. Wir geben zusätzliche Hilfen und Anstöße, damit mehr und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schneller investiert und die Beschäftigung kurzfristig ordneten der FDP) erhöht wird. Wir leisten entschiedene Hilfe, damit Es war das kommunistische Regime, das uns eine Verwaltung und Justiz in den neuen Bundesländern marode Wirtschaft und eine zerstörte Umwelt hinter- schnell funktionsfähig werden. Auf allen drei Feldern lassen hat. bleibt eine Frage von zentraler Bedeutung, das ver- trauensvolle Einvernehmen zwischen Bund und Län- Meine Damen und Herren, in den wenigen Wochen dern bei dieser Zukunftsaufgabe. und Monaten seit der deutschen Einigung haben wir alle feststellen müssen, wie groß das Ausmaß dieser Ich begrüße, daß es nach manchem Zögern jetzt bedrückenden Hinterlassenschaft tatsächlich ist. Da- möglich war, im Gespräch mit den 16 Ministerpräsi- bei geht es nicht nur um eine dep rimierende Bilanz denten der Bundesländer am 28. Februar zu guten von Wirtschaft und Verwaltung, von Infrastruktur und Vereinbarungen zu kommen. In voller Übereinstim- Bausubstanz, es geht vor allem — und dies wiegt mung haben wir gemeinsam eine tragfähige Basis für schwerer — um die immateriellen Schäden aus der die künftige Finanzausstattung der neuen Länder ge- Zeit der SED-Diktatur. Ich denke an die schlimmen schaffen. Bund und westliche Länder haben sich dar- Wunden, die über 40 Jahre kommunistischer Herr- auf verständigt, schon für dieses Jahr jeweils rund schaft im geistigen Leben und auch in den Seelen der 5 Milliarden DM zusätzlich bereitzustellen. Allein in Menschen hinterlassen haben. Gerade vor diesem dü- diesem Jahr stehen für öffentliche Investitionen in steren Hintergrund haben sich seit Herbst 1989 den neuen Bundesländern rund 50 Milliarden DM zur grundlegende Veränderungen und Wandlungen Verfügung. vollzogen. Ich will dazu noch ein Beispiel nennen, weil es hier Erstmals seit 58 Jahren leben die Menschen in den angesprochen wurde: den Ausbau des Telefonnetzes. neuen Bundesländern in Freiheit. Was es wirklich be- Die Deutsche Bundespost investiert in diesem Jahr deutet, frei zu sein, weiß wohl nur derjenige, der einer 6,5 Milliarden DM in den neuen Bundesländern. Da- Diktatur — auch einer kommunistischen Diktatur — mit wird u. a. eine halbe Million zusätzlicher Telefon- ausgeliefert war. Wer unter der Bespitzelung und anschlüsse möglich gemacht. Bis 1994 — also in ge- Drangsalierung durch die zu leiden hatte und rade vier Jahren — steigt die Zahl neuer Anschlüsse wer auch heute immer wieder die fortwirkende Ver- auf bis zu 1,2 Millionen jährlich. Die gesamte Investi- giftung durch diese Willkürherrschaft spürt, der weiß, tionssumme der Bundespost wird sich bis 1994 auf was es bedeutet, sich jetzt auf den Rechtsstaat verlas- über 30 Milliarden DM erhöhen. sen zu können. Und erstmals verfügen die Menschen in den neuen Bundesländern mit der D-Mark über Meine Damen und Herren, wenn man diese Zahlen, eine der stabilsten Währungen der Welt. Leere Regale diese Tatsachen nennt, kann man doch nun beim be- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 767

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl sten Willen nicht behaupten — wie die es hier tun —, möglichen wir über die bislang vorgesehenen 130 000 es gehe alles abwärts und es geschehe nichts. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hinaus in diesem Jahr weitere rund 150 000 Fördermaßnahmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der SPD: Bei McDonalds!) Zu den öffentlichen Investitionen kommt die um- fangreiche Förderung privater Investitionen, etwa — Wissen Sie, wie jemand im Deutschen Bundestag durch die Investitionszulage und Hilfen für Betriebs- sitzen und bei diesen Ausführungen sagen kann, das gründungen. Etwas Vergleichbares hat es in der Ge- seien „Arbeitsplätze bei McDonalds", verstehe ich schichte unserer Bundesrepublik ebenfalls nicht ge- nicht. Da kann ich nur sagen: Sie haben von der Wirk- geben. Auch das ist ein Aktivposten. lichkeit des Landes keine Ahnung! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Matthäus-Maier [SPD]: Der aber zu spät Meine Damen und Herren, wer jetzt immer noch kommt!) behauptet, das alles reiche nicht, der möge doch zur — Verehrte, gnädige Frau, Ihr Beitrag besteht da rin, Kenntnis nehmen, was der Ministerpräsident von daß Sie „Zu spät!" und „Zu wenig! " rufen. Hätten wir Brandenburg zu diesen Beschlüssen gesagt hat — ich heute die Ergebnisse Ihrer Wirtschaftspolitik vom Jahr zitiere — : „Jetzt sind wir dran!" — Gemeint sind die 1982, dann hätten wir gar nichts leisten können. neuen Länder und ihre Verwaltungen. — „Denn was nützt es uns, wenn man uns mit Investitionsmitteln (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — zuschüttet, wenn wir sie nicht umsetzen können?" Dr. Hauchler [SPD]: Es gibt heute mehr Ar- beitslose als zu unserer Zeit, Herr Kohl!) (Dr. Rose [CDU/CSU]: So ist es!) Wir beschleunigen die notwendige Umstrukturie- Meine Damen und Herren, bei diesem Umsetzen rung zudem durch ein „Gemeinschaftswerk Auf- müssen wir helfen; denn dies braucht ein vernünftiges schwung-Ost". Wir haben darüber mit den Gewerk- Zusammenwirken aller. Deshalb ist auch vorgesehen, schaften, mit der Wirtschaft, mit dem Handwerk, mit daß die Landräte und die Oberbürgermeister unver- allen führenden Kräften der Gesellschaft gesprochen. züglich regionale Aufbaustäbe bilden. In diesen Auf- Ich freue mich, daß wir in der letzten Woche hierfür baustäben sollen erfahrene Mitarbeiter der Arbeits- eine breite Zustimmung gefunden haben, eine Zu- verwaltung, des örtlichen Handwerks, der örtlichen stimmung, wie ich sie seit Jahren in dieser Form nicht - Wirtschaft, der Verbände, der Kammern und der Ge- erlebt habe. werkschaften mitwirken. (Zuruf von der SPD: Wo haben Sie Zustim- Ich will das auch im Blick auf die besondere Verant- mung?) wortung hervorheben, die wir gegenüber jungen Leu- ten in den neuen Bundesländern haben, die jetzt eine Das Gemeinschaftswerk ist als Sonderprogramm für Lehrstelle suchen. Ich bin sicher, daß es uns — ähnlich 1991 und 1992 angelegt. Es umfaßt 24 Milliarden DM, wie bei der Lehrstelleninitiative in der ersten Hälfte für dieses Jahr beläuft es sich auf 12 Milliarden DM. der 80er Jahre — durch gemeinsame Anstrengung In diesen Tagen, meine Damen und Herren, geht auch diesmal gelingt, ausreichend viele Ausbildungs- hiervon bereits ein Betrag in Höhe von 5 Milliarden plätze bereitzustellen. Wir werden alles tun, um das DM direkt an die kommunale Ebene, um — wie wir Ziel zu erreichen, daß jeder Jugendliche, der eine wollen und hoffen — vor Ort möglichst rasch Investi- Lehrstelle sucht, eine solche Chance auch erhält. tionen mit einer hohen Beschäftigungswirkung in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gang zu setzen. Die dazu notwendige Verwaltungs- vereinbarung wurde beim Treffen mit den Minister- Meine Damen und Herren, wenn ich mich daran präsidenten am 28. Februar geschlossen. erinnere — ich könnte das ja bei fast jedem Satz sa- gen — , wie Sie damals meine Lehrstelleninitiative in Die Bürgermeister und Landräte in den neuen Bun- der alten Bundesrepublik mit Häme und mit K desländern haben jetzt die Chance, ganz unverzüg- ritik begleitet und den Erfolg dann totgeschwiegen haben, lich Aufträge zu vergeben. Sie können bei der In- dann bin ich überzeugt, daß Sie auch jetzt schweigen standsetzung von Schulen, von Altersheimen, von werden, wenn die Lehrstelleninitiative in den neuen Krankenhäusern helfen, und Sie können damit vor Bundesländern erfolgreich ist. allem die Arbeitsplätze in den Bet rieben des Hand- werks und des Mittelstands vor Ort sichern und weiter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — ausbauen. Duve [SPD]: Der Bundeskanzler wird lang sam zur Leerstelle!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Toetemeyer [SPD]) Natürlich kommt es jetzt ganz wesentlich auf die Eigeninitiative und die Aktivität der unmittelbar Be- Die übrigen 7 Milliarden DM für 1991 stehen für troffenen an. Ebenso entscheidend sind die Beiträge Investitionen, für Qualifizierungs- und Arbeitsbe- der Wirtschaft und der Tarifpartner. Gerade die schaffungsmaßnahmen zur Verfügung. Die nochmals Tarif- partner können mit ihren Lohnabschlüssen zu einer verstärkte Investitionsförderung wird vor allem den klaren Zukunftsperspektive für Unternehmen und Ar- Ausbau der Verkehrswege und die Modernisierung beitsplätze beitragen sowie die Privatisierung des Wohnungsbestandes be- schleunigen. (Zuruf von der SPD: Was heißt das?) Alle diese Maßnahmen — dessen bin ich sicher — und zugleich für die dringend notwendige Lohndiffe führen schnell zu mehr Arbeitsplätzen. Zusätzlich er- renzierung sorgen. — Wenn Sie dazu wirklich eine 768 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Erläuterung nötig haben, dann frage ich mich, wo Sie Meine Damen und Herren, die Bundesregierung in den letzten Monaten, in den letzten Wochen waren, engagiert sich in solidarischer Weise für den Aufbau etwa bei der Diskussion um den Tarifabschluß im öf- in den neuen Bundesländern. Ich will hier noch ein- fentlichen Dienst, etwa beim Tarifabschluß im Metall- mal die Zahlen nennen: Im zweiten Halbjahr 1990, bereich. d. h. nach Einführung der D-Mark und der Währungs- und Wirtschaftsunion, war dies ein Betrag von 35 Mil- (Duve [SPD]: Warum sind Sie so nervös? liarden DM. Im Haushaltsentwurf für 1991 sind es Warum sind Sie nicht souverän, Herr Bun- noch einmal mehr als 50 Milliarden DM für den Be- deskanzler?) reich der neuen Bundesländer. Zu diesen Zahlen Sie wissen genau, daß wir hier ein Problem haben, das kommt mit dem Gemeinschaftswerk noch ein Betrag wir in zwei, drei Jahren lösen müssen, Schritt für von 12 Milliarden DM für 1991 hinzu. Ich erinnere hier Schritt. Wir sind in dieser Frage mit den Gewerkschaf- auch noch einmal an unsere Soforthilfen in Höhe von ten offenbar 5 Milliarden DM für die Haushalte der neuen Bundes- länder. (Duve [SPD]: Was soll denn diese Unsicher- heit?) Meine Damen und Herren, das heißt: In der Zeit von 18 Monaten, also seit dem Inkrafttreten der Wäh- mehr einig als mit Ihnen. rungs- und Wirtschaftsunion und der Einführung der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — D-Mark in ganz Deutschland, in der Zeit vom 1. Juli Duve [SPD]: Sie haben doch eine feste Rede; 1990 bis zum Ende dieses Jahres, macht dies insge- an der können Sie doch bleiben! — Gegen- samt einen Betrag von knapp über 100 Milliarden DM rufe von der CDU/CSU: Schreihals!) aus. Ich frage Sie nun wirklich: Wann je in der deut- schen und in der europäischen Geschichte gab es eine — Lassen Sie ihn doch sprechen, meine Damen und ähnlich große Kraftanstrengung wie die, die wir ge- Herren! Es ist besser, er ist hier so laut, als zu meinsam und mit allgemeiner Zustimmung jetzt für Hause. unsere Landsleute im östlichen Teil Deutschlands un- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und ternehmen? der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Hause darf er nicht! — Zuruf des Abg. Duve [SPD]) Bei aller Kritik, daß es an diesem oder an jenem Punkt immer noch zuwenig sei, will ich doch darauf hinwei- — Das gefällt Ihnen, weil es zutreffend ist! sen, daß wir eine Größenordnung erreicht haben, die (Heiterkeit — Duve [SPD]: Ich weiß, daß Sie die wenigsten in dieser Weise für jetzt möglich gehal- aus Erfahrung sprechen, Herr Bundeskanz- ten haben. Wir haben das geschafft. ler!) (Beifall bei der CDU/CSU) Auf dem schwierigen Feld der Eigentumsfragen in Wir wissen aus eigener Erfahrung, daß dieses Geld den neuen Bundesländern kommt es darauf an, die für sich allein nicht das leistet, was es leisten soll, berechtigten Interessen früherer Eigentümer und die wenn wir bei den Strukturen, vor allem in der Verwal- Notwendigkeit von Investitionen und neuen Arbeits- tung nicht ebenfalls die notwendige breite Unterstüt- plätzen gegeneinander abzuwägen. Dabei bleibt es zung geben. Wir versuchen auch als Bundesregierung bei dem Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung". in diesem Bereich unseren Anteil zu leisten. Die Bun- In diesem Spannungsfeld führt jede Regelung unver- desregierung entsendet eigene Mitarbeiter. Wir un- meidlich zu Härten. terstützen vor allem die östlichen Landkreise, Städte Aber, meine Damen und Herren, ich denke, wir und Gemeinden dabei, Fachkräfte für ihre Verwaltun- stimmen wenigstens in einem überein: Es muß ein gen aus den alten Bundesländern zu gewinnen. rechtsstaatlich angemessener Weg gefunden werden. Das entsprechende Personalkosten-Zuschußpro- Er muß zu tragfähigen Lösungen für die Menschen gramm für 1991 haben wir auf 100 Millionen DM ver- und für die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen doppelt. Damit können schon heute bis zu 2 000 Fach- Bundesländern führen. kräfte in die Kommunen und Landkreise der neuen Vor diesem Hintergrund und im Blick auf die wirt- Bundesländer entsandt werden. Die zentrale Anlauf- schaftlichen Erfordernisse in den neuen Bundeslän- stelle in Berlin soll bei dieser Vermittlung helfen. dern hat sich die Bundesregierung für eine großzü- Mein dringender Wunsch ist es, daß die neuen Bun- gige Vorfahrtregelung für Investitionen entschieden. desländer jetzt ihrerseits den Fachkräftebedarf mittei- Investitionen in neue Arbeitsplätze können in Zukunft len; in diesem Bereich gibt es noch eine ganze Menge wesentlich schneller als bisher durchgeführt werden. zu tun. Wenn der Bedarf genauer erkannt wird, kann Für diejenigen früheren Eigentümer, die in diesen noch gezielter und noch wirkungsvoller geholfen wer- Fällen — das sage ich mit Bedacht — nur noch eine den. Entschädigung erhalten, ist dies zweifelsohne eine Im Blick auf die besonders schwierige Personalsi- Härte. In der gegenwärtigen Situation, die in nahezu tuation im Bereich der Justiz hat das Bundeskabinett jeder Hinsicht einmalig und ungewöhnlich ist, müssen auf Vorschlag des Bundesjustizministers ein Sofort- jedoch die Sozialbindung des Eigentums und damit programm von jährlich 120 Millionen DM für die das hohe Interesse der Allgemeinheit an Arbeitsplät- nächsten 3 Jahre beschlossen. In Zusammenarbeit mit zen und Investitionen Vorrang haben. den westlichen Bundesländern können somit jetzt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sehr rasch bis zu 2 300 Richter, Staatsanwälte und ordneten der FDP) Rechtspfleger in die neuen Bundesländer entsandt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 769

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl werden. Ich gehe davon aus, daß auch die westlichen Menschen in den neuen Bundesländern. Ich habe Bundesländer vergleichbare Anstrengungen unter- auch Verständnis für manches Wo rt, das ich in der nehmen, um den Verwaltungsaufbau in den neuen Sache letztlich nicht für angemessen halte. Aber ich Ländern zu beschleunigen. habe Verständnis dafür. Dies ist eine Situation, in der Dies alles sind Tatsachen, und dies alles wird dazu Menschen eben so reagieren. Ich habe allerdings beitragen, daß wir ungeachtet der aktuellen Schwie- überhaupt kein Verständnis für so manches unbe- rigkeiten aus dem Tal herauskommen können. dachte und auch belehrende Wo rt aus den westlichen Bundesländern zu unseren Landsleuten in den neuen Manche Schwierigkeiten, die den Weg der alten Bundesländern. Bundesrepublik zu Wohlstand und sozialer Sicherheit vorübergehend begleitet haben, erleben wir auch Man muß Verständnis füreinander haben. Man jetzt. Aber diejenigen, die die Dinge damals und muß miteinander, nicht übereinander sprechen. Wir heute vergleichen, sollten nicht vergessen, daß wir werden dabei erkennen, daß wir in 40 Jahren in vie- von der Zeit der Währungsreform 1948 bis in die 50er lem getrenntere Wege gegangen sind, als manche von Jahre hinein brauchten, um den Durchbruch zu erzie- uns gedacht hatten. Ich selbst sehe in Gesprächen len. Heute haben wir diese Zeit nicht. Wir müssen immer wieder deutlich, wie sehr wir uns — das soll schneller vorankommen und, wo immer möglich, noch man doch zugeben; das ist doch keine Schande — gezielter handeln. Wir haben aber in den vergange- auseinandergelebt haben und wie notwendig es jetzt nen fünf Monaten schon ein gutes Stück des Weges ist, weit über das Materielle hinaus aufeinander zuzu- zurückgelegt. gehen und in der menschlichen Dimension das Mit- einander zu gewinnen. Ich will, weil mancher dies bereits vergessen zu haben scheint, hier einmal folgendes sagen: Im ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie gangenen Jahr wurden wir von vielen doch zu einem des Abg. Schulz [Berlin] [Bündnis 90/ langsameren Tempo gedrängt. Im vergangenen Jahr GRÜNE]) wurde uns doch gesagt: Die Währungs- und Wirt- Unsere Landsleute in den westlichen Bundeslän- schaftsunion kommt viel zu früh. Im vergangenen dern haben gewiß Grund — auch das darf gesagt wer- Jahr wurde doch gesagt: Diese Eile ist dem ganzen den — , auf die Leistungen in den letzten 40 Jahren, Thema nicht gemäß. Nun frage ich Sie in diesen Ta- die die Bundesrepublik Deutschland prägten, stolz zu gen der Ratifikation des Zwei-plus-Vier-Vertrages sein. Aber wir sollten gerade jetzt immer wieder deut- im Obersten Sowjet: Glauben Sie ernsthaft, daß wir lich machen, daß die schwierige Lage der Deutschen diesen Vertrag heute noch so bekommen würden? in den neuen Bundesländern nicht etwa Folge gerin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geren Könnens oder mangelnden Fleißes ist. Sie ist Es ist wahr: Wenn wir den Ratschlägen der SPD das Ergebnis von 40 Jahren sozialistischer Mißwirt- gefolgt wären, hätten wir heute einen Teil unserer schaft. Probleme nicht, aber wir stünden bei der deutschen (Beifall bei der CDU/CSU) Frage auch nicht dort, wo wir heute sind: Wir hätten die Teilung noch nicht überwunden. Ich möchte uns alle auffordern, daß wir — auch viel- leicht im Umgang miteinander hier im Haus — im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bewußtsein unserer Zusammengehörigkeit mit mehr Wir haben — das nehme ich für uns in Anspruch — Takt und Einfühlungsvermögen aufeinander zuge- richtig gehandelt, indem wir zum frühestmöglichen hen. Zeitpunkt die staatliche Einheit unseres Vaterlandes wiederherstellten. (Dr. Götte [SPD]: Auf einmal!) Meine Damen und Herren, jeder von uns weiß, wie — Das war immer meine Position. Ich weiß nicht, was sehr diese tiefgreifenden Veränderungen die Men- daran neu ist. schen betreffen, betroffen machen und aufwühlen. Es Wie im bisherigen Bundesgebiet, so hat jetzt in ganz kann doch jeder nachvollziehen, was sich in vielen Deutschland jeder Anspruch auf den Beistand der Familien vollzieht, wenn gefragt wird: Werde ich, Gemeinschaft, auf Schutz und soziale Sicherheit. Das wenn ich jetzt meinen Arbeitsplatz verliere, einen gilt bei Renten und Gesundheitsversorgung ebenso neuen Arbeitsplatz bekommen? Werden meine Kin- wie im Falle von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit oder bei der eine Lehrstelle finden? Bleibt die Wohnungsmiete Mieterhöhungen. Nicht alles, was sich über 40 Jahre für unsere Familie bezahlbar? Das sind die selbstver- auseinanderentwickelt hat, läßt sich schnell und rei- ständlichen Fragen im privaten Leben von vielen. bungslos zusammenfügen. Deswegen ist ein Prozeß Mit solchen Fragen verbunden sind zugleich große des Umdenkens notwendig. Das ist, wie jeder von uns Hoffnungen auf eine schnelle Besserung der Lage und weiß, ein schwieriger Prozeß. Erwartungen — auch das habe ich in den großen Ver- Die Menschen in den neuen Bundesländern, die anstaltungen oft genug gesagt — , die sich eben nicht lange genug unter Vormundschaft standen, müssen in wenigen Wochen oder Monaten erfüllen lassen. jetzt Eigeninitiative entwickeln. Es wird von ihnen Ich habe Verständnis dafür, daß es vielen, die ganz erwartet, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. unmittelbar betroffen sind, schwerfällt, sich in Geduld All dies kommt nicht über Nacht; denn das planwirt- zu fassen. Jene, die auf der Sonnenseite deutscher schaftliche System hat in Jahrzehnten Eigeninitiative Geschichte einen ganz anderen Weg gehen konnten, unterdrückt und Leistungsbereitschaft zerstört. Aber, sind nicht die richtigen Ratgeber, um von Geduld zu meine Damen und Herren, wir können noch so viel reden. Ich verstehe die drängende Ungeduld der Geld zur Verfügung stellen: Die Neuorientierung der 770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Menschen ist unerläßlich, wenn die Verbesserung der lität nehmen wir zusammen mit Japan weltweit eine Lebensverhältnisse erreicht werden soll. Spitzenposition ein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Chancen dafür — dies sage ich bewußt nicht - zuletzt nach der Rede, die ich gestern hier hörte — Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundeskanzler, ge- sind unverändert günstig; denn uns gemeinsam statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten kommt die erfreuliche wirtschaftliche Verfassung der Dr. Graf Lambsdorff? bisherigen Bundesrepublik zugute. Es ist ja schon erstaunlich — wenn ich das einmal sagen darf —, daß bei der Generaldebatte über den Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Nein. Gesamthaushalt das Thema: Wie präsentiert sich ei- Die Beschäftigung in den bisherigen Bundeslän- gentlich die alte Bundesrepublik in diesem Augen- dern ist so kräftig gestiegen wie zuvor nur ein einziges blick? bisher ausgespart wurde. Herr Kollege Vogel, Mal, nämlich Mitte der 50er Jahre. wenn Sie sich die Katastrophengemälde, die Sie in Allein im vergangenen Jahr, meine Damen und den letzten acht Jahren entworfen haben, jetzt einmal Herren, gab es annähernd 700 000 zusätzliche Ar- anschauen, dann verstehen Sie, daß ich das Katastro- beitsplätze. Die Arbeitslosigkeit ist zurückgegan- phengemälde, das Sie jetzt für die nächsten Jahre im gen. Blick auf die neuen Bundesländer malen, nicht so ernst nehme. Sie haben sich immer getäuscht, und Sie (Zurufe von der SPD) werden sich auch jetzt täuschen. — Sie mögen ja das alles für falsch halten, aber wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Sie aus dem Saal hinausgehen und mit den Bürgern Dr. Vogel [SPD]: Sie haben sich getäuscht, im Ruhrgebiet oder anderswo sprechen, mein Lieber! Von Täuschen verstehen Sie (Zuruf von der SPD: Machen Sie das mal! — etwas! — Weitere Zurufe von der SPD) Matthäus-Maier [SPD]: „Steuerlüge" sagen die dann!) — Lieber Herr Kollege Vogel, Sie wissen, daß sich die alte Bundesrepublik — die alten Bundesländer — dann werden Sie feststellen, daß diese Zahlen stim- heute wirtschaftlich in einer Form präsentiert, die viel- men und die Menschen dies so empfinden. leicht mit Ausnahme Japans, wohl keinen Vergleich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- in der ganzen Welt findet. Ich sage ja nun nicht: Das ist ordneten der FDP) der Erfolg dieser Bundesregierung oder der Koalition. Wir haben gleichzeitig das System sozialer Sicher- Es ist der Erfolg der Menschen, die hier leben; der heit bei den Renten und bei der Gesundheitsversor- Unternehmer genauso wie der Gewerkschafter, der gung reformiert. Für Familien und Mütter haben wir ebsräte und der Arbeitnehmer, der Beamten und Betri die Sozialleistungen verbessert und für Eltern den Er- aller anderen. ziehungsurlaub eingeführt. Nur: Es waren doch die gleichen fleißigen Deut- Dies alles, meine Damen und Herren, ist das Ergeb- schen in der alten Bundesrepublik, die bis 1982 solche nis einer Politik mit Augenmaß; vor allem aber — ich Ergebnisse nicht erzielt haben. Folglich hat doch die sage es noch einmal — das Ergebnis des Leistungswil- Politik etwas damit zu tun. lens und der Leistungskraft der Menschen in unserem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Land. Meine Damen und Herren, das Fundament der Mit Ihrer Wirtschaftspolitik hätten wir doch die Lei- Sozialen Marktwirtschaft, auf dem wir alle stehen stungsfähigkeit nicht erreichen können, die wir jetzt und auf dem die Leistungsfähigkeit unseres Landes erreicht haben. beruht, ist auf das engste mit der Solidität der Staats- (Duve [SPD]: Wer war eigentlich Wirtschafts finanzen verbunden. Das galt und gilt auch und ge- minister damals? — Dr. Vogel [SPD] [zu Abg. rade angesichts der außergewöhnlichen Anforderun- Dr. Graf Lambsdorff gewandt]: Das geht wie gen im Gefolge der deutschen Einheit. Dies gilt selbst- der auf Sie!) verständlich ebenso für die jetzigen Entscheidungen. Die finanziellen Verpflichtungen außerhalb der deut- — Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben schen Grenzen nehmen erheblich zu, und zwar in doch immer gesagt und vertreten dies doch jetzt auch doppelter Hinsicht. Vor allem zwei Bereiche will ich als ein Argument gegen mich: Es kommt auf den nennen: Kanzler an! Den haben doch Sie in jenen Jahren ge- stellt. Weichen Sie doch jetzt nicht aus! Ich nenne zunächst die finanzielle Belastung aus dem Golfkrieg. Hierfür waren 1990 und sind im ersten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Quartal 1991 zusammen über 15 Milliarden DM auf- ordneten der FDP) zubringen. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, ha- ben aus den bekannten verfassungsrechtlichen Grün- Sie können doch nicht dem Kanzler alles Schlechte in den keine deutschen Soldaten an den Golf entsandt. die Schuhe schieben und all das, was positiv ist, ver- Gerade deshalb ist es für mich selbstverständlich, daß schweigen. Sie müssen schon einigermaßen in der das wirtschaftlich starke Deutschland seinerseits ei- Logik der Argumentation bleiben. nen spürbaren Solidaritätsbeitrag leistet; denn am Ich sage Ihnen noch einmal, weil Sie es so gern Golf kämpften unsere Freunde und Partner — allen hören: Bei Wachstum, Beschäftigung und Preisstabi- voran die Amerikaner, die Briten und die Franzo- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 771

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl sen — auch dafür, daß wir, die Deutschen, morgen in Mittel-Ost- und Südosteuropas, die, wie jeder weiß, einer friedlichen Welt leben können. im Augenblick fast völlig zusammengebrochen sind. Wir alle wissen, daß im Comecon die Betriebe und die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Unternehmen in der früheren DDR nahezu komplett ordneten der FDP) auf diesen Absatzmarkt eingerichtet waren und daß Herr Kollege Vogel, ich hätte eigentlich erwartet, ein Zusammenbruch dieses Marktes für die Bet riebe- daß Sie hier einmal zu der Frage Stellung nehmen, ob und für die Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern die SPD gegen diesen Solidaritätsbeitrag ist schwere Folgen haben muß. Gleich werden Sie durch (Sehr wahr! bei der CDU/CSU) Zahlen hören, daß dies so ist. und wie Sie — für den Fall, daß Sie dies so ausspre- Die Bundesregierung hatte damit gerechnet, daß chen — international begründen wollen, daß die der Export aus der damaligen DDR in die sogenannten Deutschen auf der einen Seite im militärischen Be- Staatshandelsländer, vor allem in die Sowjetunion, reich keinen Beitrag leisten und dann auf der anderen zwar nicht in der früheren Höhe von 30 Milliarden Seite als eines der drei wirtschaftlich stärksten Länder DM, aber doch zu einem guten Teil aufrechterhalten der Welt auch noch die wirtschaftliche Unterstützung werden könne. Lassen Sie mich Zahlen nennen: Für versagen. Glauben Sie denn im Ernst, daß eine Ihrer das Jahr 1990 betrug der Export der früheren DDR, der sozialistischen Bruder- oder Schwesterparteien in jetzigen neuen Bundesländer, in den RGW-Raum Europa für eine solche Argumentation Verständnis 36,4 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, diese hätte? Zahl entsprach einer Steigerung um 22 % gegenüber dem Jahr 1989. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Bohl [CDU/CSU]: So ist es!) Sie haben heute — ich kann das nur begrüßen und unterstützen — im Hinblick auf manche Äußerungen Die Zahl im Jahr 1990 war nicht geringer als im Jahr im Ausland gegen die Deutschen nicht nur gute For- 1989, sie ist vielmehr gestiegen. mulierungen gefunden, sondern ganz überzeugend Wenn ich speziell die Sowjetunion hervorhebe dargelegt, daß diese Vorbehalte falsch sind. Ich be- — das ist der wichtigste Brocken — , dann entsprach danke mich dafür. Ich finde es gut, wenn das der der Export dorthin im Jahr 1990 21,8 Milliarden DM. Oppositionsführer hier so ausspricht. Das ist gegenüber 1989 eine Steigerung um 32 % ge- wesen. Dies bedeutet, daß die Exporte aus dem Raum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der früheren DDR nach Osteuropa und in die Sowjet- Meine Damen und Herren, die Art und Weise aber, union 1990 nicht zurückgegangen waren. wie gestern Ministerpräsident Lafontaine beispiels- weise (Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Vergleichen Sie doch mit heute!) (Zuruf von der CDU/CSU: Wer ist denn — Ich komme ja gerade darauf zu sprechen. Warten das?) Sie doch erst einmal ab! Die Argumentation muß doch zu diesem Thema sprach, schließlich von Punkt zu Punkt weitergeführt wer- (Zuruf von der SPD: Das war sehr gut!) den. hat sich sehr von dem unterschieden, was Sie heute Hierzu haben Aufträge beigetragen, die im Blick gesagt haben. auf das Ende 1990 auslaufende Transferrubelsystem vorgezogen wurden. Richtig ist, daß im Blick auf die (Bohl [CDU/CSU]: Wie wahr!) Umstellung des Handels mit den osteuropäischen Herr Kollege Vogel, Sie sollten den deutschen Bür- Ländern auf Devisenbasis ab 1991 allgemein mit ei- gern und Bürgerinnen schon sagen, ob Sie ernsthaft nem Rückgang des RGW-Handels gerechnet wurde. glauben, daß angesichts einer Gemeinschaftsaktion Sie haben vorhin eine Kleine Anfrage der SPD zi- mit Zustimmung der Vereinten Nationen gegen ein tiert. Ich darf das aufnehmen. Damals, am 24. Oktober Regime, das zutiefst verbrecherische Handlungen be- 1990, hat die Bundesregierung gesagt: gangen und das internationale Recht gebrochen hat, Ein zunächst spürbarer Rückgang des Handels Deutschland beiseite stehen und sagen kann: Wir lei- mit der UdSSR und den anderen RGW-Ländern sten weder Unterstützung durch Soldaten, noch sind ab 1991 nach Übergang des Handelsverkehrs auf wir bereit, einen finanziellen Beitrag zu leisten. Das Weltmarktpreise und konvertible Währung ist kann doch nicht ernsthaft deutsche Politik sein. nicht auszuschließen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) — Die Experten haben jedoch nicht mit dem nahezu Wir wissen, daß diese Ausgabe von 15 Milliarden vollständigen Zusammenbruch des sogenannten Ost- DM nicht vorhersehbar war. Gerade sind hier dazu handels gerechnet. Dies erklärt sich daraus, daß Ausführungen gemacht worden, die ich überhaupt — zusätzlich zur Umstellung des RGW-Handels auf nicht verstehen kann. Ich wiederhole: Es war nicht Devisenbasis — die internen Probleme der Sowjet- klar, in welche Dimension dieser Betrag gehen würde. union eine viel stärkere Rolle gespielt haben, als dies Wir haben schnell gehandelt, und zwar aus Gründen, generell vorherzusehen war. die jeder verstanden hat. Dieses Geld fehlt uns aber Meine Damen und Herren, das ist für mich persön- jetzt für andere, dringliche Aufgaben. lich ein wichtiger Punkt, weil vor allem ich mich hier Ich nenne ein zweites Feld, das Sie hier ganz zu angesprochen fühle: Ich habe noch vor wenigen Mo- Unrecht karikiert haben, nämlich die deutschen Ex- naten die Aufrechterhaltung von wenigstens der porte in die Sowjetunion und in die anderen Länder Hälfte des Exportvolumens für realistisch gehalten. 772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Ich stand mit dieser Meinung nicht allein. Die meisten Bundesminister Möllemann war in diesen Tagen im der Experten — ich habe nie für mich in Anspruch Auftrag der Bundesregierung in Moskau mit dem Ziel, genommen, ein Experte auf diesem Feld zu sein — kurzfristig neue Aufträge im Umfang von rund 9 Mil- haben in einer Zahlendimension gerechnet, die knapp liarden DM zu vereinbaren. So wie die Dinge liegen, an die Hälfte des früheren Volumens herankommt. hoffen wir, daß dies zu einem guten Abschluß Das war aber immerhin eine Dimension von über 10, kommt. - vielleicht sogar bis 15 Milliarden DM. Wenn Sie mich Aber — dieses Aber muß ich korrekterweise hinzu- fragen, ob ich mich an einem Punkt geirrt habe, dann fügen — diese neuen Vertragsabschlüsse sind nur ist es genau dieser Punkt. möglich, wenn wir unsererseits bereit sind, praktisch (Zurufe von der SPD) vollständige Exportbürgschaften zu übernehmen. Wir werden dies tun, weil wir zum einen hoffen, daß dies — Aber Entschuldigung, das sage ich doch jeden Tag. der inneren Situation, d. h. der Stabilisierung der So- Sie haben mich doch danach gefragt, an welcher Posi- wjetunion zugute kommt und weil es zum anderen um tion ich mich geirrt hätte. Ich habe mich an dieser den Erhalt von Arbeitsplätzen und Bet rieben in den Position geirrt. neuen Bundesländern geht. Aber, meine Damen und Herren, wer behauptet, die jetzige Krise im Handel mit der Sowjetunion — das ist (Duve [SPD]: Lieber Hermes mit Moskau als Hermes mit Bagdad!) doch Ihre Behauptung — sei eine Folge der Wäh- rungsunion und der Vereinigung Deutschlands, der Aber ich füge hinzu, dies bedeutet, daß der Bund ein stellt die Dinge schlicht auf den Kopf. zusätzliches Risiko dabei trägt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Dr. Solms [FDP]: So ist es!) Dr. Vogel [SPD]: Wer hat denn das behaup tet?) Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal, die unvorhergesehene Belastung infolge des Golfkrie- Es waren die Länder des ehemaligen Ostblocks, die ges und die dramatischen Ausfälle im Osthandel ma- ihren Außenhandel mit Wirkung zum Beginn dieses chen zusätzliche Aufwendungen in zweistelliger Mil- Jahres auf harte Devisen umgestellt haben. Aus- liardenhöhe unumgänglich. Diese Beträge stehen für schlaggebend für die jetzigen Probleme ist vor allem zusätzliche Maßnahmen zugunsten der neuen Bun- die innere Entwicklung der Sowjetunion. desländer nicht mehr zur Verfügung. Die Bundesregierung hat bereits Ende des letzten Heute oder gestern wurde in der Debatte gesagt, Jahres zusätzliche Beschlüsse gefaßt, um Exporte aus wir hätten das Geld ohnehin nicht zur Verfügung stel- den neuen Bundesländern in die Sowjetunion noch len können. Meine Damen und Herren, wenn wir höher abzusichern. Das heißt für unseren Haushalt, diese Ausgabenposition nicht hätten, stünde das Geld daß wir uns jetzt noch stärker als bisher zur Absiche- natürlich zur Verfügung. rung des Risikos in diesem Bereich verpflichten. Es gibt dafür gute Gründe; deswegen tun wir es ja auch. Vor diesem Hintergrund standen wir in der Koali- Es geht um die Kontinuität im Handel mit der Sowjet- tion nach den bereits vorgenommenen beachtlichen union, der für uns und für die Sowjetunion auch in Einsparungen im Bundeshaushalt 1991 vor der Alter- Zukunft von großer Bedeutung ist. native, entweder die Nettokreditaufnahme oder die Steuern zu erhöhen. Der auf den ersten Blick beque- Aber, meine Damen und Herren, es geht natürlich mere Weg über eine Erhöhung der Nettokreditauf- in letzter Konsequenz auch um Hunderttausende von nahme kam nicht in Frage. Im Blick auf Zinsen und Arbeitsplätzen. Fast 40 % aller Exporte der früheren Geldwertstabilität dürfen wir den Kapitalmarkt nicht DDR gingen in diesen Raum. Wenn es uns gelungen stärker in Anspruch nehmen. Ich würde mir über- wäre, den Verlust von Arbeitsplätzen in diesen Jahren haupt wünschen, daß dies in der bundesstaatlichen stärker zu bremsen, dann hätten wir es jetzt in vieler Ordnung für alle Ebenen unserer Republik gelten Hinsicht leichter. würde. (Dr. Gysi [PDS/Linke Liste]: Das wäre doch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) drin gewesen! — Dr. B riefs [PDS/Linke Li ste]: Warum haben Sie das nicht gemacht!) Ich weiß wohl, daß in einer Reihe von Bundesländern der Weg wahrscheinlich gar nicht anders zu gehen ist. — Ich komme gleich auf den Punkt zu sprechen. Ich sage: in einer Reihe von Bundesländern; auch hier Ich zeige dies an einem konkreten Beispiel auf, gibt es Unterschiede. Aber es gibt noch mehr Städte nämlich an der Tatsache, daß die fünf größten Werften und Gemeinden, die sich sehr wohl in diesen Jahren in Mecklenburg-Vorpommern zu über 60% von so- bei der Nettokreditaufnahme einmal etwas zurück- wjetischen Aufträgen abhängen. Davon sind etwa halten könnten, um das Ganze im Blick auf die Geld- 30 000 Arbeitsplätze betroffen. entwicklung zu stabilisieren. Sie fragen, was wir gemacht haben. Bundesminister (Dr. Hauchler [SPD]: Vermögensteuer!) Möllemann war kürzlich in — — — Ich komme noch auf diesen Punkt. Lassen Sie doch (Zurufe von der SPD: Aha! — Gegenruf des einmal die Rede auf sich wirken; sie wirkt ja offen- Abg. Bohl [CDU/CSU]: Niveaulos!) sichtlich. — Ich weiß gar nicht, was das eigentlich soll. Wollen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — wir hier ein ernsthaftes Gespräch miteinander führen Lachen bei der SPD — Duve [SPD]: Wir sind oder wollen wir nur noch Brett gegen Brett halten? Zeugen der Wirkung Ihrer Rede!) Deutscher Bundestag — 12. 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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Angesichts der notwendigen Rücksichtnahme auf bei jeder Gelegenheit erklärt: Wir wollen nicht die Zinsen und Geldwertstabilität war für uns nur der Grundstruktur unseres Selbstverwaltungssystems än- Weg über eine Steuererhöhung verantwortbar. Un- dern. Es ist eines der großartigen Ergebnisse deut- sere Kernfrage war: Wie können Rückwirkungen auf scher Geschichte, daß wir unabhängige Gemeinden die konjunkturelle Entwicklung so gering wie mög- haben, die mit einer gewissen Grundsubstanz ausge- lich gehalten werden? Denn über eines besteht kein stattet sind. Wir wollen nicht die Gemeinden zu Kost-- Zweifel: Nur mit soliden Staatsfinanzen und einer gängern machen. Wir wollen, daß sie ihr eigenes weiter positiven Wirtschaftsentwicklung können wir Recht haben. die anstehenden Aufgaben in den neuen Bundeslän- Aber das bedingt doch, Herr Kollege Vogel, daß wir dern bewältigen. Entscheidend ist dafür, daß wir auch über diese Fragen miteinander reden. auf den anderen Gebieten das wirtschaftlich und poli- tisch Notwendige voranbringen können. Ich nenne (Dr. Vogel [SPD]: Das steht doch alles bei dabei ausdrücklich die vereinbarte Steuerreform zu- Ihnen in der Koalitionsvereinbarung!) gunsten von Familien, die notwendigen Verbesserun- gen im Umweltschutz und auch — jetzt komme ich zu — Entschuldigung, dort steht genau, daß wir darüber diesem Thema, Herr Kollege Vogel — die Fragen der reden Unternehmensteuerreform. (Dr. Vogel [SPD]: Dort steht, daß die Vermö- Ich verstehe eigentlich nicht, warum wir zu einem gensteuer zum frühestmöglichen Zeitpunkt Zeitpunkt, zu dem das Gespräch zwischen Bund, Län- abgeschafft werden soll!) dern und Gemeinden, das hier ja zwingend notwen- dig ist, noch gar nicht stattgefunden hat, bereits wie- und daß wir im Gesamtkontext auch bezüglich Ver- der Schützengräben ausheben. mögensteuer und Gewerbekapitalsteuer mit den Ge- meiden und mit den Ländern sprechen müssen. Das (Dr. Vogel [SPD]: Das steht in der Koalitions ist doch keine Sache, die man so einfach über den vereinbarung! Sie haben es ja hineinge Tisch schiebt, sondern das ist eine Sache, an der wir schrieben!) gemeinsam arbeiten müssen. — Entschuldigung, ich kann es Ihnen ja vorlesen. Sie wissen genau, daß das so nicht stimmt, wie Sie es Ich möchte Sie herzlich einladen, daß wir — bevor dazwischenrufen. Sie, und zwar aus ganz anderen Gründen, weil Sie nämlich wieder den alten sozialistischen Neidkom- (Dr. Vogel [SPD]: „Zum frühestmöglichen plex durchs Land tragen wollen, Zeitpunkt" steht darin!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Worum geht es denn, meine Damen und Herren? Das ist doch eigentlich keine Frage, über die wir uns bereits Positionen beziehen, und das sage ich an alle, streiten müßten. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, die Gespräche unmöglich machen — in dieser Frage daß am 31. Dezember 1992 der große europäische miteinander die notwendigen Gespräche führen. Wir Binnenmarkt vollendet wird. Er ist mit 340 Millionen stehen doch diesbezüglich gar nicht unter Zeit- Menschen der stärkste Wirtschaftsraum der Welt. Die druck. Bundesrepublik Deutschland und auch die neuen Bundesländer haben darin ihre besondere Zukunfts- Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: chance. Wahr ist auch — es gibt genügend Hinweise Die vorgesehenen Maßnahmen sind konjunkturell und Zahlen, die das belegen — , daß unser jetziges vertretbar, und sie berücksichtigen in besonderem Steuersystem vor allem im Blick auf die Unterneh- Maße die wirtschaftliche und steuerliche Leistungsfä- mensbesteuerung unseren Unternehmen nicht mehr, higkeit auch des einzelnen. Ich wiederhole: Es gab sondern weniger Chancen im Vergleich zu anderen nur die Alternative zwischen einer höheren Kreditauf- Ländern einräumt. nahme und höheren Steuern. Wir haben uns für den ganz gewiß schwierigen Weg der Steuererhöhung (Beifall bei der CDU/CSU) entschieden. Damit sind wir in der Lage, trotz unvor- Meine Damen und Herren, dies ist doch wahr. hersehbarer Zusatzbelastungen Aufträge, Produktion und Beschäftigung in den neuen Bundesländern zu (Widerspruch bei der SPD) fördern. Das bedeutet Wachstum in ganz Deutsch- Deswegen ist es richtig, daß die Unternehmen land. — das gilt übrigens für Arbeitnehmer wie für Arbeit- geber gleichermaßen — am Vorabend des Binnen- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und marktes, also Ende 1992, wissen müssen, was sie in Herren! In dieser Generaldebatte muß auch die Frage Zukunft erwartet. nach der Verantwortung des wiedervereinten Deutschlands in der Welt und in Europa gestellt wer- Wir haben doch nie gesagt, daß Ende 1992 die Un- den. Unsere Partner in der Welt fordern zu Recht, daß ternehmenssteuerreform in Kraft treten werde, son- das vereinte Deutschland künftig seinen Beitrag zu dern wir haben gesagt: Derjenige, der investiert, muß Sicherheit und Stabilität nicht nur in Europa, sondern um seine künftigen Belastungen wissen. auch außerhalb Europas leistet. Es geht darum, dem Das, was jetzt in Frage steht, bet rifft Themen, die Anspruch des Grundgesetzes zu genügen, in dem es alle angehen. Es geht doch nicht allein um das Thema heißt: Wir wollen als gleichberechtigtes Glied dem Vermögensteuer. Es geht auch um die Gewerbekapi- Frieden in der Welt dienen. Dabei wissen wir, daß talsteuer und um die finanzielle Ausstattung der deut- Friedenswahrung eine Aufgabe ist, die heute die schen Gemeinden. Ich selbst — die Kollegen der Kräfte jedes einzelnen Staates übersteigt. Wir können CDU, der CSU und der FDP gleichermaßen — habe diese Aufgabe nur gemeinsam bewältigen. 774 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Das Grundgesetz weist uns auch hier den Weg. Ich wir spätestens — das sage ich Ihnen voraus — im darf zitieren: Jahre 1993 in einer Bundestagssitzung über die Doku- Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens mente und die Ergebnisse der Regierungskonferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur Politi- einem System gegenseitiger kollektiver Sicher- heit einordnen; er wird hierbei in die Beschrän- schen Union zu entscheiden haben werden. Und es ist doch nun wirklich nicht denkbar, meine Damen und - kungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die Herren, daß wir ja sagen zur Politischen Union, daß eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Eu- wir — ich will das, und ich komme gleich noch einmal ropa und zwischen den Völkern der Welt herbei- auf das Thema zu sprechen — ja sagen zu mehr Rech- führen und sichern. ten für das Europäische Parlament, aber in Sachen Wir sind auf der Grundlage dieser Bestimmung unse- Verteidigung beiseite stehen. Das ist doch nicht denk- rer Verfassung Mitglied des Nordatlantischen Bünd- bar, das kann doch nicht deutsche Politik sein! nisses und der Westeuropäischen Union. Als Mitglied der Vereinten Nationen haben wir die Pflichten über- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nommen, die in der Charta der Vereinten Nationen Herr Kollege Vogel, selbstverständlich sind wir uns niedergelegt sind. Dazu gehören auch Maßnahmen — da stimme ich Ihnen zu — bewußt, daß Frieden und der kollektiven Sicherheit. Unsere Verfassung — aber Stabilität in der Welt nicht nur militärisch gesichert auch die deutsche Teilung — hat uns bei der vollen werden können. Der Griff zu diesem Zwangsmittel Wahrnehmung dieser Pflichten bisher Schranken auf- muß immer Ultima ratio bleiben. Das Schwergewicht erlegt; das ist eine historische Gegebenheit. muß auf vorbeugender Friedenssicherung liegen. Es Jetzt ist es das vereinte Deutschland, das in der geht in der Dritten Welt um die Festigung der wirt- Gemeinschaft der Völker der Welt steht. Das ist eine schaftlichen und sozialen Stabilität. Es geht um den neue Lage, und daraus müssen wir die verfassungs- Ausgleich von Konflikten mit religiösen, nationalen politischen Konsequenzen ziehen. Wir müssen sehen, und kulturellen Wurzeln. Es geht um politische Stabi- daß unsere Entscheidung vor allem als ein Prüfstein lität durch friedliche Konfliktlösungen. für die Ernsthaftigkeit unseres politischen Willens, die Gerade der Konflikt am Golf hat uns vor Augen Last der internationalen Friedenssicherung mitzutra- geführt, was es für den Frieden und damit auch für gen, angesehen werden wird. unsere eigene Sicherheit bedeutet, wenn irgendwo in Herr Kollege Vogel, ich habe Ihnen keinen Rat zu der Welt ein Rüstungspotential, das jedes Maß an geben. Aber meine Bitte ist, bevor Sie Festlegungen Selbstverteidigung überschreitet, angehäuft wird, —bis hin zu der doch sehr gewichtigen Festlegung (Gansel [SPD]: Durch Ihr Versagen in der durch einen Parteitag — treffen: Überlegen Sie wirk- Rüstungsexportpolitik! — Weitere Zurufe lich, ob das, was Sie heute hier genannt haben von der SPD) — wenn ich es richtig verstanden habe: Teilnahme der Bundeswehr lediglich an sogenannten Blauhelm wenn dort Androhung und Anwendung von Gewalt Missionen — , unserer internationalen Position ge- zum Mittel der Politik werden. Hieraus, meine Damen recht wird. und Herren, gilt es Konsequenzen zu ziehen, und wir ziehen diese Konsequenzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Ausgang des Golfkrieges hat dem Frieden neue Meine Damen und Herren, wir sollten sorgfältig Chancen eröffnet. prüfen, auch gemeinsam, wieweit eine Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Maßnahmen nach Übrigens, Herr Kollege Vogel: Sie haben gesagt, Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen, wie- Sie erwägten, einen Untersuchungsausschuß zu be- weit die Beteiligung der Bundeswehr an gemeinsa- antragen. Ich habe keine Bedenken dagegen. men Aktionen im Rahmen einer künftigen europäi- (Dr. Vogel [SPD]: Wunderbar!) schen Sicherheitsstruktur, beispielsweise der Westeu- ropäischen Union, möglich ist. Ich kann Ihnen nur sagen, er wird ein sehr erstaunli- ches Ergebnis zutage fördern. (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Zustimmung bei der CDU/CSU — Dr. Vogel Diese Beispiele sind gar nicht so neu. Im alten Bun- [SPD]: Das sage ich auch!) destag gab es vor langer Zeit einmal leidenschaftliche Debatten über die Europäische Verteidigungsge- Überhaupt möchte ich bei der Gelegenheit einmal meinschaft. sagen — das trifft weniger die Mitglieder des Hauses, aber einen Teil der deutschen und internationalen (Gansel [SPD]: Zur Verteidigung, aber nicht Öffentlichkeit — : Angesichts der Veröffentlichungen als Eingreiftruppe! — Weitere Zurufe von der in den letzten Wochen — Tag für Tag — , wer alles in SPD) den Irak geliefert hat, müßte eigentlich der eine oder —Ich denke schon, meine Damen und Herren, daß in andere Vorwurf gegen die Deutschen sehr rasch ver- diesen Wochen auch Leistungen zur Verteidigung stummen. Das will ich bei dieser Gelegenheit einmal von Frieden, Freiheit und Völkerrecht erbracht wur- sagen. den. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das bedeutet aber überhaupt nicht, meine Damen Und ich sage Ihnen auch: Sie müssen doch bei all und Herren, daß wir alle irgendein Verständnis für dem, was Sie jetzt tun — das ist natürlich Ihre Sache, jene hätten, die aus egoistischen, ja, zum Teil verbre- und ich respektiere Ihre Meinung —, bedenken, daß cherischen Gründen ihren Beitrag zum Anhäufen von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 775

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Waffenarsenalen oder zur Entwicklung von schreckli- Das ist ein Ergebnis auch unserer Politik, und auf chen Waffen geleistet haben. unseren Beitrag dürfen wir auch stolz sein. (Zustimmung bei der CDU/CSU — Dr. Vogel (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro- [SPD]: Genau darum geht es!) nenberg) Aber darüber können wir ja miteinander sprechen; Manche stellen jetzt — — wir sind gerade dabei, wie ich höre, in dieser oder der nächsten Woche die Gesetzgebung in diesem Haus (Zuruf von der SPD: Wann ist die NATO abzuschließen. dran?) (Dr. Vogel [SPD]: Den Bericht hätten wir — Ich weiß, Sie wollten immer aus der NATO raus, gern!) aber alle Ihre außenpolitischen Wege auf diesem Feld waren Irrwege. Wenn wir Ihnen gefolgt wären, hätten Wir haben uns bei dem Konflikt im Golf auf der wir gar nichts erreicht. Seite von Freiheit, Recht und Gerechtigkeit mit den Mitteln engagiert, die uns nach unserer Verfassung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zur Verfügung standen. Ich will bei dieser Gelegen- Auf Ihre Frage, ob wir die NATO brauchen, ist heit gern einmal sagen, weil so viel Falsches darüber meine Antwort klar: ja. Gerade wir Deutschen haben verbreitet wurde, daß unsere Verbündeten und Part- ein elementares Interesse daran, daß die stabilisie- ner dies ausdrücklich gewürdigt haben, egal, ob es rende und friedenswahrende Rolle des Bündnisses in sich um Präsident Bush, Staatspräsident Mitterrand Deutschland unangetastet bleibt. oder Premierminister Major handelt. Mit ihnen allen habe ich in dieser kritischen Zeit immer wieder ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sprochen, und in all unseren Gesprächen war deut- Ich sage dies angesichts der erfreulichen Entwicklung lich, daß sie erstens dankbar sind für die Solidarhilfe in Mittelost-, und Südosteuropa, auch in der Sowjet- aus Deutschland und — zum zweiten — daß sie wis- union. Die NATO braucht zu ihrer Existenzberechti- sen, daß wir in unseren Handlungsmöglichkeiten gung wirklich kein Feindbild. Sie gründet sich auf noch beschränkt sind. Aber wir alle, auch Sie in der gemeinsame Interessen und vor allem auf gemein- SPD, müssen dann, wenn wir über die Verfassungsän- same Werte. Dieses Bündnis hat den Wandel in Eu- derung sprechen, auch die Frage, die von dort kommt, ropa und in Deutschland entscheidend geprägt, ja mit beantworten: Seid ihr für die Zukunft bereit, auch herbeigeführt. Die NATO hat in ihrer Gipfelerklärung militärisch Solidarhilfe zu leisten? vom Juli 1990 in London die Konsequenzen aus dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wandel gezogen. Die dort in Auftrag gegebene Über- prüfung der Strategie und der Strukturen macht gute Es bieten sich jetzt nach dem Golfkrieg neue Chan- Fortschritte. Wir werden auf diesem Weg weiter vor- cen für dauerhaften Frieden in der Region durch eine angehen. Verhandlungslösung. Aber ich denke, die Ideen, Vor- stellungen und Elemente müssen vor allem aus der Eines der Kernstücke des gewandelten Verhältnis- Region selbst kommen. Es besteht auch die Notwen- ses zwischen Ost und West ist der Vertrag über die digkeit, aus der Region selbst einen Beitrag zum Auf- konventionellen Streitkräfte in Europa. Meine Da- bau zu leisten. men und Herren, wir alle haben ein überragendes Interesse daran, daß die noch bestehenden Hinder- Der Kollege Alfred Dregger hat vorhin mit Recht nisse im Blick auf die Ratifikation dieses Vertrages etwas gesagt, was ich aufnehmen will, auch ange- ausgeräumt werden und daß alle Signatarmächte den sichts einer Debatte, die in die Richtung läuft: Was Vertrag nach Buchstaben und Geist erfüllen. Unge- werdet ihr tun? Wir werden sicherlich einen Beitrag zu achtet der Fortschritte im Bereich der europäischen einer friedlichen Entwicklung leisten. Aber ich sage Sicherheit wissen wir, daß auch in Zukunft militäri- Ihnen auch, es ist jetzt an der Zeit, daß die reichen sche Risiken nicht auszuschließen sind. Deshalb muß Länder dieser Region ihren Beitrag für jedermann er- eine verantwortungsbewußte Sicherheitspolitik auch kennbar leisten, weiterhin militärische Vorsorgemaßnahmen zur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kriegsverhinderung und zur Verteidigung vorsehen. Das heißt, daß auch für die Zukunft die Rolle der Bun- und daß man dann darüber diskutiert, ob dieser Bei- deswehr von großer Bedeutung ist. Frieden und Frei- trag angemessen ist, bevor andere in diesem Zusam- heit gibt es nicht zum Nulltarif, und wir müssen in menhang wieder angesprochen werden. unserer Gesellschaft das Bewußtsein dafür wachhal- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ten, daß der Schutz unserer freiheitlichen Lebensord- nung jeden einzelnen Bürger unmittelbar angeht. Meine Damen und Herren, am 31. März werden wir Deswegen halten wir entschieden an der allgemeinen ein historisches Datum verzeichnen können. Wehrpflicht fest. (Zuruf von der SPD: Schon wieder eines!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- — Ja, das ist auch eins. Daß Sie jetzt diesen Zwischen- ordneten der FDP) ruf machen, zeigt nur, wie weit Sie von der Wirk lich- Die Soldaten unserer Bundeswehr leisten einen uner- keit entfernt sind. Ich spreche nämlich von der Auflö- setzlichen Dienst am Frieden für die Sicherung der sung der militärischen Struktur des Warschauer Pak- Freiheit. Gerade nach mancherlei Diskussionen der tes. Dies ist ein historisches Datum. letzten Wochen ist es wichtig, auch hier vor dem Fo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rum des Deutschen Bundestages noch einmal zu sa- 776 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl gen: Wir haben allen Grund, unseren Soldaten zu während unserer WEU-Präsidentschaft ab Sommer danken. dieses Jahres die Arbeiten weiter voranbringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Eine weitere wichtige Forderung an die gemein- same Außen- und Sicherheitspolitik ist für uns die Herr Präsident, meine Damen und Herren, Ziel der Erarbeitung gemeinsamer Rüstungsexportkontrol- 90er Jahre bleibt für uns die europäische Einigung. len. Ich denke, an diesem Punkt sind wir uns hier Wir wissen, nur eine einige und starke Europäische einig. Alle nationalen Anstrengungen, so notwendig Gemeinschaft kann auch in Zukunft politischer und sie sind, führen nur dann zum Erfolg, wenn sie auf wirtschaftlicher Anker unseres Kontinents sein. Wir gemeinsamer Ausrichtung beruhen und unseren ge- setzen deshalb unsere ganze Kraft dafür ein, daß meinsamen Interessen entsprechen. beide Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion sowie über die Politische Union Meine Damen und Herren, unsere Bemühungen im zum Erfolg geführt werden, daß die Europäische Ge- Rahmen der Regierungskonferenz über die Politische meinschaft zur Europäischen Union ausgebaut wird. Union gelten in besonderem Maße der Stärkung der Rechte und Kompetenzen des Europäischen Parla- Für uns Deutsche ist dabei wichtig — und ich werde ments. Es kommt hier die Stunde der Wahrheit für das immer wieder sagen — , daß das Ergebnis beider viele in EG-Europa: In der Frage, wie wir das Parla- Regierungskonferenzen bef riedigend ist und daß es ment, das im Sommer 1994 gewählt wird, mit Kompe- auch bei der Ratifikation als Ganzes gesehen werden tenzen ausstatten wollen, zeigt sich auch etwas von muß. Es ist für mich nicht akzeptabel, daß wir auf dem der Überzeugungskraft der europäischen Idee. Wir einen Feld Fortschritte erreichen, auf dem anderen haben Vorschläge eingebracht für die Wahl des Präsi- Felde aber nicht. Wer die Wirtschafts- und Währungs- denten und der Mitglieder der EG-Kommission, für union will — wir wollen dies — , muß auch die Politi- die Ausweitung der Rechte des Parlaments im Haus- sche Union wollen. Wer die Politische Union will, muß haltsbereich und bei den Außenbeziehungen und für auch die Wirtschafts- und Währungsunion wollen. Wir den Einstieg in eine echte Mitentscheidung des Par- nennen das die „Parallelität" der beiden Konferenzen. laments in der Gesetzgebung. Gemeinsam mit Frankreich haben wir diese beiden Konferenzen mit inhaltlichen Anstößen nach vorn ge- Schließlich ist die Einbeziehung der Kernbereiche bracht, wobei wir uns der Sensibilität und der Schwie- polizeilichen und justizpolitischen Handelns in die rigkeiten der anstehenden Themen in den einzelnen Gemeinschaftsverträge ein wichtiges Anliegen. Der Ländern wohl bewußt sind. Wegfall aller Grenzkontrollen innerhalb der Gemein- schaft ist Kern des Europäischen Binnenmarktes, ein Ich vermerke hier dankbar, daß gerade bei meinen Stück „Europa der Bürger". Gesprächen am Montag dieser Woche mit Premiermi- nister John Major deutlich wurde: Ungeachtet durch- Hieraus gibt es enorme Konsequenzen etwa im Be- aus beachtlicher Gegensätze in einzelnen Feldern der reich der inneren Sicherheit. Wir brauchen vordring- europäischen Politik nimmt der britische Premiermini- lich eine gemeinsame europäische Einwanderungs- ster die ganz klare Position ein, daß Großbritannien und Asylpolitik. Ich will jetzt schon warnend darauf nicht außerhalb dieser Gemeinschaft, sondern als eines hinweisen: Angesichts der kritischen Entwicklungen der Zentren Europas in dieser Gemeinschaft seinen in nicht wenigen Staaten Mittel-, Ost- und Südosteu- Platz sucht. Ich bin dankbar für diese klare Aussage. ropas ist die Frage eines gemeinsamen europäischen Asylrechts von entscheidender Bedeutung. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Meine Damen und Herren, unser deutscher Stand- Dr. Vogel [SPD]: Richtig!) punkt ist klar. Die Europäische Gemeinschaft muß mit Ich nenne ein anderes Beispiel, nämlich die Be- mehr Rechten ausgestattet werden, auch wenn dies kämpfung des organisierten internationalen Verbre- einen Einschnitt in die nationale Souveränität bedeu- chens, des Terrorismus und vor allem der Drogenma- tet. Das gilt beispielsweise für den Bereich der Außen- fia. Die neuesten Zahlen über den weltweiten Umsatz und der Sicherheitspolitik. Wir Europäer können un- der Drogenmafia, vor allem in den großen Industrie- sere Interessen in einer sich verändernden Welt nur nationen, zeigen, daß wir hier bereits Größenordnun- dann gemeinsam durchsetzen, wenn wir auch in die- gen des Jahresetats großer Industrieländer erreichen. sem Bereich vorankommen. (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Mein Gott!) Auf Grund eines Vorschlags, den Staatspräsident Mitterrand und ich eingebracht haben, beginnt sich in Ich bin ganz sicher, daß wir bei allem Sinn für födera- der Sicherheitspolitik ein Grundkonsens zu entwik- listische Strukturen und nationales Denken scheitern keln. Das wird noch viel Arbeit bringen, aber die werden, wenn wir nicht fähig sind, sehr bald eine Dinge bewegen sich. internationale Polizeiorganisation auf den Weg zu bringen, die hier tatkräftig zupacken kann. Das ist Wir wollen die Westeuropäische Union zu einem eine Voraussetzung für viele ganz wichtige Entwick- integralen Bestandteil des europäischen Einigungs- lungen. prozesses machen und sie zugleich zum echten euro- päischen Pfeiler im Atlantischen Bündnis ausgestal- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten. Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dies Die Verwirklichung der Europäischen Wirtschafts- auszusprechen. Dies alles bedeutet, die Westeuropäi- und Währungsunion bleibt unser Ziel. Wir stehen zu sche Union ist nicht Ersatz des Atlantischen Bündnis- den inhaltlichen und zeitlichen Vorgaben, die wir im ses, sondern Bindeglied zwischen Europa und unse- Oktober letzten Jahres in Rom festgelegt hatten. Sie ren nordamerikanischen Verbündeten. Wir wollen stimmen mit unseren grundsätzlichen Vorstellungen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 777

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl überein. Wir werden davon nicht abgehen. Ich sage Das vereinte Deutschland mißt den Beziehungen noch einmal: Beide Konferenzen gehören für uns zu- zur Sowjetunion zentrale Bedeutung bei. Wir wollen, sammen. daß Präsident Gorbatschow seine Politik des neuen Denkens und seinen außenpolitischen Kurs der Zu- Der dynamischen Entwicklung in der Gemeinschaft sammenarbeit fortsetzen kann. Wir wünschen ihm Er- stehen zunehmende Schwierigkeiten im Bereich des folg. Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe gegenüber. Ab 1. Januar dieses Jahres wird der Handel unter den (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD Mitgliedstaaten in konvertibler Währung verrechnet. und beim Bündnis 90/GRÜNE) Dieser marktwirtschaftlich logische Schritt stellt das Angesichts mancher internationaler und nationaler bisherige planwirtschaftlich gesicherte System jedoch Stimmen möchte ich hier noch einmal klar betonen: insgesamt in Frage. Die Entwicklung hat enorme Kon- Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, daß er die sequenzen für uns. Politik der Perestroika fortsetzen will. Ich habe Grund, zu danken, denn er hat seine Zusage eingehalten, bis Erstens gerät die Reformentwicklung in den Staaten Mitte März die Zustimmung zum Zwei-plus-Vier-Ver- Mittel-, Ost- und Südosteuropas immer mehr unter trag im Obersten Sowjet zu erreichen. Druck, was zu weiteren Entlastungswünschen an die Adresse der westlichen Staaten führt. Alle Wege von (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD Mittel-, Ost- und Südosteuropa führen, auch so ver- und beim Bündnis 90/GRÜNE) standen, über Deutschland. Auch das ist von vielen angezweifelt worden. Wir sollten dankbar erwähnen, daß diese Zusage einge- Zweitens drohen, wie sich in den neuen Bundeslän- löst wurde. Der Oberste Sowjet hat zugleich den Ver- dern zeigt, traditionelle Austauschbeziehungen abzu- trag vom 3. November über gute Nachbarschaft, Part- reißen, Beziehungen, die wir doch alle unter markt- nerschaft und Zusammenarbeit wie auch den wirtschaftlichen Vorzeichen fortsetzen wollen. Das deutsch-sowjetischen Wirtschaftsvertrag gebilligt. heißt, daß wir alles tun müssen, um einen Beitrag zu Das heißt, die Beziehungen zwischen unseren beiden leisten, daß sich die Idee der Marktwirtschaft dort Ländern stehen auf einem festen und soliden Funda- durchsetzt. ment. Wir wollen auch in Zukunft berechenbare Part- Wir wissen genau, daß der weitere Erfolg entschei- ner füreinander sein. dend von der Lösung der großen wirtschaftlichen und Die Aussöhnung der Deutschen mit den Völkern sozialen Probleme abhängt. Der polnische Minister- der Sowjetunion ist ein entscheidender Schritt auch präsident Bielecki hat mir in der vergangenen Woche auf dem Weg zu einem größeren Europa, das politisch, in aller Eindringlichkeit die Entwicklung in seinem wirtschaftlich und sozial zusammenwachsen soll. Land und auch den Willen dargelegt, die Reformen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ver- konsequent fortzusetzen. Ich habe unsere Bereitschaft einte Deutschland ist gefordert und bereit, diesen angekündigt, dafür einzutreten, daß die westlichen Weg zu gehen im Geist der Partnerschaft, der guten Länder diesen Weg Polens und auch der anderen Re- Nachbarschaft, der Solidarität. Wir wollen ihn zusam- formstaaten weiterhin stützen. Aber, es muß vor allem men mit den anderen Völkern Europas und auch an in den Ländern selber das Notwendige an Entschei- der Seite unserer Freunde in den Demokratien Nord- dungen getroffen werden; denn Hilfe von außen kann amerikas gehen. Die Einheit in gemeinsamer Freiheit, nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. die wir im vergangenen Jahr wiedererlangt haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bedeutet für uns Deutsche vor allem eine gemeinsame Verpflichtung. Wir wollen uns dieser Pflicht stellen, Gerade weil wir die deutsche Einheit nicht zuletzt besonders im Interesse kommender Generationen, am den Reformbewegungen in der Tschechoslowakei, in Ende eines Jahrhunderts, das viel Leid und Elend sah Polen, in Ungarn zu verdanken haben, sollen diese und das in Europa — wie wir alle hoffen dürfen — Länder wissen, daß wir im Rahmen unserer Möglich- einen guten, einen versöhnlichen Ausklang finden keiten helfen wollen. wird. Aber wahr ist auch, daß die deutsche Hilfe bereits Ich darf uns alle einladen, auf diesem Weg ein Stück jetzt weit über das Engagement anderer westlicher Miteinander zu finden. Länder hinausgeht. Ich sage das nicht, um diese Tat- (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU sache zu beklagen. Ich verstehe diese Leistung als und der FDP) eine Abschlagszahlung auf die Zukunft, auf den Frie- den, denn in Europa dürfen keine neuen Wohlstands- grenzen entstehen. Welch eine Vorstellung, daß sich Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort an der deutsch-polnischen Grenze eine Entwicklung hat der Abgeordnete Voigt (Frankfurt). vollziehen könnte, die dann als Wohlstandsgrenze verstanden würde! Das wäre eine katastrophale Ent- Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Bundes- wicklung für die Zukunft. Das kann nicht Ziel unserer kanzler, zum innenpolitischen Teil Ihrer Rede möchte Politik sein. ich nur zwei Bemerkungen machen. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD (Unruhe) und beim Bündnis 90/GRÜNE) Man kann es auch anders sagen: Wir wollen die Grä- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- ben der Ideologie überwinden, aber wir wollen nicht geordneter, ich möchte Ihnen die notwendige Ruhe durch ein soziales Gefälle neue Gräben aufreißen. verschaffen. Wir wollen denjenigen, die nicht im Saal 778 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg bleiben, die Möglichkeit geben, schnell den Saal zu fünf neuen Bundesländern waren. Sie kennen die räumen. Stimmung nicht, die heute dort herrscht. (Dr. Rose [CDU/CSU]: Sie auch nicht! — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das ist doch kein Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Ja, das ist ganz Stimmungsbericht!) klar: Nachdem die Herren ihre Pflicht abgesessen ha- ben, wollen sie jetzt das Vergnügen versäumen. — Ich bin mindestens einmal die Woche dort. (Heiterkeit bei der SPD — Duve [SPD]: Kar (Dr. Rose [CDU/CSU]: Deshalb wird auch sten, das war sehr gut! — Dr. Laufs [CDU/ nichts besser!) CSU]: Das wird ein zweifelhaftes Vergnügen Ich sage Ihnen: Die Menschen dort sind tief enttäuscht werden! — Pfeffermann [CDU/CSU]: Jeden und verbittert. falls keine Steigerung!) (Dr. Vogel [SPD]: Leider wahr!) Das ist nicht nur für die CDU schlimm — das könnte ich noch mit Fassung ertragen — , sondern sie machen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, Herr Abgeordneter; ich wäre Ihnen dankbar, wenn die Erfahrung, daß beim erstenmal, nachdem sie ihre Sie noch einmal beginnen würden. Stimme zu einem gesamtdeutschen Bundestag abge- geben haben, die Wahlversprechen, die vorher ge- macht worden sind, nicht eingehalten werden. Das ist eine tiefe Erschütterung des Vertrauens in die demo- Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Bundes- kratische Politik überhaupt. Das muß uns alle besorgt kanzler, zum innenpolitischen Teil Ihrer Ausführun- machen. Das können wir nicht hinnehmen. gen möchte ich zwei Bemerkungen machen. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Die erste bet rifft das Thema Vermögensteuer. Dazu GRÜNE) haben Sie der SPD Gespräche angeboten. Das wäre zu begrüßen. Aber es ist nur dann seriös und glaubwür- Nun zum außenpolitischen Teil. Wir halten an unse- dig, wenn gleichzeitig die Koalitionsvereinbarung in rem Angebot zur konstruktiven Zusammenarbeit in diesem Punkte geändert wird. den Grundfragen der deutschen Außen- und Sicher- heitspolitik fest. Wir haben uns nach diesem Angebot (Beifall bei der SPD) verhalten. Da wir die deutsche Einheit wollten, haben Denn dort heißt es: In einer ersten Stufe werden die wir im vergangenen Jahr all den Verträgen zuge- Gewerbekapitalsteuer und die Vermögensteuer ab- stimmt, die die deutsche Einheit ermöglicht haben geschafft. Die einzelnen Entlastungsmaßnahmen (Austermann [CDU/CSU]: Gegen den Rat werden in Stufen zum frühestmöglichen Zeitpunkt in aus Saarbrücken!) Kraft treten. und die Sie international eingebettet haben. (Duve [SPD]: Hört! Hört!) Aber ich füge hinzu: Die SPD ist keine Verfügungs- Wenn die Koalitionsvereinbarung so stehen bleibt, kann es sich nicht um ein seriöses Gespräch han- masse, die der Bundesregierung bei Bedarf zur Ver-- deln. schleierung außenpolitischer oder auch innenpoliti- schen Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen (Beifall bei der SPD — Dr. Graf Lambsdorff zur Verfügung steht. [FDP]: Sie verwechseln Gespräch mit Mani pulation! — Dr. Vogel [SPD]: Und Sie Ver (Beifall bei der SPD) kündigung mit Gespräch!) Unser Partei- und Fraktionsvorsitzender Jochen Vo- Denn für uns sind eine Senkung und die Abschaffung gel hat Bundesaußenminister Genscher schon gegen der Vermögensteuer völlig unakzeptabel. Die Vermö- die Kritik in Schutz genommen, die aus der CSU ge- gensteuer wird nur von den 700 000 reichsten Men- gen ihn gerichtet war. Dem schließe ich mich an. Aber schen in unserem Staat gezahlt. die außenpolitischen Fehlentscheidungen und Fehl- einschätzungen dieser Bundesregierung müssen hier (Schäfer [Mainz] [FDP]: Sie sollen dabei sein, zur Sprache gebracht werden und dürfen nicht des- Herr Voigt!) halb verschleiert werden, weil solche Fehleinschät- Von den 41 reichsten Personen hätte jede im Durch- zungen zum Teil auch aus der CDU oder im Ausland schnitt ungefähr 3 Millionen DM Entlastung zu erwar- kritisiert werden. ten. (Zustimmung bei der SPD — Dr. Laufs [CDU/ (Dr. Vogel [SPD]: Das ist der Kern! — Kosch CSU]: Und das muß jemand von der SPD nick [SPD]: Gloria braucht dieses Geld!) sagen! Unglaublich!) Das ist nicht nur für die Kommunen schlimm. Es ist Meiner Meinung nach hat die Bundesregierung schlicht und ergreifend eine Verhöhnung der Men- Kohl — das betrifft den Bundeskanzler und den Bun- schen, die in den fünf neuen Bundesländern heute um desaußenminister — in den letzten Wochen und Mo- ihr Überleben und ihre nackte Existenz kämpfen. naten dem Ansehen Deutschlands schweren Schaden (Beifall bei der SPD) zugefügt. Damit komme ich zu meiner zweiten Bemerkung. (Matthäus-Maier [SPD]: Sehr richtig!) Herr Bundeskanzler, man merkt Ihrer Rede an, daß Das Konzept der Bundesregierung in der Außenpoli- Sie seit den Bundestagswahlen nicht mehr in den tik — daran hat der Diskussionsbeitrag vom Bundes- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 779

Karsten D. Voigt (Frankfurt) kanzler überhaupt nichts geändert — ist immer noch — Es sind mehrere Leute aus den Koalitionsfraktio- konturenlos. nen, die diese Forderung unterstützt haben; damals bereits. (Matthäus-Maier [SPD]: Sehr richtig!) (Dr. Vogel [SPD]: Sehr richtig!) Es ist unklar und im besten Fall widersprüchlich. Durch die Neigung dieser Bundesregierung zum au- Die Bundesregierung hat wie andere westliche Re- ßenpolitischen Provinzialismus, verbunden mit ei- gierungen jahrelang den aggressiven Charakter des nem gleichzeitigen Hang zur außenpolitischen Selbst- Regimes von Saddam Hussein unterschätzt und ver- überschätzung droht jetzt weiterer Schaden zu entste- harmlost. hen. (Bindig [SPD]: Sie tut es immer noch!) Provinziell verhielt sich die deutsche Außenpolitik, Ich warne die Bundesregierung davor, diesen Fehler als sie im vergangenen Jahr viel zuwenig und viel zu jetzt gegenüber anderen Staaten zu wiederholen. spät für eine friedliche Lösung im Golf tätig wurde. Auch wenn es kurzfristig opportun erscheint, sollte (Dr. Hauchler [SPD]: Richtig!) man nicht übersehen, daß das Regime von Assad in en zwar nicht mit dem im Irak von Saddam Hus- Ich sage aus eigener jahrelanger Beobachtung: Wenn Syri identisch ist, aber in Syrien eine Diktatur beim Bundesaußenminister kein Rauch ist, ist auch sein herrscht. kein Feuer. (Dr. Altherr [CDU/CSU]: Sie brauchen eine (Duve [SPD]: Richtig! — Toetemeyer [SPD]: neue Brille!) Genauso menschenfeindlich!) Auch dieses Regime besitzt Scud-Raketen, die Israel Ich sage auch: Es war eine pure Selbstüberschät- bedrohen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß es auch über zung, als Bundesaußenminister Genscher am Tag en verfolgt in der Re- nach dem Ende des Golfkrieges nach Washington rei- chemische Waffen verfügt. Sy ri ste und hoffte, für deutsche Friedenspläne zu diesem gion regionale Großmachtinteressen. Das, was es im Zeitpunkt mehr als ein höfliches Interesse ernten zu Libanon vollzieht, ist alles andere als die Achtung des Selbstbestimmungsrechtes eines anderen Volkes. können. Die Ame rikaner sind in solchen Fällen sehr höflich. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ (Pfeffermann [CDU/CSU]: Das haben Sie GRÜNE) wohl schon öfters erlebt!) Die Verurteilung der Verfolgung und Ermordung Aber der reale Einfluß der Deutschen auf eine Frie- von Kurden im Irak durch die Bundesregierung er- densregelung am Golf tendiert auf Grund des Verhal- folgte viel zu spät. Wir Sozialdemokraten haben die tens der Bundesregierung, die vorher nicht klar Posi- Giftgaseinsätze gegen irakische Kurden bereits verur- tion bezogen hat, gegen Null. Es wäre besser gewe- teilt, als diese Bundesregierung noch weitgehend ta- sen, sie hätte gegenüber den Amerikanern klar eine tenlos hinnahm, daß deutsche Firmen dem Irak bei der andere Position bezogen, als bei den Amerikanern Produktion von Giftgas behilflich waren. den Eindruck zu erwecken, sie sei der Meinung der Warum aber schweigt die Bundesregierung jetzt, Amerikaner; und es wäre besser gewesen, sie hätte wenn es um die Unterdrückung der Kurden bei unse- bei den Franzosen nicht den Eindruck hervorgerufen, rem Verbündeten, der Türkei, geht? Man darf in Fra- sie sei der Meinung der Franzosen, und hätte vor den gen der Menschenrechte — haben Sie, Herr Bundes- Bundestagswahlen nicht den Eindruck suggeriert, sie außenminister, früher immer wieder gesagt — nicht sympathisiere mit der deutschen Friedensbewe- mit doppeltem Maßstab messen. Was gegenüber dem gung. Irak gilt, muß auch gegenüber dem Verbündeten Tür- kei gesagt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Alles das gleichzeitig geht nicht. Das wird dort beob- (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ achtet. Das führt zu einem Ansehensverlust Deutsch- GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste) lands insgesamt, aber natürlich auch des Bundes- Sonst wird das als Doppelmoral wahrgenommen. kanzlers und des Bundesaußenministers. Die Bundesregierung prangert heute, wie auch wir, (Matthäus-Maier [SPD]: Und es kommt uns die Menschenrechtsverletzungen im Irak öffentlich teuer!) an. Aber wo bleibt die öffentliche Verurteilung der immer noch andauernden Menschenrechtsverletzun- Völlig erheblich und unrealistisch war natürlich die gen im Iran, wenn der iranische Außenminister Bonn Forderung nach einem deutschen Sitz im UNO-Si- besucht? Bereits vor Jahren hat der Bundesaußenmi- cherheitsrat. Daß man auf eine von Portugalow, ei- nister die Vereinbarung eines Dialogs über Men- nem bekannten sowjetischen Kommentator und Be- schenrechtsfragen mit dem Iran als großen außenpoli- obachter der deutschen Szene, stammende Äußerung tischen Erfolg gepriesen. Wo bleibt dieser Dialog, und hereinfällt und dann gleich darauf springt und daß das wo bleiben die praktischen Ergebnisse dieses Dialo- einem erfahrenen Außenpolitiker passieren kann, ist für mich immer wieder erstaunlich. Das Echo ist ja ges? nicht nur im Osten, sondern auch im Westen bemer- (Bindig [SPD]: Herr Velayati!) kenswert. Die Bundesregierung gesteht heute selber ein, daß (Dr. Hauchler [SPD]: Dilettantisch ist das! — die Gesetzgebung und Kontrolle beim Export von Bundeskanzler Dr. Kohl: Wer hat denn das rüstungsrelevanten Gütern lückenhaft war. Aber gefordert?) warum legt sie jetzt ein Gesetz vor, das immer noch 780 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Karsten D. Voigt (Frankfurt) Schlupflöcher offenläßt? Warum ist diese Bundesre- Ich bin gar nicht sicher, ob es letzten Endes eine gierung auch nach den bitteren Erfahrungen im Golf- Alternative zum Einsatz militärischer Gewalt gab. Ich krieg immer noch bereit, Rüstungsexporte in den Na- war skeptisch, weil man den Sanktionen nicht mehr hen Osten zu befürworten, z. B. nach Ägypten, aber Zeit eingeräumt hat. Ich bin nicht endgültig sicher, ob auch an andere arabische Staaten? man gegen Saddam Hussein zu militärischer Gewalt greifen mußte. Wer kann das genau wissen? Aber (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Israel?) jetzt, nach dem Sieg, plötzlich auf die Priorität militä- — Ich persönlich sage Ihnen ganz offen, ich bin auch rischer Gewalt zu setzen und das als die große Errun- gegen weitere Rüstungslieferungen an Israel. Deut- genschaft der Vereinten Nationen darzustellen, halte sche Waffen haben im Nahen und Mittleren Osten ich für einen völligen Irrweg und für einen falschen nichts zu suchen. Lernprozeß. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ GRÜNE) Linke Liste) Im übrigen würde ich den USA vor allem empfeh- Es gibt im Nahen und Mittleren Osten Mangel an vie- len, jetzt die Benzinpreise zu erhöhen. Das wäre ein lem. An Waffen gibt es keinen Mangel; da gibt es nur richtiges Lernergebnis aus dem Golfkrieg. Das würde zuviel Waffen. übrigens nicht nur dazu beitragen, daß Energie ge- spart wird, sondern auch dazu, daß sich das Haus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haltsdefizit verringert. Das würde vielen Ländern in der PDS/Linke Liste) Europa, aber auch in der Dritten Welt sehr helfen. Deshalb kann man gegenüber allen dortigen Staaten Von der Bundesregierung fordern wir als Lehre aus nur auf Abrüstung- und Rüstungskontrolle drängen. dem Golfkrieg vor allem mehr politische Kreativität, Wir Sozialdemokraten haben in jeder Phase des mehr Engagement und mehr finanzielle Mittel für Golfkonflikts für einen Vorrang der politischen vor der eine kriegsvorbeugende und kriegsverhindernde militärischen Lösung plädiert, erst gegen die Rü- Außen- und Sicherheitspolitik. stungsexporte — heute vielfach vergessen —, dann für die Fortsetzung der Sanktionen und schließlich (Bindig [SPD]: Humanitäre Zwecke!) gegen die militärische Eskalation. Aber auch heute, Mit den Milliarden — man setze sie einmal in Relation nach dem militärischen Sieg der Allianz, warnen wir zu dem, was bisher für Entwicklungshilfe ausgegeben vor dem gefährlichen Irrglauben, die Androhung oder worden ist — , mit denen die Bundesregierung jetzt der Einsatz militärischer Gewalt könnten die Pro- die Führung eines Krieges unterstützt hat, könnte sie bleme des Nahen und Mittleren Ostens lösen. im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika, aber auch in Europa, insbesondere in Jugoslawien und in Alba- (Toetemeyer [SPD]: Sehr wahr! — Dr. Horn hues [CDU/CSU]: Das hat ja keiner behaup nien, die Ursachen von Gewalt bekämpfen und ihre tet!) Eskalation zu Bürgerkriegen oder zwischenstaatli- chen Kriegen verhindern. - Über der erfolgreichen militärischen Beendigung des Golfkriegs dürfen wir nicht die Kriegsfolgen, das Wiederum: Die Fixierung auf militärische Mittel — heißt vor allem die Leiden der Menschen und die Zer- ich bin kein Pazifist; ich glaube, wir können auf eine störung der Umwelt, aus dem Blick verlieren. Versöh- Bundeswehr nicht verzichten; ich bekenne mich zur nung braucht Zeit. Das haben wir während der Ent- Wehrpflicht — , die sich nach dem Golfkrieg darin aus- spannungspolitik in Europa gelernt. Die Logik des drückte, daß man so tat, als sei es das A und O der Friedens hat eine andere Zeitdimension als die Logik deutschen Außenpolitik, eine größere Verfügung des Krieges. über militärische Mittel außerhalb des NATO-Gebie- tes zu haben, verkennt die wirklichen Probleme dieser Aber das ändert nichts daran, daß auch der Nahe Welt und die Instrumente, die für deutsche Politik und der Mittlere Osten jetzt endlich eine Politik der angemessen und prioritär sind. Versöhnung und der Entspannung zwischen den ehe- maligen Kriegsgegnern, zwischen Israelis und Palästi- (Beifall bei der SPD) nensern und auch für das kurdische Volk brauchen. Ich sage das als jemand, der schon 1988 zusammen Wir werden uns auch dagegen wehren, wenn jetzt mit Norbert Gansel und einigen anderen für die deut- falsche Lehren aus der militärisch erfolgreichen Be- sche Beteiligung an Blauhelm-Missionen der UNO freiung Kuwaits gezogen werden. Oder plädiert etwa geworben hat. irgend jemand in diesem Saal ernsthafterweise dafür, (Beifall der Abg. Matthäus-Maier [SPD]) daß die völkerrechtswidrige Annexion der spanischen Sahara durch Marokko, die Besetzung eines Teils Zy- Übrigens, damals war Bundesaußenminister Gen- perns durch die Türkei, das Vorgehen Sy riens im Li- scher noch dagegen. banon, die Besetzung arabischer Gebiete durch Israel ebenfalls durch massiven militärischen Einsatz rück- (Bundesaußenminister Genscher: Inzwi- gängig gemacht werden sollen, obwohl zu diesen schen sind wir vereinigt!) Themen Resolutionen der Vereinten Nationen und — Inzwischen sind wir vereinigt. — auch des UNO-Sicherheitsrates vorliegen? Das ist doch die Frage nach dem Verhalten nach Beendigung Die CSU behauptet, diese Art von Wandlungsfähig- des Krieges. keit sei Ihr Konzept. Ich würde so etwas nicht behaup- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 781

Karsten D. Voigt (Frankfurt) ten, weil ich mehr Vertrauen als die CSU zu Ihrer Konsens zwischen SPD, FDP und CDU/CSU gab, daß außenpolitischen Kontinuität und Substanz habe. ohne eine Verfassungsänderung ein Einsatz der Bun- deswehr außerhalb des Geltungsbereichs der NATO (Dr. Rose [CDU/CSU]: Die CSU behauptet nicht in Frage kommt. momentan überhaupt nichts!) Wenn sich jetzt Teile der CDU/CSU — wie gesagt, Aber ich warne vor dem gefährlichen Irrglauben, es der Bundeskanzler äußerte sich in dieser Frage un- sei jetzt nicht nur die erste Priorität, sondern es be- klar — von diesem verfassungspolitischen Konsens weise sich zudem die internationale Handlungsfähig- entfernen, dann ist das der Bruch eines weiteren keit des vereinigten Deutschlands da rin, sich jetzt Wahlversprechens und eine weitere Wahllüge, ein schnell a) im Rahmen der UNO an Blauhelm-Aktionen Betrug am Wähler. oder an UNO-Truppenkontingenten, die es ja noch nie gegeben hat, zu beteiligen oder b) sich außerhalb (Beifall bei der SPD — Dr. Rose [CDU/CSU]: der NATO an solchen Aktionen wie der im Golf zu Ziehen Sie doch nicht alles an den Haaren beteiligen oder c) zu allererst darüber zu philosophie- herbei! — Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Das ist ren, ob es Interventionsstreitkräfte für außereuropäi- doch Unsinn!) sche Aktionen der WEU geben soll. — Das wäre eine Wählertäuschung. Wenn man vor Wir lassen mit uns über die Beteiligung der Bundes- den Wahlen sagt, man mache das nur mit einer Ver- wehr im Rahmen und unter Kontrolle der Vereinten fassungsänderung, und nach den Wahlen von diesem Nationen reden. Konsens abrückt und sagt, man könne es auch ohne Verfassungsänderung machen, Das schließt die Bereitschaft zur Diskussion über das Kapitel VII ein, nicht nur über Blauhelme. Dar- (Dr. Rose [CDU/CSU]: Was will man machen, über gibt es bei uns unterschiedliche Auffassungen. wenn ihr verrückt spielt?) Aber ich sage Ihnen ganz offen: Je mehr Sie das als dann ist das im politischen Sinne als eine Wählertäu- ersten Schritt zu Aktionen militärischer Art im Rah- schung und als nichts anderes zu bewerten. Nicht men der WEU außerhalb Europas definieren und je mehr und nicht weniger ist dazu zu sagen. mehr Sie deutschen militärischen Aktivitäten welt- (Beifall bei der SPD — Dr. Rose [CDU/CSU]: weit das Wort reden, desto geringer wird bei uns die Jetzt verstehe ich, daß Gansel gegen Sie ge- Bereitschaft sein, auch über anderes im Rahmen der wonnen hat!) Vereinten Nationen zu reden. — In den meisten außen- und sicherheitspolitischen (Beifall bei der SPD) Fragen stimmen wir übrigens überein. Das ist nicht nur bei uns so. Wenn Sie über die WEU (Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Wo habt ihr euch und über einen europäischen verteidigungspoliti- denn gestritten?) schen Pfeiler — den ich befürworte — reden, dann sage ich Ihnen: Nicht nur in Deutschland, sondern Im übrigen: Das Drängen der CDU/CSU auf eine auch in anderen Staaten Westeuropas wird man in der deutsche Beteiligung an Interventionsstreitkräf ten Diskussion über einen solchen europäischen verteidi- steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Passivität gungspolitischen Pfeiler um die WEU keine Mehrheit angesichts der sich dramatisch zuspitzenden Lage in und keinen Konsens finden, wenn man ihn mit der Jugoslawien und in anderen Teilen Südost- und gleichzeitigen Forderung nach Einsatztruppen der Osteuropas. WEU außerhalb Europas belastet. (Austermann [CDU/CSU]: Der will da ein- Aus diesem Grund und nicht nur aus verfassungs- marschieren!) rechtlichen Gründen widerspreche ich dem außen- Einerseits gibt diese Bundesregierung zum Schaden politischen Sprecher der CDU/CSU, Herrn Lamers. für die gutnachbarlichen Beziehungen zwischen Ich bedauere, daß nicht auch Bundeskanzler Kohl ihm Deutschen und Polen in Schlesien den Vertriebenen- ausdrücklich widersprochen hat. Insofern bleibt da verbänden zuviel Geld, andererseits zögert sie mit nach dieser Rede ein Fragezeichen in bezug auf die öffentlicher Kritik und finanziellem Engagement, Haltung des Bundeskanzlers. Er hat darin Andeutun- wenn Rechte der Albaner in Kosovo, der Türken in gen gemacht und sich klar zu UNO-Aktivitäten be- Bulgarien, der Ungarn in Rumänien oder der balti- kannt, aber bei der WEU-Frage war er eher auswei- schen Völker in der Sowjetunion bedroht werden. chend und vieldeutig. (Austermann [CDU/CSU]: Da gibt es noch (Duve [SPD]: Er ist auch nicht im Saal! — einen kleinen Unterschied!) Gegenrufe: Doch! — Dr. Diederich [Berlin] — Was gibt es dort? [SPD]: Freimut, erst gucken!) (Austermann [CDU/CSU]: Zwischen Schle- Im übrigen noch etwas zu der verfassungsrechtli- siern und Türken gibt es noch einen kleinen chen Diskussion. Es gibt jetzt große Teile der CDU/ Unterschied!) CSU, die behaupten, ein Einsatz der Bundeswehr au- ßerhalb des Geltungsbereichs der NATO sei auch — Ja, für Sie gibt es einen kleinen Unterschied. Und ohne Verfassungsänderung rechtlich möglich. das unterscheidet uns voneinander. Als Deutscher setzte ich mich nicht nur für die Rechte deutscher Min- Der Bundeskanzler hat sich zu dieser Frage nicht derheiten ein, sondern auch für die von Minderheiten geäußert, weder in der einen noch in der anderen überhaupt. Richtung. Aber ich erinnere ihn daran, daß es vor den Bundestagswahlen einen verfassungspolitischen (Beifall bei der SPD) 782 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Karsten D. Voigt (Frankfurt) Ich sage Ihnen: Diese deutschnationale Fixierung al- gen die Öffnung der EG für blockfreie und neutrale lein auf die deutschen Minderheiten ist europafeind- Staaten nördlich und östlich von Deutschland aufzu- lich und wird auch von unseren Nachbarn so wahrge- bauen. nommen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste — Austermann [CDU/ Die wahre Probe für unsere Solidarität und für un- CSU]: Das ist Patriotismus und nicht deutsch sere Handlungsfähigkeit in der Außen- und Sicher- national!) heitspolitik wird sich aber erst dann stellen, wenn es um die finanzielle und politische Solidarität der Deut- ot, aber nicht Nationalist. Das unter- — Ich bin Patri schen, natürlich auch der anderen Westeuropäer, mit scheidet uns. Ost- und Südosteuropa geht. Wenn dort nicht bald (Duve [SPD]: Sehr interessant war das!) geholfen wird, wenn dort nicht mehr Solidarität ge- zeigt wird, dann werden die Der Widerspruch zwischen politischer Rhetorik und jungen Demokratien in in eine neue Krise geraten, und dann dro- politischer Praxis ist das einzig erkennbare konzeptio- Osteuropa hen neue autoritäre Regime. Das, was wir heute an nelle Band zwischen der Außen- und Innenpolitik die- ser Bundesregierung. Ansonsten bleibt nur die Fest- Milliarden für die Stützung der Demokratien und des ökonomischen Wandels in diesen Demokratien zuwe- stellung: Ebensowenig, wie sich diese Bundesregie- rung innenpolitisch frühzeitig und realistisch auf die nig geben, werden wir später für neue verteidigungs- politische Ausgaben vielfach zu bezahlen haben. finanziellen und wirtschaftlichen Folgen der deut- schen Einigung eingestellt hat, hat sie ein brauchba- (Beifall bei der SPD) res Konzept für die Außen- und Sicherheitspolitik ei- nes vereinigten Deutschlands. Deshalb ist jede Milliarde mehr zur Stützung der De- mokratien und des ökonomischen Wandels eine ge- Ich beobachte mit einem gewissen Amüsement, daß sparte Milliarde für unsere Außen- und Sicherheits- derselbe Bundesaußenminister, der in den vergange- politik. Übrigens werden wir dann auch weniger In- nen Jahren die westlichen Alliierten immer wieder terventionsstreitkräfte brauchen. bedrängte, ein außenpolitisches Gesamtkonzept zu entwickeln, jetzt, wenn er nach Washington kommt, Zuletzt etwas zu dem aufbrechenden Nationalis- immer ganz pragmatisch klein-klein macht und deut- mus in Osteuropa, dem ich zum Teil Verständnis ent- sche Außenpolitik immer Schritt für Schritt, einmal gegenbringe, zum Teil aber auch widerspreche. Es ist einen Schritt zurück, einmal einen Schritt zur Seite, überhaupt keine Frage, daß der Internationalismus aber auf jeden Fall nicht einen Schritt im Rahmen Stalins auf Gewalt beruhte. Ein solcher Internationa- eines Gesamtkonzepts betreibt. lismus ist nicht akzeptabel, und es ist gut, daß er auf- (Duve [SPD]: Choreographie!) bricht. Insofern, als sich das Aufbrechen dieses er- zwungenen Internationalismus in Osteuropa voll- Ich sage: Solange dieser Bundesaußenminister zieht, sehe ich in den nationalen Bewegungen auch nicht ein Gesamtkonzept entwickelt hat, kann man es Elemente von demokratischen Bewegungen. Ich schlecht kritisieren. wage es nicht, das von hier, von Westeuropa aus kri- - (Widerspruch bei der FDP — Dr. Hauchler tisch zu beurteilen. [SPD]: Das will er ja! Das ist Absicht!) Ich sehe aber, daß sich in der Gegenreaktion gegen Es ist nämlich nichts da, was man kritisieren kann. den erzwungenen Internationalismus Stalins und der Deshalb möchte ich jetzt nicht das Konzept kritisieren, stalinistischen Regime auch neuer nationaler Haß und das der Bundesaußenminister ja nicht hat, sondern neue nationalistische Emotionen entfalten. Dies kön- das darstellen, was die SPD hat. nen wir nur ändern und positiv beeinflußen, wenn wir den osteuropäischen Staaten Chancen geben, an den (Beifall bei der SPD) Erfahrungen der westeuropäischen multinationalen Wir sind — das ist das A und O — nach unserer Zusammenarbeit teilzunehmen. Deshalb müssen wir politischen Konzeption für das vereinigte Deutschland für eine Ost-Öffnung der westeuropäischen Institutio- eine proeuropäische Partei. Deshalb wollen wir — da nen plädieren. Ein Westen, der sich heute gegenüber stimmen wir mit dem Bundeskanzler überein — die Osteuropa abschottet, nachdem er jahrelang die Öff- politische Union Europas sowie die Wirtschafts- und nung zwischen Ost und West gefordert hat, spaltet Währungsunion und werden den Bundeskanzler, Europa und ist friedensfeindlich. wenn er das zu langsam angeht, eher bedrängen, als daß wir ihn irgendwie behindern. Wir sind eine pro- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ europäische Partei, denn wir wollen die Vereinigten GRÜNE) Staaten von Europa bereits seit den 20er Jahren. Deshalb ist die Bereitschaft zur Öffnung nach Osten Wir wollen eine Vertiefung, aber auch eine Erwei- nicht Ausdruck einer klassischen Sehnsucht der Deut- terung der Europäischen Gemeinschaft. Alle EFTA- schen nach Osten, sondern unsere Einsicht darin, daß Staaten sind ökonomisch in der Lage, Mitglied der die Demokratie in Europa insgesamt nur gewinnen Europäischen Gemeinschaft zu werden. Deshalb sage kann, wenn die Staaten Osteuropas daran teilhaben ich: Wenn sie den Willen dazu haben, müssen wir können. Ich bin etwas betrübt, daß ein Teil der süd- ihnen den Weg dazu öffnen. Ich bin ganz entschieden europäischen Staaten wie Spanien und Portugal, die dagegen, daß wir die Diskussionen über einen vertei- genau diese Erfahrungen früher gemacht haben, digungspolitischen Pfeiler in Europa — den ich befür- heute in bezug auf die Öffnung Europas nach Osten so worte — instrumentalisieren, um neue Bar rieren ge skeptisch sind. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 783

Karsten D. Voigt (Frankfurt) Europa wird auch künftig naturgemäß weiterhin mit deutsche Einheit erhebliche materielle Anstrengun- dem atlantischen Partner verbunden bleiben müssen; gen erfordern würde. Wir wußten das, und wir haben ich bin dafür, die Sozialdemokraten sind dafür. Inso- es auch gesagt. Wer heute — mit Bezug auf die Bun- fern lagen die Angriffe von Bundeskanzler Kohl völlig desregierung — behauptet, sie habe vom Bezahlen neben der Sache. Aber der Kernpunkt unserer Politik aus der Portokasse oder ähnlichem bzw. von einer ist natürlich die Formierung eines vereinigten Europa, Einheit zum Nulltarif gesprochen, sagt die Unwahr- die Gestaltung eines vereinigten Europa. heit. Europa wird noch für lange Zeit von einem Plura- (Gerster [Worms] [SPD]: Für wen sprechen lismus der Institutionen — KSZE, Europarat, EG, Sie denn, Herr Ministerpräsident?) NATO und WEU — geprägt sein. Aber der Kern des europäischen Einigungsprozesses ist die Europäische —Ich spreche für mich, für meine politischen Freunde Gemeinschaft. Insofern wird sich die deutsche Außen- und für mein Land. Im übrigen mache ich hier — zu und Sicherheitspolitik in den nächsten Jahren in dem Ihrer Information — von meinem Rederecht Ge- Ausbau der Europäischen Gemeinschaft zum Kern brauch. der Vereinigten Staaten von Europa bewähren müs- sen. Die Westeuropäische Union und ihr Ausbau kön- (Zustimmung bei der CDU/CSU — Mat- nen nur dann sinnvoll sein, wenn sie, die WEU, ein thäus-Maier [SPD]: Aber nicht für die Bürger Pfeiler der Friedenspolitik wird und den Ausbau der in Rheinland-Pfalz, die getäuscht wurden!) Europäischen Gemeinschaft hin zu den Vereinigten Staaten von Europa nicht behindert. — Ich spreche selbstverständlich für die Bürgerinnen und Bürger in Rheinland-Pfalz, und dies sicher, Frau Vielen Dank. Kollegin, mit mehr Recht, als Sie das aus vielen Grün- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ den je für sich in Anspruch nehmen könnten. GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU) (Beifall bei der CDU/CSU — Matthäus-Maier [SPD]: Aber die fühlen sich getäuscht!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Wir, ich und viele andere, haben gesagt, daß die hat der Ministerpräsident des Landes Rheinland- deutsche Einheit mit äußerster Anspannung aller Pfalz, Herr Dr. Wagner. Kräfte ohne Steuererhöhungen zu finanzieren sein würde. Das ist gesagt worden, und das ist richtig und Ministerpräsident Dr. Carl-Ludwig Wagner (Rhein- bleibt richtig. land-Pfalz): Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Der Bundeshaushalt 1991 ist geprägt von großen (Matthäus-Maier [SPD]: Was?) zusätzlichen Ausgaben und Aufgaben, die sowohl aus dem Inland wie auch aus dem Ausland auf uns alle Andere in der Öffentlichkeit haben diese Aussagen umgebogen. zukommen. Es sind Aufgaben von gewaltiger Größen- ordnung und auch solche Ausgaben. Sie entsprechen (Roth [SPD]: Ich habe den Eindruck, der will in ihrer Dimension der Größe der Herausforderun- verlieren!) gen. Die Bundesrepublik Deutschland ist diesen Heraus- Es ist nämlich von vielen, auch von mir, vor der Wahl forderungen gewachsen. Die Wirtschaft wächst. Sie klar gesagt worden, daß diese Aussage für Steuer- wächst seit acht Jahren beständig. Ihr Wachstum hat erhöhungen im Zusammenhang mit der deutschen sich im vergangenen Jahr beschleunigt, nicht zuletzt Einheit gilt, aber nicht für andere, unvorhersehbare auch durch zusätzliche Effekte, die von der deutschen zusätzliche Anforderungen, etwa für solche im Zu- Einheit her bedingt waren. Die Bundesfinanzen und sammenhang mit dem Golfkrieg. Das ist einfach aus- auch die Länder- und Gemeindefinanzen sind in ei- einanderzuhalten, und das sollte auch Ihnen möglich nem Prozeß, der sechs, sieben Jahre gedauert hat und sein, meine Damen und Herren. kontinuierlich betrieben wurde, konsolidiert worden. Die Bürger sind durch die Steuerreform in mehreren (Beifall bei der CDU/CSU — Matthäus-Maier Stufen entlastet worden. Das Steueraufkommen steigt [SPD]: Nur glaubt's keiner!) kräftig. Das ist also eine gute Voraussetzung, um sich — Ich komme noch darauf mit ein paar Zahlen. Das ist bedeutende zusätzliche Aufgaben aufzuladen. keine Frage des Glaubens, sondern eine Frage der Ich muß Sie fragen, meine Damen und Herren: Wie Tatsachen. wäre es, wenn wir dieser Herausforderung gegen- überstünden, unsere Wirtschaft und unsere öffentli- Ich möchte an die Adresse des Herrn Kollegen Vo- chen Finanzen sich aber in einem Zustand befänden, gel, der jetzt nicht da ist, sagen, daß selbstverständlich wie er etwa 1981/82 bestanden hat? Ich wage mir auch der Kollege Wilhelm nie etwas anderes gesagt nicht vorzustellen, wie wir dann mit dieser zusätzli- hat. Ihm wäre im Traum nicht eingefallen, das zu chen Herausforderung fertig geworden wären. erklären, was Herr Vogel, wohl vom Wunschdenken getragen, hier in bezug auf unsere Wahlaussichten in (Beifall bei der CDU/CSU) Rheinland-Pfalz gesagt hat. Das lassen Sie einmal die Auch bei der bestehenden Lage handelt es sich al- Sorge der Wählerinnen und Wähler im Lande Rhein- lerdings um eine gewaltige Anspannung aller Kräfte, land-Pfalz sein! und wir haben nie etwas anderes gesagt. Alle Betei- ligten — Regierung, Parlament und Parteien — haben (Beifall bei der CDU/CSU — Zustimmung bei im Sommer 1990 selbstverständlich erwartet, daß die Abgeordneten der SPD) 784 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Ministerpräsident Dr. Carl-Ludwig Wagner (Rheinland-Pfalz) Ich rate dem Kollegen Vogel und allen seinen Partei- ohne den zusätzlichen Belastungseffekt der anderen freundinnen und Parteifreunden, eindeutig finanzierbar war und auch weiter finanzier- bar wäre. (Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Wo ist der denn?) Ich möchte erwähnen, daß die Länder einen beacht- lichen Anteil — er ist geringer als der Anteil des Bun- sich nicht zu sehr und zu früh auf die vermeintliche des, aber er ist beachtlich — für den Aufbau in der Chance eines Sieges zu versteifen. Die Aussichten früheren DDR erbringen und daß sie das ohne Steu- sind für Sie im Endergebnis nicht gut. ererhöhungen tun; denn die Steuererhöhungen, die (Zuruf von der SPD: Sie wissen das schon?) geplant sind, bringen den Ländern ja keine zusätzli- chen Einnahmen. Die Enttäuschung wird dann um so größer sein. Die Bundesländer im Westen Deutschlands haben (Matthäus-Maier [SPD]: Wenn Sie so weiter in der Tat erhebliche Verpflichtungen übernommen. reden, steigen unsere Chancen!) Sie leisten partnerschaftliche Hilfe, besonders Ver- — Frau Matthäus-Maier, lassen Sie es. Sie bringen es waltungshilfe. Sie haben die Beteiligung der neuen auf diese Weise doch nicht fertig, mich etwa aus der Länder an der Umsatzsteuer aufgestockt; eine Opera- Ruhe oder aus dem Konzept zu bringen. tion, für die ich mich sehr eingesetzt habe, wofür ich im Vorfeld viele Vorwürfe kassieren mußte. Allein das Es hat keine Täuschung stattgefunden, sondern die bedeutet 4,7 Milliarden DM im Jahre 1991 und Aussage bleibt richtig. Richtig ist, daß die Ausgaben 24,4 Milliarden DM bis 1994. für die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland noch größer sind, als wir es ange- Wichtig ist: Die Länder finanzieren einen Kapitalan- nommen haben. Gleichwohl wären sie ohne Steuer- teil am Fonds Deutsche Einheit in Höhe von 47,5 Mil- erhöhungen zu bewältigen, wenn nicht die Ausgaben liarden DM. Das sind selbstverständlich Beträge, die für Osteuropa und die Ausgaben für die Beteiligung von den Ländern verzinst und zurückgezahlt werden an den Kosten des Golfkrieges dazukämen. Das wird müssen. Sie bedeuten also praktisch Schulden, die auf durch das Volumen der geplanten Steuererhöhungen den Länderhaushalten lasten. Ich sage das nicht, um eindeutig belegt. Es reicht in diesem Jahr nicht einmal darüber zu klagen, sondern um das zu klären. Selbst- aus, um die Belastungen der Bundesrepublik verständlich sind die Länder verpflichtet und auch Deutschland aus dem Konflikt am Golf und aus den bereit — sie sind sogar gerne bereit; das sage ich Verpflichtungen unseres Landes gegenüber den jedenfalls für Rheinland-Pfalz — , den erforderlichen osteuropäischen Staaten zu decken. Anteil für die deutsche Einheit zu erbringen. In Zusammenhang mit dem Golfkrieg hat der Bund Ich will aus der Sicht unseres Landes und auch aus für die Jahre 1990 und 1991 bislang etwa 16 Milliar- meiner persönlichen Sicht ein paar Worte zur Struktur den DM aufzubringen. Das allein entspricht schon der Steuererhöhungen sagen. Es ist sehr zu begrüßen, annähernd dem Mehraufkommen aus den vorgesehe- daß der Solidaritätszuschlag auf ein Jahr — auf zwei nen Steueränderungen für 1991. Für Osteuropa kom- Halbjahre — begrenzt ist. Im übrigen ist festzustellen, men mehrere Milliarden DM hinzu. Zusammen ist der daß gerade diese steuerliche Belastung ausgespro- Betrag also höher als das, was sich in diesem Jahre, im chen gerecht ausgestaltet ist. Wer eine kleine Steuer-- Jahre 1991, an Steuererhöhungen ergeben wird. Für last trägt, zahlt auch einen geringen Zuschlag. Wer die Folgejahre, 1992 und danach, ist die Entwicklung eine hohe Steuerlast trägt, zahlt einen hohen Zu- namentlich der Umfang unserer auswärtigen Ver- schlag. pflichtungen, insbesondere etwa gegenüber den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- osteuropäischen Staaten, selbstverständlich noch ordneten der FDP) nicht so klar abzusehen. Ich rechne damit, daß auch diese Verpflichtungen in den Jahren nach 1991 erheb- Alle Voraussetzungen für eine gerechte Verteilung lich sein werden. nach dem Motto „den schwachen Schultern keine oder eine geringe Belastung, den starken Schultern Für 1991 ist jedenfalls klar: Nur das Zusammen- eine große Belastung" sind bei dieser Solidaritätsab- kommen aller dieser Faktoren zwingt zu den Steuer- gabe erfüllt. erhöhungen. Hieraus hat, wie ich nachgelesen habe, der Kollege Lafontaine in der gestrigen Debatte einen Was die Mineralölsteuererhöhung angeht, so habe Vorwurf abgeleitet, den ich für abwegig halte. Er ich als Ministerpräsident eines Flächenlandes vor al- meinte, da die Bundesregierung sich zur Begründung len Dingen zu beachten, daß sie für die Arbeitnehmer, der Steuererhöhungen auf den Golfkrieg berufe, die längere Wege zur Arbeitsstätte zu fahren haben, wolle sie offenbar dafür Geld beschaffen, für die Men- für die Pendler im ländlichen Raum, eine zusätzliche schen in den neuen Ländern aber nicht. Die Wahrheit und zum Teil für sie gewichtige Belastung darstellt. ist, meine Damen und Herren, daß Bund und Länder Deswegen hat die Landesregierung von Anfang an für das Beitrittsgebiet gewaltige Beträge zur Verfü- begrüßt, daß von der Bundesregierung der Vorschlag gung stellen. An Bereitschaft dazu fehlt es also nicht. unterbreitet wird, die Kilometerpauschale von gegen- Nur, es besteht eben, wie ich gerade gesagt habe, die wärtig 50 Pfennig auf 65 Pfennig zu erhöhen. Nach Möglichkeit, diese Hilfeleistung ohne Steuererhö- Berechnungen, die wir angestellt haben, reicht diese hung zu erbringen. Dies ist an sich leicht auseinander- Erhöhung in vielen Fällen, so etwa bei den Fahrern zuhalten, vor allen Dingen dann, wenn man sich um von Dieselfahrzeugen, aber auch in gewissen anderen die Klarheit des Denkens bemüht, die dem vom Kol- Fällen, aus, um die zusätzlichen Kosten zu decken. Sie legen Lafontaine zitierten Voltaire nachgerühmt wird. reicht aber längst nicht in allen Fällen aus. Deswegen Wenn man das tut, erkennt man, daß diese Aufgabe halte ich hier eine zusätzliche Verbesserung für wün- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 785

Ministerpräsident Dr. Carl-Ludwig Wagner (Rheinland-Pfalz) schenswert und erforderlich. Rheinland-Pfalz schlägt Ministerpräsident Dr. Carl-Ludwig Wagner (Rhein- vor, diese Erhöhung nicht auf 65 Pfennig, sondern auf land-Pfalz) : Ja, gerne. 70 Pfennig — 5 Pfennig mehr — vorzunehmen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte Das ist, glaube ich, eine relativ bescheidene Forde- sehr. rung. Damit würden die Kosten im Durchschnitt abge- deckt. Ich möchte übrigens den Herrn Bundesfinanzmini- Florian Gerster (Worms) (SPD): Herr Ministerpräsi- ster auf ein Sonderproblem aufmerksam machen, wel- dent, bisher klang Ihre Rede mehr nach einer Rede zur ches einen erheblichen Teil unseres Landes bet rifft, Verteidigung der Bundespolitik als nach einer Rede und zwar auf die Situation des Tankstellengewerbes für die Interessen von Rheinland-Pfalz. Ich möchte im Grenzbereich zum Großherzogtum Luxemburg. deswegen zwei Fragen stellen, die mit elementaren Das Großherzogtum Luxemburg hat eine sehr, sehr rheinland-pfälzischen Interessen zu tun haben. niedrige Mineralölsteuer. Schon jetzt ist die Differenz Zur Gewerbekapitalsteuer: Nach meinen Erkundi- zwischen den Treibstoffpreisen auf unserer Seite und gungen in den letzten Tagen wird die Stadt Worms mit denen auf der luxemburgischen Seite sehr beachtlich. 75 000 Einwohnern einen Verlust von etwa 10 Millio- Sie liegt bei etwa 25 Pfennig pro Liter und wird sich nen DM im Jahr verzeichnen müssen, wenn die Steu- nun etwa verdoppeln. Das bedeutet für viele unserer erpläne der Regierung durchkommen; die Stadt Op- mittelständischen Bet riebe in einem weiten Grenz- penheim mit 5 000 Einwohnern, um beispielsweise streifen ganz erhebliche Existenzprobleme, für viele eine sehr kleine Stadt zu nennen, müßte einen Verlust Existenzbedrohung oder sogar Existenzvernichtung. in Höhe von etwa 300 000 DM hinnehmen. Was wer- (Sehr richtig! bei der CDU/CSU) den Sie als Ministerpräsident unternehmen, um diese rheinland-pfälzischen Städte auf Alternativen zu ver- Wir können dem nicht tatenlos zusehen. Ich habe weisen, damit wichtige öffentliche Aufgaben erledigt dies dem Bundesfinanzminister geschrieben und werden können? habe mich übrigens auch an den luxemburgischen Ministerpräsidenten Santer gewandt. Wir müssen eine gemeinsame, am europäischen Gesamtinteresse Ministerpräsident Dr. Carl-Ludwig Wagner (Rhein- — das heißt im Prinzip: an dem Weg zu einer europäi- land-Pfalz): Herr Kollege Gerster, zu Ihrer Vorbemer- schen Steuerharmonisierung — orientierte Lösung kung möchte ich feststellen: Sie ist abwegig. Es dürfte dafür finden. Ihnen bekannt sein, daß der Bundesrat ein Bundesor- Im übrigen wird sich im kommenden Jahr zeigen, gan ist und daß es folglich ganz normal ist, wenn ein inwieweit der Ertrag der Mineralölsteuererhöhung für Mitglied des Bundesrates, der Ministerpräsident eines die Finanzierung anhaltender zusätzlicher Ausgaben Landes, hier auch zu bundespolitischen Fragen Stel- auf Dauer benötigt wird. Ich bin jedenfalls der Auffas- lung nimmt. sung, daß dieser Ertrag auch für die Senkung anderer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Steuern eingeplant und vorgesehen werden muß. Ich Bundeskanzler Dr. Kohl: Wohl wahr! — Ger- bin nicht dafür, daß wir uns darauf einrichten, dauer- ster [Worms] [SPD]: Es geht um die Schwer- haft eine Erhöhung der Gesamtsteuerbelastung des punkte!) deutschen Steuerzahlers anzustreben. Deswegen Ich komme nun auf die Zahl zu sprechen, die Sie glaube ich, daß die Bundesregierung jedenfalls angegeben haben. Ihre Behauptung, daß der Wegfall grundsätzlich auf dem richtigen Wege ist, der Gewerbekapitalsteuer für die Stadt Worms einen (Dr. Vogel [SPD]: Aha!) Verlust von 10 Millionen DM jährlich bedeuten wenn sie erklärt, daß die Familienbesteuerung ver- könne, halte ich für aus der Luft gegriffen. Ich kenne bessert werden muß und daß auch auf dem Wege der den genauen Betrag nicht, aber es kann nicht so sein, Erleichterung der Unternehmensbesteuerung Zusätz- wie Sie behauptet haben. Die Gewerbekapitalsteuer liches zu geschehen hat. Die Frage ist nur, ob die Vor- beträgt 10 bis 15 % der gesamten Gewerbesteuer. Da schläge ausreichen. die Stadt Worms keine Einnahmen aus der Gewerbe- steuer in der Größenordnung von 100 Millionen DM Ein Wort zur Unternehmensbesteuerung; Stich- im Jahr hat, ist die von Ihnen genannte Zahl nicht wort: Vermögensteuer, Gewerbekapitalsteuer. Das ist richtig. im Prinzip eine richtige Linie. Unsere Unternehmen werden im europäischen Vergleich und im internatio- (Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Das ist nalen Vergleich eindeutig zu hoch besteuert. Ich sozialistische Mengenlehre! — Weitere Zu- könnte Ihnen viele Fälle aus dem rheinland-pfälzi- rufe von der CDU/CSU) schen Grenzgebiet nennen, wo Unternehmen auch Dennoch stellt sich die Frage, wie es um den Aus- aus steuerlichen Gründen dabei sind, entweder gleich im Falle eines Wegfalls dieser Steuern bestellt Zweigbetriebe im westlichen Ausland zu gründen ist. Herr Kollege Gerster, genau auf diese Frage wi ll oder ihren Firmensitz überhaupt zu verlagern. ich aber noch zu sprechen kommen. Ich bitte Sie des- wegen, sich noch einen Moment zu gedulden. Zunächst noch einmal zur Gewerbekapitalsteuer: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mi- Diese Steuer ist eindeutig von den Unternehmen zu nisterpräsident, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage tragen. Die Abschaffung dieser Steuer bzw. entspre- des Herrn Abgeordneten Gerster (Worms) zu beant- chende Steuererleichterungen wären also eindeutig worten? Teil einer Unternehmenssteuerreform. 786 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Ministerpräsident Dr. Carl-Ludwig Wagner (Rheinland-Pfalz) Bei der Vermögensteuer ist das anders. Hier wer- Selbstverständlich werden wir uns auf dieses System den sowohl Unternehmen als auch Privatleute entla- stützen und unsere berechtigten Interessen wahrneh- stet. men. (Dr. Vogel [SPD]: Aha! Sehr wahr!) Ich möchte aber noch sagen, daß ich es als ebenso Ich möchte deutlich machen, daß ich den Wegfall der wichtig, vielleicht als noch wichtiger empfinde, daß Vermögensteuer auf Privatvermögen nicht für gebo- wir den Familienlastenausgleich noch stärker aus- ten halte. bauen, als es in den Koalitionsvereinbarungen hier in Bonn festgelegt wurde. Dabei bieten entweder die (Zustimmung bei der CDU/CSU — Dr. Vogel Erhöhung der Mineralölsteuer in späteren Jahren [SPD]: Auch neidisch? Auch ein Neidkom oder aber eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, wenn plexler?) eine Harmonisierung innerhalb der EG dazu zwingen —Nein. — Ich halte das nicht für erforderlich. In einer sollte, die Gelegenheit, eine zusätzliche kräftige Sen- Zeit, in der wir sehr genau rechnen müssen und in der kung der Besteuerung der Einkommen namentlich wir alle Einnahmen im Rahmen des irgendwie Mögli- der Familien vorzunehmen. Ich möchte ankündigen, chen ausschöpfen müssen, daß wir für dieses Anliegen, also für weitere Senkun- gen der Einkommensteuer insbesondere für die Fami- (Dr. Vogel [SPD]: Wo er recht hat, hat er lien, und auch für die Verbesserung des Kindergeldes recht!) in jedem Falle eintreten werden. bin ich nicht dafür — ich spreche hier für meine Lan- desregierung — , daß wir die Vermögensteuer auf Pri- Ein Wort über die mittelfristige Perspektive für vatvermögen abschaffen. Anders steht es mit der Ab- Bund und Länder, weil sich Herr Gerster darüber Ge- schaffung der Vermögensteuer auf Betriebsvermö- danken gemacht hat, wer denn etwas hat. Wir kom- gen. men in diesem Jahre zu einer beachtlichen Nettoneu- verschuldung, die an der oberen Grenze des Tragba- Nun zur Frage des Ausgleichs. Herr Kollege Ger- ren liegt. Sie liegt bei gut 5 % des Bruttosozialproduk- ster, selbstverständlich erwarten die Länder für den tes. Wir hatten eine solche Größenordnung schon ein- Fall, daß es zur Aufhebung dieser Steuern — sowohl mal; in den 70er Jahren war die Nettneuverschuldung der Gewerbekapitalsteuer als auch der Vermögen- sogar bereits einmal größer. Um etwas näher an die steuer — kommt, einen Ausgleich. Das haben alle Mi- Jetztzeit heranzugehen: Wir hatten 1981 eine Netto- nisterpräsidenten gemeinsam in den Beschlüssen von kreditaufnahme in Höhe von 4,9 % des Bruttosozial- Ende Februar deutlich gemacht. Das ist ja ganz klar; produktes und 1982 eine ähnlich hohe. Ich möchte das kann gar nicht anders sein. allerdings daran erinnern, daß die heutige sehr hohe Die Annahme eines meiner Vorredner — ich Quote das Ergebnis wirklich gewaltiger und zum er- glaube, es war Herr Voigt — , daß die Abschaffung der heblichen Teil auch sehr erfreulicher Ereignisse ist, Gewerbekapitalsteuer im wesentlichen zu Lasten der während Sie es seinerzeit geschafft haben, durch Ihre Länder gehe, ist zwar nicht richtig — die Abschaffung pure Finanzpolitik diese Marken zu erreichen. Es gab dieser Steuer würde vor allen Dingen zu Lasten der damals weder die deutsche Einheit noch die Notwen- Gemeinden gehen — , aber, wie auch immer, die Län- digkeit, internationale Konflikte mitzufinanzieren. - der nehmen ja auch die Interessen der Gemeinden (Dr. Vogel [SPD]: Aber z. B. eine Weltwirt- wahr. Das heißt also: Die Länder und Gemeinden schaftskrise! Das hat auch Lambsdorff immer müssen dafür selbstverständlich einen Ausgleich be- gesagt! — Dr. Rose [CDU/CSU]: Das war kommen. hausgemacht!) (Gerster [Worms] [SPD]: Von wem denn?) Es war das Ergebnis einer unguten Finanzpolitik. — Im Rahmen der Verhandlungen zwischen Bund und Land, Herr Kollege Gerster, wie das immer ist. Es ist, wie auch Sie sicher wissen, gelungen, im Ver- laufe von sechs bzw. sieben Jahren diese Finanzlage (Bundeskanzler Dr. Kohl: Wie es immer war! in Ordnung zu bringen, d. h. sowohl die Bundesfinan- — Gerster [Worms] [SPD]: Wo soll es denn zen als auch die Länderfinanzen zu konsolidieren. herkommen? Der Bund hat doch nichts!) —Darüber, ob der Bund nichts hat, werden wir uns zu (Dr. Hauchler [SPD]: Gut, daß das Ihre letzte gegebener Zeit unterhalten. Rede als Ministerpräsident ist!) (Gerster [Worms] [SPD]: Verschiebebahn Seien Sie ganz gewiß, das wird auch jetzt wieder ge- hof!) lingen. Die Zahlen der mittelfristigen Finanzplanung zeigen, daß es möglich sein wird, von den in der Tat —Herr Kollege Gerster, es hält den Bet rieb leider ein hohen Verschuldungsraten, die ja ein Grund für die bißchen auf, wenn ich Ihnen das erklären muß, aber jetzigen Steuererhöhungen sind, herunterzukommen ich will es doch schnell tun. Es gibt da ein bestimmtes und im Verlaufe von drei bis fünf Jahren wieder nor- System: Das ist der Vergleich der Deckungsquoten. male konsoliderte Verhältnisse sowohl im Bund als Nach diesem System wird verfahren und ermittelt, wie auch in den Ländern herzustellen. Wir werden das die Verteilung der Ressourcen zwischen Bund und diesmal ebenfalls schaffen. Das möchte ich auch den Ländern vor sich zu gehen hat. Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der ehemaligen (Gerster [Worms] [SPD]: Das ist doch keine DDR sagen, die natürlich erhebliche Sorgen haben. technische Frage! Das ist eine politische Diese Sorgen sind mir bekannt; denn wir haben eine Frage!) Partnerschaft mit Thüringen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 787

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Mi- im Zuge der deutschen Einheit nicht wieder an den nisterpräsident, ich bin weit davon entfernt, Ihnen die Rand geraten, sondern uns in diesem geeinten Eu- Rechte zu beschneiden, die Ihnen verfassungsmäßig ropa, in dem großen Gemeinsamen Markt, in der Wirt- zustehen. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß schafts- und Währungsunion in einer zentralen Posi- dann, wenn Sie Ihre Redezeit jetzt überschreiten, dies tion bewegen und unsere Chance suchen können. auf Kosten der nachfolgenden Redner der CDU/CSU Deswegen hat die Landesregierung, deswegen Fraktion geht. habe auch ich persönlich immer mit aller Kraft die (Zuruf von der SPD: Das macht nichts!) Politik der europäischen Einheit unterstützt. Wir wer- Ich weiß nicht, ob Sie das in Kauf nehmen wollen. den das auch weiter tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ministerpräsident Dr. Carl-Ludwig Wagner (Rhein- land-Pfalz): Ich will mich solcher Verfehlungen auf keinen Fall schuldig machen, Herr Kollege Dregger. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Ich werde also in zwei Minuten zum Abschluß kom- hat der Abgeordnete Poppe. men. Ich will nur sagen, auf Grund der Partnerschaft mit Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident! Thüringen habe ich gute Informationen auch über die Meine Damen und Herren! Seit dem 3. Oktober 1990 Stimmung in der früheren DDR. 250 Beamte und An- sind wir, die Bürger und Bürgerinnen der ehemaligen gestellte aus Rheinland-Pfalz sind gegenwärtig im DDR, plötzlich zu Bürgern und Bürgerinnen eines rei- Wege der Verwaltungshilfe in Thü ringen tätig, und chen und mächtigen Staates der westlichen Welt ge- eine ganze Reihe ist noch in anderen Ländern der worden. Aber die Umwälzungen in Osteuropa haben ehemaligen DDR tätig. Wir wissen also einiges. Ich nicht nur unsere, sondern die gesamte Situation des sage deswegen den Mitbürgerinnen und Mitbürgern bisher in Blöcke geteilten Nachkriegseuropas grund- in den neuen Ländern, daß wir selbstverständlich in legend geändert. unserer gemeinsamen solidarischen Anstrengung Angesichts des Haushaltsentwurfs der Bundesre- fortfahren und daß wir das auch gemeinsam schaffen gierung habe ich nicht den Eindruck, daß sie den aus werden; ich habe daran keinen Zweifel. dem Zerfall des Warschauer Pakts entstandenen Für unser Land, für das Land Rheinland-Pfalz, neuen Herausforderungen und den wirtschaftlichen möchte ich sagen, daß wir den Verzicht auf eigenes und ökologischen Krisenerscheinungen auch nur an- Geld, auf eigene Finanzen — allein über die Umsatz- nähernd gerecht wird. Das Bild Deutschlands, das hin- steuerverteilung etwa 300 Millionen DM — natürlich ter dem Haushaltsentwurf steht, ist das eines Landes, spüren, daß uns das zu bestimmten Einsparungen das seinen Reichtum und seine von mir durchaus zwingt und daß wir sehr wohl überlegen müssen, wo hochgeschätzte Demokratie notfalls mit Waffenge- wir sie anbringen. Wir tun dies nicht bei den lebens- walt gegen das in Armut und Chaos zerfallende wichtigen Dingen. Aber wir können — ich glaube, mit Osteuropa und gegen die armen Länder im Süden zu Recht — auf die Zustimmung unserer Bevölkerung schützen sich vorbereitet. zählen, wenn wir diesen Beitrag erbringen, und zwar Mit Erschrecken vernahm ich, daß das NATO-Mit- - gerne erbringen. glied Italien mit bewaffneten Einheiten die verzwei- felten albanischen Flüchtlinge von seinen Ufern zu Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sind Sie vertreiben versucht. Wird dies das Europa des Jahres denn bereit, noch eine Zwischenfrage der Abgeordne- 2000, auf das auch die Bundesregierung zusteuert, ein ten Frau Matthäus-Maier zu beantworten? Kern reicher demokratischer Länder, die ihren Müll gegen Devisen verkaufen, die vor Bürgerkrieg und Ministerpräsident Dr. Carl-Ludwig Wagner (Rhein- ethnischer Verfolgung Flüchtende mit Waffengewalt land-Pfalz) : Ich möchte die Frau Kollegin bitten, Ver- forttreiben und die NATO weiter hochrüsten, um ge- ständnis dafür zu haben, daß ich im Hinblick auf den gen Bedrohungen aus der sogenannten Dritten Welt bereits erfolgten Hinweis auf die abgelaufene Rede- und gegen Bürgerkriege an der europäischen Peri- zeit darauf verzichten möchte. pherie gewappnet zu sein? An der deutschen Einheit beteiligt sich Rheinland Hier im Westen des vereinigten Deutschlands hören Pfalz gern, unsere Bürger und Bürgerinnen auch. wir oft: Was wollt ihr aus der ehemaligen DDR denn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) noch? Seid doch zufrieden, daß es euch nicht so geht wie denen in Polen und in der Sowjetunion! Wofür Der Herr Bundeskanzler hat mit Recht gesagt, das sollen wir denn noch alles bezahlen? zweite große Thema für den Rest dieses Jahrzehnts ist Europa. Wenn es in Deutschland ein Land gibt, das am Es fehlt aber nicht nur Geld, sondern eine grund- Gedeihen der Europäischen Gemeinschaft, an ihrem sätzlich neue Konzeption der Rolle Deutschlands in Blühen, an ihrem Ausbau, und zwar sowohl der Poli- Europa und in der Welt. Die dramatische Entwicklung tischen Union als auch der Wirtschafts- und Wäh- der letzten anderthalb Jahre in Mittel- und Osteuropa rungsunion, ein eigenes Interesse hat, nicht nur das und im Nahen Osten muß zu erheblichen außenpoli- Interesse, das wir als Bundesrepublik, als deutsches tischen Konsequenzen des vereinigten Deutschlands Volk alle haben, das selbstverständlich überragend führen. ist, sondern ein zusätzliches regionales Interesse, Der West-Ost-Konflikt hat seine entscheidende Be- dann ist es das Land Rheinland-Pfalz. Europa ist für deutung verloren. Das NATO-Mitglied Deutschland dieses Land und auch für andere Grenzregionen, na- zieht daraus, wenn man der Regierung folgt, nur un- mentlich aber für uns, die Gewähr dafür, daß wir auch zureichende sicherheitspolitische Schlüsse. Derzeit ist 788 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Gerd Poppe oft die Rede von der gewachsenen außenpolitischen Pakethilfen für das hungernde Rußland und Ermah- Verantwortung der Bundesrepublik. Dabei gehen alle nungen an die sowjetische Führung wegen der militä- Fraktionen dieses Hauses davon aus, daß der Frieden rischen Intervention im Baltikum ersetzen keine Kon- im wesentlichen militärisch gesichert werden muß. zeption. Wohlfahrt und verbale Solidarität einerseits, das Beharren auf der Vorstellung von der Sowjetunion Dafür werden die unterschiedlichsten Modelle dis- als eines homogenen, zentralistisch steuerbaren Staa- kutiert. Ihnen ist aber eines gemeinsam: Die Lösung tes andererseits zeigen das Unverständnis gegenüber der friedenspolitischen Mission wird immer in Uni- der dortigen Entwicklung. form und mit Waffen gesucht. Eine Verantwortung jenseits der militärischen erscheint nicht einmal denk- Notwendig ist vor allem die praktische Solidarität bar. Genau dies wäre aber das Kernproblem einer mit jenen, die unter Berufung auf die Menschenrechte angemessenen Reaktion auf die veränderte Lage in demokratische Entfaltungsmöglichkeiten suchen, Europa. Nicht ein zur Großmacht vereinigtes Deutsch- z. B. den baltischen Ländern. Notwendig ist weiterhin land mit entsprechender militärischer Präsenz und der ein Konzept zur gezielten Unterstützung der Bemü- Drohung, seinen Reichtum gegebenenfalls mit Waf- hungen um den Abbau von planwirtschaftlich-zentra- fengewalt zu verteidigen, kann Konflikte vermeiden listisch gelenkten Strukturen und zur Behebung der und lösen helfen, sondern nur politische Lösungen auf durch diese Strukturen verschuldeten Mängel und der Grundlage weitsichtiger Konzeptionen können Verteilungsprobleme. auf Dauer zum Frieden führen; nicht zuletzt sind sie Es geht darum, nicht undifferenziert den sowjeti- auch billiger. schen Zentralstaat zu unterstützen — aus Angst, Gor- batschow sonst zu schaden — , sondern die Herausbil- Seit langem überfällig ist die Veränderung des dung eines neuen Beziehungsgeflechts zwischen den NATO-Selbstverständnisses im Hinblick auf Europa, bisherigen Sowjetrepubliken zur Kenntnis zu neh- und damit ist ganz Europa — nicht nur sein westlicher men. Eine Konföderation miteinander verbundener Teil — gemeint. Die NATO als ein militärisches Bünd- souveräner Staaten könnte sich zu einem bedeuten- nis gegen den Osten ist zum Anachronismus gewor- den Partner in Europa entwickeln. Ähnliches gilt im den. Ihre derzeitige Suche nach einer neuen Existenz- übrigen auch für das zerfallende Staatenkonstrukt berechtigung — was leider immer noch bedeutet: die Jugoslawien. Suche nach neuen Feindbildern — hat im Golfkrieg Kurz zum Umfang mit dem außenpolitischen Thema bereits erste, gefährliche Früchte getragen. Gleichzei- Nummer eins der kommenden Jahre, dem Konflikt tig versucht sich die Westeuropäische Union, als si- zwischen dem reichen Norden und dem armen Sü- cherheitspolitsches Gegengewicht zur NATO zu pro- den: Auch hier gibt es kein ausreichendes Konzept, filieren. das die überfällige Umorientierung wirtschaftlicher Anstelle einer Konzeption zum Aufbau eines politi- Zusammenarbeit und damit einen erkennbaren Bei- schen Bündnisses mit den Staaten Osteuropas, ein- trag zum Abbau des wirtschaftlichen und sozialen schließlich der Sowjetunion, soll die westeuropäische Gefälles zwischen Norden und Süden enthielte. Eine Hegemonie auch auf sicherheitspolitischem Gebiet solche Konzeption muß Programme zur finanziellen aufrechterhalten werden. Es fehlt eine Konzeption, und ideellen Hilfe beim Aufbau eigenständiger wirt- die — so unser Vorschlag — die KSZE als übergrei- schaftlicher Strukturen in den armen Ländern ebenso fende Konfliktschlichtungsinstitution entwickeln hilft enthalten wie einen Schuldenerlaß. Vor allem aber und in der die NATO nur noch übergangsweise der geht es um Schritte hin zu einer neuen Weltwirt- sicherheitspolitischen Integra tion Europas, Nordame- schaftsordnung, die den armen Ländern gleichbe- rikas und der Sowjetunion dienen würde. Hier könnte rechtigte Chancen auf dem Weltmarkt ermöglicht. die Bundesrepublik einen konstruktiven Beitrag zur Nichts ist so schändlich, nichts hat in letzter Zeit so außenpolitischen Strategie der 90er Jahre leisten. viel außenpolitischen Schaden ange richtet wie deut- sche Rüstungsexporte in den Irak und andere Dikta- Offenbar hat die Bundesregierung bis heute nicht turen in der Dritten Welt, die illegalen Exporte ebenso erkannt, welche gefährlichen Folgen es hat — und wie die mit Genehmigung der Bundesregierung er- noch haben kann — , die Schwäche der Sowjetunion folgten. In diesen Vorwurf sind selbstverständlich bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen allzusehr auch die auf Grund von Entscheidungen der früheren ausgenutzt zu haben. Überschwenglicher Dank an DDR-Regierungen vor und nach dem 18. März 1990 Gorbatschow dafür, daß er die schnelle Vereinigung erfolgten Lieferungen einbezogen. Deutschlands ermöglicht habe, geht am Problem vor- bei, insbesondere, wenn das als Argument dafür her- Man sollte meinen, daß angesichts des politischen halten muß, ihn auch jetzt zu unterstützen, da er nicht Scherbenhaufens seitens der Bundesregierung end- mehr in der Lage zu sein scheint, den Konflikt zwi- lich die erforderlichen Konsequenzen gezogen wer- schen demokratischen Selbstständigkeitsbestrebun- den. Es ist notwendig, auf ein vollständiges Verbot gen und zentralistischem Machtanspruch zu bewälti- von Rüstungsexporten hinzuwirken. Leider passiert gen. Gorbatschow mit Hille eines Milliardenkredits, das Gegenteil: Das Auswärtige Amt erhebt keine Be- der angesichts der dahinsiechenden Perestroika denken gegen die Lieferung von U-Booten und Tor- — abgesehen von eventuellen Aufträgen für deutsche nados nach Südkorea, obwohl doch jeder weiß, daß es Firmen — nutzlos versickern mußte, zur bedingungs- sich um ein potentielles Krisengebiet handelt. losen Aufgabe der DDR gedrängt zu haben, war inso- In die Schlagzeilen kamen auch Exportprojekte fern ein strategischer Fehler der Bundesregierung, als nach Indien. Der Bundesaußenminister hat seinerzeit sich damit die innenpolitischen Probleme in der So- die Unwahrheit gesagt, als er davon sprach, daß nie- wjetunion eher verschärften. mals Waffenlieferungen in den Irak genehmigt wur- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 789

Gerd Poppe den. Auf die Anfrage meines Kollegen Werner Schulz Bundeskanzlers und im Etat des Auswärtigen Amts hat die Bundesregierung im Februar 1991 geantwor- zum Ausdruck. tet, daß zwischen 1982 und 1986 für 353 Millionen DM 1955 wurde die Bundesrepublik Deutschland, d. h. Waren der Anlage 1 zur Außenwirtschaftsverord- die alte Bundesrepublik, souverän. In einem Stan- nung, Teil A, also Waffen, Munition und Rüstungsgü- dardwerk zur Geschichte der Bundesrepublik ter, an den Irak geliefert wurden. Deutschland ist zu lesen, daß es den deutschen Politi- Der Staatssekretär Dr. Riedl antwortete mir am kern damals schwerfiel, ihre verengte Sicht der Dinge 5. März 1991 auf meine diesbezügliche Anfrage, daß zu überwinden. Das Gleiche scheint auch heute der der Gesamtumfang der genehmigten Rüstungsex- Fall zu sein. porte im Jahre 1989 die astronomische Höhe von über 44 Milliarden DM erreicht hatte. Das ist eine Steige- (Dr. Hauchler [SPD]: Wie bei Ihnen heute!) rung gegenüber 1988 von über 31 % und eine Steige- Das ist aber nicht bloß bei uns, sondern das ist bei rung in bezug auf den Teil A der Anlage 1 von sogar allen, auch bei den Kollegen der Opposi tion. Denn die etwa 86 %. größere Bundesrepublik, das vereinte Deutschland, Ich komme zum Schluß. Die Bundesrepublik erlebt ist souverän geworden, und tut sich offensichtlich gegenwärtig einen wahren Exportboom beim Ge- noch ein bißchen schwer, die geeignete Rolle in der schäft mit dem Tod. Ich erwarte, daß vom Bundesau- Außenpolitik zu finden. ßenminister zu dieser Entwicklung Stellung genom- men wird. Damals war aber klar, und es ist für mich auch heute klar, daß Sicherheit und Wohlstand nur in den großen Aber nicht nur die Rüstungsexporte sind Anlaß zu wirtschaftlichen und militärischen Verbundsystemen unserer Beunruhigung, israelischen Berichten zufolge der freien Welt zu gewährleisten sind. Adenauer wurde sogar die alliierte Hilfe für Sy rien sofort in den spürte damals, daß ein Staat auch in Allianzen und Kauf von Scud-Raketen umgesetzt, die jetzt wieder Wirtschaftsgemeinschaften nur dann Gehör findet, Israel bedrohen. Auch hierzu muß sich die Bundesre- wenn er über Macht und einen anerkannten Rang ver- gierung äußern. fügt. So versuchte er, die Bundesrepublik — natürlich möglichst unauffällig — auf eine annähernd gleiche Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter, Ebene wie Frankreich und Großbritannien zu bekom- wenn Sie Ihre Ankündigung wahrmachen, machen men. Diese beiden Staaten — und natürlich auch wei- Sie mir das Geschäft leichter. tere westeuropäische Länder im Rahmen der EG — müssen auch heute unsere Vergleichspunkte sein. Es Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Ich mache sie ergibt sich deshalb an unmittelbaren außenpoliti- sofort wahr, Herr Präsident. schen Zielen zum einen die Schaffung der Europäi- Schließlich möchte ich wissen, wo der von der Bun- schen Union, zum anderen die sicherheitspolitische desregierung seit Wochen angekündigte Bericht über Überlegung, ob die NATO oder doch mehr der Aus- ihre Rolle bei den Rüstungsexporten in den Irak bleibt. bau der WEU zu bevorzugen ist, und drittens ein Netz Anderenfalls, denke ich, ist es an der Zeit, umgehend von Verträgen mit den osteuropäischen Nachbarn. auf den Antrag von Bündnis 90/GRÜNE auf Einset- Den möglichen Kritikern einer Stärkung oder zu- zung eines Parlamentarischen Untersuchungsaus- mindest Beibehaltung der NATO sei gesagt, daß un- schusses zurückzukommen. sere Nachbarn Deutschland eingebunden wissen wol- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. len in ein System der Berechenbarkeit. Letztlich (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke stimmte ja auch die Sowjetunion der Integra tion des Liste) vereinten Deutschlands in der NATO zu. Auch wenn die Welt wegen der deutschen Haltung Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Herr im Golfkrieg verwirrt gewesen sein mag, so ist die Abgeordnete Dr. Rose. ursprüngliche Angst unserer Nachbarn vor einem ruhelosen Deutschland noch nicht überwunden, z. B. Dr. Klaus Rose (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine auch in der Frage, ob die Grenzen für immer festge- sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige erste legt sind, ob Deutschland frei von nationalistischen Lesung des Bundeshaushalts gibt die Chance, nicht Gefühlen bleibt, ob wir verläßlich sind. Das a lles bloß mit Zahlen zu jonglieren, sondern einmal die macht es notwendig, Europa weiter zu bauen. Wenn deutsche Außenpolitik insgesamt kritisch zu durch- dieses Europa gebaut ist, zunächst auf jeden Fall als leuchten und gleichzeitig die Rolle der Deutschen Politische Union im westlichen Teil Europas, unab- nach der Wiedervereinigung zu erörtern. Es ist natür- hängig von einem früheren Gorbatschow-Vorschlag lich richtig, daß unser gesamtes politisches Bestreben vom gemeinsamen Haus Europa, dann brauchen wir dem Zusammenführen der Menschen in Deutschland Deutschen auch keine Sorge mehr zu haben, daß über gehören muß und daß der Wiederaufbau in den neuen uns hinweg Brücken geschlagen werden, wie das frü- Bundesländern Priorität hat. Die Konzentration all un- her beispielsweise zwischen Frankreich und Rußland serer Kräfte auf dieses Ziel, nämlich baldmöglich der Fall war; dann braucht es aber auch nicht den gleichwertige Lebensbedingungen in ganz Deutsch- Wunsch Deutschlands, vielleicht selber Europa be- land zu bekommen, enthebt uns aber nicht der Ver- herrschen zu wollen. Deutschland darf nicht die ver- antwortung für andere Regionen in der Welt, vor al- wirrte Nation sein, sondern muß mit seiner Souveräni- lem aber für die Entwicklung vernünftiger, gut nach- tät umgehen können, also auch Verantwortung über- barlicher Beziehungen zu den Staaten in unserer Um- nehmen und z. B. Mittler zwischen Ost und West wer- gebung. Sinnfällig kommt diese Aufgabe im Etat des den. 790 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Klaus Rose Dabei kommt es besonders darauf an, daß das Ge- Ein souveränes Deutschland darf also durchaus fühl entsteht, daß dem östlichen Europa die gleichen selbstbewußt sein. Am besten ist es aber, wenn seine Chancen eröffnet werden wie dem westlichen. wirtschaftliche Stärke anderen zugute kommt, beson- Deutschland muß also auch eine Art wirtschaftlicher ders den kleineren östlichen Nachbarn, ohne dort ei- Lokomotive sein, aber nicht nur einsam geradeaus nen Ausverkauf zu machen, nachdem das bisherige brausen, sondern auch Lasten ziehen können. Wirtschaftssystem zusammengebrochen ist. Meine Damen und Herren, derzeit entsteht der Ein- Trotzdem sollte man die Deutschen nicht so sehr an druck, daß die Deutschen leider nur mehr zu sehr für ihrer Wirtschaftskraft messen und schon gar nicht an die Probleme aller anderen herangezogen werden, ihrer Armee. Man sollte uns vielmehr messen an der also der Lastesel geworden sind. Es ist schon so, daß kulturellen Ausstrahlung, an der reichen Begeg- die Welt von uns einen großen Beitrag zur Lösung der nungskraft, an den zahlreichen und auch erfolgrei- verschiedenen Probleme erwartet. Dem trägt ja auch chen Bemühungen der kulturellen Begegnungen. Ei- der Bundeshaushalt 1991 Rechnung. nem derartigen Ziel muß die deutsche Außenpolitik besonders dienen. Im Regierungsentwurf sind einige Milliarden einge- Meine Damen und Herren, im Bundeshaushalt 1991 plant, die sich im Gefolge des Golfkriegs ergeben sind eine Reihe von Ausgaben vorgesehen, die dem haben. Wir haben eben nicht den Ohne-Mich-Stand- Ziel der internationalen kulturellen Begegnung die- punkt. So gibt es etwa 9 Milliarden DM, die im ersten nen. Vor allem im Etat des Auswärtigen Amts, d. h. im Quartal 1991 für die USA und für Großbritannien oder Kulturhaushalt, stecken mehr als 1,1 Milliarden DM, Frankreich ausgegeben werden sollen. Zusätzlich sol- die alle für die kulturelle Begegnung ausgegeben len 900 Millionen DM aus dem Einzelplan 60, d. h. aus werden sollen. der Allgemeinen Finanzverwaltung, über das Aus- Jahr für Jahr ist dieser Bereich des Bundeshaushalts wärtige Amt Zusagen des Bundesministers Hans- kontinuierlich gestiegen. So sind wir von 755 Millio- Dietrich Genscher begleichen, die er bei seinen Be- nen DM 1982 inzwischen auf diese Größe gekommen. suchsreisen im Nahen Osten gemacht hat. Wir sollten diese Mittel auch vernünftig einsetzen, Natürlich hat das Parlament, sehr geehrter Herr besonders bei unseren osteuropäischen Nachbarn. Minister, ein Recht darauf, im einzelnen zu erfahren, Wir möchten ja, daß sie nicht bloß dem Europarat als wofür dieses Geld ausgegeben wird. Umgekehrt kön- Mitglied beitreten können wie z. B. die Tschechoslo- nen wir aber dankbar sein, daß keine deutschen Sol- wakei als 25., sondern daß sie in absehbarer Zeit ins- daten gefallen sind und daß keine Zerstörungen in gesamt zu Europa gehören. Wir sollten deshalb auch Europa oder gar im eigenen Land ertragen werden Gelder ausgeben, die diese Entwicklung vorberei- mußten. Wollen wir aber wirklich, daß z. B. auch bei ten. der europäischen Einigung die B riten und die Franzo- In diesem Zusammenhang sehe ich auch die vorge- sen die Soldaten stellen und wir nur zahlen? sehenen Hilfen an Rumänien und Ungarn, d. h. die Stromhilfe in Höhe von 50 Millionen DM für Rumä- Das souveräne Deutschland muß auch seinen eige- nien oder die Energiehilfe in Höhe von 40 Millionen nen Beitrag zur Sicherheit und zur Verteidigung lei- DM für Ungarn, aber auch die 40 Millionen DM für die sten. Keine ernst zunehmende Stimme erhebt sich Umschulung sowjetischer Soldaten. Das Parlament z. B. in Frankreich oder Großbritannien, geschweige wird im Rahmen der Haushaltsberatungen im Aus- denn in den Vereinigten Staaten, gegen eigene Streit- schuß natürlich kritisch hinterfragen, wem in Rumä- kräfte. Wenn man sich aber über die Notwendigkeit nien z. B. diese Stromhilfen endgültig zugute kom- einer eigenen Armee klar ist, dann muß man auch ein men. Sind es nur staatliche Bet riebe? Sind es p rivate vernünftiges Verhältnis zu dieser eigenen Armee ent- Einrichtungen? Sind es in erster Linie die Deutschen wickeln. in den leider immer leerer werdenden Gebieten um (Beifall bei der CDU/CSU) Hermannstadt und Kronstadt? Diese Fragen werden wir im Laufe der nächsten Wochen und Monate bei Ich meine, es ist richtig, im Zuge einer Verkleinerung den Beratungen insgesamt stellen. der Bundeswehr und einer Verringerung der militäri- Das, was die Bundesregierung im Haushaltsentwurf schen Personalstärke eine angemessene Kürzung im vorgeschlagen hat, findet auf einen ersten Blick un- Verteidigungsetat vorzunehmen. Doch ein Steinbruch sere Billigung. für alle sonstigen Pläne kann dieser Verteidigungsetat nicht sein. Wo sollen denn die motivierten Soldaten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — herkommen, wenn man ihnen ständig das Gefühl ver- Dr. Hauchler [SPD]: „Auf einen ersten mittelt, eigentlich seien sie nicht erwünscht, eigent- Blick"! Dann schauen Sie beim zweiten Blick lich wolle man ihnen etwas wegnehmen, eigentlich genauer hin!) wolle man sie mit minderwertiger Technologie ab- speisen? Vielleicht träumen ja manche davon, das Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat Deutschland eine kleine Schweiz sein könne, daß das Wort der Bundesaußenminister Hans-Dietrich seine Ruhe haben, vielleicht das Geld horten wolle. Genscher. (Dr. Hauchler [SPD]: Bayern!) Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Aus- Aber dieses Bild stimmt nicht für die Schweiz, und es wärtigen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- stimmt selbstverständlich nicht für das in seiner Geo- men! Meine Herren! Die Beratung dieses Haushalts ist graphie, in seiner Wirtschaftskraft, in seiner Bevölke- Anlaß, sich Rechenschaft über die außenpolitischen rungszahl viel größere Deutschland. Aufgaben und Herausforderungen abzulegen, vor de- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 791

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher nen wir stehen. Das bedeutet auch, sich Gewißheit zu Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Da ich den verschaffen über die Konstanten unserer Politik, über Eindruck habe, daß derjenige, der antworten sollte, die neue und größere Verantwortung des vereinten die Fragen gestellt hat, ist es gescheiter, dem Abge- Deutschlands und über die großen Herausforderun- ordneten Voigt für eine Kurzintervention das Wort zu gen, vor die sich die Welt und auch wir gestellt se- geben. hen. Herr Kollege Voigt hat bei seinem Beitrag angekün- Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Erst einmal zur digt, er wolle das außenpolitische Konzept der SPD Frankfurter Situation: Herr Genscher, ich habe meine hier vortragen. Ich hoffe, das war nicht alles, was wir innerparteiliche Rangerausbildung hinter mir, ich dazu gehört haben. Sonst ware der Mund ein bißchen würde dort überleben. voll genommen worden. (Heiterkeit bei der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Es ist zwar etwas merkwürdig, daß die Regierung Dr. Rose [CDU/CSU]: Das Konzept ist nicht jetzt die Opposition befragt, aber das ist Ausdruck der sichtbar und Voigt auch nicht!) Situation, daß wir eine Konzeption haben, während Dafür hat der Kollege Voigt Anlaß gesehen, die Au- Sie noch keine haben. ßenpolitik der Bundesregierung, vor allen Dingen in (Zuruf von der CDU/CSU: Wir wollen sie der Frage des Golfkonflikts, zu kritisieren. Herr Kol- endlich hören!) lege Voigt, was meinen Sie eigentlich, wenn Sie sa- Erstens. Bei der militärischen Eskalation wäre ich gen, man hätte die Milliarden, die wir der Koalition mit der Minderheit des amerikanischen Kongresses am Golf zur Verfügung gestellt haben, besser anlegen der Meinung gewesen, daß man zu dem mit sollen? Wollen Sie damit sagen, daß wir es nicht hätten Zeitpunkt nicht hätte beginnen sol- tun sollen? Dann hätten Sie genau die K rise im der militärischen Eskalation len, sondern mit einer verschärften Form der Sanktio- deutsch-westlichen Verhältnis heraufbeschworen, die nen hätte fortfahren sollen. Sie uns selbst angehängt haben. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Übrigens haben Sie damals etwas Ähnliches gesagt. (Zuruf von der SPD: So ist es!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Bun- Wenn Sie heute davon abrücken, so ist das Ihr Bier. desminister, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeord- Sie haben so argumentiert. neten Voigt (Frankfurt) zu beantworten? (Zuruf von der SPD: Und dann haben Sie den Schwanz eingezogen!) Zweitens. Da ich die Eigenschaft habe, nicht erst Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Aus- nach Abschluß eines Konfliktes in die USA zu reisen, wärtigen: Ja, Gern. Aber ich würde gern zuvor noch sondern auch während eines Konfliktes, wenn die etwas sagen. Dann können Sie das in Ihre Frage mit Stimmung gegenüber den Deutschen nicht so gut ist, einbeziehen. dauernd dorthin reise, weiß ich, wie dort die Stim- Ich würde auch gern von Ihnen wissen, Herr Kol- mung ist. Ich sage ganz offen: Wenn diese Bundesre- lege Voigt, was Sie meinen und wen Sie meinen, gierung frühzeitig, am Beginn des Konfliktes, sich be- wenn Sie davon sprechen, daß jetzt der militärischen reit erklärt hätte, für f riedliche Mittel, friedenserhal- Gewalt Priorität verliehen wird. Waren Sie für oder tende Mittel, friedensstabilisierende Mittel in der ge- waren Sie gegen den Einsatz im Namen der UNO, um samten Region in erheblichem Umfang Geld einzuset- die Aggression gegen Kuwait rückgängig zu machen? zen, dann hätte sie a) bei den Amerikanern besser Auch hier müssen Sie klar Farbe bekennen. dagestanden, b) nicht so viel bezahlen müssen und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) c) wäre sie nicht in Druck gekommen, auch zur Finan- zierung der Kampfhandlungen beizutragen. Das, was Sie hätten auch Anlaß gehabt, hier ein Wort zur Sie zu spät gemacht haben, ist Ihnen politisch zum Mission des amerikanischen Außenministers und zur Schaden geraten, und es hat dazu beigetragen, daß Rede des amerikanischen Präsidenten zu f riedlichen Sie zum Teil etwas finanziert haben, was nicht sinn- Lösungen für die Zeit nach dem Golf-Kon flikt zu sa- voll und sinnfällig war. gen. Zusammen mit dem englischen und dem franzö- (Beifall bei der SPD) sischen Außenminister habe ich hier am Montag fest- stellen können, daß wir zum ersten Mal seit langer Zeit als Europäer uns in den Fragen der Nah- und Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Aus- Mittelostpolitik in voller Übereinstimmung mit den wärtigen: Herr Kollege Voigt, wenn Sie sich einmal USA befinden und daß wir deshalb diese Mission un- die Probleme der amerikanisch-japanischen Bezie- terstützen. hungen ansehen, die dortigen Diskussionen über die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Verwendung der Mittel, die gezahlt werden, dann werden Sie schnell zu dem Ergebnis kommen, daß die Sie sehen also, Herr Kollege Voigt: Wenn Klärungs- Bundesregierung in dieser Frage richtig gehandelt bedarf besteht — bei Ihnen besteht solcher Bedarf hat. Sie hat sich dafür entschieden, eine Aktion im zuhauf, und als Frankfurter wissen Sie, was ich damit Namen der Vereinten Nationen zu unterstützen. meine! Dazu stehen wir. Ich habe das in der Debatte zum (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der Ausdruck gebracht, die wir neulich hatten, und daran CDU/CSU) ist nicht zu deuteln. 792 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher Meine Damen und Herren, wenn wir uns über die zu einem Staat mit endgültigen Grenzen ein bedeut- Ausgangspunkte unserer Politik vergewissern, so samer Beitrag zu Frieden und Stabilität in Europa können wir als erstes feststellen: Die Vereinigung ist. Deutschlands erweist sich als ein bedeutsamer Beitrag In diesem Europa erweist sich die Europäische Ge- für die Schaffung eines freien und vereinten Europas. meinschaft politisch und ökonomisch als Stabilitäts- Sie hat nicht ein neues Problem für Europa geschaf- raum, als der Stabilitätsraum, der auf den ganzen Kon- fen, sondern sie hat ein europäisches Problem gelöst. tinent und darüber hinaus steigende Attraktivität aus- Heute stehen wir als Deutsche vor zwei Herausforde- übt. In diese Europäische Gemeinschaft bringen wir rungen. Nach der äußeren Vereinigung gilt es, die das größere Deutschland mit seiner gewachsenen innere Vereinigung zu vollenden, und es gilt, sich der Verantwortung ein. Das ist die europäische Option größeren Verantwortung dieses vereinten Deutsch- des vereinigten Deutschland. Wir verstehen diese lands zu stellen. Verantwortung als ein noch stärkeres Engagement für Auch in Zukunft steht die deutsche Politik unter die europäische Einigung auf dem Weg zur Wirt- dem Gebot unserer Verfassung, als gleichberechtigtes schafts- und Währungsunion und zur politischen Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Union. Welt zu dienen. Deutsche Außenpolitik bleibt Frie- Der Bundeskanzler hat heute schon gesagt, die Ent- denspolitik. wicklung einer gemeinsamen europäischen Außen-, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und der WEU soll keine Wir haben das in dem Zwei-plus-Vier-Vertrag bekräf- Ersatz-NATO schaffen. Für uns steht sie in der Finali- tigt. Wir haben dort nämlich gesagt, daß das vereinte tät der europäischen Einigung. Sie wird so auch den Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen europäischen Pfeiler des westlichen Bündnisses festi- wird, es sei denn in Übereinstimmung mit der Charta gen. Wachsende europäische Identität soll den Atlan- der Vereinten Na tionen und mit seiner Verfassung. tik nicht breiter, aber unser Bündnis fester machen. Weil Sie die Unklarheit in den Ausführungen des Bun- Das westliche Bündnis, das Bündnis der nordamerika- deskanzlers gerügt haben, möchte ich aus der Rede, nischen und der europäischen Demokratien, hat sich die er heute hier gehalten hat, zitieren, um Ihnen zu in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls als ein Sta- zeigen, daß Sie unrecht hatten: bilitätsfaktor für Europa und die Welt erwiesen. Wir Als Mitglied der Vereinten Nationen haben wir wollen, daß es so bleibt. die Pflichten übernommen, die in der Charta der Die deutsch-amerikanische Freundschaft und die Vereinten Nationen niedergelegt sind. Dazu ge- europäisch-amerikanische Freundschaft und Part- hören auch Maßnahmen der kollektiven Sicher- nerschaft gehören zu den Konstanten auch des ver- heit. einten Deutschland. Unsere Verfassung — nicht zuletzt die deutsche (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Teilung — hat uns bei der vollen Wahrnehmung dieser Pflichten bisher Schranken auferlegt. Vielleicht sollten Sie, Herr Kollege Voigt, noch einmal darüber nachdenken, ob es nicht mißverständlich sein Das ist eine klare verfassungsrechtliche Posi tion. könnte, wenn Sie davon sprechen, daß die Amerika- Meine Damen und Herren, die Wertbezogenheit ner noch für einige Jahre hierbleiben sollten. unserer Außenpolitik und unsere Festlegung auf (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Das habe ich nicht Freiheit und Menschenwürde, auf Selbstbestimmung gesagt!) und Friedensbewahrung, das sind die Lehren aus un- serer Geschichte. Diese Poli tik hat uns den Weg zur — Für mehrere Jahre? Einheit geebnet, und sie hat uns das Vertrauen unse- (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Nein, dauernd!) rer Nachbarn und der Völker erworben. Wir werden auch in Zukunft unsere Poli tik auf diese Werte grün- —Dann lesen Sie einmal nach, was Sie gesagt haben. den. Wer daran zweifelt, daß wir dieses Vertrauen Die Klarstellung „dauernd" ist ein wich tiger Beitrag erworben haben — damit meine ich unser ganzes zur Übereinstimmung. Volk — , der sehe sich, Herr Kollege Voigt, die Umfra- Wenn wir aber von dieser Konstanze der europä- gen an, die in diesen Tagen aus Frankreich, aus den isch- amerikanischen Partnerschaft sprechen, dann Vereinigten Staaten und aus vielen anderen Staaten wissen wir auch, daß wir das auch beachten müssen, der Welt publiziert worden sind: In die Friedfertigkeit wenn es jetzt um den Erfolg der GATT-Runde geht. und Friedensgesinnung des deutschen Volkes setzt Auch hier muß Partnerschaft gelten. niemand einen ernsthaften Zweifel. Das ist ein Kom- (Dr. Hauchler [SPD]: Gerade hier hat die pliment für die Deutschen in der früheren Bundesre- deutsche Regierung doch am meisten ge- publik und genauso für diejenigen, die in einer f ried- lichen Revolution ihre Freiheit in den neuen Bundes- mauert!) ländern erworben haben. Darauf können wir stolz In diesem Bewußtsein der Bedeutung der europäisch- sein. amerikanischen Partnerschaft nehmen wir das Ange- bot des amerikanischen Präsidenten zur Partnerschaft (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) in der Führung an. Wir werden uns für die Fortent- Nicht nur die Unterzeichnerstaaten des Zwei-plus- wicklung unseres Bündnisses engagieren, so wie das Vier-Vertrages, der inzwischen von allen Unterzeich- vor dem Londoner Gipfel 1990 vorgegeben wurde. nern ratifiziert ist, sondern die ganze Staatengemein- Wir wollen damit das Bündnis für die neuen Chancen schaft bekräftigt, daß die Vereinigung Deutschlands und Herausforderungen zukunftsfähig machen. Das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 793

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher westliche Bündnis hat durch seine wertorientierte, politischer Stabilität. Es wird einen wichtigen Pfeiler politische und sicherheitspolitische Bestimmung seine der neu entstehenden Strukturen kooperativer Si- eigene Identität gefunden. Es war von Anfang an cherheit in Europa bilden. Niemand wird dieses Bünd- mehr als nur die Reaktion auf die sowjetische Vorherr- nis als Bedrohung empfinden, aber alle werden es als schaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. In Wahr- Gewähr eigener Sicherheit betrachten. heit wurde mit dem westlichen Bündnis die Lehre aus Zu den Konstanten unserer Politik in Europa gehört den Fehlern nach dem Ersten Weltkrieg gezogen. Das auch die Mitwirkung im Europarat. Er hat den euro- Ende des Warschauer Pakts berührt deshalb den Fort- päischen Rechtsraum, eigentlich müßte man besser bestand des westlichen Bündnisses nicht. sagen: den europäischen Rechtsstaatsraum, den Men- (Dr. Gysi [PDS/Linke Liste]: Das ist aber schenrechtsraum, den europäischen Demokratieraum neu!) geschaffen. Wir haben unsere Einheit erreichen kön- nen, weil wir dem Auftrag unseres Grundgesetzes — Für wen ist das neu? Für Sie? gerecht wurden, weil wir in der Verantwortung des (Dr. Gysi [PDS/Linke Liste]: Nein, Sie haben Briefes zur deutschen Einheit auf einen Zustand des früher die NATO häufiger mit dem War- Friedens in Europa hingewirkt haben, der die Vollen- schauer Pakt begründet — in den 50er und dung eben dieser Einheit in freier Selbstbestimmung 60er Jahren und auch in den 70er Jahren!) möglich machte. Ich denke, daß es sich lohnt, an einer —Herr Gysi, wir haben nie einen Zweifel daran gelas- solchen Politik festzuhalten. sen, daß für uns das westliche Bündnis mehr ist als Dazu gehört auch die Konstanz der deutsch-sowje- eine Allianz alten Stiles, als eine Militärallianz, und tischen Beziehungen. Die Gemeinsame Erklärung daß ihm eine Übereinstimmung der Werte zugrunde vom 13. Juni 1989, der deutsch-sowjetische Vertrag liegt. Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen vom 9. November 1990 haben das deutsch-sowjeti- westlichem Bündnis und Warschauer Pakt bestand sche Verhältnis als Konstante deutscher Außenpolitik darin, daß der Warschauer Pakt ein Instrument sowje- bestätigt, erweitert und bekräftigt. Von allen diesen tischer Vorherrschaft über Osteuropa war und das Konstanten ausgehend stellt sich das vereinte westliche Bündnis eine Wertegemeinschaft für Frei- Deutschland seiner größeren Verantwortung. Das heit und für Demokratie. drückt sich aus in dem Einsatz unseres größeren Ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — wichts für die europäische Einigung, für die Schaffung Dr. Hauchler [SPD]: So hätte es sein sol des einen Europa und bei der Lösung der globalen len!) Herausforderungen. — Herr Kollege, so ist es. Wenn Sie Unterlegenheits- Es ist offenkundig, daß die deutsche Teilung auch gefühle haben, schlage ich Ihnen vor: Wirken Sie mit die deutsche Außenpolitik über Jahrzehnte belastet bei der Entwicklung des europäischen Pfeilers, dann hat: Berlin-Krisen, deutsch-deutsche Spannungen, of- werden Sie auch dieses letzte Gefühl der Unterlegen- fene Grenzfragen haben uns, die Hauptbetroffenen heit verlieren. der Spaltung Europas, das immer wieder aufs neue bewußt gemacht. Aber wir haben zu keiner Zeit die (Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Sie glauben gar von unserer Verfassung vorgegebenen Prioritäten- nicht, mit welch dumpfen Gefühlen Men und Wertbestimmungen zur Disposition gestellt. Wir schen in Westeuropa die Politik dieser Bun haben uns zu keiner Zeit auf den Irrweg „Einheit vor desregierung betrachten!) Freiheit" oder „deutscher Sonderweg vor europäi- —Ich habe vor allen Dingen den tiefen Eindruck, daß scher Einbettung" begeben. Wir haben beides ge- viele Menschen dort, wo Sie jahrzehntelang Verant- wonnen: die Einheit der Deutschen und die Chance wortung getragen haben, froh waren — — zur Vereinigung Europas. (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Er kommt aus West (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten deutschland! — Zuruf von der CDU/CSU: Er der CDU/CSU) hat doch nur einen holländischen Paß!) Dieses Bewußtsein bestärkt uns in der Feststellung, — Er kommt aus Westdeutschland — und dann zur daß wir an den Grundwerten und den Grundorientie- PDS zu gehen, das ist nun wirklich der Gipfelpunkt rungen unserer deutschen Außenpolitik festhalten des politischen Irrtums. Das muß ich Ihnen sagen. werden. Wir werden sie zur Entwicklung der Konzep- tionen für die Wahrnehmung größerer deutscher Ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) antwortung nutzen. Ihre Beiträge heute, das waren schon „beachtliche Die neu gewonnene Handlungsfreiheit des verein- Beiträge" zur Lösung der deutschen Probleme. Ich ten Deutschlands wird ganz gewiß nicht zu neuer verstehe ja die tiefe Sorge vieler Menschen in den Machtpolitik genutzt werden. Es wird auch nicht zu neuen Bundesländern, wie es weitergeht; aber wenn einer Renationalisierung der deutschen Außenpolitik Sie hier Kritik üben, Herr Kollege Gysi und die ande- kommen. Nein, wir setzen unser Gewicht für ein grö- ren Angehörigen Ihrer Fraktion, dann kommt mir das ßeres europäisches Engagement in der EG und für das vor, als wenn der Brandstifter die Feuerwehr wegen ganze Europa ein. Wir appellieren an die Völker Euro- zu langsamer Arbeit kritisiert. Das ist das Problem, vor pas, dieses europäische Angebot der Deutschen anzu- dem Sie stehen. nehmen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Während sich der Stabilitätsraum, der durch die Meine Damen und Herren, das westliche Bündnis Staaten der Europäischen Gemeinschaft, des westli- ist und bleibt eine Konstante europäischer und welt chen Bündnisses und des Europarates gebildet wird, 794 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher dynamisch entwickelt, sehen wir uns in Mittel- und Staaten des Westens für alle unsere östlichen Nach- Osteuropa neuen, großen, dramatischen und krisen- barn einschließlich der Sowjetunion. haften Herausforderungen gegenüber. Die Staaten Mittel- und Osteuropas ringen um die Festigung ihrer Übergangszeiten bedeuten immer Instabilität. Bei demokratischen Strukturen und den Erfolg ihrer Re- der Lösung ökonomischer Übergangsprobleme zu formpolitik. Das Ende der militärischen Integration helfen ist ein Stabilitätsbeitrag. Wir Deutschen wer- des Warschauer Paktes, die Aufhebung und die Über- den uns — wie in der Vergangenheit — auch in der windung der kommunistischen Diktatur setzen natio- Zukunft unserer Verantwortung stellen. Wir tun das nale Strömungen frei. Manche suchen nach europäi- auch angesichts der großen Herausforderungen in scher Orientierung, andere noch nicht. den neuen Bundesländern; denn wir wissen: Europa darf nicht neu geteilt werden durch eine Armuts- Jugoslawien steht in einem tiefen Konflikt, der grenze oder durch unkontrollierbare Entwicklungen durch den Willen zu nationaler Identität, zu Demokra- östlich von uns. Auf der anderen Seite bedeutet der tie und zu wirtschaftlicher Reform bestimmt wird. In Erfolg der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen der Sowjetunion treffen der Wille zur Demokratisie- Bundesländern ganz sicher auch eine Ermutigung für rung, zu nationaler Selbstbestimmung und die Suche die Reformer in den Staaten Mittel- und Osteuro- nach einem wirtschaftlichen Reformkonzept auf den pas. Widerstand der alten Strukturen. Die Übergangs- Wenn es um Mittel- und Osteuropa geht, meine phase, die dieses riesige Land durchläuft, stellt nicht Damen und Herren, dann sind wir als Deutsche in nur die Sowjetunion selbst, sie stellt alle Europäer und besonderer Weise gefordert, nicht nur wegen unserer eigentlich die ganze Weltgemeinschaft vor große Pro- geographischen Lage, sondern auch wegen unseres bleme und Herausforderungen. Gewichts und wegen unserer historischen Bindungen Meine Damen und Herren, nicht nur für die Sowjet- und Verbindungen zu unseren östlichen Nachbarn union, bei allen Unterschieden auch für Jugoslawien einschließlich der Sowjetunion. Es gehört zu den be- und andere Staaten in Süd- und Osteuropa gilt: Die wegenden geschichtlichen Erfahrungen, daß diese Entwicklung neuer Formen des Zusammenlebens Bindungen durch die tragischen Ereignisse in den verschiedener Nationen kann nur als Ergebnis eines 30er und 40er Jahren eigentlich nur noch stärker ge- friedlichen politischen Dialogs gesichert werden. Die- worden sind. Polens Präsident hat Deutschland als Tor ser Dialog muß auf der Grundlage der Demokratie, der Freundschaft zu Europa bezeichnet. In der Tat: der Rechtsstaatlichkeit, der Achtung der Menschen- Wir wollen die gute deutsch-polnische Nachbarschaft und der Minderheitenrechte aller Beteiligten geführt noch in diesem Jahr vertraglich besiegeln. Wir wollen werden. das gleiche mit der CSFR Vaclav Havels. Wir werden unseren Einfluß als vereintes Deutschland bei unseren So stellt sich unser Europa heute als ein Erdteil dar, Partnern und Freunden wahrnehmen, damit auch sie der in dramatischen und doch f riedlichen Prozessen ihre gesamteuropäische Verantwortung erfüllen. lange aufgestaute Probleme gelöst hat, in dessen We- Alle Probleme im europäischen Osten sind auch sten es eine Stabilitätszone gibt, in dem zu gleicher unsere Probleme, und sie erfordern europäische Ant- Zeit im Osten und Südosten alte und neue Probleme worten. nach einer Antwort suchen. Dabei gilt es jetzt, diesen dramatischen Entwicklungen einen stabilen Rahmen (Beifall bei Abgeordneten der FDP) zu geben, damit wir nationale und europäische Bür- Wir werden in der Europäischen Gemeinschaft dafür gerkriege vermeiden. Die größere deutsche Verant- eintreten, daß die Europäische Gemeinschaft offen ist wortung wird sich darin erweisen, daß wir auch hier und offenbleibt für die Demokratien in Mittel- und die Lehren aus der eigenen Geschichte einbringen. Osteuropa. Wir wollen dazu beitragen, daß auf alle Fragen, die Europa heute belasten, europäische und nicht natio- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nalistische Antworten gegeben werden. Wer sie ausschließen will, verstößt gegen den Namen Meine Damen und Herren, es ist verständlich, daß unserer Gemeinschaft — sie heißt „Europäische Ge- sich die Aufmerksamkeit der Welt in den letzten Mo- meinschaft" und nicht „Westeuropäische Gemein- naten auf den Mittleren und Nahen Osten konzen- schaft" — und gegen den Geist der Römischen Ver- triert hat. Die Bemühungen um eine stabile Friedens- träge. Wer aber die Chance zum Beitritt eröffnet, gibt ordnung für diese Region werden jetzt größte An- die Kraft, die schwere Zeit des Übergangs zu beste- strengungen nicht nur der Staaten der Region, son- hen. dern auch der verantwortlichen Staaten und Staaten- Der KSZE-Prozeß bedarf in dieser Phase dringend gemeinschaften in der Welt verlangen. Aber wir dür- neuer und kräftiger Impulse. Die erste Außenminister- fen über dem Mittleren und Nahen Osten unseren konferenz, die auf der Grundlage der neuen Charta nächsten Osten, wir dürfen Mittel- und Osteuropa von Paris einberufen wird und im Juni in Berlin statt- nicht vergessen. findet, bietet eine Chance dafür. Der KSZE-Prozeß und die Charta für ein neues Europa bieten derzeit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten noch den einzigen Stabilitätsrahmen, der uns bisher der CDU/CSU) für das ganze Europa zur Verfügung steht und der Der Reformpolitik dort zum Erfolg zu verhelfen ist eine beide Großmächte einschließt. Seine Institutionen Aufgabe europäischer Solidarität, europäischer Stabi- müssen genutzt, ausgebaut und entwickelt werden. litätspolitik und europäischer Zukunftsgestaltung. Das Konfliktverhütungszentrum und auch das in La Das verlangt große Anstrengungen des Westens, aller Valletta vereinbarte neue KSZE-Streitbeilegungsver- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 795

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher fahren sind ein gewiß bescheidener, aber prinzipiell ren des Warschauer Pakts als logische Konsequenz neuer Anfang. aus der Aufgabe sowjetischer Vorherrschaftsansprü- che in Europa. Ich denke, wir sollten in diesem Zusam- Aber wir brauchen mehr: Wir brauchen eine Ent- menhang nicht das Engagement Präsident Gorba- scheidungs- und Handlungsinstanz als Institution ge- tschows für die Ratifizierung des Zwei-plus-Vier-Ver- samteuropäischer Sicherheit und Zusammenarbeit. trages vergessen. Wir brauchen ein europäisches Sicherheitsgremium und — warum nicht? — in ferner Zukunft auch einen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Europäischen Sicherheitsrat unter dem Dach der Ver- bei Abgeordneten der SPD) einten Nationen, damit wir die Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten für unseren Kontinent ver- Es liegt auch in unserem Interesse, daß die Sowjet- stärken können. union ihre inneren Probleme im Geist der Schlußakte von Helsinki, im Geist der Charta für ein neues Europa In den neuen politischen, ökonomischen und ko- und der Grundsätze des Europarates lösen kann. Das operativen Sicherheitsstrukturen müssen auch die verlangt die Fortsetzung der Demokratisierung, die Demokratien Mittel- und Osteuropas ihren Platz fin- von Präsident Gorbatschow so mutig begonnen wor- den können. Sie wenden sich hin zur Europäischen den ist. Wir alle brauchen eine stabile und handlungs- Gemeinschaft und zum Europarat. Das schafft für nie- fähige Sowjetunion als unverzichtbaren Faktor der manden Probleme, aber es wird den Stabilitätsraum neuen Architektur für das ganze Europa. ausdehnen. Die ermutigenden Entwicklungen, die in den letz- Nach Auflösung des Warschauer Pakts und damit ten Jahren in Europa möglich wurden, die den West- auch der Beendigung der Vorherrschaft durch die So- Ost-Gegensatz auch in der Dritten Welt beseitigt und wjetunion erheben die Staaten Mittel- und Osteuro- damit die Lösung wichtiger regionaler Probleme er- pas mit Recht Anspruch auf volle, gleichberechtigte möglicht haben, verlangen ebenfalls die Mitwirkung Sicherheit. Es liegt im gesamteuropäischen Interesse, der Sowjetunion. Von keiner dieser Entwicklungen daß weder ein machtpolitisches Vakuum noch macht- soll sie ausgeschlossen werden. Ihr Beitrag für die politische Verschiebungen in Europa entstehen. In neue Weltordnung ist unverzichtbar. diesem Bereich liegen die vordringlichen Aufgaben für die neue europäische Sicherheitsarchitektur. Die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Staaten Mittel- und Osteuropas müssen in diesen der CDU/CSU) Strukturen europäischer Sicherheit ihren sicheren Deutschland sieht seine Aufgabe da rin, im Rahmen Platz einnehmen können. der Europäischen Gemeinschaft und des westlichen Im Verhältnis zur Sowjetunion wird es darauf an- Bündnisses das Verhältnis zur Sowjetunion weiter kommen, daß diese Länder an Stelle der überwunde- auszubauen und zu entwickeln. Wir tun das im Be- nen Vorherrschaft ein auf Gleichberechtigung beru- wußtsein der zentralen Bedeutung des deutsch-so- hendes Nachbarschaftsverhältnis finden, das sich auf wjetischen Verhältnisses. den Verzicht auf Gewalt sowie auf Zusammenarbeit Meine Damen und Herren, mit dem Blick auf die gründet. Vereinten Nationen können wir feststellen: Weltweit- Für die Stabilität gesamteuropäischer Architektur begegnen sich nicht mehr zwei deutsche Staaten. ist es notwendig, daß einer ihrer wichtigsten Bau- Auch in den Vereinten Nationen ist das deutsche Volk steine, nämlich der Vertrag über die konventionelle durch eine Regierung vertreten. Das ermöglicht es Abrüstung, ohne Abweichungen eingehalten wird uns, weltweite Verantwortung auch in den Vereinten und zur Ratifizierung kommt. Wir hoffen und wir er- Nationen ohne jede Beschränkung zu übernehmen. warten, daß sich auch in der Sowjetunion die Auffas- Unser Wille, durch eine Änderung unserer Verfas- sung durchsetzt, die bei der Verhandlung und Unter- sung die in der Vergangenheit wohlbegründete zeichnung des Vertrages galt. Selbstbeschränkung zugunsten einer Mitwirkung deutscher Streitkräfte bei Einsätzen im Rahmen der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vereinten Nationen zu ermöglichen, ist Ausdruck der CDU/CSU und des Abg. Voigt [Frank dessen, jetzt möglich gewordene größere Verantwor- furt] [SPD]) tung auch wahrzunehmen. Wir werden uns dieser Die Ratifizierung und die Einhaltung dieses Vertra- Verantwortung stellen. Wenn wir das im Rahmen eu- ges wird den Bemühungen um Beseitigung der nukle- ropäischer Streitkräfte tun könnten, wäre das ein aren Kurzstreckensysteme und der nuklearen Artille- wichtiger Schritt hin zu einer gemeinsamen europäi- rie in Europa zusätzliche Impulse geben. Diese Waf- schen Sicherheitspolitik. fen haben in der europäischen Friedens- und Stabili- Aber wir sehen unsere Mitwirkung in den Verein- tätsordnung, die wir anstreben, keinen Platz mehr. ten Nationen nicht zuerst und ganz gewiß nicht allein (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie in der Perspektive der Teilnahme deutscher Streit- bei Abgeordneten der SPD) kräfte an Aktionen der Vereinten Nationen. Wir wol- len an der Stärkung der Vereinten Nationen und am Wir kennen die schwerwiegenden Probleme, denen Ausbau ihrer Handlungsfähigkeit mitwirken. Die sich der sowjetische Präsident gegenübersieht. Wir Überwindung des West-Ost-Gegensatzes eröffnet die anerkennen, daß er in einer schwierigen innenpoliti- Chance dafür. schen Phase außenpolitisch Kurs hält. Die verantwor- tungsvolle Mitwirkung der Sowjetunion im Weltsi- Eine Stärkung der Vereinten Nationen bedeutet cherheitsrat während der Golfkrise beweist das zuallererst, die Fähigkeit ihrer Organe — des Gene- ebenso wie die Auflösung der militärischen Struktu ralsekretärs und des Sicherheitsrates —, die Möglich- 796 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher keiten der politischen Konfliktlösung zu verstärken. im Rahmen der Satzung der Vereinten Nationen zu Die Vereinten Nationen sollen auch stärker mitwirken ermöglichen, so ist das kein Anlaß, deshalb den können bei der Bewältigung der globalen Herausfor- Grundsatz der Wehrpflichtarmee in Frage zu stel- derungen, beim Schutz der natürlichen Lebensgrund- len. lagen, bei der Überwindung von Hunger, Not und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Elend auch als Ursache von Flüchtlingsströmen, bei bei Abgeordneten der SPD) der Entmilitarisierung der internationalen Beziehun- gen durch die Unterstützung regionaler Abrüstung in Der sicherheitspolitische Konsens unserer Gesell- allen Teilen der Welt und bei der Beschränkung des schaft, der für die Stabilität unseres Staates auch in weltweiten Rüstungsexports. Zukunft von großer Bedeutung ist, wird gerade durch die Wehrpflichtarmee und auch durch die Integration Wenn es darum geht, größere Verantwortung zu der Armee in die Gesellschaft garantiert. Die Bundes- übernehmen, um damit sowohl unserer Geschichte wehr wird auch in Zukunft auf der Grundlage der wie den Werten unserer Verfassung gerecht zu wer- unveränderten Wertebestimmung unseres Grundge- den, wird es uns besonders auszeichnen, wenn wir setzes ihren Auftrag erfüllen. uns noch stärker der Lösung dieser Menschheitsauf- Es bleibt dabei, meine Damen und Herren: Unser gaben zuwenden. Hier gilt es, unsere größere Verant- wortung zu erfüllen. Auftrag lautet, Europa zu einen und dem Frieden der Welt zu dienen. Das ist der Auftrag unserer Verfas- Ich denke, wir werden unser stärkeres Gewicht sung. Wir wissen, daß viele Fragen in den alten und auch einsetzen, um unsere Wertverpflichtung bei der neuen . Bundesländern unterschiedlich beantwortet weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte noch werden. Auch hier drücken sich Jahrzehnte unter- stärker zu vertreten. schiedlicher Erfahrungen aus. Aber unser Volk ist eins in dem Willen zu Freiheit und zu Demokratie und zur (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sicherung dieser Freiheit und dieser Demokratie. der CDU/CSU) Was die Gestaltung der deutschen Nachkriegsde- Meine Damen und Herren, nach allem, was in der mokratie bis zum 3. Oktober 1990 in der alten Bundes- deutschen Geschichte war, kann es für die deutsche republik bedeutet, das hat die f riedliche Freiheitsre- Politik immer nur den Platz auf der Seite der Men- volution in der früheren DDR zum Ausdruck gebracht. schenrechte, auf der Seite des Selbstbestimmungs- Dieses Bekenntnis zur Freiheit hat dem deutschen rechts, der territorialen Integrität und der Souveräni- Volk das zurückgegeben, was ihm die Schande des tät aller Staaten geben. Das hat unsere Haltung wäh- Faschismus genommen hat. Diese Würde einer frei- rend des Golfkrieges bestimmt. Das wird sie auch bei heitlichen Demokratie und einer freien Gesellschaft unserer Mitwirkung an der Schaffung einer Friedens- werden wir uns für immer bewahren. ordnung für die leidgeprüfte nah- und mittelöstliche Region bestimmen. Für die Deutschen hat es in der Nachkriegsge- schichte gewiß keine Idylle gegeben. Ich sehe das Es ist in den letzten Wochen und Monaten die Frage auch jetzt nicht voraus. Die Herausforderungen waren gestellt worden, ob sich das deutsche Volk nur in einer unterschiedlich; je nachdem, wo wir diese Zeit — in Idylle oder in einer Nische der internationalen Politik West oder Ost — erlebt haben. Leicht war es nicht, sie wohlfühlen und zurechtfinden könne. Ich denke, das zu bestehen. Wir haben sie bestanden. Die Deutschen deutsche Volk hat diese Frage in den letzten 45 Jah- in der früheren DDR hatten dabei die größere Last ren beantwortet. Kein Volk war von dem West-Ost- unserer Geschichte zu tragen. Gegensatz, von der Konfrontation in Europa, von der Wenn ich das alles zusammennehme, meine Damen Spaltung Europas und vom Kalten Krieg so zutiefst und Herren, dann können wir aus Überzeugung sa- betroffen, wie es die Deutschen waren. Das war wahr- gen: Auf das Bekenntnis zu Freiheit und Frieden und lich keine Nische für unser Volk, auf die Entschlossenheit, Freiheit und Frieden für sich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie und für andere zu bewahren, können sich die Völker bei Abgeordneten der SPD) der Welt bei den Deutschen verlassen. und die Deutschen in der DDR haben gewiß nicht in Ich danke Ihnen. einer Idylle der Weltpolitik gelebt. Zu keiner Zeit ha- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ben die Deutschen der früheren Bundesrepublik ge- zögert, ihre Verantwortung für die Sicherung der Frei- heit und des Friedens zu übernehmen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hauchler. Deutschland hat eine Wehrpflichtarmee, die in un- serem Volk verankert ist, die Teil unserer demokrati- schen Gesellschaft ist und die von einem sicherheits- Dr. Ingomar Hauchler (SPD) : Herr Präsident! Meine politischen Konsens getragen wird. Unsere Soldaten sehr verehrten Damen und Herren! Die Regierung hat haben ihren Dienst seit Bestehen der Bundeswehr in heute in einer sechsstündigen Debatte den Nord-Süd- Zeiten der höchsten Spannungen, in Zeiten schärfster Konflikt nahezu totgeschwiegen. politischer Konfrontation und in Zeiten von Druck und (Bundesminister Genscher: Na! — Zurufe Bedrohung getan, und niemand hatte einen Grund, an von der CDU/CSU: Dann haben Sie die der Verläßlichkeit der Deutschen und ihrer Soldaten ganze Zeit nicht zugehört! Der war wohl zu zweifeln. lange Zeit nicht da!) Wenn wir uns nun entschließen, durch eine Verfas- Dies ist, Herr Minister Genscher, ein Armutszeugnis sungsänderung die Mitwirkung deutscher Streitkräfte und setzt ein falsches Signal. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 797

Dr. Ingomar Hauchler Hört deutsche Außenpolitik in Osteuropa, in den für andere Entwicklungsländer nicht geschmälert USA, am Golf und am Mittelmeer auf, oder ist sie sich werden. bewußt, daß vier Milliarden Menschen auf dieser Welt — und viele davon hungern — jenseits dieses vereng- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ ten Blickfeldes der Außenpolitik dieser Bundesregie- GRÜNE) rung leben? Für den Nahen Osten selbst geht es jetzt darum, mit Dabei hätte die Bundesregierung spätestens durch höherem Engagement als bisher eine dauerhafte Frie- den Golfkrieg die Nord-Süd-Beziehungen als politi- densordnung zu schaffen. Eine unverzichtbare Vor- sche Herausforderung erster Ordnung begreifen müs- aussetzung dafür ist aber, Vereinbarungen über wirt- sen. Sie hätte endlich lernen können, daß der Ent- schaftlichen und sozialen Ausgleich dort zu erreichen. wicklungspolitik zunehmend die Rolle einer präven- Dies hat Willy Brandt schon vor Jahren vorgeschla- tiven, globalen Sicherheitspolitik zufallen muß. gen. In diesem Zusammenhang jetzt aber schon wie- der von einem Marshallplan zu reden, wie dies der Am 30. Januar dieses Jahres versprach der Bundes- Bundeskanzler getan hat, halte ich für falsch. Nicht kanzler in seiner Regierungserklärung — ich zitiere — : nur, weil es in den letzten Jahren wohlfeil geworden ist, immer gleich von Marshallplänen zu reden, wenn Dialog und Ausgleich zwischen Nord und Süd es um irgendein Weltproblem geht, sondern auch weil werden die großen Herausforderungen in den sich ein regionaler Wirtschaftsplan für den Nahen 90er Jahren bleiben. Wir werden als vereintes Osten gerade ganz wesentlich vom Marshallplan un- Deutschland unsere Entwicklungshilfe auch in terscheiden muß. Er muß und kann nämlich zum größ- Zukunft steigern. ten Teil aus der Region selbst finanziert werden. Wochen später aber bricht Helmut Kohl auch dieses Sodann darf ein regionales Aufbau- und Entwick- Wort. lungsprogramm für den Nahen Osten nicht wie der (Toetemeyer [SPD]: Sehr wahr!) Marshallplan mit hegemonialen Ansprüchen in die- sem Raum verknüpft werden, und schließlich sollte Das Bundeskabinett beschließt einen Haushalt, der, dieses Programm nicht so sehr auf die einzelnen Län- läßt man sich von Tricks nicht täuschen, im Vergleich der, sondern vor allem auf regionale Entwicklung und zur Haushaltsplanung 1990 weniger Mittel für die regionalen Ausgleich gerichtet und damit Grundlage Entwicklungsländer vorsieht. für eine gemeinsame Friedensordnung werden. (Toetemeyer [SPD]: So ist es!) Meine Damen und Herren, die Kürzung der Mittel für die Dritte Welt ist kurzsichtig. In einem Jahr für Nicht nur die für 1991 veranschlagten effektiven Aus- Deutschland 150 Milliarden; für Osteuropa 20 Milliar- gaben für Entwicklungshilfe sinken, wenn man die den und mehr und für den Golfkrieg innerhalb weni- früheren Ausgaben der ehemaligen DDR berücksich- ger Monate so eben mal 17 Milliarden, Herr Außen- tigt; und das muß man tun. Zusammengestrichen wer- minister. Für 120 Länder in der Dritten Welt aber nur den auch die Zusagen für künftige Projekte der bila- ein Bruchteil dessen, was wir für Deutschland, Osteu- teralen Zusammenarbeit um mehr als 700 Millionen ropa und den Golf ausgeben? Wahrlich ein schlimmes- DM. Mißverhältnis! Diese Kürzung ist eine Schande, wenn man den (Beifall bei der SPD) Hunger, die Naturzerstörung und die Flüchtlings- ströme in und aus der Dritten Welt wachsen sieht und Der Süden wird registrieren, wie schnell der Norden weiß, daß der Golfkrieg viele Entwicklungsländer zu- unvorstellbare Kapitalsummen mobilisieren kann, um sätzlich belastet hat. Zerstörung zu finanzieren, und wie genau der Norden jede Mark umdreht, wenn es um die Bekämpfung von Wenn Kosten der deutschen Einheit und des Golf- Armut, Vertreibung und Umweltzerstörung geht. krieges auf Kosten der Dritten Welt refinanziert wer- Viel, viel Geld also, wenn es um Krieg und Eingreif- den, widerspricht dies diametral einer weiteren An- truppen geht, um dem Völkerrecht Geltung zu ver- kündigung des Bundeskanzlers in seiner Regierungs- schaffen, das man selbst von mancher Seite vielfach erklärung. Er sagte in bezug auf die Asylpolitik — ich gebrochen hat, wenig Geld, wenn es um Entwicklung, zitiere wieder — : also die Verhütung von Krieg, um mehr Gerechtigkeit und um ökologische Vorsorge geht. Aber das kennen Um das Problem der Flüchtlings- und Wande- wir ja. Von bestimmten konservativen Kräften wurde rungsströme in und nach Europa zu lösen, müs- wieder einmal wie eh und je vor allem das Bündnis der sen wir gemeinsam die Ursachen in den Her- Solidarität der Reichen beschworen, statt Gerechtig- kunftsländern bekämpfen. keit gegenüber den Hungernden zu üben. Dabei wis- Wohl wahr! Doch die Mittel, um die Probleme vor Ort sen wir: Die wichtigste aller Kriegsursachen ist — ne- zu lösen, werden gekürzt. ben Eroberungsdrang und blanker Not — mangelnde Gerechtigkeit. Fundamentalistische Strömungen Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bun- werden mehr und mehr wachsen, wenn diese Welt desrepublik muß mithelfen, die Lasten von Nahost — das gilt auch für die Verhältnisse im Nahen Osten Ländern, die durch den Golfkrieg verursacht sind, zu — auch durch unsere Schuld weiter so ungerecht ge- lindern. Gleichzeitig muß aber sichergestellt werden, ordnet ist. daß zusätzliche Hilfen nur für die wirklich armen Län- der zur Verfügung gestellt und daß dadurch die Mittel (Beifall bei der SPD) 798 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Ingomar Hauchler Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition lich eine wirksamere Antwort auf die globalen Pro- aus CDU, CSU und FDP versagen nicht nur, wenn es bleme der Zeit zu geben. Begreifen wir doch, die Re- darum geht, der gewachsenen Verantwortung zepte eines kruden internationalen Manchestertums à Deutschlands für den Nord-Süd-Ausgleich finanziell la Lambsdorff haben nicht gegriffen! Das beweist gerecht zu werden. Sie hat auch dafür kein überzeu- schlagend — ganz aktuell — auch die Entwicklung in gendes politisches Konzept. Ihre Entwicklungspolitik der ehemaligen DDR. ist halbherzig, voller Widersprüche und spielt nicht Die SPD fordert ein Umdenken und Umsteuern in selten auch den bloßen Handlanger anderer Interes- der deutschen Entwicklungspolitik. sen. Erstens: statt Diktat: Dialog. Dieser muß auf Re- Die Halbherzigkeit dieser Regierung zeigt sich spekt und Toleranz gegenüber anderen Kulturen und darin, daß sie Initiativen, die sie zu Schwerpunkten Religionen gegründet sein. Dies gehörte zu einer sinn- ihrer Politik erklärt hat, nicht ernsthaft genug verfolgt. vollen Außenpolitik mit langfristiger Perspektive. Was ist aus der globalen Umweltoffensive des Bun- Wirklicher Dialog schließt aber auch Selbstkritik ge- deskanzlers, die er auf den letzten beiden Weltgipfeln genüber den sozialen und ökologischen Folgen des ergriffen hat, geworden? Der Berg kreißte und gebar westlichen Industriesystems und seinen materialisti- eine Maus. Was folgte aus den Ankündigungen, der schen Begriffen von Fortschritt und Entwicklung internationalen Verschuldungskrise zu Leibe rücken ein. zu wollen? Die Schulden sind weiter gestiegen. Wel- che Schlüsse wurden aus der Einsicht gezogen, man (Beifall bei der SPD) müsse die Flüchtlingsprobleme stärker am Ort ihrer Zweitens. Entwicklungspolitik muß Querschnitts- Entstehung lösen? Entwicklungshilfe für solche Län- aufgabe werden, statt Summe isolierter Einzelpro- der wird in Zukunft gekürzt. Die Bundesrepublik hat jekte zu sein. Von ihr müssen ressortübergreifende also auf keinem dieser Felder überzeugende Maßnah- Impulse für global verantwortliches Handeln ausge- men ergriffen. hen. Direkt widersprüchlich ist aber die Politik von CDU, Drittens. Mehr Geld ist keine hinreichende, aber CSU und FDP, wenn es darum geht, ihre so sehr vor- immer noch eine notwendige Bedingung für die Ent- getragenen eigenen Maximen von Freihandel, Men- wicklungspolitik. schenrechten und ökologischer Verantwortung selbst zu befolgen. Statt Freihandel: Agrar- und Textilpro- (Beifall bei der SPD) tektionismus, jetzt vorgeführt in der Uruguay-Runde. Ohne zusätzliche Finanzmittel wird es keine Lösung Statt wirksamer Gesetze und Kontrollen bei Waffen- des Schuldenproblems, keine ausreichende globale exporten: Blaupausen für Südafrika, Chemie für Sad- Umweltvorsorge und keine Eindämmung einer durch dam und Tornado-Kredite für Jordanien. Statt Men- Armut und Naturzerstörung bedingten Völkerwande- schenrechte als Bedingung deutscher entwicklungs- rung geben. Wenn wir heute nicht in Entwicklung politischer Leistungen: eine U-Bahn für das totalitäre investieren wollen, werden uns morgen viel höhere chinesische Regime, das Panzer über Demonstranten Quittungen präsentiert werden. rollen läßt. Und, Herr Genscher, ein 100-Millionen Scheck des deutschen Außenministers für einen Dik- (Beifall bei der SPD) - tator, der eine ganze Stadt im eigenen Land zerbom- Die Dividende aus der Abrüstung zwischen Ost und ben läßt. West, die sich ankündigt, darf nicht im Norden ver- frühstückt werden. Zum schieren Handlanger aber gerät Entwick- lungspolitik, wenn sie sich zum willfäh rigen Instru- Viertens. Die einzelnen Projekte der Entwicklungs- ment kurzfristiger außenpolitischer Ziele und p rivater politik müssen effektiver sein und voll auf Armutsbe- Unternehmens- und Bankinteressen machen läßt, wie kämpfung, Umweltschutz und eigenständige Ent- es nach wie vor — nur auf etwas leiseren Sohlen als wicklung konzentriert werden, statt über sogenannte früher — geschieht. Die Schecks, die im Entwick- Warenhilfen, wie jetzt geschehen, Mittel für Großpro- lungshilfeministerium im Auftrag des Außenministers jekte zu verschleudern und Waffenbudgets für aus- für Sonderhilfen ausgeschrieben werden, sind nicht beuterische und aggressive Eliten aufzufrisieren. gerade der Beweis einer entwicklungspolitischen (Beifall bei der SPD) Konzeption dieser Bundesregierung. Fünftens. Neben einzelnen guten Projekten müssen (Beifall bei der SPD) vor allem bessere Rahmenbedingungen für eine ei- Meine Damen und Herren, die Koalitionsfraktionen genständige Entwicklung im Süden gefördert wer- haben nicht erkannt, daß die Nord-Süd-Politik zu den den. Dies gilt für die weltwirtschaftlichen Strukturen. größten Herausforderungen der Zukunft zählt. Daran Sie müssen den Entwicklungsländern wirklich faire haben weder die Mahnungen der Kirchen noch die Chancen zur Teilnahme an der internationalen Ar- Appelle unseres Bundespräsidenten, auch nicht die beitsteilung eröffnen. Deshalb fordere ich Sie auf, Einsicht einiger nachdenklicher Kolleginnen und Kol- auch Sie, Herr Außenminister: Sorgen Sie dafür, daß legen aus den konservativen liberalen Fraktionen et- die GATT-Runde auch im Interesse des Südens wirk- was geändert. Die konservativen Kräfte versagen vor lich zu einem Erfolg wird und nicht von uns selbst einer historischen Aufgabe. weiter boykottiert wird! Wir Sozialdemokraten bestehen demgegenüber (Beifall bei der SPD) darauf, daß die Entwicklungspolitik sowohl finanziell Dies gilt aber auch für strukturelle Reformen in den als auch konzeptionell in die Lage versetzt wird, end Entwicklungsländern selbst. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 799

Dr. Ingomar Hauchler Die verengten Auflagen des Internationalen Wäh- weil sie nicht im Zentrum standen, doch noch erwähnt rungsfonds sind, wiewohl in gewissen Punkten theo- sein. retisch richtig, praktisch völlig unzureichend, um au- tonome Entwicklungsprozesse zu beschleunigen. Es Zum einen hat sich durch die Debatte heute immer geht viel eher um eine gerechtere Einkommensvertei- wieder der Golfkrieg gezogen. Dies ist richtig und lung, um dort Nachfrage zu schaffen, oder um Agrar- berechtigt. Denn was hat uns in den letzten Wochen reformen, um mehr Land produktiver zu bewirtschaf- und Monaten, nachdem wir die Einheit erlebt hatten ten, oder um den Aufbau eines Kapitalmarktes, um und jetzt gestalten müssen, so sehr bewegt wie das das Sparkapital der Länder in produktive Verwen- Problem des Golfkrieges? dungen umzusetzen. Da dies die erste Debatte nach dem Ende dieses Ich komme jetzt wirklich zum Schluß, Herr Präsi- Krieges ist, ist es, glaube ich, richtig und wichtig, daß dent. Vielen Dank für Ihre Geduld. ich hier sage: Ich möchte denjenigen Anerkennung Spätestens der Golfkrieg hat gezeigt: Wir müssen zollen, die den Sieg in einem Krieg errungen haben Nord-Süd-Politik umfassender konzipieren und ins- den sie nicht führen wollten, aber führen mußten, um gesamt ernster nehmen. Sie ist die unverzichtbare einen Diktator und Aggressor in die Schranken zu Grundlage einer vorsorgenden globalen Sicherheits- weisen. Vieles ist dazu schon gesagt worden. Ich und Friedenspolitik. Statt die Trümmer von Kriegen möchte betonen: Die Tatsache, daß dies unter dem wegzuräumen, muß Entwicklungspolitik Kriege, Dach der UNO, unter der Führung der USA und unter Flucht und Not verhindern helfen. politischer Mitwirkung der UdSSR möglich war, gibt Hoffnung auf eine neue, effektivere Frieden schaf- (Beifall bei der SPD) fende und sichernde Rolle der Vereinten Nationen. Es Davon ist die Politik dieser Regierung noch weit ent- gibt Hoffnung, daß es gelingt, hinreichend abschrek- fernt. kend auf potentielle Aggressoren zu wirken. Vielen Dank. Wir möchten trotz der Eile und Hetze der Zeit nicht (Beifall bei der SPD) versäumen, all derer zu gedenken, die Opfer dieser Wahnsinnsentwicklung und -politik von Saddam Hussein gewesen sind. Die Folgen der verbrecheri- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat schen Politik halten an. Not und Elend im Irak und den der Abgeordnete Dr. Hornhues das Wort. angrenzenden Ländern halten an. Wir sollten das nicht aus den Augen verlieren, auch wenn sich die Scheinwerfer der veröffentlichten Meinung auf ande- Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU) : Herr Präsi- res richten. Wir jedenfalls werden dies tun. dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Las- sen Sie mich mit zwei Feststellungen beginnen. Er- (Beifall bei der CDU/CSU) stens stelle ich fest, daß nach der Rede des Bundes- Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrem Be- kanzlers offensichtlich auch bei der Opposition im mühen, einen Beitrag zu leisten, wenn es jetzt gilt, wesentlichen der Eindruck entstanden ist, er habe die nach dem Ende des Krieges den Frieden für diese riff; es lohne sich nicht, weiter Dinge schon fest im G Region zu gewinnen. Jeder weiß — ich brauche da gegen ihn zu argumentieren. nicht ins Detail zu gehen — , wie unendlich schwierig (Matthäus-Maier [SPD]: Wie kommen Sie dies sein wird. denn darauf?) Wir danken den Alliierten für die faire Würdigung Dieser Eindruck ist richtig. des deutschen Beitrags in diesem Krieg. Wir waren in Zweitens zur Ankündigung des Kollegen Voigt hin- diesem Konflikt von Anfang an Partei. Jedenfalls ist sichtlich seines außenpolitischen Konzepts für die dies die Meinung der CDU/CSU; von anderer Seite SPD: Ich muß dem Kollegen Außenminister Genscher klang es anders. Wir waren Partei auf seiten des Völ- zustimmen und stelle fest, meine sehr verehrten Da- kerrechts, auf seiten der Vereinten Nationen, auf sei- men und Herren: Das, was die Bundesregierung ten der Alliierten am Golf, gegen einen verbrecheri- durch den Kanzler und vor allen Dingen auch soeben schen Aggressor. durch den Bundesaußenminister vorgetragen hat, ist ein Konzept, soweit wir es in der Schnelle alles verste- Vielleicht stünden wir ein wenig besser im interna- hen konnten. tionalen Ansehen da, in der Beurteilung dieses neuen Deutschlands, auf das alle von außen her so heftig (Lachen bei der SPD — Voigt [Frankfurt] geschaut haben, wenn der Oppositionsführer in sei- [SPD]: Das war entlarvend, Herr Hornhues: nem heutigen Beitrag sich nicht auf den lapidaren nicht verstanden, aber schon zugestimmt!) Satz beschränkt hätte, auch nach der Beendigung des — Man muß sorgfältig zuhören; deswegen macht man Krieges bleibe die SPD bei ihrer Auffassung, man sich noch ein Hintertürchen auf. Das sollten auch Sie habe diesen Auffassungen nichts hinzuzufügen. häufiger tun, wenn Sie den Mund so voll nehmen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir kom- Noch immer stehen die Schlagzeilen im Raum „SPD: USA führen den Krieg verbrecherisch" und men also zu dem Ergebnis, da wir die Bundesregie- rung wie üblich unterstützen, daß wir auch dort in der „Lafontaine: Das Morden muß aufhören" — auf die USA gemünzt. Vorhand sind. Gestatten Sie mir zum Ende der Debatte noch einige Ich hoffe nicht, meine sehr geehrten Damen und Anmerkungen, von denen ich glaube, sie sollten hier, Herren von der SPD, daß diese Aussagen, die aus 800 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Karl-Heinz Hornhues Ihren Reihen stammen und nicht von irgend jeman- Das, was der Herr Fraktionsvorsitzende der SPD, dem kommen, unverändert so bestehen bleiben. Herr Vogel, heute hierzu gesagt hat, läßt uns zweifeln, (Matthäus-Maier [SPD]: Nicht die SPD!) daß es möglich sein wird, eine derartige Klarstellung im Grundgesetz mit Zustimmung der SPD zu errei- — Ich danke Ihnen, daß Sie sagen „Nicht d i e SPD ". chen. Das gibt den Skeptikern in unseren Reihen Das ist eine Klarstellung. Ich hätte gern von Ihrem recht, die immer ihre Zweifel daran gehabt haben, daß Fraktionsvorsitzenden gehört, was in Ihren Reihen ei- dieser Weg ein machbarer Weg sei; deswegen der gentlich noch gilt oder nicht gilt. Verweis darauf. (Hinsken [CDU/CSU]: Da kennt man sich bei denen nie aus!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Dies ver- Meine Fraktion dankt den Soldaten der Bundes- anlaßt den Abgeordneten Voigt, eine Zwischenfrage wehr, die jetzt aus der Türkei zurückkehren, für ihren stellen zu wollen. Einsatz, den sie als Beitrag im Bündnis geleistet ha- ben, der deutlich gemacht hat, daß wir zu unseren Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU): Nein, danke Bündnisverpflichtungen stehen. Wir freuen uns, daß schön. Ich möchte zum Ende kommen. sie gesund und heil zurückgekehrt sind. Ein zweiter Punkt gehört zu unseren Hausaufga- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben, nämlich die von uns in dieser bzw. in der näch- Wir wünschen den Soldaten der Bundesmarine, die sten Woche beabsichtigte Verschärfung und Verbes- jetzt mit ihren Schiffen in den Golf auslaufen, um dort serung der Exportkontrollen. Wir müssen uns dabei Minen zu räumen — ich habe mir sagen lassen, daß allerdings darüber im klaren sein, daß auch verbes- das nicht völlig ungefährlich sein soll — , daß sie ihre serte und verschärfte Strafbestimmungen das Pro- Arbeit, die sie zu tun haben, erfolgreich bewältigen. blem letztendlich nicht lösen werden. Wir möchten die Wir wünschen ihnen eine glückliche Heimkehr zu Bundesregierung nachdrücklich auffordern, die Lö- ihren Familien in Deutschland. sung dieses Problems auch durch europäische und — darüber hinausgehend — internationale Regelungen (Zuruf von der SPD: Wir auch!) anzugehen, die dann letztlich auch greifen. —Ich bedanke mich, daß auch Sie das tun. Es wäre für (Beifall des Abg. Hinsken [CDU/CSU]) diese Soldaten noch schöner gewesen, wenn Ihr Vor- sitzender ihnen nicht hinterhergerufen hätte, das Zwar haben wir — der Bundeskanzler hat darauf Ganze finde in einer Grauzone verfassungspolitischer schon hingewiesen, meine sehr geehrten Damen und Probleme statt. Wie müssen sich Soldaten fühlen, Herren — auf Grund dessen, was wir haben erfahren wenn das der Abschiedsgruß der SPD an sie ist? müssen, was uns ins Bewußtsein gekommen ist, unser spezielles Maß an Betroffenheit. Aber es ist notwen- Ich möchte einen anderen Punkt aus der heutigen dig, daß wir die Dinge gemeinsam lösen, weil wir Debatte aufgreifen. Meine Fraktion teilt, wie Sie viel- sonst in einigen Wochen, Monaten oder Jahren hier leicht wissen, die Absicht des Bundeskanzlers, zu ei- stehen und ähnliche Probleme erneut zu diskutieren ner baldigen Klarstellung im Grundgesetz zu kom- haben. men, daß Deutschland im Rahmen kollektiver Sicher- heitssysteme auch militärisch seinen angemessenen (Beifall bei der CDU/CSU) Beitrag zur Friedenssicherung leisten kann, wenn nö- Meine sehr geehrten Damen und Herren, der tig. Wir sind aber zugleich der Auffassung, daß dies Scheinwerfer des Interesses der Öffentlichkeit wird das Grundgesetz bereits jetzt prinzipiell ermöglicht. sich wieder auf viele Themen richten müssen. Herr Wir meinen daß wir nach dem, was im Golfkrieg ge- Kollege Hauchler, ich stimme Ihnen in einem grund- schehen ist, unsere Hausarbeiten machen müssen. sätzlich zu: Bei all der Fülle dessen, was wir zu disku- Das bedeutet nicht nur, aber auch die entsprechende tieren haben, kommt leider oft das zu kurz, was unmit- Klarstellung im Grundgesetz. telbar vor unserer Haustür passiert; Ich möchte hier einen konkreten Vorschlag zur Be- (Dr. Hauchler [SPD]: Das stimmt!) förderung der Diskussion machen, nämlich den, denn Afrika ist nicht mehr weit weg, wie wir inzwi- Art. 87 a Abs. 2 des Grundgesetzes wie folgt zu ergän- schen begriffen haben sollten. zen: Der Kollege Voigt hat heute vorgeschlagen, wir Außer zur Verteidigung müßten mehr — damit meinte er Geld — für Mittel- — dann käme die Ergänzung — und Südosteuropa tun. Dagegen habe ich im Prinzip nichts einzuwenden; ich begrüße das. Und Sie sagen, und zur Erfüllung von Aufgaben innerhalb eines es müsse auch mehr Geld für die Entwicklungsländer Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit da sein; auch dagegen habe ich nichts. Nur, es fehlt — das wäre die Ergänzung — natürlich wie üblich der Finanzierungsvorschlag von Ihrer Seite. dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, so- weit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt. (Hinsken [CDU/CSU]: Das ist bei denen im- mer so! — Widerspruch des Abg. Voigt Meine sehr geehrten Damen und Herren, das würde [Frankfurt] [SPD]) bedeuten, daß wir im Rahmen unserer eingegange- nen — und künftig möglicher weiterer — Verpflich- Aber vielleicht liefern Sie den noch nach. tungen im Rahmen der UN ein ganz normales Bünd- Eine letzte Anmerkung, meine sehr geehrten Da- nisland werden, voll bündnisfähig sind und auch in men und Herren: Ich glaube, einer der wichtigsten Zukunft bleiben könnten. Schritte wird für uns sein, nunmehr nicht nur die Pro- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 801

Dr. Karl-Heinz Hornhues blerne der deutschen Einheit zu lösen — das können senden Journalisten deutlich gemacht: So einfühlsam wir, das wollen wir und das werden wir bewältigen —, schnuppert die neue Ministe rin die Probleme in den sondern auch Europa weiterzuentwickeln. neuen Bundesländern auf. (Hinsken [CDU/CSU]: Sehr gut!) Ich erwähne das, weil diese Bildungsreise ein Ich stimme dem Außenminister da ausdrücklich zu. Schlaglicht auf die Familien- und Seniorenpolitik Dieses Europa war in unseren Augen niemals allein dieser Regierung wirft. Schnuppern, Betroffenheit ein Westeuropa. Deswegen begrüßen wir nachdrück- zeigen, Pressekonferenzen machen, viel reden, alles lich, daß auch der britische Premierminister, als er beim alten lassen. Das ließe sich an der Seniorenpoli- kürzlich bei uns war, sehr deutlich — unsere Meinung tik nachweisen und erst recht bei der Familienpoli- teilend — gesagt hat, daß die Länder Mittel- und tik. Osteuropas, vor allen Dingen Polen, die Tschechoslo- wakei und Ungarn, eine klar definierte, eindeutige Nehmen wir den Familienlastenausgleich. Be- Option auf die Mitgliedschaft in der Europäischen kanntlich gehört es zum Ton eines jeden guten CDU- Gemeinschaft haben müssen, damit sie ihre Probleme, Politikers, in jeder Sonntagsrede zu fordern, daß die auch die bei der Stabilisierung der Demokratie, be- Unterstützung der Familie allererste Priorität in der wältigen können. Politik haben müsse. Auch glauben wir, meine sehr geehrten Damen und Die gleichen Abgeordneten haben zu Hause — säu- Herren, daß es notwendig sein wird, diesen Ländern, berlich abgeheftet, nehme ich an — zwei Urteile die bis zum 31. März dieses Jahres dem Warschauer des Bundesverfassungsgerichts liegen, die besagen, Pakt noch formal angehören, die nach neuer Sicher- daß das Existenzminimum aller Familienmitglieder heit in diesem Europa suchen, etwas anderes zu sagen steuerfrei zu belassen sei, wobei offengelassen wird, als das, was der Kollege von Bülow von der SPD ob der Staat durch Steuerfreibeträge, durch Kinder- glaubte anmerken zu müssen. Dieser hatte nämlich geld oder durch eine Kombination von beidem den für diese Länder nur ein brüskes Nein bezüglich ihres Familien helfen will. Wunsches, Mitglied der NATO zu werden, übrig. Wo sonst hat es das schon einmal gegeben, daß ein Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Urteil des Bundesverfassungsgerichts einfach igno- geordneter Dr. Hornhues, darf ich Sie darauf auf- riert wird? merksam machen, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist. (Beifall bei der SPD — Hinsken [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Haben Sie den Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU): Herr Präsi- Finanzminister gestern nicht gehört?) dent, ich weiß, ich soll zum Schluß kommen. Was hätte eine fähige Ministe rin mit diesem Urteil im Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ja. ich Rücken nicht alles aus den Koalitionsverhandlungen versuche, Ihnen seit geraumer Zeit durch ein rotes, herausholen können! blinkendes Signal einen Wink zu geben. Ich wäre (Beifall bei der SPD) dankbar, wenn Sie ihn beachten würden. - Statt dessen erleben wir, wie sowohl Frau Lehr als Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU): Herr Präsi- auch jetzt Frau Rönsch stumm in der Ecke des Kabi- dent, ich gestehe freimütig, daß ich bewußt wegge- netts sitzen und damit Beihilfe zu dem Versuch lei- guckt habe, um das nicht sehen zu müssen. sten, die Bedeutung dieses Urteils zu verniedlichen, Ich danke Ihnen für Ihre Geduld und Ihre Aufmerk- nicht zur Kenntnis zu nehmen, zu verdrängen. samkeit und hoffe, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß wir — bei aller Kontroverse in den Bera- (Hinsken [CDU/CSU]: Frau Rönsch ist eine tungen, die wir in den nächsten Jahren vor uns haben ganz tüchtige Frau!) — zu einer gescheiten Zukunft für Deutschland, für Vor der Wahl hat die CDU so manches versprochen. Europa kommen werden. Es wundert einen schon gar nicht mehr, daß die lange Ich danke Ihnen. Liste der gebrochenen Wahlversprechen, die wir ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stern und heute vorgelegt haben, noch um einen wei- teren Punkt ergänzt wird. Minister Waigel hat nämlich an derselben Stelle, an der ich jetzt hier stehe, am Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Damen und Herren, wir kommen nun zu einem neuen 25. Oktober 1990 den Eindruck erweckt, er wolle allen Kapitel. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Familien die zuviel abgezogenen Steuern zurückzah- Dr. Götte. len, denn — Zitat Waigel — „es wäre in der Tat wohl nur schwer verständlich und schwer begreiflich zu machen, daß diejenigen, die keinen Einspruch einge- Dr. Rose Götte (SPD): Herr Präsident! Meine Da- legt haben, schlechter als diejenigen behandelt wer- men und Herren! Die neue Bundesfamilienministerin den, die Einspruch eingelegt haben". hat kürzlich mit Bundeswehrflugzeug, klimatisiertem Reisebus und einer stattlichen Anzahl von Begleitper- In Rheinland-Pfalz gibt es einen Finanzminister, der sonen eine Tagesreise in die neuen Bundesländer un- durchs Land gereist ist und ebenfalls den Menschen ternommen. „Schnupperkurs" hat sie das gegenüber verkündet hat: Selbstverständlich werden wir nach der „Bild"-Zeitung genannt, einen Schnupperkurs bei diesem Bundesverfassungsgerichtsurteil allen Fami- sage und schreibe zwei sozialen Einrichtungen. Damit lien die zuviel gezahlten Steuern zurückzahlen. Dafür hat sie vor allen Dingen den Medien und den mitrei werden wir als rheinland-pfälzische Landesregierung 802 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Rose Götte aber eintreten! Nichts ist geschehen. Auch das ist lich so familienfreundliche CDU-Politik aus Ihren Geschwätz von gestern. Sonntagsreden streichen. (Matthäus-Maier [SPD]: Leider, leider!) (Beifall bei der SPD — Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Wir haben doch erhöht, wäh- Eine Rückzahlung sollen nun lediglich die erhalten, rend Sie gesenkt haben! — Weitere Zurufe die Widerspruch eingelegt haben. Wer aber auf die von der CDU/CSU) Rechtmäßigkeit der Besteuerung vertraut und keinen Einspruch eingelegt hat, soll leer ausgehen. Das ist — Das stimmt ja nicht. Meine lieben Kollegen, ich ungerecht. habe Ihnen schon hundertmal vorgerechnet, wie Sie 1982 die Ausgaben für die Familie zusammengestri- (Beifall bei der SPD) chen und dann fast sechs Jahre gebraucht haben, bis Aber Ungerechtigkeit scheint sich langsam zum Sie die alte Höhe der Ausgaben von 1981 wieder er- Markenzeichen dieser Regierung zu entwickeln. Ist es reicht hatten; ich habe das schon so oft vorgerech- etwa gerecht, daß die Beiträge für den Kindergarten net. steuerlich nicht abgesetzt werden können, wohl aber (Beifall bei der SPD — Hinsken [CDU/CSU]: die Kosten für ein p rivates Kindermädchen? Keine Ahnung! — Weitere Zurufe von der (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ CDU/CSU) GRÜNE) Tatsache ist, daß die Familien in Zukunft — und wir Ist es etwa gerecht, daß Millionäre mit einer Strei- reden jetzt von der Gegenwart; das interessiert näm- chung der Vermögensteuer rechnen können, wäh- lich die Menschen draußen — nicht mehr, sondern rend kleine Leute auf vieles verzichten müssen, damit weniger Geld in den Taschen haben. Statt den Fami- die Kosten der deutschen Einheit aufgebracht wer- lienlastenausgleich zu erhöhen, wie Sie das x-mal ver- den? Ist es etwa gerecht, daß das Kind eines Besser- sprochen haben, haben Sie beschlossen, die Familien verdienenden zur Zeit monatlich 184 DM vom Staat erheblich stärker zu belasten. erhält, während das Kind eines Kleinverdieners nur Jetzt wird der Kollege Faltlhauser auf seine Berech- 98 DM erhält? nungen für das Jahr 1992 zurückgreifen und sagen, er habe doch ausgerechnet, daß eine Familie mit zwei (Hinsken [CDU/CSU]: Alles Klassenkampf Kindern und einem Bruttomonatslohn von 3 500 DM parolen!) im Jahr 1992 rund 600 DM mehr in der Tasche habe. — Sie nennen das Klassenkampf, Herr Kollege, ich Da hat der Kollege Faltlhauser in seine Berechnungen nenne das Ungerechtigkeit. natürlich nicht die Haushaltsbeschlüsse der Koalition mit einfließen lassen. Tatsächlich wird es in der Kasse (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ gerade der Familie, die er in seine Berechnungen ein- GRÜNE — Hinsken [CDU/CSU]: Sie müssen bezogen hat, ganz anders aussehen. Wenn ich alle bei der Wahrheit bleiben! Sie haben doch Belastungen zusammenrechne und die erhöhten Zin- heute den Bundeskanzler gehört!) sen außen vorlasse, die ich auch dazurechnen könnte, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezog sich dann werden die Familien in der Kasse ein Loch von- auf die Jahre 1983 bis 1985. Der Grundsatz aber, daß 1 200 DM haben. Das heißt, Sie geben den Familien das Existenzminimum aller Familienmitglieder einer 1 200 DM weniger und nicht 600 DM mehr. So sieht Familie steuerfrei zu bleiben hat, gilt natürlich auch die Wirklichkeit der CDU-Familienpolitik aus. für die Jahre danach. Und was tut die Regierung? (Beifall bei der SPD — Matthäus-Maier (Zuruf von der SPD: Sie irrt!) [SPD]: Deswegen muß die CDU weg!) Meine Damen und Herren, es ist sicher kein Zufall, Meine Damen und Herren, Sozialdemokraten ver- daß es die neue Familienministerin bei ihrer ersten stehen unter Familienpolitik etwas anderes. Vorstellung vor der Presse und im Ausschuß peinlich (Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Das haben wir vermieden hat, irgendwelche Daten zu nennen, als es gemerkt!) um die Verbesserung des Familienlastenausgleichs ging. Sofort, hat sie gesagt, werde sie beginnen, sich Wir wollen, daß alle Familien, denen zuviel Steuern Gedanken zu machen. Eine Erhöhung des Kindergel- abverlangt wurden, einen Ausgleich erhalten, und wir des wird es aber erst 1992 geben, und zwar nur für das wollen, daß die ungerechten und unzulänglichen Kin- erste Kind und auch da nur um 20 DM; ein Hohn, derfreibeträge durch ein Kindergeld von mindestens wenn man bedenkt, daß das Kindergeld von 50 DM 200 DM pro Kind ersetzt werden. seit 1975 keine Aufstockung erfahren hat. (Hinsken [CDU/CSU]: Als Sie dran waren, (Hinsken [CDU/CSU]: Die SPD hatte es so haben Sie gekürzt!) gar einmal gesenkt!) Die zusätzlichen Mittel, die Sie ab 1992 für die Familie ausgeben wollen, sollen für eine weitere Erhöhung Das heißt im Klartext: Trotz des Urteils des Bundes- dieses Kindergeldbetrags verwendet werden. verfassungsgerichts bleibt der Tatbestand bestehen, daß die Familien den ihnen zustehenden finanziellen (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Stellen Sie Ausgleich weder rückwirkend noch in der Gegen- sich vor, Sie würden in einer Regierung Fi- wart, noch in der näheren Zukunft erhalten sollen. nanzminister sein; dann gnade uns Gott!) Ich schlage vor, meine Damen und Herren von der Ich meine, daß Sie zu diesen Gedanken nun einmal CDU, daß Sie in Zukunft die Passagen über die angeb Stellung nehmen sollten. Ich meine, daß Sie mal zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 803

Dr. Rose Götte Ihren Wahlversprechen Stellung nehmen sollten. Ich und gewachsene Jugendbeziehungen der ehemali- möchte, daß Sie mal ausrechnen, wie es denn mit dem gen DDR zu übernehmen, aber auch darum, Voraus- Familienlastenausgleich in Zukunft aussieht und ob setzungen für die Teilnahme von Trägern und Ju- es wirklich stimmt, was Sie behaupten — ich habe es gendlichen aus den neuen Bundesländern an interna- widerlegt — , daß die Familien bessergestellt werden. tionalen Jugendbegegnungen wie den deutsch-fran- Das Gegenteil ist der Fall. Sie haben diesen Familien zösischen, deutsch-amerikanischen Begegnungen zu tief in die Tasche gegriffen. Sie haben die Familien im schaffen, aber den Blick auch nach Polen, Ungarn, Stich gelassen. Tschechoslowakei zu richten. (Lebhafter Beifall bei der SPD — Hinsken [CDU/CSU]: Naiv und primitiv!) Im Feld der kulturellen Jugendbildung bedarf es ebenfalls einer besonderen Förderung. Hierfür sind ca. 4 Millionen DM vorgesehen. Gerade kulturelle Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Gruppen und junge Künstler haben in der ehemaligen hat die Abgeordnete Frau Karwatzki. DDR durch ihr entschiedenes Engagement den Boden (Matthäus-Maier [SPD]: Frau Karwatzki, für die deutsche Einigung mit bereitet. Auch dadurch sind Sie auch gegen die Vermögensteuerab hat die kulturelle Bildung dort im Bewußtsein der Bür- schaffung?) ger einen besonders hohen Stellenwert.

Die raschen gesellschaftlichen Änderungen treffen Irmgard Karwatzki (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Götte, ich weiß, die Jugend dort unvorbereitet und führen zum Verlust es ist Wahlkampf; aber damit kommt man nicht wei- kultureller Identität. Dadurch werden junge Men- ter. Man hilft den Menschen überhaupt nicht, wenn schen in erhöhtem Maße anfällig für Auswüchse wie Sie hier Unwahrheiten sagen. Gewaltbereitschaft, Spiel- und Drogensucht, ja, und leider auch Kriminalität. Wir hier in der ehemaligen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesrepublik Deutschland haben in 40jähriger De- Sie haben 13 Jahre die Chance gehabt, für Fami lien mokratie deutlich werden lassen, daß die Herstellung etwas auf den Weg zu bringen. kultureller Identität mit Mitteln kultureller Jugendbil- (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sehr richtig! dung die beste Form der Prävention ist. Da haben die gekürzt! — Zurufe von der SPD) Auch in der sportlichen Jugendbildung, z. B. auch bei den Bundesjugendspielen, ist erhöhter Bedarf an- — Das können Sie ruhig als alten Hut bezeichnen. zusetzen, weil die Teilnehmerzahlen entsprechend Nur, wenn wir jetzt einmal anfangen, alle familien- hoch sind. politischen Maßnahmen aufzuzählen, werden Sie schon merken — — Es ist eine Freude, festzustellen, daß gerade im Sek- (Zuruf von der SPD) tor des freiwilligen sozialen Jahres ein hoher Mehr- — Sie sind ganz neu; da würde ich erst einmal zuhö- bedarf für junge Leute in den neuen Bundesländern ren. Dann können Sie hier auch Ihre Meinung sagen. vorgesehen ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird - Ich höre gerne zu. Ich sitze ja da vorne. Ich höre allen dieser Betrag mit 8,1 Mil lionen DM beziffert. Ich finde immer gerne zu. Das wissen die Kolleginnen. Ich dies richtig. denke, es ist besser, wir hören einander zu, als daß wir alle durcheinanderschreien; das ist nämlich wie im Es ist auch sehr zu unterstützen, daß neben dem Kindergarten. freiwilligen sozialen Jahr hier auch Modelle für frei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) willige ökologische Jugendarbeit geschaffen wer- den. Der Mehrbedarf wird mit 2,1 Millionen DM bezif- Kollegin Rönsch wird sicherlich gleich noch etwas fert. In jedem Bundesland soll ein Projekt mit ca. zu den familienpolitischen Maßnahmen sagen. Ich 60 Teilnehmern durchgeführt werden. will aus der Sicht des Haushalts zu zwei Bereichen Stellung nehmen. Ich bin beauftragt, sowohl für den Meine Damen und Herren, die Ausbildungs- und Bereich Frauen und Jugend als auch für den Bereich Arbeitsmarktsituation in den neuen Bundesländern Familie und Senioren etwas zu sagen. Ich habe mich erfordert eine verstärkte Bekämpfung der Jugendar- entschieden, zu dem Bereich Jugend und Senioren beitslosigkeit. Neue Modellprojekte sollen deshalb etwas auszuführen. dazu beitragen, den betroffenen jungen Menschen Es ist sehr begrüßenswert, daß der Bundesjugend- bei der Eingliederung in das Berufsleben zu helfen. plan gegenüber dem Vorjahr mit ca. 48 Millionen DM Der hier vorgesehene Mehrbedarf von 9,3 Millionen aufgestockt worden ist. Dieser Zuwachs ist weit über- DM ist gerechtfertigt, ebenfalls der vorgesehene wiegend für den Aufbau von Strukturen der Jugend- Mehrbedarf von ca. 500 000 DM für die Jugendsozial- arbeit sowie die Durchführung jugendpolitischer arbeit zentraler Verbände. Maßnahmen in und für die neuen Bundesländer vor- gesehen. Es ist verständlich, daß differenzierte Einzel- Ich gehe davon aus, meine Damen und Herren, daß heiten zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht ge- im Deutschen Bundestag Übereinstimmung darüber nannt werden können. Entscheidend ist aber, daß die erzielt wird, daß gerade für eine selbständige Mäd- Richtung stimmt. chenarbeit ca. 5 Millionen DM vorgesehen werden. Auf Grund der deutschen Einigung ergibt sich auto- Die Damen und Herren, die diesem Parlament länger matisch für die internationale Jugendarbeit ein angehören, wissen, daß bereits bei der Beratung des Mehrbedarf. Es geht zum einen darum, vertragliche Sechsten Jugendberichtes der Bundesregierung fest- 804 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Irmgard Karwatzki gestellt wurde, daß erhebliche Defizite im Bereich der Die Überlegungen im Ministerium für Frauen und Mädchenbildung liegen. Senioren, nach Abklärung aller Gesichtspunkte als mittelfristiges Ziel einen Bundesaltenplan analog (Zuruf von der SPD: Warum machen Sie dem Bundesjugendplan vorzulegen, sind begrüßens- dann nicht mehr?) wert. Besonders wichtig in einem neuen Bundesalten- Als Konsequenz wird dieses neue Programm, mit plan sind für mich folgende Zielsetzungen: die An- dem die Entwicklung und Erprobung neuer Ansätze gleichung der Lebensbedingungen für ältere Men- der Mädchenarbeit im Rahmen der Jugendhilfe geför- schen in ganz Deutschland, die Förderung der gesell- dert werden soll, in den Bundesjugendplan aufge- schaftlichen Teilhabe älterer Menschen, die Unter- nommen. stützung älterer Menschen bei Hilfs- oder Pflegebe- dürftigkeit sowie die Förderung von Selbsthilfeaktivi- Ich will mich auf diese wenigen Bereiche beschrän- täten älterer Menschen. Ein mir sehr wichtig erschei- ken, wohlwissend, daß noch viel zum Informations-, nender Gesichtspunkt ist die Stärkung des Zusam- Beratungs- und Fortbildungsdienst der Jugendhilfe menhalts zwischen den Generationen. und zu den Erziehungshilfen sowie weiteren unter- Ich begrüße sehr, daß Frau Kollegin Rönsch den stützenden Hilfen, zur außerfamiliären und außer- Gesetzentwurf über die Ausbildung in der Alten- schulischen Hilfe für Kinder hätte gesagt werden müs- pflege in Kürze erneut einbringen will. Nur eine in- sen. Man kann aber in einer so kurzen Zeit nicht alles haltlich und finanziell attraktiv ausgestaltete Ausbil- sagen. dung in der Altenpflege auf bundesrechtlicher Grund- Ich komme zu meinem zweiten Schwerpunkt, der lage eröffnet die Chance, im Wettbewerb um den Be- Altenpolitik. Ein Fünftel der Bevölkerung in unserem rufsnachwuchs zu bestehen. Land ist heute 60 Jahre und älter. Ihr Anteil ist ge- Unsere älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger, die nauso groß wie der der jungen Menschen unter wegen Krankheit oder Behinderung auf Hilfe und 20 Jahren. In 30 Jahren aber wird, soweit wir es heute Pflege angewiesen sind, haben besonderen Anspruch absehen können, schon fast jeder dritte Bürger bei uns auf unsere Solidarität. Es ist daher nur konsequent, älter als 60 Jahre sein. Angesichts dieses sich drama- daß das Ministerium für Familie und Senioren seinen tisch verändernden demographischen Aufbaus unse- Beitrag leistet, um die Situation der Pflegenden und rer Bevölkerung sehe ich darin eine entscheidende der Pflegebedürftigen zu verbessern. gesellschaftliche Herausforderung, der sich die Bun- Herzlichen Dank. desregierung gestellt hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Verbesserung der Lebenssituation älterer Men- schen durch eine Politik für ältere Menschen und mit Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort ihnen bleibt eine Schwerpunktaufgabe dieser Regie- hat nun die Abgeordnete Frau Dr. Höll. rung. Dies bringt klar zum Ausdruck, daß ältere Men- schen für uns keine Problemgruppe sind. Politik für Ältere muß sich an den Adressaten und ihren spezifi- Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! schen Bedürfnissen und weniger an ihrem Alter orien- Meine Damen und Herren! Der von der Bundesregie- tieren. Es sind also individuelle Lösungsansätze in der rung vorgelegte Haushalt weist vielfältige Widersprü- Altenpolitik gefragt, wenn man nicht Gefahr laufen che zwischen dem in der Regierungserklärung erho- will, an den eigentlichen Problemen vorbei oder sogar benen Anspruch auf eine friedensgerichtete, sozial kontraproduktiv zu handeln. und ökologisch verträgliche Gestaltung des Gemein- wesens Bundesrepublik Deutschland und den im In diesem Jahr ist ein Volumen von 14,5 Millionen Staatshaushalt real gesetzten Prioritäten auf. Ich frage zur Förderung von gesellschaftspolitischen Maßnah- mich, weshalb die BRD nach Beendigung des Kalten men für die ältere Generation vorgesehen. Damit wer- Krieges noch immer einen Rüstungshaushalt benötigt, den insbesondere Mate rialien zur Unterrichtung älte- der annähernd doppelt so hoch ist wie jenes Finanz- rer Menschen, Forschungs- und Modellprojekte sowie volumen, das die Regierung für Frauen, Jugend, Fa- zentrale Maßnahmen und Einrichtungen der Alten- milie und Senioren insgesamt auszugeben bereit ist. hilfe gefördert. Besonders wichtig erscheint mir die Daß Frauen, Familien, Jugendliche und Senioren Se- Information älterer Menschen über altersgerechtes kundärprobleme dieses Staates sind, wird noch offen- Verhalten, z. B. über Unfa llverhütung oder Freizeit- sichtlicher, wenn man die angebotenen Haushaltstitel gestaltung, — um zwei Ex treme zu nennen. in den Einzelplänen mit den bestehenden sozialen Von zentraler Bedeutung sind 40 Mi llionen DM So- und politischen Konflikten sowie dem daraus resultie- forthilfe zur Unterhaltung und Unterstützung der im renden Finanzbedarf ins Verhältnis setzt. Aufbau begriffenen Sozialstationen in den neuen Eine Regierung, die Kinderfreundlichkeit, Verein- Bundesländern, und zwar unter Berücksichtigung der barkeit von Beruf und Familie, Verbesserung der Le- Vielfalt der Träger. Hier wird an die wirksame Förde- benschancen für die Jugend, Achtung und Würdi- rung des vergangenen Jahres angeknüpft, mit deren gung des Alters sowie Angleichung der Lebensver- Hilfe inzwischen in den neuen Bundesländern mehr hältnisse in allen Bundesländern zum Programm er- als 500 Sozialstationen entstanden sind. Dies wird die hebt, sollte auch ihrer eigenen Glaubwürdigkeit hal- ambulante Versorgung älterer Menschen wesentlich ber dieses Programm finanziell entsprechend unter- verbessern. Außerdem sind diese Mittel für kleinere setzen. Da gerade das im Haushaltsentwurf nicht in Reparaturarbeiten in den Altenheimen sowie für die genügendem Maße zum Ausdruck kommt, sind die Fortsetzung der Sozialhilfe für die Alten- und Alten- Defizite als dringend korrekturbedürftig anzumah- pflegeheime dringend erforderlich. nen. So konnte ich im Haushaltsplan für das Bundes- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 805

Dr. Barbara Höll ministerium für Frauen und Jugend nur einen einzi- lichkeitsentwicklung eines Kindes als förderlich und gen auf Frauenpolitik zielenden Finanztitel mit dem als unabdingbare Voraussetzung für die Gleichstel- beschämenden Umfang von 15 Millionen DM fin- lung der Geschlechter innerhalb der Familie. den. Drittens erwarten wir auf der Grundlage des in der (Zuruf von der SPD: Mehr gibt es auch Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen Anspruchs nicht!) jedes Kindes auf einen Betreuungsplatz konkrete Dieser finanzielle und damit eng verbundene Ent- Aussagen zur finanziellen Absicherung der in den zug inhaltlicher Kompetenz für Frauenpolitik erweist neuen Bundesländern bestehenden Einrichtungen sich als Ausgangspunkt einer ganzen Reihe politi- und deren qualitative Verbesserung sowie des be- scher und sozialer Folgeprobleme für Frauen, Fami- darfsgerechten quantitativen und qualitativen Aus- lien, Kinder und Senioren. Das Hauptproblem Frau- baus von Kindertagesstätten in den Altbundeslän- enarbeitslosigkeit erscheint weder im Einzelplan 17, dern. Wir sind der Meinung, daß für Aufgaben in die- Frauen und Jugend, noch im Einzelplan 11, Arbeit sem Umfang die Finanzmittel keines der Bundeslän- und Soziales, als Schwerpunkt. Zwar werden Bundes- der bzw. keiner der Kommunen ausreichen. Im Osten mittel zur Mitfinanzierung von Frauenarbeitslosigkeit ist es die Finanzmisere und im Westen die Masse der sowie zur Weiterfinanzierung von Nullbeschäftigung notwendigen neu zu schaffenden Ki-Ta-Plätze, die und Warteschleifen zur Verfügung gestellt, aber den Einsatz von Bundesmitteln erfordern. Deshalb ist selbst bei Modellprojekten zur Arbeitsplatzbeschaf- auch die Beteiligung des Bundes an den Kosten der fung spielt Frauenarbeitslosigkeit keine Rolle. Auch Tagesbetreuung von Kindern in den neuen Bundes- das bisherige Modellprogramm zur Wiedereingliede- ländern über die im Einigungsvertrag — Art. 31 rung von Berufsrückkehrerinnen wird im Haushalts- Abs. 3 — festgelegte F rist hinaus unverzichtbar. entwurf weder ausdrücklich weitergeführt noch bun- Viertens. Wir sind der Ansicht, daß Hilfe für desweit in die Praxis übernommen. Schwangere nicht auf Konfliktsituationen beschränkt Daraus resultiert für mich die Frage, ob die Regie- werden darf. Es gilt nicht, die flächendeckende Ein- rung die Frauenarbeitslosigkeit nicht eher als eine richtung von Zwangsberatungsstellen zu finanzieren politisch gezielt einsetzbare Va riable in ihrer Haus- — Einzelplan 18, Titel 68 558 — , sondern bundesweit haltsrechnung handhabt. eine qualifizierte Schwangerenbetreuung anzubie- ten. Über einen Schwangerschaftsabbruch sollen die (Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Quatsch!) betreffenden Frauen selbst entscheiden bzw. freiwil- Denn je mehr Frauen aus ihrer Berufstätigkeit vertrie- lig Beratung suchen und vorfinden. ben und an den Herd zurückgeschickt werden, um so Da es aber wesentlich mehr Schwangere gibt, die weniger Mittel braucht die Regierung für die Schaf- ihr Kind austragen wollen und der Fürsorge bedürfen, fung von Kinderbetreuungsplätzen und für die Alten- ist es unangemessen, diese Frauen an den Hausarzt zu pflege aufzuwenden. Vielmehr werden diese Kosten verweisen. Vielmehr muß der Finanzrahmen im unter dem Stichwort Subsidiarität auf die Familien realen Bedarf an Schwangerenfürsorge angepaßt abgewälzt. werden. Warum sollte nicht das in der DDR ehemals gut funktionierende System der Schwangerenfür- Für die politische Gestaltung einer familien- und - kinderfreundlichen Gesellschaft in unserem Lande sorge mit kostenloser kontinuierlicher Betreuung hält es die PDS/Linke Liste für notwendig, folgende durch darauf spezialisierte Ärzte Modellfunktion für Maßnahmen durch das Haushaltsgesetz mit dem er- die BRD insgesamt erfüllen? Hier wäre ein Beispiel forderlichen Finanzrahmen auszurüsten. unter vielen, wie die Angleichung an Modellhaftes aus der ehemaligen DDR auch in einem gewichtigen Erstens. Der Familienlastenausgleich muß die Exi- Aspekt die Lebensqualität in den Altbundesländern stenzsicherung von Kindern unabhängig vom Ein- verbessern könnte. kommen der Eltern und in einem dem Zivilisationsni- veau der BRD entsprechenden Umfang garantieren. Wenn die Seniorenpolitik materiell gut ausgestat- Dazu gehört nicht nur die Sicherung von Nahrung, tet wird, dann ist das ein Ausdruck der Achtung und Kleidung und Wohnung, sondern auch die Finanzie- Würdigung eines erfahrenen und arbeitsreichen Le- rung der Persönlichkeitsförderung, des elternunab- bens. Das ist notwendig, damit die von der Regierung hängigen Zugangs zu Kinder- und Jugendkultur, zu oft hervorgehobene Kompetenz und Selbständigkeit sinnvoller Freizeit für jedes Kind. der älteren Generation nicht zur politischen Leerfor- mel verkommt. Das verlangt dringend nach der An- (Roth [Gießen] [CDU/CSU] : Wie bei den Jun gleichung der Lebensbedingungen, konkret der Ren- gen Pionieren!) ten, in allen Bundesländern. Das jedoch wird mit den derzeit angesetzten Kinder- Im Haushaltsgesetz sollte eindeutig festgelegt wer- freibeträgen und dem Kindergeld nicht erreicht. den, wie erstens durch die staatliche Förderung der Zweitens. Im Interesse der Wahlfreiheit, wer von freien Träger der Altenhilfe bundesweit ein angemes- den Eltern ein Kind in den ersten 24 Lebensmonaten sener Qualitätsstandard der Altenheime erreicht wer- betreut, sollte der Haushaltstitel Erziehungsgeld auf den kann, wie zweitens entsprechend dem realen Be- eine nettolohnorientierte Zahlung von Erziehungs- darf die Förderung sowohl neuer Altenheime als auch geld bei gleichzeitiger Sicherung eines Mindestbe- alternativer Formen der Seniorenbetreuung in Pflege- darfs von 1 200 DM für all jene Anspruchsberechtig- wohnungen und Wohngemeinschaften stimuliert ten angehoben werden, die bisher über ein nur gerin- werden kann, wie drittens die weitere Existenz beste- ges bzw. noch nicht über eigenes Einkommen verfü- hender Pflege- und Feierabendheime gewährleistet gen. Wir betrachten das für die harmonische Persön wird und wie viertens bei kostendeckenden Preisen 806 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Barbara Höll die Finanzierung für Heim- und Pflegeplätze erfolgen ist. Uns ostdeutschen Frauen war dies bisher nur be- soll, ohne die Insassen zu Bittstellern beim Sozialamt grenzt möglich; zu entwürdigen bzw. sie sozialen Angsten auszuset- (Widerspruch bei der PDS/Linke Liste) zen. (Zuruf von der CDU/CSU: Nicht Insassen, denn unsere Erwerbstätigkeit war und ist bis heute Bewohner!) ein wichtiger Bestandteil des Familieneinkommens. Oder verdient man bei uns jetzt schon so viel Geld? Dies widerspricht den Zielen staatlicher Senioren- politik, wie sie von Frau Ministe rin Rönsch verkündet Deshalb wiegt es um so schwerer, wenn Frauen in wurden. den neuen Bundesländern arbeitslos werden oder von der Arbeitslosigkeit bedroht werden. Soforthilfe ist Die PDS/Linke Liste fordert in diesem Zusammen- deshalb dringend geboten. Die beiden Ministe rien hang eine nochmalige Prüfung des Haushaltsansatzes Familie und Senioren sowie Frauen und Jugend, die sowie eine sozialverträgliche dynamisierte Kostenbe- gemeinsam über Mittel in Höhe von 30 Milliarden DM teiligung der betreffenden Senioren für Heim- und verfügen, können die Gewähr für eine kurzfristige Pflegeplätze entsprechend der Rentenangleichung. und schnelle Hilfe in den östlichen Bundesländern Ich danke Ihnen. bieten. Aber auch einiges, was in den alten Bundes- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) ländern seit Jahren nach einem eingefahrenen Schema abgelaufen ist, muß neu überdacht und nach- gebessert werden. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat (Beifall bei der FDP) Frau Abgeordnete Dr. Hoth das Wort. Die Richter in Karlsruhe haben dazu klare Worte gesagt. Der Familienlastenausgleich in seiner heute bestehenden Ausgestaltung reicht nicht aus, um die Dr. Siegrid Hoth (FDP): Sehr geehrter Herr Präsi- dent! Meine Damen und Herren! Heute debattieren Grundexistenz eines Kindes sicherzustellen. Wir er- wir zum erstenmal nach der Wiedervereinigung einen warten, daß die Bundesregierung noch vor der Som- gemeinsamen Haushalt. Das hat insbesondere auf f a- merpause klare Konzepte zur Weiterentwicklung des milienpolitische Bereiche, die heute beraten werden, Familienlastenausgleichs vorlegt. große Auswirkungen, denn gerade im gesellschafts- (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei politischen Bereich hat die sozialistische Ideologie zu Abgeordneten der CDU/CSU und des Abge- verheerenden Folgen geführt. ordneten Dr. Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) Auch wenn finanzielle Mittel allein nicht genügen Der duale Familienlastenausgleich hat sich be- werden, Ungleichheiten zu beseitigen, so ist doch der währt. gesamtdeutsche Haushalt ein Ordnungsrahmen, in dem jeder einzelne seine Chancen erhält und in dem (Widerspruch bei der SPD)) die Weichen für Umstrukturierungen gestellt wer- —Da sind wir verschiedener Auffassung; aber dies ist den. meine. - Umstrukturierungen im frauen-, familien- und ju- (Anhaltende Zurufe von der SPD) gendpolitischen Bereich sind insbesondere für die neuen Bundesländer wichtig; denn diese Politikberei- — Hören Sie doch erst einmal zu. Ich habe Sie doch che sind unter dem SED-Regime fortwährend miß- auch ausreden lassen. braucht worden und dienten weniger emanzipatori- schen Zwecken oder dem Wohl der Familie, sondern (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten waren vielmehr Hilfswerkzeuge, der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bei einer Weiterentwicklung kann es keinesfalls aus- schließlich um eine Erhöhung von Kindergeld und um einerseits Frauen in die Erwerbstätigkeit zu füh- steuerlichen Kinderfreibeträgen gehen. ren und andererseits die Kinder im Sinne des SED- Regimes zu erziehen. (Zurufe von der SPD: Aber auch!) (Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker) Es hat sich hinsichtlich der Vergangenheit auch ge- Wir wollen zukünftig keine einseitig ausgerichtete zeigt, daß einige Bevölkerungskreise, wie z. B. die Politik. Wir wollen auch kein Überstülpen von Erzie- Alleinerziehenden, nicht in den vollen Genuß aller zur hungs- und Verhaltensmustern bei Kindern, in der Verfügung stehenden Begünstigungen kommen. Familie und bei den Frauen. Deshalb ist es wichtig, ungleiche Behandlung von Kindern zu vermeiden, unabhängig davon, in welcher (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Familie und unter welchen Umständen sie groß wer- Wichtig ist jedoch, daß die Familie einen größeren den. Stellenwert in unserer Gesellschaft erhält, als dies bisher in beiden Teilen Deutschlands der Fall war. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir brauchen deshalb für diejenigen Familien einen der CDU/CSU) Ausgleich, die gegenüber anderen Bevölkerungs- schichten benachteiligt sind. Dazu gehört, daß Frauen und Männer individuell ent scheiden können, welchen Lebensweg sie einschla (Zuruf von der SPD: Da hat sie wieder gen wollen und wie ihre persönliche Lebensplanung recht!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 807

Dr. Siegrid Hoth — Na, sehen Sie. — Ich befürworte daher besonders tisch etwas zu bewegen und der Sondersituation 1991 die Gelder, die direkt den Familien zugute kommen Rechnung zu tragen. Aus haushälterischer Sicht sei und ihnen helfen, ihren Lebensstandard zu sichern abschließend betont: bei allem Verständnis für die berechtigten Wünsche für diese wichtigen Politikfel- (Dr. Götte [SPD]: Kindergeld!) der sind eine gesunde Wirtschaft, maßvolle Tarifab- bzw. ihnen eine Basis für ihr weiteres Leben mit Kin- schlüsse sowie Einsparungen in allen Haushalten die dern zu geben. Grundlage für den Auf- und Ausbau unserer Sozial- Die Unterstützung der ostdeutschen schwangeren politik. Frauen in Not mit 40 Millionen DM in diesem Haus- (Beifall bei der FDP) haltsjahr ist eine solche Maßnahme. Bis ein Netz von Deshalb muß es das Ziel unserer weiteren Haushalts- Schwangerenberatungsstellen, die unterschiedlich- beratungen sein, diesen volkswirtschaftlichen Not- sten Trägern, wie Pro Familia, der Ca ritas oder der wendigkeiten Rechnung zu tragen, damit ein Zusam- Diakonie — um nur einige zu nennen — , angehören menwachsen beider Teile Deutschlands auch im so- können, in den neuen Bundesländern installiert ist, ist zial- und familienpolitischen Bereich so schnell wie es nur durch einen solchen Hilfsfonds möglich, unbü- möglich Wirklichkeit wird. rokratisch und schnell zu helfen. Dies darf jedoch kein Dauerzustand sein. Auch die Bundesstiftung „Mutter Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. und Kind" sollte kein politischer Dauerbrenner wer- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem den. Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordne- ten der SPD — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP] (Beifall bei der FDP) überreicht der Abg. Dr. Hoth [FDP] einen Denn wir wollen mit einer Neuregelung des § 218 ein Blumenstrauß.) Bündel von sozial flankierenden Maßnahmen durch- setzen, auf die Frauen und ihre Familien einen Rechts- Meine sehr verehr- anspruch haben — keine Almosen, sondern einen Vizepräsident Helmuth Becker: ten Damen und Herren, das war der Beifall für eine Rechtsanspruch. Jungfernrede. Früher wurde das hier immer beson- (Beifall bei der FDP und der SPD sowie des ders gewürdigt. Ich glaube aber, man darf das an die- Abg. Dr. Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) ser Stelle und bei unserer neuen Zusammensetzung Ich betone das deshalb so eindringlich, weil ich mir auch heute durchaus noch einmal tun. der Rückendeckung meiner Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der gen in der Koalition gewiß bin. SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Nunmehr hat das Wort Frau Schenk. Bitte sehr. der CDU/CSU — Dr. Wegner [SPD]: Sie sind noch zu gutgläubig!) Christina Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsi- — Nein, ich rede ja von den flankierenden Maßnah- dent! Meine Damen und Herren! In der vergangenen men. Woche haben wir zwei sehr interessante Papiere auf den Tisch bekommen. Ich meine zum einen die Pres- In unserem Gesetzentwurf zur Neuregelung des - serklärung von Frau Merkel zum Internationalen § 218 gehört auch der Ausbau des Bundeserziehungs- Frauentag, und ich meine zum anderen den Haus- geldes, Eingliederungshilfen für Frauen nach der Fa- haltsplan des Bundesministeriums für Frauen und Ju- milienphase, die Möglichkeit der Weiterbildung und gend. Das Interessante an dieser Presserklärung ist Umschulung in Teilzeitformen, die bevorzugte Ver- das Programm des Ministe riums für Frauen und Ju- gabe von Wohnungen an schwangere Frauen in Kon- gend, das in Stichpunkten auf diesem schönen bunten fliktsituationen und vieles mehr dazu. Rand des Papiers wiedergegeben wird. Frauenförde- Ein entscheidender Punkt — für mich der entschei- rung, so lese ich da, Frauenforschung, Vereinbarkeit dende Punkt — für die Gestaltung einer kinder- von Familie und Beruf, Frauenverbände, soziale Si- freundlichen Gesellschaft, in der die Vereinbarkeit cherung, Schutz von Frauen vor Gewalt — so kommt von Beruf und Familie selbstverständlich sein muß, ist es da vielversprechend einher. Da lacht das Herz der der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Feministin — das darf ich Ihnen sagen — , und da freut Kinder brauchen den Kontakt zu anderen Kindern. sie sich. Ja, da freut sie sich so lange, bis sie den Haus- Heute wächst aber bereits jedes dritte Kind als Einzel- haltsplan aufschlägt und dort vergeblich nach den kind auf. Was liegt also näher, als den Kindern den Mitteln sucht, mit denen die bunten Versprechungen Kontakt untereinander zu ermöglichen? finanziert werden sollen. Wichtig ist aber auch, daß schwangere Frauen, die (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD sich in einer Konfliktsituation befinden, bei ihrer Le- und der PDS/Linke Liste) bensplanung wissen, was sie in Zukunft erwartet. Frauen, die der Meinung waren, Frauenpolitik (Beifall bei der FDP) würde in dieser Legislaturpe riode ein größeres Ge- wicht bekommen, werden bitter enttäuscht. Zwar Ungewißheit und die Angst, durch die Aufgabe der wurde die Abteilung Frauen im ehemaligen Bundes- Erwerbstätigkeit entstehende finanzielle Engpässe ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesund- nicht meistern zu können, treiben heute viel zu viele heit zu einem vermeintlichen Ministe rium aufge- Frauen in die falsche Richtung. motzt, mit einer leibhaftigen Ministe rin und auch ei- Mit fast 30 Milliarden DM hat die Bundesregierung nem eigenen Telefonanschluß, aber das ist dann auch den Weg bereitet, familien-, frauen- und jugendpoli fast schon alles. Der vorliegende Haushaltsplan macht 808 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Christina Schenk deutlich, daß dieses Ministe rium nichts anderes ist als Christina Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Wenn das das Feigenblatt für eine absolut patriarchalische und nicht auf die Zeit angerechnet wird, bitte. zutiefst frauenfeindliche Politik. — Frau Merkel kann nichts dafür. Zu den Zeiten von Frau Süssmuth und Vizepräsident Helmuth Becker: Das wird es nicht. auch von Frau Lehr war das nicht viel anders. — Bitte sehr. (Zuruf von der CDU/CSU: Da waren Sie noch gar nicht hier!) Norbert Eimer (Fürth) (FDP): Frau Kollegin. Sie ha- Schon im vergangenen Jahr hat der Bundesrech- ben gerade vom „annektierten Gebiet" gesprochen. nungshof die Unverhältnismäßigkeit zwischen den Können Sie mir vielleicht sagen, was Sie darunter ver- hohen Personal- und Sachausgaben der Abteilung stehen, was Sie mit „annektiertem Gebiet" meinen? Frauenpolitik im Bundesministerium für Jugend, Fa- (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Die ehema- milie, Frauen und Gesundheit und deren geringen lige DDR!) Kompetenzen beklagt. Diese Situation — das darf ich hier feststellen — hat sich durch die Umbenennung Christina Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Sie kön- dieser Abteilung in ein Ministerium nicht im gering- nen in jedem Fremdwörterbuch nachgucken, was An- sten verändert. nexion heißt. Meine Damen und Herren, für die Erhaltung der (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Kindertagesstätten in den Ländern der ehemaligen Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke DDR wurde dem Frauenministerium nur eine Mil li Liste — Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: -arde DM bewilligt, obwohl die Bundesregierung ge- Befinden Sie sich dann im Exil? — Eimer nau weiß — das geht auch aus ihrer Antwort auf [Fürth] [FDP]: Sind die nicht freiwillig beige- meine schriftliche Frage vom Februar 1991 hervor —, treten?) daß für den Erhalt dieser Kindertagesstätten jährlich Bei ihrer gegen Frauen gerichteten Politik nimmt an die 7 Milliarden DM benötigt werden. Damit kann die Bundesregierung billigend in Kauf, daß die Ent- die Frau den schönen Programmpunkt Vereinbarkeit wicklung von Kindern, die mit ihren erwerbslosen El- von Familie und Beruf, von dem Frau Merkel in ihrer tern allein zu Hause hocken, ganz erheblich beein- Presseerklärung spricht, gleich wieder vergessen. trächtigt wird. Nichts ist mehr mit der vielgepriesenen Vereinbarkeit nach der Vereinigung der beiden deutschen Staa- Da hilft auch das Gerede vom Recht auf einen Kin- ten. dergartenplatz nicht weiter. Wir in der ehemaligen DDR können mit diesem Gerede nichts anfangen. Wir Früher war die Vereinbarkeit von Familie und Be- erleben die Verlogenheit der hohlen Worte jeden Tag ruf für 90 % der Frauen in der DDR zumindest im mit jeder Tagesstätte, die geschlossen, und mit jeder Grundsatz gegeben. Sie waren ganz selbstverständ- Gruppe, die aufgelöst wird. lich berufstätig, denn sie hatten Tagesstätten für ihre Die Tatsache, daß nur knapp 30 % der Mittel, die für Kinder zur Verfügung. die Erhaltung der Kindertagesstätten benötigt wer- Jetzt werden Frauen auf den Arbeitsämtern erst gar den, von der Bundesregierung bewilligt sind, ist ein nicht als Arbeitssuchende registriert, wenn sie nicht Beweis dafür, wie hinterhältig dieser Einigungsver-- nachweisen können, daß ihre Kinder untergebracht trag ist und wie wenig die Menschen in der DDR sei- sind. Dieser Nachweis ist von Männern noch nie ge- nerzeit dazu in der Lage waren, seine tatsächlichen fordert worden. Das sind Schikanen, die den Frauen in Folgen abzusehen. der DDR bisher völlig unbekannt waren. An dieser Stelle möchte ich unseren — d. h. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der vom Bündnis 90/GRÜNE — ersten frauenpolitischen SPD und der PDS/Linke Liste) Haushaltsantrag ankündigen. Wir fordern, daß die Bundesregierung den Schaden, der den Kindertages- Die frauenfeindliche Politik der Bundesregierung stätten in der ehemaligen DDR durch Ihre Politik ent- im annektierten Gebiet hat durchaus Systema tik. standen ist, bzw. die Gefahr der Schließung, die den (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: „Annek Tagesstätten jetzt droht, abwendet. Wir fordern, daß tiertes Gebiet" hat sie gesagt!) die Bundesregierung die Finanzierung sämtlicher Kindertagesstätten im Gebiet der ehemaligen DDR so Sie geht dabei zweigleisig vor: Einerseits betreibt sie lange übernimmt, bis Länder und Kommunen in der eine Politik, die zur Arbeitsplatzvernichtung führt Lage sind, ihren Anteil selber zu tragen. Wir fordern — das hat meine Kollegin von der FDP hier so schön die Erhaltung aller Kindertagesstätten in der ehema- deutlich ausgeführt; darüber freue ich mich sehr —, ligen DDR über den 30. Juni 1991 hinaus und daher andererseits läßt sie die Kindertagesstätten kaputtge- eine ganz erhebliche Erhöhung des entsprechenden hen. Auf der Strecke bleibt dabei nicht nur die ökono- Haushaltstitels. mische Unabhängigkeit der Frauen, also ein Stück ihrer vorher besessenen Freiheit, sondern auch die (Borchert [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch Interessen der geborenen Kinder. selber nicht!) — Wenn ich Ihre Politik so sehe, glaube ich wirklich manches nicht mehr. Wir dürfen gespannt darauf sein, was das Frauen- Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin ministerium mit den 15 Millionen DM macht, die — Schenk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn ich zitiere — „für Arbeiten und Maßnahmen auf dem Eimer? Gebiet der rechtlichen und sozialen Stellung der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 809

Christina Schenk Frau" vorgesehen sind. Dieses Geld reicht nicht ein- Lassen Sie mich zusammenfassen: Mit dem hier mal für das Allernotwendigste. vorliegenden Haushaltsentwurf wird das Frauenmini- sterium keinen nennenswerten Beitrag zur Emanzipa- Ein Beispiel: Seit der Vereinigung hat sich die Posi- tion von Frauen oder auch nur zur Lösung irgendeines tion der Frauen in der ehemaligen DDR und das Ver- der in dieser Hinsicht anstehenden Probleme leisten hältnis von Männern gegenüber Frauen ganz erheb- können. lich verschlechtert. Die zunehmende ökonomische Abhängigkeit der Frauen von Männern stärken ma- Ich möchte mit einem Zitat der Ministe rin schlie- chistische und auch sexistische Tendenzen. Die Er- ßen: werbslosigkeit und die soziale Unsicherheit führen zu Aktive Politik für Frauen bedeutet, daß Frauen einer ungeheuren Zunahme von Aggressivität und gleiche Chancen in Gesellschaft, Politik und Be- Gewalt gegen Frauen und Kinder. ruf eröffnet werden. Erfolg hat diese Poli tik aber Deswegen wurde vom früheren Frauenministerium nur, wenn Frauen sich zusammenschließen und der ehemaligen DDR bereits eine Anschubfinanzie- gemeinsam gleiche Chancen einfordern. rung für 18 Frauenhäuser gewährt. Diese reicht je- Das klingt sehr gut. Ich meine allerdings, in diesem doch bei weitem nicht aus. In den alten Bundeslän- Fall müssen sich Frauen zusammenschließen, um dern gibt es ca. 200 Frauenhäuser; dementsprechend Druck gegen die offizielle Frauenpolitik dieses Lan- werden in der ehemaligen DDR ungefähr 50 ge- des zu machen. Ich denke, die großen Demonstratio- braucht werden. Wir fordern deshalb eine Anschub- nen, die in den Städten der ehemaligen DDR am finanzierung für 32 weitere Frauenhäuser. Auch dazu 8. März stattgefunden haben, sind ein guter Anfang werden wir Haushaltsanträge einbringen. dafür. Ein Thema, das unbedingt in den Arbeitsbereich (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der eines Frauenministeriums hineingehört, ist die Förde- SPD und der PDS/Linke Liste) rung der lesbischen Lebensweise als alternativer Le- bensform für Frauen, die autonom und frei ist von Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und männlicher Dominanz, zumindest im p rivaten Be- Herren, zu einer Kurzintervention hat das Wo rt der reich. Schätzungsweise 10 % aller Frauen und Mäd- Kollege Eimer von der FDP-Fraktion. chen haben sich für diese Lebensweise entschieden. Die jüngst bekanntgewordenen Diskriminierungs- Norbert Eimer (Fürth) (FDP): Herr Präsident! Meine fälle zeigen, daß es durchaus notwendig ist, daß sich Damen und Herren! Ich habe mich zu Wort gemeldet, ein Frauenministerium mit der Situation lesbischer weil der Begriff „annektiertes Gebiet" gefallen ist. Frauen in der Gesellschaft beschäftigt. (Sehr richtig! bei der CDU/CSU) (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Liebe Kollegen, ein frei gewähltes Parlament darf sich Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke so etwas nicht gefallen lassen. Liste) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Die Ministerin und der Staatssekretär machen es Wir dürfen uns das deswegen nicht gefallen lassen, sich zu einfach, wenn sie im Ausschuß lapidar feststel- weil das Parlament nach ersten freien Wahlen nach len — ich zitiere —, die lesbische Lebensweise sei eine langen, langen Jahren in der DDR zustande gekom- Frage der persönlichen Lebensführung und falle des- men ist. wegen nicht in den Arbeitsbereich des Frauenministe- riums. (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Zurück- nehmen!) Es ist richtig, wenn gesagt wird, die persönliche Ich möchte Sie deswegen bitten, daß Sie dieses Wort Lebensführung von Frauen gehe niemanden etwas zurücknehmen. Es widerspricht den Fakten, den Tat- an. Damit aber lesbisch leben endlich tatsächlich eine sachen, und es beleidigt die Bürger, die sich in freien Frage der rein persönlichen Entscheidung wird, muß Wahlen für die Wiedervereinigung ausgesprochen das Problem der gesellschaftlichen Diskriminierung haben. von Lesben vom Frauenministerium aufgegriffen und offensiv angegangen werden. Uns geht es dabei aller- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dings nicht nur um eine aktive Antidiskriminierungs- politik seitens der Bundesregierung. Es geht uns viel- Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat nun- mehr um eine solche Förderung der lesbischen Le- mehr die Ministerin für Familie und Senioren, Frau bensweise, die der Förderung anderer Lebensweisen Rönsch. in nichts nachsteht. Zum Beispiel müssen bundesweite Lesbenorganisa- Hannelore Rönsch, Bundesminister für Familie und tionen und überregionale Aktionen der Lesbenbewe- Senioren: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- gung von der Bundesregierung finanziell gefördert men und Herren! Liebe Kollegin Götte, ich mußte mit werden. großem Erstaunen zur Kenntnis nehmen, daß Sie Ihre Meinung offensichtlich nach der Lektüre von nur ei- (Zuruf von der CDU/CSU: Auch das noch!) ner Tageszeitung bilden. Ich werde Ihnen das Ergeb- Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Frauenmini- nis der Reise in der Berichterstattung der Presse über- steriums müssen lesbische Lebensweisen überall und senden und bitte Sie, das sehr aufmerksam durchzu- durchgehend als selbstverständliche Lebensform von lesen. Ich würde Ihnen empfehlen, eine gleiche Reise Frauen mit benannt werden. Wir werden auch dazu anzutreten. Ich glaube, dann empfinden Sie die Be- entsprechende Haushaltsanträge stellen. troffenheit über solche Einrichtungen. 810 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundesminister Hannelore Rönsch Es war nicht meine erste Reise in eines der fünf schickt werden, sondern dies soll auf freiwilliger Basis neuen Bundesländer. Es war meine erste Reise nach geschehen. Mecklenburg. Das Wort „Schnupperkurs" ist im Zu- sammenhang mit der Eintragung ins Goldene Buch (Beifall bei der CDU/CSU) und der Einladung des Oberbürgermeisters zu einem Wir werden zusätzliche Hilfsmittel für die Familien Urlaub im Sommer an der Ostsee, den ich dort mit in den fünf neuen Bundesländern zur Verfügung stel- meiner Familie verbringen werde — auf eigene Ko- len. Ich nenne beispielsweise die 40 Millionen DM für sten, damit es auch da kein Mißverständnis gibt — die werdenden Mütter in Not und die Förderung der gefallen. Ich habe gesagt: Ich habe die Ostseeluft jetzt bisher 69 Schwangerenberatungsstellen in den fünf von dieser Seite geschnuppert. Ich werde das auch in neuen Bundesländern. Zukunft tun. Weitere 40 Millionen DM setzen wir für Soforthil- Ich bitte Sie, die Presseberichterstattung der Jour- feprojekte in den neuen Ländern ein. Der Auf- und nalisten sehr aufmerksam zu lesen, die bei dieser Ausbau von Sozialstationen — bisher 500 — und Inve- Reise tatsächlich dabei waren. Noch einmal empfehle stitionen in Behinderten- und Altenheime können ich Ihnen: Machen auch Sie solche Reisen! Das geht hieraus bestritten werden. unter die Haut. (Zurufe von der PDS/Linke Liste: Hätten Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das Bestehende erhalten, brauchten Sie jetzt Ich hätte mir gewünscht, Frau Kollegin Götte, daß es nicht aufzubauen!) einige sehr konstruktive Beiträge für die Arbeit in den nächsten vier Jahren gegeben hätte. Die einzige For- — Das Bestehende wollen wir nicht erhalten. Um derung, die ich erfahren habe, war eine Erhöhung des Himmels willen: Ich bitte Sie, nicht mit geschlossenen Kindergeldes auf 200 DM. Das ist natürlich ein gewal- Augen durch die ehemalige DDR zu gehen, sondern tiger Sprung, wenn man bedenkt, daß noch 1981 das sich auch einmal Alteneinrichtungen anzusehen und Kindergeld für arbeitslose Jugendliche abgeschafft dann neu zu urteilen. Ich würde es Ihnen wün- wurde. schen. (Zuruf von der CDU/CSU: Durch die SPD!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Durch die SPD, die im Jahre 1981 an der Regierung Der Maßnahmenkatalog gilt auch für das neue Ge- war. Ich will auch noch einmal daran erinnern, daß meinschaftswerk, aus dem 5 Milliarden DM für kom- durch die Sozialdemokraten die Kinderfreibeträge ge- munale Investitionsprogramme bereitstehen. Hiermit strichen worden sind. lösen wir eine, wie ich meine, entscheidende Initial- zündung aus, die unterstützt wird durch weitere (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: So war es!) 5 Milliarden DM für Arbeitsbeschaffungsmaßnah- Der Haushalt des Ministe riums für Familie und Se- men. Damit können dann endlich sozialpflegerische nioren wird mit 28,783 Milliarden DM der viertgrößte Aufgaben wahrgenommen werden, und das ist eine Einzeletat im Haushalt des Bundes sein. Ich meine, bedeutende Entlastung für die kommunalen und die das ist ein stolzer Betrag. freien Träger. - (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Der Revolvingfonds, aus dem die Kredite für die neten der FDP) Sanierung von sozialen Einrichtungen vergeben wer- Das Kindergeld mit über 21,5 Milliarden DM und die den, wird um 25 Millionen DM erweitert. Diese Mittel steuerlichen Freibeträge stellen das materielle Rück- sollen vor allem den freien Wohlfahrtsverbänden zu- grat der Familienpolitik in den neuen wie in den alten gute kommen, die dort ihre Arbeit aufgenommen ha- Bundesländern dar. ben und denen ich gerade von dieser Stelle aus mei- nen herzlichen Dank für ihre Arbeit in den fünf neuen Die Mittel für das Erziehungsgeld betragen 1991 Bundesländern sage; denn sie leisten dort hervorra- 5,8 Milliarden DM. Den Finanzrahmen steigern wir gende Arbeit. gegenüber dem Vorjahr um 1,3 Milliarden DM; denn heute haben die Familien in ganz Deutschland An- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- spruch auf die Leistungen der Familienpolitik. Wir ordneten der FDP) setzen damit unsere Politik der Stärkung für die jun- Die neu hinzugekommenen Aufgaben in den fünf gen Familien und für die Familien im allgemeinen neuen Bundesländern erfordern aber noch weiterge- fort. hende Unterstützung. Der Aufbau der freien Wohl- (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Haben wir fahrtspflege muß noch weiter ausgebaut werden. Der alles gelesen!) freiheitliche Sozialstaat muß sich in den fünf neuen Bundesländern noch weiter durchsetzen. — Die Familien haben jetzt — das sage ich an Ihre Adresse, meine Damen und Herren Kollegen von der Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir erken- PDS, weil Sie sagen: Wir haben das alles gelesen! — nen heute in der Altenpolitik zwei große Aufgaben. einen anderen Stellenwert. Wir wollen nicht beide Es leben heute in Deutschland 16 Millionen Men- Ehepartner in den Produktionsprozeß pressen, son- schen über 60 Jahre. Ihr Anteil steigt, und im Jahr dern wir wollen freie Entscheidungen. 2000 wird bereits jeder vierte Bürger über 60 Jahre alt (Erneute Zurufe von der PDS/Linke Liste) sein. Ich habe großen Respekt vor der Lebensleistung der älteren Generation. Ihre menschlichen wie beruf- Wir wollen nicht, daß die Kinder zwangsweise schon lichen Erfahrungen sind von großem Wert für die Ge- sehr früh in die Kinderbetreuungseinrichtungen ge sellschaft, und sie dürfen nicht verlorengehen. Die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 811

Bundesminister Hannelore Rönsch über 60jährigen haben heute neue Chancen der ge- man nicht tatenlos zusehen. Ich vertrete daher eine sellschaftlichen Beteiligung und der Mitsprache. Dem Familienpolitik, die das Ja zum Leben unterstützt. tragen wir Rechnung und fördern das Selbstbewußt- (Würfel [FDP]: Wir auch!) sein der Älteren und die Partnerschaft zwischen den Generationen. — Frau Kollegin Würfel, ich würde mir gerade bei diesem Punkt wünschen, daß wir tiefernst auf einer Die Lebensverhältnisse der Seniorinnen und Senio- ethischen Grundlage gemeinsam diskutieren und um ren in den neuen Ländern müssen dringend denjeni- den besten Weg ringen, ohne daß wir uns in parteipo- gen in den alten Ländern angeglichen werden. Ge- litisches Zanken verrennen. Ich meine, daß es gerade meinsam müssen wir sie dann noch verbessern. dieser wirklich schwierige Punkt für Frauen, für Män- Diesem Ziel gilt das gesonderte Hilfsprogramm mit ner, für ihre Familien verdient, außerhalb jeglicher den folgenden Schwerpunkten: dem weiteren Aus- Parteientaktik und jeglichen Parteiengezänks zu blei- und Aufbau von Sozialstationen zur besseren ambula- ben. Ich erhoffe mir, daß wir nach der Diskussion, ten Versorgung der älteren und behinderten Mitbür- nach einem halben oder dreiviertel Jahr, hier im Par- ger, der Modernisierung und Sanierung der Alten-, lament zu einem breiten Konsens finden werden. Altenpflege- und Behindertenheime, der Förderung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Altenhilfeberatung mit dem Ziel, das Fachwissen bei Abgeordneten der SPD) von Spezialisten gerade für die älteren Menschen zu Mein Zehn-Punkte-Programm weist den richtigen gewinnen. Weg. Ich meine, daß Eltern eine Lebensperspektive Mit dem vorliegenden Haushalt leisten wir einen für ihre Kinder brauchen. Deshalb spreche ich mich beachtlichen Beitrag zur Meisterung der anstehenden für einen Rechtsanspruch auf Schwangerenberatung altenpolitischen Herausforderungen. aus, bei der für die schwangere Frau und ihre Familie eine tragfähige Lebensplanung über die Geburt des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kindes hinaus erarbeitet wird. Das Kindergeld und Um zugleich aber auch den wachsenden Bedarf an der Kindergeldzuschlag, das Erziehungsgeld und der Hilfe und Pflege besser absichern zu können, werden Erziehungsurlaub, das Wohngeld und die Sozialhilfe wir ein Gesetz über die Ausbildung in der Alten- gehören genauso selbstverständlich zu den materiel- pflege einbringen. Der so schwere Dienst an und für len Stützen für die Familien wie die Leistungen aus Menschen muß auch für die Pflegekräfte humaner der Bundesstiftung „Mutter und Kind" mit jährlich gestaltet werden. Nur eine attraktive Ausbildung in 140 Millionen DM und aus dem „Hilfsfonds für der Altenpflege auf einer bundesrechtlichen Grund- schwangere Frauen und Not" , von dem ich bereits lage eröffnet die Chance, im Wettbewerb um den Be- gesprochen habe, der momentan in den neuen fünf rufsnachwuchs bestehen zu können. Bundesländern besteht. Familien brauchen auch Zeit für Kinder. Deshalb Die Altenpflegeberufe müssen den Krankenpflege- zum 1. Januar 1983 um wei- berufen gleichgestellt werden. Dies bedeutet: eine wird das Erziehungsgeld tere sechs Monate auf dann 24 Monate verlängert, dreijährige Regelausbildung, die Gewährung eines Anspruchs auf Ausbildungsvergütung und den (Zurufe von der SPD) Schutz der Berufsbezeichnung. der Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsgarantie Nur mit einem klaren, bundeseinheitlichen Berufs- schon zum 1. Januar 1992 auf drei Jahre gesetzlich profil sowie der weiteren materiellen und strukturel- abgesichert. len Besserstellung der Pflegekräfte kann der Abbau (Zurufe von der SPD: 1983?) des Fachkräftemangels in der Altenpflege gestoppt werden. — 1993. Ich hätte mir gewünscht, wenn wir es schon 1983 gehabt hätten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der FDP) Es darf nicht sein, daß das Mehr an Arbeit auf immer Damals haben wir die Regierung angetreten und dann weniger Schultern ruht. konsequent gehandelt. Bis 1983 gab es in diesem bzw. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in dem Haus dort drüben eine andere Mehrheit. Den ehemaligen und den in den fünf neuen Län- Damit haben Mütter und auch Väter Kündigungs- dern weiter tätigen Gemeindeschwestern will ich sa- schutz, die dann das Glück haben, ein Landeserzie- gen: Ihre reichhaltige Berufserfahrung, ihr langjähri- hungsgeld zu bekommen. Die Länder Bayern, Rhein- ges praktiziertes Wissen darf nicht verlorengehen. land-Pfalz, Baden-Württemberg und auch Berlin, Vielmehr soll es berufsqualifizierend in das neue Aus- nachdem es eine neue Regierung hat, haben ein Er- bildungsprofil eingehen. Ich werde mich dafür einset- ziehungsgeld eingeführt. Ich meine, auch die sozial- zen, daß es entsprechende Überleitungsregelungen demokratisch regierten Bundesländer sollten sich geben wird. jetzt dazu entschließen. (Zustimmung bei der CDU/CSU und der Meine sehr geehrten Damen und Herren, dem FDP) Schutz des ungeborenen Lebens muß eine neue Prio- rität beigemessen werden. Experten schätzen die be- Familien brauchen Geld für Kinder. Zum 1. Januar drückende Zahl von jährlich über 300 000 Schwan- des kommenden Jahres wird das Kindergeld auf gerschaftsabbrüchen in ganz Deutschland. Dem darf 70 DM erhöht. Einkindfamilien in den neuen Bundes- 812 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundesminister Hannelore Rönsch ländern erhalten bereits ab dem 1. Januar 1991 das doch einmal zu bitten, in den Haushalt von Rheinland- jetzt auf 65 DM erhöhte Kindergeld. Pfalz hineinzusehen. Gemeinsam mit dem Kindergeld wird der steuerli- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Götte [SPD]: che Kinderfreibetrag das Existenzminimum sichern. Ohne zusätzliche Mittel!) Was Eltern und Kinder an Lebensnotwendigem benö- tigen, darf nicht dem Zugriff des Staates unterliegen. Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Minister, ge- Wir werden die erste Stufe des Kinderlastenaus- statten Sie eine weitere Zwischenfrage der Frau gleichs noch in der Sommerpause bewerkstelligen Dr. Höll? und nach der Sommerpause vorlegen. Die zweite Stufe folgt noch in dieser Legislaturpe riode. Hannelore Rönsch, Bundesminister für Familie und Alleinerziehende Mütter und Väter brauchen auch Senioren: Aber gern. finanzielle Sicherheit. Die Bezugsdauer für den Un- terhaltsvorschuß werden wir verdoppeln. Wir werden Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Frau Ministe rin, gleichzeitig sicherstellen, daß Kinder bis zum Alter nur eine kurze Verständigungsfrage, die Sie mir in der von zwölf Jahren berücksichtigt werden können. letzten Ausschußsitzung leider nicht beantworteten. Ich meine ferner: Kinder brauchen Kinder. Zusam- Was verstehen Sie unter einem Rechtsanspruch auf men mit den Ländern wollen wir daher einen Rechts- einen Kindergartenplatz? Ich meine, zwei Teile anspruch auf einen Kindergartenplatz ab dem dritten Deutschlands hatten ein unterschiedliches Verständ- Lebensjahr durchsetzen. nis darüber, was ein Kindergartenplatz ist. (Zurufe von der SPD) Hannelore Rönsch, Bundesminister für Familie und — Ja, ich glaube daran. Hier kommt gerade ein Kol- Senioren: Ich kann Ihnen das gern noch einmal sagen. lege aus Rheinland-Pfalz. Er wird mir bestätigen kön- Ich habe soeben schon versucht, das deutlich zu ma- nen, daß Rheinland-Pfalz einen derartigen Rechtsan- chen. Ich will nicht, daß jede Mutter, jeder Vater ihr spruch jetzt durchgesetzt hat. bzw. sein Kind abgeben muß. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Zurufe von der SPD) Zurufe von der SPD) — Ja, das Wort „abgeben" war für mich symptoma- —Ich glaube, was Nordrhein-Westfalen angeht, nicht tisch für die Familien in der damaligen DDR, weil nur daran, denn ich habe bei einer Diskussion mit Johan- vom Abgeben der Kinder gesprochen wurde. nes Rau vor drei Wochen von diesem vernommen: (Dr. Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Sie haben Nein, das werden wir hier doch nicht durchführen. — keine Ahnung von den Problemen!) Ich muß sagen: Kein Land ist gehindert, diesen — Doch, ich habe ein wenig Ahnung von den Verhält- Rechtsanspruch endlich durchzusetzen. nissen in der ehemaligen DDR, weil ich seit 27 Jahren regelmäßig dort war und mich mit sehr vielen jungen Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Minister, ge- Frauen, jungen Müttern unterhalten habe, die ihre statten Sie eine Zwischenfrage der Frau Götte? — Kinder abgeben mußten. Das verstehe ich nicht dar- Bitte. unter. (Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP) (SPD): Frau Minister, denken Sie Dr. Rose Götte Ich meine, daß — z. B. ähnlich wie in Rheinland- dabei an eine Lösung nach dem Beispiel Rheinland- Pfalz — Kindergarten-, Kinderbetreuungsplätze mit Pfalz? Das Land Rheinland-Pfalz schreibt einen einem Deckungsgrad von 95 % geschaffen werden Rechtsanspruch ins Gesetz, ohne den Kommunen ei- müssen, so daß jede Familie die Möglichkeit hat, nen Pfennig aus Landesmitteln dafür zu geben. wenn sie es wünscht, einen Kindergartenplatz zu be- (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Frau Götte, kommen. das, was Sie da erzählen, stimmt doch so gar nicht! Keine Ahnung!) Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Minister, ge- statten Sie eine weitere Zwischenfrage der Frau Dr. Höll? Hannelore Rönsch, Bundesminister für Familie und Senioren: Frau Götte, momentan ist ja Wahlkampf in Bundesminister für Familie und Rheinland-Pfalz, und ich nehme an, Sie sind dann Hannelore Rönsch, Senioren: Aber klar. abends öfter zu Hause. Ich darf Ihnen doch abneh- men, daß Sie sich auch einmal angesehen haben, wie die Regelung aussieht. Auch im Haushalt von Rhein- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte. land-Pfalz ist dafür Geld vorgesehen. Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste) : Frau Ministe rin, (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: So ist es!) Sie haben zwar geantwortet, aber nicht auf meine Sie hätten heute morgen auch den Ministerpräsiden- Frage. Mein Kind geht in den Kindergarten. Habe ich ten, der ja hier war, fragen können. Ich kann Ihnen dann nur noch einen Anspruch auf einen Kindergar- den Betrag nicht nennen, weil ich mich nicht unmit- tenplatz von früh um acht bis halb zwölf, d. h. müßte telbar um den Haushalt von Rheinland-Pfalz geküm- ich dann von der Arbeit nach Hause kommen, um mert habe. Ich habe nur mit großer Freude vernom- Mittag zu kochen, oder ist es ein Rechtsanspruch auf men: Rheinland-Pfalz hat den Anspruch gesetzlich eine ganztägige Betreuung? Diese beiden Möglich- verankert. Ich würde Ihnen empfehlen, Johannes Rau keiten gibt es. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 813

Hannelore Rönsch, Bundesminister für Familie und Ich will noch einmal auf Rheinland-Pfalz zurück- Senioren: Aber, Frau Kollegin, es gibt doch in den fünf kommen. Ich sagte gerade schon, daß vor 14 Tagen neuen Bundesländern wie auch hier die verschieden- der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz in sten Kinderbetreuungseinrichtungen. Ich nehme an, Rheinland-Pfalz sichergestellt wurde. daß Sie sich nach dem Verlauf Ihrer Berufstätigkeit (Dr. Niehuis [SPD]: Wie lange regiert die dann den Kinderbetreuungsplatz für Ihren Sohn oder CDU schon in Rheinland-Pfalz?) Ihre Tochter, der der Arbeitszeit angepaßt ist, aussu- chen. Der Deckungsgrad beträgt 95 %. (Dr. Höll [PDS/Linke Liste]: Ich möchte wis (Zuruf von der CDU/CSU: Seit zehn Jahren sen, ob ich einen Anspruch auf eine ganztä schon, Frau Minister!) gige Betreuung habe!) Ich meine, das ist eine stolze Zahl. — Es soll eine Abdeckung durch die einzelnen Bun- desländer erfolgen. Sehen Sie sich das Modell in Ich wundere mich schon ein bißchen darüber, daß Rheinland-Pfalz mit einer Deckung von 95 % an. Ich gerade die Sozialdemokraten, denen von führenden wünsche mir, daß auch bei Ihnen in den fünf neuen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten immer Bundesländern ein System geschaffen wird, damit Sie wieder bescheinigt wird, daß ein Rechtsanspruch Ihr Kind dort abgeben können. nicht notwendig ist, an dieser Stelle doch sehr stark Laut geben. (Dr. Höll [PDS/Linke Liste]: Wir hatten in der DDR 100%!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich würde Ihnen empfehlen: Reden Sie mit Johannes Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Minister, ge- Rau. statten Sie noch eine weitere Zwischenfrage von Frau Jetzt werde ich in meiner Rede fortfahren, weil Fa- Weyel? milien noch mehr brauchen. Familien brauchen näm- lich auch Wohnungen. Werdende Mütter und Allein- Hannelore Rönsch, Bundesminister für Familie und erziehende sollen deshalb bei der Vergabe von Woh- Senioren: Ja, das ist die letzte. nungen bevorzugt werden. Ich meine auch, daß ge- rade auf dem freien Wohnungsmarkt die Familien mit Gudrun Weyel (SPD): Frau Rönsch, können Sie uns Kindern nicht diskriminiert werden dürfen. Kinder sagen oder wissen Sie überhaupt, wie viele Kinder- bedeuten Leben, Freude und Zukunft, natürlich gärten im Gebiet der alten Bundesrepublik eine manchmal auch Lärm. Aber ihnen darf ein angemes- Ganztagsbetreuung über die Mittagspause hinaus an- senes Zuhause nicht verweigert werden. bieten? Es sind ganz, ganz wenige, weil in den mei- Kinder brauchen zudem Pflege. Mütter oder Väter, sten Fällen keine Möglichkeit besteht, sie zu betrei- die sich um ein krankes Kind bis zu zwölf Jahren küm- ben, da auch gesagt wurde, die Nachfrage ist zu ge- mern müssen, sollen zukünftig die Möglichkeit zur ring. Freistellung von der Arbeit bis zu zehn Tagen erhal- (Bundesminister Hannelore Rönsch: Ganz ten. Bei Alleinerziehenden sind es 20 Tage. - genau, Frau Weyel!) (Dr. Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Das ist Weil Sie ständig auf Rheinland-Pfalz abheben, aber großzügig! — Dr. Höll [PDS/Linke Li- frage ich Sie, ob Ihnen bewußt ist, daß dieses Gesetz ste]: Wir hatten vier Wochen!) sehr jungen Datums ist — es ist nämlich erst wenige Wochen alt —, Bei einer 38,5-Stunden-Woche, meine ich, ist das doch ganz angemessen. Freistellungstage sollen von den (Zuruf von der SPD: Für den Wahlkampf!) Alleinerziehenden, aber auch von verheirateten Müt- daß in der Realität ein großer Mangel an Kindergar- tern und Vätern in Anspruch genommen werden kön- tenplätzen besteht und daß es Orte gibt, in denen kein nen. Kind vor dem vollendeten fünften Lebensjahr in den Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe Kindergarten aufgenommen wird? einige Aussagen zum Zehn-Punkte-Programm vorge- tragen, die ich jetzt nicht weiter ausführen will und Hannelore Rönsch, Bundesminister für Familie und kann, weil die Zeit davonläuft. Senioren: Liebe Kollegin Weyel, Sie haben sich ei- gentlich die Frage schon selbst beantwortet. Sie ha- Aber ich meine, daß wir die Sozialpartner in die ben nämlich gesagt, daß Kindergärten und andere Verantwortung nehmen müssen. Die Bedürfnisse der Kinderbetreuungseinrichtungen deshalb mittags Familien müssen stärker in die Arbeitswelt eingehen. schließen, weil kein Bedarf da ist. Um diesem Ziel näherzukommen, beabsichtige ich, noch in diesem Frühjahr die Arbeitgeber- und Arbeit- (Widerspruch bei der SPD) nehmervertreter zu einem Gespräch einzuladen, weil Genau das war die Antwort von Frau Weyel eben in ich meine, daß die Arbeitszeiten familienfreundlicher ihrer Zwischenfrage. Ich kann Ihnen versichern, ge- und nicht die Familien arbeitszeitfreundlicher werden nau das ist auch mein Ziel. Ich wünsche mir, daß nach müssen. Bedarf Kindergärten oder sonstige Kinderbetreuungs- einrichtungen vorhanden sind, daß aber Mutter oder (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vater die Möglichkeit gegeben ist, wenn sie nur halb- ordneten der FDP) tags arbeiten, ihr Kind mittags mit nach Hause zu neh- Mein Arbeitsprogramm will die Familien und die men, so daß dann kein Bedarf für Ganztagsbetreu- Solidarität der Generationen stärken. Jeder Mensch, ungseinrichtungen da ist. gleich ob jung oder alt, ob Mann oder Frau, braucht 814 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundesminister Hannelore Rönsch Geborgenheit und die vertrauensvolle Bindung zum neuen Bundesländer oder in das beigetretene Ge- Nächsten und an seine Familie. Wer dies verkennt, biet. der, meine ich, ignoriert auch sträflich das Wesen und (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Machen wir! die innersten Wünsche der menschlichen Natur. Ein Samstag/Sonntag bin ich doch wieder isoliertes und lediglich als Arbeitsfaktor betrachtetes dort!) Individuum besitzt kein menschliches Antlitz. Ich sehe es als meine vordringlichste Aufgabe an, den Fazit: Ich nehme diesen Beg riff hier nicht zurück. Er Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes die für sie entspricht meinem Fühlen. Ich weiß auch, daß er dem und ihre Familien notwendigen Hilfen zu geben. Fühlen und Denken sehr vieler Frauen, wenn nicht der Mehrheit, entspricht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste)

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und ten Damen und Herren! Wir haben eine Geschäftsord- Herren, das Wort zu einer weiteren Inte rvention hat nung, in der Zwischenfragen vorgesehen sind. Das Frau Margot von Renesse von der SPD-Fraktion. sollen aber nie Dialoge werden. Deswegen haben wir in die Geschäftsordnung noch etwas anderes einge- (SPD): Ähnlich wie der Kol- fügt, und zwar den § 27, nämlich Zwischenbemer- Margot von Renesse lege Eimer über eine Bemerkung in der Rede zuvor kung, wie der Titel heißt. Wir nennen das Kurzinter- bin auch ich zu dieser Kurzintervention geschritten, ventionen, und dazu hat jetzt das Wort zunächst Frau weil mich einiges, Frau Ministerin, in der Rede, die Sie Abgeordnete Schenk vom Bündnis 90. gehalten haben, bis zum Erschrecken geschmerzt hat. Das eine ist das, was Sie über die Feierabendheime sagen, die Sie in der DDR gesehen haben. Auch ich habe vor einem halben Jahr eine solche Reise ge- Christina Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Aus großer macht und teile Ihre Bestürzung über das, was sich Betroffenheit möchte ich einige Worte zu der Inter- dort abspielt. Auf der anderen Seite frage ich mich, vention des Kollegen Eimer von der FDP sagen. Offen- wenn ich Ihren Haushaltsplan sehe: Bis wann glauben sichtlich besteht bei einigen Kollegen und Kollegin- Sie eigentlich bei den Mitteln, die Sie genau für diese nen hier im Hohen Hause im Zusammenhang mit der Dinge einsetzen, vernünftige und auch für uns lebens- Benützung des Begriffes „Annexion" ein Erklärungs- werte Verhältnisse für diejenigen geschaffen zu ha- bedarf. Zunächst zeigt die Empörung über die Ver- ben, die jetzt wirklich in der Verantwortung unseres wendung dieses Begriffs, daß Sie keine Vorstellungen Landes, unseres gemeinsamen Landes — und das davon haben, was bei uns in der ehemaligen DDR vor heißt in erster Linie: Ihres Ministe riums — stehen? Ich sich geht, was die Menschen jetzt denken und was sie kann mir vorstellen, daß Sie nach den dort ausgewor- jetzt fühlen. fenen Mitteln und dem Sanierungs- und Neubaube- (Zuruf von der CDU/CSU: Sind Sie die einzi darf, der sich dort auftut, sehr lange warten werden. - gen Abgeordneten?) Das zweite, was mich schmerzt: Auch wenn Sie Sie erleben den totalen Zusammenbruch von Struk- über die Familienstruktur in der DDR sprechen turen, die ein Mindestmaß an Existenzsicherheit be- — Stichwort: abgeben; Sie sprachen von „abgeben deutet haben. Frauen erleben mit lähmendem Entset- müssen" —, teile ich Ihre Ablehnung, in die Familie, zen — ich muß das hier so klar sagen —, wie ihnen die die der Ort der Freiheit ist, von Staats wegen hinein- Grundlagen für ihre Emanzipation, für eine men- zuregieren, sei es, daß man abgeben muß, sei es, daß schenwürdige Existenz genommen werden. Die öko- man für ein Kind keinen Kindergartenplatz findet und nomische Selbständigkeit nicht auf der Grundlage es nicht kann. Beides ist verhängnisvoll, weil es dem von Almosen, sondern auf der Grundlage von selbst Grundgesetz von Familie, das Freiheit ist, wider- erarbeitetem eigenem Einkommen auf G rund qualifi- spricht. Aber wenn Sie von der Familie in der DDR zierter Berufstätigkeit ist darin ein zentraler Aspekt. sprechen wie gerade hier und auch im Ausschuß, habe ich das Gefühl, daß wir dort nach 40 Jahren (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: War das, was eines bestimmten und schrecklichen Systems in poli- vor drei Jahren da war, menschenwürdig?) tischer Hinsicht nur noch Monster haben, die sich Diese ökonomische Selbständigkeit von Frauen wird auch nicht mehr über Weihnachtsgeschenke freuen, mit dieser Regierung nicht mehr herstellbar sein. Das wo die Kinder ihre Eltern nicht lieben, die Eltern ihre muß einmal so klar gesagt werden. Kinder nicht, die Männer ihre Frauen nicht, und die Frauen nicht ihre Männer. Das stimmt nicht. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der SPD und bei der PDS/Linke Liste — Gerster (Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat denn so [Mainz] [CDU/CSU]: War das, was vor drei etwas gesagt!) Jahren da war, menschenwürdig?) Der real existierende Mate rialismus seit der Öffnung der Mauer ist für die Familien verhängnisvoll gewor- Der Anschluß der DDR an die BRD nach Art. 23 des den. Grundgesetzes ist auf der Grundlage — ich sage es hier ganz klar — eines Bluffs zustande gekommen. Die Bundesregierung und der Kanzler an erster Stelle Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und haben da erklärt, niemandem werde es schlechter Herren, für Kurzinterventionen sind zwei Minuten gehen. Ich sage nur: Machen Sie eine Fahrt in die fünf vorgesehen. Ich bitte, sich daran zuhalten. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 815

Vizepräsident Helmuth Becker Das Wort zu einer Kurzintervention hat jetzt Frau das in der vorletzten Woche aufgelegt wurde, haben Barbe, SPD-Fraktion. wir 5 Milliarden DM in die Kommunen und Land- kreise gegeben, so daß die Bürgermeister, die Ober- Angelika Barbe (SPD): Auch ich bin hier jetzt wegen bürgermeister oder die Landräte die dringend zur Sa- des Hinweises von Frau Rönsch aufgesprungen; denn nierung anstehenden Altenheime, Altenpflegeheime, ich habe meine Kinder in der DDR selbst erzogen. Ich Krankenhäuser und Schulen jetzt in eigener Entschei- bin zu Hause gewesen, aber nicht deshalb, weil ich dung sanieren können. Ich erhoffe mir, daß sich ein die Familienpolitik so toll fand, sondern weil die Qua- Ortsbürgermeister vor Ort jetzt ganz schnell ausrech- lität der Kindererziehung gelitten hat. Da müssen wir net — die Formel dafür ist: Zahl der Einwohner mal ganz viel Geld hineinstecken. Es geht nicht darum, 300 DM; so viel macht das nämlich aus — , was ihm in Kinderbetreuungseinrichtungen kaputtzumachen, seiner Gemeinde, in seiner Region an Mitteln für die sondern es geht darum, mit viel Geld gute Betreuung Sanierung von Altenpflegeeinrichtungen zur Verfü- anzubieten. Das müssen wir schon deshalb tun, weil gung steht. Das soll die ersten, übelsten, schlimmsten auch die alleinerziehenden Frauen, von denen wir in Schäden, die vorhanden sind, beseitigen. der ehemaligen DDR viel mehr haben, ein Recht dar- Weitere Gelder sind im Haushalt. Wir haben im auf haben, daß die Kinder unter guten Bedingungen Revolving Fund 25 Millionen DM, mit denen eben- erzogen werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. falls geholfen werden kann. Nur, ich bin dankbar, daß Ich bitte Sie auch, hier die Fachleute zu Rate zu zie- ich auf dieses Gemeinschaftswerk noch einmal hin- hen und sie anzuhören. Diese sagen Ihnen: Natürlich weisen konnte. braucht ein Kind einen Bezugspartner, aber es muß (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht unbedingt die Mutter sein. Und da frage ich jetzt die Regierung: Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Studien, die vorliegen, in denen ganz klar wird, daß Vizepräsident Helmuth Becker: Wir fahren jetzt in der Erziehungsurlaub dazu beiträgt, daß Frauen aus der Debatte fort. Das Wort hat die Abgeordnete Frau dem Arbeitsmarkt ausgegliedert werden? Da muß so- Wegner, SPD-Fraktion. fort reagiert werden. Ein ganz wichtiger Punkt. Das nächste ist: Dr. Konstanze Wegner (SPD): Herr Präsident! Liebe (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Ist doch Kolleginnen und Kollegen! Meine Aufgabe ist es Debatte, Herr Präsident! — Bohl [CDU/ heute, aus der Sicht der Haushaltspolitik etwas zur CSU]: Wir wollen auch noch fertig werden, Familien-, Senioren-, Jugend- und Frauenpolitik zu Herr Präsident!) sagen, oder — konkreter — über das, was von dem ehemaligen Lehrschen Bauchladen-Ministerium nach Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die Abtrennung des Gesundheitsministeriums übrigge- soziale Kompetenz der Männer zu erhöhen, die ja an blieben ist. Kompetenz gewinnen, wenn sie die Kindererziehung in die Hand nehmen? Wieviel Prozent der Männer Ob sich diese Art der Aufteilung — wir hatten sie ja machen das, und welche Möglichkeiten gibt es selbst gefordert, aber haben sie uns so nicht vorge- hier? stellt — in drei Ministe rien mit sehr geringen finanzi- ellen Spielräumen und auch mit zahlreichen Kompe- Ein Letztes: Ich habe Angst vor dem Binnenmarkt, tenzüberschneidungen langfristig bewähren wird, der sich 1992 eröffnet. Denn da haben nur die gut darf man bezweifeln. qualifizierten Mobilen eine Chance, und das sind dann nicht die Frauen. Das heißt in der Zukunft: Lang- (Beifall bei der SPD) zeitarbeitslosigkeit für Frauen. Ich denke, da besteht Die „Stimme der Familie", das Organ des Familien- Handlungsbedarf. bunds der Deutschen Katholiken, also wirklich kein linkes Kampfblatt, hat diese Art der Aufspaltung dann Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- auch sehr hart kritisiert und hat festgestellt: Jetzt fehlt ten Damen und Herren, es gab jetzt drei Kurzinterven- nur noch ein Ministerium für Männer und Haus- tionen. Die Frau Ministerin hat sich inzwischen ge- tiere. meldet. Aber ich glaube, es war gut, daß wir erst alle (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) drei abgewartet haben. Sinn und Ziel dieser chirurgischen Operation war Frau Minister, Sie haben jetzt das Wort. wahrscheinlich auch weniger eine effiziente Fami- lien-, Senioren- und Frauenpolitik auf den Weg zu Hannelore Rönsch, Bundesminister für Familie und bringen, sondern Sinn und Ziel dieser Operation war Senioren: Meine sehr geehrten Damen und Herren! vermutlich die Pflichtaufgabe für Kanzler Kohl, drei Liebe Kolleginnen! Ich werde natürlich nicht noch Damen als Ministerin in sein Kabinett zu holen. Wir einmal auf alles eingehen können. Ich sehe mich aber wünschen den drei Damen eine glückliche Hand bei in vielem mit Ihnen einig: Natürlich müssen Kinder- der Ausübung ihrer Aufgaben, und wir hoffen, daß sie betreuungseinrichtungen auch in der Qualität ver- sich sehr wenig streiten werden, denn der Bundes- bessert werden. Damit ihre Ausstattung verbessert rechnungshof schläft nicht und wird irgendwelche wird, damit sie saniert und ihre Schäden behoben Kompetenzrangeleien, die dann sicher teuer würden, werden, ist die erste Milliarde geflossen. mit Argusaugen überwachen. Ich wünsche Ihnen also, Ich bin Ihnen aber, Frau von Renesse, ausgespro- daß Sie sich gut vertragen und keine Abgrenzungs- chen dankbar dafür, daß Sie mir noch einmal die Gele- probleme bekommen. genheit geben, von hier aus auf unser Gemeinschafts- Nun zunächst zur sogenannten Familienpolitik, wie werk hinzuweisen. Mit diesem Gemeinschaftswerk, sie sich in den Koalitionsvereinbarungen — die sollte 816 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Konstanze Wegner man auch immer einbeziehen — und im Haushalts- liche 10 Millionen DM auf. Wie sollen die Wohlfahrts- entwurf darstellt. Wir haben es schon gehört, das Bun- verbände damit zurechtkommen, zumal gerade in den desverfassungsgericht hat ein sehr bemerkenswertes neuen Bundesländern jede Menge Aufgaben auf sie Urteil, das auch die Familienverbände sehr beschäf- wartet? tigt, gefällt. Es wurde festgestellt, daß der Familienla- Die Senioren oder die alten Menschen kommen in stenausgleich in den Jahren 1983 bis 1985 nicht ver- den Koaltionsvereinbarungen nicht vor. Indirekt be- fassungskonform war, weil das Existenzminimum für troffen sind sie aber sehr wohl; denn das wichtigste sie die Familie bzw. für die Kinder nicht freigestellt betreffende sozialpolitische Vorhaben am Ende dieses war. Jahrhunderts, die Pflegeversicherung, wird vertagt. Die Regierung reagiert darauf in erstaunlicher Dabei ist dieses Problem so b risant, daß es keinen Weise. Erstens. Sie lehnt es ab, ihren Fehler sofort zu Aufschub duldet. Diskutieren Sie mit der Bevölke- korrigieren und kassiert, wenn ich recht unterrichtet rung. Die Menschen sind bereit, die relativ geringen bin, in diesem Jahr die überhöhten Mittel, rund 6 Mil Pflichtbeiträge, die dazu notwendig sind, zu bezahlen, liarden DM, weiter. wenn ihnen dafür dieses zentrale Lebensrisiko abge- nommen wird. Zweitens. Sie belohnt alle diejenigen, die sich einen Steuerberater halten können und deshalb rechtzeitig (Beifall bei der SPD) Einspruch eingelegt haben. Nur die, die das gemacht In der CDU hat ja im Hinblick auf Pflichtversiche- haben, sollen eine Rückerstattung erhalten. rung offenbar ein Umdenkungsprozeß stattgefunden. Die weitere Reaktion der Regierung auf das Urteil: Das ist sehr erfreulich. Hier sind jetzt die Liberalen die Erhöhung der Kinderfreibeträge um rund 1 000 DM, Bremser; sie wollen die Privatversicherung für die Erhöhung des Kindergeldes für das erste Kind ab Wohlhabenden und weiter die Sozialhilfe für die 1. Januar 1992 um 20 DM, ist für uns Sozialdemokra- Schwachen. ten sozial ungerecht, unzureichend und außerdem bü- (Zuruf von der FDP: So sehen wir das nicht! rokratisch außerordentlich aufwendig. Das sollte ge- — Lachen und Zurufe von der SPD) rade die Haushälter interessieren. — Ich lasse mich gerne korrigieren. Von einem Kon- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ zept für Altenpolitik ist nichts zu erkennen, zumindest GRÜNE) nicht im Haushalt. Für den Aufbau von Sozialstatio- 550 Millionen DM müssen derzeit jährlich aus dem nen in der ehemaligen DDR werden lediglich 40 Mil- Bundeshaushalt an die Bundesanstalt für Arbeit für lionen DM zur Verfügung gestellt, obgleich nach Mei- die Auszahlung des Kindergeldes erstattet werden. nung aller Experten mindestens die dreifache Summe Da ist der SPD-Vorschlag, ein gleiches Kindergeld für notwendig wäre. Die Mittel für die Maßnahmen für jedes Kind in Höhe von mindestens 200 DM, Verzicht die ältere Generation — ich glaube, das war Frau Kol- auf die steuerlichen Freibeträge und Abwicklung legin Lehrs ehemaliges Lieblingskind — werden nun durch das Finanzamt, nicht nur sozial gerechter, son- gekürzt, obgleich die Zahl der alten Menschen in un- dern auch in der Durchführung wesentlich weniger serer Gesellschaft — zumindest nach meinen Informa- aufwendig. tionen — ständig steigt. - (Beifall bei der SPD) Dazu kommt noch die Absicht des Finanzministers, mittelfristig die Zuschüsse für die Zivildienstleisten- Auch sonst hat Ihre Familienpolitik durchaus eine den im mobilen Sozialdienst und bei der Schwerstbe- unsoziale Schlagseite. Sie kennen sicher alle die far- hindertenbetreuung abzuschaffen. Ich hoffe, daß we- bige Persönlichkeit Mayer-Vorfelder, Baden-Würt- nigstens Staatssekretär Carstens da ist — aber es ist tembergs Finanzminister. Er neigt sehr zu markanten niemand von der Finanzpolitik hier. Ich kann Minister Sätzen, und so hat er auch mal den Ausspruch getan, Waigel nur raten, daß er die Zivis mal vor Ort bei er, Mayer-Vorfelder, werde nicht daran denken, ihrem Einsatz begleitet. Vielleicht ist er dann zu einem Ganztagsschulen zu bauen, damit sich die Arztfrau Umdenken bereit. verwirklichen könne. Jetzt ermöglicht es die Regie- rung dieser Arztfrau, 18 000 DM pro Jahr bei der (Beifall bei der SPD) Steuer für eine Haushaltshilfe abzusetzen. Ich muß Ein wirklicher Skandal ist, daß die Hilfe für behin- sagen, dies ist auch eine Art der Selbstverwirklichung. derte Menschen, die ganze mickerige 3,8 Millionen Dieses Privileg kostet den Steuerzahler immerhin fast DM beträgt, lediglich auf 4,5 Millionen DM aufge- 600 Millionen DM im Jahr. Für dieses Geld könnte stockt wurde. Offenbar hat diese Gruppe, der es am man Ganztagsschulen bauen, die Mayer-Vorfelder allerschlechtesten geht, im Ministerium nicht den ge- nicht wollte, man könnte auch 35 000 Kindergarten- ringsten Stellenwert. Vielleicht gibt es in der ehema- plätze davon schaffen. ligen DDR keine Behinderten! Ein weiteres Beispiel zu Ihrer Familienpolitik aus Die Jugendpolitik findet in den Koalitionsvereinba- dem Haushalt. Sie halten eisern an ihrem Ideologie- rungen auch nicht statt. Im Haushalt hat sie einen titel „Zukunft der Familie", der mit immerhin Niederschlag gefunden; das ist richtig, Frau Kollegin 17,5 Millionen DM bestückt ist, fest. Ich freue mich da, Karwatzki. Der Bundesjugendplan ist aufgestockt denn da kriege ich Deckungsvorschläge für die Bera- worden. Das begrüßen wir. Aber Jugendpolitik hat tungen. Aber er beinhaltet nichts als Selbstdarstel- natürlich auch etwas mit Kinderbetreuungseinrich- lungsmaßnahmen des Ministeriums. Andererseits tungen zu tun. Dazu kann ich mir Ausführungen er- stocken Sie die Zuschüsse an die Wohlfahrtsverbände sparen; das ist hier im Dialog mit der Kollegin Rönsch für die Ausführung zentraler Aufgaben nur um lächer erledigt worden. Man kann nur sagen: was die ehe- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 817

Dr. Konstanze Wegner malige Bundesrepublik angeht, befinden wir uns, was Die Regierung plant auch ein Artikelgesetz zur die Versorgung mit Betreuungsein richtungen betrifft, Gleichstellung. Wir begrüßen das. Wir werden auf der auf dem Status eines Entwicklungslandes. Basis unseres eigenen Gleichstellungsentwurfs, der leider vom Bundestag in der vorigen Legislaturpe- (Sehr wahr! bei der SPD) riode abgelehnt wurde, konstruktiv mitarbeiten. Wir werden sehr genau prüfen, ob in Ihrem Entwurf die Die Regierung will einen Rechtsanspruch auf Kin- Verankerung der Förderung von Frauen im öffentli- dergarten im Jugendhilferecht verankern. Wir begrü- chen Dienst, die Abschaffung geringfügiger Beschäf- ßen das. Das war unsere eigene Forderung. Aber die Regierung drückt sich, und da hilft jetzt der Hinweis tigungsverhältnisse und die gesicherte Teilzeitarbeit enthalten sind. auf Rheinland-Pfalz und ein schnelles Gesetz vor der Wahl überhaupt nicht. Ich kenne die Situa tion vor Ort. Wir begrüßen die geplante Ausweitung des Erzie- Die Regierung drückt sich um die Finanzierung der hungsgelds und des Erziehungsurlaubs mit Beschäfti- zusätzlichen Plätze, die notwendig werden, um die gungsgarantie. Wir müssen aber immer wieder darauf Volldeckung zu erreichen. Sie schiebt damit das Pro- hinweisen, daß das Erziehungsgeld als solches viel zu blem an die Länder und an die Kommunen und indi- niedrig ist. In dieser Höhe kann es den ausgefallenen rekt natürlich auch an die Eltern weiter. Lohn nicht ersetzen. Hinsichtlich der fünf neuen Bundesländer hat sich (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ der Bund verpflichtet, bis zum 30. Juni 1991 für die GRÜNE) Kinderbetreuungseinrichtungen mit aufzukommen. Deshalb werden Sie auch damit nicht zu einem verän- Dafür ist ja auch eine Milliarde im Haushalt. Das derten Rollenverhalten zwischen Männern und klingt so ganz gut; aber Sie wissen selbst, daß diese Frauen kommen; denn für 600 DM bleibt kein deut- Summe überhaupt nicht ausreicht. Die Ländermini- scher Mann zu Hause. ster hatten ja auch ausgerechnet, daß sie 3,4 Milliar- den DM brauchten. Ich frage Sie einfach: Was ge- (Männle [CDU/CSU]: Einige wenige!) schieht nach dem 30. Juni 1991 mit den Kinderbetreu- ungseinrichtungen in der ehemaligen DDR? Entwe- — Ganz wenige; unter den jungen. der muß der Bund hier weiter direkt helfen, oder Sie (Männle [CDU/CSU]: Zu wenige!) müssen sofort einen anderen Länderfinanzausgleich zustande bringen. Wenn hier nichts geschieht, wer- — Auch meiner täte es nicht. den weitere Kinderbetreuungseinrichtungen in der (Männle [CDU/CSU]: Einigen wir uns auf ehemaligen DDR schließen, und damit wird die Frau- „wenige" ! ) enarbeitslosigkeit dort dramatisch ansteigen. Ich glaube, so hatten sich die Frauen dort die Wiederver- Zentrale Probleme der Frauenpolitik bleiben aber in einigung nicht vorgestellt. den Koalitionsvereinbarungen und im Haushalt unbe- rücksichtigt. In den Vereinbarungen findet sich nichts (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ zum Thema der Gewalt gegen Frauen und Kinder, GRÜNE) obwohl die Überfüllung der wenigen Frauenhäuser, die wir in der ehemaligen DDR haben, zeigt, wie bri- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frauenpolitik ist sant auch dort das Gewaltproblem ist. Wir finden der letzte, aber für mich nicht unwich tigste Schwer- nichts zum Thema der Armut von Frauen, weder zur punkt meiner Rede. Die Koalitionsvereinbarung zur Armut von Alleinerziehenden noch zur Altersarmut Frauenpolitik stellt ein wahres Sammelsurium dar. Da von Frauen. Wir finden nichts zu besonders schwieri- gibt es Vernünftiges, da gibt es Überflüssiges, und es gen Situationen von Frauen in den neuen Bundeslän- gibt auch Dinge, die sehr wich tig wären, die aber dern. überhaupt nicht benannt sind. Für frauenpolitische Maßnahmen im engeren Sinne stehen im Einzel- Die Frauen dort sind nämlich — und das zeichnet plan 17 ganze 15 Millionen DM zur Verfügung. Ange- sich immer mehr ab — die Verliererinnen der Verei- sichts eines Gesamtvolumens des Bundeshaushalts nigung. Das beweist auch die letzte Infas-Umfrage von über 400 Milliarden DM ist diese Summe lächer- sehr deutlich. Nur 31 % der befragten dortigen Frauen lich gering. Darin sind 5 Millionen zur Verlängerung sehen hoffnungsvoll in die gesamtdeutsche Zukunft; der Modellprojekte zur Wiedereingliederung von eine weit größere Zahl, nämlich 38 %, hat sich außer- Frauen nach der sogenannten Familienphase enthal- ordentlich skep tisch geäußert. Wir sollten diese Äng- ten. ste sehr ernst nehmen. Wir haben nichts gegen diese Projekte. Aber man Für die Frauen in der ehemaligen DDR entfallen muß sich klar machen, daß immer nur eine relativ nämlich neben den unbest rittenen Nachteilen und geringe Anzahl von Frauen in den Genuß dieser Seg- Mißständen des alten Systems die Vorteile, die sie nungen kommt. Außerdem haben sie den Nachteil, unbestrittenermaßen do rt hatten, nämlich sichere Ar- den Modellprojekte nun einmal haben, daß sie ir- beitsplätze, gesicherte Kinderbetreuung, ein hoher gendwann auslaufen und daß es dann nichts mehr Grad an Berufstätigkeit, günstigere Berechnung der gibt. Deshalb wäre uns viel lieber gewesen, wenn der Frauenrenten und die Fristenlösung bei Schwanger- Rechtsanspruch auf Umschulung und Fortbildung schaftskonflikten. Statt dessen erfahren sie nun die wiederhergestellt würde, wie er vor der 9. AFG- gesamtdeutschen Benachteiligungen, die unser Le- Novelle bestanden hat. ben hier nach wie vor prägen. Gucken Sie ins Arbeits- leben oder in die Poli tik oder in familiär-partner- (Beifall bei der SPD) schaftliche Beziehungen! 818 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Konstanze Wegner Ich sage am Schluß noch etwas Persönliches. Ich bin Vizepräsident Helmuth Becker: Kollegin Michalk, fest überzeugt: Wenn wir die Gleichberechtigung gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Matthäus- nicht auf einen abstrakten Verfassungsgrundsatz re- Maier? duzieren wollen, wie es jetzt ist, dann brauchen wir auf gewisse Zeit Fördermaßnahmen für Frauen in den Verfassungen. Maria Michalk (CDU/CSU): Die beste Möglichkeit, (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ sich selbst kennenzulernen, ist der Versuch, andere zu GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ verstehen. Deshalb hören Sie bitte erst zu! Linke Liste) (Beifall bei der CDU/CSU — Schmitz [Baes- Wenn wir das nicht ganz konkret dort einfügen, wird weiler] [CDU/CSU]: Frau Matthäus-Maier, es uns nicht gelingen, die Kluft zwischen dem Verf as- setzen!) sungstext und dem Alltag, wie wir ihn alle erleben, zu Die Koalitionsvereinbarung bringt insbesondere für schließen. die Familien mit Kleinkind einen erheblichen Fort- Vielen Dank. schritt: drei Jahre Erziehungsurlaub, zwei Jahre Er- ziehungsgeld des Bundes sowie die Aufforderung an (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Länder, jeweils von sich aus zusätzlich ein drittes der PDS/Linke Liste) Jahr Erziehungsgeld zu gewähren. Die neuen Länder können dies allerdings aus eige- ner Kraft kaum leisten. Daher wäre hier ein entspre- Meine Damen und Vizepräsident Helmuth Becker: chendes Angebot besonders wichtig, auch als mögli- Herren, die nächste Rednerin ist Frau Michalk von der che Alternative zur Kinderkrippenbetreuung, zumal CDU/CSU-Fraktion. Sie haben das Wort. da diese im Einzelfall erheblich aufwendiger ist als die Zahlung eines Erziehungsgelds von 600 DM. Maria Michalk (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Prä- Die Familienförderung in den neuen Bundeslän- sident! Meine Damen und Herren! In der öffentlichen dern sollte auch als Chance für die Schaffung gesün- Diskussion der letzten Tage und Wochen dreht sich derer gesellschaftlicher Strukturen genutzt werden. mehr oder weniger alles ums Geld. Vor allem von der Dies könnte im wesentlichen durch eine Umschich- linken Seite höre ich heute schon den ganzen Tag: wir tung von öffentlichen Mitteln erreicht werden, die fordern, wir fordern, wir fordern. Es gibt ein sorbisches andernfalls für die Absicherung Arbeitsloser, für Sozi- Sprichwort: alhilfe oder Kinderkrippenfinanzierung ausgegeben werden müssen. Hdžcž pjenjezy r a, won mì prawda. ěč ě Ich bin dem Familienbund der deutschen Katholi- (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Bravo!) ken dankbar, daß in der Stellungnahme des Zentralen Das heißt: Familienrates vom 10. März 1991 auch die besondere Dort, wo das Geld spricht, verstummt das Situation der Familien in den neuen Bundesländern in Recht. einem sehr konstruktiven Sinn gewürdigt worden ist. Viele Familien in den neuen Bundesländern haben Daß dem nicht so ist, beweist, daß man sich sehr wohl gegenwärtig noch unvertretbare finanzielle Notsitua- auch Gedanken zu anderen Themen und hier zu Fra- tionen durchzustehen. Sie sind beispielsweise auch gen der Familienpolitik macht. noch nicht hinreichend über Ansprüche auf Sozial- Es ist entscheidend, welche Unterstützung der Staat hilfe oder ergänzende Hilfe informiert. Auch hier ha- einräumt. Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesell- ben wir einen Nachholbedarf. schaft. Daß die Bundesregierung ein Familienministe- Die tiefgreifenden Veränderungen, die sich in unse- rium geschaffen hat, ist Ausdruck der Wahrnehmung rem Land vollziehen, schlagen sich auch familienor- der erhöhten Verantwortlichkeit in diesem wichtigen ganisatorisch nieder. So muß manch eine Familie in Bereich. den alten Bundesländern längere Zeit auf den Vater Es ist ein Erfordernis und uns auch ein Herzensan- oder die Mutter verzichten, weil sie sich in den neuen liegen, ständig über die Verbesserung der Familien- Bundesländern engagieren. Andererseits müssen Fa- politik nachzudenken und Verbesserungen einzulei- milien wochentags auf ihren Vater verzichten, weil er ten. Ohne Zweifel muß die Familie die echte Förde- sich aus beruflichen Gründen in den westlichen Län- rung auch in finanzieller Hinsicht erfahren. Allerdings dern aufhält. Die Notwendigkeit der Beschaffung fi- hat der Staat keine Berechtigung, unmittelbar in die nanzieller Grundlagen, aber auch der Reiz des Ken- Familie hineinzuwirken. Das habe ich selber 40 Jahre nenlernens einer funktionierenden Marktwirtschaft lang erlebt, und ich weiß, wie auf diese Weise ein ver- machen manch einer Familie die Entscheidung zerrtes Familienbild entstanden ist. Das hat oft genug schwer, entweder bei der Familie zu bleiben und mit den Familienmitgliedern zum Nachteil gereicht, sei es Arbeitslosengeld zu leben oder die angebotenen ideologisch, bildungspolitisch oder auch materiell. Chancen der Weiterbildung und der Arbeitsplatzver- Die Förderung der Familie durch den Staat ist auf ein mittlung in den alten Bundesländern zu nutzen. kinderfreundliches Land ausgerichtet. Herr Lafon- Aus familienpolitischer Sicht muß ich also fordern, taine meinte gestern, man sollte ein sehr hohes Kin- schnellstens wirtschaftliche Voraussetzungen in die- dergeld zahlen und nicht den Trauschein honorieren. sen Gebieten zu schaffen, damit diese Alternativen Diese Familienpolitik ist mir unverständlich. nicht mehr so verschärft einander gegenüberstehen (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei und damit vor allem unsere Dörfer nicht vereinsamen. der SPD) Aber ich betrachte es als Errungenschaft, daß die Fa- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 819

Maria Michalk milie in ihrem eigenen Interesse frei entscheiden aber gar nicht gewußt, daß sie etwas in Empfang neh- kann. men, das eigentlich nicht mehr da ist. Zu einer vernünftigen Familienpolitik gehört (Schenk [Bündnis 90/GRÜNE]: Es war aber ebenso die Frage einer vernünftigen Familienpla- doch da!) nung. Die Fristenlösung nach herkömmlichem DDR- Das war in sich widersprüchlich. Recht ist für mich noch nie ein geeignetes Mittel zur (Abg. Kolbe [SPD] meldet sich zu einer Zwi- Familienplanung gewesen. schenfrage) (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Küster [SPD]: Was empfehlen Sie denn?) Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Michalk, darf Es geht um soziale und bewußtseinsbildende Maß- ich Sie nochmals fragen: Wollen Sie eine Zwischen- nahmen; es geht um die Würde des Menschen. frage zulassen? (Dr. Küster [SPD]: Bewußtsein hatten wir schon einmal!) Maria Michalk (CDU/CSU): Nein. Ich spreche jetzt Es geht aber auch darum, die Achtung vor dem vor- weiter. geburtlichen Leben zu bewahren. Wir denken über Ich möchte etwas zu den Kindergärten sagen. Trotz dieses Problem intensiv nach, auch, weil wir einen aller Zwänge zur Kostensenkung muß beachtet wer- Auftrag aus dem Einigungsvertrag zu erfüllen ha- den, daß Kindergärten die Aufgabe haben, die Erzie- ben. hung in der Familie zu ergänzen, nicht, sie zu erset- Das falsche Bild, das uns gemalt wurde, bricht zu- zen, sammen, wenn man die Auswertung der Ergebnisse (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einer repräsentativen Umfrage des Instituts für ange- und einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung des wandte Sozialwissenschaft analysiert. Demnach ste- Kindes zu leisten. Dazu werden auch in Zukunft hen bei den Befragten der fünf neuen Bundesländer pädagogisch ausgebildete Mitarbeiter in den Kinder- Beruf und Arbeit nicht an erster Stelle, sondern es gärten gebraucht. Es ist ein lohnenswerter Beruf für ergibt sich eine eindeutige Priorität für die eigene unsere jungen Menschen, Familie und für Kinder auf Platz 1. An zweiter Stelle wurden Partnerschaft und an dritter Stelle Wohnung (Schmidt-Zadel [SPD]: Auf ABM-Stellen, genannt. Erst an vierter Stelle rangieren Beruf und ja!) Arbeit. Das stimmt mich hoffnungsvoll. Aber es wird sich hier zu engagieren. nicht zugelassen, daß die Probleme der Arbeitslosig- Die unbefriedigende Situation in den neuen Bun- keit die Rollenverteilung in der Familie auf Dauer ent- desländern nehmen wir schon sehr ernst. Das Bestre- scheiden und auf Ewigkeit forcieren. Frauen, die jetzt ben kann nur sein, keine Verschiebung der Alters- arbeitslos sind und deshalb zu Hause bleiben, müssen strukturen zuzulassen — damit komme ich auf die wir viele Hilfen anbieten: öffentliche Einrichtungen Jugendpolitik zu sprechen — , weil die Jugend in die zur Information nutzen, Selbsthilfegruppen und ein voll erschlossenen alten Bundesländer zieht, da sie Vereinswesen aufbauen — das alles haben wir noch dort momentan die größeren Chancen sieht. Deshalb - nicht —, Nachbarschaftshilfen, Qualifizierungsmög- ist eine Lehrstellenkampagne der Bundesregierung lichkeiten in vielfältiger Form anbieten. Aber mitunter mehr als begrüßenswert. Ich appelliere auch an die sind solche Frauen auch sehr froh, jetzt endlich Zeit Wirtschaft, Ausbildungsplätze zu schaffen, weil nicht für Dinge zu haben, die sie früher nie machen konn- sein darf, daß unsere Jugendlichen die neu gewon- ten. nene Freiheit so nutzen, daß sie in eine Einbahnstraße (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der geraten, daß sie in schwer zu beschreibende Gruppen SPD — Dr. Küster [SPD]: Das darf doch nicht abrutschen, die im Überfluß an Freizeit leben, und von wahr sein! Sagen Sie nicht, wo Sie herkom sozialer Not begleitet werden. Dieser Weg führt in men! — Meckel [SPD]: Warum sind Sie ei erhöhte Kriminalität. Das werden wir nicht zulassen. gentlich nicht zu Hause? — Dr. Götte [SPD]: Es ist uns bei allem Engagement für unsere Jugend, Ich hätte nie gedacht, daß Arbeitslosigkeit so die jetzt an ihrer eigenen Zukunft mitbauen darf, eine schön sein kann!) Herzenssache, bei unserer Politik an die Menschen zu — Ich habe meine Kinder nicht nach dem sozialisti- denken, die ihr Leben lang für eine bessere Zukunft schen Familienbild erzogen, sondern bin zu Hause gearbeitet haben. Unsere Aufgabe in der Altenpolitik geblieben. Es war sehr schwer, sich gegen den Strom ist es, das Altwerden und das Altsein nicht zu seinem zu stellen. fatalen Zustand werden zu lassen. Ältere Menschen sollen ihren gebührenden Platz in der Gesellschaft (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — haben. Mit Inkrafttreten des Gesundheits-Reformge- Dr. Küster [SPD]: Es freut mich, daß Sie das setzes ist auf Grund der Regelungen für ambulante konnten!) Pflege ein wichtiger Schritt getan. Allerdings reicht er Deshalb hoffe ich, daß das nicht Einzelfälle bleiben, noch nicht aus. In diesem Zusammenhang ist die An- sondern daß das, wie meine Kollegin Barbe vorhin kündigung der Bundesregierung zu begrüßen, noch schon gesagt hat, gesetzlich geregelt wird. Die vielen in dieser Legislaturpe riode die Pflege finanziell abzu- sozialen Errungenschaften, die Sie immer einklagen sichern. und die jetzt verlorengehen, sind aus einem Topf fi- Bei der Betrachtung der gegenwärtigen Verhält- nanziert worden, der eigentlich leer war. Die An- nisse sollte eine tägliche Bilanzierung von Soll und spruchsberechtigten hab en die Gelder genommen, Haben vermieden werden. Das bringt uns weder Fort- 820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Maria Michalk schritt, noch nähert es uns dem gemeinsamen Ziel, Angelika Barbe (SPD): Frau Kollegin Michalk, ich den gesellschaftlichen Anpassungsprozeß in unserem wollte etwas richtigstellen. Ich habe aus der Betroffen- Land nach der Wiedervereinigung zu fördern. Nicht heit, mit der ich Politik in der DDR erlebt habe, ge- vergessen sollten wir daher, daß weder Wohlstand lernt, mich in der Politik einzusetzen ; deshalb bin ich noch übertriebenes Streben nach monetärem Besitz hier im Bundestag. unser Lebensglück bestimmen, sondern daß es, weit Ich wollte Sie daran erinnern, daß Sie eine Interes- mehr durch Hilfsbereitschaft und Entgegenkommen senvertreterin der Bürger in unserer ehemaligen DDR gegenüber unseren Nächsten bewirkt werden kann. sind. Diese Bürger setzen große Hoffnungen auf Sie. Hier haben wir insgesamt einen nicht geringen Nach- Wenn Sie jetzt nicht die Interessen der Frauen do rt holbedarf zu verzeichnen. vertreten — und als Frauen fühlen wir uns ja hier —, Ich danke Ihnen. dann sind sie enttäuscht. Ich will Ihnen einfach nur (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Küster noch einmal vor Augen halten, daß da ganz grundle- [SPD]: Amen!) gende Dinge wichtig sind. Nicht Interessen persönli- cher Art sind wichtig, sondern die Interessen der Bür- ger. Ich denke, das müssen wir noch einmal deutlich Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und sagen. Herren, Frau Ingrid Matthäus-Maier hat das Wort zu (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li einer Zwischenbemerkung. ste)

(SPD): Frau Michalk, auf Ingrid Matthäus-Maier Meine Damen und Ihre Äußerung wird meine Kollegin Edith Niehuis ein- Vizepräsident Helmuth Becker: Herren, das Wort hat die Ministe rin für Frauen und gehen. Einen Punkt aber muß ich richtigstellen. Sie Jugend, Frau Dr. Angela Merkel. haben erklärt, Ministerpräsident Lafontaine habe ge- stern gesagt, man wolle die Familie mit Kindern för- dern und nicht den Trauschein. Sie haben das kriti- Dr. Angela Merkel, Bundesminister für Frauen und siert. Ich glaube, daß Sie das kritisiert haben, muß Jugend: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! daran liegen, daß Sie unser sehr kompliziertes Steuer- Der erste Haushalt des Bundesministeriums für recht noch nicht im einzelnen durchschauen. Frauen und Jugend umfaßt 3,8 Mil liarden DM. Es ist (Doppmeier [CDU/CSU]: Woher wollen Sie das Budget für wichtige Hoffnungsträger unserer Ge- das wissen? — Weitere Zurufe von der CDU/ sellschaft, für junge Menschen und für Frauen. CSU) Wir stehen heute vor der historischen Aufgabe, — Hören Sie doch bitte zu! Ich glaube, daß dieses sehr beide Teile unseres Landes nach 40 Jahren der Tren- komplizierte Steuerrecht gerade in den neuen Bun- nung zusammenzuführen. Ich werde alles nur Mögli- desländern noch nicht — in den alten auch nicht — che tun, um bei Frauen und Jugendlichen das Gefühl genügend durchschaut wird. der Verantwortung für die vor uns liegenden Aufga- ben zu stärken. Finanzielle Zuwendungen sind gewiß Dieser Bemerkung liegt folgender Sachverhalt zu- für viele Aufgaben unerläßlich; aber es wird auch grunde: Wenn in beiden Teilen Deutschlands, die ja wesentlich darauf ankommen, daß die Menschen in- Gott sei Dank vereint sind, ein Spitzenverdiener eine beiden Teilen Deutschlands in gleicher Weise fühlen nicht erwerbstätige Frau heiratet — oder umge- und empfinden. kehrt —, dann führt das dazu, daß diese Heirat dem Paar einen Steuervorteil von 22 842 DM im Jahr Jugendarbeit und Frauenarbeit leben in vielen Be- bringt, auch wenn in dieser Ehe kein Kind vorhanden reichen von freiwilligem Engagement. Nach 40 Jah- ist. Man nennt das den „Maximalen Splittingvor- ren zentralistischer Herrschaft ist das für viele Bürger teil" . der neuen Länder schwer zu erfassen. Hier erwartet uns ein gutes Stück Arbeit an Bewußtseinsbildung. (Doppmeier [CDU/CSU]: Das weiß sie doch!) Ich sehe in der vor uns liegenden Aufgabe des Auf- baus der neuen Bundesländer und des Zusammen- — Wenn sie das weiß, dann war ihre Bemerkung hier wachsens des ganzen Deutschlands jedoch nicht nur vorne allerdings fehl am Platze. Probleme und Schwierigkeiten, sondern gleichzeitig (Beifall bei der SPD) eine große Chance, Wenn sie weiß, daß eine Familie, die ein Kind hat, in (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sehr gut!) 18 Jahren der Kindererziehung nicht auf diese auch für die alten Bundesländer. 28 842 DM kommt — in 18 Jahren nicht! — , die eine Spitzenverdienerfamilie ohne ein Kind in einem einzi- Lassen Sie mich als Beispiel nur die Kindertages- gen Jahr erhält, dann muß ich allerdings sagen: Das ist stätten im Gebiet der ehemaligen DDR nennen, die der Grund, warum wir weltweit zwar als das ehe- der Bund noch bis zum 30. Juni mit 1 Milliarde DM freundlichste, nicht aber als das kinderfreundlichste bezuschußt. Angeregt davon — ich glaube, wirklich Land gelten. Das wollen wir ändern. davon angeregt —, will die Bundesregierung nun den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Kin- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Li der- und Jugendhilfegesetz verankern und ein be- ste) darfsgerechtes Angebot an Kindertagesstätten sowie eine bedarfsorientierte Kinderbetreuung für Kinder Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und unter drei Jahren schaffen. Herren, Frau Barbe von der SPD-Fraktion hat das Die Erhaltung von Kindertagesstätten ist eine Hilfe Wort zu einer Zwischenbemerkung. nicht nur für Mütter, sondern aus pädagogischen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 821

Bundesminister Dr. Angela Merkel Gründen auch für Kinder, d. h. sie bet rifft beide Ver- ner Zeit in der Familie auf den Arbeitsmarkt zurück- antwortungsbereiche meines Ressorts. Es ist für mich zukehren. ein ganz wesentliches Ziel, daß eine Regelung gefun- (Beifall bei der SPD) den werden kann, wie die Kinderbetreuungsplätze auch über den 30. Juni hinaus bestehen bleiben kön- Wir werden deshalb unser Modellprogramm zur Wie- nen. dereingliederung von Frauen nach der Familienphase verlängern und erweitern. Dafür stehen 5 Mil lionen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD — DM zur Verfügung. Wahlfreiheit ist für mich eine Simm [SPD]: Da kriegen Sie sogar von uns Grundlage der Frauenpolitik. Beifall, Frau Ministerin!) Ich sehe in der Vereinigung Deutschlands einen — Ja, ich freue mich. Die Probleme sind so groß, daß Anstoß, die Politik für die Gleichberechtigung der wir wirklich auf konstruktive Zusammenarbeit ange- Frau in dieser Legislaturpe riode ihrem Ziel ein großes wiesen sind. Stück näherzubringen. In Art. 31 des Einigungsver- trags steht, die Gesetzgebung zur Gleichberechtigung (Beifall der Abg. Wollenberger [Bündnis 90/ zwischen Männern und Frauen sei weiterzuentwik- GRÜNE] — Sielaff [SPD]: Ihre eigene Frak keln, und die Rechtslage sei unter dem Gesichtspunkt tion hat sich verweigert!) der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gestal- — Nein, für die ist das eine Selbstverständlichkeit. ten. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Küster Diese Selbstverpflichtung werden wir in meinem [SPD]: Wir nehmen Sie beim Wort!) Ministerium mit Leben erfüllen. Zwar sind die Le- bensumstände für Frauen in Ost und West sehr unter- Ich appelliere daher an die Ministerpräsidenten der schiedlich. Gemeinsam aber ist beiden Gesellschaften neuen Bundesländer, in ihren Haushaltsplanungen die Kluft, die zwischen dem Gleichberechtigungsge- ausreichende Mittel für den Erhalt der Kindereinrich- bot der Verfassung und der Rea lität besteht. Diese tungen bereitzustellen. Sie alle wissen, daß es am Kluft muß und wird überwunden werden. Wir können 28. Februar Neuregelungen für den Länderfinanzaus- im laufenden Jahr für Projekte und Modelle auf dem gleich gegeben hat. Es wird ein wichtiges politisches Gebiet der rechtlichen und sozialen Stellung der Frau Signal der Ministerpräsidenten der neuen Bundeslän- 15 Millionen DM ausgeben. Diese Modellprojekte der sein — ich bin mir ihrer Haltung da ganz gewiß —, werden uns wesentliche Erkenntnisse darüber liefern, daß sie sich für den Erhalt der Kinderbetreuungsein- wie die fundierten Grundlagen aussehen sollen, um richtungen einsetzen. Die Ministerpräsidenten der neue gesetzliche Regelungen vorzubereiten. Genau alten Bundesländer rufe ich auf, die Anzahl der Kin- dazu dienen diese Modellprojekte. derbetreuungseinrichtungen bedarfsgerecht auszu- Die Bundesregierung wird möglichst bald dem bauen. Deutschen Bundestag den Entwurf eines Gleichbe- Ich möchte in bezug auf meine Vorrednerin noch rechtigungsgesetzes vorlegen, das verschiedene vor- einmal sagen: Wir müssen in Betracht ziehen, daß es handene Gesetze im Sinne einer wirk lichen Gleichbe- sich bei der Bundesrepublik um ein föderales System rechtigung ändern soll. Hier wird es um die Gleichbe-- und nicht um einen zentralistischen Staat handelt, in rechtigung von Mann und Frau am Arbeitsplatz ge- dem der Bund für alle Aufgaben gleichermaßen ver- hen. antwortlich ist. (Zuruf von der SPD: Wir haben das in der (Beifall bei der CDU/CSU — Sehr richtig! bei letzten Legislaturpe riode schon vorgelegt!) der FDP) — Wir werden zu gegebener Zeit auch darüber disku- tieren können. Ich habe jetzt so lange über die Kinderbetreuungs- einrichtungen gesprochen, weil es mir wich tig ist, in (Peter [Kassel] [SPD]: Möglichst bald!) einem anderen Zusammenhang, und zwar in dem Zu- Frauenpolitik ist eine Querschnittaufgabe, die in sammenhang der Wahlfreiheit der Frauen zwischen möglichst viele gesellschaftliche Bereiche hineinwir- Familienarbeit und Beruf oder einer Verbindung von ken soll und muß. Ich werde mich als Frauenministe- auf folgendes hinzuweisen: beidem, rin überall dort intensiv einschalten, wo die Belange (Dr. Küster [SPD]: Wenn es eine Freiheit von Frauen tangiert sind, auch wenn die Federfüh- gäbe, wäre es gut!) rung bei anderen Resso rts liegt. — Ja, natürlich. Hören Sie mir doch erst einmal zu! (Beifall bei der CDU/CSU) So werden wir beispielsweise beim geplanten Renten- (Matthäus-Maier [SPD]: Es klingt aber schon übergangsgesetz mitwirken, das Frauen aus beiden besser als vorhin!) Teilen Deutschlands wesentlich tangieren wird. Daß meine Partei diese Wahlfreiheit wi ll, ist auf dem Frauen sind — davon war heute schon die Rede — CDU-Parteitag in Essen vor vielen Jahren sehr deut- von Arbeitslosigkeit überproportional betroffen, be- lich herausgekommen. Daran hat sich nichts geän- sonders in den neuen Bundesländern. Hier umfassend dert. beratend tätig zu werden halte ich für außerordentlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wichtig. Daher planen wir, in jedem der neuen Länder eine Beratungsstelle mit mobilen Einsatzmöglichkei- Wirkliche Wahlfreiheit kann es nur dann geben, wenn ten einzurichten. Die Koalitionsvereinbarungen sehen Frauen wie Männer die Möglichkeit haben, nach ei vor, daß Frauen entsprechend ihrem Anteil an der 822 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundesminister Dr. Angela Merkel Arbeitslosigkeit an Umschulungs-, Qualifizierungs- Im Interesse aller betroffenen Frauen erwarte ich und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beteiligt wer- eine sachliche Diskussion, die mit Respekt vor der den. Dazu eröffnet uns das Gemeinschaftswerk Auf- Meinung aller Beteiligten geführt wird. Es handelt schwung-Ost gute Möglichkeiten; denn dort ist der sich hierbei um eine Frage, die das Gewissen jedes Einsatz von ABM-Kräften im sozialen Bereich explizit einzelnen berührt. vorgesehen. Ich werde im übrigen auch darauf drän- Die Kinderfreundlichkeit unserer Gesellschaft er- gen, daß im Arbeitsförderungsgesetz diese Maßnah- weist sich nicht nur gegenüber Kleinkindern, sondern men, die wir für die neuen Bundesländer in der Koali- auch gegenüber Kindern und Jugendlichen. Dafür zu tionsvereinbarung festgelegt haben, gesetzlich veran- sorgen ist eine zentrale Aufgabe der Kinder- und Ju- kert werden. gendpolitik. Bei aller Sorge, die angesichts der mo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. mentanen Situa tion bei den jungen Menschen in den Matthäus-Maier [SPD]) neuen Ländern besteht, muß es uns gelingen, ihnen Verständnis für die Demokratie und Vertrauen in die Die Frauen in den neuen Bundesländern werden Zukunft zu vermitteln. lernen müssen, ihre Rechte selber einzufordern. Uns Erst im vergangenen Jahr ist nach fast 70 Jahren ist daran gelegen. Wir werden dies nach Kräften för- das Kinder- und Jugendhilferecht in der alten Bundes- dern, insbesondere durch die Bildung von Frauen- republik den neuen Erfordernissen der Gesellschaft selbsthilfegruppen, Vereinen und Organisationen. angepaßt worden. Es gilt nun, das neue Recht, das auf Sowohl in beratender, als auch in finanzieller Hinsicht familienunterstützende und vorbeugende Angebote werden wir diese Arbeiten unterstützen. viel Wert legt, in den alten Bundesländern anzuwen- (Zurufe von der PDS/Linke Liste — Zuruf von den und gleichzeitig in den neuen Ländern Strukturen der CDU/CSU: Weitermachen, Frau Mer aufzubauen, die die Anwendung dieses Rechts auch kel!) dort sicherstellen. Wir werden mit allen nur möglichen Maßnahmen In allen Maßnahmen, die wir zugunsten der Frauen dafür Sorge tragen, daß der Aufbau der Jugendhilfe in treffen — hier beziehe ich mich ausdrücklich auch auf den neuen Bundesländern schnell vonstatten geht. die Ausführungen meiner Kollegin Rönsch — , sehe Das heißt für uns in erster Linie, daß die Qualifizierung ich auch einen Beitrag zur Schaffung von Bedingun- von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern zu för- gen in unserer Gesellschaft, die das Aufziehen von dern ist. Zu diesem Zweck ist ein Informations-, Bera- Kindern erleichtern und anerkennen. Ich denke, nur tungs- und Fortbildungsdienst Jugendhilfe aufgebaut das ungeborene Leben wirksam schüt- so können wir worden. Regelmäßige Regionaltreffen werden mit Ich bin entschlossen auf diesem Weg weiterzuge- zen. Mitarbeitern der Jugendämter in den neuen Bundes- hen und die Möglichkeiten für Frauen und ihre Kinder ländern von uns veranstaltet und gefördert. zu verbessern. Für den Bundesjugendplan stehen in diesem Jahr Wir alle stehen vor der Aufgabe, den Schutz vorge- insgesamt 180 Millionen DM zur Verfügung. Der Zu- burtlichen Lebens und die verfassungskonforme Be- wachs von 48 Millionen DM verdeutlicht das Gewicht, wältigung von Konflikten schwangerer Frauen besser das die Bundesregierung der Jugendpolitik beimißt. - zu gewährleisten, als dies in beiden Teilen Deutsch- Er wird fast ausschließlich zugunsten der neuen Bun- lands bisher der Fall ist. So steht es im Einigungsver- desländer verwendet. trag. Ich werde mich als Frauenministerin intensiv in diese Arbeiten einschalten und mein Recht auf Betei- Frau Minister, ge- ligung bei allen die Frauen betreffenden Gesetzge- Vizepräsident Helmuth Becker: statten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordne- bungsvorhaben nutzen. Für Gesetzgebungsvorhaben, ten Kolbe? die im Zusammenhang mit dem Schutz des ungebore- nen Lebens stehen und die nicht strafrechtlichen Cha- rakter haben, haben Frau Rönsch und ich eine ge- Dr. Angela Merkel, Bundesminister für Frauen und meinsame Federführung unserer Ministe rien verein- Jugend: Ja. bart. (SPD): Frau Merkel, ist Ihnen eigent- Hilfe, nicht Strafe steht für mich bei Schwanger- Regina Kolbe lich bewußt, daß es in Bayern ein Urteil gegeben hat, schaftskonflikten im Mittelpunkt. in dem verboten wurde, einen Kinderspielplatz in ei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nem Wohngebiet zu bauen? Das gab es in der ehema- der CDU/CSU, der FDP und des Bündnis 90/ ligen DDR nicht. GRÜNE) Sie wollen bestimmte Rechte von Kindern zu uns, in Schwangere Frauen in Konfliktsituationen brauchen die ehemalige DDR, übertragen. Soll das heißen, daß rechtlich gesicherte Ansprüche. Umfassende Aufklä- so etwas in Zukunft auch bei uns möglich sein könnte? rung soll helfen, ungewollte Schwangerschaften zu Ich würde das als sehr schlimm empfinden. vermeiden. Dr. Angela Merkel, Bundesminister für Frauen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jugend: Jetzt muß ich folgendes sagen: Mit dem, was der CDU/CSU und der FDP) bei uns — wenn wir schon „bei uns" sagen, wenn wir Vor diesem Hintergrund muß die Diskussion um von der ehemaligen DDR sprechen — an freien Initia- den Schutz des ungeborenen Lebens geführt werden. tiven unterbunden wurde, z. B. Initiativen zur Kinder- Wichtig ist mir, daß sie in den neuen Bundesländern betreuung, zur Errichtung von Spielplätzen, zum Ver- wirklich geführt werden kann. anstalten von Festen, habe ich eine wirklich langjäh- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 823

Bundesminister Dr. Angela Merkel rige Erfahrung. Ich glaube, wir können froh sein, daß Dr. Angela Merkel, Bundesminister für Frauen und es damit vorbei ist. Jugend: Ich bin für alle Frauen verantwortlich, inso- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fern also auch für die Seniorinnen. Ich möchte noch einmal sagen: Der Zuwachs von (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der 48 Millionen DM verdeutlicht das Gewicht, das die CDU/CSU — Dr. Elmer [SPD]: Ich beglück- Bundesregierung der Jugendpolitik beimißt. Wir wol- wünsche Sie zum Zuwachs an Kompetenz!) len im wesentlichen entsprechend Art. 32 des Eini- Zum internationalen Jugendaustausch: Wir wollen gungsvertrages den Auf- und Ausbau der freien Trä- in diesem Punkt die Jugendlichen aus den neuen Bun- ger wirksam unterstützen. desländern möglichst schnell mit einbeziehen. Des- Angesichts der schwierigen Situation auf dem Ar- halb freuen wir uns, daß wir im Rahmen des Deutsch- beitsmarkt der östlichen Länder sehen wir in Ergän- Französischen Jugendwerkes erstmalig einen Zusatz- zung zu dem Programm des Arbeits- und Sozialmini- betrag von 1,2 Millionen DM erhalten haben, der die sters für arbeits- und ausbildungsfördernde Maßnah- Zuschüsse für die Teilnehmer aus den neuen Bundes- men im Rahmen der Jugendsozialarbeit im Bundesju- länder erhöht. gendplan zusätzliche Mittel vor. Es soll in Zukunft (Zustimmung des Abg. Dr. Weng [Gerlin- neben dem freiwilligen sozialen Jahr das freiwillige gen] [FDP]) ökologische Jahr geben, und zwar auf gesetzlicher Demnächst wird eine Stiftung Deutsch-Polnisches Ju- Grundlage. Beide Einrichtungen müssen in den gendwerk gegründet. Die Regierungsabkommen mit neuen Bundesländern möglichst zügig eingeführt der Sowjetunion, der CSFR und Ungarn bieten Vor- werden. aussetzungen für eine Ausweitung und Intensivie- rung der Austauschprogramme. Wir werden zudem Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Minister, ge- den Jugendaustausch mit Israel wie auch mit den ara- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten bischen Staaten beleben. Elmer? — Bitte. Junge Leute aus den alten Bundesländern sollen zunehmend Osteuropa kennenlernen, junge Leute Dr. Konrad Elmer (SPD): Sie sprachen von den er- aus den neuen Bundesländern sollen mit den westli- freulich umfangreichen Mitteln für die Jugendarbeit. chen Staaten vertraut werden. Die Bundesregierung will aber die Berlin-Hilfe mög- Wir werden 1991 voraussichtlich 55 000 jungen lichst schnell abbauen. Wie wollen Sie den Zusam- Aussiedlern aus den mittel- und osteuropäischen menbruch der von diesen Mitteln sehr abhängenden Staaten Stipendien geben, damit sie die deutsche Jugendarbeit in West-Berlin verhindern? Das ist Sprache erlernen und an ergänzenden Ausbildungs- meine erste Frage. programmen teilnehmen können. Für die jungen Aus- siedler sind insgesamt 634 Millionen DM vorgese- Dr. Angela Merkel, Bundesminister für Frauen und hen. Jugend: Die Finanzierung der Jugendarbeit Im Bereich des Zivildienstes ist durch den Eini- wurde über viele Jahre von der Bundesregierung völ- gungsvertrag einheitliches Recht für das gesamte lig übernommen. Sie ist in diesem Jahr nicht abge- Bundesgebiet geschaffen worden. Wir müssen jetzt- baut, sondern in dem üblichen Maße erhalten worden. dafür sorgen, daß die jungen Männer ihren Zivildienst Ich glaube auch — das ist meine persönliche Mei- überall unter gleichen Bedingungen leisten können. nung — , daß Berlin durch den verstärkten Warenab- Dazu muß in den neuen Bundesländern eine Zivil- satz sehr gute Steuereinnahmen hat, und ich vermute, dienstverwaltung aufgebaut und müssen Zivildienst- daß Berlin damit den Abbau der Berlin-Hilfe verkraf- plätze, Unterkünfte und Zivildienstschulen bereitge- ten wird. stellt werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Ich komme zum Schluß. Ich will mit meiner Politik Zuruf von der SPD: Aber Vermutungen hel dazu beitragen, daß Frauen in unserer Gesellschaft fen den Berlinern nicht weiter!) mehr Gleichberechtigung erfahren und daß wir eine — Ich habe nicht von Vermutungen gesprochen. kinder- und jugendfreundlichere Gesellschaft wer- den. Vor allem muß sich die Lage für Frauen und Frau Minister, ge- junge Menschen in den neuen Bundesländern so Vizepräsident Helmuth Becker: schnell wie möglich verbessern; denn ich denke, statten Sie eine zweite Zwischenfrage? Frauen und junge Menschen werden sensible Indika- toren für das wirkliche Zusammenwachsen beider Dr. Angela Merkel, Bundesminister für Frauen und Teile Deutschlands sein. Jugend: Ja, das ist aber die letzte. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (SPD): Gestatten Sie einem in die- Dr. Konrad Elmer bei Abgeordneten der SPD) sem Hause noch unerfahrenen Abgeordneten eine Frage zur Abgrenzung der Ministe rien. Wir hörten vorhin Ausführungen zum Ministe rium für Familie Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und und Senioren. Gehe ich recht in der Anname, daß die Herren, das Wort hat jetzt Frau Dr. Edith Niehuis, Seniorinnen dann in Ihr Ministe rium gehören? SPD-Fraktion. (Heiterkeit bei der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Es lohnt gar nicht zu antwor Dr. Edith Niehuis (SPD): Sehr geehrter Herr Präsi- ten!) dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist die 824 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Edith Niehuis erste Haushaltsdebatte nach der Dreiteilung des alten Dr. Joseph-Theodor Blank (CDU/CSU): Frau Kolle- Ministeriums für Familie, Frauen, Jugend und Ge- gin, Sie haben gerade etwas über die Frage der Zuord- sundheit. Wir haben immer kritisiert, daß man den nung des Frauenbereichs zu einem Ministe rium ge- berechtigten Interessen von Frauen nicht gerecht sagt. Hätten Sie die Freundlichkeit, dem Hohen wird, wenn man einem Ministerium nur das Anhäng- Hause einmal zu erklären, welche Überlegungen den sel „Frauen" hinzufügt, wie Sie das in den letzten Jah- saarländischen Ministerpräsidenten Lafontaine be- ren getan haben. wogen haben, das von Ihnen seinerzeit so bejubelte Daß wir recht hatten, daß es mit einem Bauchladen Frauenministerium im Saarland wieder abzuschaf- ministerium nicht geht, zeigt die frauenpolitische Bi- fen? lanz der letzten Jahre. Weder von der Frauenministe- rin Süssmuth noch von der Ministerin Lehr sind die- sem Parlament frauenpolitische Initiativen, ge- Dr. Edith Niehuis (SPD): Sie wissen, daß das zu- schweige denn Gesetzesvorhaben zugeleitet worden. nächst einmal auf scharfe Kritik der Sozialdemokra- Wenn es in diesem Parlament frauenpolitische Vor- tinnen gestoßen ist. Insofern kritisiere ich auch das. stöße gab, dann kamen sie von uns, von der Opposi- tion, und die Regierungskoalition hat sie stets abge- (Beifall bei der SPD) lehnt. Das ist die frauenpolitische Bilanz der letzten Ich bin nicht der saarländische Ministerpräsident und Jahre gewesen. gedenke im Moment auch nicht, es zu werden. (Beifall bei der SPD) (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Tun Sie es Sie haben jahrelang das als Poli tik verkauft, was doch!) Frauen leider aus dem Alltag allzu gut kennen: Man — Lassen Sie mich doch einmal ausreden, Herr Ger- widmet ihnen nämlich schöne Worte, aber keine Ta- ster! Bei dem, was ich soeben gesagt habe, ging es ten. Als ich die Rede von Frau Michalk hörte, habe ich aber um den Inhalt der Frauenpolitik. Ich habe Ihnen gedacht: Um Gottes wi llen! Dies ist genau das: gesagt: Sie haben jahrelang nichts gemacht. Aber Schöne Worte, aber keine Taten. Liebe Frau Michalk, schauen Sie sich einmal an, was die Frauenministerin Sie müssen sich überlegen, was Sie den Frauen da Brunhilde Peters im Saarland gemacht hat, gerade alles erzählt haben. Sie haben ihnen eine Welt vorge- was Frauen und Arbeit anbetrifft! Wenn wir auf Bun- gaukelt, die Frauen erstens nicht wollen und die es desebene so weit wären, dann wären wir schon ein zweitens nicht gibt. ganzes Stück weiter. (Beifall bei der SPD, bei der PDS/Linke Liste (Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/ und beim Bündnis 90/GRÜNE) CSU]: Weil sie so gut war, ist sie fortgeschickt Sie haben durch diese Ihre Politik „Worte statt Ta- worden! Weil sie so viel geschafft hat, wird ten" allerdings eines geschafft: Sie haben den deut- sie abgeschafft!) schen Sprachschatz, ja sogar den deutschen Buch- — Jetzt darf ich aber weitermachen: Mit dieser K ritik markt bereichert. Man nennt das nämlich den Süss- bin ich nämlich in der Tat in guter Gesellschaft. Ich muth-Effekt. zitiere den Bundesrechnungshof, der im letzten Jahr - Bei aller Sympathie, die ich für die Ministerin Mer- festgestellt hat: kel habe, möchte ich aber schon an dieser Stelle eines ankündigen: Wenn Sie, Frau Ministe rin Merkel, diese Der sehr eingeschränkte Aufgaben- und Kompe- Effekthascherei auf Kosten der Frauen auch in Zu- tenzzuwachs rechtfertigt nicht den personellen kunft betreiben werden, dann werden Sie in uns So- Ausbau des Arbeitsstabes Frauenpolitik zu einer zialdemokratinnen die ärgsten Kritikerinnen Ihrer Po-- Abteilung. litik finden. Das geschah im letzten Jahr. Der Haushaltsausschuß (Beifall bei der SPD) forderte die Bundesregierung dann auf, die ungelö- sten Probleme der mangelnden Kompetenzen unver- Mit unserer Kritik befinden wir uns übrigens in gu- züglich zu klären, damit die mit der Abteilung ange- ter Gesellschaft. strebte Durchsetzung frauenpolitischer Belange bes- (Zuruf von der CDU/CSU: Mit der PDS?) ser erreicht werde. — Auf so etwas gehe ich gar nicht ein. Nichts ist geschehen. Statt dessen kam es schlicht (Dr. Blank [CDU/CSU]: Können Sie uns dann weg durch eine Entscheidung des Kanzlers zu einer einmal erklären, warum der Herr Lafontaine Dreiteilung. Aus der Frauen- und Jugendabteilung das Frauenministerium im Saarland abge- wurde ein eigenes Ministe rium. Nun haben Sie den schafft hat? Können Sie uns das einmal erklä- Spott der Öffentlichkeit. ren?) Eines ärgert mich allerdings an dieser Geschichte: — Rede ich oder Sie? Können wir uns darüber einmal Leider hat nicht der Kanzler den Spott abbekommen. einigen? Der hätte ihn aufrichtig verdient. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE) Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Dr. Niehuis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Den Spott haben die Ministerinnen abbekommen. Dr. Blank? Das tut mir aufrichtig leid. Noch sehr viel mehr tut mir leid, daß sich aus der CDU/CSU und aus der FDP nie- mand gefunden hat, der sich für die Ministerinnnen Dr. Edith Niehuis (SPD): Ja, bitte. und gegen diesen Spott eingesetzt hat und der mit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 825

Dr. Edith Niehuis Taten dieses Vorkommnis ausgeräumt hat. Das ist Ich erinnere an die frauenverachtenden Prozesse in Frauendiskriminierung Ihrerseits! Memmingen. Ich erinnere an die Polizeicomputer Baden-Württembergs und Bayerns, die jahrelang die (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Daten mehr oder weniger betroffener Frauen gespei- GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Sie wa- chert haben. Nicht zuletzt erinnere ich an die Unter- ren auf jeden Fall bei der Beratung nicht da- suchungen an der niederländischen Grenze. Diese bei!) Zeit muß vorbei sein. Nun möchte ich etwas zu der Po litik „Worte statt (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ Taten" in den Koalitionsvereinbarungen und im GRÜNE und der PDS/Linke Liste) Haushaltsentwurf sagen: Auch bei den ersten Schrit- ten der Ministerin habe ich leider zu wenige Ansätze Darin sind wir Sozialdemokraten uns einig, mit dem für eine gute Frauenpolitik gefunden. Ich sagte Ihnen: Europäischen Parlament, das in seiner Entschließung Wir werden diese gute Frauenpolitik vier Jahre an- vom 9. April 1990 die Bundesregierung auffordert, mahnen. den Schwangerschaftsabbruch zu legalisieren. Wir sind uns auch einig mit dem Deutschen Juristinnen Das gilt zuallererst für die gesetzliche Neuregelung bund. des Schwangerschaftsabbruchs. Das Schauspiel, das die Regierungskoalition den Frauen hinsichtlich der Frauen in Schwangerschaftskonflikten brauchen Zukunft des § 218 bietet, ist für mich unerträglich. gute, vielfältige Beratungsmöglichkeiten, die sie in ihrer Not nutzen können. Aber Frauen sind keine un- (Beifall bei der SPD) mündigen Bürgerinnen, denen man eine Beratung Da gibt es den Kollegen Hoffacker, der heute leider aufzwingen muß. Darauf werden wir bestehen. nicht da ist, der die Frauen für die Notlagenindikation (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ vor einem öffentlich bestellten T ribunal verhören will. GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Es gibt die Kollegin Nolte, von der ich im „Spiegel" Linke Liste) lesen mußte, daß sie die eine Schwangerschaft abbre- chenden Frauen mit einem sozialen Pflichtjahr bestra- Zwang ist zudem eine vollkommen ungeeignete ll, fen will. Grundlage für gute Beratung. Wer gute Beratung wi muß den Zwang abschaffen. (Zurufe von der SPD: Aha! — Interessant!) (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Des weiteren gibt es ein Süssmuth-Papier mit einem GRÜNE) Indikationsmodell durch die Hintertür, und schließlich Wer das werdende Leben schützen will, der muß be- gibt es noch ein FDP-Papier. reit sein, Geld für soziale Maßnahmen und für Rechts- (Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Das ist ver- ansprüche auszugeben. Ich freue mich schon auf den nünftig! Dem würden Sie zustimmen!) Tag, an dem wir Sozialdemokratinnen und Sozialde- Ich sage Ihnen jetzt, was es die ganze Zeit auch mokraten hier unser Schwangerenhilfegesetz einbrin- sonst noch gab, nämlich zwei Ministerinnen, die sich gen. Dann wird man an Ihrer Zustimmung oder Ab- trafe um die Kompetenzen gestritten haben und die sich in lehnung sehen können, wer es mit Hilfe statt S der Öffentlichkeit nicht mit einer klaren Aussage vor- ernst meint und wer es mit Hilfe statt Strafe nicht ernst gewagt haben. meint. Leider, so muß ich sagen, genügen mir auch die (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ heutigen Aussagen von Frau Rönsch und von Frau GRÜNE) Frauen in Ost und West — und Gott sei Dank auch Merkel nicht. Einerseits sagt Frau Rönsch: Es muß- einen Rechtsanspruch auf eine Schwangerenbera- immer mehr Männer — wollen Kinder und Beruf mit- tung geben. Das ist okay. Meine Frage ist: Bleibt es einander vereinbaren können. Wir sind von diesem beim Rechtsanspruch, oder sagen Sie: Wer Rechte hat, Ziel noch weit entfernt; das wissen wir a lle. Doch lei- hat auch Pflichten? der legt die Bundesregierung seit Jahren eine Politik an, die uns von diesem Ziel immer weiter entfernt, als Auf der anderen Seite hat Frau Merkel heute ge- daß sie uns diesem Ziel näherbringt. sagt: keine Strafbarkeit. Aber zur Beratung hat sie sich nicht geäußert. Ich denke, für eine Frauenmini- Da verpflichtet sich die Bundesregierung im Eini- sterin wird es dringend Zeit, hier den Weg klar vorzu- gungsvertrag, zumindest bis zum 30. Juni für den Er- geben. halt der Kinderbetreuungseinrichtungen in den neuen Bundesländern zu sorgen. Was ist daraus ge- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ worden? Seit Monaten werden die Kinderbetreuungs- GRÜNE) einrichtungen aller Art in den neuen Bundesländern Es geht darum, daß der Schwangerschaftsabbruch geschlossen. Für die Menschen, für die Männer und endlich aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird. Frauen in den neuen Bundesländern, bedeutet das: Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird für sie in (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ weite Ferne rücken. GRÜNE) Dann verwundert es mich schon, Frau Ministe rin Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind Merkel, wenn Sie angesichts der Erfahrung, daß noch nicht länger bereit, ein Strafrecht zu dulden, das allen, nicht einmal eine Verpflichtung aus einem Vertrag die es wollen, eine Treibjagd auf Frauen ermöglicht. eingehalten wurde, weil das Geld viel zu spät und (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ach! Komm, dann viel zu spärlich angewiesen wurde, die Hoff- komm! Das ist Märchenstunde!) nung aussprechen können, daß der Rechtsanspruch 826 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Edith Niehuis auf Kindergartenplätze, der in dem doch recht unver- rung — ja, aber nur für Kinder, Küche, Kranke und bindlichen Koalitionsvereinbarungsvertrag steht, ein- Alte. gehalten wird. Ich habe da meine Zweifel. Wer Ver- träge bricht, wird erst recht in der Lage sein, Koali- (Zuruf von der SPD: Ja, wie gehabt!) tionsvereinbarungen zu brechen. Alles andere steht nicht da rin; Sie hätten aber dafür sorgen müssen, daß es hineingeschrieben wird. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Lassen Sie mich jetzt etwas Grundsätzliches zur GRONE) Vereinbarkeit von Kindern und Beruf sagen, weil ich denke, daß es einige von Ihnen wieder nötig haben. Jetzt komme ich zu der ersten Antwort, die die Frau Die Bundesregierung hat dankenswerterweise eine Ministerin auch hier in bezug auf die Frauenarbeits- Umfrage bei den Frauen in den neuen Bundesländern losigkeit gegeben hat. Sie bezieht sich auf die 46 durchführen lassen. INFAS stellt in dieser Untersu- der befragten Frauen, die sich eine Berufsunterbre- chung fest, daß 86 Prozent der Frauen zwischen 16 chung für Kindererziehung vorstellen können — in und 60 Jahren in Ostdeutschland erwerbstätig waren Ost und West fast eine Bleichhohe Zahl. Daraus und daß die Erwerbstätigkeit für die ostdeutschen schließt sie, daß die Frauen in dem aus den 60er Jah- Frauen neben der Familie einen hohen Stellenwert im ren stammenden „Drei-Phasen-Modell" ihr Glück su- Leben hat, ja, zu ihrer Identität gehört. Frau Michalk, chen, und propagiert flugs das Modellprogramm das stand darin! Diese Frauen fürchten als Folge der „Wiedereingliederung von Frauen nach der Familien- Vereinigung den Verlust von Kinderbetreuungsein- phase " und Teilzeitarbeit. richtungen und den Verlust von Arbeitsplätzen. Bei- Es wäre seriöser gewesen, wenn andere Untersu- des verlieren sie leider auch. chungsergebnisse genannt worden wären, daß näm- Das sind die Signale, die diese Umfrage aussendet. lich 61 % der Frauen (Ost) und 71 % der Frauen (West) Die erste politische Antwort einer Frauenministerin über die Doppelbelastung bei der Vereinbarkeit von auf diese Umfrage hätte sein müssen, alle Maßnah- Familie und Beruf klagen, daß — jetzt bitte ich einmal men zu ergreifen, um die Frauenarbeitsplätze zu er- die Herren von der CDU um Gehör — die Hilfe der halten. Das war aber nicht die erste Antwort, auch Männer im Haushalt sehr zu wünschen übrigläßt und heute nicht. Es war immer erst die zweite Antwort daß 55 % der Frauen (West) Schwierigkeiten mit der dieser Frauenministerin. außerhäuslichen Kinderbetreuung haben. Erst wenn man diese Schwierigkeiten bei der Ver- Es ist kein Wort zum EG-Anpassungsgesetz gefal- einbarkeit von Kindern und Beruf, die unsere Gesell- len, das endlich auch bei uns verschärft werden schaft nahezu allein den Frauen aufbürdet, mit be- muß. rücksichtigt, wird klar, was das „Drei-Phasen-Mo- (Beifall bei der SPD) dell" für viele wirklich ist: nicht das Glück, sondern eine Notlösung mit vielen Nachteilen, weil die Politik Es ist kein Wort zum sogenannten Beschäftigungsför- die Frauen alleine läßt. derungsgesetz gefallen. Es ist kein Wort zu den ge- ringfügig Beschäftigten gefallen. Hätten Sie dazu et- (Beifall bei der SPD — Dr. Blank [CDU/CSU]: was gesagt, hätten Sie schon etwas für die Frauen im Frau Kollegin, denken Sie an Ihren Blut Erwerbsleben tun können. druck!) Daß es diese Nachteile gibt, zeigen Sie durch Ihr (Beifall bei der SPD) eigenes Modellprogramm zur Wiedereingliederung Allerdings gibt es in den Koalitionsvereinbarungen- nach der Familienphase. Weil große Probleme beste- — Sie haben es gesagt — die hoffnungsvolle Ankün- hen — es bedarf der Beratung, der Einarbeitung und digung der Quotierung von Qualifizierungs- und Ar- der Weiterqualifikation — , müssen wir solche Modell- beitsbeschaffungsmaßnahmen gemäß dem Anteil an programme überhaupt haben. Aber ein Modellpro- den Beschäftigungslosen. Sie haben auf das Gemein- gramm ist keine Politik. Davon haben nur ein paar schaftswerk Aufschwung-Ost verwiesen. Danach tausend Frauen etwas. Von der Wiedereingliede- müßte darin stehen, daß 55 % aller Qualifizierungs- rungsproblematik sind allein im alten Bundesgebiet und AB-Maßnahmen in den neuen Bundesländern 320 000 Frauen betroffen. Sie lassen damit über von Frauen wahrgenommen werden können. Das 300 000 Frauen mit ihren Problemen alleine. steht aber überhaupt nicht da rin. Dafür hätten Sie sor- Gleiches gilt für die zweite Empfehlung: Teilzeitar- gen müssen. beit für Frauen. Erkundigen Sie sich einmal, was Teil- (Zustimmung der Abg. Matthäus-Maier zeitarbeit in unserer Gesellschaft auch bedeutet. Sie [SPD]) vergessen dabei nämlich zu erwähnen, daß Teilzeitar- beit für viele Frauen auch Abqualifizierung der beruf- Leider steht dort etwas ganz anderes. Dort steht als lichen Position bedeutet. Teilzeitarbeit heißt auch ein Ziel — das ist die einzige Stelle, die Frauen be- Teilzeitrente, heißt auch Teilzeitarbeitslosigkeit, und trifft —, AB-Maßnahmen in Bereichen mit besonders sie bedeutet oft nur einen geringen Teil der sozialen hohem Anteil von Frauen an den Beschäftigten — z. B. Sicherheit, die Vollzeitarbeitsplätze garantieren. Teil- Sozialstationen, Pflegeheime, Kinderbetreuungsein- zeitarbeit bedeutet zunehmend auch gar keine soziale richtungen — zu schaffen; dies haben Sie ja auch Sicherheit, weil das Arbeitseinkommen unter der Ge- mehrfach positiv erwähnt. Das heißt für mich im Klar- ringfügigkeitsgrenze liegt. Das wollen Sie Frauen text: Arbeitsmarktpolitik für Frauen — ja, aber nur in in der Tat als guten Weg, das wollen Sie als gute sogenannten frauentypischen Berufen; Frauenförde- Frauenpolitik empfehlen? Das geht nicht! Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 827

Dr. Edith Niehuis Gute Frauenpolitik heißt nicht, Benachteiligungen sind, derart sozial, daß sich das jede Frau leisten der Frauen mehr schlecht als recht abzufedern — das kann. tun Sie — , sondern heißt, gesellschaftliche Rahmen- (Zustimmung bei der CDU/CSU) bedingungen zu schaffen, die die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf für Männer und Frauen ohne Nachteil ermöglichen. Dafür treten wir Sozialdemo- Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat nun- kratinnen und Sozialdemokraten ein. mehr Frau Ursula Männle. (Beifall bei der SPD) Ursula Männle (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Dr. Niehuis, sehr geehrten Damen und Herren! Einheit in Zwie- gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? tracht, so läßt sich die Situation in Deutschland nach dem 3. Oktober beschreiben. Nicht nur soziale Bar rie- ren — Ergebnis 40jähriger geplanter Mißwirtschaft — Dr. Edith Niehuis (SPD): Nein, ich bin gleich fertig. belasten den Einigungsprozeß, sondern auch neue Sie können Ihre Frage hinterher stellen. ideologische Fronten mit enormem politischen Explo- Neugierig sind wir auf das von der Bundesregie- sionstoff werden aufgebaut. rung angekündigte Artikelgesetz zur Gleichberechti- Wenn ich an die heutige Debatte, insbesondere an gung von Frau und Mann, denn schließlich haben Sie die Debatte denke, die wir in den letzten zwei Stun- unser Gleichstellungsgesetz ebenso wie alle anderen den geführt haben, dann habe ich den Eindruck, daß Vorhaben in der letzten Legislaturpe riode abge- hier wirklich ideologische Fronten aufgebaut werden lehnt. und daß hier —gestatten Sie, meine Damen von der Die Kollegin Würfel hat schon im „Zweiwochen- SPD — so diskutiert wird, wie Sie es in der letzten dienst" — Nr. 52 — angekündigt, daß Ihr Gleichstel- Legislaturpe riode und bisher immer abgelehnt ha- lungsgesetz keine Quotierung vorsehe. Was das für ben. Frauen bedeutet, zeigt der Frauenanteil in den Bun- (Zustimmung bei der CDU/CSU) destagsfraktionen von CDU, CSU und FDP. Sie leh- nen die Quotierung ja ab. Bei Ihnen müssen sich die Wenn Zwischenrufe von Männern unserer Seite oder Frauen mit einem Anteil von 9,3 %, 13,8 % und gerade auch aus anderen Fraktionen kamen, haben Sie sie als 20,3 % zufriedengeben. Das mag Ihnen reichen; uns sexistisch empfunden und abgelehnt und haben reicht es nicht, und es reicht auch nicht für eine gute manchmal mit Recht protestiert. Aber das, was hier Frauenpolitik. — Ich habe so laut geredet, weil die heute gegenüber Kolleginnen, insbesondere neuen Herren nichts anderes zu tun hatten, als die ganze Zeit Kolleginnen, von Ihnen praktiziert worden ist, zeigt zu quatschen. alles andere als Frauensolidarität. (Matthäus-Maier [SPD]: Die Herren in der (Beifall bei der CDU/CSU) ersten Reihe!) Wenn man einer Kollegin, weil sie eine Zwischen- Danke schön. frage nicht beantwortet, Feigheit vorwirft, aber dann selbst in ähnlicher Weise reagiert und auf die Zeit ver- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ weist, dann ist auch dies kein guter politischer Stil. GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste und der Abg. Karwatzki [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU) CSU]) Wir werden sicherlich in den nächsten Monaten noch sehr viele Kontroversen haben. Ich denke, daß - insbesondere die Neuregelung des § 218 ein ganz Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort zu einer großes Streitthema werden wird. Wir haben heute Zwischenbemerkung hat Frau Minister Dr. Merkel. schon gemerkt, daß es unterschiedliche Posi tionen gibt. Ich meine, die Haltungen gegenüber diesem Dr. Angela Merkel, Bundesminister für Frauen und Thema geben Auskunft über den familien- und sozial- Jugend: Ich will nur ganz kurz einem offensichtlich politischen Standort Bundesrepublik Deutschland weitverbreiteten Irrtum vorbeugen. Bisher haben in und spiegeln auch das ethische Gewissen der Na tion den neuen Bundesländern nur wenige Kinderbetreu- wider. Statt — auch dies ist heute schon geschehen — ungseinrichtungen geschlossen. Wenn dies dennoch im rationalen Dialog nach vertretbaren, d. h. rechts der Fall war, dann nur deshalb, weil kein Bedarf vor- güterabwägenden Lösungen für Frauen in Schwan- handen war. gerschaftskonflikten zu suchen, wird schablonisiert und polarisiert. Nicht wenige Poli tiker und Politikerin- (Zurufe von der SPD) nen führen — so möchte ich fast sagen — moderne — Hören Sie mir bitte einmal bis zum Ende zu. Kreuzzüge, In Rostock z. B. werden zur Zeit 1 700 Kindergarten- (Dr. Niehuis [SPD]: Ja, Hoffacker!) plätze nicht genutzt. Meine Appelle — ich bitte Sie dabei um Mithilfe — richten sich an die Frauen, wenn sei es im Namen eines vermeintlich grenzenlosen sie arbeitslos sind, ihre Kinder auch weiterhin stun- Selbstbestimmungsrechts der Frau, sei es aber auch denweise in die Kinderbetreuungseinrichtungen zu im Namen eines moralischen Rigorismus. bringen. (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ Es ist auch nicht so, daß das finanziell nicht er- CSU) schwinglich wäre. In Mecklenburg-Vorpommern z. B. In der Unionsfraktion wird sich eine Kommission um sind die Richtlinien, in denen die Gebühren festgelegt verfassungskonforme Lösungen bemühen und einen 828 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Ursula Männle Konsens suchen. Wie Sie wissen, lehnt die CSU die geborenen Lebens bedeutet vor allen Dingen Förde- von vielen propagierte Fristenlösung, die auch von rung der Familie und Anerkennung ihrer gesell- Ihnen heute genannt worden ist und die der Frau das schaftlichen Leistungen und verlangt die Einhaltung Recht gibt, während der ersten zwölf Wochen einer des Gebots der „Familienverträglichkeit" . Im Bereich Schwangerschaft eigenmächtig zu entscheiden, ob der wirtschaftlichen Zusammenarbeit prüfen wir im- ungeborenes Leben getötet werden soll oder nicht, mer alles auf Umweltverträglichkeit und neuerdings ab. auch auf Frauenverträglichkeit. Prüfen wir doch viele Dinge bei uns einmal auf ihre Familienverträglich- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — keit! Würfel [FDP]: Eigenverantwortlich!) Ich möchte noch zusätzlich zu bedenken geben, daß (Beifall bei der CDU/CSU) die Fristenregelung der Frau auch die alleinige Ent- (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) scheidungsverantwortung überträgt. Die langfristi- gen Folgen einer derartigen Totalprivatisierung der Wir brauchen eine kinder- und familienfreundliche Abtreibungsfrage müssen bedacht werden. soziale Umwelt auch in der Arbeitswelt. Die sozialen Hilfen, durch die die materiellen und zeitlichen Bela- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stungen für Familien gemildert werden, müssen aus- Lassen Sie mich einige nennen. Die Gesellschaft gebaut werden. Die Lebensperspektiven und die entledigt sich damit eines Stücks ihrer Mitverantwor- realen Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten tung. Der Staat entzieht sich seiner Verpflichtung, von Frauen und Männern sind entscheidende Beweg- dem Lebensschutz und dem Lebensrecht des ungebo- gründe für das Ja zum Leben mit Kindern. renen Kindes durch das Recht Priorität einzuräumen. Gesellschaftlich-staatliche Mitverantwortung heißt In den Koalitonsverhandlungen sind die Frauen- Hilfe zur verantwortlichen Entscheidungsfindung und familienpolitischen Ziele klar markiert. Zu nen- durch eine umfassende Beratung, die auch Aufklä- nen sind vor allem: ein geplantes Artikelgesetz zur rung über finanzielle staatliche Angebote und prakti- Gleichberechtigung von Frau und Mann, ein umfas- sche Unterstützung einschließt. Notwendig sind An- sendes Gesetzeswerk zur Frauenförderung im Beruf, wälte und Anwältinnen, die für die Be troffenen, die in der Familie und in der Gesellschaft, des weiteren ihre Rechte noch nicht selbst artikulieren und einkla- der Ausbau der beruflichen Reintegrationshilfen für gen können, reden. Frauen nach der Familienphase durch Verlängerung des Sonderprogramms Wiedereingliederung und Ver- Die Bundesregierung hat in den neuen Bundeslän- besserung der Leistungen des Arbeitsförderungsge- dern zügig mit dem Aufbau von Beratungsstellen in setzes — auch dies haben wir vereinbart — , Verlän- pluraler Trägerschaft begonnen. Zur Zeit werden aus gerung des Erziehungsurlaubs mit Beschäftigungsga- Bundesmitteln 69 Beratungsstellen finanziert, ein rantie auf drei Jahre und des Bezugs von Bundeser- Drittel der vorgesehenen Stellen, legt man den Richt- ziehungsgeld auf zwei Jahre. wert — eine Beratungsstelle pro 40 000 Einwohner — zugrunde. Attacken, die hier geritten werden, sind meines Er- achtens heuchlerisch. In Berlin wurde die rotgrüne Frauen in den neuen Bundesländern trifft der wirt- Familienpolitik richtig demonstriert : Tätigkeit des schaftliche Transformationsprozeß, der Umbau der Bundes wurde mit Kürzung des Landeserziehungs- Kommandowirtschaft in eine Soziale Marktwirtschaft, geldes beantwortet. Wir erwarten, daß jetzt alle Bun- besonders hart. In den Beratungsgesprächen muß auf desländer tätig werden, um den Erziehungsurlaub die frauenspezifische Situa tion in einer Phase radika- entsprechend auszuführen. len gesellschaftlichen Umbruchs und sozialer Unsi- cherheit eingegangen werden. Den Frauen müssen (Beifall bei der CDU/CSU) durch breite Informationen Lebensperspektiven für sie und ihre Kinder aufgezeigt und praktische Hilfen Wir wollen auch einen Rechtsanspruch auf Kinder- angeboten werden. gartenplatz für Drei- bis Sechsjährige. Ich weiß gar nicht, warum Sie sich darüber so mokieren. Meine sehr geehrten Damen — ich spreche hier speziell die Damen an — , es gibt keine geschlossene (Zurufe von der SPD) Frauenfront gegen Beratung; diesen Eindruck wollen Sie haben doch selbst bei der Beratung des Kinder- Sie hier erwecken. und Jugendhilferechts den Antrag gestellt, und jetzt (Dr. Wegner [SPD]: Gegen Zwangsbera- sagen Sie: Wie soll dieser Rechtsanspruch umgesetzt tung!) werden? Dann frage ich Sie, wie ernsthaft Ihr damali- Sie unterliegen hier einer Täuschung. In persönlichen ger Antrag war. Gesprächen mit be troffenen Frauen wird das Hilfsan- (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der gebot, das wir ihnen bieten, positiv bewertet. Dies SPD: Wir zweifeln an Ihnen!) trifft auch auf die Inanspruchnahme der Mittel des neu geschaffenen Unterstützungsfonds „Frauen in Not" in Wir haben noch vielfältige andere Punkte, die zum den neuen Bundesländern zu. großen Teil auch schon von Frau Ministerin Rönsch dargestellt worden sind. Deswegen möchte ich hier im Das Recht auf gesellschaftlich-staatliche Mitspra- Rahmen dieser Rede darauf verzichten. Ich denke, che durch Beratung schließt die Pflicht zur Mithilfe bei staatliche Hilfen sind nur begrenzt wirksam. Nicht der Lösung der Problemsituation ein. Kindererzie- alles ist staatlich regel- und planbar. hung ist keine Freizeitgestaltung für Frauen; sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Schutz des un- (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 829

Ursula Männle Lassen Sie mich einige Beispiele geben. Arbeitge- ziehen, benötigen dringend Nachhilfeunterricht, auch ber müssen durch Tarifverträge verpflichtet und in Zahlungsmoral. durch staatliche Anreize bewogen werden, familien- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der freundliche Arbeitszeiten anzubieten. Gewerkschaft- SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Meinen Sie liche Politik für Arbeitnehmer greift dann zu kurz, Herrn Alt?) wenn die Interessen von Arbeitnehmern als Familien- väter und Familienmütter nicht mit einbezogen wer- — Ganz recht, ich meine Herrn Alt. Das Sankt- den. Auch dann sind die Arbeitgeber gefragt, wenn es Florians-Prinzip treibt seltsame Blüten in unserer um Einstellungen von jungen Frauen geht, wenn es Männergesellschaft. z. B. um befristete Arbeitsverhältnisse und ähnliches Leider zeigt der Herr Präsident mir schon das rote geht. Das ist für junge Frauen eine ganz problemati- Licht, so daß ich nicht mehr fortfahren kann und mich sche Situation. auf den einen Punkt beschränken mußte. Aber ich Lassen Sie mich noch einen anderen Bereich an- denke, dies war ein wichtiges Gebiet in dieser Haus- sprechen: Eigentum verpflichtet. An diesen Grund- haltsdebatte. satz unserer Verfassung wurden wir in den vergange- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nen Wochen mehrfach erinnert. Berechtigter Protest wird laut, wenn z. B. Mietangebote sich ausschließlich an deutsche Mitbürger richten, wenn Ausländer offen Vizepräsident Hans Klein: Zu einer Kurzinterven- oder versteckt diskriminiert werden. Empörung ist rar, tion Frau Kollegin Würfel. wenn Anzeigen von Vermietern den Passus „Kinder nicht erwünscht" enthalten. Eigentum verpflichtet Uta Würfel (FDP): Ich würde gern noch einmal et- auch und gerade gegenüber Familien. was zu den Bemerkungen aus dem sozialdemokrati- schen Lager sagen, Frau Professor Männle, Vizepräsident Hans Klein: (Zuruf von der SPD: „Lager"? — Karwatzki gestatten Sie eine Zwischenfrage? [CDU/CSU] [zur SPD gewandt]: Fraktion!) zu der immer als geschol- (CDU/CSU) : Ja. ,,Kindermädchenregelung" Ursula Männle tenen steuerlichen Absetzbarkeit von Aufwendungen für Pflegekräfte in der Familie oder für Erziehungshil- Doris Odendahl (SPD): Frau Kollegin, darf ich Sie fen oder Kinderbetreuungshilfen. Das ist ja teilweise auf Grund Ihres Hinweises auf die Verpflichtung der auch — um es einmal so auszudrücken — auf meinem Arbeitgeber fragen, ob denn der Bund als wesentli- Mist gewachsen, cher Arbeitgeber seiner Verpflichtung zur Frauenför- derung entsprechend nachkommt und auch schon (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Von „Mist" entsprechende Erfolge erzielt hat? würde ich hier nicht reden!) und ich habe mir dabei sehr wohl etwas gedacht. Ursula Männle (CDU/CSU): Die Richtlinie für den Sie sprechen doch immer davon, daß es keine unge- öffentlichen Dienst, die erlassen worden ist — und die schützten Arbeitsverhältnisse geben solle. Wenn wir Zahlen beweisen es — , war durchaus erfolgreich. Ich die Familie nun schon als Unternehmen sehen und die sage Ihnen: Wir wollen daß die Richtlinie in Gesetz Möglichkeit schaffen, daß die Familien Kosten steuer- umgemünzt wird, um dies noch deutlicher durchzu- lich absetzen können, die ihnen aus der Schaffung setzen. sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungen ent- (Beifall bei der CDU/CSU) stehen, so habe ich eigentlich erwartet, daß auch Sie als Sozialdemokratinnen das als etwas sehr Positives Ich möchte das Beispiel aufgreifen, das vorhin die ansehen, zumal der Sinn dahinter ja nicht der ist, einer Kollegin der SPD als kinderunfreundlich bezeichnet Arztfrau die Möglichkeit zu geben, ihre Aufwendun- hat. Ich empfinde dies auch. Ich muß sagen, ein Rich- gen für die Betreuungskraft für die Älteren in der terspruch, der zwar den Bau eines Kindergartens zu- Familie, die pflegebedürftig sind, oder für ihre Kinder läßt, aber nicht den dazugehörigen Spielplatz wegen von der Steuer abzusetzen, sondern es beispielsweise des zu erwartenden Lärmpegels, spricht nicht dafür, drei alleinerziehenden Müttern zu ermöglichen, eine daß unsere Gesellschaft kinderfreundlich ist. Tagesmutter zu beschäftigen und die Kosten für diese (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und beim Tagesmutter anteilig von der Steuer, die die Familie Bündnis 90/GRÜNE) oder — in diesem Fall — die Alleinerziehende zu lei- Wir müssen dafür sorgen, daß dies nicht weiter mög- sten hat, abzusetzen. Das ist der Hintergrund dieser lich ist. Regelung. Lassen Sie mich als letztes noch hinzufügen: Unsere Zweite Bemerkung: Daß 1 700 Kindergartenplätze Gesellschaft braucht auch dringend eine Ächtung der in Rostock unbesetzt sind, muß uns doch sehr zu den- Doppelmoral, der alltäglichen Politik der Doppelzün- ken geben. Könnte es nicht sein, daß es genau anders- gigkeit. Nicht selten gibt es ein Nebeneinander von herum ist, als es hier dargestellt worden ist — immer verbalem Ja zum Leben und praktischem Nein zur nach dem Motto: Ein halbvolles Glas ist in erster Linie Hilfe für Betroffene in Notsituationen. Selbsternannte halbleer —, nämlich so, daß es genügend Mütter gibt, Lehrer und Richter politischer Moral, die ihre Über- die ihre Identität eben nicht aus der Erwerbstätigkeit zeugungen mediengerecht präsentieren, Worte und ableiten, sondern ganz andere Ziele in ihrem Leben Taten ihrer Mitbürger und vor allen Dingen auch der verfolgen und der Auffassung sind, daß es richtig und Politiker und Politikerinnen mit der Goldwaage beur- angemessen ist, ihre Kinder über einen längeren Zeit- teilen, sich aber selber z. B. ihren Vaterpflichten ent- raum zu Hause zu erziehen, die sehr viele Freude 830 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Uta Würfel daran haben und in der Elternschaft das für sie Wich- Der Einigungsvertrag hat die Voraussetzungen für tige im Leben sehen und überhaupt nicht darunter die Ernennung von Beamten in den neuen Bundes- leiden oder einen Mangel an Selbstachtung darin se- ländern geschaffen, und die Bundesregierung hat hen, ihre Kinder zu Hause allein zu betreuen? Dies so auch die notwendigen Übergangsregelungen getrof- zu sehen, zu Hause bleiben zu können und Bedingun- fen. Natürlich kommt der Bezahlung qualifizierten gen anderer Art vorzufinden ist auch in der ehemali- Personals immer eine Schlüsselfunktion zu, denn Lei- gen DDR sicherlich gegeben gewesen und wird heute stungswillen kann nur erwarten, wer Arbeit auch lei- in einem ganz anderen Maße ausgelebt, als es früher stungsbezogen bezahlt. möglich war. Der Tarifabschluß vom 5. März 1991 sieht vor, die Unbeschadet dessen ist es natürlich richtig und Grundstrukturen des Vergütungs- und Lohnsystems wichtig, für all diejenigen Fälle, in denen aus finanzi- des öffentlichen Dienstes im bisherigen Bundesgebiet ellen oder auch aus anderen Gründen die Notwendig- in vollem Umfang auch in den neuen Ländern anzu- keit besteht, erwerbstätig zu sein, Betreuungseinrich- wenden. Ab Juli 1991 werden die Löhne und Gehälter tungen zu schaffen, die sich aber in der Qualität ganz in Höhe von 60 % der jeweiligen Beträge im Tarifge- sicher von dem unterscheiden müssen, was in der ehe- biet West bezahlt. maligen DDR für die Familien geboten wurde. Ich will in diesem Zusammenhang auch an die Ta- Ich persönlich habe es nie als einen besonderen rifparteien appellieren, bei den derzeit laufenden Ta- Fortschritt angesehen, einjährige Kinder um fünf Uhr rifverhandlungen für den öffentlichen Dienst dem morgens aus dem Tiefschlag zu reißen und sie in den Ziel der Herstellung einheitlicher Bezahlungsverhält- nächsten Kinderhort zu schaffen, um sie do rt dann nisse Priorität einzuräumen. Wir sollten den Bogen unter Umständen zehn Stunden lang außerhalb der nicht überspannen. Ich halte es auch nicht für vertret- Familie zu belassen. Das hat für mich mit Vereinbar- bar, wenn die laufenden Verhandlungen, in denen die keit von Familie und Beruf nichts mehr zu tun. So kann öffentlichen Arbeitgeber ein Angebot vorgelegt ha- sich überhaupt kein soziales Gefüge innerhalb der ben, in diesen Tagen mit ungerechtfertigten Aktio- Familie entwickeln, .. . nen, die auf dem Rücken der Bürger ausgetragen wer- den, belastet werden. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, ich bitte, zum Schluß zu kommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der Tarifabschluß für die Bediensteten in den fünf Uta Würfel (FDP): . . . wenn ich meine Kinder nur neuen Ländern wird auch für die Besoldung analog am Wochenende für wenige Stunden zur Verfügung übernommen werden. Mit der zweiten Besoldungs- habe und ihre Entwicklung gar nicht begleiten kann. übergangsverordnung soll grundsätzlich die amtsge- Für mich war das nie ein Fortschritt. mäße, leistungsbezogene Besoldung in Höhe von 60 % der Westbesoldung eingeführt werden, das Bun- desbesoldungsgesetz soll mit seinen Strukturen und Vizepräsident Hans Klein: Das Wort zur Erwiderung ihm Rahmen einer Kurzintervention hat Herr Kollege Bewertungen umfassend eingeführt werden. Dr. Elmer. Leistungswillige Mitarbeiter können Leistungen nur erbringen, wenn man ihnen die notwendige Qua- Dr. Konrad Elmer (SPD): Frau Kollegin, ich würde lifikation vermittelt. Deswegen steht im Vordergrund Ihrer Deutung dieser vielen freien Kindergartenplätze der Hilfen von Bund und Ländern für den Aufbau der gerne folgen, wenn die Arbeitslosenrate unter Frauen Verwaltung die Gewährung von Hilfen bei der Aus- in Rostock nicht mindestens ebenso hoch wäre. bildung und Qualifikation. Wir bieten Ausbildungs- und Praktikantenplätze in Vizepräsident Hans Klein: Das war in der Tat großer Zahl im Westen bei Bund und Ländern an, wir kurz. bieten Aus- und Fortbildungslehrgänge sowohl in den Als nächstes hat das Wort der Bundesminister des westlichen elf Ländern als auch in den neuen Ländern Innern, Dr. Wolfgang Schäuble. an, und wir stellen den neuen Ländern beim Aufbau eigener Aus- und Fortbildungseinrichtungen Lehr- personal zur Verfügung. Der Bund allein fördert Aus- Bundesminister des Innern: Dr. Wolfgang Schäuble, und Fortbildungsmaßnahmen, an denen bis 1992 Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- mehr als 30 000 Mitarbeiter aus den neuen Ländern ren! Der Bundesfinanzminister hat gestern den Bun- teilnehmen werden. Ich möchte auch den elf alten deshaushalt 1991 den Haushalt der deutschen Einheit Bundesländern danken, die im Rahmen der Verwal- genannt. Der Beitrag, den die Innenpolitik zur mög- tungshilfe Aus- und Fortbildungsveranstaltungen lichst raschen Herstellung einheitlicher Lebensver- durchgeführt haben, an denen bereits über 5 000 Be- hältnisse in ganz Deutschland leisten kann und leisten dienstete teilgenommen haben. muß, ist vor allem, zum schnellen Aufbau einer lei- stungsfähigen Verwaltung in den fünf neuen Ländern Natürlich können die neuen Bundesländer und ihre beizutragen. Die neuen Länder müssen so rasch wie Gemeinden eine funktionsfähige Verwaltung nicht in möglich in der Lage sein, ihre Verantwortung selbst kurzer Zeit aus eigener Kraft allein bewerkstelligen, wahrzunehmen, und das heißt, daß sie vor allem lei- und deshalb müssen wir helfen. Die elf alten Bundes- stungsbereite und befähigte Mitarbeiter brauchen, länder konzentrieren ihre Hilfe auf die jeweiligen und dies heißt vor allem, daß sie Mitarbeiter aus den Partnerländer. Die Hilfe des Bundes erfolgt für über- fünf neuen Ländern selbst zur Erfüllung der Verwal- greifende Fragen über die Clearingstelle, die sich aus tungsaufgaben brauchen. Vertretern des Bundes, der Länder und der kommu- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 831

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble nalen Spitzenverbände zusammensetzt. Mit dieser ermöglichen, um die Erfahrung noch einsatzfähiger Clearingstelle haben wir eine Zentrale zur Klärung Mitarbeiter im Ruhestand für den Neuaufbau zu er- von Fragen im Zusammenhang mit dem Aufbau der schließen. Wir wollen deshalb auf die Anrechung des Verwaltung und der Einführung des im bisherigen auf solche Weise erzielten Einkommens auf die Pen- Bundesgebiet in über 40 Jahren gewachsenen Rechts- sion für einen begrenzten Zeitraum verzichten. Ich systems zur Verfügung. Diese Clearingstelle hat viel- glaube, daß auch dies eine in dieser Übergangszeit fältige Hilfe für den Aufbau einer rechtsstaatlich han- richtige und notwendige Maßnahme ist. delnden und leistungsfähigen Verwaltung in den fünf Schließlich stellt der Bund, um die personelle Ver- neuen Ländern geben können, sie steht ständig für die waltungshilfe für die neuen Länder und vor allen Din- Koordinierung der Arbeiten beim Aufbau der Verwal- gen für die Landkreise und Kommunen zu verstärken, tung zur Verfügung. Personalkostenzuschüsse an Landkreise, kreisfreie Mein Haus gibt einen Info-Dienst „kommunal" in Städte und kreisangehörige Gemeinden 1991 und bisher über 20 Ausgaben mit einer Auflage von mehr 1992 in Höhe von jeweils 100 Millionen DM zur Ver- als jeweils 20 000 Exemplaren für alle Gemeinden, fügung. Ich hoffe, daß diese Personalkostenzuschüsse Städte, Kreise und alle kommunalen Mandatsträger in — im Gegensatz zum vergangenen Jahr — jetzt in den fünf neuen Ländern heraus. Dieser Informations- den Jahren 1991 und 1992 von den Kommunen in den dienst hat sich als eine wertvo lle Orientierung für alle fünf neuen Ländern auch in Anspruch genommen Fragen der kommunalen Praxis erwiesen. werden. Der Kollege Dr. Waffenschmidt hat zum wiederhol- Mit diesem Maßnahmenpaket — auch mit den we- ten Male in allen neuen Bundesländern Kommunal- sentlichen Verbesserungen für die finanzielle Aus- konferenzen durchgeführt, die dem Informations- stattung der fünf neuen Länder seit der Konferenz des und Erfahrungsaustausch vor Ort dienen. Ein Großteil Bundeskanzlers mit den Regierungschefs aller Bun- der Mitarbeiter aus dem früheren Bundesministerium desländer am 28. Februar — setzen wir die fünf neuen für innerdeutsche Beziehungen wird unter der Lei- Länder instand, leistungsfähige Verwaltungen aufzu- tung von Staatssekretär Priesnitz dafür eingesetzt, als bauen. Aber ich will auch dieses sagen: mit den Hilfs- Berater für die Landkreise, Städte und Gemeinden in angeboten allein werden sich die Verhältnisse nicht den neuen Bundesländern ständig zur Verfügung zu ändern. Es kommt darauf an, daß unsere Angebote stehen. Wir haben dabei nicht zuerst nach Zuständig- auch angenommen werden. keiten des Bundes gefragt, sondern meinen, daß in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einer solchen Zeit des Übergangs die Frage der Zu- ständigkeiten erst in zweiter Linie wichtig ist. Wichtig Die neuen Länder — und es wird Zeit, daß wir dazu ist, daß wir unbürokratisch und so rasch wie möglich auch ein nachdenkliches Wort sagen — müssen ihre mit Rat und Tat helfen. Verantwortung auch wahrnehmen. Ich sage in diesem Zusammenhang, daß öffentliche Klage über man- Hilfe beim Aufbau einer funktionstüchtigen Ver- gelnde Hilfe aus Bonn oder aus dem Westen nicht waltung heißt auch, den neuen Ländern mit qualifi- mehr überzeugend klingt, wenn diejenigen, die sol- ziertem und leistungsfähigem Personal aus den alten, che Klage führen, sich nicht zugleich in der Lage oder westlichen Ländern für eine Übergangszeit unter die bereit erweisen, angebotene Hilfe anzunehmen. Arme zu greifen. Wir wollen Mitarbeiter, die aus den alten Ländern zeitweilig in die neuen gehen, nachhal- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tig fördern, um Leistungsbereitschaft und Mobilität Ich sage dies ohne Vorwurf; denn ich weiß, die fünf anzuregen. Wir haben dazu vorgesehen, daß etwa die neuen Länder stehen am Anfang, und nach über Perspektiven für die weitere berufliche Entwicklung 40 Jahren sozialistischem Zentralismus fällt das Den- solcher Mitarbeiter verbessert werden durch günsti- ken in föderalen Strukturen, das heißt in der Selbstän- gere Beförderungs- und erleichterte Aufstiegsmög- digkeit und Eigenverantwortung von kommunaler lichkeiten, durch die Einführung eines auf Dienst- Selbstverwaltung und von Ländern als staatlicher posten im Osten beschränkten Verwendungsaufstie- Ebene, nicht leicht. Aber wir müssen damit anfangen. ges, durch finanzielle Besitzstandswahrung in vollem Der Schritt der Gründung der fünf neuen Länder am Umfange, durch den Zuwachs des vollen Beförde- 14. Oktober vergangenen Jahres war richtig und not- rungsgewinns, durch die Gewährung einer Zulage für wendig. Die Menschen, die sich in 40 Jahren Sozialis- die Wahrnehmung höherwertiger Funktionen im Bei- mus nicht mit ihrem Staat identifizieren konnten, ha- trittsgebiet, durch die Erhöhung und Verlängerung ben ja noch während der friedlichen Revolution ihrer der geltenden, bis zum 31. März bef risteten Auf- Sehnsucht Luft gemacht, daß die alten Länder wieder wandsentschädigungsregelung. Ich hoffe sehr, daß im entstehen sollten. Aber deshalb müssen diese Länder Haushaltsausschuß des Hohen Hauses die Bereit- jetzt schnell funktionsfähig werden. Sie müssen dazu schaft, diese Aufwandsentschädigungsregelung zu ihre Verantwortung übernehmen. Alle müssen diese verlängern, jetzt größer sein wird. Ich hoffe, daß auch Verantwortung tragen, die neuen Länder, der Bund, der frühere Kollege Kühbacher in Zukunft die Gewäh- auch die alten Länder. Dies gehört zum Föderalis- rung dieser Aufwandsentschädigung unterstützen mus. wird, die er im letzten Jahr noch heftig kritisiert hat. Wenn ich etwa aus den Ländern K ritik daran höre, Schließlich wollen wir auch Beihilfen für wöchent- daß die Beratung von Kommunen in den neuen Län- liche Familienheimfahrten gewähren, notfalls auch dern nicht Sache des Bundes sei, dann stört mich dies unter Übernahme der Flugkosten bei ungünstigen wirklich in dieser Lage, in der wir uns befinden; denn Verkehrsverbindungen. Wir wollen auch Pensionä- ich finde, wir sollten jetzt unbürokratisch alle mitein- ren, die im Beitrittsgebiet tätig werden, diesen Einsatz ander Hand anlegen, und jeder sollte im Rahmen sei- 832 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble ner Möglichkeiten so rasch und so unbürokratisch hel- Sicherung der kulturellen Substanz in den Beitritts- fen wie irgend möglich. ländern leisten, Der Wunsch nach der Wiederherstellung der Län- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der in der früheren DDR hatte viel mit dem Wunsch denn diese Probleme sind für uns alle eine Herausfor- der Menschen nach Identifika tion mit ihrem eigenen derung. Sie bedeuten für den Föderalismus eine ent- Lebensraum zu tun. Deswegen gehört dazu — ganz scheidende Bewährungsprobe. Wenn Kulturförde- wichtig — , daß wir die kulturellen Einrichtungen im rung Sache der Länder ist, müssen auch die Länder Beitrittsgebiet und das kulturelle Erbe dieser Länder ihre entsprechende Verantwortung jetzt wahrneh- und Landschaften erhalten. Wir sind hier in die Pflicht men. genommen, die kulturelle Substanz in den neuen Län- dern vor weiterem Schaden zu bewahren. Ich habe auch die Hoffnung, daß es gelingen wird, die bisherige gemeinsame Trägerschaft der Stiftung Die Bundesregierung hat, um schnell zu helfen, im Preußischer Kulturbesitz durch Bund und Länder November vergangenen Jahres eine Übergangsfinan- künftig möglichst mit allen Ländern des größer ge- zierung von 900 Millionen DM zur Verfügung gestellt. wordenen Deutschlands fortzusetzen. Es bereitet mir Zwei Drittel dieses Betrages werden für einen Sonder- Sorge, daß im Haushalt 1991 der Stiftung zwar der fonds „Förderung gefährdeter kultureller Einrichtun- Bund seinen Finanzierungsanteil an dem durch die gen und Veranstaltungen" — insbesondere von euro- Vereinigung der Sammlungen erhöhten Zuschußbe- päischem Rang — vorgesehen, zu dem die fünf Län- darf bereitstellen will, aber die alten Bundesländer der Förderlisten erstellt haben. Ein D rittel des Ge- ihrer Verpflichtung bisher nicht entsprechen wollen. samtbetrags soll für ein kulturelles Infrastrukturpro- Auch dies ist kein gutes Verständnis von kooperati- gramm verwendet werden, um wichtige Einrichtun- vem Föderalismus. Ihren Standpunkt, den zusätzli- gen zu erhalten oder zu leistungsfähigen kulturellen chen Mittelbedarf für die hinzugekommenen Samm- Zentren umzugestalten. lungen müsse allein der Bund tragen, halte ich für Auf Grund der über Jahrzehnte völlig unzureichen- verfehlt, auch aus kulturpolitischen Erwägungen. Die den Pflege und Erhaltung ist die Substanz vieler Bau- Stiftung war bisher ein gutes Beispiel für kooperativen denkmäler und Ortskerne in einem desolaten Zu- Föderalismus, und dies sollte sich auch in einer Zeit stand. Zum Zwecke des Denkmalschutzes, der nicht bewähren, in der die Lasten für alle gestiegen sind. in die vorgenannte Übergangsfinanzierung einbezo- (Sehr richtig! bei der CDU/CSU) gen ist, sind in meinem Haushalt im Rahmen des Pro- gramms zur Denkmalpflege und zur Erhaltung histo- Die Einheit Deutschlands muß — und auch dazu rischer Bausubstanz für 1991 und 1992 jeweils zusätz- möchte ich noch ein paar Sätze sagen — auch im liche 50 Millionen DM vorgesehen. Verbunden mit Sport wachsen. Wir müssen die Kommando- und den zusätzlichen Mitteln des Geschäftsbereichs des Staatssportstrukturen in der ehemaligen DDR ab- Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und bauen. Wir müssen das in der ehemaligen DDR auf- Städtebau können wir damit erste Schritte zur drin- gebaute deutsch-deutsche Feindbild im Bereich des gend notwendigen Erhaltung der denkmalpflegeri- Sports abbauen und beim Aufbau demokratischer schen Substanz leisten. Strukturen helfen, und wir wollen die international herausragende Stellung der Spitzenathleten der ehe- Auch die trotz ideologischer Bevormundung be- maligen DDR so gut wie möglich erhalten. achtliche Filmkultur in der früheren DDR, die beson- Auch dafür hat die Bundesregierung ihre Verant- ders mit dem traditionsreichen Produktionsschwer- wortung angenommen und zusätzliche Mittel bereit- punkt -Babelsberg verbunden war, muß er- gestellt, etwa für die Erhaltung der Trainingseinrich- halten bleiben: tungen des Spitzensports, für die Erhaltung der für (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der PDS/ den Spitzensport notwendigen angestellten Trainer in Linke Liste und beim Bündnis 90/GRÜNE) diesen Einrichtungen, für die soziale Absicherung der Spitzenathleten, für den Aufbau der Strukturen der Die kulturelle Filmförderung des Bundes ist deshalb Fachverbände in den neuen Bundesländern und zeitgleich mit der Wiederherstellung der deutschen schließlich für die Fortführung wichtiger sportwissen- Einheit für die Filmschaffenden auch im Beitrittsge- schaftlicher Einrichtungen. biet eröffnet worden. Zu den Altlasten gehört das Doping-Problem. Wir Ziel der Bundesregierung war und bleibt, von der haben deshalb mit dem Deutschen Sportbund und kulturellen Substanz in den fünf neuen Ländern so dem NOK eine unabhängige Expertenkommission viel wie irgend möglich zu erhalten. Der Bund wird eingesetzt, die Strukturen aufdecken soll, die zum allein 1991 über 1,2 Milliarden DM zur Deckung des Doping geführt haben, und die Handlungskonzepte gewaltigen Defizits in den Kulturhaushalten der fünf entwickeln soll, um für die Zukunft Doping zu vermei- neuen Länder beisteuern. Der Bund geht damit an die den. Grenze des ihm Möglichen — ihm Möglichen! —, so- Sie werden mir im übrigen bei der Feststellung zu- wohl in finanzieller wie auch in verfassungsrechtli- stimmen, daß bei allen Schwierigkeiten im Detail und cher Hinsicht. Wir möchten dazu beitragen, daß die bei aller grundsätzlichen Verschiedenheit der alten neuen Länder und Kommunen sobald wie möglich Systeme der Vereinigungsprozeß gerade im Sport er- ihre Aufgaben im Kulturbereich selbst wahrnehmen staunlich reibungslos und bis jetzt erfolgreich verlau- können. Weil Kultur ureigenste Aufgabe der Länder fen ist. ist, sollten auch die elf alten Länder ihre Zurückhal- tung aufgeben und einen eigenständigen Beitrag zur (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 833

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble Ich möchte mich, Herr Präsident, an dieser Stelle auf schen Vertrauen in unsere Verfassung und Demokra- diese Ausführungen beschränken. Ich habe zu den tie gewinnen. Hier sind die Gefährdungen groß. Der Grundlinien der Innenpolitik bei der Aussprache über vorsätzliche Versuch der Bundesregierung im letzten die Regierungserklärung des Bundeskanzlers Stel- Jahr, die Menschen mit Versprechungen zu täuschen, lung genommen. Es wird in dieser Legislaturpe riode hat schon heute zur Entfremdung gegenüber der Poli- neben den Herausforderungen, die die deutsche Ein- tik geführt. Diese Entfremdung schlägt sehr schnell in heit mit sich bringt, vor allem darauf ankommen zu Wut und Aggression um. Noch nie wurde so deutlich, verhindern, daß die Veränderungen in Osteuropa und daß innere Sicherheit und innere Stabilität von den die Öffnung der Grenzen eine Massenwanderung von sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen ab- Ost nach West auslösen und daß das Fallen des Eiser- hängen, die das vereinte Deutschland bieten muß. nen Vorhangs und die Abschaffung der Grenzkontrol- Der Aufbau der Verwaltung hat besonderen Vor- len in der Europäischen Gemeinschaft etwa dazu füh- rang. Das haben Sie eben an mehrern Beispielen deut- ren, daß Grenzen vor allem für organisierte Krimina- lich gemacht. Wir wissen, daß in den neuen Bundes- lität offen werden. ländern viele Menschen in der Verwaltung überfor- Aber entscheidend ist, daß wir die Chancen, die das dert sind, weil sie schlagartig mit dem Rechtssystem Verschwinden des Eisernen Vorhangs und die Öff- der Bundesrepublik Deutschland zurechtkommen nung der Systeme und Grenzen mit sich bringen, nüt- müssen. Es muß weiterhin Hilfe durch westdeutsche zen. Je schneller die größer gewordene Bundesrepu- Beamte und andere Fachkräfte, aber auch durch Um- blik Deutschland in ihrer Gesamtheit ein Hort der schulungsmaßnahmen geleistet werden. Einige Maß- Freiheit, der Gerechtigkeit und des sozialen Friedens nahmen, die auf dem Weg sind, begrüßen wir. Wir wird, desto schneller werden die Gräben überwun- werden noch weiter darüber diskutieren müssen. den, die über 40 Jahre Teilung zwischen Ost und West und zwischen Freiheit und Diktatur geschaffen ha- Der Aufbau der Verwaltung ist auch deswegen ben; Gräben, die unser Land und unseren Kontinent wichtig, weil die in diesem Haushalt vorgesehenen getrennt haben und die wir jetzt überwinden müs- zusätzlichen Mittel für die neuen Bundesländer nur sen. ausgegeben werden können, wenn eine halbwegs funktionierende Verwaltung in der Lage ist, diese (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mittel auch abzurufen und umzusetzen. Ich habe die große Sorge, daß sich der Bundesfinanzminister schon Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- jetzt seine Rückfallposition sichert, indem er am Jah- ordnete Wartenberg. resende, wenn ein Teil der Mittel nicht abgerufen werden kann, mit Häme auf die angebliche Unfähig- keit in den neuen Bundesländern verweist. Wir haben (Berlin) (SPD): Herr Präsident! Gerd Wartenberg ähnliche Schäbigkeiten dieses Finanzministers schon Meine Damen und Herren! Durch die deutsche Ein- gegenüber dem früheren Finanzminister der DDR, heit haben sich auch die Schwerpunkte der deutschen Herrn Romberg, erlebt. Innenpolitik verlagert. Die besonderen Schwierigkei- ten in den neuen Bundesländern und auch in Berlin (Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/ setzen besondere Anstrengungen der Innenpolitik CSU]: Na, na, na! Was ist das für eine Spra voraus, um die Gleichheit der Lebensbedingungen in che!) den Beitrittsländern zu gewährleisten. Ich warne die Bundesregierung davor, sich in eine sol- Herr Bundesminister, Sie sind im letzten Jahr bei che billige Auffangposition zu begeben. Gerade des- der Ausarbeitung des Einigungsvertrages für den Ar- wegen muß vom Innenminister der Aufbau einer beitseinsatz gelobt worden, den Sie und Ihre Mitar- - funktionsfähigen Verwaltung mit Vorrang betrieben beiter geleistet haben. Dennoch wissen wir, daß der werden. Einigungsvertrag — sei es aus Zeitdruck, sei es aus Fehleinschätzung oder auch aus Ignoranz — dramati- Neben dem Aufbau der allgemeinen Verwaltung ist sche Mängel aufweist. Gerade Sie als Innenminister insbesondere die Polizei in einer schwierigen Situa- und Ihr Haus sind deswegen verpflichtet, die Unzu- tion, die verändert werden muß. Der Personalkörper länglichkeiten des Einigungsvertrages zu heilen, ist stark reduziert. Die verbliebenen Beamten sind denn jede Unzulänglichkeit des Vertrages trifft in sehr häufig nicht in der Lage, unsere Rechtsvorschrif- dramtischer Weise einzelne Menschen. Der inneren ten anzuwenden. Auch hier muß der Bund dringend Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland muß Hilfe leisten. heute eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet Wir wissen, daß die Kriminalitätsentwicklung in werden. den neuen Bundesländern beängstigend ist. Neue (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wo sind denn Formen der Kriminalität, die es bisher do rt nicht gege- nun die Schwächen?) ben hat, verunsichern die Bürger. Trotzdem müssen — Dazu kommen wir gleich noch. — Innere Sicherheit wir den Menschen in den Beitrittsländern sagen, daß die Kriminalität im Vergleich zu den alten Bundeslän- verstehe ich hier nicht im engeren Sinne, sondern ich dern insgesamt noch relativ gering ist. Während im spreche von jener Form der inneren Sicherheit und letzten Jahr 226 000 Fälle in den neuen Bundeslän- Zufriedenheit, die erst dann entsteht, wenn die Bürge- dern gemeldet worden sind, sind es in Nordrhein- rinnen und Bürger der Beitrittsländer das Gefühl ha- Westfalen bei etwa gleicher Einwohnerzahl im glei- ben, daß im Arbeits- und Privatleben eine positive chen Zeitraum 1,2 Millionen Fälle. Perspektive geboten wird. Gerade der Verfassungs- minister — das sind auch Sie als Innenminister — muß (Dr. Altherr [CDU/CSU]: Woran liegt das ein vorrangiges Interesse daran haben, daß die Men- wohl?) 834 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Gerd Wartenberg (Berlin) Wir können also froh sein, wenn das Niveau, auf dem Die deutsche Einheit hat auch die Aufgaben des sich das jetzt eingependelt hat, gehalten werden Verfassungsschutzes der Altbundesländer reduziert. kann. Bloß geht das nur, wenn Polizei und Gerichts- (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Schimäre!) wesen funktionsfähig sind. Das scheint eine drin- gende Voraussetzung zu sein, um nicht eine noch stär- Fast alle sozialdemokratisch regierten Länder haben kere Steigerung der Kriminalität in den nächsten Mo- daraus vernünftige Schlüsse gezogen: Sie haben ihre naten oder Jahren zu erreichen. Landesverfassungsschutzämter sehr stark abgebaut. Niedersachsen hat den Apparat fast um die Hälfte Eine Voraussetzung zur Akzeptanz der Demokratie reduziert. ist besonders die Aufarbeitung der Stasi-Vergangen- heit. Wir sind uns darüber einig, daß eine gesetzliche (Geis [CDU/CSU]: Was ist mit Salzgitter?) Grundlage für die Nutzung der Stasi-Akten möglichst Ich fordere den Bundesinnenminister auf: Setzen Sie schnell geschaffen werden muß. Es muß ein sehr weit- ein Zeichen, reduzieren Sie das Bundesamt für Ver- gehendes Einsichtsrecht für alle Betroffenen möglich fassungsschutz drastisch, beschränken Sie die Tätig- sein. Der Umgang mit der Stasi-Vergangenheit wird keit des Verfassungsschutzes auf den gerade noch für uns alle eine Bewährungsprobe sein, nicht nur für notwendigen Kern seiner Aufgaben. Unterbinden Sie, die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundeslän- daß in der Öffentlichkeit pausenlos neue Funktionen dern. für den Verfassungsschutz gesucht werden. Organi- Jedoch gibt es schon jetzt, am Beginn der Aufarbei- sierte Kriminalität und Vorfeldobservation im Bereich tung der Vergangenheit, einen höchst unangeneh- des Waffenexportes sind keine Aufgaben für den Ver- men Fall. Der Fall de Maizière hat einen außerordent- fassungsschutz. Es wäre ein Hohn, wenn in einer Zeit, lich schlechten Nachgeschmack hinterlassen. Herr de in der zum Glück viele Aufgabenfelder des Verfas- Maizière ist nicht, wie eigentlich vorgesehen, vom sungsschutzes überflüssig werden, der Verfassungs- Präsidium des Deutschen Bundestages überprüft wor- schutz auf eine schiefe Ebene geriete und wenn das den, sondern der Bundeskanzler hat den Bundesin- Trennungsgebot zwischen Polizei und Verfassungs- nenminister mit der Prüfung beauftrat. Der Bundesin- schutz schleichend aufgehoben würde. nenminister hat der Öffentlichkeit einen Bericht vor- (Geis [CDU/CSU]: Das will doch keiner!) gelegt, der offensichtlich nicht mit dem Bericht iden- Die Zuwanderung in die Bundesrepublik Deutsch- tisch ist, den die Behörde Gauck vorgelegt hat. Ich ist, um ein anderes innenpolitisches Thema an- fordere Herrn de Maizière auf, das Präsidium des land zusprechen, in den letzten Jahren eine große Heraus- Deutschen Bundestages damit zu beauftragen, seinen forderung für die Länder und Kommunen, aber auch Fall nochmals zu überprüfen, für unsere Bürgerinnen und Bürger geworden. Die (Marschewski [CDU/CSU]: Das ist Belastungen sind groß. Wir müssen aber den Men- schlimm!) schen sagen, daß der Wanderungsdruck auf West- europa anhalten wird. und dem Präsidium alle Unterlagen der Gauck-Be- hörde zugänglich zu machen. Trotzdem sollten wir uns bemühen, Steuerungsin- strumente zu finden, insbesondere im Bereich der Zu- (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Ull- wanderung durch Aussiedler, aber auch im Bereich mann [Bündnis 90/GRÜNE] — Geis [CDU/ der Asylbewerber. CSU]: Alles hat seine Grenzen!) (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Es wäre katastrophal, wenn am Beginn der Aufarbei- Dies muß eine Verfassungsdiskussion nicht unbedingt tung der Stasi-Vergangenheit auch nur der Hauch einschließen. Wir sind zu einer fairen Diskussion be- eines Verdachts bestehen bliebe, daß ein ehemaliger reit, da wir meinen, daß es eine Lehre der letzten Jahre Bundesminister und stellvertretender Parteivorsitzen- sein muß, daß dieses Thema nicht dem demagogi- der eine Sonderbehandlung erfahren habe. schen Parteienstreit unterworfen sein darf. (Beifall bei der SPD — Marschewski [CDU/ (Beifall bei der SPD) CSU]: Das ist eine Sauerei! Das ist eine echte Sauerei! — Geis [CDU/CSU]: Versuchen Sie Ein Beispiel, wie es im Augenblick schlecht läuft, keine Türken aufzubauen!) muß konkret angesprochen werden: Den neuen Bun- desländern werden 20 % der Asylbewerber sehr me- Um die Akzeptanz für die weitere Aufarbeitung zu chanistisch zugewiesen, und dies, obwohl die Länder erhöhen, meine ich, daß auch Sie, Herr Innenminister, und Kommunen der Beitrittsländer darauf nicht vor- Herrn de Maizière — er ist genauso Abgeordneter die- bereitet sind. ses Parlamentes wie alle anderen — dazu auffordern müssen. Es ist bekannt, daß die Menschen in der ehemaligen DDR in einer besonders schwierigen Lage sind, mit (Marschewski [CDU/CSU]: Das bestreitet der sie selbst häufig kaum fertig werden. Die Gefahr, doch kein Mensch! Ihre Art und Weise ist daß sich Gewalt gegen Asylbewerber und Ausländer eine Sauerei, ganz ehrlich! — Weitere Zurufe als Ventil anbietet, ist groß. Wir haben in den letzten von der CDU/CSU) Wochen schlimme Vorfälle erlebt und gesehen, daß die Polizei in den neuen Bundesländern nicht in der — Durch Schreiereien werden Sie diesen Vorgang Lage ist, die Sicherheit der zugewiesenen Menschen nicht beerdigen können. zu gewährleisten. Ich fordere Sie dringend auf, mit (Zuruf von der CDU/CSU: Ziehen Sie doch den Ländern zusammen die Regelung der 20 %-Zu- die Juso-Hosen aus!) weisung von Asylbewerbern in den neuen Bundeslän- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 835

Gerd Wartenberg (Berlin) dern übergangsweise auszusetzen. Wir können es uns machen. Bauen Sie das endlich ab! Da muß ein nicht leisten, daß es zu derartigen Gewalttätigkeiten Schlußstrich gezogen werden. kommt. Das ist eine unverantwortliche Politik. Wir müssen in diesen Ländern statt dessen erst die Vor- (Beifall bei der SPD) aussetzungen für die Aufnahme schaffen. Ein weiterer Punkt betrifft die ostdeutsche Kultur- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ arbeit. Auch die ostdeutsche Kulturarbeit, die sich auf CSU: Was sagt Oskar dazu?) Gebiete jenseits von Oder und Neisse und auf deut- sche Minderheiten im Ostblock bezieht, muß um- Wir stehen im Augenblick in der Debatte um die strukturiert werden. Verhinderung von Rüstungsexporten, aber auch in der Auseinandersetzung um den verstärkten Kampf (Beifall des Abg. Dr. de With [SPD]) gegen organisierte Kriminalität. Es gibt eine fatale Bereitschaft, wegen der Vordringlichkeit der Be- Es kann nicht angehen, daß der Hauptanteil dieses kämpfung dieser Formen der Kriminalität jedes Mittel Geldes an die Bundesvertriebenenverbände geht, einzusetzen. Wir warnen davor, den Einsatz von nach- richtendienstlichen Mitteln bei der Vorbeugung hof- (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: 6,8 Prozent!) fähig zu machen. die nicht einmal den deutsch-polnischen Grenzver- (Beifall bei der SPD) trag anerkennen. Es kann doch nicht der Sinn sein, daß solche Organisa tionen hauptsächlich rückwärts Der liberale Rechtsstaat Bundesrepublik nähme gewandte Kulturpolitik machen. Wir sind dafür, daß schweren Schaden, wenn wir nach dem Motto „Der eine Förderung der Kulturpolitik weitergeführt wird, Zweck heiligt die Mittel" unsere 40jährige rechts- auch um Traditionen zu wahren und zu pflegen. Aber staatliche Tradition verließen. diese Verbände, die so eine Art Kriegsfolgelasten sind, sollten damit nicht mehr beauftragt werden. (Beifall bei der SPD — Geis [CDU/CSU]: Wer will denn das? — Dr. de With [SPD]: Der Möl- (Beifall bei der SPD — Marschewski [CDU/ lemann will das!) CSU]: Unverschämte Frechheit! — Weitere Der Einigungsvertrag wirkt sich in besonderer Zurufe von der CDU/CSU) Weise auf die Kulturpolitik des Bundes aus, worauf Die Innenpolitik ist auch für den Sport zuständig. der Innenminister eingegangen ist. Der Bund wird Die Mittel für den Spo rt werden drastisch erhöht. Das somit zu einem grandiosen Förderer von Kunst und ist erfreulich. Allerdings sind von diesen 172 Millio- Kultur, was wir unter finanziellen Aspekten begrü- nen DM nur ca. 7 Millionen DM als Strukturhilfe für ßen. In den neuen Bundesländern werden 1,2 Milliar- den Aufbau von Fachverbänden in den neuen Bun- den DM für Kunst und Kultur ausgegeben. desländern vorgesehen. Allein die Landessportver- Es ist aber unglaublich, daß der Bundestag kein bände beziffern in einer Umfrage ihren Vereinsbedarf wirksames Gremium hat, durch das die inhaltliche für 1991 auf 125 Millionen DM. Kontrolle dieser Mittel gewährleistet wird. Das heißt, der ostdeutsche Spo rt steht vor dem Kol- (Beifall bei der SPD) laps. Die finanzielle Basis des Breitensports in Ost- deutschland tendiert gegen Null. Es ist nicht akzepta- Wir fordern Sie deswegen auf: Geben Sie Ihren Wi- bel, daß der Bund zwar den Spitzensport und damit derstand gegen einen Kulturausschuß auf. die von dem SED-Regime einseitig bevorzugten (Beifall bei der SPD) Strukturen weiter fördert, daß er aber für den Breiten- - sport so gut wie nichts tut. Es kann nicht angehen, daß Beamte des Bundes im Gespräch mit Beamten der Länder weiterhin die Gel- (Beifall bei der SPD — Baum [FDP]: Doch, er der verteilen und darüber entscheiden, was gefördert tut etwas, wenn er zuständig ist!) wird, ohne daß das Parlament ein wirksames Mitspra- cherecht hat. Das kann auch nicht in Ihrem Interesse Unter dem Gebot der Haushaltssparsamkeit wer- sein. den wir zu diskutieren haben, ob es Aufgabe des Staa- tes sein kann, an der sporttechnischen Aufrüstung (Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/ weiter teilzunehmen, wie dies in der Forschungs- und CSU]: Der Thierse soll das entscheiden!) Entwicklungsstelle für Sportgeräte in Berlin ge- Innerhalb des Kulturhaushalts gibt es, wie ich eben schieht. Das Ende des Wettkampfes der politischen andeutete, positive Aspekte — Herr Schäuble hat sie Systeme auf deutschem Boden muß sich auch in einer vorgetragen — , insbesondere was die Erhaltung des spürbaren „Abrüstung" im staatlich geförderten kulturellen Erbes angeht. Aber es gibt auch einige Hochleistungssport niederschlagen. skandalöse Punkte. Immer noch wird die mitteldeut- Andererseits ist der Sport ein weites Feld für Inve- sche Kulturarbeit von hier aus gefördert, stitionen: Weniger als die Hälfte der Landkreise in (Marschewski [CDU/CSU]: Sehr gut ist den neuen Ländern verfügen über ein Hallenbad; die das!) Masse der Sportanlagen ist in einem desolaten Zu- stand. d. h. Organisationen und Vereine, die hier angesie- delt sind, machen Kulturarbeit für die Beitrittsländer. (Parl. Staatssekretär Lintner: Das ist doch Ich halte das für peinlich. Dieses Geld steht den neuen keine Zuständigkeit des Bundes! Der Bund Ländern zu. Sie sollen damit ihre eigene Kulturarbeit ist doch nicht zuständig!) 836 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Gerd Wartenberg (Berlin) Die SPD erneuert daher die Forderung nach einem eine glänzende Bestätigung des Berufsbeamten- Goldenen Plan, nach einem Sportstättenprogramm tums. für Ostdeutschland. Darum ist die Revitalisierung der Verwaltung in (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Baum den neuen Bundesländern für diesen Teil des Haus- [FDP]: Wer finanziert?) halts vorrangig, und sie ist bisher nicht gelungen. Wir machen uns zum Fürsprecher der Vereine und der Minister Schäuble hat dargestellt, wie der 10- Kommunen. Letztere benötigen endlich eine Finanz- Punkte-Plan verwirklicht werden soll. Wir stimmen ausstattung — ich hoffe, daß dafür jetzt Gelder da dem völlig zu. Aber so unverzichtbar es ist, qualifi- sind — , die sie in die Lage versetzt, die Sportanlagen zierte Beamte in den neuen Bundesländern einzuset- vernünftig zu betreiben. zen — natürlich nicht zwangsweise — , so ist es doch Der Bund muß angesichts der Notlage des Breiten- unsere eigentliche Aufgabe, geeignete Mitarbeiter und Vereinssports in den Ostländern im Zuge seiner aus den neuen Bundesländern auszubilden und ein- Verpflichtung zur Herstellung gleicher Lebenschan- zusetzen und ihnen nicht erneut andere Leute vor die cen über den eng gesteckten verfassungsrechtlichen Nase zu setzen. Das geht nicht mit acht- oder vier- Kompetenzrahmen hinaus alle Möglichkeiten nutzen, zehntägigen Kursen. Wir brauchen ein ganzes System den Vereinen, den Gemeinden und damit dem Sport von Ausbildungshilfen bis hin zu einem umfangrei- insgesamt zu helfen. chen Angebot von Praktikantenstellen auf allen Ebe- nen der Verwaltung, auch auf allen Ebenen der Ver- (Zuruf von der CDU/CSU: Da sind andere waltungshierarchie, aber auch in der Wirtschaft und Dinge vorrangiger!) in den Wirtschaftsverbänden, die zur freiwilligen Mit- Meine Damen und Herren, die konkrete Aufgaben- hilfe aufgerufen werden müssen. bewältigung in der Innenpolitik muß das Ziel haben, daß unsere demokratische Rechtsordnung auch in Zur Revitalisierung der Verwaltung gehört aber den Beitrittsländern — trotz der großen Schwierigkei- auch eine ausgewogene Gehaltsstruktur. Die fünf ten, die sich dort auftürmen — akzeptiert wird. Wenn neuen Länder können auch in der Verwaltung keine diese Akzeptanz unseres demokratischen Rechtssy- Billiglohnländer bleiben. Dann laufen die guten Leute stems und die Akzeptanz auch unserer komplizierten eben weg, und das tun sie. Dann sind die Grenzen des Demokratie nicht gelingt, dann scheitert nicht nur Sonderopfers schnell erreicht. Wir wollen die Solida- eine Bundesregierung, dann wird wohl ein Scheitern rität aller, aber nicht ein Sonderopfer einzelner Grup- der politischen Klasse in der Bundesrepublik insge- pen, und das gilt für den Westen wie für den Osten. samt die Folge sein. Ich glaube, dies müssen wir alle (Beifall bei der FDP) insgesamt verhindern. Zur Revitalisierung der Verwaltung gehört schließ- Vielen Dank. lich der Abbau des Mißtrauens. Darum muß schnell (Beifall bei der SPD — Marschewski [CDU/ abschließende Klarheit darüber geschaffen werden, CSU]: Das war aber keine Klasse! — Gerster wer im Stasi-System Täter und wer Opfer war. Die [Mainz] [CDU/CSU]: Diese Rede hat nichts Frage, was mit den Akten zu geschehen hat, in denen dazu beigetragen!) wir das erkennen, darf nicht ohne die Kollegen ent- schieden werden, die in diesem System gelebt ha- ben. Vizepräsident Hans Klein: Herr Abgeordneter Dr. Hirsch, Sie haben das Wort. Unsere Grundüberlegung ist, daß der Staat es den Bespitzelten nicht verwehren kann und darf, ihre ei- genen Akten zu sehen. Das kann für den einzelnen Dr. Burkhard Hirsch (FDP): Herr Präsident! Meine bitter sein, aber der Staat kann es dem einzelnen nicht Damen und Herren! Man kann sicherlich viele wei- verwehren, sich Klarheit über seine eigenen privaten tere Wünsche äußern. Wir sollten uns aber auf die Lebensumstände zu verschaffen, wenn er sie denn Wünsche konzentrieren, die in unseren Verantwor- haben will. tungsbereich fallen. Der Breitensport ist Sache der (Beifall bei der FDP und der SPD) Länder und bleibt es, Herr Wartenberg. Der Haushalt des Innenministers steigt ohnehin um Der Staat selber aber hat in diesen Opferakten nichts fast 70 %. Vieles davon ist zwangsläufig. Es entspricht zu suchen. Er sollte für keine seiner Tätigkeiten zu der großen nationalen Aufgabe, die Vereinigung mit Lasten der Opfer und gegen ihren Willen Zugang zu den neuen fünf Bundesländern und mit ganz Berlin deren Akten haben. tatsächlich zu vollziehen. Das ist nicht nur ein wirt- Die Grundentscheidungen zu diesen Fragen sollten schaftliches Problem. Es gilt, auch die geistige und in größtmöglicher Übereinstimmung zwischen den politische Infrastruktur eines modernen Staates zu Fraktionen und möglichst schnell getroffen werden. erneuern und die geistigen Schleifspuren von 40 Jah- Ich glaube nicht, daß es richtig ist, Einzelfälle hier im ren Gängelung zu überwinden. Plenum zu erörtern, ohne daß der Betroffene die Mög- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) lichkeit hat, sich in irgendeiner Weise dazu zu äußern. Das ist schlechter Stil. Wir entdecken neu, daß eine umfangreiche Infra- struktur, daß eine funktionierende Verwaltung, daß (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei eine berechenbare und Vertrauen genießende Justiz Abgeordneten der CDU/CSU) und Rechtsprechung wichtige Voraussetzungen für Die zweite elementare Aufgabe ist die Erhaltung unsere wirtschaftliche Existenz sind — unseres gemeinsamen kulturellen Erbes. Dabei geht (Beifall bei der FDP) es nicht nur um Burgen und Schlösser, sondern auch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 837

Dr. Burkhard Hirsch um das sehr individuelle Bild der Städte und Dörfer, Übermaß von rücksichtslosem Durchgreifen, wie es die vom Verfall heute ebenso bedroht sind wie zuvor früher einmal hieß. von den Großplatten. Dazu gehört auch die lebende Der Staat und seine Rechtsordnung beruhen nicht Kunst. Wir begrüßen, daß im Bundeshaushalt dafür auf Rücksichtslosigkeit, nicht nur auf Macht, nicht nur erhebliche Mittel eingesetzt worden sind. Wir folgen auf Herrschaftsgewalt, sondern eben auch auf der in- der Frage des Bundesinnenministers danach, wie ei- neren Freiheit, ohne die es keine freien Bürger, son- gentlich die Länder in diesem Bereich ihre besondere dern nur Untertanen gibt. Zuständigkeit und damit auch ihre besondere Verant- wortung wahrnehmen. (Beifall bei der FDP) Meine Zeit erlaubt es nicht, auf unser Verhältnis zu Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu Fragen Ausländern, zur notwendigen Reform des Staatsange- der inneren Sicherheit machen. Ich möchte nur am hörigkeitsrechts, zur Aufnahme politischer Flücht- Rande erwähnen, daß die drastische Vergrößerung linge oder zum Problem der Aussiedler einzugehen. der Sicherungsgruppe Bonn des Bundeskriminalamts Das sind Gebiete, bei denen wir ebenso auf großzü- zum Schutz bedeutender Persönlichkeiten in der vor- gige Berücksichtigung der Internationalisierung un- gelegten Form nicht akzeptiert werden kann. Wir wa- serer Lebensbeziehungen angewiesen sind wie in der ren uns eigentlich darüber einig, daß diese Aufgabe Wirtschaft. Wir suchen in allen diesen Fragen nicht dem BGS übertragen werden muß. Es wird Zeit für den Streit, sondern die Zusammenarbeit mit der Op- eine ernsthafte, den einzelnen vielleicht enttäu- position. Wir wollen gemeinsam darauf achten, daß schende Bedrohungsanalyse, um festzustellen, wo der Stil und die Zeitpläne unserer Beratungen dem eine wirkliche, außerordentliche und für den einzel- entsprechen. nen unzumutbare Gefahr vorliegt. Ein Parlament, das sich selbst nicht ernst nimmt, Natürlich nehmen wir das Anwachsen der Krimina- wird auch nicht ernst genommen. Wir wollen Ergeb- lität in den neuen Bundesländern ernst. Natürlich nisse, aber wir haben eine eigene Verantwortung, und müssen wir bei der Ausbildung und Ausrüstung sowie wir sind keine Abstimmungsmaschine, in die von bei der Motivation einer modernen, dem demokrati- oben ein Gesetzentwurf hineingesteckt wird, der un- schen Rechtsstaat verpflichteten und handlungsberei- ten unbeschädigt wieder herauskommen soll. ten Polizei helfen und unsere Erfahrungen anbieten. (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Aber letztlich werden wir entdecken, daß sich die Kri- Abgeordneten der CDU/CSU) minalität auch in den neuen Bundesländern auf einem Niveau einpendeln wird, das der Struktur unserer Ge- Diese Forderung wird immer wieder erhoben und sellschaft entspricht. Ich wage es zu sagen, daß die immer wieder mißachtet. Kein Abgeordneter kann Kriminalität nach allen Erfahrungen von allen Regie- sich allein dagegen wehren, aber wir können es ge- rungen, wie immer sie politisch zusammengesetzt wa- meinsam tun, und wir sollten das tun. ren, nur in bestimmten Grenzen beeinflußt werden Wir leben in außerordentlichen Zeiten. Wir werden kann, wenn wir nicht zu drakonischen Maßnahmen ihnen nur gerecht werden, wenn wir nicht zuerst an greifen, die nur in Diktaturen hingenommen werden, die Macht des Staates, sondern zuerst an unsere Fä- weil dort die Verbrecher selbst in der Regierung sit- higkeit glauben, die Mitarbeit der Bürger zu gewin- zen. nen. (Beifall des Abg. Dr. Schmude [SPD]) Zum Schluß möchte ich noch eine ganz persönliche Bemerkung machen: Ich bin im übrigen der Meinung, Es kommt auf das Maß an, auf das angemessene daß Bundesregierung und Bundestag möglichst bald Mittel, auch bei der Bekämpfung der sogenannten entscheiden sollten, daß ihr Sitz in der Hauptstadt die- organisierten Kriminalität, von der alle sprechen und ses Landes ist, also in Berlin. unter der sich jeder etwas anderes vorstellt. Daß das so (Beifall bei der FDP, der SPD, der PDS/Linke ist, sollte uns nachdenklich machen. Liste und des Bündnis 90/GRÜNE — Zuruf Natürlich müssen wir uns auf die Internationalisie- von der CDU/CSU: Einspruch!) rung auch der Kriminalität einstellen. Wir dürfen da- bei nicht vergessen, daß sich polizeiliche Rechte im- mer gegen Leute richten, die möglicherweise un- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- schuldig sind. Es gehört zu den üblichen Phrasen, daß ordnete Gerster. man im Vorfeld tätig werden müsse. Vor Jahren hat einmal ein großer K riminalist, den ich persönlich sehr schätze, gesagt, sein Ideal sei, daß Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Herr Präsi- die Polizei vor dem Täter am Tatort sein müsse. Er ist dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich später davon abgerückt, weil er gesehen hat, was das finde, Herr Kollege Wartenberg, Sie haben hier wie in der Wirklichkeit bedeuten würde. Das Vorfeld ist ein Mensch aus dem Tal der Ahnungslosen gespro- uferlos. Es beginnt mit der Geburt. chen. (Zurufe von der SPD) (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) — Ich will das an drei Beispielen deutlich machen. Zu Wir kommen nicht umhin, Grenzen zu ziehen. Das Beginn behaupteten Sie, der Einigungsvertrag hätte ausgewogene Gefüge von Polizeirecht und Strafpro- Schwächen. Als ich dazwischenrief „Welche?", sag- zeßordnung ermöglicht nicht nur wirksame Ermitt- ten Sie, Sie kämen später darauf zurück, aber Sie lungen, sondern es bewahrt den Bürger auch vor dem haben dann keine einzige genannt. 838 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Johannes Gerster (Mainz) Im zweiten Teil arbeiteten Sie mit Allgemeinplät- archivgesetzes erfolgt und sichergestellt wird, daß wir zen. Sie redeten hier groß davon, im Asylbereich müß- an die Akten der SED und der Massenorganisationen ten wir die Probleme lösen. Dann kam folgende For- herankommen. Es ist keine Frage: Die SED war der mulierung: eine Diskussion, die Verfassungsänderun- Staat, der Staat war die SED. Diese Akten gehören in gen nicht unbedingt mit einschließen soll. Dazu haben staatliche Hand. Das muß unverzüglich geschehen. Sie also nicht einmal eine Meinung. Sagen Sie einmal: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wollen Sie eine Verfassungsänderung, oder wollen Sie keine? Drittens. Natürlich müssen wir sehen, daß wir mit den Menschen in den neuen Bundesländern eine (Odendahl [SPD]: Jetzt sagen Sie es ein- funktionsfähige Verwaltung aufbauen. Aber sie wer- mal!) den natürlich Hilfe aus dem Westen brauchen. Ich — Natürlich brauchen wir zu diesem Thema eine Ver- wiederhole hier jetzt nicht unser 10-Punkte-Pro- fassungsergänzung. gramm. Herr Minister, ich glaube, dieses Programm Der dritte Punkt: Sie greifen in die Kiste und werfen der Koalition hat auch in Ihrem Ministe rium in den mit Dreck. Ich finde das, was Sie über den Kollegen de letzten Tagen sehr viel bewegt. Wir sind sehr froh, daß Maizière hier gesagt haben, unverantwort lich. Sie das hier konkretisiert haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Ich glaube, daß wir mit Sicherheit allein im Bereich Kraus [CDU/CSU]: Unanständig!) der Juristen, der juristischen Berufe und auch der juri- stischen Hilfsberufe etwa 30 000 Menschen gewinnen Herr Wartenberg, man kann über einzelne Äuße- müssen, die in die neuen Bundesländer gehen. Ich rungen aus dem Bereich der Vertriebenenverbände werbe auch hier dafür und bin froh, daß durch recht- sehr geteilter Meinung sein. Aber wie Sie hier über liche Änderungen die Voraussetzungen geschaffen 2 Millionen Menschen — als Kriegsfolgenlast oder werden. wie Sie das nennen — , die, als Sie noch in den Win- deln lagen, bereits aktiv für den Frieden eingetreten Wir müssen des weiteren natürlich auch an den sind, mit einer Bemerkung hinweggehen, das ist nicht öffentlichen Dienst in den alten Bundesländern den- in Ordnung. Dieses Spielchen sollten Sie wirk lich sein ken. Wir müssen, wenn Sie so wollen, gleichzeitig auf lassen. zwei Pferden reiten und sehr viel auch für den öffent- lichen Dienst in den neuen Bundesländern tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Selbstverständlich müssen wir aus dem Strukturbe- Minister Schäuble hat — ich fand das sehr angemes- richt der Bundesregierung in dieser Wahlperiode Kon- sen — praktisch seine ganze Rede der Bewältigung sequenzen ziehen und das öffentliche Dienstrecht von Problemen, die wir in den neuen Bundesländern weiterentwickeln. Ich will nur auf das Problem hin- und in Ost-Berlin natürlich haben, gewidmet. Ich bin weisen, daß wir vor allem in den Technikerberufen froh, daß er dies gemacht hat, weil es deutlich macht, Nachwuchsprobleme haben. Wir müssen hier also die daß wir in dieser Wahlperiode neben der Angleichung Eingangsbesoldung im Laufe dieser Wahlperiode ver- der Freiheit in ganz Deutschland auch die Anglei- bessern und müssen die entsprechenden Schritte wa- chung im Lebensstandard, im Wohlstand und weite- gen. ren Bereichen erreichen müssen — das ist eine ent- Dabei möchte ich hinzufügen, daß wir in jedem Fall scheidende Frage — , und weil wir natürlich auch den auch denjenigen, die heute nicht mehr im aktiven Prozeß des Zusammenwachsens der Deutschen in den Arbeitsprozeß sind, entgegenkommen müssen. Ich 16 Bundesländern im Hinblick auf den Einigungspro- meine die Ruhestandsbeamten. Sie müssen an der all- zeß in Europa kongruent entwickelt sehen müssen, gemeinen Einkommensentwicklung beteiligt werden. der ja bedeutet, daß wir ab 1. Januar 1993 offene - Sie müssen die Verbesserungen, die im aktiven Be- Grenzen haben. reich erfolgen, ebenfalls mit genießen können. Außer- Deswegen wird die Innenpolitik in dieser Wahl- dem müssen wir in dieser Wahlperiode — das wird periode ganz erhebliche Schwerpunkte setzen müs- sehr schwer werden — die Konsequenzen aus dem sen und ganz wichtige Aufgaben lösen müssen. Ich Bundesverfassungsgerichtsurteil ziehen, was die Pen- will das in wenigen Stichworten darstellen und — im sionsbesteuerung angeht, wo eine klare Schlechter- Gegensatz zum Kollegen Wartenberg — immer anfü- stellung gegenüber anderen Gruppen zu sehen ist. gen, wohin die Reise geht, mich also nicht in Allge- Wir müssen die Besoldungsanpassung 1991 bera- meinheiten verlieren. ten und beschließen. Ich möchte hier in aller Deutlich- (Odendahl [SPD]: Noch regieren Sie ja!) keit sagen: Ein Sonderopfer für die Beamten wird und darf es nicht geben. Erstens. Wir wollen, daß das Gesetz betreffend Auf- bewahrung, Nutzung und Sicherung der Stasi-Akten (Baum [FDP]: Richtig!) unmittelbar verabschiedet wird, am besten noch vor Man kann über den Zeitpunkt, wann die Anpassung der Sommerpause. erfolgt, sicherlich reden, um hier einen gewissen Aus- (Baum [FDP]: Sehr gut!) gleich zu schaffen. Ich persönlich warne vor der Vor- stellung, wir würden den Angestellten mehr geben, Wir laden die SPD zur Mitarbeit ein. Wir haben kon- weil sie streiken können, und den Beamten weniger krete Formulierungsvorschläge. Ich bin gespannt, ob geben, die nicht streiken können. Sie sich der Mitarbeit entziehen werden oder ob Sie mitwirken werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zweitens. Wir drängen als Fraktion darauf, daß end- Hier darf der bewußte Verzicht auf das Streikrecht lich durch ein Gesetz die Ergänzung des Bundes nicht zur Bestrafung führen. Deswegen lehnen wir Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 839

Johannes Gerster (Mainz) niedrigere Sätze ab. Ich sage das bewußt sehr deut- rens in den meisten europäischen Ländern sehr viel lich. humaner ist, sage ich mal, als das, was wir uns zur Zeit Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang bei al- leisten? lem Respekt vor der Tarifautonomie noch eine kriti- sche Bemerkung anfügen: Ich muß ganz ehrlich sa- gen, daß ich über manche Forderungen und Äuße- Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Den zwei- rungen der Gewerkschaften, was die Tarifauseinan- ten Teil Ihrer Ausführung kann ich nicht bestätigen. dersetzungen angeht, etwas bedrückt bin. Etwas Herr Kollege Hirsch, da Großbritannien im Jahr etwa mehr Solidarität gegenüber den Menschen drüben, 2 500 bis 5 000 Menschen über die eigenen Grenzen deren Einkommen —verglichen mit dem Niveau bei hereinläßt, während wir 200 000 hereinlassen, zeigt uns — noch bei 35% liegt, und im Sinne einer Verbes- das, daß allein die Nichtexistenz einer dem Art. 16 serung der Besoldung in den neuen Bundesländern Abs. 2 vergleichbaren Bestimmung es diesem Land etwas mehr Zurückhaltung im Westen würden auch ermöglicht, in offensichtlich unbegründeten Fällen den Gewerkschaften bei ihren Forderungen gut an- die Betroffenen an der Grenze abzuweisen, was wir stehen. nicht können. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Gewerkschaften haben das Wort „Solidarität" ja Da ich weiß, daß Sie nicht nur ein sehr sachkundiger, aus gutem Grund in ihrem Programm. intelligenter und fleißiger Mann sind, sondern auch ein sehr beweglicher Mann sind, bin ich ganz sicher, (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Neue daß wir uns im Sinne einer besseren Erkenntnis auf- Heimat!) einander zubewegen und eine hervorragende Rege- Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen muß: Wir lung im Sinne der europäischen Harmonisierung ge- müssen den Bundesgrenzschutz endlich zu einer ech- meinsam hinbekommen werden. ten Bundespolizei umbauen. Wir müssen ihn weiter- entwickeln. Wir müssen die Kompetenzen der Bahn- (Dr. Hirsch [FDP]: Es wird mir ein Vergnü gen sein!) polizei und, sofern die Länder das wollen, die Kom- petenzen der Luftsicherheit übertragen. Ich habe da mehr Vertrauen zu Ihnen und Ihren Fä- Natürlich werden wir einer Europäisierung und ei- higkeiten, als Sie vielleicht selbst. Sie werden sich da ner Harmonisierung auf europäischer Ebene beim bestimmt weiterentwickeln. Wir packen das, Herr Asylrecht durchführen. Dies soll, Herr Wartenberg, Hirsch. Glauben Sie mir! unserer Meinung nach mit einer Grundgesetzergän- zung erfolgen. Dabei ist klar — so steht es in der Koali- Dr. Burkhard Hirsch (FDP): Es wird mir ein Vergnü- tionsvereinbarung — : Die europäische Angleichung gen sein, Sie bei einem richtig guten und praktikablen ist angezielt. Asylrecht an meiner Seite zu sehen. Bei der Angleichung gibt es, Herr Kollege Hirsch, nur zwei Möglichkeiten. Entweder übernehmen die anderen unseren Art. 16 Abs. 2, oder wir müssen uns Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Wir ma- den Verhältnissen der anderen anpassen. Hier wer- chen das gemeinsam, Herr Hirsch. den wir auch in der Koalition noch lustige Diskussio- (Beifall des Abg. Dr. Weng [Gerungen] [FDP] nen haben. und bei Abgeordneten der SPD) Wir müssen schließlich das Konzept zur Bekämp- fung der organisierten Kriminalität und insbesondere Ich bin sicher, auch hier wird die Wahrheit siegen. Da können Sie ganz sicher sein. der Rauschgiftkriminalität — Gesetze, die wir bereits- im 11. Deutschen Bundestag eingebracht hatten — Lassen Sie mich zum Schluß zwei weitere Punkte wieder einbringen. Hier bin ich sehr froh. Hier waren nennen. Ich will das ganz knapp machen, weil auch die Koalitionsgespräche sehr konstruktiv und weiter- der Kollege Deres für die Haushaltspolitiker hier noch führend. Hier sollten wir jede Menge Dampf ma- sprechen wird. chen. Natürlich müssen wir dafür sorgen, daß die Arbeit des Bundes und die finanzielle Ausstattung im Sinne Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Gerster, der Wahrung des kulturellen Erbes weiter betrieben gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen wird. Wir begrüßen zunächst einmal die Bereitstel- Dr. Hirsch? lung von 900 Millionen DM, die in die neuen Bundes- länder gehen, um den praktischen Kulturbetrieb auf- recht zu erhalten. Aber selbstverständlich ist es ge- Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Mit großem rade eine originäre Aufgabe des Bundes, die ostdeut- Vergnügen. sche Kulturarbeit zu fördern. Wenn es einen Bereich gibt, wo der Bund neben der Kulturkompetenz der Dr. Burkhard Hirsch (FDP): Lieber Herr Gerster, Sie Länder zuständig ist, dann ist es die ostdeutsche Kul- haben mich mit Ihrer Bemerkung zu Art. 16 provo- turarbeit. Natürlich ist es auch wichtig, die Kultur ziert. Ist Ihnen eigentlich bekannt, daß in fast allen Schlesiens, Ober- und Niederschlesiens, oder der Ge- Asylrechten unserer europäischen Nachbarstaaten biete, die östlich der Oder-Neiße-Grenze liegen, zu ein zweistufiges Verfahren vorgesehen ist und die bewahren. Dies ist Aufgabe auch des Bundestages Möglichkeit des einzelnen Asylbewerbers besteht, und der jeweiligen Bundesregierung, weil dieses kul- gegen eine Ablehnung ein Rechtsmittel einzulegen, turelle Erbe unabhängig von der Frage, wo Grenzen und ist Ihnen bekannt, daß die Praxis des Asylverfah- verlaufen, besteht. Es ist eine bösartige Unterstellung, 840 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Johannes Gerster (Mainz) wenn man dieses Kulturerbe bewahren will, von Re- Das Leben ist zu unterschiedlich, als daß dort die kul- vanchismus zu reden. Das ist zu kurz gesprungen. turelle Substanz in dem notwendigen Maße erhalten (Beifall bei der CDU/CSU) bleiben kann. Schließlich, meine Damen und Herren, werden wir Natürlich sind da viele Aspekte relevant. Es ändern mit Sicherheit in bezug auf den Zivil- und Katastro- sich Wertvorstellungen, was im Augenblick völlig ver- phenschutz in dieser Wahlperiode einiges, gerade in ständlich ist. Die Werteskala des einzelnen setzt neue den neuen Bundesländern und in Ostberlin, auf den Prioritäten. Die ökonomische Lage, die sozialen Be- Weg bringen müssen. Ich bin der Meinung, daß wir findlichkeiten wirken in der Entscheidung „pro oder neben dem Aufbau der Feuerwehren in den neuen contra Kultur" immer gegen die Kultur. Die Finanzen, Bundesländern hier eine entscheidende Zuständig- die für kulturelle Aufgaben zur Verfügung stehen — keit haben, um auch das THW in den neuen Bundes- ob im Bereich der Kommune, ob im Bereich der Ins ti ländern neben anderen Organisationen einzuführen. -tutionen, meinetwegen der Universitäten und Hoch- Ich darf den Kollegen aus den neuen Bundesländern schulen —, reichen nicht aus. sagen — ich weiß auch von drüben, daß es schon ver- Im Augenblick haben wir eine Fülle von Einschrän- schiedene Vereine, Bestrebungen und Bemühungen kungen. auf diesem Gebiet gibt — , daß wir bereit sind, im Rah- men einer Gesamtkonzeption für den zivilen Katastro- (Dr. Blank [CDU/CSU]: Welche Einschrän phenschutz dieses Technische Hilfswerk anzubieten kungen meinen Sie?) und in den neuen Ländern einzurichten. Wenn ich allein an die Praxis der Universität denke, Meine Damen, meine Herren, ich habe nur einige von der ich komme, dann muß ich sagen: Es gibt kaum Punkte sehr stichwortartig genannt. Es gibt mit Si- noch eine Möglichkeit, an dieser Universität in cherheit noch viele andere Punkte zu nennen. Ich bin — — der festen Überzeugung, daß die Innenpolitik in die- (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Wer hat ser Wahlperiode Schwerpunkt unserer gesamten Ge- denn die Leute eingeschlossen? Das waren setzgebungsarbeit sein wird. Riesenherausforderun- doch Sie!) gen werden auf uns zukommen. Ich bin aber fest da- von überzeugt, daß wir diese Herausforderungen ge- Bis in die jüngste Zeit hat es an dieser Universität meinsam bewältigen können. Chöre, Orchester, Kulturgruppen der verschiedensten Art gegeben. Darüber müssen wir sprechen. Ich möchte auch an dieser Stelle sagen: Dabei muß die Solidarität mit den Menschen in den neuen Bun- (Geis [CDU/CSU]: Jetzt verteidigen Sie das desländern Vorrang haben. Ich habe bereits hier an alte Regime! Ich würde mich an Ihrer Stelle dieser Stelle gesagt: Wer schnell hilft, hilft doppelt. schämen!) Wer langsam hilft, zahlt doppelt. Weil das so ist, soll- Sie haben unter den gegebenen Bedingungen kaum ten wir in unser aller Interesse schnell helfen, damit noch Möglichkeiten der Existenz, Möglichkeiten, sich die Menschen neben dem Gefühl der Freiheit, auch zu betätigen, wenn sie überhaupt noch existent das Gefühl der gleichberechtigten Lebenschance in sind. diesem vereinigten Deutschland haben. In diesem Sinne ist die deutsch-deutsche Po litik früherer Jahre (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Lieber ei inzwischen Innenpolitik. Wir werden uns als Fraktion nen Chorleiter als 100 Stasi-Leute!) und Koalition dieser Aufgabe stellen und uns an dem, Darauf muß ich zunächst verweisen: Bis vor kurzem was wir versuchen, in dieser Wahlperiode gesetzge- war das Geld da; jetzt ist es nicht mehr vorhanden. berisch in die Tat umzusetzen, messen lassen. - (Geis [CDU/CSU]: An Ihnen ist der Novem Herr Minister, Sie genießen dabei unsere Unterstüt- ber 1989 vorbeigegangen!) zung und unsere Solidarität — so, wie wir, selbstkri- tisch genug, Sie und Ihre Mitarbeiter wohlwollend Die Funktionsfähigkeit der Länder und der Kommu- begleiten werden, um dieses große Werk zu bewälti- nen durch eine leistungsfähige Verwaltung, durch gen. eine funktionierende Justiz herbeizuführen, ist ein unbedingt zu bejahendes richtiges Postulat. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Blank [CDU/CSU]: Wo war denn eine funktionierende Justiz? Wo in der DDR? In Bautzen? Was Sie da sagen, ist ja wohl eine Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Abge- Unverschämtheit! — Geis [CDU/CSU]: Ha ordnete Dr. Riege. ben Sie da drüben je eine funktionierende Justiz erlebt?) Dr. Gerhard Riege (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Wir brauchen eine Rechtsausbildung, die einer Ver- dent! Meine Damen und Herren! Herr Minister änderung unterliegt, Schäuble hat ein Plädoyer für die unbedingte Erhal- (Dr. Blank [CDU/CSU]: Ein Unrechtsstaat, tung der Kultursubstanz in den Ländern des Beitritts- Terrorjustiz war das!) gebietes gehalten. Das kann ich nur unterstützen. Wir müssen uns aber über die Situation im klaren sein. Im die sich auf die neue Rechtsmaterie der Bundesrepu- Augenblick vollzieht sich gerade auch auf diesem Ge- blik einstellt. Das ist natürlich eine unausweichliche Situation. biet ein solches Maß an Substanzverlust, daß wir be- sorgt sein müssen, es werde nicht nur wenige Jahre Daß auch die Hilfe von Kollegen aus den Juristi- dauern, ehe dieser Prozeß umgekehrt verlaufen wird. schen Fakultäten der alten Bundesländer notwendig Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 841

Dr. Gerhard Riege ist, ist nicht zu bestreiten. Daß diese Hilfe in einem Nach allem, was den Menschen in den fünf neuen nicht unbeträchtlichen Maße auch gegeben wird, ist Bundesländern vor den Wahlen und vor der staatli- zu bejahen. Was ich in diesem Zusammenhang aber chen Vereinigung anmerken muß und als kritikwürdig zu bezeichnen (Zuruf von der CDU/CSU: Das Volk hat sich habe, ist, daß in dem gleichen Prozeß die undifferen- vereinigt!) zierte Ausgrenzung all derjenigen erfolgt, die im aka- demischen Ober- oder Mittelbau bislang an diesen zum Teil sehr schnellippig und vollmundig verspro- Einrichtungen tätig waren. chen wurde, und angesichts dessen, was sich in der Wirklichkeit vollzieht — darüber ist heute schon (Geis [CDU/CSU]: Als Stasi!) mehrfach unter unterschiedlichsten Gesichtspunkten gesprochen worden — , ist eine verbreitete Enttäu- So kann eine Entwicklung nicht erfolgen. schung eingetreten, und Verbitterung weitet sich (Beifall der Abg. Dr. Höll [PDS/Linke Li- aus. ste]) (Zuruf von der CDU/CSU: Wo, bei Ihnen? — Ich halte es auch nicht für richtig, daß wir eine Gegenruf der Abg. Dr. Höll [PDS/Linke Li These kultivieren, die lautet: Wir kommen zu einer ste]: Kommen Sie doch mal nach Leipzig!) neuen Rechtskultur dadurch, daß wir zunächst einmal Es wächst die Entschlossenheit — Leipzig ist dafür nur für nicht ganz kleine Gruppen der Bevölkerung — ein Beispiel —, öffentlich, auf der Straße soziale Si- Mitarbeitern staatlicher Organe, staatlicher Einrich- cherheit, Gleichwertigkeit als deutscher Barger ein- tungen — Gesetzlichkeit de facto außer Kraft setzen. zufordern. Das Konfliktpotential nimmt zu, Das zu dieser Seite. (Zuruf von der CDU/CSU: Wir sollen in sechs (Dr. Blank [CDU/CSU]: Sie sollten das Wort Monaten heilen, was Sie in 40 Jahren kaputt „Recht" überhaupt nicht in den Mund neh- gemacht haben!) men! Peinlich so was!) und es wird neuen Zuwachs erhalten, wenn Null- Kurzarbeit und Warteschleife In einer bestimmten Sphäre betrachte ich den Haus- haltsplan, wie er vorgelegt worden ist, als den Plan (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Das sind eines alten Denkens. doch Ihre Arbeitslosen! Die SED-Arbeitslo sen sind das doch!) (Lachen bei der CDU/CSU) auch formell in das einmünden, was sie der Sache Trotz grundlegend veränderter politischer Situation, nach schon längst sind: Arbeitslosigkeit und zum Teil die sich in dem Zerfall der ehemals sozialistischen Ausgrenzung. Staaten ausdrückt, wird, so scheint mir, von der Bun- (Geis [CDU/CSU]: Wir können in vier Wo desregierung weiterhin an der alten Konzeption der chen nicht 40 Jahre wegräumen! — Gegen inneren Sicherheit festgehalten. Ausdruck dessen ist, ruf des Abg. Dr. Heuer [PDS/Linke Liste]: daß weiterhin beträchtliche Summen in das Bundes- Wo gab es denn da Arbeitslose, mein Herr? amt für Verfassungsschutz, andere geheimdienstliche — Lachen bei der CDU/CSU — Gegenruf Einrichtungen, das Bundesamt für Sicherheit in der von der CDU/CSU: Für Hungerlöhne haben Informationstechnik u. a. gehen. sie gearbeitet! — Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU) (Otto [Frankfurt] [FDP]: Das von Ihnen vor- gehalten zu bekommen, ist ja nun wirklich ein Hammer!) Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- ren, einen Moment bitte! — Ja, ich weiß, wovon ich spreche. - (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Gerhard Riege (PDS/Linke Liste): Ihre Bemer- — Wir erstreben eine Welt ohne Geheimdienste. kungen zur Arbeitslosigkeit in der früheren DDR zei- gen nur, wie weit weg Sie von irgendeiner Kenntnis (Dr. Blank [CDU/CSU]: Das kann ich mir der realen Situation sind. denken!) (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Ihr habt — Ja, das können Sie sich denken. Aus Erfahrungen, die Menschen eingesperrt! — Dr. Hirsch die auch bei uns gesammelt worden sind, wäre ein [FDP]: Wie war sie denn? Erzählen Sie doch Streben für eine Welt ohne Geheimdienste etwas, was mal! — Gegenruf der Abg. Dr. Höll [PDS/ Förderung verdiente. Linke Liste]: Ignoranten!) (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Es geht hier nicht um das Thema „Effektivität der Arbeit". Auch das spielte eine Rolle. Die Realität, die wir hier aus diesem Mate rial ersehen können, ist völlig gegenläufig. Die Situation, die jetzt massenhaft gegeben ist, ist eine qualitativ gänzlich andere und von existentieller Daß es auch anders geht, läßt ja das Beispiel der Bedeutung nicht nur für Hunderttausende. niedersächsischen Landesregierung erkennen, die in (Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Dafür sind Sie diesem Bereich eine be trächtliche Reduktion vorge- verantwortlich! — Zuruf von der CDU/CSU: nommen hat. Aber dafür sind sie frei!) (Otto [Frankfurt] [FDP]: Die wird sich ob des — Mit dieser Aussage machen Sie es sich etwas zu Lobes von dieser Seite schon sehr freuen!) leicht. 842 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Gerhard Riege Die Mitbürger, die dieses kritische Potential, dieses Vizepräsident Hans Klein: Einen Moment, bitte, Konfliktpotential, wie ich sagen möchte, verkörpern, meine Damen und Herren. sind von ökonomischen und sozialen sowie, glaube Herr Dr. Riege, Sie haben Ihre Redezeit bereits weit ich, zunehmend auch von politischen Motiven und überzogen. Bitte beachten Sie doch, daß es do rt ein Erwartungen beherrscht. Es wird — um dies zu sagen, Licht gibt, das Ihnen ein Signal gibt. braucht man kein Prophet zu sein — wahrscheinlich einen heißen Herbst geben. Dr. Gerhard Riege (PDS/Linke Liste): Ich habe es Ich setze den Haushaltskomplex Inneres auch in nicht gesehen, Herr Präsident; entschuldigen Sie Beziehung zu diesen Tendenzen. Der gesamte Appa- bitte. rat, der geeignet ist, Protestbewegungen zu observie- Auf diese Momente möchte ich verweisen und auch ren und niederzuhalten, wird finanziell gut bedacht. darauf, daß nicht wenige Institutionen, die in diesem (Dr. Blank [CDU/CSU]: Reden Sie von der Bereich tätig sind, beträchtliche finanzielle Unterstüt- früheren DDR oder von was? Was man sich zungen erwarten können. Daß es sich dabei nicht nur hier von so einem Stasi-Heini anhören muß! um die Förderung von Volkstänzen handelt, wissen Unglaublich! — Weitere lebhafte Zurufe von wir aus den Debatten in diesem Hause. der CDU/CSU) (Beifall bei der PDS/Linke Liste)

Vizepräsident Hans Klein: Bitte, meine Damen und Vizepräsident Hans Klein: Herr Dr. Riege, Sie sind Herren, lassen Sie den Redner ausreden! Ein paar eine Minute und 33 Sekunden über der Zeit. Zwischenrufe sind in Ordnung. Aber Zwischenrufe in (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Die Zeit, in der einer Häufung, daß er nicht weiterreden kann, sind Sie und Ihresgleichen allein reden durften, nicht in Ordnung. ist vorbei!) (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist ein Das Wort hat Frau Abgeordnete Köppe. Stasi-Bruder! — Dr. Blank [CDU/CSU]: So ein Stasi-Bonze da! — Dr. Höll [PDS/Linke Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident! Liste]: Jetzt bleiben Sie doch einmal sach- Meine Damen und Herren! Ich möchte meine Rede lich! — Köppe [Bündnis 90/GRÜNE] [zur mit einer kleinen Geschichte beginnen, die mir nahe- CDU/CSU-Fraktion gewandt]: Sie sollten geht. Ich hoffe, daß Sie die Bereitschaft finden, dieser doch ganz ruhig bleiben!) Geschichte zuzuhören. Ich kannte einmal einen Mann, der ein stellvertre- tender Regierungschef war. Diesen Mann habe ich Dr. Gerhard Riege (PDS/Linke Liste): Ich finde vor einiger Zeit recht häufig getroffen. Wir saßen uns es schon bemerkenswert, mit welcher — wie mir regelmäßig an einem rechteckigen Tisch schräg ge- scheint — Unverfrorenheit genüber. Neben ihm saß häufig ein weiterer Herr, der (Dr. Blank [CDU/CSU]: Sie hier stehen und eine rotgeränderte B rille trug. Zwischen den beiden hier reden!) — so kann ich mich erinnern — saß eine Frau, die eine hier Diffamierungen ausgesprochen werden. weiße Bluse trug. Diese Frau hat kaum ein Wort zu diesen Unterhaltungen, die da stattfanden, beigetra- (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Mit wem iden- gen. Aber sie war die einzige Frau auf der damaligen tifizieren Sie sich denn? Mit der SED? Ist das Regierungsseite. richtig? Nachfolger der SED!) Eines kalten Tages sagte der Mann zu mir in der Das ehemalige Ministerium für innerdeutsche Be- Mittagspause: „Frau Köppe, ich möchte nicht, daß Sie ziehungen lebt in dem vor uns liegenden Haushalts- frieren. " Da er etwas kleiner war als ich, mußte er sich gesetz fort. emporrecken, um mir seinen kostbar scheinenden (Dr. Hirsch [FDP]: Und was lebt in Ihnen Mantel über die Schultern zu legen. Er blieb stehen, fort?) und ich konnte nichts anderes machen, als ebenfalls stehenzubleiben. Denn wenn ich einfach weiterge- In einem bestimmten Bereich, der nicht frei von revan- gangen wäre, hätte es ja nach Manteldiebstahl ausge- chistischen Momenten ist, sind Finanzmittel vorgese- hen. sehen. Jedenfalls sind wir zusammen essen gegangen und haben uns unterhalten. Ich weiß noch, wir aßen (Zurufe von der CDU/CSU: Wo?) Suppe, und der Mann sagte, wir müßten uns häufiger Da werden für den Haushaltstitel 685 02 — Förderung unterhalten und viel intensiver. Er warnte mich vor der historischen Landeskunde in Mitteldeutschland den politischen Interessen eines anderen noch kleine- sowie politischer und kultureller Arbeit von Flücht- ren Mannes, der mit uns auch immer an diesem recht- lings- und Vertriebenenverbänden — über 5 Millio- eckigen Tisch saß. Aber unser Gespräch zu Mittag nen DM eingesetzt. wurde unterbrochen, und der Mann sagte: „Ich hoffe, (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Na und?) daß wir uns wieder sprechen; wir müssen unbedingt unser Gespräch fortsetzen. " In diesem Titel atmet für mich nicht der Geist einer An dem Tisch, an welchem der Mann mir regelmä- neuen internationalen Beziehung und nicht der Geist ßig gegenübersaß, bekam ich viele B riefe, begeisterte der Entwicklung der staatlichen Beziehungen in Briefe, empörte B riefe, auch B riefe, die mich er- Europa. schreckten. Es war z. B. auch ein Blatt dabei, auf dem (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das müssen nur ein Galgen gemalt war. Ein anderes Mal war unter Sie jetzt einmal erklären, warum nicht!) der Post ein B rief, geschrieben mit Schreibmaschine Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 843

Ingrid Köppe auf sehr dünnem Papier. Dieser Brief berichtete über auf, reinen Tisch zu machen. Beenden Sie die Speku- Kontakte des mir schräg gegenüber sitzenden Man- lationen! — Bitte! nes mit einem Major namens Hasse. Es gab einen (Geis [CDU/CSU]: Eine richtige Bösartigkeit weiteren Brief, der nicht an mich gerichtet war ist das von Ihnen!) (Zuruf von der FDP: Jetzt weiß ich, wen Sie meinen! Das haben Sie im Innenausschuß Wilfried Seibel (CDU/CSU): Gestatten Sie folgende schon einmal gesagt!) Zwischenfrage. Könnten Sie meiner Interpretation Ih- —vielleicht können Sie dennoch zuhören — , der auf res Vortrages zustimmen, daß es sich um eine eiskalte gleichem Papier geschrieben war, mit der gleichen Ehrabschneidung handelt, ohne auch nur einen einzi- Schreibmaschinentype. gen konkreten Beweis für Ihre These zu liefern? (Geis [CDU/CSU]: Sie sollten mal über sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) selbst nachdenken!) (Bündnis 90/GRÜNE) : Nein, dem Dieser Brief berichtete über ähnliche Verbindungen Ingrid Köppe kann ich nicht zustimmen. Es handelt sich vielmehr eines anderen an diesem Tisch sitzenden Advokaten. darum, daß ich Ihnen die Erlebnisse schildern wollte Heute allerdings mögen viele Leute von diesem wei- und daß ich hier öffentlich diese Aufforderung, die ich teren Mann, den zwei Monate später seine Vergan- leider gestern nicht persönlich aussprechen konnte, genheit eingeholt hat, am liebsten nichts mehr wissen. vortragen wollte. Ich meine, daß Herr de Maizière Doch dies nur nebenbei. endlich in der Öffentlichkeit Stellung zu diesem Seit ich diesen B rief erhielt, sind inzwischen ein Thema beziehen muß. Jahr und zwei Monate vergangen, und ich habe diese (Zuruf von der CDU/CSU: Daß er mit Ihnen Angelegenheit intensiv verfolgt wie viele andere auch beim Essen war?) — wie z. B. ganz speziell Vera Wollenberger, die ebenfalls ihre Erfahrungen mit diesem Mann gemacht —Lassen Sie mich doch ausreden! — Es gibt sehr viele hat, noch andere Erfahrungen als ich. Fragen, die da offen sind. Ich denke, daß es wichtig wäre, sie zu klären. Ich würde jetzt gerne in meinem Gestern wollte ich auf das Angebot des Mannes Text fortfahren. zurückkommen, daß wir im Gespräch bleiben sollten und daß er jederzeit bereit sei, mit mir zu sprechen. Ich (Zurufe von der CDU/CSU: Mit Ihnen würde suchte von mir aus wegen dringender Gründe das ich auch nicht reden! — 14 Monate haben Sie Gespräch mit ihm. In seinem Büro weigerte sich sein für das Gespräch gebraucht!) Sekretär jedoch, meinen Anruf zu dem Mann über- — Aber nein! Nein, so ist es nicht. Ich könnte die haupt nur durchzustellen. Er fragte lediglich nach Geschichte natürlich noch ausweiten. meiner Telefonnummer und versprach einen Rückruf. (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Bitte sagen Später rief er dann auch zurück und teilte mir mit, daß Sie, was Sie ihm konkret vorwerfen? Was dieser Mann jetzt kein Interesse mehr habe, mit mir zu wissen Sie? — Weiterer Zuruf von der CDU/ sprechen, und daß ich mich in der Angelegenheit an CSU: Was werfen Sie ihm vor?) die wirklich zuständigen Stellen wenden sollte. Das — Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, dann mußte ich dann so hinnehmen. melden Sie sich. — Darum bitte ich heute nicht nur Ich will Ihnen noch erzählen, was ich von dem Mann Herrn de Maizière, sondern auch alle anderen Kollegen wollte. Ich wollte den Mann gern fragen, wie er sich und Kolleginnen, die ähnliche Kontakte hatten — — fühlt, wo gerade zwei Mitarbeiter des Sonderbeauf- tragten Gauck entlassen worden sind, weil es ihnen so Vizepräsident Hans Klein: Frau Köppe, Sie haben wichtig war, die Fakten über diesen Mann bekannt- - einer Zwischenfrage bereits zugestimmt? zumachen, die Fakten, die er selbst bisher weder be- kanntgemacht hat noch zu denen er ausreichend Stel- Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Ja. lung bezogen hat. Ich hätte ihn fragen wollen, warum er einer Überprüfung durch die Bundestagspräsiden- Bitte, Herr Kollege tin bisher noch nicht zugestimmt hat, um die vielen Vizepräsident Hans Klein: Fragen nach seinen Verbindungen zur Staatssicher- Gerster. heit zu beenden, zumal diese Fragen ja bisweilen auch den eigenen Arbeitsplatz kosten können, wie wir Johannes Gerster (Mainz) (CDU/CSU): Frau Kolle- jetzt gesehen haben. gin, ich unterstelle, daß Sie wissen, daß der Ange- klagte selbst in einem Prozeß so lange als unschuldig (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Sie ver- gilt, bis er rechtskräftig verurteilt ist. Können Sie mir packen Bösartigkeit sehr intelligent!) bitte sagen, was Sie glauben, Herrn de Maizière kon- Ich stelle diese Fragen heute von hier aus noch ein- kret vorwerfen zu können? Was wissen Sie konkret, mal. was können Sie ihm vorwerfen, wenn Sie über ihn hier so urteilen? Frau Kollegin, gestatten Vizepräsident Hans Klein: Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Ich weiß wahr- Sie eine Zwischenfrage? scheinlich nicht viel mehr als Sie. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Ehrab Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Ich beende den schneidung, was Sie hier machen! — Weite Satz noch. — Herr de Maizière, auch wenn Sie heute rer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist eine nicht mehr mit mir sprechen wollen, fordere ich Sie üble Verleumdung!) 844 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Ingrid Köppe — Lassen Sie mich bitte ausreden. — Aber ich denke, Zu der Regelung, die für die Staatsakten gefunden daß es sehr viele offene Fragen gibt, zu denen sich werden muß: Für mich zählen dazu nicht nur die SED- Herr de Maizière nicht geäußert hat. Akten, sondern auch die Akten der anderen Blockpar- (Zuruf von der CDU/CSU: Nicht, was Sie teien. Ich denke, es reicht nicht aus, diese Akten unter denken!) Verschluß zu halten, sie vielleicht dem Bundesarchiv unterzuordnen. Vielmehr müssen wir da eine Lösung Ich nenne nur ein Beispiel — das geht hoffentlich finden, die natürlich auch Forschung möglich nicht von meiner Zeit ab — : Herr de Maizière hat macht. geäußert, er möchte Major Hasse gegenübergestellt werden, er kenne keinen Major Hasse. Im Bericht des Ich möchte weiter über Sicherheit des Staates, aber BMI, den wir jetzt vorliegen haben, steht, daß Major zunächst über Unsicherheit der Bürgerinnen und Bür- Hasse zu Herrn de Maizière durchaus Kontakt hatte. ger sprechen, besonders der im Osten Deutschlands. Und ich frage mich: Warum kennt Herr de Maizière Von der unzureichenden Finanzausstattung der fünf dann nicht Herrn Major Hasse? Das ist eine der Fra- neuen Bundesländer war hier ja schon die Rede. gen, und ich möchte es dabei bewenden lassen. Wir (Dr. Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Hören können im Innenausschuß gern ausführlicher darüber Sie auf, das ist doch schon geregelt!) sprechen. Kaum gesprochen wurde dabei über die zunehmende (Geis [CDU/CSU]: Wo liegt denn da der Vor- Armut und die Existenzsorgen der Menschen. Ich wurf? — Weitere Zurufe von der CDU/ nenne hierfür nur beispielhaft die hohen Quoten offe- CSU) ner und verdeckter Arbeitslosigkeit. Dazu waren Sie gestern nicht bereit. Und ich möchte Es scheint, daß seitens der Verantwortlichen ein Sie daran erinnern, daß ich im Innenausschuß einen Anstieg der Proteste gegen diese Entwicklung im Antrag gestellt habe, daß uns der Bericht der Recher- Osten erwartet wird. Aus dem Haushaltsentwurf der che-Kommission der Gauck-Behörde dort vorgelegt Bundesregierung kann ich leider nicht die Absicht wird, so daß wir ihn dann mit dem Bericht des BMI erkennen, dieser Entwicklung mit angemessenen vergleichen können. Die Antwort des Innenministers Mitteln entgegenzuwirken oder eine soziale Absiche- darauf war, es gebe nicht zwei Berichte, sondern nur rung der Bürger und Bürgerinnen im nötigen Umfang einen Bericht. Im Bericht des Innenministers steht wiederherzustellen. Vielmehr deuten die Finanzan- aber, daß sein Bericht auf diesem anderen „Bericht" sätze darauf hin, daß diese sozialen Verwerfungen des Sonderbeauftragten fußt. Damit möchte ich es hier vorrangig als Bedrohung der Sicherheit des Staates bewenden lassen. angesehen werden, der mit einer Erhöhung und Ver- (Lintner [CDU/CSU]: Üble Mache, die Sie besserung polizeilicher Kapazitäten begegnet werden hier betreiben! — Abg. Gerster [Mainz] soll. [CDU/CSU] meldet sich zu einer weiteren Für diesen sich aufdrängenden Eindruck möchte Zwischenfrage) ich nur einige wenige Beispiele nennen. Ich frage Sie: Ist es richtig, daß der Haushaltsansatz des Innenmini- Vizepräsident Hans Klein: Sie wollen keine Zwi- steriums die dritthöchste Steigerungsquote aller Etats schenfrage mehr zulassen? aufweist und daß in diesem Etat die Mehransätze für die innere Sicherheit gegenüber 1990 mit am höch- sten sind? Ist es richtig und angemessen, daß die Ko- Ingrid Köppe (Bündnis 90/GRÜNE): Nein, jetzt sten für den Bundesgrenzschutz im Innenetat den nicht mehr. größten Umfang haben sollen und mit 30 % eine der (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sehr schade! höchsten Steigerungsraten — neben den neu aufge- — Geis [CDU/CSU]: Das sagt alles!) nommenen Kapiteln — haben? Ist es angebracht, für den Bundesgrenzschutz mehr auszugeben als für die Ich denke, daß Sie ausreichend Möglichkeit dazu hat- Belange der Vertriebenen, Flüchtlinge, Aus- und ten. Übersiedler zusammen, mehr als für die gesamte Kul- Warum habe ich diese lange Geschichte zu Beginn turförderung des Bundes, bei dreimal höherer Steige- dieser Haushaltsdebatte erzählt? rungsrate? Ist es angemessen, für diese Polizei des (Geis [CDU/CSU]: Eine fiese Geschichte!) Bundes mehr auszugeben als für die gesamte Woh- nungsbauförderung, mehr als für die Förderung von Ich denke, sie zeigt, welche Auswirkungen die Staats- Eisenbahn und öffentlichem Personennahverkehr? sicherheit bis heute hat. Und ist es angemessen, für die Bereitschaftspolizei Zur Regelung des Umgangs mit den Stasi-Akten doppelt so hohe Zuschüsse zu gewähren wie für Dro- sagte Herr Gerster vorhin, er würde die SPD gern zu genmodellprogramme? Weiter: Ist es begreifbar, daß Gesprächen darüber einladen. Ich kann mich erin- die Bundesregierung für Polizei und Bundesgrenz- nern: Ursprünglich stand in der Koalitionsvereinba- schutz mehr aufwenden will als für die gesamte Ju- rung, es sollten Gespräche sowohl mit der SPD als gendhilfe? auch mit dem Bündnis 90 geführt werden. Kann mir jemand erklären, warum für die Beschaf- (Lintner [CDU/CSU]: Sie disqualifizieren fung von Panzerwagen und Wasserwerfern für die sich doch selbst! Sie betreiben doch öffentli- Polizei höhere Ausgaben sinnvoll sein sollen als für che Verurteilung, bevor der Sachverhalt Denkmalschutz und Theaterförderung zusammen? überhaupt aufgeklärt ist!) Stimmt es, daß ein einziger Wasserwerfer mehr kosten Wir würden unsere Ideen dazu nach wie vor gern ein- soll, als für die gesamte seelsorge rische Betreuung bringen. und berufsethische Erziehung der über 20 000 Grenz- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 845

Ingrid Köppe Schützer aufgewendet werden soll? Ist es richtig, daß Menschen wichtig, und es ist ein Bereich, der bei der für die Berufsförderung und Bildungsmaßnahmen im Innenpolitik dann als eigenes Ressort mit dazuge- Bundesgrenzschutz nur halb so viel ausgegeben wer- hört. den soll, wie ein einziger Panzerwagen dort kostet? Ich zähle dazu jetzt gleich die markantesten Punkte Und stimmt es tatsächlich, daß die Bundesregierung auf: Erstens. Das bereits überall angekündigte Hoch- verantworten will, daß für Nachrichtendienste und schulsonderprogramm — — das Bundeskriminalamt allein mehr Geld bereitzustel- (Unruhe) len ist als für Berufs-, Aus- und Fortbildung sowie Umschulung, wobei diese doch gerade für die Quali- — Herr Präsident, wäre es vielleicht möglich, für et- fizierung der Arbeitnehmer im Osten sehr wichtig was Ruhe zu sorgen, damit man einige Zuhörer ge- wäre? winnen kann? Viele dieser Haushaltsansätze und deren Relation zueinander kann ich angesichts der Lage der Men- schen beim besten Willen nicht nachvollziehen. Ich Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- denke, es geht vielen Menschen so. Ich hoffe, die Bun- ren, keine Seite des Hauses braucht sich in dem Zu- desregierung wird dies in den weiteren Beratungen sammenhang über die andere zu überheben. Eine erklären und Antworten auf einige dieser Fragen ge- muntere Debatte ist eine Sache, aber Privatgespräche ben können. im Plenarsaal, die die Rednerin stören, sind eine an- dere. Die Privatgespräche halte ich für schlicht unhöf- Ich danke Ihnen. lich, nicht nur weil das gegen die Geschäftsordnung (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der verstößt. PDS/Linke Liste und der SPD — Gerster Ich bitte Sie also, der Rednerin zuzuhören oder, [Mainz] [CDU/CSU]: Das war an Naivität wenn Sie wichtige Dinge zu besprechen haben, das nicht zu überbieten!) vor der Tür zu tun.

Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- ren, bevor ich der Abgeordneten Frau Odendahl das Doris Odendahl (SPD): Erstens. Das überall ange- Wort gebe, erlauben Sie mir eine Bemerkung. Es ist kündigte Hochschulsonderprogramm III mit einem hier, eingeführt vom Kollegen Wartenberg, jetzt in auch schon angekündigten Finanzrahmen von einer besonderen Weise fortgesetzt von Frau Köppe, 300 Millionen DM für die Hochschulen der neuen angeklungen in anderer Weise bei Herrn Riege, plötz- Bundesländer ist im Haushalt nicht zu finden. lich mit Andeutungen auf einen Kollegen, die eine Zweitens. Ein Programm zur Sicherung der berufli- Menge Unterstellungen zumindest antickten, operiert chen Bildung in den neuen Ländern ist nicht vorgese- worden. hen. Das hat sich dann erhitzt. Dann sind Zwischenrufe Drittens. Der Bildungsminister trägt in keiner Weise gekommen, die unter normalen Umständen rügens- der Tatsache Rechnung, daß nach zuverlässigen Pro- wert gewesen wären. Ich finde, meine Damen und gnosen der Kultusministerkonferenz die Schülerzah- Herren, wir sollten denen, über deren Opfer wir spre- len in den 90er Jahren erneut um 14 % anwachsen und chen und wo wir zum Teil bis heute nicht erkennen auch die Zahlen der Studienanfänger und Studieren- können, wo Opfer und Täter und Täter und Opfer den an deutschen Hochschulen voraussichtlich bis zu identisch waren, nicht nachträglich den Gefallen er- 24 To über den bisherigen Zahlen liegen werden. weisen, in diesem Hause in dieser Art mit solchen sen- In allen Bereichen, in denen der Bund Verantwor- siblen menschlichen Themen umzugehen. tung trägt, also insbesondere bei den Hochschulen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei der Ausbildungsförderung und ganz besonders Das Wort hat Frau Abgeordnete Odendahl. bei der beruflichen Bildung, werden deutlich höhere Investitionen notwendig sein. Der Bundeshaushalt zieht aus dieser Erkenntnis keinerlei Konsequenzen. Doris Odendahl (SPD): Herr Präsident! Meine Da- Vor 14 Tagen hat sich der Deutsche Bundestag in men und Herren! Es wurde über vieles geredet, auch einer Aktuellen Stunde mit der Haltung der Bundes- über Kultur. Etwas ist noch nicht zur Sprache gekom- regierung zur Ausbildungssituation in den neuen men, und das will ich jetzt ansprechen. Es ist der Bundesländern befaßt. Unsere Kolleginnen und Kol- Bereich Bildung, der für die Menschen hier bei uns legen haben eindringlich die katastrophale Ausbil- und in den neuen Ländern dazu von besonderer Wich- dungssituation in unseren neuen Ländern geschildert. tigkeit ist. Auch aus den ostdeutschen Bildungsministerien, aus Der vorgelegte Haushalt des Bundesministers für Berufsschulen und aus Kreisen der Wirtschaft wird auf Bildung und Wissenschaft mit einer Steigerung von den drohenden Zusammenbruch der Berufsbildung 46 % oder 1,6 Milliarden DM könnte als ein Papier des hingewiesen. guten Willens bezeichnet werden, wenn es nicht ge- Die Entwicklung in der beruflichen Bildung, die in rade in den Bereichen, in denen es am meisten brennt, diesem Jahr 140 000 Jugendliche ohne große Erfolgs- gravierende Lücken aufweisen würde. Somit ist die- aussichten auf Lehrstellensuche schicken wird, ist ses sogenannte „Papier des guten Willens" auch vorauszusehen. Mit dem zunehmenden wirtschaftli- gleichzeitig ein Dokument des fehlenden Handelns. chen Zusammenbruch in den neuen Ländern ver- Ich weiß, liebe Kollegen Sie fragen jetzt: Was hat schlimmert sich auch die Situation der Auszubilden- das denn alles mit Innenpolitik zu tun? Es ist für die den, vor allem derjenigen, die nun ohne Ausbildungs- 846 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Doris Odendahl platz dastehen und ihre Ausbildung abbrechen müs- Wenn die Bundesregierung nun nach langem sen. Scharren und Suchen die von der SPD bereits seit lan- gem vorgeschlagenen Es ist allerhöchste Zeit, die nötigen Mittel bereitzu- Beschäftigungsgesellschaften stellen, um eine Ausbildungsstruktur in den neuen als richtigen Weg aus der Wirtschaftsk rise in den Ländern zu schaffen, die den Anforderungen des Be- neuen Bundesländern entdeckt, so hat sie nur einen rufsbildungsgesetzes genügt. Es ist pure Augenwi- Teil des SPD-Vorschlags aufgegriffen. Untrennbar mit scherei, ein paar spärliche Haushaltsmittel für Modell- den Beschäftigungsgesellschaften verbunden sind versuche einzustellen und so zu tun, als ob wieder Qualifizierungsgesellschaften, in denen Erstausbil- einmal die heilenden Kräfte des Marktes — sprich, die dung und Weiterbildung ermöglicht werden. Hier ist der Bildungsminister gefragt. Nur, meine Damen und Wirtschaft, die es in den neuen Ländern in dieser Herren, viele fragen ihn, und niemand antwortet. Funktion noch gar nicht gibt — den Aufbau und die Sicherung der beruflichen Ausbildung besorgen In besonders starkem Maße sind Frauen und junge könnten. Modellversuche müssen inhaltlich in ein Mädchen von der derzeitigen Beschäftigungs- und Programm eingebettet sein und dann auch vom Um- Ausbildungsmisere in den neuen Ländern betroffen. fang her so ausgestattet werden, daß sie überall grei- Wir kennen ihre benachteiligte Situation aus der Bun- fen können. desrepublik und den langen und mühsamen Weg, der Ebenso wenig geeignet, den mindestens 140 000 herausführt. einen Ausbildungsplatz suchenden Jugendlichen Durch die verschiedenen gegen Frauen gerichteten eine gute, zukunftsorientierte Ausbildung zu sichern, Maßnahmen der Einsparung sozialer Leistungen sind sind die Mittel, die für überbetriebliche Ausbildungs- Frauen nicht frei, über ihre berufliche Zukunft zu ent- stätten zur Verfügung stehen. scheiden. Wenn Kinderbetreuung fehlt, kann eine Beim Vergleich mit diesem Haushaltsansatz erin- entlassene Frau für Umschulungsmaßnahmen nicht nere ich an das noch laufende gemeinsame Programm zur Verfügung stehen. Sie fällt also aus dem Arbeits- des Bundes mit dem Land Nordrhein-Westfalen zur prozeß für lange Zeit heraus. Ausbildungssicherung in den Stahlorten. Wenn Sie Es ist schon fast purer Hohn, wenn im Bildungs- das auf die neuen Bundesländer umrechnen, wird bei haushalt bei der beruflichen Bildung auf AFG-Maß- diesem Haushaltstitel wieder ein Schuh daraus. nahmen verwiesen wird, aber keine besonderen Maß- Wenn nun die Bundesregierung versucht sein sollte, nahmen für Frauen vorgesehen sind, die ihnen eine von der sich abzeichnenden Ausbildungsnot in den Erstausbildung oder Weiterbildung unter den er- neuen Ländern dadurch abzulenken, daß sie auf die schwerten Bedingungen ermöglichen. So findet man unbesetzten Ausbildungsplätze in verschiedenen Re- auf der Liste der Umschulungsmaßnahmen folgerich- gionen der bisherigen Länder verweist, so lassen Sie tig denn auch eine reine Männergesellschaft. Diese sich sagen: Sie können nicht in den nächsten Jahren Erfahrungen müssen auch die Frauen machen, die ganze Jahrgänge von Schulabgängern quer durch bisher im Hochschulbereich beschäftigt waren. Auch Deutschland karren und diesen jungen Menschen da- hier trifft sie die Umstrukturierung und die personelle mit die Heimat wegnehmen, die sie ja mit aufbauen Umgestaltung besonders ha rt, ohne daß der Haushalt und neu gestalten wollen. hierauf eingeht. Für die berufliche Bildung brauchen wir ein Sofort- Die Lage der Hochschulen in den neuen Ländern programm, das der Bund gemeinsam mit den neuen bietet kein erfreulicheres Bild als die Lage in der be- Ländern vorbereiten und finanzieren muß. Solch ein ruflichen Bildung. Ich habe vorher das dringend Sofortprogramm müßte im einzelnen eine ganze notwendige 300-Millionen-DM-Programm angespro- Reihe von Maßnahmen vorsehen, wobei wir auch chen, das zwar angekündigt, aber im Haushalt nicht gerne mitarbeiten. vorhanden ist. Bei den Ausbildungsplätzen, meine Damen und Meine Damen und Herren, die Länder können den Herren, spielt auch die Treuhand und spielen die bis Aufbau der Bildungslandschaft in den neuen Ländern heute ungeklärten Eigentums- und Vermögensfragen auf dem Niveau, das wir für die Bundesrepublik bean- eine entscheidende Rolle. Die über 9 000 Anträge auf spruchen, aus eigener Kraft nicht leisten. Die Herstel- Rückgabe von Unternehmen führen dazu, daß auch lung gleicher Lebensverhältnisse ist Bundesaufgabe. an sich überlebensfähige Unternehmen zugrunde ge- Dieser Aufgabe sind sowohl der Bildungsminister Ort- hen, weil sie nicht schnell genug an geeignete Inve- leb als auch der Finanzminister Waigel verpflichtet. storen übertragen werden können. Ich führe das hier Auch die Verantwortung, die der Bund für den Bil- an, weil damit gleichzeitig viele Ausbildungsplätze dungsbereich in den westlichen Ländern erkennen und schon bestehende Ausbildungsverträge zerstört läßt, zeigt immer klaffender werdende Lücken. Wenn werden. Diese Fehler müssen schnell und grundle- ich heute in meiner Rede vorrangig auf die Bildungs- gend korrigiert werden. Investitionen und damit auch situation in den neuen Ländern eingegangen bin, so Investitionen in Ausbildung müssen Vorrang vor deshalb, weil dort der Bedarf an Bildungsinvestitionen Rückgabe haben. aus Bundesmitteln überlebensnotwendig ist. Ohne so- Der Bereich Ausbildung ist bisher in der Treuhand fort greifende Programme bei der beruflichen Bildung fast überhaupt nicht beachtet worden. Die Pflicht des und für die Hochschulen laufen wir Gefahr, in der Bil- Staates ist es, über die Treuhand nicht nur Firmen zu dung einen Zweiklassenstaat zu bekommen. Die Aus- verhökern, sondern den neuen Besitzern mit der Ver- wirkungen wären verheerend. Wir würden nicht nur antwortung für die Arbeitsplätze auch die Verantwor- hier gut ausgebildete und dort schlecht ausgebildete tung für Ausbildungsplätze aufzuerlegen. junge Menschen haben, sondern wir würden denen, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 847

Doris Odendahl die ihre Länder nun aufbauen und gestalten wollen, Schwierigkeiten haben, einen geeigneten Rechtsan- das dafür notwendige Fundament verweigern. walt zu finden, wenn es generell an ausreichend ko Meine Damen und Herren von der Regierungsko- petenten Richtern und Staatsanwälten fehlt, wenn ein alition, getäuscht haben Sie schon genug, enttäu- Eintragungsantrag für eine GmbH beim Registerge- schen Sie nicht jetzt die, die in Zukunft unseren Staat richt nicht unter vier Monaten zu haben ist und wenn gestalten sollen. Arbeitnehmer von alten Stasi-Seilschaften mit dem zynischen Hinweis entlassen werden, die Arbeitsge- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ richte funktionierten ja doch nicht, und wenn Rehabi- GRÜNE) litierungsanträge deshalb erledigt werden, weil schon ältere Antragsteller — und das ist wohl etwas fatal für Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- uns alle — wegen Stillstandes der Rechtspflege ver- ren, ich habe noch den Kollegen Deres auf der Red- sterben, dann ist die Resignation wahrhaftig nicht nerliste, der aber offensichtlich nicht im Saal ist. — weit, dann kommt der Glaube an den Rechtsstaat ins Dann schließen wir diesen Komplex ab. Wanken, ja, es verbittert. Ich erteile das Wort dem Abgeordneten de With. Herr Minister Kinkel, Sie wissen, was ich damit an- sprechen will: Von den 40 erledigten Rehabilitie- (SPD): Herr Präsident! Meine sehr Dr. Hans de With rungssachen in Sachsen sind eine ganze Menge Fälle verehrten Damen und Herren! Gemessen an den übri- erledigt, nur weil die zu Rehabilitierenden verstorben gen Ausgaben des Bundes fällt der Haushalt des Bun- sind. Eine makabre Sache für uns alle, aber erst recht desministers der Justiz normalerweise weder ins Ge- für die Betroffenen und ihre Familien! wicht noch in seinen Positionen auf. Umstritten sind meist nur Rechtspositionen. Ins Gewicht fällt der Ju- Vor 14 Tagen konnten wir von diesen 120,5 Millio- stizhaushalt im Vergleich zu den Riesenausgaben des nen DM im Justizhaushalt noch nirgendwo etwas le- Bundes ebensowenig wie bisher. sen. Und obwohl seit der Wiedervereinigung etwas Aber er fällt auf durch Aufgaben, die es bisher nie mehr als sechs Monate verstrichen sind, begrüßen wir gab. Er stellt 120,5 Millionen DM zum Aufbau der diesen Erfolg des Justizministers. Was Recht ist, muß Justiz in den neuen Ländern bereit, und damit ist die Recht bleiben, und wir sind selbstbewußt genug, dies zur Zeit wichtigste Aufgabe aller Justizpolitik bereits auch so zu handhaben. umrissen. — Herr Präsident, ich kann ja verstehen, daß es hier (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) viele Privatunterhaltungen gibt, auch von denen, die Wir möchten allerdings auch nicht, daß dabei unser normalerweise mit der Justiz beschäftigt sind. Aber Licht ganz unter dem Scheffel bleibt; denn wir waren sehr angenehm ist das für die, die hier oben sitzen, ständige Mahner schon zu einer Zeit, als man allent- ganz oben auf der halben Treppe, wohl doch nicht! halben noch glaubte, es genüge allein, wenn die Wirt- schaft dies aufgreife. Mittlerweile sind wir ja klüger Vizepräsident Hans Klein: Also, Herr Kollege, dies geworden. Wir wissen um die Kompetenzschwierig- war eine relativ moderate Atmosphäre. Es war heute keiten mit den Ländern. Wir wissen auch die Anstren- schon einmal lauter und auch schon schwieriger, und gungen der einzelnen Länder sehr zu schätzen. ein bißchen kann sich der Redner ja wohl selbst durch- setzen. Wenn es zu laut wird, greife ich schon ein. Wir haben aber auch schon seit geraumer Zeit den (Zuruf von der CDU/CSU: Es zwingt ihn ja Aufbau der Justiz in den neuen Ländern als gesamt- niemand zu reden!) staatliche Aufgabe betrachtet und deshalb eine Ge- m-samtanstrengung gefordert, damit endlich ein Signal gesetzt wird, damit langfristig gedacht und damit von Dr. Hans de With (SPD): Ich habe mir nur eine sanfte einer Hand koordiniert werden kann, damit sich drü- Mahnung gestattet. Ich weiß, daß wir heute im Rechts- ben wirklich etwas bewegt. Ich sehe, es gibt immer ausschuß viel heftiger und lange gestritten haben. Wir noch gewisse Schwierigkeiten, die nicht von der Hand haben uns fast geeinigt. Deswegen, meine ich, sollte zu weisen sind. ein Rest an Solidarität bleiben, damit wir hier zuhören und erwidern können. Ich will nicht den Forderungskatalog von uns Sozi- (Geis [CDU/CSU]: Ihnen hören wir immer aldemokraten wiederholen. Sie kennen ihn. Wir ha- gern zu!) ben ihn bei der letzten Debatte hier in der vorigen — Das ist nett. Sitzungswoche aufgestellt. Aber, Herr Minister, ich frage erneut: Was tut der Bundesminister der Justiz, Herr Kinkel, was tun die Länder, was können wir tun, um den Erstens. Haben sich die Justizminister endlich auf Rechtsstaat in den neuen Ländern möglichst bald in feste Quoten geeinigt, nach denen Richter, Staatsan- volle Funktion zu bringen? Mittlerweile hat sich ja wälte und auch Rechtspfleger in die neuen Länder allenthalben die späte Erkenntnis — immerhin die Er- rasch und in ausreichender Zahl entsandt werden kenntnis — durchgesetzt, daß neben Geld und einer können? funktionierenden Verwaltung auch die Gewährung von Rechtsstaatlichkeit und deren Funktionieren zum Zweitens. Ist dafür Sorge getragen, daß in Verwal- Wiederaufbau zwingend, ja, unabdingbar ist. Wenn tungssachen — ich betone: Verwaltungssachen — Rechtsuchende bei Gericht keinen Rechtsrat finden, rasch judiziert werden kann, was wegen der Rück- weil Rechtspfleger nicht vorhanden sind, wenn diesel- gabe und Entschädigung von Unternehmen und ben Rechtsuchenden, falls sie willens sind, zu zahlen, Grundstücken dringend erforderlich ist? Bei den Bera- 848 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Hans de With tungen vorgestern bzw. auch noch heute — es waren Ich darf die Bundesregierung deshalb an die Große Sondersitzungen des Rechtsausschusses — Anfrage der Sozialdemokraten zur Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechtsstaates erinnern. Hier (Geis [CDU/CSU]: Wir haben nur noch Son- sollte über die Parteigrenzen hinweg sofort gehandelt dersitzungen!) werden, damit auch bejahrte Opfer noch die Chance waren wir über alle Parteigrenzen hinweg einig, daß der Rehabilitierung erhalten. eine Prozeßwelle über uns hereinbrechen kann und in Herr Präsident, ich habe etwas innegehalten. Ich Verwaltung und Justiz hierfür rechtzeitig Sorge ge- dachte, mir stünden 15 Minuten Zeit zur Verfügung. troffen werden muß. Ist das ein Irrtum, oder wie steht es? Drittens. Hat sich die Bundesregierung endlich überlegt, welche obersten Gerichte in den neuen Vizepräsident Hans Klein: Das muß ein starker Irr- Ländern installiert werden sollen? Das kann nicht auf tum sein. Ihre Fraktion hat für Sie zehn Minuten ge- die lange Bank geschoben werden. Das kann nicht meldet. ausgesessen werden. Hier kann und muß bald ein Signal gesetzt werden. (Vizepräsident Klein verhandelt mit den Schriftführern) Ich habe hier an diesem Ort in der letzten von mir Ihre Redezeit ist auf 15 Minuten erhöht. gerade erwähnten Debatte für mich erklärt — ich wie- derhole es — , daß der Umzug des Bundesverfassungs- gerichts nach Weimar ein solches Signal wäre. Ich Dr. Hans de With (SPD): Ich bedanke mich sehr, kann hierzu bisher nur von einem positiven Echo spre- Herr Präsident. chen, von Zuschriften von den Medien bis hin zum Ich kann dem Bundesminister der Justiz nur sagen: Oberbürgermeister von Weimar. Aber vom Bundes- Er wird uns immer an seiner Seite finden, wenn es minister der Justiz habe ich damals in der Debatte darum geht, den Rechtsstaat in den neuen Ländern — er hat nach mir gesprochen — nichts gehört. Bis aufzubauen, und er wird unsere Unterstützung haben, heute haben Sie sich ausgeschwiegen. damit für Rechtsgewährung gesorgt wird. Ich meine, wir müssen uns wirklich einmal entschei- Aber über all die schwierigen Aufgaben zur Her- den. Bisher ist, was oberste Gremien anlangt, über- stellung und Gewährung von Rechtsstaatlichkeit in haupt noch nichts geschehen. Wie sollen wir drüben der vormaligen DDR dürfen wir die generellen Mut machen, wenn sich die Bundesregierung und die Rechtsdinge nicht aus dem Auge verlieren. Hier gibt sie tragenden Koalitionsfraktionen — ich sage es vor- es einiges an- und auch aufzugreifen. sichtig — so zurückhalten oder drücken? Da hat sich das Bundesverfassungsgericht vor weni- Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch am gen Tagen mit der Gelegenheit zur Äußerung bis zum 6. September 1990 hat das erste frei gewählte Parla- 1. April mit folgenden Worten an die Bundesregie- ment der ehemaligen DDR das Rehabilierungsgesetz rung gewandt — ich zitiere — : verabschiedet: ein anderes Thema. Dieses Gesetz Im Hinblick auf die Entscheidungen des — ich darf das hier einmal sagen — schaffte die Bundesverfassungsgerichts 33/1 und 40/276, Grundlage für die Rehabilitierung und Entschädigung wonach Eingriffe in Grundrechte von Straf- aller Personen, die in der 40jährigen Geschichte des gefangenen einer gesetzlichen Grundlage SED-Unrechtsstaates Opfer einer politisch motivier- bedürfen, sowie im Hinblick auf die verfas- ten Strafverfolgungsmaßnahme oder einer sonstigen sungsrechtlichen Bedenken in Rechtspre- rechtsstaatswidrigen Entscheidung geworden waren. chung und Literatur wird um Stellungnahme Das Leben ungezählter Menschen war zerstört wor- gebeten, warum die Arbeiten an einem Ju- den, nur weil sie verfassungsmäßige und auch politi- gendstrafvollzugsgesetz noch immer nicht sche Grund- und Menschenrechte wahrgenommen beendet worden sind. hatten. Sie waren strafrechtlich verfolgt und einer Das bedeutet in meinen Augen nichts anderes als die Willkürjustiz ausgeliefert worden. Im öffentlichen deutliche Mahnung an die Bundesregierung, endlich Dienst und in den volkseigenen Bet rieben waren viele Grundlagen zu schaffen, damit die Inhaftierung Ju- Menschen entlassen und diskriminiert worden. Nach gendlicher auf Grund eines Jugendstrafvollzugsge- dem Einigungsvertrag aber bleiben von diesen Reha- setzes — meinethalben auch im JGG — erfolgt. Wir bilitierungsbestimmungen nach dem Beitritt nur die Sozialdemokraten hatten dies zuletzt mit unserem An- Regeln in Kraft, die die strafrechtliche Rehabilitie rung trag von 28. Juni 1989 angemahnt. zum Ziel haben. Erinnert sei daran, daß der damalige Bundesmini- Für uns gibt es deswegen, meine ich, eine doppelte ster der Justiz, Hans-Jochen Vogel, sage und schreibe Pflicht. Wir haben zunächst darüber zu wachen, daß 1976 eine Kommission einberufen hat, die sich mit der die strafrechtlichen Rehabilitierungen rasch erfolgen Regelung des Jugendstrafvollzugs befassen sollte. können. Und wir sind aufgerufen, ein zweites Rehabi- Diese Kommission hatte schon Ende 1979 dem Justiz- litierungsgesetz zu erlassen. Denn es geht nicht an ministerium ihren Schlußbericht vorgelegt. Ich hatte — ich betone das —, daß wir nur die des Eigentums damals die Ehre, ihn für das Bundesjustizministerium Beraubten unterstützen und diejenigen, denen man entgegennehmen zu können. Ich frage den Bundes- ein Stück Leben genommen, denen man die Ehre ge- minister der Justiz, ob und wann er sich hier bewegen raubt hat, auf das Altenteil verweisen. will. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Von meinem Fragerecht darf ich noch ein wenig GRÜNE) Gebrauch machen, wobei ich anmerke, daß mir die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 849

Dr. Hans de With Koalitionsvereinbarungen natürlich bekannt sind. Lassen Sie mich eines sagen: Niemand hat wie Wie steht es mit der Regelung von Fragen zur nicht- Lothar de Maizière bis zur Selbstaufgabe für die Ver- ehelichen Lebensgemeinschaft? — Ich weiß, da gibt einigung unseres Vaterlandes gekämpft, es zwei Annäherungspunkte. Aber hat Ihnen der (Beifall bei der CDU/CSU) letzte Juristentag nicht ins Stammbuch geschrieben: Das kann man nicht von Einzelpunkten her ange- für Frieden und Freiheit in der DDR. Es ist mit sein hen? Verdienst, daß Deutschland jetzt ein Land wird und Auf dem letzten Juristentag wurden hinsichtlich ei- geworden ist. ner weiteren offenen Wunde Regelungen angemahnt: (Beifall bei der CDU/CSU) Nicht selten gibt es Gespräche zwischen Richtern, Staatsanwälten und Advokaten, ja, sogar Absprachen Ich will der verehrten Kollegin nichts Böses unterstel- — manche nennen es Deal —; sie meinen, das begün- len. Aber Sie kennen das lateinische Sprichwort stige nur die Großen, die Weiße-Kragen-Täter, nicht „Semper aliquid haeret". Diese furchtbare Wirkung die Kleinen. Wann kommt es hier zu einem Gesetzent- des Gerüchtes haben bereits die Römer erkannt. wurf, damit ein falscher Eindruck nicht entsteht? Auch ich habe, Herr Präsident, wie ich sehe, sechs Sollte nicht endlich auch die Vergewaltigung in der Minuten Redezeit. Ich glaube, die Zeit von dem Kol- Ehe unter Strafe gestellt werden? Hier hat die Koali- legen Deres müssen Sie noch dazurechnen; dann sind tion auf unsere Gesetzesanträge hin mehrfach ver- es ein paar Minuten mehr. Ich will mich trotzdem sprochen, etwas zu tun. Geschehen ist bis heute bemühen, mich einigermaßen kurz zu halten. nichts. Nicht einmal der Hauch einer Annäherung fin- Meine Damen und Herren, zum Etat und zur det sich hierzu im Koalitionspapier. Die inzwischen Rechtspolitik: Die neue Wahlperiode wird in der drei Frauenminister schweigen dazu. Ich habe auch Rechtspolitik weitgehend davon bestimmt sein, den heute hierzu nichts gehört. Zusammenbruch des Sozialismus in der früheren DDR Wer hat eigentlich wirklich beim § 218 StGB die rechtspolitisch aufzuarbeiten. Nichts anderes — ver- Federführung? — Der Bundesminister der Justiz, eine bunden mit dem Freiheitswillen der Menschen dort — der drei weiblichen Minister, oder gibt es hier einen, war es nämlich, was zur Wiederherstellung der staat- der ganz darübersteht, oder wie läuft das eigentlich? lichen Einheit Deutschlands führte. Das Ganze ist etwas verwirrend, nicht nur für uns, Was wollen die Menschen drüben? — Sie wollen sondern auch für die Öffentlichkeit. einen Staat, der nicht gängelt, sondern der freiheitli- Über die Reform der Juristenausbildung haben wir che Regelungen bietet und diese mit einer unabhän- von seiten der Bundesregierung, aber auch schon von gigen Justiz durchsetzt. Mit anderen Worten: Sie er- den Koalitionsfraktionen lange, lange nichts mehr ge- warten von uns den Übergang von sozialistischen hört. Dabei weiß jeder: Am längsten Lehrling bleibt Absolutismus zum funktionierenden Rechtsstaat. der deutsche Jurist. Während der 30jährige in unseren Dabei ist die Justizproblematik natürlich vor allen westlichen Nachbarländern schon auf einige Berufs- Dingen eine Personalfrage. Ich bin Ihnen, sehr geehr- jahre und -erfahrung blicken kann, bereitet sich sein ter Herr Justizminister, dankbar, daß Sie es erreicht Altersgenosse in Deutschland gerade auf sein zweites haben, ein massives Hilfsprogramm von 120 Millio- Staatsexamen vor, und zwar so — ich übertreibe ein nen DM durchzusetzen. Dies wird sicherlich die bißchen — , als ob die Welt seit 70 Jahren ehern ste- Chance geben, daß wir amtierende Richter gewinnen, hengeblieben wäre. Ein bißchen mehr Mut, sage ich, daß wir pensionierte Richter und Staatsanwälte ge- Herr Minister, wäre hier angebracht. winnen, in der DDR tätig zu sein. In meiner Heimatstadt Bamberg gehen die Leute zum Dreikönigstag — nicht zum Dreikönigstreffen — Aber ich meine, das Hauptproblem — wir haben zum, wie sie sagen, „Stärk antrinken". Das hat einer dies neulich noch in Dresden gesehen — ist der Man- Ihrer großen Vorgänger, Thomas Dehler, gekannt und gel an Rechtspflegern. Die Grundbücher, so wissen zu nutzen gewußt. Ich lade Sie ein, Herr Minister, ihm Sie, befinden sich in einem jammervollen Zustand. Sie und, wenn Sie wollen, auch uns zu folgen. verrotten zum Teil in den Kellern. Dies bedeutet für unsere Wirtschaft natürlich ein ganz schlimmes Inve- Vielen Dank. stitionshindernis. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ (V o r sitz : Vizepräsidentin ) GRÜNE) Deswegen erlaube ich mir, schon jetzt zu sagen, daß diese 120 Millionen DM nur ein erster Schritt sein Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Mar- können, die dringende Personalnot zu beheben. schewski, Sie haben das Wort. Trotz der Aushilfe mit Personal aus den alten Län- dern bleibt zu überlegen, ob nicht etwas von dem hin- Erwin Marschewski (CDU/CSU) : Herr Präsident! weggenommen werden muß, was wir „Instanzen- Meine Damen und Herren! Wir — meine verehrten seligkeit" nennen. Schon in den alten Bundesländern, Kollegen und ich insbesondere — sind vorhin Zeugen meine Damen und Herren — dies ist bekannt —, hat einer mich doch erschütternden Darstellung gewor- der Rechtswegperfektionismus manch eigenartige den. Ich meine das, was unseren neuen Kollegen im Blüte getrieben. Gerade in den neuen Bundesländern Rechtsausschuß, Lothar de Maizière, betrifft. Es sind, wirkt er investitionshemmend. Deswegen wollen wir formell gesehen, Fragen gestellt worden. Aber ich jede rechtsstaatlich vertretbare Möglichkeit der Be- meine, es ist eine Form gewählt worden, die letzten schleunigung nutzen. Ich denke z. B. an eine ver- Endes verdunkelte Vorwürfe beinhalten kann. stärkte Funktion der Einzelrichter oder an eine behut- 850 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Erwin Marschewski same Präklusion im Beweisantragsrecht im Strafver- Telefonüberwachung, die erweitert werden müßte. fahren. Was die Großinvestitionen anbetrifft, müssen Ich denke an die Rasterfahndung. wir uns bemühen, so meine ich, die Planungsverfah- Lassen Sie mich dabei eines sagen, meine Damen ren zu verkürzen, und wir werden im Einzelfall nicht und Herren: Nicht nur die typische organisierte Krimi- umhinkönnen, ausnahmsweise Maßnahmegesetze zu nalität ist verwerflich und gefährlich. Genauso ver- erlassen. werflich und gefährlich, ja verbrecherisch ist es, Straf- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) taten nach dem Außenwirtschafts- und dem Kriegs- waffenkontrollgesetz zu begehen. Unser besonderes Anliegen, meine Damen und Herren, wird es sein, denjenigen Bürgern in der DDR (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) zu helfen, die unter dem alten SED-Regime schlim- Die illegalen Waffenhändler muß die ganze Härte des mes, oft jahrelanges menschenverachtendes Unrecht Gesetzes treffen. haben erleiden müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Zum Schluß — ich glaube, ich habe noch etwas Uns haben viele Briefe erreicht, B riefe mit erschüt- Zeit — darf ich vielleicht doch noch einen sehr wich- ternden Schicksalen. Was wir anstreben, ist eine zü- tigen Bereich ansprechen, meine Damen und Her- gige Rehabilitation, aber auch eine möglichst rasche ren. Erledigung der Gerichtsverfahren gegen die Schuldi- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben eine gen, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. großzügige Präsidentin!) Herr Kollege de With, ich begrüße die Anfrage, die — Ich bedanke mich bei der Frau Präsidentin auch Sie, glaube ich, Ende Februar gestellt haben. Ich ganz herzlich. Aber wir sollten, so meine ich, in die- meine, es ist zum inneren Frieden ganz wichtig, daß sem kleinen Kreis heute abend durchaus einmal Gele- wir das tun, was Sie zu Recht angeboten haben, näm- genheit nehmen, etwas intensiver über Rechtspolitik lich daß wir zu einem parteiübergreifenden Konsens zu diskutieren. Wenn wir in diesem Hause sonst dar- in dieser wichtigen Frage kommen. über reden, ist es ja noch später. (Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. Dr. de With [SPD]) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, es Das DDR-Regime — da sind wir uns einig — hat viel sind aber keine fünf Minuten mehr. Unheil über die Menschen gebracht. Das sollte sich (Zuruf von der CDU/CSU: Der hört gleich gerade die PDS einmal hinter die Ohren schreiben. auf!) (Sehr wahr! bei der CDU/CSU) Wir haben die Verpflichtung, den Opfern, die soviel Erwin Marschewski (CDU/CSU): Meine Damen Leid haben ertragen müssen, zu helfen. und Herren, ich meine die einigungsbedingten Ände- Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Her- rungen des Grundgesetzes. — Die Union — das wis- ren, ist es für uns ein wenig unverständlich, daß die sen Sie — bejaht eine systemimmanente Fortschrei- Forderung nach einer Amnestie zugunsten bestimm- bung des Grundgesetzes. Aber — das ist auch klar — ter Mitarbeiter der Stasi noch nicht verstummt ist. Ich einem Totalumbau des Grundgesetzes als einer be- darf Ihnen sagen, meine Damen und Herren: Mit den währten Verfassung können wir nicht zustimmen. Unionsfraktionen wird es eine solche Amnestie nicht (Beifall bei der CDU/CSU) geben können. Was wir wollen, sind keine sozialistischen Planspiele (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) - — ich sage Ihnen das —; denn sie gefährden die Wert- Das Strafprozeßrecht und das Strafrecht ordnung. Wir wollen keine plebiszitären Elemente in der Verfassung. (Zuruf des Abg. Dr. B riefs [PDS/Linke Liste]) (Zuruf von der CDU/CSU: Dafür ist das Par lament da!) — Herr Kollege, Sie können sich ja zur Zwischenfrage Weimar darf sich nicht wiederholen. Wir wollen kei- melden! — bieten durchaus genügend Möglichkeiten, nen Umbau der Verfassung; denn unsere Verfassung, so meine ich, hier schuldangemessen zu reagieren. so meine ich, hat sich bewährt. Die Menschen in der Meine Damen und Herren, lassen Sie mich wegen DDR, Herr Professor Ullmann, sind doch auf die Straße der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit aus der gegangen, um das zu realisieren, was wir zum Glück Fülle des in den Koalitionsgesprächen Vereinbarten der Geschichte hier seit Jahr und Tag haben durch- nur zwei Punkte erwähnen. führen können. Zunächst zur Bekämpfung der organisierten Krimi- (Beifall bei der CDU/CSU) nalität. Wir werden hier handeln müssen, meine Da- Gerade hier, meine Damen und Herren, gilt der Satz men und Herren. Wir haben heute auch der Presse von Montesquieu: Wenn es nicht nötig ist, ein Gesetz entnommen, daß diese Delikte der organisierten Kri- zu erlassen, so ist es notwendig, keines zu erlassen. — minalität nicht nur in der Bundesrepublik zunehmen. Das gilt besonders an dieser Stelle. Das gilt bedauerlicherweise auch für die Länder der ehemaligen DDR. Wir werden hier neue Ermittlungs- (Zuruf von der CDU/CSU: Das wollen wir methoden fordern müssen. Ich denke an den Einsatz beherzigen!) verdeckter Ermittler. Ich hoffe auch da auf ein bißchen Vielleicht zum Schluß noch einen Satz, meine Da- Entgegenkommen der SPD-Seite. Ich denke an die men und Herren: Ich meine, daß die Beschränkung in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 851

Erwin Marschewski der Rechtspolitik auch dazu beitragen könnte, die Ar- rung kann nur beginnen und wirksam werden als beit des Rechtsausschusses wieder ein bißchen Erneuerung des Rechtsgefühls. freundlicher zu gestalten. (Zustimmung bei der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Was heißt „wie- der" ?) Aber auch wir hier im Hause stehen offenkundig in Denn in der letzten Pe riode — so habe ich nachge- der Situation, durch unsere Unrechtsgefühle geprägt sehen — haben wir allein dort 520 Vorlagen behan- und gefangen zu sein. Offenkundig weichen die Un- delt, von denen wir sage und schreibe 345, fast dop- rechtsgefühle von jungen Frauen, wie sie heute für pelt soviel wie in der letzten Pe riode, beschlossen ha- meine Gruppe gesprochen haben, gewaltig von den ben. Dies sollte, so meine ich, wirklich genügen. Ich Unrechtsgefühlen derer ab, die sich gegen sie empört glaube, die Kollegen aus dem Rechtsbereich stimmen haben. mir in diesem Punkt 100%ig zu. (Beifall bei der SPD) Ich darf mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken. Hier müssen wir zur Verständigung kommen. Wie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- weit sind wir in diesem Punkt noch vom Bewußtsein ordneten der FDP — Geis [CDU/CSU]: Das einer gemeinsamen Problemlage entfernt! Es war eine gute Rede!) schmerzt mich, dieses sagen zu müssen, aber es muß im Interesse der gemeinsamen Aufgabe der Rechtser- neuerung gesagt werden. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächstes hat Herr Professor Ullmann das Wort. Ich bitte Sie dringend, meine Damen und Herren: Hören Sie aus den Stimmen dieser jungen Leute nicht den Wunsch heraus, hier in diesem Hohen Hause zu Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Frau provozieren, sondern hören Sie den Schmerz eines Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon zwei- empörten Rechtsgefühles heraus. Er ist in der ehema- mal in diesem Jahrhundert ist in deutschen Landen ligen DDR verbreitet. das Recht nicht nur bis in seine dogmatischen Funda- mente zerstört, sondern auch bis in die alltägliche Ich will nur ein Beispiel anführen. Wegen der vielen Gesetzespraxis hinein unbrauchbar gemacht worden: hier heute geäußerten und gehegten Mißverständ- zwischen 1933 und 1945 durch einen bis zu allen nisse will ich noch einmal sagen: Ich rede jetzt über denkbaren und undenkbaren Exzessen gehenden Kriegsdienstverweigerer; ich rede nicht über Solda- Bruch mit dem Völker- und Menschenrecht, nach ten und vor allen Dingen nicht gegen sie. 1949 durch die marxistisch-leninistische totale Funk- In den letzten Tagen hat man begonnen, Muste- tionalisierung des Rechtes im Dienste der ideologi- rungs- bzw. Gestellungsbefehle an die Wehrpflichti- schen Chimäre einer Identität von Staat und Gesell- gen auszusenden. Dabei ist für diejenigen, die noch schaft. unter der SED-Herrschaft den Kriegsdienst verwei- (Geis [CDU/CSU]: Hoffentlich hört das auch gert haben, diese ihre Verweigerung — so wörtlich im die PDS!) Formular — als rechtlich völlig irrelevant erklärt wor- Die Aufgaben der Rechtserneuerung, die sich unter den. den Voraussetzungen solcher Zerstörung stellen, lie- Ich frage mich: Was ist das für ein Recht, das zu fern auch die Maßstäbe, an denen der Justizhaushalt diesem Urteil der Irrelevanz führt? Wohlgemerkt: Ich zu messen ist. frage nicht nach dem auch mir bekannten Gesetz vom Die Titelgruppe 03 im Haushalt des Bundesministe- Dezember vorigen Jahres. Ich frage nach dem Recht, riums der Justiz, Kosten der Reformaufgaben, zeigt, das zu so krassen Verletzungen des Rechtsgefühls der daß es hier ein Bewußtsein für solche Aufgaben und betroffenen jungen Bürger führt. Hat man denn so die Bereitschaft gibt, ihre Lösung in Ang riff zu neh- völlig vergessen, daß die Friedensbewegung der Kern men. des Widerstandes gegen das SED-Regime gewesen Erklärungsbedürftig freilich bleibt, warum die hier ist und daß diese Bewegung unüberwindlich war, angesetzten Ausgaben von 2,3 Millionen so niedrig weil ihr Gewissen mit ihrem Rechtsgefühl überein- bleiben gegenüber einem Gesamtvolumen des Haus- stimmte? haltsbereiches Justiz in Höhe von 89,5 Millionen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. B riefs Warum z. B. wird für eine Strukturanalyse der [PDS/Linke Liste]) Rechtspflege eine ganze Million ausgegeben, wäh- rend die Reform der Rechtspflege selbst nur mit Was sind das für Prüfungsrechte, die hier gegen ein 175 000 DM angesetzt ist? bewährtes und erprobtes Rechtsgefühl in Anspruch genommen werden? Ist es nicht vielmehr genau um- Warum stehen für Reformen des Handels- und Wirt- gekehrt: Nicht das erprobte und in Bedrohung und schaftsrechtes nur ganze 6 000 DM zur Verfügung, Anfechtung bewährte Gewissen des mündigen Bür- und warum werden die Gelder für Maßnahmen zur gers hat sich vor dem Staat zu legitimieren, sondern Rechtsunterrichtung der Bevölkerung sogar um unter demokratischen Bedingungen, wie sie in der 5 000 DM gekürzt? Bundesrepublik Deutschland herrschen, ist es der Es scheint aber vor allem in einer Hinsicht noch Staat, dessen Gesetze sich vor dem Forum des freien immer ein erhebliches Defizit an Problembewußtsein Gewissens zu legitimieren haben, wenn dieser Staat zu bestehen, nämlich darüber, daß Rechtserneuerung nicht einer rechtszerstörerischen und darum perver- weit mehr ist als Justizreform. Denn Rechtserneue- sen Legalität verfallen soll? 852 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Dr. Wolfgang Ullmann Was eigentlich ist die religiöse Deklaration über der der Zentrum einer bis Skandinavien, Nowgorod und Grundgesetzpräambel wert, wenn im Bereich ihrer Kiew reichenden Rechtskultur gewesen ist. Gültigkeit junge Männer veranlaßt werden sollen, (Sehr wahr! bei der CDU/CSU) ihre Grundsätze gegen ihr Gewissen zu verleugnen und damit gegen die Grundprinzipien der biblisch- Das Bewundernswerteste an ihr aber war, daß sie auf christlichen Tradition zu verstoßen, nach der das Ge- keinerlei Herrschafts- oder Aufsichtsrechten beruhte, wissen gar keine andere Autorität über sich anerken- sondern allein auf der Erprobtheit und Gediegenheit nen darf als die, die als einzige das Recht zu einer ihrer Erfahrung. apodiktischen Gesetzgebung gleich dem Dekalog Rechtserneuerung, nicht Rechtsverwaltung lautet hat? unsere Aufgabe. Das ist ein Appell, uns daran zu erin- nern, daß es in unserer eigenen Rechtsgeschichte Tra- Wenn wir nicht in ganz gefährliche Konf likte ge- ditionen gibt, die maßstabbildend wirken, gerade an- rade auf dem Boden der jüdisch-christlichen Voraus- gesichts der Herausforderungen durch Rechtszerstö- setzungen unserer Rechtstradition geraten wollen, ist rungen wie die, von denen wir provoziert sind. es höchste Zeit, das Gebaren einer arroganten und situationsblinden Legalität zu verlassen und uns ge- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, der SPD, meinsam der Verpflichtung zur Rechtserneuerung bei der CDU/CSU und der FDP sowie des und der Erneuerung des Rechtsgefühls zu unterstel- Abg. Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]) len. Das kann geschehen — und es geschieht ja be- reits —, etwa in der Zusammenarbeit derer, die am Neuaufbau der Justiz in den östlichen Ländern betei- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat der ligt sind. Hier ist besonders jenen zu danken, die Bundesminister der Justiz, Herr Kinkel. schon jetzt aus den alten Bundesländern dort hinge- gangen sind, aus Gemeinsinn und patriotischem En- gagement, ohne daß sie sicher waren, Sonderbeförde- Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister der Justiz: Frau rungen oder Seniorenprogramme mit lukrativen Ne- Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es tut mir beneinkünften genießen zu können. schrecklich leid, daß ich Sie zu so später Stunde noch bitten muß, auch mir noch 15 Minuten zuzuhören. (Marschewski [CDU/CSU]: Richtig!) (Marschewski [CDU/CSU]: So lange? Herr Aber Recht ist nicht nur Juristensache, Recht ist Bür- Minister, 10 Minuten reichen!) ger- und Bürgerinnensache. Darum sollte das Parla- — 15 Minuten sind vorgesehen. Quelle der Rechtserneuerung wer- ment selbst eine Ich habe gehört, Frau Präsidentin, daß nach meinem den. Es sollte Schluß sein — hier widerspreche ich Redebeitrag Schluß der Debatte sein soll, weil sowohl meinem Vorredner und spreche hier von einer mon- die Verteidigungspolitiker wie die Wirtschaftspoliti- tesquieuschen Notwendigkeit — mit der hier immer ker alles zu Protokoll gegeben haben. wieder zu hörenden Verdächtigung derer, die im Rah- men der Verfassungsdiskussion für Bürger- und Bür- (Müntefering [SPD]: Sie sind der letzte! — gerinnenbeteiligung, für Bürgerinitiativen und Bür- Marschewski [CDU/CSU]: Morgen steht in gergesetzgebung streiten. Wer ist der bessere Demo- der Zeitung: Kinkel ist der Letzte!) krat, Herr Kollege: der, der in solchen Bemühungen Das heißt, daß ich sogar noch eine Minute länger spre- eine Gefährdung des Parlaments sieht, oder der, der chen darf. von dem letzteren fordert, es möge diese Quellen de- mokratischer Aktivität selbst auffinden und erschlie- Ich habe mir vorgenommen, ein paar allgemeine Dinge zu sagen. Danach möchte ich vor allem auf das, ßen helfen und damit auch der Rechtserneuerung die- was Sie, Herr de With, gesagt haben, eingehen. nen? Ich habe in meiner ersten Rede im Bundestag ge- (Marschewski [CDU/CSU]: Jetzt zu Weimar! sagt, meine Damen und Herren, daß ich den Aufbau Das ist mein Problem!) des Rechtsstaats als das zentrale Thema der vor uns liegenden Periode sehe. Das betone ich heute noch- Und schließlich: Rechtserneuerung, das heißt auch mals nachdrücklich. sichtbare und öffentlich dokumentierte Erneuerung Wir haben gemeinsam die staatlich-rechtlich — in- seiner Autorität. Ich freue mich, mich hier dem Kolle- nere — Wiedervereinigung durch die beiden histori- gen de With anschließen zu können. Was könnte die- schen Vertragswerke des vergangenen Jahres in ei- sem Zweck besser dienen als die Verlegung eines der ner, wie ich meine, geglückten Weise gemeistert. Es der vereinigten Bundesrepublik in obersten Gerichte ist uns Gott sei Dank auch gelungen, die außenpoliti- die fünf erneuerten Länder? Ich spreche hier nicht, sche Einbettung der Wiedervereinigung zu vollzie- was mancher und manche vielleicht denken, vom hen. Bundespatentgericht, vom obersten Disziplinar- oder Rückerstattungsgericht, sondern ich spreche vom Jetzt liegt eine weitere, unendlich schwierige Auf- Bundesgerichtshof oder vom Bundesverfassungsge- gabe vor uns, nämlich die Verwirklichung der inne- richt. ren Einheit der Bundesrepublik Deutschland in der Praxis. Dafür ist der wirtschaftliche Aufbau unge- Wer meint, daß das Reichsgericht in Leipzig von heuer wichtig. Für die Menschen in den neuen Län- jenen angesprochenen Rechtszerstörungen nicht un- dern — ich habe das schon einmal hier betont — ist befleckt geblieben sei, der sei daran erinnert, daß in aber der Aufbau des Rechtsstaats mindestens von Magdeburg einmal ein Schöppenstuhl gestanden hat, gleicher Bedeutung. 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Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Der Aufbau einer demokratischen Justiz in den die ab sofort die Überwachung und die Aufarbeitung neuen Bundesländern heißt zuallererst praktische der offenen Vermögensfragen in den fünf neuen Län- Hilfe, heißt Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger. dern übernehmen werden. Das ist ja auch hier vorhin angesprochen worden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Ich habe ein auf drei Jahre angelegtes personelles des Abg. Dr. de With [SPD]) Sofortprogramm entwickelt, zu dessen Finanzierung Ich halte das für ein hervorragendes Beispiel prakti- die Bundesregierung dreimal 120 Millionen D-Mark, zierter Solidarität. also 360 Millionen DM, in einem Drei-Jahres-Pro- gramm bewilligt hat. (Marschewski [CDU/CSU]: Das mit den Top Kanzleien ist ein verdecktes Lob!) Durch ein Seniorenprogramm wird es pensionierten Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern aus den Der Personaltransfer von West nach Ost ist aber alten Ländern ermöglicht, über die Altersgrenze hin- natürlich auch eine Frage der Kapazität. Deshalb ha- aus für drei weitere Jahre in den neuen Ländern tätig ben die Länder, wie ich finde, zu Recht darauf hinge- zu werden. Ich muß sagen: Das bisherige Echo — ins- wiesen, daß das Freistellen von Personal in den alten besondere auf meine eigenen Aufrufe — ist erstaun- Ländern auch mit einer Überprüfung aller Rechtspfle- lich. Es haben sich allein im Bundesjustizministerium geressourcen verbunden sein muß. Es geht um Ver- ca. 40 Richter und Staatsanwälte gemeldet, die bereit einfachungen mit wesentlichen Entlastungswirkun- sind. gen, die unmittelbar umsetzbar sind und die, wenn möglich, personelle Kapazitäten in den Gerichtsbar- (Marschewski [CDU/CSU]: Das ist ein sehr keiten freisetzen, wobei man für meine Beg riffe guter Anfang! — Beifall bei der FDP und der durchaus an Vorschläge in bezug auf eine Bef ristung CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der denken sollte. Ich denke an den verstärkten Einsatz SPD) von Einzelrichtern in der Zivil- und Verwaltungsge- richtsbarkeit, vor allem in Asylsachen, oder auch an Dabei muß ich darauf hinweisen, daß wir gar nicht die Verkleinerung von Strafkammern und die Ab- die Hauptanlaufstelle sind. Das Echo bei den Länder schaffung der Sprungrevision in Strafsachen, ist auch durchaus beachtlich. (Zustimmung des Abg. Marschewski [CDU/ Die Zahl der von den Altländern entsandten Richter, CSU]) Staatsanwälte und Rechtspfleger soll von gegenwär- tig 130 auf das Zehnfache erhöht werden; 50 % der auch an die Einführung der Zulassungsrevision zum Kosten trägt der Bund. In diesem Zusammenhang BGH bei geringwertigen Streitwerten. habe ich auch eine gewisse Teilerfolgsmeldung eines Ich weiß, daß mit diesen Maßnahmen und Überle- Bundeslandes. Ich gehe damit auch auf die Quoten- gungen nicht jeder glücklich ist. Ich weiß das sogar frage ein. Baden-Württemberg hat heute mitgeteilt, sehr genau. Verstehen Sie mich bitte recht. Es soll daß es zusätzlich 150 Richter und 75 Rechtspfleger nicht der Rechtsstaat eingeschränkt oder beschnitten entsendet. werden. Aber im Angesicht der defizitären Situation, die wir haben, glaube ich, daß Notzeiten auch Not- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie maßnahmen erfordern. bei Abgeordneten der SPD) Die Justizminister und -senatoren haben eine Ar- Hamburg hat mir heute mitgeteilt, daß es 23 Richter beitsgruppe eingerichtet. Am 24. Ap ril wird in Berlin und 6 Staatsanwälte sowie 15 Rechtspfleger entsen- eine Sonderjustizministerkonferenz stattfinden. det. Sogar in den kleineren Ländern funktioniert es also. - (Unruhe bei der CDU/CSU) — Würden Sie mir vielleicht eine Sekunde zuhören? (Beifall des Abg. Dr. de With [SPD]) Ich wäre dankbar, wenn Sie mir ein wenig Aufmerk- Ich habe die große Hoffnung, daß die Quote, die ich samkeit für nicht ganz unwesent liche Fragen schen- mit den Ländern vereinbart habe, eingehalten werden ken würden. — Vielen Dank. kann. (Dr. de With [SPD]: Ihnen geht es nicht bes Schließlich wird der Bund nicht unerhebliche Gel- ser als der Opposition!) der für die Aufstockung der Gehälter zur Verfügung Für die Akzeptanz des Rechtsstaats in den neuen stellen, die gebraucht werden, damit wir tatsächlich Ländern wird ein Punkt von ganz besonderer Bedeu- Richter in die neuen Bundesländer bekommen. tung sein, und zwar wie wir das Problem der Weiter- Noch eine erfreuliche Mitteilung — ich bin immer beschäftigung der dort tätigen Richter und Staatsan- dagegen, daß nur gejammert wird, ich bin dafür, daß wälte lösen. Sicher ist: Wir werden ohne diese Richter gehandelt wird; jedenfalls versuche ich, ein kleines und Staatsanwälte nicht auskommen. Ich wende mich bißchen nach diesem Motto vorzugehen —: Ich habe erneut gegen eine pauschale Verurteilung; ich wende den Deutschen Anwaltverein und die Bundesrechts- mich für eine individuelle Gerechtigkeit erneut an die anwaltskammer angesprochen und die Zusage be- Justizminister in den neuen Ländern. kommen, daß sofort 50 Ju risten aus 50 Top-Anwalts- Allerdings muß die Justiz von allen Richtern und kanzleien in der Bundesrepublik zur Verfügung ge- Staatsanwälten befreit werden, die dem SED-Regime stellt werden, und zwar auf Kosten der deutschen als Steigbügelhalter gedient haben und sich als In- Anwaltschaft, strument der Unterdrückung mißbrauchen ließen. (Beifall des Abg. Dr. de With [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 854 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Wir wollen keine Zweitauflage der Entnazifizie- liegt überwiegend beim Land Berlin. Berlin ist aber rung. Aber wir brauchen — ich habe dies schon ein- überbelastet, braucht dringend Hilfe der Altländer, mal von diesem Podium aus gesagt — eine offene braucht Hilfe des Bundes. Ich jedenfalls habe erklärt, Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Das sind daß ich jede mir mögliche Hilfe geben werde. wir den Menschen und dem Rechtsstaat schuldig. Das ist aber nur die eine Seite der Vergangenheits- (Dr. Brief [PDS/Linke Liste]: Dann müssen bewältigung. Eine noch größere Aufgabe für den Sie doch alle drinlassen!) Rechtsstaat sehe ich da rin, die Schicksale der Opfer von Verfolgung und Unrecht der SED — Ich darf vielleicht sagen, daß ich mich um das Pro- aufzuarbeiten und den erlittenen Schaden wiedergutzumachen. Ich blem mehr bemüht habe als Sie bisher. habe hier schon einmal erklärt — ich erkläre es noch Einerseits müssen die vor Gericht stehenden Bürger einmal, weil es nicht oft genug gesagt werden kann: wissen, daß sie es zukünftig mit rechtsstaatlich den- Das SED-Regime hat systematisch Menschen zerbro- kenden Richtern und Staatsanwälten zu tun haben. chen und Lebensschicksale zerstört. Es hat K ritiker Andererseits müssen endlich auch die betroffenen strafrechtlich verfolgen lassen, in psychiatrische An- Richter und Staatsanwälte Klarheit darüber haben, ob stalten gesperrt und an Ausbildung und Fortkommen sie in ihrem Amt bleiben können oder nicht. Es darf gehindert. Wir müssen alles tun — ich sage es jeden also jetzt nicht weitere Zeit verloren werden, sondern falls für meine Person zu — , um hier zu helfen. Nur wir müssen jetzt schnell mit der Überprüfung zu Ende mitfühlende Worte oder Lippenbekenntnisse reichen kommen. nicht. Dabei müssen alle möglichen Erkenntnisquellen Ich stelle mir die Rehabilitierung wie folgt vor geschöpft werden. Dazu gehört alles das, was in Salz- — Herr de With, weil Sie danach gefragt haben — : Im gitter liegt. Ich möchte bei der Gelegenheit auf fol- Augenblick liegen in den neuen Ländern zirka 40 000 gendes hinweisen — ich habe dazu heute eine Pres- Anträge auf Rehabilitierung aus dem strafrechtlichen seerklärung abgegeben, weil dies meiner Meinung Bereich vor. Ich gehe von etwa 100 000 Fällen aus, die nach in der Öffentlichkeit etwas schief dargestellt auf uns zukommen werden. Wir müssen die personel- wurde — : Die Erkenntisse aus Salzgitter werden len Voraussetzungen dafür schaffen. Das versuche ich überschätzt; vor der Wende wurden sie unterschätzt, im Augenblick durch das Programm, das ich vorgelegt jetzt werden sie überschätzt. Die Umfragen in den habe. neuen Ländern zeigen, daß die Richterwahlaus- Darüber hinaus wird eine noch schwierigere Auf- schüsse im Endeffekt nur relativ wenig mit diesen gabe zu lösen sein. Sie besteht da ri Erkenntnissen anfangen können, um so mehr mit den n, daß wir neben der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung vor allem Akten, die bei der Gauck-Behörde liegen, um so mehr auch die berufliche Rehabilitierung aufarbeiten müs- vor allem auch mit den Akten, die in den früheren sen, wobei nicht jeder einmal erlittene Nachteil schon DDR-Strafvollzugsanstalten gefunden wurden und Ansprüche auslösen kann. Ausgehend von sozialen noch gefunden werden. und sozialstaatlichen Grundsätzen wird man vielmehr Ich habe mit Herrn Gauck in der letzten Wochen ein darauf zu achten haben, ob der erlittene Nachteil auch intensives Gspräch geführt. Er hat mir zugesagt, daß jetzt noch fortbesteht. er die Anfragen der Richterwahlausschüsse, der Daß aber etwas geschehen muß, ist aus moralischen Staatsanwaltswahlausschüsse und die Ermittlungser- und rechtsstaatlichen Gründen unumgänglich. Ich suchen der Staatsanwaltschaften sowie des General- habe deshalb auch großes Verständnis dafür, daß die bundesanwalts vordringlich behandeln wi ll. Ich finde, Opposition hierzu eine Große Anfrage eingebracht das ist eine ganz wichtige Zusage. - hat. Ein Teil der verheerenden Hinterlassenschaft des Ich darf sagen, daß im Bundesministerium der Justiz Unrechtsregimes in der ehemaligen DDR ist zweifel- eine ganz neue Abteilung eingerichtet worden ist, die los auch die Kriminalität von Mitgliedern der frühe- sich nur mit der Rehabilitierung befassen wird. Ich ren SED-Führung. Es würde niemand verstehen muß allerdings auch darauf hinweisen, daß Rehabili- — das sage ich mit Nachdruck — , wenn Straftäter, tierung nicht nur eine moralisch-ethische Aufarbei- wenn also strafbare Handlungen vorliegen sollten, tung sein kann, sondern auch etwas kosten wird. unbehelligt blieben. Gerade denjenigen, die an höch- ster Stelle Verantwortung getragen haben, Unrecht Wir brauchen für die Umsetzung des Rechtsstaats begangen haben, sich bereichert haben, an deren viel Geld. Nur wenn der wirtschaftliche Aufbau funk- Händen eventuell sogar Blut klebt, muß nun der tioniert, werden wir dieses Geld für den Aufbau des rechtsstaatsmäßige Prozeß gemacht werden. Rechtsstaats haben. Deshalb geht es um Investitio- nen. Darum haben wir uns gemeinsam bemüht. Ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — möchte ausdrücklich sagen, daß ich den Mitgliedern Zustimmung des Abg. Dr. de With [SPD] — des Rechtsausschusses in ganz besonderer Weise da- Marschewski [CDU/CSU]: Das ist eine für dankbar bin, daß die Beratungen über das Artikel- Selbstverständlichkeit!) gesetz, wenn ich richtig informiert bin, heute positiv Dies verlangt der Rechtsstaat; dies sind wir auch den abgeschlossen worden sind, so daß wir dieses Gesetz, zahllosen Opfern des Unrechtsregimes schuldig. Es dem ich doch ganz erhebliche Bedeutung beimesse, geht nicht um Rache und Vergeltung, sondern es geht hoffentlich am Freitag in zweiter und dritter Lesung ganz einfach um Gerechtigkeit. verabschieden können. Die Strafverfolgung in diesem Bereich ist Sache der Zur Abtreibungsfrage. Auch diese Frage ist ein Pro- Länder. Die Bewältigung der Regierungskriminalität blemkreis, der mindestens im Zusammenhang mit der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 855

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Wiedervereinigung aus formalen Gründen gelöst nicht gerecht, leider. Gerade in unserer Zeit, in der werden muß. Ich möchte dazu einige Bemerkungen sich das Rad immer schneller und immer hektischer aus der Sicht des Bundesjustizministers machen, der, dreht, müssen wir ganz besonders auf die Rechte der wenn ich das sagen darf, die Zuständigkeit für diese schwächsten Glieder unserer Gesellschaft achten. Frage, für den Kernbereich des Strafrechts, hat. (Dr. Laufs [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Das Problem des Schwangerschaftsabbruchs be- Ich werde als Bundesjustizminister — ich sage es rührt viele Bereiche unserer Gesellschaft und kann, noch einmal von dieser Stelle aus — auch handeln. Ich wie ich meine, nicht isoliert nur unter dem Blickwin- bin im allgemeinen dafür bekannt, daß ich nicht nur kel des Rechts behandelt werden. Abtreibung und die etwas sage, sondern daß ich es auch mache: Ich werde bedin- Haltung der Gesellschaft gegenüber Kindern mich in den kommenden Jahren bemühen, das Be- gen einander. Wir müssen uns daher gerade auch bei wußtsein der Gesellschaft für die Sorgen und Nöte der der Beratung der Frage des § 218 aktiv und intensiv Kinder in ganz besonderer Weise zu schärfen. für die Verbesserung der Lebensumstände der Kinder einsetzen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie beim Bündnis 90/GRÜNE) (Dr. Laufs [CDU/CSU]: Das ist unstrittig!) Ich habe bei der Diskussion über die Kinderkonven- Ich möchte mich auch für eine bessere und stärkere tion schon einmal angedeutet, daß ich das als ein be- Rechtsstellung der Kinder einsetzen. sonderes Thema empfinde, für das ich mich einsetzen (Müntefering [SDP]: Sicher für das Kinder will. Ich möchte das heute noch einmal wiederho- geld, Herr Minister, was?) len. — Ich habe mit dem Kindergeld nichts zu tun. Ich denke als Bundesjustizminister durchaus auch an ein obligatorisches Recht auf einen Kindergarten- (Wartenberg [Berlin] [SPD]: Sind nicht auch platz. Schwangere brauchen in Konfliktlagen Hilfe Sie Mitglied der Bundesregierung?) und Unterstützung, vor allem im Hinblick auf das spä- — Ja, ich bin Mitglied der Bundesregierung. Ich tere Leben mit dem Kind. Ich sage deutlich: Keine werde mich auch dafür einsetzen, daß wir mehr für Frau — so meine ich jedenfalls — trifft leichtfertig die das Kindergeld tun. Entscheidung zum Abbruch. (Marschewski [CDU/CSU]: Drei kräftige (Beifall bei der FDP und dem Bündnis 90/ Frauen haben wir da! — Müntefering [SPD]: GRÜNE) Habe ich Sie da auf dem falschen Fuß er Eine ungewollte Schwangerschaft bedeutet für jede wischt?) Frau vielmehr einen schweren Konflikt. Bei der Lö- —Sie erwischen mich nicht auf dem falschen Fuß; den sung dieses Konfliktes müssen wir Frauen helfen und Eindruck habe ich nicht. die Möglichkeit einer vertrauensvollen Beratung schaffen. Das ist heute nachmittag schon im Rahmen Für den Gesetzgeber sehe ich Handlungsbedarf in anderer Haushalte diskutiert worden. folgenden Bereichen: Es geht um Kinderpornogra- phie, Kinderprostitution und auch um den Handel mit Wir müssen versuchen, Frauen in ihrer Bedrängnis Kindern sowie um Kindesmißhandlungen in breite- zu helfen. Ich sage das so, weil ich wirklich davon stem Umfang. Ich sehe bei nichtehelichen Kindern im überzeugt bin. Wir müssen Möglichkeiten schaffen, Sorgerecht, im Unterhaltsrecht und im Erbrecht Pro- daß Frauen Kinder haben und dennoch ihr bisheriges bleme. Leben fortsetzen können. Heute stehen Frauen viel häufiger als früher im Berufsleben, haben lange Jahre Ich möchte auch noch kurz auf den Bereich der in die Ausbildung investiert. Sie müssen die Möglich-- nichtehelichen Lebensgemeinschaft eingehen, weil er keit haben und behalten, nach der Geburt ihrer Kin- vorher angesprochen worden ist. Wir müssen uns hier der in den Beruf zurückzukehren und sich dennoch sehr genau überlegen, ob wir gesetzgeberisch tätig um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern. Wenn wir werden. Wir haben im Justizministerium im Augen- Lebensumstände schaffen, in denen die Interessen blick eine große Untersuchung dazu vorliegen. Die von Kindern u n d Müttern gleichermaßen verwirk- neuesten Erkenntnisse sind erstaunlich. Wir haben licht und berücksichtigt werden können, werden wir bisher immer von etwa 1,2 Millionen nichtehelichen im Hinblick auf das angestrebte Ziel etwas Gutes Lebensgemeinschaften gesprochen. Die zuverlässi- tun. gen Untersuchungen zeigen, daß die Zahl auf ca. 800 000 zurückgegangen ist; es sind also erheblich (Beifall bei der FDP und des Abg. Dr. Schwö- weniger, als wir bisher angenommen haben. rer [CDU/CSU]) (Dr. de With [SPD]: Immer noch genug! — Zurück zu den Kindern. Es mag komisch klingen zu Zuruf von der CDU/CSU: Zu viele!) so später Stunde, aber ich nehme es trotzdem für mich in Anspruch, auch wenn ich meine Redezeit etwas — Das sind immer noch genug. In der Tat muß man überschreite: Ich möchte gern vortragen, was zu den sich aber überlegen, ob man da etwas tut. Kindern zu sagen ich mir vorgenommen habe. Hiervon zu trennen ist die Fürsorge für die stetig Kinder werden schwach und hilflos in unsere Welt steigende Zahl der nichtehelich geborenen Kinder. hineingeboren. Ohne uns Erwachsene sind sie nicht Die Rechtsstellung dieser Kinder muß gefestigt wer- überlebensfähig. Lange Zeit brauchen sie unsere Für- den. Das nichteheliche Kind braucht den Umgang sorge und unseren Schutz. Die Natur hat uns damit auch mit seinem Vater. Die rechtlich unterschiedliche eine gewaltige Verantwortung auferlegt. Dieser wer- Behandlung von ehelich und unehelich ungeborenen den wir in der modernen Industriegesellschaft oft Kindern muß, soweit es irgendwie möglich ist — das 856 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel sage ich mit Nachdruck und deutlich — , beseitigt Zur Frage nach einem Umzug oberster Gerichte in werden. ein neues Bundesland: In der Tat möchte sich der Bun- desjustizminister vor der Entscheidung über den Re- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gierungssitz zu diesem Fragenkreis nicht äußern. der CDU/CSU, SPD und des Bündnisses 90/ GRÜNE) Ich räume, was das Jugendstrafvollzugsgesetz an- belangt, Probleme ein, aber ganz einfach deshalb, Kinder haben nun einmal keinen Einfluß auf die Le- weil wir nicht genügend Kraft haben, neben all dem, bensweise ihrer Eltern. Sie dürfen dadurch, wie ich was im Augenblick vordringlich ist, auch das noch zu meine, auch keine Nachteile erleiden. machen. Wir haben eine rechtsvergleichende Untersuchung Für die Regelung von Absprachen im Strafverfah dazu in Auftrag gegeben. Ich hoffe, daß wir damit ren brauchen wir andere Zeiten als im Augenblick. auch noch etwas in der Praxis bewirken können. Was die Juristenausbildung anbelangt, muß ich Ih- Wichtig ist aber vor allem insgesamt — auch das nen sagen, daß ich schon in der letzten Legislaturpe- habe ich hier schon einmal gesagt — ein Bewußtseins- riode resigniert habe. wandel zugunsten der Kinder und zugunsten des Le- (Dr. de With [SPD]: Machen Sie einen neuen bens mit Kindern. Anlauf mit uns!) (Dr. Laufs [CDU/CSU]: Sehr gut!) Zusammen mit Herrn Minister Engelhard habe ich resigniert vor der Haltung der Länder in dieser Frage. Noch ganz kurz zur organisierten Kriminalität; Ich muß es so resignativ sagen. Ich will gerne einen dann will ich zum Schluß kommen. Der Bundeskanz- neuen Anlauf versuchen, wenn die Kraft dafür aus- ler hat dieses bedrückende Problem heute morgen reicht. angesprochen. Ich habe große Angst, daß gerade in diesem Bereich die neuen Länder den verheerenden (Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Man soll westlichen Standard ganz schnell erreichen werden. nie aufgeben, Herr Kinkel!) Wir haben erklärt, daß wir mit modernsten Methoden Meine Damen und Herren, ich war weit über die versuchen wollen, an die Verbrecherbanden heranzu- Zeit; ich bitte um Entschuldigung. Die Sorgen in den kommen. Wie schwer das ist, wissen wir alle gemein- neuen Ländern sind immens. Die meiste Kraft und sam. Wir dürfen jedenfalls nicht zulassen, daß der Energie muß dem Aufbau der früheren DDR gewid- Rechtsstaat hier zweiter Sieger bleibt. Es muß bei der met werden. Wir dürfen dabei aber, wie Herr de With radikalen Abschöpfung der enormen Gewinne bei der zu Recht gesagt hat, nicht die Dinge, die uns gemein- Geldwäsche und der Vermögensstrafe angesetzt wer- sam berühren, außer acht lassen. Nur wenn wir anfan- den. gen, für alle 16 Länder zu denken und zu handeln, werden wir wirklich wiedervereinigt sein, vor allem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch im Recht. Wir brauchen eine Verschärfung des Betäubungsmit- Ich danke Ihnen. Ich bitte nochmals um Entschuldi- telstrafrechts, und wir müssen auch an neue Metho- gung, daß ich so lange überzogen habe. den der Verbrechensbekämpfung, an Rasterfahn- (Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/ dung, an den Zeugenschutz beim Einsatz verdeckter CSU) Ermittler, und an das Zeugnisverweigerungsrecht für Drogenberater heran. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, interfraktionell ist vereinbart wor- ordneten der FDP) - den, die Redebeiträge zu den noch vorliegenden Ein- Das haben wir in der Koalitionsvereinbarung be- zelplänen, nämlich zu Wirtschaft und Verteidigung, schlossen. Dem Justizministerium liegt bereits ein zu Protokoll zu geben. Entwurf vor, den wir zunächst besprechen müssen (Beifall) und bei dem ich es besonders schön fände, wenn er als Sind Sie mit dieser Abweichung von der Tagesord- Koalitionsentwurf eingebracht würde. nung einverstanden? — Ich sehe keinen Wider- Lassen Sie mich jetzt nur noch ganz kurz auf die spruch. Fragestellungen eingehen, die Herr de With gebracht (Marschewski [CDU/CSU]: Es fällt sehr schwer!) hat. Das scheint der Fall zu sein. Dann ist es so beschlos- Die Frage lautete: Haben die Länder Quoten für sen. Richter und Staatsanwälte festgelegt? Die Antwort ist Ich glaube, wir sind dem neuen Kollegen Carl-Lud- ja. Ich habe es vorher angedeutet. wig Thiele besonders dankbar, daß er dieser Verein- Eine weitere Frage lautete, ob die Verwaltungsge- barung zugestimmt hat, weil er heute seine erste Rede richtsbarkeit in den neuen Ländern ordnungsgemäß gehalten hätte. Sie wäre sicherlich eine gute Rede aufgebaut wurde. Die Antwort: bisher leider noch geworden. nicht. Aber es gibt bis jetzt aus den Gründen, die ich Ich darf damit, nachdem keine weiteren Wortmel- im Rechtsausschuß vorgetragen habe, erstaunlich we- dungen vorliegen, die heutige Sitzung schließen und nig Verwaltungsgerichtsfälle. berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundesta- ges auf Donnerstag, den 14. März 1991, 9 Uhr ein. (Dr. de With [SPD]: Das kommt noch nach dem Reparaturgesetz, das wir am Freitag Die Sitzung ist geschlossen. verabschieden!) (Schluß der Sitzung: 20.42 Uhr) Deutscher7* Bundestag - 12. Wahlperiode - 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 85

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Anlage 2 Liste der entschuldigten Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 2 entschuldigt bis a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Abgeordnete(r) einschließlich eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans Augustin, Anneliese CDU/CSU 13. 03. 91 für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) b) Beratung der Unterrichtung CDU/CSU 13. 03. 91 ** Bierling, Hans-Dirk durch die Bundesregierung - Der Finanzplan Brandt, Willy SPD 13. 03. 91 des Bundes 1990 bis 1994 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 13. 03. 91 * Wenn Karl Marx die öko- Conradi, Peter SPD 13. 03. 91 Michael Glos (CDU/CSU): nomischen und ökologischen Hinterlassenschaften Dr. Däubler-Gmelin, SPD 13. 03. 91 seiner Erben in Osteuropa betrachten könnte, er Herta würde sich noch heute im Grabe herumdrehen. Er Dempfwolf, Gertrud CDU/CSU 13. 03. 91 könnte nur noch bitten: „Proletarier aller Länder ver- Dr. Fell, Karl H. CDU/CSU 13. 03. 91 zeiht mir! " Der Bundesfinanzminister hat gestern im einzelnen Fuchs (Köln), Anke SPD 13. 03. 91 jene finanziellen Leistungen erläutert, die der Bund Funke, Rainer FDP 13. 03. 91 und die westlichen Länder zur ökonomischen, ökolo- Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 13. 03. 91 gischen und sozialen Sanierung der ehemaligen DDR C.-D. zur Verfügung stellen. Damit werden die Vorausset- zungen zur Finanzierung der Länder- und Kommunal- Hennig, Ottfried CDU/CSU 13. 03. 91 Dr. haushalte, zur notwendigen Anpassung der Infra- Heyenn, Günther SPD 13. 03. 91 struktur an das westliche Niveau und zur Übernahme Horn, Erwin SPD 13. 03. 91 ** unseres sozialen Sicherungsnetzes geschaffen. Dies alles ist mit hohen finanziellen Aufwendungen ver- Ibrügger, Lothar SPD 13. 03. 91 ** bunden. Allerdings stehen jetzt genügend Finanzmit- Jaunich, Horst SPD 13. 03. 91 tel zur Verfügung, so daß der wirtschaftliche Auf- Kleinert (Hannover), FDP 13. 03. 91 schwung am Geld nicht scheitern kann. Die Probleme Detlef sind nicht über Nacht entstanden, sie können deshalb auch nicht von einem auf den anderen Tag bewältigt CDU/CSU 13. 03. 91 Kossendey, Thomas werden. Das Gebot der Stunde lautet deshalb: Solida- Krause (Dessau), CDU/CSU 13. 03. 91 rität in den alten und Geduld in den neuen Ländern! Wolfgang Auch wenn es ohne Zweifel sowohl Grenzen der Soli- Dr. Kübler, Klaus SPD 13. 03. 91 darität als auch Grenzen der Geduld gibt, so bin ich doch sicher: Gemeinsam werden wir es schaffen! Lenzer, Christian CDU/CSU 13. 03. 91 * Der Aufbau der Infrastruktur, die Beseitigung der Lowack, Ortwin CDU/CSU 13. 03. 91 ** Altlasten im Umweltbereich, der Aufbau effizienter Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 13. 03. 91 Verwaltungen und nicht zuletzt die Durchführung Erich von Investitionen zur Schaffung neuer und Sicherung Mischnick, Wolfgang FDP 13. 03. 91 bestehender Arbeitsplätze und damit der schrittweise Abbau der zu Beginn der Währungsunion von den Paintner, Johann FDP 13. 03. 91 meisten unterschätzten Produktivitätslücke zwischen Dr. Probst, Albert CDU/CSU 13. 03. 91 West und Ost - dies alles erfordert Zeit. Wir müssen Rawe, Wilhelm CDU/CSU 13. 03. 91 deshalb all jene warnen, die glauben die Sanierung der neuen Länder könne sich quasi an einem Termin- Dr. Reinartz, Bertold CDU/CSU 13. 03. 91 plan orientieren nach dem Muster: 8. November 1989 Schaich-Walch, Gudrun SPD 13. 03. 91 Öffnung der Mauer - 1. Juli 1990 Währungsunion, Dr. Scheer, Hermann SPD 13. 03. 91 * 3. Oktober 1990 Vollendung der Einheit und 1. De- zember 1991 endgültige Beseitigung aller Unter- 13. 03. 91 Schmidt (Spiesen), Trudi CDU/CSU schiede in den Lebensbedingungen. Dr. Schneider CDU/CSU 13. 03. 91 Wir müssen uns vielmehr im klaren sein: Beim sich (Nürnberg), Oscar jetzt vollziehenden Übergang von einer sozialisti- Schulte (Hameln), SPD 13. 03. 91 ** schen Planwirtschaft in ein marktwirtschaftliches Sy- Brigitte stem handelt es sich ja nicht um einen evolutionären Dr. Sperling, Dietrich SPD 13. 03. 91 Schritt, sondern um einen revolutionären Sprung, für den es in der bisherigen Wirtschaftsgeschichte kein Weiß (Berlin), Konrad Bündnis 90/ 13. 03. 91 historisches Vorbild und in den Werken der National- GRÜNE ökonomie keine praktische Handlungsanweisung gibt. Auch aus diesem Grunde empfehle ich dringend, * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- die Erwartungen realistisch zu formulieren und nicht lung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versamm- nach wenigen Monaten Marktwirtschaft die sofortige lung Beseitigung der vor Öffnung der Mauer sicherlich von 858* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn. Mittwoch, den 13. März 1991

vielen erheblich unterschätzten Erblast des Sozialis- Es gehört deshalb auch zum Gemeinschaftswerk, mus zu verlangen. Auch ich habe das Ausmaß der den betroffenen Menschen bei der Übernahme markt- Erblast in den neuen Bundesländern unterschätzt. wirtschaftlicher Denkkategorien zu helfen. An dieser Ein Großteil der aktuellen wirtschaftlichen Schwie- Stelle möchte ich ausdrücklich die diesbezüglichen rigkeiten rührt allerdings vom nahezu vollständigen Bemühungen der Unternehmen, der Wirtschaftsver- bände, der Handwerks- sowie der Indust Zusammenbruch des Handels mit den ehemaligen rie- und Han- RGW-Staaten. Dort sind die Hinterlassenschaften des delskammern hervorheben. Ein dauerhafter Aufbruch real existierenden Sozialismus noch grausamer als in im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich der ehemaligen DDR. wird nur gelingen, wenn es uns gemeinsam gelingt, diese vom doktrinären Menschenbild des Sozialismus Geduld brauchen wir auch für die Einkommensent- herrührenden mentalen Altlasten zu beseitigen. wicklung. Wer bei Löhnen und Gehältern angesichts Die jüngsten Zahlen bezüglich der Gewerbeanmel- der enormen Produktivitätslücke eine sofortige An- dungen und der Inanspruchnahme der ERP-Pro- gleichung der Ta rife in Ost und West fordert, der läuft gramme stimmen zuversichtlich. Auch in den neuen Gefahr, damit einen Beitrag zur Entstehung dauerhaf- Ländern muß sich der Mittelstand zum Rückgrat der ter Massenarbeitslosigkeit zu leisten. Bei der Anglei- Wirtschaft entwickeln. In der jetzigen Phase erfordert chung der Löhne stehen die Tarifpartner vor einem das auch eine gezielte Mittelstandspolitik der neuen Dilemma: Eilt die Lohn- der Produktivitätsentwick- Landesregierungen. Ich denke dabei vor allem an lung voraus, droht Dauerarbeitslosigkeit. — Verläuft eine Bevorzugung der neuen mittelständischen Un- der Anpassungsprozeß zu langsam, drohen die Pend- ternehmen, vor allem der Handwerksbetriebe, bei der lerbewegungen und die Abwanderung von Fachkräf- Vergabe öffentlicher Aufträge. Eine weitere Starthilfe ten zu einem Dauerzustand zu werden. Eine passive muß darin bestehen, daß die öffentlichen Auftragge- Sanierung der neuen Länder kann jedoch nicht das ber dem neuen Mittelstand bei der Bearbeitung von Ziel unserer Wirtschaftspolitik sein. Deshalb müssen Ausschreibungen behilflich sind; denn es kann nie- die Tarifpartner bei dieser Gratwanderung verstärkt mand von diesen Unternehmen erwarten, sofort und zu einer Differenzierung der Lohnstruktur greifen, da- ohne fremde Hilfe mit schwierigen Regelungen wie mit die gut ausgebildeten Fachkräfte im Land blei- VOB oder VOL fertig zu werden. ben. Es geht jetzt nicht darum, darüber zu streiten, wer Zur Solidarität gehört allerdings auch eine maßvolle wann welche Kosten richtig oder falsch eingeschätzt Lohnpolitik bei uns. Die Warnstreiks der ÖTV sind in hat. Es geht vielmehr darum, mit realistischem Opti- dieser Hinsicht leider kein ermutigendes Zeichen. mismus das große Gemeinschaftswerk zügig umzu- Mit dem Bundeshaushalt 1991 und hier insbeson- setzen, um so dem gemeinsamen Ziel der Anglei- dere mit dem Gemeinschaftswerk für den Auf- chung der Lebensverhältnisse ein entscheidendes schwung im Osten schaffen wir die finanziellen Rah- Stück näher zu kommen. menbedingungen für die Entsorgung der sozialisti- schen Altlasten. Vorbildliche finanzielle Rahmenbe- dingungen reichen jedoch zur Sanierung der neuen Wolfgang Roth (SPD): Die Wirtschaftspolitik der Länder nicht aus. Wichtiger als Finanzmittel und Inve- Bundesregierung steht im Osten Deutschlands vor stitionspauschalen sind nach meiner Überzeugung dem Abgrund. Illusionen, Fehleinschätzungen, man- grundlegende Änderungen im mentalen Bereich un- gelnde Analyse der Wirklichkeit und die eigene serer Mitbürger in den neuen Ländern. Ich warne Handlungsunfähigkeit haben dazu geführt. jedoch vor einer Oberlehrerhaltung seitens des We- Die Bundesregierung hat dies verschuldet, weil sie stens. Erforderlich ist Fingerspitzengefühl. Die Men- die Bedeutung der Aufgabe der wirtschaftlichen Ver- schen drüben brauchen Hilfe und Unterstützung von einigung stets falsch eingeschätzt hat. Sie hat letztes uns, damit sie das notwendige Vertrauen in die eigene Jahr den Eindruck erweckt, als ob die Marktwirtschaft Leistungsfähigkeit entwickeln können. die Probleme praktisch im Selbstlauf lösen würde. Die neuen Mitbürger waren 40 Jahre lang quasi Laßt tausend Mittelstandsblumen blühen; das war die Sozialuntertanen des Zentralkommitees einer Partei. Hoffnung, die bald zur Illusion wurde. Ihr Denken war ausgerichtet auf die Erfüllung der von Nun zeigt sich: Die wirtschaftliche Situation in den oben kommenden Planauflagen. Raum für selbständi- neuen Bundesländern ist dramatisch, es gibt keine ges Denken, für Eigenverantwortung, für Eigeninitia- Entwarnung. Im Gegenteil: Unsere Befürchtungen tive blieb dabei nicht viel. Kurz: Die Menschen müs- wurden leider Wirklichkeit und durch viele Fehler der sen erst lernen, in marktwirtschaftlichen Katego rien Bundesregierung noch übertroffen. zu denken. Dies gilt für Bet riebsleiter und Arbeitneh- mer ebenso wie für selbständige Landwirte, Hand- Wie oft wurde im letzten Jahr der schnelle Erfolg werker und Freiberufler, aber auch für die im Aufbau der Marktwirtschaft in der DDR vorhergesagt? Jetzt befindlichen Verwaltungen. wird langsam und verschämt eingeräumt, daß alles viel schwieriger wird. Eines kann aber leider nicht Gerade hier müssen verstärkt Initiativen ergriffen durchgehen: Man habe das alles nicht gewußt. Daß werden, um Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, Be- Sie es nicht wissen wollten, das ist wahr. Aber hier im amte und Angestellte, zu veranlassen, in die neuen Deutschen Bundestag ist die gewaltige Herausforde- Bundesländer zu gehen. Es muß sich für die Mitarbei- rung oft genug zutreffend beschrieben worden. Sie ter sowohl der Privatwirtschaft als auch des öffentli- wollten es nur nicht hören. Ich tue mich übrigens bei chen Dienstes karrierefördernd auswirken, am Wie- der Meinungsbildung schwer, ob der Herr Bundes- deraufbau in den neuen Ländern mitzuwirken. kanzler gelogen hat oder ob er sich selbst getäuscht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 859* hat. Seiner Verantwortung gerecht geworden ist er schätzt hat und auch die richtigen Therapievorschläge auf keinen Fall. gemacht hat. Die Bilanz der Wirtschaftspolitik der Bundesregie- Ob dieser Realismus anhält, werden wir genau be- rung in den neuen Bundesländern ist eine Bilanz der obachten. Leider beginnt auch bei Möllemann schon Versäumnisse und Illusionen. Die Idelogie hat den wieder der Selbstbetrug. Während Minister Mölle- Blick verstellt. Man wollte den großen staatlichen mann bei der Vorstellung seines Papiers vor einem Handlungsbedarf einfach nicht zur Kenntnis nehmen, Monat noch von 3 Millionen Arbeitslosen in den fünf den eine funktionstüchtige Marktwirtschaft als neuen Ländern im Jahr 1991 sprach, blieben davon im Grundlage braucht. Das war nichts anderes als unter- Jahreswirtschaftsbericht nur noch 1,1 bis 1,4 Millio- lassene Hilfeleistung. nen übrig. Mit Durchschnittsrechnungen und T ricks, was die Kurzarbeit anbetrifft, hat er nun das Problem Notwendige Maßnahmen wurden gar nicht, zu spät, erneut verharmlost. unzureichend oder konzeptionslos ergriffen. Erst jetzt schimmert manchmal Einsicht durch, die Katastrophe Kommt sie wieder, die alte Tendenz zur Verharmlo- zu benennen und zuzugeben, daß sich die Bundesre- sung und Gesundbeterei, Herr Möllemann? Ich hoffe gierung bei der Einschätzung der Entwicklung in der nicht, daß Ihre wirtschaftspolitischen Vorschläge von DDR selbst getäuscht hat. Ihrer Partei und Ihrer Koalition wieder auf Stromli- nienform gebracht werden. Dann nämlich bestünde Allerdings hat der Lernprozeß viel zu lange gedau- die Gefahr, daß Sie ein weiterer in der Reihe der An- ert. Der Zeitverlust bedeutet zum Schaden der Bun- kündigungsminister im Kabinett Kohl werden. Übri- desrepublik höhere Kosten im Westen und längere gens sollten Sie wissen: Wer so viel Wind macht wie Aufbauzeiten im Osten. Die volkswirtschaftlichen Ko- Sie, kann nicht auf Milde rechnen, wenn er Ausweich- sten werden unerträglich nach oben get rieben. mannöver macht. Übrigens: Uns wäre es wirklich lieber gewesen, wir Die Bundesregierung hat nun ihre Finanzpolitik hätten uns bei der Prognose geirrt. Leider muß ich korrigiert. Abgesehen von den skandalösen sozialen sagen, wir haben recht behalten. Arbeitslosigkeit und Ungerechtigkeiten dieser Operation ist jetzt Spiel- Kurzarbeit bewegen sich in Richtung der 3-Millionen- raum für die wirtschaftliche Vereinigung entstanden. Grenze. Die Produktion ist kollabiert. Am Außenhan- Aber: Nachdem nun Geld da ist, kommt es um so mehr del mit Osteuropa hing jeder fünfte Arbeitsplatz. In darauf an, wirtschaftspolitisch sinnvolle Maßnahmen diesem Jahr bleiben trotz der bisherigen Stützungs- auch tatsächlich zu ergreifen, nicht nur darauf, sie maßnahmen davon kaum welche übrig. anzukündigen. Die Abwanderung nach Westen geht weiter, Apa- Die Bundesregierung zaudert immer noch, die thie und Resignation breiten sich aus. Die Aggressivi- grundlegenden Voraussetzungen für Investitionen tät steigt. Dies ist das Ergebnis falscher Versprechun- wirklich herzustellen. Die ungeklärten Eigentumsver- gen der Bundesregierung. hältnisse sind eines der wichtigsten Investitions- Marktwirtschaft in der früheren DDR, das wollten hemmnisse. Die investionsfeindliche Fehlentschei- die Menschen. Aber sie wollten eine Marktwirtschaft, dung im Einigungsvertrag haben wir Bundeskanzler in der die Rahmenbedingungen stimmen. Sie wollten Kohl und vor allem Graf Lambsdorff zu verdanken. eine soziale Marktwirtschaft, keine ideologischen Ohne klare Eigentumsverhältnisse geht nun einmal Predigten. Was ist das aber für eine Marktwirtschaft, nichts. Das haben der Ihnen nicht gerade fernste- in der unklare Eigentumsverhältnisse keinerlei Inve- hende Kronberger Kreis und Professor Engels von der stitionssicherheit gewährleisten? Was ist das für eine „Wirtschaftswoche" im Dezember glasklar festge- Marktwirtschaft, in der Länder und Gemeinden in den stellt: neuen Ländern nun über Monate so gut wie pleite sind? Was ist das für eine Marktwirtschaft, in der die Man hat nicht den Eindruck, daß es die Weisheit öffentliche Verwaltung praktisch handlungsunfähig erfahrener Ju risten war, die dem Gesetzgeber die ist, in der Investoren verläßliche Entscheidungen Hand geführt hat, als dieser den Restitutionsan- nicht bekommen? spruch auf Grundvermögen — in Konkurrenz zum Entschädigungsanspruch — ausgestaltete, Wir haben im letzten Jahr permanent vor der Ver- um den geschädigten Grundeigentümern eine harmlosung der Übergangsprobleme gewarnt. Natür- Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die Millio- lich war die Währungsunion notwendig, aber die nen anderen Geschädigten des Unrechtsstaates schlechte Vorbereitung dieser wichtigsten Aufgabe vorenthalten bleiben muß, ja, die zur Folge hat, der deutschen Wirtschaftspolitik seit der Währungsre- daß diese anderen nun noch länger als eigentlich form 1948 ist von Ihnen verschuldet. Aber es hilft nun nötig auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedin- nichts. Wir müssen das Ruder herumreißen. Jetzt sind gungen warten müssen. Nachbesserungen notwendig. Allmählich hat sich auch bis zur Bundesregierung Daher habe ich die Vorstellungen des neuen Wirt- herumgesprochen, daß Unternehmen nicht auf schaftsministers Möllemann für seine wirtschaftspoli- Grundstücken investieren, deren endgültiger Eigen- tische „Strategie Ost" als ersten Schritt in die richtige tümer unbekannt ist. Eine eindeutige und unbürokra- Richtung begrüßt. Möllemann hat durch seinen Kurs- tische Klärung — und nur die beseitigt die ökonomi- wechsel alle Reden von Waigel und Lambsdorff Lügen schen Barrieren — liefert aber auch der Gesetzent- gestraft. Erstmals hat damit die Bundesregierung öf- wurf von Minister Kinkel nicht. Das hat die Anhörung fentlich zugegeben, daß die Opposition die Entwick- im Rechtsausschuß gezeigt. Jetzt wurde nachgebes- lung in den neuen Ländern frühzeitig richtig einge- sert, aber der Grundsatz nicht verändert. 860* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Wir bleiben dabei: Entschädigung muß vor Rück- drastische Investitionsfördermaßnahmen. Wir schla- gabe gehen. Investoren müssen Eigentum an Grund gen deshalb eine einheitliche Investitionszulage und und Boden erwerben können. Alteigentümer müssen Sonderabschreibungen vor. angemessen entschädigt werden. Nur dann wird Zweitens. Wir haben seit einem Jahr immer vor der diese fundamentale Investitionssperre entschärft. Überschuldung der Bet riebe in der früheren DDR ge- Das zweite Nadelöhr für Investitionen im Osten warnt. Für viele Betriebe sind die Altschulden zu einer Deutschlands sind die öffentlichen Verwaltungen. Überlebensfrage geworden. Um den verschuldungs- Hier fehlen grundlegende Kenntnisse des bundes- bedingten Zusammenbruch dieser Bet riebe und den deutschen Rechts. Gesetze müssen aber angewendet, Verlust dringend benötigter Arbeitsplätze zu verhin- ihre Anwendung muß ordnungsgemäß überwacht dern, hätte endlich eine Lösung geboten werden müs- werden. Außerdem fehlen Managementfähigkeiten. sen. Nichts ist geschehen, was der Treuhand die Ent- Wer soll beispielsweise Grundbücher führen oder scheidung ermöglicht. kommunale Investitionsvorhaben organisieren? Drittens. Eine Überlebenschance für die alten DDR- Immer mehr stellt sich heraus, daß die Personalaus- Betriebe hat die Bundesregierung schon leichtfertig stattung der öffentlichen Verwaltungen in den neuen verspielt. Die traditionellen Handelsbeziehungen zu Bundesländern nur durch einen massiven Personal- Osteuropa sind schon zusammengebrochen oder ge- transfer grundlegend verbessert werden kann. Ap- rade dabei. Auch hier können Sie nicht sagen, nie- pelle helfen da nicht weiter. Organisieren muß das die mand habe dies gewußt. Der im Staatsvertrag und im Bundesregierung. Voraussetzung ist, daß sie nicht nur Einigungsvertrag zugesagte Vertrauensschutz war für Mittel bereitstellt, sondern die vorübergehende Tätig- Sie wohl nur eine Floskel. Umgesetzt wurde er jeden- keit von Beamten und Angestellten in den neuen Bun- falls nicht. Unnötige Arbeitsplatzverluste haben Sie desländern durchsetzt. Berufsbeamtentum bedeutet billigend in Kauf genommen. Vorteile. Deshalb muß eine Abordnung von qualifi- Bei aller Anerkennung der Vereinbarungen mit der zierten Beamten in einer kritischen Phase erforderli- Sowjetunion: Ihr eigentlicher Fehler liegt da rin, daß chenfalls rechtlich durchgesetzt werden können. Wer sie ein umfassendes Konzept für die Stützung der Privilegien besitzt, wie Schutz vor Arbeitslosigkeit, Handelsbeziehungen mit allen ehemaligen RGW- muß auch besondere Pflichten übernehmen. Ländern bräuchten, dies aber noch nicht erkannt wor- Der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft den ist. Ich schlage folgende Elemente vor: verlangt vor allem eines: eine schnelle Reaktion, — Die Streichung der Negativsalden der RGW-Part- schnelle wirtschaftspolitische Maßnahmen. Auch der ner gegenüber der ehemaligen DDR in Transfer- breite Ausbau vor allem der wirtschaftsnahen Infra- rubeln, struktur muß schnell gehen. Ob die ohnehin überfor- derten Verwaltungen in den neuen Ländern und ihren — eine befristete zinslose Devisenkreditlinie für Käu- Kommunen dies ermöglichen, ist mehr als fraglich. fer von Produkten aus Bet rieben der neuen Bun- desländer für alle ehemaligen RGW-Länder, Ich stelle auch in Frage, ob wir alle inhaltlichen und verfahrensmäßigen Anforderungen unseres west- — einen Devisenaufbaufonds mit verlorenen Zu- deutschen Planungsrechts in den ostdeutschen Bun- schüssen für die osteuropäischen Länder. desländern aufrechterhalten können. Ohne unver- Das alles ist viel billiger als die Finanzierung des zichtbare Rechte der Bürger aufzugeben, sind doch Nichtstuns in den neuen Ländern. sicher differenzierte Lösungen im Osten möglich. Wo bleibt das angekündigte Maßnahmengesetz? Viertens. Was ist Ihr sturkturpolitisches Konzept, um das Hauptproblem des schwierigen Umstrukturie- Falls die Bundesregierung diese grundlegenden In-- rungsprozesses in den neuen Ländern zu bewältigen: vestitionshindernisse nicht ganz schnell beseitigt, die Lücke zwischen dem schnellen Zusammenbruch läuft die ganze Investitionsförderung ins Leere. Es nicht wettbewerbsfähiger Unternehmen und dem wäre genauso, als ob man bei gezogener Bremse im- langsamen Aufbau neuer Beschäftigungsmöglichkei- mer mehr Gas geben würde. ten zu einem viel späteren Zeitpunkt? Obwohl die neuen Vorschläge von Minister Mölle- Aufgabe der Strukturpolitik in dieser Situation ist mann in die richtige Richtung gehen, reichen sie nicht es, eine tragfähige Grundlage für neue Wirtschafts- aus. Vor allem muß endlich die indust rielle Basis der strukturen zu schaffen und die Zeitspanne bis zum neuen Länder gestärkt werden. Die Produktivität, die Entstehen neuer Arbeitsplätze zu überbrücken. Platt Wettbewerbsfähigkeit muß steigen. Arbeitsplätze im machen kann keine Lösung für die neuen Länder sein. Osten werden nicht durch konsumtive Ausgaben ge- Neben der Schaffung neuer Arbeitsplätze muß die schaffen. Nachbessern ist notwendig. Dazu wird es Strukturpolitik deshalb auch die Sanierung und Um- die Unterstützung der SPD geben, wenn die folgen- strukturierung bestehender Bet riebe unterstützen. den Vorschläge, die wir bereits im Februar 1990 ver- Die Verantwortung für die Sanierung liegt sicher öffentlicht haben, jetzt nach mehr als einem Jahr ver- auf Dauer bei den p rivaten Unternehmen. Aber natür- wirklicht werden: lich müssen wir auch akzeptieren, daß die maroden Erstens. Wir fordern eine massive und gezielte För- Unternehmen im Osten Übergangszeiten in öffentli- derung von privaten Investitionen. Statt der unglaub- cher Verantwortung brauchen. So war es übrigens in lichen Zersplitterung der bisherigen Förderung auf der Vergangenheit bei VW oder Salzgitter, bei VEBA zinsbegünstigte Kredite, Investitionszulagen und In- oder der VIAG im Westen. Warum sollte diese öffent- vestitionszuschüsse brauchen alle Unternehmen in liche Verantwortung im Osten nicht wahrgenommen der bisherigen DDR für einen bef risteten Zeitraum werden? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 861*

Warum zahlen Sie Milliarden für den Airbus zum Die von Arbeitslosigkeit Betroffenen können durch Ausgleich des Wechselkursrisikos? Die ostdeutsche Umschulung, Weiterbildung und Beschäftigung mit Industrie fliegt auch wegen veränderter Wechsel- sinnvollen Arbeiten im bisherigen Arbeitsumfeld ar- kurse aus dem Markt. Da ist es natürlicher Struktur- beits- und lernfähig bleiben, bis ein neuer Arbeits- wandel, während die Risiken bei Daimler-Benz für ein platz zur Verfügung steht. Ihnen müssen zukunfts- Jahrzehnt subventioniert werden. orientierte Qualifikationen und berufliche Basis- kenntnisse für neue Arbeitsplätze vermittelt werden. Herr Möllemann, wie sehen die angeblich neuen Sie könnten Aufgaben im öffentlichen Interesse in Akzente der Treuhandpolitik, wie sieht der neue Sa- Wohnumfeld, Umwelt und Infrastruktur erledigen. nierungsauftrag der Treuhand praktisch aus? Aber das geht nur, wenn die Bundesanstalt für Arbeit Erhard hat Industriepolitik in weniger kritischen die Mittel bereitstellt. Es geht auch nur dann, wenn Zeiten betrieben, als sie jetzt die östlichen Länder die Bundesregierung endlich einer aktiven Arbeits- durchmachen. Ich erinnere nur daran, daß er bei- marktpolitik den Vorrang gibt und auch diese Verein- spielsweise ein staatliches Investitionshilfegesetz barung des Einigungsvertrages verwirklicht. durchsetzte, das eine Sonderabgabe für die Indust rie Fünftens. Durch die Investitionsförderung kann erhob. Das Geld kam zwei nachhinkenden Sektoren Produktion nach Ostdeutschland verlagert werden. zugute. Sie wurden also durch die Lenkung von Inve- Aus Patriotismus wird dies jedoch kein Unternehmen stitionsmöglichkeiten auf die Beine gebracht. tun. Sie werden sich sehr sorgfältig überlegen, ob Natürlich brauchen wir Industriepolitik im neuen Geschäfte zumachen sind, d. h. ob die Produktion aus gemeinsamen Deutschland. Die Treuhand wäre ein den neuen Betrieben auch absetzbar sein wird. Des- geeignetes Instrument dafür. Auch hier haben Sie viel halb muß Nachfrage in die östlichen Bundesländer Zeit verspielt. Warum wurde die Treuhand nicht frü- gelenkt werden. Deshalb muß der Zugang zu öffentli- her besser ausgestattet? Lange Zeit war die größte chen Aufträgen für Betriebe aus der ehemaligen DDR Holding der Wirtschaftsgeschichte in einer Verfas- erleichtert werden. Bei staatlichen Aufträgen könnte sung, mit der nicht einmal ein mittleres Unternehmen ein bedeutender Teil aus den neuen Ländern bezogen zu führen wäre. werden müssen. Nur dann wird der Aufbau der neuen Sie haben meine Unterstützung, wenn Sie die Treu- Länder auch diesen selbst zugute kommen und Ar- hand industriepolitisch nutzen wollen. Dazu ist sie in beitsplätze dort schaffen. der Tat besser beim Wirtschaftsministe rium auf geho- Heilige Kühe darf es hier nicht geben. Die Bundes- ben — das füge ich hinzu — dieses Haus nicht mit regierung sollte prüfen, ob nicht die Möglichkeit für ideologischen Scheuklappen an diese Aufgabe heran- die Auftraggeber geschaffen werden kann, daß bis zu geht. zwei Drittel des Auftragsvolumens aus den neuen Sanierung und Privatisierung dürfen nicht gegen- Ländern geliefert werden muß. Ich sehe sehr wohl die einander ausgespielt werden. Aber: oft wird eine öko- EG-rechtliche Problematik. Aber es müssen sich doch zeitlich befristete Ausnahmeregelungen mit der EG- nomisch sinnvolle Sanierung erst die Voraussetzun- gen für eine wirtschaftliche Zukunft schaffen können. Kommission vereinbaren lassen. Die Bundesregie- rung sollte endlich auf dem Verhandlungswege ver- Betriebe, die nach Vorlage der Eröffnungsbilanz und dem Urteil externer Gutachter als sanierungsfähig suchen, die EG zur Genehmigung dieser Ausnahme- eingestuft werden, müssen von der Treuhandanstalt instrumente in einer Ausnahmesituation zu bewe- privatisiert werden, damit mit ihrer Sanierung zügig gen. begonnen werden kann. Bei sanierungsfähigen Be- Lassen Sie mich noch ein Wort zur heftigen Diskus- trieben, für die kein p rivater Käufer gefunden wird, sion über Rüstungsexporte sagen. Auch bei dieser der das Risiko einer vollständigen Übernahme ein- zweiten großen aktuellen Herausforderung der deut- geht, muß sich die Treuhand auch an der Sanierung schen Wirtschaftspolitik, der Rüstungsexportkon- beteiligen. Natürlich unter Einbeziehung von priva- trolle, hat die Bundesregierung versagt. Der legale, tem Kapital und p rivatem Management. genehmigte Export von Rüstungsgütern in Span- nungsgebiete geht munter weiter, es gibt inzwischen Nach erfolgter Sanierung können diese staatlichen skandalöse Geschäftsvereinbarungen. Wahr bleibt: Betriebe dann verkauft werden. So war es in der Ver- Noch im letzten Jahr hat die Koalition aus CDU/CSU gangenheit im Westen in der Aufbauphase. Warum und FDP alles unternommen, um die von meiner Frak- haben die Menschen in der früheren DDR weniger tion verlangten Verschärfungen der Rüstungsexport- Industriepolitik verdient? gesetze zu unterlaufen. Nicht mehr rentable Unternehmen müssen in Qua- Es ist bekanntlich nur mit Hilfe der Bundesrats- lifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaften umge- mehrheit der A-Länder im September 1990 gelungen, wandelt werden. Die Bundesregierung darf nicht län- eine Verschärfung der Rüstungsexportkontrollen ger die Augen davor verschließen, daß übergangs- durchzusetzen, die wir aber bei dieser Gelegenheit weise viele Beschäftigte ohne Normalarbeitsplatz sein schon als nicht ausreichend qualifiziert hatten. Alle werden. Ihnen müssen wir helfen, ehe sich dieser Zu- unsere weiterreichenden Vorschläge aus den vergan- stand verfestigt und viele Menschen in Sozialhilfe und genen Jahren im Anschluß an die Libyen-Giftgasaf- Armut landen. Ich begrüße daher Ihr Vorhaben, nun färe sind von den Koalitionsparteien verbissen abge- endlich auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen inner- lehnt worden. halb von Betrieben zu fördern. Setzen Sie es unver- züglich in die Tat um. Unser Beifall kann Ihnen sicher Jetzt liegt das Kind im Brunnen, und jetzt hat es sein, für eine von uns seit einem Jahr geforderte Maß- keiner hineinfallen lassen. Aber Herr Möllemann nahme. hatte damals fröhlich angefeuert, als das Kind auf den 862* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Brunnen zulief. Ich erinnere nur an seine Forderung, märkten ist der Wert der D-Mark an den Devisen- Leopardpanzer in den Nahen Osten zuliefern: „Leo märkten gestiegen; gegenüber dem Dollar hat der buchstabiert sich rückwärts als Oel. " Wert der D-Mark im Jahr 1990 rund 14 % zugenom- Einige von unseren Forderungen aus den Vorjahren men. Beides, rezessive Tendenzen in den Partnerlän- sind jetzt aufgegriffen worden, so z. B. die Erhöhung dern und die starke D-Mark, werden nicht ohne des Strafrahmens und der Wegfall der qualifizieren- Bremsspuren in der deutschen Exportwirtschaft blei- den Strafbarkeitsvoraussetzungen in § 34 des Außen- ben. wirtschaftsgesetzes. Damit ist etwas gewonnen. Dies Der Erfolg der GATT-Verhandlungen setzt einen genügt aber nicht. akzeptablen Kompromiß im Agrar-Streit voraus. Den hat die Bundesrepublik bisher verhindert. Die von ihr Wir fordern weiterhin, daß Rüstungsexporte außer- aufgebauten illusionären Verhandlungspositionen halb des Bündnisses untersagt werden. Wir fordern, der EG haben im Dezember die GATT-Verhandlun- daß eine Endverbleibsregelung bei Kooperationspro- gen mit zum Scheitern gebracht. Die Feigheit der jekten im Rüstungsbereich wirksam gemacht wird, Bundesregierung gegenüber einer völlig undiskutab- damit der Endverbleib im Bündnis sichergestellt ist. len europäischen Agrarpolitik ist unerträglich. Das hat Die Praxis der Lieferungen von Kooperationspartnern den objektiven Interessen der Bundesrepublik ge- in Spannungsgebiete hat im konventionellen Waffen- schadet, im übrigen auch den Interessen der Entwick- bereich die Spannungen ebenfalls erheblich gestei- lungsländer und der osteuropäischen Reformländer. gert. Dies darf so nicht weitergehen. Die Bundesregierung hat bis heute kein Konzept in Wir haben eigene Vorschläge dazu vorgelegt. Ge- der Agrarfrage vorgelegt, das die berechtigten Inter- rade der neue Bundeswirtschaftsminister muß lernen, essen der Landwirte wie die wichtigen Exportinteres- daß publizistisch der Aktionismus ohne Taten kurze sen der übrigen Wirtschaft gleichermaßen berück- Beine hat und daß es zuallererst auch um eine politi- sichtigt. sche Wendung im Rüstungsexportbereich geht, näm- lich darum, das politische Klima des „augenzwinkern- Ist es nicht ein Totalversagen der deutschen Han- den Einverständnisses" und der „stillschweigenden delspolitik, haben viele Industrievertreter kürzlich an Ermutigung", die unter dieser Bundesregierung ein- den Kanzler geschrieben und beklagt, daß die Inter- gerissen sind, endlich zu ändern. essen der Industrie ignoriert werden? Ich meine, die Bundesregierung muß endlich zur Kenntnis nehmen, Ich warne die Koalition davor, das Gesetzgebungs- daß die Bundesrepublik kein Agrarland ist. Sie muß verfahren zu mißbrauchen, um von Fehlern abzulen- endlich sehen, daß der Agrarhaushalt langsam zu ei- ken. Der von Ihnen auf einmal hochgespielte Zeit- nem Sprengsatz der Europäischen Gemeinschaft druck soll über Ihre bisherige Untätigkeit hinweg- wird. Die Bundesregierung muß sich endlich auf eine täuschen. Sie haben nun plötzlich noch nicht einmal wirksame Hilfe für kleine und mittlere Landwirte mehr Zeit, um die Beratungen in den befaßten Aus- ohne Preissubventionen entscheiden. schüssen abzuwarten. Ich halte es für einen Fortschritt, daß die EG-Kom- Die Konzentration auf die innerdeutsche Vereini- mission jetzt eine durchgreifende Reform der Agrar- gung darf nicht zur Vernachlässigung der europäi- politik vorschlägt. Wieder ist es der deutsche Land- schen Wirtschafts- und Währungsunion führen. Der wirtschaftsminister, der sich querlegt. Wo ist hier ein Binnenmarkt ist noch nicht fertig. Ich sehe die Gefahr, klares Wort von Möllemann? Jetzt ist Bundeswirt- daß wir bei unserer Neigung zur Nabelschau verges- schaftsminister Möllemann gefordert, seinen Ankün- sen, wie wichtig die europäische Einbindung für die digungen Taten folgen zu lassen. deutsche Einheit war und auch weiterhin ist. Die Bun- - Aber: Die Wirtschaftspolitik muß sich die Fähigkeit desregierung muß endlich auch dafür sorgen, daß die erhalten, die großen Herausforderungen dieses Jah- EG mehr ihrer Verantwortung in der Weltwirtschaft res zu lösen. Mehr als bisher muß sie über liebgewor- gerecht wird. Ein Rückfall in den kleinkarierten Pro- dene Vorurteile und eingefahrene Bedenken hinweg- tektionismus der vergangenen Jahrzehnte würde die sehen. Im Interesse der wirtschaftlichen Vereinigung Weltwirtschaft stark belasten. biete ich dazu unsere Unterstützung an. Daher ist ein Erfolg bei den Verhandlungen über ein neues Zoll- und Handelsabkommen im Rahmen Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (FDP): Im Bereich des GATT für die Bundesrepublik lebenswichtig. Die des Wirtschaftsministe riums gibt es mit Beginn der sich abschwächende Weltkonjunktur, aber auch die neuen Wahlperiode einschneidende Änderungen, die rezessiven Tendenzen in den wichtigsten Partnerlän- insbesondere die handelnden Personen betreffen. Der dern machen das nicht leichter. Leider wird Protektio- neue Bundesminister Jürgen Möllemann wird nach nismus gerade jetzt zum Ausschalten lästiger Konkur- meiner festen Überzeugung wie schon in der vergan- renten attraktiv. Die Bundesrepublik würde durch genen Wahlperiode im Bildungsministerium den not- eine solche Entwicklung in eine besonders schwierige wendigen neuen Schwung in sein Haus, vor allem Lage geraten. Als einer der größten Exporteure der aber in die Wirtschaftspolitik bringen. Dies ist um so Welt müssen gerade wir ein Interesse daran haben, mehr erforderlich, weil nach der deutschen Vereini- daß der Welthandel offenbleibt. Selbst die USA, aber gung enorme Aufgaben auf diese Wirtschaftspolitik auch andere europäische Länder können sich die warten. Rolle eines Zaungastes eher leisten. Drei Aspekten will ich mich in dieser kurzen Etat Ohnehin ist die Situation für die deutsche Export- Rede zuwenden: der von Möllemann initiierten Stra- wirtschaft nicht leichter geworden. Durch das Zinsge- tegie „Aufschwung Ost", den neuen Aufgaben des fälle gegenüber ausländischen Geld- und Kapital- Wirtschaftsministeriums im Zusammenhang mit dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 863*

Abzug der sowjetischen Truppen und energiepoliti- Anspruch darauf, daß ihre zurückkehrenden Soldaten schen Aspekten. in der Heimat angemessen leben, d. h. wohnen und arbeiten können. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau Der Schock der Wirtschafts-, Währungs- und Sozial- betreut das Programm, wonach im europäischen Be- union für die neuen Bundesländer war einschneiden- reich der UdSSR ca. 36 000 Wohnungen gebaut wer- der als erwartet: 40 Jahre sozialistischer Mißwirt- den sollen, die den Soldaten zur Verfügung stehen schaft hatten eine Wirtschaftsstruktur entstehen las- werden. Sie kennen die öffentliche Diskussion in der sen, die dem freien Spiel der Marktkräfte in nur ganz Sowjetunion über die Zeitdauer des geplanten Ab- wenigen Bereichen tatsächlich gewachsen war. Dazu zugs. Es gibt zwar keinen Grund, die Vertragstreue kommt, daß die fehlende Verwaltung, die für westli- der Sowjetunion in Frage zu stellen. Tatsache ist aber, che Begriffe total marode Infrastruktur, aber auch die daß es zu technischen Abwicklungsproblemen Entscheidung mit den Füßen vieler leistungsbereiter kommt. Wir gehen trotzdem davon aus — und dies Menschen einen Neuaufbau stark verzögern. Die werden wir auch finanziell bestmöglich flankieren —, Doppelarbeit „Sanierung bei gleichzeitiger Produk- daß der vereinbarte Abzug bis 1994 abgeschlossen tion" sorgt für schwere Einbrüche im Wirtschafts- sein wird. Die genannten Kosten sind ja gleichzeitig system; die dramatische Entwicklung im Bereich der ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für das Beitrittsge- Arbeitsplätze kann nur durch schnelles Handeln ab- biet. Ganz wesentlich werden Baufirmen aus den gemildert werden. Dazu kommt der Quasi-Zusam- neuen Bundesländern an der Erstellung der Wohnun- menbruch des gesamten östlichen Wirtschafts- gen mitwirken. systems, so daß die seitherigen Abnehmer der frühe- ren DDR-Industrieproduktion kaum zahlungsfähig Erlauben Sie einen kurzen energiepolitischen sind. Aspekt: Auch in den neuen Bundesländern wird ein vernünftiger Mix der Energieverbrauchsstruktur not- Das Strategiepapier des Wirtschaftsministers von wendig sein. Nach heutigen Pressemeldungen hat der Mitte Februar hat in einem nüchternen Sachstandsbe- Bundeswirtschaftsminister dem Bau zweier Kern- richt die wesentlichen Punkte notwendigen politi- kraftwerke an den bisherigen Kernkraftwerksstan- schen Handelns aufgezeigt. P rivate Investitionen, vor dorten Greifswald und Stendal zugestimmt. Hierge- allem die Schaffung von Arbeitsplätzen, müssen ver- gen wird man sich bei aller Skepsis zur Kernenergie in stärkt gefördert werden, die Privatisierungspolitik zur Kenntnis der vorhandenen Situation nicht ausspre- Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit bestehender chen können. Mein dringender Appell geht aber an Unternehmen ist fortzusetzen. Unabhängig von den das Wirtschaftsministe rium, keine einseitig auf Pro- Problemen mit der augenblicklichen Zahlungsfähig- duktion und massiven Energieverbrauch orientierte keit der RGW-Staaten darf der Handel mit diesen Län- Energiekonzeption zuzulassen. Die Veräußerung der dern nicht abbrechen. Energiewirtschaft an die westlichen Großkonzerne Sonderprogramme regionalpolitischer Natur müs- kann hier schon eine gewisse Besorgnis begründen. sen in den Gebieten greifen, in denen mit besonders Die Chance des Aufbaus einer vernünftigeren Ener hohen Arbeitsplatzverlusten zu rechnen ist. Ich will gielandschaft, als sie in der alten Bundesrepublik be- die arbeitsmarktpolitische Flankierung, vor allem die steht, darf nicht vertan werden: Aufbau energiespa- erforderlichen Qualifizierungsmaßnahmen, nicht im render Strukturen, bessere Nutzung der Energieträ- einzelnen schildern; auch der Hinweis auf den erfor- ger und natürlich auch bestmöglicher Einstieg in die derlichen Ausbau der Verwaltungen und der Infra- Verwendung alternativer Energien sind politisch struktur ist immer wieder gemacht worden. wünschenswert und notwendig. Und das Wirtschafts- ministerium sollte gerade unter seiner neuen Führung Sicher ist, daß die Treuhandanstalt eine wichtige die Chance in den neuen Bundesländern als Aus- Funktion behält, daß es hier aber zu besserer Effekti-- gangspunkt einer insgesamt zukunftsorientierten vität der Arbeit kommen muß. Die Frage, bei welchem Energiepolitik verstehen. Ministerium diese Treuhand arbeitet, ist nicht die ent- scheidende: Sie muß effektiver und vor allem stärker In der schwierigen wirtschaftspolitischen Situation wirtschaftspolitisch orientiert arbeiten. Daß bei ihren in einem Teil unseres Landes ist dem Wirtschaftsmini- Entscheidungen auch die öffentliche Akzeptanz Be- sterium zum tätigen Handeln eine glückliche Hand zu rücksichtigung finden muß, erwähne ich mit Blick wünschen. Haushaltspolitisch wird die FDP-Fraktion z. B. auf den mir völlig unverständlichen Ablauf bei alle notwendigen Maßnahmen flankieren und unter- der DDR-Fluglinie Interflug. stützen. Die Ausweitung des Etats des Wirtschaftsministers auf über das Doppelte des früheren Bundesetats hat eine Reihe von Gründen. Wir werden von der Haus- Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Li- haltsseite her die Dinge allerdings sorgfältig und ste): Die Menschen in der ehemaligen DDR haben im haushälterisch prüfen. Ich sage das mit Blick auf soge- vergangenen Jahr in 4 Wahlen ein eindeutiges Votum nannte Mitnahme-Effekte; das heißt, wo seither zu für das Gesellschaftskonzept der Bundesrepublik ab- Recht gespart wurde, darf nicht jetzt nach dem Motto gegeben. Mehr als 80 % verbanden damit die Erwar- „Darauf kommt es nun auch nicht an" plötzlich der tung nach mehr Recht und Demokratie, und drei Vier- Damm brechen. tel wollten auch eine schnelle Angleichung der Le- bensverhältnisse. Eine neue wichtige Aufgabe, die dem Wirtschafts- ministerium zugeordnet ist, ist die Flankierung des Zugegeben, als ich zum erstenmal nach der Wende Abzugs der sowjetischen Truppen. Die Sowjetunion im Herbst 1989 die westdeutsche Konsumgesellschaft hat einen vertraglichen, aber auch einen moralischen und die ihr zugrunde liegende hocheffektive Wirt- 864* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 schaft erleben konnte, war ich genauso fasziniert. Das Denn es bedurfte ja keinerlei staatlichen Rege- ganze im Wahlkampf auszunutzen und Versprechun- lungsbedarfs über Eigentum, über die Bereitstellung gen zu machen, die natürlich die meisten Menschen von Grundstücken usw., als es darum ging, die ehe- ansprachen, war nicht schwer. Es erweist sich aber malige DDR als Absatzgebiet zu erobern. Jeder, der es eindeutig als Trugschluß, daß es auf dem Weg dorthin wollte, und viele wollten es, errichteten Verkaufsein- einfach ausreicht, etwas Altes zu beseitigen. richtungen, übernahmen Vertriebsnetze und kauften sich in den Markt ein. Es gab ja auch viel zu verdienen Wenn Herr am 1. März 1991 ausführt — für die, die das Geschäft machten, und auch für die, — ich zitiere wörtlich — : „Die Überwindung des So- die davon die steuerlichen Mehreinnahmen kassier- zialismus in den neuen Ländern wäre ohne Steuerer- ten. Immerhin betrug der Zuwachs am Bruttoeinkom- höhung möglich gewesen" , nachzulesen in „Stich- men aus Unternehmertätigkeit und Vermögen im worte der Woche", dann verbirgt sich hinter dieser letzten Jahr 9,7 % und damit mehr als jemals in den Aussage doch ein ganzes Konzept. Nur hätte man es Jahren zuvor. den Wählern auch vorher so deutlich sagen sollen. Nun müßte man glauben, daß die, die daran ver- Denn die Liquidation der DDR als Ganzes und ihrer, dient haben, nun auch verstärkt zu Kasse gebeten wenn auch uneffektiven Wirtschaft, ohne an deren werden, doch weit gefehlt. Es wird daran, wie auch an Stelle gezielt und mit staatlicher Hilfe und Unterstüt- vielen anderen Beispielen, nur zu deutlich, daß nicht zung etwas Neues zu setzen, war nicht der Wunsch die Bundesregierung regiert, sondern das Kapital sei- der Wähler. Vielmehr verbanden sich alte soziale Vor- nen eigenen Weg geht. Das trifft auch ganz besonders stellungen, insbesondere von der Sicherheit des Ar- für die Nahrungs- und Genußmittelindustrie der ehe- beitsplatzes, mit den Wünschen nach Verbesserung maligen DDR zu. des Lebensstandards. Das wiederum ist aber eben nur erreichbar, wenn echte Struktur- und Wirtschaftskon- Es gab Anträge in der frei gewählten Volkskammer, zepte vorgearbeitet, durchdacht und dann gemein- den Weg der staatlichen, wirtschaftlichen und sozia- sam auch in die Tat umgesetzt werden. len Einheit mit staatlichen Programmen zu begleiten. Sie wurden voller Hohn verworfen. Heute rächt sich Daß das alles nicht zum „Nulltarif" zu haben ist, war das bitter. klar, und die Wähler in Ost und West werden es nicht verstehen, warum die Kosten der Einheit, die ja die Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Die meisten Wähler auch verstanden und akzeptiert hät- Menschen in Ostdeutschland gehen wieder auf die ten, einerseits verschwiegen und andererseits noch Straße. Am vergangenen Montag in Leipzig waren es dadurch künstlich erhöht werden, indem man einen mehr als 25 000, die sich mit den Füßen gegen die konzeptionslosen Crash-Kurs in der Wirtschaft fährt. Politik der Treuhandanstalt zur Wehr setzten. Zu Wenn von rund 81 Milliarden DM, die aus dem Haus- Recht fordern sie ein Konzept, das statt Arbeitslosig- halt den neuen Ländern zur Verfügung stehen, allein keit zu verwalten, Beschäftigung finanziert. Die Stim- ein Drittel für soziale Aufgaben, darunter ein erhebli- mung wird zunehmend explosiv. Das kann nieman- cher Anteil zur Finanzierung von Kurzarbeits- und den wundern, denn entgegen der zugesagten Verbes- Arbeitslosengeld sowie Vorruhestandsgeld, zur Ver- serung der Lebensverhältnisse verlieren immer mehr fügung gestellt wird, aber nur knapp 15 % für die Menschen ihren Arbeitsplatz. Ankurbelung der Wirtschaft auf der Grundlage des Ich verzichte darauf, Ihnen die neuesten Arbeitslo- Gemeinschaftswerkes „Aufschwung-Ost" , dann ist senzahlen der Bundesanstalt für Arbeit hier zu referie- doch offensichtlich, daß hier mehr repariert und „kalt ren, die Ihnen ohnehin bekannt sein dürften. Statt gelötet" wird als echt „geschmiedet" . Kalte Lötstellen dessen erinnere ich Sie an einen Kommentar, den der haben die Eigenschaft, meistens nicht leitfähig zu Präsident der BfA, Heinrich Franke, zur Erläuterung sein. Nun hofft der Herr Bundeswirtschaftsminister der Kurzarbeiterzahlen gegeben hat. Diese Entwick- Möllemann, daß seine Maßnahmen endlich greifen, lung, so Franke, deute verstärkt darauf hin, daß hinter und dem Zitat von Karl Schiller „Nun können die der Kurzarbeit nicht nur vorübergehender Nachfrage- Pferde saufen" setzt er vorsichtigerweise hinzu: „Und ausfall stehe. ich hoffe und erwarte, sie tun es auch." Dem ist zuzustimmen. Und weil dem so ist, besteht Nur sehr langsam, und für den rasanten Verfall der das dringende Gebot, daß die Bundesregierung mit ostdeutschen Wirtschaft viel zu langsam, kommt die einer umfassenden überzeugenden wirtschaftspoliti- Erkenntnis bei den Politikern der Koalitionsparteien, schen Konzeption die Probleme im Osten tatkräftig daß es sich bei der Eingliederung der ehemaligen angeht. Zwar haben sich 1990 über eine viertel Mil- DDR nicht um die Gründerzeiten nach 1945 handelt. lion Bürger in den neuen Bundesländern selbständig In dieser Zeit gab es überall nichts. Heute aber steht gemacht, doch allein 45 % davon entfallen auf Handel eine hocheffektive, weltmarkterfahrene, reiche und und Gaststätten. 25 % auf das Handwerk. Größere auf Expansion ausgelegte Indust rie des Westens einer Produktionsbetriebe sind unter den Neugründungen völlig anders strukturierten und orientierten Wirt- nicht zu finden. Tausende von Imbißbuden, Videothe- schaft des Ostens gegenüber, die auch noch veraltet ken, Getränkeshops oder Gebrauchtwagenhändler und zum Teil staatlich verschuldet war. Diese Er- können aber nicht wettmachen, was jetzt an Arbeits- kenntnis bedurfte sicher keiner fünfmonatigen Regie- plätzen allein in der Textilindustrie oder der vom alten rungszeit. Man kann sich eben des Eindrucks nicht SED-Regime gehätschelten Mikroelektronik weg- erwehren, daß das Ganze nicht als Schicksal abläuft, fällt. und das wäre schon schlimm genug, sondern sogar Die Wirtschaftspolitik für die ostdeutschen Länder gewollt ist. steht unter einem sehr kurzfristigen Erfolgsdruck. Mit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 865* jedem Tag, der verschenkt und vertan wird, resignie- teile, die nicht kurzfristig schwarze Zahlen schreiben ren mehr Menschen, verlassen ihre Heimat und su- können, stillegt, dann ist das Politik, und zwar Kahl- chen im Westen ihr Glück oder doch zumindest einen schlagpolitik. Diese Politik hat sie, offenbar in Über- Arbeitsplatz. Man kann das Ziel der deutschen Wirt- einstimmung mit dem Bundesfinanzministerium, bis schaftspolitik auf eine einfache Formel bringen: Die vor einigen Wochen konsequent betrieben. Abwanderung von Ost nach West so schnell wie mög- Die Treuhandanstalt muß in ihrer Politik zu einer lich stoppen. Es ist kaum nachvollziehbar, daß die volkswirtschaftlichen Sichtweise kommen. Sie muß Bundesregierung sich dennoch nicht in der Lage sieht, die gesellschaftlichen Kosten ihres Handelns berück- zeitnah und zuverlässige Übersiedlerzahlen zu veröf- sichtigen, auch wenn sie sich nicht im eigenen Etat fentlichen. Sind Sie wirklich so schlecht informiert widerspiegeln. Wir dürfen nicht zulassen, daß die über die Lage in Deutschland? Fragen Sie doch mal Treuhandanstalt 1 Million einspart, um gleichzeitig bei den Landesregierungen nach! Der sächsische bei der Bundesanstalt für Arbeit 5 Millionen DM zu- Wirtschaftsminister beziffert allein die Abwanderung sätzliche Ausgaben zu verursachen. Wenn das Pro- aus Sachsen in die westdeutschen Länder auf monat- blembewußtsein im Bundesfinanzministerium nicht lich 10 000 Menschen. vorhanden ist, dann ist dies ein Grund mehr, die sach- Zur Umstrukturierung der Wirtschaft in den ost- lich ohnehin gebotene Zuordnung der Treuhandan- deutschen Ländern reicht es nicht aus, sie nach dem stalt zum Bundeswirtschaftsministerium zu befürwor- Bilde der westdeutschen Wirtschaft neu zu orientie- ten. ren. Vor dem Hintergrund der Probleme in Ost- Ein zweites tragendes Element einer wirtschafts- deutschland gerät allzu leicht in Vergessenheit, daß politischen Strategie für Ostdeutschland muß die Ent- auch der westdeutsche Wirtschaftsboom zu Lasten der faltung öffentlicher Nachfrage in den ostdeutschen Umwelt und zu Lasten eines großen Teils der Bevöl- Ländern sein. Mit der Initiierung des Gemeinschafts- kerung geht. Zeitgleich mit dem notwendigen Aufho- werks Aufschwung-Ost, ist ein erster Schritt in diese len ihres Produktivitätsrückstandes muß der ökologi- Richtung getan. sche und soziale Umbau der ostdeutschen Wirtschaft Doch bevor ich zum Inhalt komme, eine Bemerkung in Angriff genommen werden. zum Namen. Hier liegt schon wieder eine bewußte Erster und wichtigster Punkt für die wirtschaftspoli- Täuschung vor. Wieso Gemeinschaftswerk? Tatsäch- tische Strategie in den ostdeutschen Ländern ist: Die lich handelt es sich doch um ein reines Bundespro- produktive Struktur, das heißt Betriebe und das heißt gramm. Ich suche vergeblich einen großzügigen, Arbeitsplätze, muß soweit irgend möglich erhalten selbstlosen Beitrag der deutschen Wirtschaft zu dem bleiben. Mit der Sanierung aller sanierungsfähigen sogenannten Gemeinschaftswerk. Betriebe, unabhängig davon, ob sie kurzfristig priva- Auch der zweite Namensbestandteil, „Auf- tisierbar sind oder nicht, muß sofort begonnen wer- schwung-Ost" ist mehr Propaganda. In Wirklichkeit den. Die Politik der Privatisierung um jeden Preis hat der Bund ein in vieler Hinsicht noch unzureichen- konnte nicht funktionieren, denn die Privatwirtschaft des Nachfrage- und Arbeitsbeschaffungsprogramm ist keine Heilsarmee, keine Einrichtung zur Sanierung aufgelegt. Warum versuchen Sie uns einzureden, es von Staatsbetrieben. Es ist wohl eher die Ausnahme, sei anders? daß kapitalistische Unternehmen unproduktive Fir- Ihr Programm ist im Hinblick auf Zukunftsinvesti- men mit eher trüben Umsatzerwartungen in ihre tionen für die Umwelt und die Infrastruktur viel zu Übernahmeüberlegungen einbeziehen. Die Sanie- zögerlich ausgefallen. Für diesen Bereich sind erheb- rung der ostdeutschen Industrie, und das ist unsere lich mehr Mittel erforderlich. Es ist abzuwarten, wie Überzeugung, wird entweder zu wesentlichen Teilen die einzelnen Bestandteile des Programms angenom- aus öffentlichen Haushalten bestritten oder sie wird men werden. Wo tatsächlich Bedarf besteht, müssen nicht stattfinden. auch kurzfristig weitere Mittel bereitgestellt wer- Daß die Treuhand aktive Sanierungspolitik betrei- den. ben muß, erkennt erfreulicherweise jetzt auch die Die Ausgabenprogramme des sogenannten Ge- Bundesregierung an. Es fragt sich jedoch, ob sie die meinschaftswerks müssen nicht nur den ostdeutschen daraus folgenden Konsequenzen ebenfalls anzuer- Ländern und Gemeinden zugute kommen, sondern kennen bereit ist. Damit fällt nämlich auch der auch den in Ostdeutschland ansässigen Betrieben. Glaube, die Sanierung sei im wesentlichen durch die Eine Umsatzsteuerpräferenz für die ostdeutsche Wirt- Privatwirtschaft, durch Privatkapital zu finanzieren. schaft oder für ostdeutsche Waren und eine Bevorzu- Der zusätzliche Finanzbedarf, der hier auf die öffent- gung ostdeutscher Anbieter bei der Vergabe öffentli- lichen Haushalte zukommt, wird sich nur befriedigen cher Aufträge können die Wirkung eines solchen lassen, wenn andere öffentliche Ansprüche an den Nachfragepakets spürbar verstärken. Der keineswegs Kapitalmarkt wirksam zurückgedrängt werden. überraschende, aber verheerende Zusammenbruch Die Treuhand hat lange den Eindruck vermittelt, sie des Exports in die RGW-Länder hat die ostdeutschen würde gar keine Politik machen. Natürlich macht sie Länder besonders hart getroffen. Viele an sich durch- Politik. Sie macht Strukturanpassungspolitik, sie aus leistungsfähige Betriebe, etwa des Maschinen- macht Industriepolitik, aber sie nennt das nicht so. baus, stehen mangels Anschlußaufträgen vor dem Aber indem sie das leugnet, entzieht sie sich gleich- Aus. Es ist daher unbedingt notwendig, den ostdeut- zeitig der Auseinandersetzung über die Art und schen Export in die osteuropäischen Länder mit öf- Weise, wie sie es macht. Wenn die größte Staatshol- fentlichen Mitteln zu fördern. ding der Welt, und das ist die Treuhand, nach rein Eine Abkoppelung von Osteuropa wäre nicht nur betriebswirtschaftlichen Erwägungen alle Betriebs- aus wirtschaftlichen Gründen auf Dauer bedrohlich. 866* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Sie müßte von unseren europäischen Nachbarn poli- die Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse in tisch als ein Zeichen zunehmender Selbstbezogenheit ganz Deutschland. der Deutschen gewertet werden. Die Subventionie- Worauf es jetzt ankommt, ist, daß die zur Verfügung rung unrentabler Exporte in die ehemaligen RGW- gestellten Mittel abfließen, daß die Programme, daß Länder kann allerdings nur eine Übergangslösung die Maßnahmen so in Gang kommen, wie dies nötig sein. ist, damit die verfolgten Ziele auch erreicht werden. Doch auch das Milliarden-Geschäft, das Wirt- Die Bereitstellung der Mittel ist eine Sache, ihre Ver- schaftsminister Möllemann aus Moskau mitbrachte, wendung, ihre tatsächliche Inanspruchnahme eine ist risikobehaftet und sollte bei aller Freude genauso andere. Was diesen Punkt bet rifft, so haben wir bereits viel Vorsicht hervorrufen. Wenn nur ein einziger so- einschlägige Erfahrungen, nicht nur aus den Monaten wjetischer Betrieb seinen Zahlungsverpflichtungen vor dem 3. Oktober letzten Jahres, sondern auch aus nicht nachkommt und der deutsche Lieferant die Her- der Zeit danach. mes-Bürgschaft in Anspruch nimmt, darf die Kredit- Lassen Sie mich dazu einige zusätzliche Anmerkun- versicherung nach dem sogenannten Länderprinzip gen machen: kein einziges Geschäft mehr absichern. Neun Milliar- den sind dann abzuschreiben und werden sich indi- Erstens. Für einen reibungslosen oder auch nur eini- rekt belastend auf den Haushalt auswirken. germaßen zügigen Ablauf spielen die Verwaltungen auf allen Ebenen eine ausschlaggebende Rolle. Des- Gleich welche wirtschaftspolitische Strategie die halb wurde es höchste Zeit, daß zu ihrem weiteren Bundesregierung in den nächsten Monaten verfolgt, Auf- und Ausbau aus den alten Bundesländern nun- die Arbeitslosigkeit wird noch weiter steigen. Damit mehr zusätzliche Hilfe möglich wird. Ohne eine funk- kommt dem verstärkten Einsatz aller Instrumente der tionsfähige und funktionierende Verwaltung werden Arbeitsmarktpolitik und einer Politik der sozialen Ab- die bereitstehenden Mittel zu einem beträchtlichen sicherung eine besondere Bedeutung zu. Ich nenne Teil hängenbleiben. Wer sich umhört in den Ministe- hier beispielhaft die Einrichtung von Qualifizierungs- rien, in den Landkreis- und Stadtverwaltungen in den und Beschäftigungsgesellschaften sowie zur Einkom- neuen Bundesländern, kann davon ein Lied singen. menssicherung für diejenigen, die auf Dauer aus dem Personalkostenzuschüsse und die Einrichtung von Arbeitsprozeß ausscheiden, die Anhebung der Sozial- „Personaltauschbörsen" sind daher ein Schritt in die hilfesätze und die Verlängerung und Dynamisierung richtige Richtung. Darüber hinaus müssen wir jedoch der Sozialzuschläge. auch unkonventionelle Wege gehen. Dazu zählen für Meine Damen und Herren von der Koalition, das mich insbesondere die vorübergehende Übernahme freie Spiel der Kräfte führt die Gesellschaft der ehe- bzw. Erledigung von besonders vordringlichen Ver- maligen DDR in eine Abwärtsspirale. Hier verhalten waltungsaufgaben in den neuen Bundesländern sich zumeist die Unternehmen rational, die ihre Beleg- durch Kommunen, Städte und Landkreise in der alten schaften radikal abbauen. Privatinitiative des einzel- Bundesrepublik. Warum soll nicht beispielsweise die nen heißt nur zu oft Abwanderung nach Westdeutsch- Verwaltung der Stadt Köln 5 000 Eigentumsanmel- land. Die Bundesregierung hat seit dem letzten Som- dungen der Stadt Leipzig bearbeiten? Mit etwas mer auf dieses freie Spiel der Kräfte gesetzt. Die Treu- Phantasie ließen sich so viele Investitionshemmnisse handanstalt hat mitgespielt. Diese Orientierung war schnell aus dem Weg räumen. falsch und ist falsch. In der jetzigen Übergangssitua- Zweitens. Doch dies ist nur die erste Etappe der tion sind die Staatskräfte in weit höherem Maße gefor Umsetzung. Die nächste sind die Unternehmen. Wie dert, als Sie das wahr haben wollen. sieht es aus mit den vorhandenen Kapazitäten z. B. im - Bausektor? Reichen sie aus? Wir wissen aus unseren eigenen Erfahrungen, wie schnell wir bei früheren Dr. Rudolf Sprung (CDU/CSU): Kein Einzelhaushalt spiegelt, allein schon vom Volumen her, die Deutsche Konjunkturprogrammen an Kapazitätsgrenzen stie- Einheit und die daraus erwachsenen Probleme deutli- ßen und nicht nur einmal erleben mußten, daß zusätz- cher wider als der Haushalt des Bundeswirtschaftsmi- liche Ausgaben nur noch zu zusätzlichen Preissteige- nisteriums. Die Zuwachsrate beträgt für den vorlie- rungen führten. Auch hier gibt es daher dringenden genden Einzelplan 09 110 %. Rechnet man die An- Anpassungsbedarf, der nur über die Öffnung der sätze für das Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost Märkte gedeckt werden kann. hinzu, so ergibt sich eine Steigerungsrate, die auf Drittens. Ein weiterer Engpaß könnte das Angebot 150 % zuläuft. Damit schlägt sich insbesondere im an qualifizierten Mitarbeitern in Unternehmen wer- Haushalt des Bundeswirtschaftsministeriums das ge- den. Die Umstrukturierung der Wirtschaft in den waltigste Investitions- und Infrastrukturprogramm in neuen Bundesländern ist ja nicht nur mit tief greif en- der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nie- den Veränderungen der Produktionsstrukturen ver- der. bunden, sondern eben auch mit grundlegenden Ver- änderungen im Management, in der Organisation und Um mit dieser Feststellung von vornherein keine im Marketing. Zweifel aufkommen zu lassen: Dieses Programm und die dafür bereitgestellten zusätzlichen Mittel ebenso Wir wissen, wie spezialisiert diese Tätigkeiten zum wie die sich daraus ergebenden Steigerungsraten und Teil in unserer Wirtschaft sind. Markt und Wettbe- Mehrausgaben in den einzelnen Haushaltspositionen werb erzwingen diese Spezialisierung. Es ist nur na- sollten unsere Zustimmung über die gesamte Breite türlich, wenn auch hier Engpässe auftreten. Deshalb des Hauses hinweg finden. Es handelt sich dabei um sind Qualifizierung und Weiterbildung von größter Be- die finanz- und ordnungspolitischen „Eckpfeiler" für deutung. Es ist zu begrüßen, daß jetzt die Anreize für Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 867* die Teilnahme an Qualifizierungs- und Weiterbil- Es ist begrüßenswert, wenn der Bundeswirtschafts- dungsprogrammen verstärkt werden. minister diese Situation nicht nur beklagt, sondern auch die Absicht hat, mit dem Abbau von Subventio- Damit soll das bereits Geleistete nicht geringge- nen endlich Ernst zu machen. Es ist aber auch wohl schätzt werden. Bis Ende 1990 hat die westdeutsche davon auszugehen, daß er dabei nicht in erster Linie Wirtschaft bereits über 2 Millionen Beschäftigte auf an andere Einzelpläne, sondern vor allem an seinen dem Arbeitsmarkt in den fünf neuen Ländern qualifi- eigenen Haushalt gedacht hat. Mit seiner Forderung ziert. Diese Qualifizierungsanstrengungen der west- nach einem massiven Subventionsabbau — 10 Milli- deutschen Wirtschaft auf dem Arbeitsmarkt der fünf arden DM — trägt er nicht nur Forderungen aus vielen neuen Länder sind nachhaltig zu begrüßen und fort- Wirtschaftsbereichen, der EG-Kommission, vom zusetzen. Sachverständigenrat und von seiten der Bundesbank Viertens. Auf ein weiteres Hindernis möchte ich Rechnung. Für einen drastischen Subventionsabbau aufmerksam machen: Da öffentliche Mittel eingesetzt sprechen nicht nur stabilitäts-, sondern insbesondere werden, sind, soweit damit Sachausgaben verbunden auch wirtschaftspolitische Gründe. sind, öffentliche Ausschreibungen erforderlich, und Wir wollen dem Bundeswirtschaftsminister gern bei zwar vielfach nicht nur bundes-, sondern sogar euro- seinen Subventionskürzungen folgen. Sieht man sich paweit. Ich meine, daß europaweite Ausschreibungen den Haushalt des BMWi an, so fragt man sich aller- zumindest für die nächsten zwei Jahre nicht in die dings, wie die Kürzungen bewerkstelligt werden kön- Landschaft passen. Der Bundeswirtschaftsminister nen. Bei der Kohle? Bei der Luftfahrt? Bei der Regio- wird hoffentlich in Brüssel entsprechend intervenie- nalförderung? Bei der Werftindustrie? ren. Begründungen für eine solche Aussetzung gibt es wahrlich mehr als genug, wenn — und allerdings Lassen wir einmal die einigungsbedingten Steige- auch nur dann — Unternehmen in den fünf neuen rungen in diesen Positionen draußen vor — und sie Ländern vorhanden und in der Lage sind, sich an sol- müssen auch in den nächsten Jahren draußen vor blei- chen Ausschreibungen zu beteiligen. ben — , so ergibt sich folgendes. Doch auch die Erarbeitung einer Ausschreibung ist Bereich Kohle: 3,5 Milliarden DM. Der größte eine hochdiffizile Aufgabe: Der Bundeswirtschaftsmi- Posten ist mit 2,5 Milliarden DM die Kokskohlenbei- nister sollte Überlegungen anstellen, wie hier — zu- hilfe. Es ist begrüßenswert, daß eine deutliche Rück- mindest vorübergehend — mit vereinfachten Verfah- führung der Kokskohlenbeihilfe um 1,1 Milliarden ren abgeholfen werden kann. DM in den nächsten drei Jahren vorgesehen ist. Aller- dings bedarf es auch hier der Umsetzung, d. h. ent- Daß dabei im Rahmen der öffentlichen Auftragsver- sprechender Verhandlungen mit dem Kohlebergbau. gabe den Unternehmen, insbesondere dem Mittel- Dabei muß man wissen: Streichung von Mitteln be- stand, in den neuen Bundesländern eine Vorrangstel- deutet Rückführung von Fördermengen. Wir wün- lung einzuräumen ist, brauche ich wohl nicht beson- schen Ihnen dabei vollen Erfolg, Herr Minister! ders zu betonen. Der geplante Wohnungsbau im Zu- sammenhang mit dem Rückzug der sowjetischen Luftfahrtförderung (1,5 Milliarden DM). Die ver- Truppen bietet eine erste gute Gelegenheit, Zeichen schiedenen Ansätze, Abwicklung des Airbuspro- zu setzen. gramms und Entwicklungskostenzuschüsse für neue Flugzeugprojekte resultieren aus bestehenden, zum Wenn auch die jüngsten Entscheidungen wichtige Teil schon seit vielen Jahren von früheren SPD-Regie- weitere Verbesserungen der Investitionsbedingun- rungen herkommenden Rechtsverpflichtungen. gen bringen, bleibt doch unübersehbar, daß sämtliche Maßnahmen und die Beseitigung der genannten mög- Auch bei den Subventionen für die Werftindustrie lichen Engpässe Zeit benötigen. Das ist alles nicht in haben wir es mit länger laufenden Rechtsverpflich- wenigen Wochen zu machen, bei aller Bereitschaft, tungen zu tun. bei allem Engagement, das zweifellos in den fünf Den einzig schon beschlossenen Subventionsabbau neuen Ländern vorhanden ist. Deshalb sollte niemand in größerem Umfang gibt es im Bereich der Gemein- erstaunt sein, wenn sich zum Jahresende herausstellt, schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt- daß nicht alle bereitgestellten Mittel abgeflossen schaftsstruktur " . Hiervon ist insbesondere das ehema- sind. lige Zonenrandgebiet betroffen. Und nun einige Sätze zum „westlichen Teil" Ergebnis: Für die wirklich zu Buche schlagenden des Haushaltes des Bundeswirtschaftsministeriums: Subventionszahlungen bestehen Rechtsverpflichtun- Schwerpunkte des Einzelplans 09 sind, so wie das bis- gen mit zum Teil noch erheblicher Laufzeit. Natürlich her auch schon der Fall war, die wirtschaftspolitischen ist solchen Verpflichtungen zu entsprechen. Wo aber, Programme. Rund 94 % des gesamten zur Beratung Herr Minister, wollen Sie dann in Ihrem Haushalt Sub- vorliegenden Einzelplanes entfallen auf sie. ventionen kürzen? Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Wir haben in der Vergangenheit immer wieder be- klagt, daß es sich dabei fast ausschließlich um Sub- Wenn Subventionskürzungen aus den vorgenann- ventionen handelt. Das hat zu dem bösartigen Vor- ten Gründen für das nächste und auch vielleicht für wurf geführt, daß der Einzelplan 09 letztlich, von den das übernächste Jahr in größerem Umfang noch nicht Verwaltungsausgaben einmal abgesehen, ein einzi- möglich sind, lassen Sie uns einen Grundsatzbeschluß ger großer Subventionshaushalt sei. Für den Haushalt fassen: Schon heute kündigen Sie an, daß alle Sub- des Wirtschaftsministeriums eines Landes, das sich ventionen für das Gebiet der alten Bundesrepublik als Gralshüter einer marktwirtschaftlichen Ordnung bzw. für Unternehmen im alten Bundesgebiet über empfindet, ein bitterer Vorwurf. einen mittelfristigen Zeitraum hinweg abgebaut wer- 868* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 den. Soweit rechtliche Verpflichtungen bestehen Schwierigkeiten. Nur: die jetzt von der Bundesregie- bzw. Vertrauensschutzaspekte zu berücksichtigen rung beschlossenen ungerechten Steuererhöhungen sind, wird bereits jetzt von Ihnen im Sinne einer mit- rechtfertigen die ÖTV-Haltung. Gerade den kleine- telfristigen Konsolidierungspolitik angekündigt, daß ren Einkommensbeziehern bei Post und Bahn wird im mit dem Ende der derzeit gültigen rechtlichen Ver- kommenden Jahr durch Steuererhöhungen und Preis- pflichtungen die Subventionsprogramme nicht ver- steigerungen deutlich mehr als 4,1 % aus der Tasche längert werden. gezogen. Das ist unakzeptabel, und deshalb ist die Für den Kohlebereich sollten Sie die Ankündigung Bundesregierung für die jetzigen Streiks hauptverant- mit einem klaren Konzept für die Kohle verbinden, in wortlich. Aber die Bundesregierung erweist sich auch dem sowohl die Energiepolitik angesprochen als auch mit ihrem „Gemeinschaftswerk" als sehr flexibel und deutlich wird, wie sich die künftige deutsche Kohle- anpassungsfähig. Ich möchte noch einmal vier gei- und Energiepolitik im europäischen Rahmen darstellt. stige Pirouetten in Erinnerung bringen: Ein solches Konzept müssen Sie schon deshalb vorle- Erstens: die konservative Regierung hat sich gerne gen, weil ja auch die Braunkohle in den fünf neuen über wirtschaftspolitische Programme lustig gemacht. Ländern künftig in der Energiepolitik ihren Platz fin- Was sie jetzt mit ihrem „Gemeinschaftswerk" vorlegt, den muß. ist nichts anderes als ein Wirtschaftsprogramm. Leider Die Mikat-Kommission hat bereits entsprechende mangelt es jedoch an einer sauberen Ursachen-Ana- Konsequenzen gezogen, wenn sie, wie gestern ange- lyse. Die Maßnahmen sind wenig koordiniert, und der kündigt, keinen offiziellen Abschlußbericht zur Zu- Kardinalfehler: es wirkt nur kurzfristig und nicht lang- kunft der deutschen Steinkohle mehr vorlegen will. fristig! Somit macht die konservative Regierung Feh- Die Situation habe sich inzwischen grundlegend ver- ler, die sie der sozialliberalen Koalition angekreidet ändert. Subventionen für die Steinkohle seien jetzt hat. Etwas weniger Lärm wäre glaubwürdiger. schwerer zu rechtfertigen, da genügend Braunkohle Zweitens: die Regierung wollte immer die Lohn- ohne staatliche Zuschüsse gefördert werde. nebenkosten senken. Doch die 2,5prozentige Bei- Für die Luftfahrtindustrie sollte zugleich deutlich tragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung ist nicht werden, daß Entwicklungskostenzuschüsse für neue nur ungerecht, sie ist vor allem ökonomisch schwach- Flugprojekte nicht mehr gewährt werden. Sicherlich sinnig. Die Bundesregierung steigert damit die Lohn- könnten Sie damit auch den europäisch-amerikani- nebenkosten, fördert die Schwarzarbeit, und — was schen Dauerstreit um die deutschen Airbussubventio- besonders wichtig ist — sie verschlechtert eklatant nen wenigstens teilweise entschärfen und den GATT- den Investitionsplatz Bundesrepublik Deutschland. Verhandlungen neuen Schub geben. Drittens: Wendehälse gab es nicht nur in der ehe- Für die Werftindustrie würde damit der Weg fortge- maligen DDR, sie gibt es auch in der jetzigen Bundes- setzt werden, den die EG seit Jahren verfolgt, nämlich regierung. Die Bundesregierung fordert seit langem die Wettbewerbshilfen endgültig in Fortfall zu brin- einen Abbau von Subventionen und wird darin auch gen. von der SPD unterstützt. Bundesfinanzminister Wai- Lassen Sie, Herr Minister, Ihren eigenen Worten gel rechnet deshalb auch vor, daß von 1990 bis 1994 jetzt auch im eigenen Haushalt eigene Taten folgen. 40 Milliarden DM an Subventionen gekürzt wurden, wahrscheinlich um Herrn Möllemann zu retten. Ge- genrechnen muß man jedoch die Subventionserhö- Dr. Uwe Jens (SPD): Noch nie hat die Opposition so stark die Politik der Bundesregierung bestimmt wie in hungen der Regierung. Die neu eingeführten Steuer- der vergangenen Zeit. Mit zeitlichen Verzögerungen vergünstigungen von 600 DM bzw. 1 200 DM für Ver- — aber immerhin — wurde weitgehend das getan, heiratete bei der Lohn- und Einkommensteuer sind was die Sozialdemokraten vorher lautstark gefordert ebenfalls Subventionen. Sie kosten jährlich 1 Milli- hatten. Und so muß es ja auch sein: die Opposition arde DM. Was wir aus unserer Sicht brauchen, ist muß die Regierung jagen. jedoch keine Förderung des Konsums, sondern eine Förderung der Investitionen. Auch diese Hilfen sind Ich weiß, daß es sicherlich nicht opportun ist, einmal deshalb ökonomisch völlig verfehlt. die Presse zu kritisieren. Ich persönlich habe auch wenig Grund dazu. Nur, Tatsache ist, daß eine be- Viertens: die Bundesregierung wollte nach wieder- stimmte Presse von den vielen Vorschlägen, die die holten Bekundungen auch die Entbürokratisierung Sozialdemokraten auf den Tisch gelegt haben, keine voranbringen. Sie hätte jetzt eine Chance, indem sie oder nur geringe Notiz genommen hat. Dabei läßt sich zumindest in den neuen Bundesländern das Standes- anhand unserer Vorschläge noch immer leicht fest- recht im Handwerksbereich abschwächt. Nach unse- stellen: Was die Bundesregierung jetzt mit ihrem „Ge- rer Auffassung sollten dortige Industriemeister recht meinschaftswerk" vorgestellt hat, ist wenig durch- großzügig als Handwerksmeister anerkannt werden, dacht und noch immer unzureichend. damit sie den Sprung in die Selbständigkeit leichter schaffen. Leider kommt die Bundesregierung auch Mit aller Vorsicht zunächst ein Wort zu den aktuel- hier nicht voran; der Einfluß der Interessenvertreter ist len Tarifverhandlungen. Ich glaube, die IG Metall hat erheblich, der politische Mut des Bundeswirtschafts- mit ihrem Tarifabschluß in Mecklenburg-Vorpom- ministers aber gering. Wer so mit Grundsätzen um- mern ein positives Zeichen gesetzt. Ich bin davon geht wie diese Regierung, darf keine politische Zu- überzeugt, daß die Löhne in den neuen Bundeslän- kunft haben. dern deutlich stärker steigen müssen als in der alten Bundesrepublik. Mit den Tarifverhandlungen der Ich hatte gesagt: unsere Forderungen zur Wieder- ÖTV bei uns hatte ich deshalb zunächst meine belebung der Wirtschaftstätigkeit greifen weiter. Aus Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 869* der Fülle unserer Vorschläge trage ich noch einmal den Staaten Osteuropas könnten wir den Frieden auf einige Kernpunkte vor: Dauer sichern. Die bisherigen Regionalhilfen für die neuen Bun- Unser wirtschaftspolitisches Hauptproblem ist für desländer sind unzureichend. Das Gefälle an Investi- die nächsten Jahre die Wiederbelebung der Wirt- tionshilfen muß viel stärker zugunsten der neuen Bun- schaftstätigkeit in den neuen Bundesländern. Aber desländer ausgebaut werden. Im allgemeinen benöti- trotz der großen Bedeutung dieser Aufgabe dürfen wir gen wir in den neuen Bundesländern mindestens eine die weitergehenden Probleme nicht völlig vergessen. Investitionszulage von 25 Prozent und Sonderab- Neben vielen wichtigen Dingen gibt es zwei Haupt- schreibungen von 75 Prozent. Diese Hilfen sind auch aufgaben in der Wirtschaftspolitik: Ich meine die kri- deshalb notwendig, weil die Bundesregierung den sensichere Einbettung unserer Wirtschaft in die Welt- Realzins in schwindelnde Höhen getrieben hat. Bei wirtschaft und die ökologische Erneuerung unserer einer Alternativ-Betrachtung für Investoren — das Volkswirtschaft. kann man jetzt schon getrost feststellen — wären die Bundesbankpräsident Pöhl hat zweifellos nicht im- bisherigen Hilfen nicht ausreichend. Wenn wir gerne mer recht. Aber wenn er davor warnt, daß die Ver- beklagen, daß privates Investitionskapital nicht in die schuldung der öffentlichen Hände nicht weiter anstei- neuen Bundesländer fließt, so liegt das nicht an den gen kann, so ist dem voll und ganz zuzustimmen. Bin- Unternehmen, sondern vor allem an der falschen Wei- nenwirtschaftlich ist die exorbitante Verschuldung chenstellung durch die Bundesregierung. der Bundesregierung und der Länder und damit der überdimensionierte Realzins das ökonomische Pro- Wir brauchen — zweitens — eine eindeutige Rege- blem Nummer Eins. Nicht die Privaten, sondern der lung, die der wirtschaftlichen Nutzung von Grund und Staat ist der Zinstreiber in der Bundesrepublik. Dies Boden und vorhandenen Betrieben eindeutig Vorrang kann auf Dauer nicht gutgehen. Die privaten Investi- einräumt gegenüber der Rückgabe. Der jetzt gefun- tionen werden nicht anspringen, solange der Realzins dene Kompromiß ist unzureichend und bleibt ein In- so hoch bleibt, wie er ist. Die weltwirtschaftlichen Pro- vestitionshemmnis. bleme, die sich jetzt deutlich abzeichnen, werden auf Die Bundesregierung muß die Marktchancen für die Bundesrepublik Deutschland übergreifen. Die ostdeutsche Produkte und Anbieter erhöhen. Die So- Bundesregierung tut zu wenig, um diesem Problem zu zialdemokraten haben dazu eine Kleine Anfrage in begegnen. den Bundestag eingebracht. Was sich im Bereich der Die Weltwirtschaft zeigt trotz des Golfkrieges noch Absatzmöglichkeiten für ostdeutsche Produkte ab- immer krisenhafte Erscheinungen. Die Vereinigten spielt, ist zum Teil emotionaler Unsinn des Verbrau- Staaten sollen allerdings bei einer Bilanz zwischen chers, zum Teil mangelt es den ostdeutschen Betrie- Einnahmen und Ausgaben am Golfkrieg 20 Milliar- ben an Wettbewerbsfähigkeit und Marketing-Kennt- den Dollar verdient haben. nissen. Hier ist möglicherweise das Kartellamt, aber vor allem die Bundesregierung gefordert. Was im Einflußbereich der Bundesregierung liegt, wird von ihr jedoch nur halbherzig angepackt. Ich Und eine weitere Forderung zur Verbesserung der meine, daß die Währungsunion in der EG ohne Ver- wirtschaftlichen Lage in Ostdeutschland: Nach der zögerungen vorangebracht werden soll. Der Streit mit Vereinigung hätte Gesamtdeutschland die Handels- Frankreich über den Terminplan ist kleinkariert und brücke zu den neuen Ländern des ehemaligen Ost- überflüssig. blocks werden können. Herr Möllemann kam stolz aus Moskau zurück mit angeblich 9 Milliarden an zu- Beim Abschluß der GATT-Verhandlungen hat die sätzlichen Aufträgen für Betriebe in Ostdeutschland. Bundesregierung bisher eine Bremser-Rolle einge- Daß es sich hier nur um die Gegenzeichnung der rus- nommen. Dies ist ein schwerer Fehler. Denn unter sischen Seite gegenüber vereinbarten Hermes-Ver- dem Strich profitiert die deutsche Volkswirtschaft von trägen handelte, wurde nicht so ganz klar. Eines sollte einem erfolgreichen Abschluß der GATT-Verhand- jedoch klar sein: wenn wir die Zahlungsfähigkeit der lungen. Hier ist auch Bundeskanzler Kohl gefordert, UdSSR und anderer RGW-Staaten nicht verbessern, der ja bekanntlich Schaden vom deutschen Volke ab- gehen diese Lieferungen voll zu Lasten des Bundes- wenden soll. haushaltes. Unsere Volkswirtschaft wird erst dann in einem ge- samtwirtschaftlichen Gleichgewicht sein, wenn die Zur Zeit bricht der Osthandel der ehemaligen DDR- betriebswirtschaftlichen Kosten die gesamtwirtschaft- Betriebe völlig zusammen; einige Betriebe verlieren lichen Kosten voll widerspiegeln. Auf diesem Felde 70 bis 80 % ihres Umsatzes in ehemaligen RGW-Staa- der „Internalisierung der externen Kosten" bedarf es ten. Was wir hier aus sozialdemokratischer Sicht drin- weitergehender Anstrengungen als bisher. gend brauchen, sind zinslose Kredite für den Kauf von Produkten in den neuen Bundesländern — ich spre- Wir Sozialdemokraten werden in diesem Jahr noch che von begrenzten Devisenkreditlinien. Ferner be- eine Änderung zum Stabilitäts- und Wachstumsgesetz nötigen wir Zuschüsse der öffentlichen Hand für be- vorschlagen, um die Wirtschaftspolitik der Bundesre- stimmte Käufe der ehemaligen RGW-Staaten in Ost- gierung stärker auf die Erhaltung der natürlichen Le- deutschland — ich denke an eine Art „Marshallplan" bensgrundlagen zu verpflichten. Es wäre gut, wenn mit konkreten Hilfen für die Umstrukturierung. Dies die Bundesregierung diesem Anliegen positiv gegen- wären nutzbringende Investitionen in die Zukunft. übersteht. An einer weiteren Umgestaltung unserer Mit unserer Verständigungspolitik haben wir einen Wirtschaftsordnung und -gesetze, um Ökologie und entscheidenden Beitrag geleistet, den West-Ost-Kon- Ökonomie miteinander zu versöhnen, führt kein Weg flikt zu überwinden. Mit dem Ausbau des Handels mit vorbei. 870* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Die Zeit der ideologischen Wirtschaftspolitik à la stärkste Wirtschaftswachstum unter den großen west- Lambsdorff scheint ein für allemal vorbei. Viel ge- lichen Industrieländern. Auch für 1991 wird ein wei- bracht hatte der Monetarismus für die deutschen Bür- teres Wachstum von etwa 3 % prognostiziert. Um so gerinnen und Bürger nicht. Vielleicht ein bißchen wichtiger ist es, dafür zu sorgen, daß die Schere zwi- Wirtschaftswachstum über einen längeren Zeitraum, schen alten und neuen Bundesländern so schnell wie dafür jedoch eine extrem ungerechte Einkommens- möglich geschlossen wird. verteilung und eine gewaltige Zunahme der öffentli- Vordringlich ist deshalb die Schaffung neuer wett- chen Verschuldung. Mit Ideologien lassen sich im üb- bewerbsfähiger Strukturen im Beitrittsgebiet. Dazu rigen nach sozialdemokratischer Auffassung die Pro- bedarf es gemeinsamer Anstrengungen von Bund, bleme von morgen nicht lösen. Die Tatsachen drän- Ländern, Gemeinden, Tarifparteien und Verbänden. gen vielmehr zu ökonomischer Nüchternheit und zum Mit dem vom Kabinett am vergangenen Freitag be- Pragmatismus. Das sozialdemokratische Ziel ist je- schlossenen Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost hat doch klar: wir wollen schnellstmöglich eine Anglei- der Bund ein wichtiges Zeichen gesetzt. Zusätzlich chung der Lebensverhältnisse in den neuen Bundes- werden 1991 und 1992 insgesamt 24 Milliarden DM ländern. Wir wollen für ganz Deutschland eine ökolo- zur Förderung von öffentlichen und privaten Investi- gie-orientierte und soziale Marktwirtschaft! Dafür tionen und zur Sicherung von Beschäftigung in die brauchen wir vor allem eine konzertierte Aktion der neuen Bundesländer fließen. Es kommt jetzt darauf Verantwortlichen und zielgerichtetes und entschlos- an, daß dieses Geld schnell und effektiv in beschäfti- senes Handeln der Bundesregierung. Leider sind die gungswirksame Maßnahmen umgesetzt wird. Weichen noch immer nicht in die richtige Richtung gestellt. Nun zum Haushalt des Bundeswirtschaftsministeri- ums: Auch im Regierungsentwurf dieses Einzelplans schlägt sich bereits der beitrittsbedingte Mehrbedarf rt (CDU/CSU): Die Bundesregie- Ku J. Rossmanith nieder. Der Haushalt steigt danach gegenüber 1990 rung legt mit dem Haushalt 1991 jetzt erstmals einen um mehr als das Doppelte auf 14,5 Milliarden DM gesamtdeutschen Haushalt vor. Dies hätte sich vor an. 1 1/2 Jahren in der Debatte über den Haushalt 1990 wohl niemand vorstellen können. Mit der deutschen Die Steigerung von rund 7 Milliarden DM betrifft Einheit ist das wichtigste Ziel der deutschen Nach- zum einen Maßnahmen der Wirtschaftsförderung in kriegspolitik verwirklicht worden. den neuen Bundesländern. Im Vordergrund steht da- bei die regionale Wirtschaftsförderung im Rahmen der Zur wirtschaftspolitischen Lage: Die Herstellung Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regiona- der deutschen Einheit stellt die Bundesrepublik vor len Wirtschaftsstruktur", für die der Entwurf Mittel in enorme Aufgaben, für die es in der Geschichte keinen Höhe von 2 Milliarden DM vorsieht. Zusammen mit Vergleich gibt. Dies gilt vor allem für die Wirtschafts- den Landesmitteln ergibt sich ein Fördervolumen von politik. In den neuen Bundesländern ist der Übergang 4 Milliarden DM allein im Jahr 1991. Nimmt man dazu von der sozialistischen Kommandowirtschaft zur so- die 12%ige Investitionszulage und die vorgesehenen zialen Marktwirtschaft mit einer tiefgreifenden Struk- Sonderabschreibungen, ergibt sich daraus ein erheb- turkrise verbunden. Die Probleme sind insgesamt liches Präferenzgefälle zugunsten der neuen Bundes- schwieriger als ursprünglich angenommen. länder. Mit diesen positiven Investitionsbedingungen Besonders gravierend ist die steigende Arbeitslosig- kann der wirtschaftliche Erneuerungsprozeß tatkräf- keit. Die im alten DDR-System vorhandene verdeckte tig unterstützt werden. Arbeitslosigkeit (personell weit überbesetzte Betriebe Ein weiterer Schwerpunkt bei den Wirtschaftsförde- und überdimensionierter Behördenapparat) tritt jetzt rungsmaßnahmen ist die rasche Entwicklung des Mit- immer deutlicher zutage. Allerdings gibt es auch telstandes im Beitrittsgebiet. Hierfür sieht der Entwurf schon erste Anzeichen einer Besserung — z. B. rund rund 650 Millionen DM vor. Für den notwendigen 300 000 neue Existenzgründungen — , die aber bei Strukturwandel ist vor allem die Gründung neuer weitem nicht ausreichen, um den Beschäftigungsab- selbständiger Existenzen unerläßlich. Die Erfahrung bau in anderen Bereichen zu kompensieren. aus dem alten Bundesgebiet lehrt, daß durch neue Die Menschen in den neuen Bundesländern haben mittelständische Unternehmen auch zukunftsträch- Anspruch auf unsere Hilfe. Deutsche Einheit bedeutet tige Arbeitsplätze geschaffen werden. Dazu gehört auch finanzielle Solidarität. Ich räume ein, daß es in- aber auch, daß die Arbeitnehmer ausreichend qualifi- nerhalb der Koalition gewisse Fehleinschätzungen ziert sind. Ebenso wie die Gründung neuer Unterneh- gab, als wir davon ausgingen, dies würde sich auch men muß deshalb die berufliche Qualifizierung nach- ohne Steuererhöhungen erreichen lassen. Ich ver- haltig gefördert werden. wahre mich aber gegen den Vorwurf des „Steuerbe- Neben den Maßnahmen der Wirtschaftsförderung trugs". Jeder Mensch — auch ein Politiker — hat ein gibt es aber auch noch andere Folgekosten der deut- Recht auf Irrtum. Es war nicht vorauszusehen, daß mit schen Einheit, die im Einzelplan 09 ihren Nieder- dem Golfkrieg und den Hilfen für Osteuropa weitere schlag finden. Als Beispiel seien hier nur die Kosten einschneidende finanzielle Lasten auf die Bundesre- für die ökologische Sanierung und Rekultivierung der publik zukommen. Damit wurde eine vorüberge- Gebiete des ehemaligen Uranerzbergbaus durch die hende Steuererhöhung unumgänglich. Wismut AG in Sachsen und Thüringen genannt, wo Angsichts der positiven Wirtschaftsentwicklung in ganze Landstriche von der Zerstörung bedroht sind. den alten Bundesländern halte ich die Steuererhö- Ich hoffe, daß die Verhandlungen mit der UdSSR über hung auch insgesamt für verkraftbar. Im vergangenen den vollständigen Übergang des Unternehmens in Jahr hatte die alte Bundesrepublik neben Japan das deutsches Eigentum bald abgeschlossen werden kön- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 871* nen, damit die notwendigen Arbeiten zur Umstruktu- blik je gab. Keine Investition soll am Geld scheitern; rierung und Sanierung der Bergbauflächen möglichst keine private, aber auch keine öffentliche. zügig — im Interesse der dort lebenden Menschen — Hier liegt der Schlüssel für neue Dauerarbeits- fortgesetzt werden können. In den nächsten Jahren plätze. muß hierfür mit Kosten von mindestens 5 Milliarden DM gerechnet werden. Deshalb haben wir die 12-%-Investitionszulage um ein halbes Jahr bis Ende 1991 verlängert. Zuletzt zur Ausgabendisziplin und zum Einspa- rungszwang: Die historische Aufgabe der deutschen Mit der 50%igen Sonderabschreibung für Bauten Einheit erfordert einen beträchtlichen Finanzauf- und Ausrüstungsgüter haben wir Fördermöglichkei- wand; deshalb müssen alle Anstrengungen unter- ten geschaffen, mit denen wir jetzt eine Förderinten- nommen werden, durch strikte Ausgabendisziplin in sität von 100 % einer Investition je nach Unterneh- den nächsten Jahren die Haushaltsdefizite eng zu be- mensgröße erreichen. grenzen, um negative Auswirkungen auf die Geld- Bei mittelständischen Unternehmen bringt die Ku- wertstabilität und das Wirtschaftswachstum zu ver- mulation staatlicher Hilfen sogar noch höhere Vor- meiden. teile. Die Koalition hat den Abbau von Steuervergünsti- Es lohnt sich jetzt auch finanziell, in den neuen Bun- gungen und Finanzhilfen in der Größenordnung von desländern zu investieren. jährlich 10 Milliarden DM ab 1992 beschlossen. Mini- Wir haben alles getan, damit — um mit Karl Schiller ster Möllemann hat sogar mehrmals öffentlich mit sei- zu sprechen — die Pferde saufen können. nem Rücktritt gedroht, falls dieses Ziel nicht erreicht wird. Aus meiner Arbeit im Haushaltsausschuß weiß Wir unterstützen die p rivate Initiative mit einem rie- ich, wie schwierig es ist, einmal zugestandene Sub- sigen Infrastrukturprogramm. Allein für Telekommu- ventionen wieder abzubauen. Dies ist für die Betroffe- nikation, Straßen und Schienenwege investiert der nen, die sich an das oftmals „süße Gift" der Subven- Bund in diesem Jahr 17 Milliarden DM. tionen gewöhnt haben, in jedem Falle schmerzlich. Hieraus ergibt sich eine unmittelbare Beschäfti- Aber die finanziellen Belastungen im Zusammenhang gungswirkung vor Ort, vor allem für die Bauwirtschaft mit der deutschen Einheit haben eine neue Situation und das Handwerk. geschaffen, die einen mutigen Schritt in Richtung Subventionsabbau nicht nur rechtfertigt, sondern ge- Insgesamt stehen in den neuen Ländern und ihren radezu erfordert. Ich begrüße es deshalb, daß der Bun- Gemeinden 1991 50,1 Milliarden DM für öffentliche desminister für Wirtschaft dieses Anliegen so nach- Investitionen zur Verfügung; allein 37,5 Milliarden haltig unterstützt, und gehe davon aus, daß er in sei- tragen der Bund und die Bundesunternehmen. Das ist nem Etat mit gutem Beispiel vorangehen wird. pro Kopf der Bevölkerung das größte Investitionsvolu- men, das wir jemals auf den Weg gebracht haben. Die ersten Zeichen einer beginnenden wirtschaftli- Jürgen W. Möllemann, Bundesminister für Wirt- chen Gesundung sind schon zu sehen. Seit Beginn des schaft: Die Wirtschafts- und Finanzpolitik steht vor letzten Jahres hat in den neuen Bundesländern rund der größten Bewährungsprobe in Deutschland nach i Million Menschen neue Arbeitsplätze gefunden. dem Kriege. Ich erwarte, daß der notwendige Abbau unproduk- Innenpolitisch hat der wirtschaftliche Aufbau in den tiver Arbeitsplätze mehr und mehr vom Aufbau wett- neuen Bundesländern absolute Priorität. bewerbsfähiger Beschäftigung aufgefangen wird, zu- Ich bin als Wirtschaftsminister mit dem Ziel ange- mal da wir die Vorfahrtregelung bei Investitionen, treten, dafür zu sorgen, daß das gesamte Deutschland Eigentum und Altlasten verstärkt haben. gleichermaßen am wirtschaftlichen Aufschwung teil- Wir wollen den Vorrang für Investitionen. haben kann und die Bürger in den neuen Ländern Wir verlangen aber auch viel von den Menschen, eine neue Zukunft für sich und ihre Familien erken- die sich mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten auf nen können. die neue Zeit einstellen müssen. Von uns allen ist jetzt eine große gemeinsame und Deshalb geben wir Hilfe zur Qualifizierung. Des- solidarische Anstrengung für den Wiederaufbau ge- halb unterstützen wir im öffentlichen Bereich die ex- fordert. tensive Nutzung von Arbeitsbeschaffungsmaßnah- Die Bundesregierung hat mit der Verabschiedung men in der Übergangszeit. Wir lassen die Menschen des Gemeinschaftswerks Aufschwung-Ost dieses Zei- mit ihren Sorgen nicht allein. chen der Solidarität gesetzt. In diesem und im näch- Jeder muß aber seinen individuell möglichen Bei- sten Jahr stehen 24 Mrd. DM für die neuen Bundes- trag leisten, um die Schwierigkeiten im Übergang zu länder bereit. meistern. Wir haben damit das Notwendige in die Wege gelei- Ich bin sicher, wir haben mit dem Gemeinschafts- tet, um die wirtschaftliche Apathie im Osten zu ver- werk Aufschwung-Ost die richtige Mischung zwi- bannen und in eine dynamische Aufwärtsbewegung schen dem investiven Mitteleinsatz und der arbeits- zu überführen. Das, was man mit Geld erreichen marktpolitischen Absicherung gefunden. kann, haben wir auf den Weg gebracht. Alle verfügbaren Instrumente werden genutzt, um Unser Leitgedanke: Wer im Osten investieren will, den Unternehmen den Weg in die neuen Bundeslän- erhält die beste Förderung, die es in der Bundesrepu- der zu ebnen, Verwaltungshürden aus dem Weg zu 872* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 räumen und möglichst vielen Menschen Perspektiven Die Verwaltungsinsuffizienz im Beitrittsgebiet müs- für Selbständigkeit zu eröffnen. sen wir überwinden. Aber weil das nicht von heute auf morgen zu schaffen ist, müssen wir überall vereinfa- Die Eigeninitiative der Bürger ist eine wichtige chen, nicht nur zur Lösung der Eigentumsfrage, son- Hilfe bei allem, was wir tun. Wir setzen auf die freie dern auch bei den Umweltaltlasten. und verantwortliche Mitwirkung unserer Bürger in ganz Deutschland. Ein Staat, der da verzichtet, bleibt Umweltaltlasten dürfen nicht neue Investitionen unvermeidlich hinter seinen Möglichkeiten zurück. verhindern. Es hilft nichts: Die ökologischen Altlasten sind Kosten der Einheit. Der Versuch, sie auf Erwerber Je mehr sich Selbständigkeit und Kreativität der abzuwälzen, hemmt den Aufschwung. Kein Unter- Bürger jetzt für den Aufschwung entfalten können, nehmer unternimmt unkalkulierbare Risiken. Kein desto eher werden wir unser Ziel erreichen. Vorstand darf das machen. Einige Punkte möchte ich besonders hervorheben. Wenn nach langen Versuchen zur Bewe rtung der Erstens. Die Finanzausstattung der neuen Länder Risiken doch eine kalkulierbare Altlast ermittelt wird, und Gemeinden war — gemessen an den jetzt erkenn- wird jeder Erwerber den Kaufpreis entsprechend ver- baren Aufgaben — unzureichend. Wir haben die ringern. So landet die Altlast wi rtschaftlich wieder bei Möglichkeiten des Einigungsvertrages ausgeschöpft der öffentlichen Hand, nur leider samt den enormen oder — um es mit Herrn Biedenkopf zu sagen — fort- Kosten der Verzögerung des Aufschwungs. geschrieben und neben dem Gemeinschaftswerk wei- Die jetzige Freistellungspraxis ist unzulänglich. Wir tere Hilfen in den Finanzrahmen des Einigungsvertra- müssen die komplexen Anstrengungen um die in- ges aufgenommen. Das war richtig und wichtig. Die terne Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern, neuen Länder und ihre Kommunen verfügen jetzt Kreisen und Kommunen vom Privatisierungsgeschäft über genügend Mittel, um ihre Aufgabe wahrzuneh- abkoppeln. Das gilt genauso für die unverzichtbaren men. Bemühungen, auch die Indust rie an der Lösung des Zweitens. Mein Vorschlag zur Soforthilfe ist mit der Altlastenkomplexes angemessen zu beteiligen. Investitionspauschale von 5 Milliarden für Moderni- Insgesamt liegen hier Herausforderung und Chance sierung und Instandsetzung in den Gemeinden in zugleich: Die aktive Beseitigung der Umweltaltlasten vollem Umfang aufgenommen worden. Wichtig ist, fördert gleichzeitig den Ausbau des Umweltsektors in daß die Kommunen jetzt schnell handeln und sich auf den neuen wie den alten Bundesländern. Sie schafft Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen Arbeitsplätze und bedeutet letztlich das, was man konzentrieren. Hier hemmen weder große Planungs- Versöhnung zwischen Ökologie und Ökonomie vorläufe noch Eigentumsprobleme. Die Bürgermeister nennt. und Landräte müssen jetzt die vom Bund ausgereich- ten Schecks in die Hand nehmen und die Renovierung Die Mehraufwendungen für den Aufschwung-Ost von Schulen, Krankenhäusern und Wohnungen vor- sind nicht nur unabweisbar. Sie sind mit den steuer- antreiben. Dann wird der Aufschwung für die Bürger politischen Beschlüssen der Bundesregierung solide in jeder Straße ein sichtbares Zeichen setzen. finanziert. Drittens. Der Übergang vom Unrechtsstaat zum Auch wenn manche die Diskussion um die Neid- Rechtsstaat, vom Plansystem zur freiheitlichen Markt- steuer für Besserverdienende wiederbeleben wollten, wirtschaft erfordert in der Eigentumsfrage, daß wir die den Solidarbeitrag für Gesamtdeutschland müssen Hemmnisse überwinden auf dem Weg zu mehr Frei- wir alle mit den beschlossenen Steuererhöhungen lei- heit und zur Restitution des Rechts — zur Einheitlich- sten. keit der Lebensverhältnisse und zur Wiederherstel- Die Erhöhung der Einkommensteuer wird klar auf lung des Eigentums. ein Jahr begrenzt bleiben. Für Arbeitsplätze, Wohnbedarf und notwendige In- Die Erhöhung der Mineralölsteuer ist angesichts der frastruktur müssen frühere Eigentümer auf Rückgabe Entwicklung der Ölpreise gesamtwirtschaftlich und verzichten. Sie bekommen stattdessen den Kaufpreis, vom Preisniveau her zu verkraften; darüber hinaus den der Investor zahlt — unter Umständen sogar kann der einzelne durch sparsames und umwelt- mehr. freundliches Verhalten seine Belastung verringern. Das ganze muß schnell und einfach laufen. Wir wol- Mit den Steuerbeschlüssen wird die bisher konse- len deshalb zugunsten von Investoren im Beitrittsge- quent durchgehaltene haushaltspolitische Grundlinie biet die Verfügungssperre vorübergehend ausset- der vergangenen Jahre keineswegs verlassen: Die zen. Rückführung der Staatsquote und die Förderung der Ohne schnelle Klarheit über die Verfügungsrechte Marktkräfte bleiben Ziele der mittelfristigen Finanz- öffentlicher Investoren — der Treuhand wie der neuen politik. Strikte Ausgabendisziplin, Abbau von Sub- Bundesländer, der Kreise wie der Kommunen — gibt ventionen und Privatisierung staatlicher Unterneh- es keinen Aufschwung, keine Freisetzung der Dyna- men und Infrastrukturaufgaben sind weiterhin die mik, die von öffentlichen Investitionen wie vor allem Leitlinien der Haushaltspolitik. von Privateigentum ausgeht. Mit der jüngsten Unterstützung, die die Bundesre- Was nicht für Investitionen gebraucht wird, wird gierung für die jüngsten Koalitionsbeschlüsse vom natürlich zurückgegeben, sobald klar ist, an wen es DIW erhalten hat, hat die Opposition ein sonst oftmals zurückzugeben ist. Aber diese Unklarheit darf nicht geschätzter „Kronzeuge" im steuerpolitischen Abseits länger den Aufschwung hemmen. stehenlassen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 873*

Noch wichtiger ist, daß der Deutsche Gewerk- Wir müssen jetzt den mutigen Schritt wagen, in schaftsbund den wirtschafts- und finanzpolitischen Sektoren, in denen Marktwirtschaft noch nicht ver- Kurs der Bundesregierung unterstützt. Das ist ein er- wirklicht ist Strukturwandel zuzulassen. mutigendes Zeichen. Wir müssen die Weltwirtschaft unter Wettbewerbs- Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften müssen im bedingungen weiterentwickeln, wenn wir den Rück- Interesse eines schnellen Aufbaus in Ostdeutschland fall in den Protektionismus vermeiden wollen. gemeinsam handeln. Freihandel und offene Märkte müssen als Grund- Der Europäische Binnenmarkt und der Wettbewerb lage unserer exportorientierten Wirtschaft erhalten der Produktionsstandorte verlangen von uns auch mit- bleiben. Ihr verdanken wir unseren Wohlstand. Un- telfristige Weichenstellungen. sere Unterstützung für die Landwirtschaft wäre ohne sie nicht finanzierbar. Die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedin- gungen und die Neuordnung der Unternehmensbe- Die Kurskorrektur Richtung Markt muß im Agrarbe- steuerung bleiben auf der Tagesordnung. reich jetzt gelingen. Der Handel mit Agrarprodukten darf nicht zu einer ständigen Gefährdung des Welt- Die Unternehmenssteuerreform wird in dieser Le- handels führen. Antiquierte Schutzmechanismen gilt gislaturperiode fortgeführt. es zugunsten marktkonformer Lösungen umzugestal- Das Gesetzgebungsverfahren wird vor Beginn des ten. Direkte Ausgleichszahlungen für Landschafts- Europäischen Binnenmarkts abgeschlossen sein. pflege und Umweltschutz stören die Marktkräfte weit weniger als im jetzigen System der Agrarordnung. Wenn wir steuerpolitisch glaubwürdig bleiben wol- len, müssen wir die Kürzung von Subventionen auf Ich werbe deshalb für die Erkenntnis, daß es keinen allen Gebieten vorantreiben. Gegensatz zwischen Industrieinteressen und Land- wirtschaftsinteressen gibt, sondern nur ein gemeinsa- Mittelfristig werden Steuervergünstigungen und mes Interesse an einer wettbewerbsfähigen Wirt- steuerliche Sonderregelungen — Höhe : 5 Milliarden schaft. DM — und Finanzhilfen bis 1994 in Höhe von 1,5 Mil- liarden DM abgebaut. Die anstehenden Vereinbarungen zum geistigen Eigentum, zum Marktzugang und im Dienstleistungs- Auf meine Initiative hin ist die Einsparung von wei- bereich müssen umfassend sein. Mit Teilergebnissen teren 4 Milliarden DM beschlossen worden. können wir uns nicht zufriedengeben. Hier können 1992 wird es zu einem Subventionsabbau von rund wir die Kraft zur politischen Führung im Interesse 10 Milliarden DM kommen. Schon Mitte des Jahres unseres Gemeinwohls unter Beweis stellen. werden die Kollegen Schäuble, Waigel und ich ge- Kein geringeres Gut als die Grundlagen unseres meinsam konkrete Kürzungsvorschläge vorlegen. Der Wohlstandes steht auf dem Spiel. eine oder andere Lobbyist wird dann erstaunt feststel- len, daß auch manche heiligen Kühe, die schon Fett Unsere Deutschlandpolitik war erfolgreich, weil un- angesetzt haben, nicht von der Abmagerungskur ver- sere Außenpolitik immer schon die Bürger in Meck- schont bleiben. lenburg-Vorpommern wie in Brandenburg, in Sach- sen und Sachsen-Anhalt, in Thüringen und dem frü- Wir werden dem Steuerzahler deutlich machen, daß heren Ost-Berlin zum Ziel hatte, ihre Freiheit und ihre wir mit seinem Geld verantwortungsbewußt umge- Selbstbestimmung. hen. Jetzt sind sie frei. Jetzt haben sie frei bestimmt und Die Rückführung der Ausgaben hilft uns, die Neu- sich für die Einheit entschieden. verschuldung des Bundes zu begrenzen. Jetzt haben unsere Wirtschaftspoli tik insgesamt, Wir dürfen die Verantwortung für die Stabilität unser Eintreten für offene Märkte wie unsere Strate- nicht allein der Bundesbank in Frankfurt überlas- gie Aufschwung-Ost wiederum die Einheit zum Ziel: sen. die innere Einheit, den Ausgleich der Lebenschancen und Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland. Die wirtschaftliche Solidität des vereinten Deutsch- lands ist ein Motor für die Entwicklung der Europäi- Unsere Deutschland- und Außenpolitik hat die Ein- schen Gemeinschaft und die Weiterentwicklung der heit ermöglicht. Unsere Wirtschafts- und Gesell- Europäischen Integration. schaftspolitik wird die Einheit vollenden. Wir treten mit Nachdruck ein für die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes, die parallele Ver- Bernd Wilz (CDU/CSU): Die Bundeswehr ist in die wirklichung der Politischen Union und der Wirt- Schlagzeilen geraten! Dies ist in einer pluralistischen schafts- und Währungsunion, die Herstellung des eu- Gesellschaft weder ungewöhnlich noch schädlich. ropäischen Wirtschaftsraumes mit den Staaten der Eu- Ungewöhnlich und schädlich sind lediglich die äuße- ropäischen Freihandelszone (EFTA). ren Umstände, unter denen die Bundeswehr ins Ge- rede gekommen ist. Äußerungen und Verhaltenswei- Die Bundesregierung setzt sich intensiv auch für die sen im Zusammenhang mit der Verlegung von Bun- Erhaltung und Stärkung der freiheitlichen Welthan- deswehreinheiten in die Türkei bzw. ins Mittelmeer dels- und Wirtschaftsordnung im Rahmen des GA TT — wenngleich von den Medien teilweise überzeich- ein. net — haben die Frage nach Defiziten bei der Bundes- Ich begrüße die Wiederaufnahme der Verhandlun- wehr aufgeworfen. Wir müssen uns die Frage stellen, gen im Rahmen der Uruguay-Runde. ob unsere Bundeswehr, die eher zur territorialen 874* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Selbstverteidigung erzogen und ausgebildet wurde, Mit dem Ja zur Wehrpflicht verbindet sich für uns auch dann einsatzfähig, d. h. kriegstüchtig ist, wenn die klare Forderung, dem Prinzip von Wehr- und als Bündnisverpflichtung Recht und Freiheit an- Wehrübungsgerechtigkeit noch mehr als bisher Aner- derswo als auf unserem Boden verteidigt werden sol- kennung zu verschaffen. Wir können die Akzeptanz len. der Wehrpflichtarmee auf Dauer nur erhalten und weiter erhöhen, wenn wir die Gleichbehandlung aller Ich will nichts über einen Kamm scheren. Die über- wehrfähigen jungen Männer sicherstellen. Dies ist der wiegende Mehrheit der Bundeswehrangehörigen hat Staat seinen Wehrdienstleistenden schuldig. weder Schwierigkeiten mit ihrem soldatischen Grundverständnis noch mit der Frage der Solidarität Die Bundeswehr steht vor den größten Herausfor- gegenüber unseren Alliierten. Einzelstimmen und derungen seit ihrem Bestehen. Wir wollen nicht nur Minderheiten sorgen allzu rasch für ein falsches Bild. die politische Verpflichtung zum Abbau auf 370 000 Die nach Erhac, Diyarbakir und ins Mittelmeer ent- Mann bis Ende 1994 erfüllen. Gleichzeitig müssen die sandten Soldaten haben treu und vorbildlich ihre Integration ehemaliger NVA-Angehöriger vollzogen Pflicht erfüllt. Die Diskussion hier im Lande hat dies und eine umfassende Neustruktur der Bundeswehr nicht genügend widergespiegelt. Um so mehr schul- bewältigt werden. Dabei sind zahlreiche Standortent- det das Hohe Haus diesen Soldaten Dank und Aner- scheidungen — auch in Abstimmung mit den Alliier- kennung. Gleichermaßen gilt unser Respekt den Sol- ten — zu treffen. Das Ergebnis all dieser Maßnahmen daten und zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr, die muß sich in eine neue NATO-Strategie einfügen las- über Jahrzehnte einen wichtigen Beitrag zur Frie- sen, die derzeit entwickelt wird und stärker als bisher denssicherung geleistet haben. das Element der Multinationalität enthalten soll. Diese gewaltigen Aufgaben werden Geld kosten. Die CDU/CSU bekennt sich nachdrücklich zu unse- Umstrukturierungen und auch Reduzierungen sind ren Streitkräften. Die Bundeswehr wird auch künftig nicht kostenlos zu haben, wenn sie für die betroffenen — wenngleich mit neuem Gesicht und neuen Aufga- Menschen sozial verträglich sein sollen. Was wir ben — unsere zuverlässige Risikoversicherung dar- heute in der Fürsorge gegenüber den Bundeswehran- stellen. Notwendig ist allerdings ein Umdenkungs- gehörigen versäumen, kann morgen schmerzhafte prozeß. An dessen Ende müssen die Bereitschaft zur Auswirkungen auf das innere Gefüge und den sozia- Übernahme einer erweiterten Sicherheitsverantwor- len Frieden in den Streitkräften haben. Dies gilt vor tung und ein umfassenderes Verständnis des Sicher- allem für die Soldaten in den neuen Bundesländern. heitsbegriffes stehen. Es ist Aufgabe der Politik, in Der Verteidigungshaushalt von 52,6 Milliarden DM dieser Frage klare Positionen einzunehmen und den bildet für diese Aufgaben einen engen, vielleicht zu Soldaten eindeutige Vorgaben an die Hand zu ge- engen Finanzrahmen. Ich darf daran erinnern, daß es ben. Ziel der CDU/CSU war, für die Bundeswehr/West ei- Nach Auffassung der CDU/CSU ist Sicherheitsvor- nen Verteidigungshaushalt von unter 50 Milliarden sorge auch in Zukunft nur innerhalb kollektiver DM zu erreichen. Der jetzige Haushaltsumfang, der Sicherheitssysteme möglich. Deutschland muß sich zu bezogen auf die zusätzlichen Bedürfnisse der Bundes- seiner Verantwortung innerhalb dieser Solidarge- wehr/Ost schon eine Einsparung um 7 bis 8 Milliarden meinschaften bekennen. Für das Ausland, die deut- DM bedeutet, muß nun für die gesamte Bundeswehr sche Öffentlichkeit und unsere Bundeswehr muß ausreichen. Klarheit bestehen, was die Deutschen künftig tun wol- Aus verteidigungspolitischer Sicht sind daher mit- len und können. Wer — wie Teile der Opposition — telfristig weitere Beschneidungen des Verteidigungs- die Übernahme internationaler Verantwortung auf haushalts kaum zu verantworten. Der Einzelplan 14 Blauhelme begrenzen oder gar ganz ablehnen will, darf nicht zum Selbstbedienungsladen für andere muß wissen, daß er sich damit an den Katzentisch der Staatsaufgaben werden! Der Umfang des Verteidi- Völkergemeinschaft setzt. Es gibt keine halbe Solida- gungshaushalts ist nach außen Gradmesser des Soli- rität — es sei denn um den Preis einer Sonderrolle darbeitrags Deutschlands zur kollektiven Verteidi- Deutschlands, die wir jedenfalls nicht wollen. gung. Nach innen ist er Ausdruck der Fürsorgepflicht des Staates gegenüber seinen Streitkräften. Die von Die jüngsten Ereignisse haben auch die Frage nach Teilen der Opposition geforderte Halbierung des Ver- dem Für und Wider der Wehrpflicht in den Mittel- teidigungshaushaltes bis 1994 wird weder den sicher- punkt gerückt. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion heitspolitischen Erfordernissen unseres Landes ge- will ich an dieser Stelle nochmals eindeutig unser Ja recht noch läßt sie Raum für zusätzlich notwendige zur Wehrpflicht bekräftigen. Wir halten an der be- Leistungen wie Verifikation, Umweltschutz oder Ver- währten Verankerung der Streitkräfte in unserer Ge- besserung des sozialen Umfeldes. sellschaft fest. Sie hat sich als vorteilhaft erwiesen und in der Bevölkerung den Gedanken des Dienstes am Im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten hat sich Gemeinwesen wachgehalten. Wehrdienst ist eine die CDU/CSU eine Reihe von Zielen zur Verbesse- klassische Form des Dienstes an der Gemeinschaft. rung der personellen und materiellen Struktur der Wer Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst von Bundeswehr gesetzt. Dazu gehören vor allem: erstens vornherein als die höheren moralischen Werte ein- die möglichst rasche Gleichstellung der Soldaten und stuft, leugnet das legitime Recht eines Staates zu sei- Zivilbediensteten in den alten und neuen Bundeslän- ner Verteidigung. Mehr noch: Er hat den objektiven dern; zweitens sozial verträgliche Maßnahmen im Faktor militärischer Macht als Garant zur Sicherung Rahmen der Struktur- und Standortentscheidungen; oder Wiederherstellung von Frieden in Freiheit nicht drittens besondere infrastrukturelle Anstrengungen verstanden oder will ihn nicht verstehen. für die neuen Bundesländer. Dazu sollten mehr als Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 875* geplant Infrastrukturmittel West und aus dem Pro- Ich nehme dieses aber auch zum Anlaß, für den Ein- gramm „Kaserne 2000" in die neuen Länder fließen. satz von Bundeswehrsoldaten außerhalb Deutsch- Viertens fordern wir die Fortführung des Attraktivi- lands möglichst bald Rechtssicherheit anzumahnen. tätsprogramms besonders zur Nachwuchssicherung. Wir dürfen unsere Soldaten in der Frage der Rechts- Wir wollen auch mehr Führerdichte und den schnel- staatlichkeit ihres Einsatzes und in der möglichen Ge- len Abbau des Staus bei unseren Feldwebeln. wissensnot bei der Anwendung von militärischer Ge- walt nicht alleine lassen. Unserem Marinesuchver- Darüber hinaus müssen mit Blick auf die Zukunft band, der dieser Tage zur Erfüllung einer humanitä- auch weiterhin ausreichende Mittel für Forschung, ren Aufgabe in den Golf unterwegs ist, wünschen wir Entwicklung und Beschaffung bereitgestellt werden. alles Gute und eine glückliche Heimkehr. Technologieentwicklung und Modernisierung blei- ben unabdingbare Voraussetzungen für die Funk- Der Golfkrieg hat uns dramatisch mit der Tatsache tionstüchtigkeit einer motivierten Armee. Wer heute konfrontiert, daß nach den tiefgreifenden Verände- daran spart, muß morgen doppelt dafür bezahlen! rungen der sicherheitspolitischen Rahmenbedingun- gen in Europa vieles in unserer Verteidigungspolitik Meine Damen und Herren, die NATO bleibt auch nicht mehr stimmt. Deutschland gewinnt mit dem Zu- künftig der sichere Anker für unsere Sicherheitsvor- sammenwachsen Europas seine zentralstrategische sorge. Zusätzlich ist der Blick zu weiten für eine ver- Lage in der Region zurück. Erstmals in der neueren stärkte Mitwirkung der Bundeswehr im Rahmen un- Geschichte ist unser Land dabei von Verbündeten serer Mitgliedschaft in anderen kollektiven Bündnis- und solchen Staaten umgeben, die sich uns politisch sen. Die Reduzierung der Bundeswehr auf 370 000 und wirtschaftlich rasch annähern und militärischen Soldaten bedeutet einen Vorgriff auf weitere Rü- Ausgleich in einem europäischen Sicherheitssystem stungskontrollverhandlungen. Sie stellt aus unserer suchen. Wir wissen: Unser Land wird militärisch nicht Sicht für eine längere Zeit die untere Marge des Bun- mehr unmittelbar bedroht. deswehrumfangs dar. Eine 100 000-Mann-Armee, Spätestens seit dem Golfkrieg ist uns sehr bewußt wie von Teilen der Opposition gefordert, läßt die Risi- geworden, daß wir uns deutsche Nabelschau künftig ken und Unwägbarkeiten künftiger sicherheitspoliti- ebensowenig werden leisten können wie selbstge- scher Entwicklungen völlig außer acht. nügsamen Eurozentrismus. Jetzt rücken die Probleme Unsere Bundeswehr und mit ihr die verantwortli- und Konflikte in den Vordergrund, die allzu lange chen Politiker stehen vor großen Aufgaben. Die CDU/ unbeachtet und vor allem ungelöst blieben. Auch die CSU nimmt diese Herausforderung an. Wir werden militärische Führung war fixiert auf das immer wieder mit klaren politischen Vorgaben den Weg in kol- Geübte: Rot greift Blau über Finnland oder Österreich lektive Sicherheitsstrukturen vorzeichnen und dabei an und muß gestoppt werden — wenn notwendig mit den Platz für unsere Streitkräfte bestimmen. dem Ersteinsatz von Nuklearwaffen auf ostdeutsche und osteuropäische Städte. Es war die Stunde von Wintex/Cimex. Keine Rede von einer möglichen hori- zontalen Eskalation außerhalb Europas oder gar im Walter Kolbow (SPD): Die späte Stunde, zu der die Aussprache über den Verteidigungshaushalt 1991 Nahen Osten; keine Rede von Krisenmanagement in solchen Fällen. Unsere Fragen hierzu blieben auch im stattfindet,- ist symptomatisch für die Öffentlichkeits und Informationspolitik des Bundesministers der Ver- Gemeinsamen Ausschuß stets unbeantwortet. teidigung seit seinem Amtsantritt. Ihnen, Herr Bun- Angesichts neuartiger Gefährdungen der Mensch- desminister, kommt es sicher gelegen, daß wir nicht heit brauchen wir ein erweitertes, eben internationa- unter den Augen der Öffentlichkeit gewissermaßen les Verständnis von Sicherheit. Das Elend in Ländern live jetzt debattieren, da Ihr Anliegen, ja möglicher- der Dritten Welt, die gewaltige Verschuldung vieler weise Ihr Auftrag das Verhindern jeglicher Öffentlich- Entwicklungsländer, Umweltkatastrophen, Flücht- keit über die Lage der Streitkräfte ist. lingsströme und der immer noch weitgehend unkon- trollierte Waffenhandel zeigen uns, daß Sicherheit Gern möchte ich die Aussprache über den Einzel- nicht mehr länger in erster Linie ein militärischer, son- plan 14 beginnen mit einer der wenigen guten Nach- dern vielmehr ein politischer Beg riff ist — Sicherheit richten der letzten Wochen auf Ihrem Feld, Herr Mini- ist eben nurmehr gemeinsam möglich, so wie wir So- ster Dr. Stoltenberg, nämlich mit der Meldung über zialdemokraten dies vor der Entspannung in Europa den Abzug von NATO-Einheiten aus der Türkei und bereits festgestellt und damit auch Abrüstung zumin- damit auch der Rückkehr unserer Soldaten aus die- destens mitbewirkt haben. Unter dieser Prämisse er- sem Land. Trotz aller politischen Vorbehalte gegen scheint uns ein Verteidigungshaushalt von über diesen Einsatz deutscher Einheiten möchte ich auch 50 Milliarden DM mehr denn je als überhöht. Dabei ist an dieser Stelle unseren Soldaten Dank sagen für die uns sehr bewußt, daß vor allem Abrüstungs- und Kon- Art und Weise der Erfüllung dieses Auftrages. Wir versionskosten zusätzlich zu Buche schlagen werden. konnten uns vor Kreta und in Erhac mit einer Delega- Unser Nahziel ist daher, den Verteidigungshaushalt tion des Verteidigungsausschusses überzeugen von auf unter 50 Milliarden DM zu senken und damit wei- der positiven Haltung der Bundeswehrsoldaten und tere 3 Milliarden DM einzusparen. Wir haben hierzu ihrer Einstellung. Trotz einer beinahe schon dramati- konkrete Vorschläge erarbeitet. schen Konzeptionslosigkeit der politischen Leitung des Verteidigungsministeriums, trotz mangelhafter Die großen Herausforderungen und Aufgaben für Unterstützung durch die Türkei als „host nation" ha- die nächsten Jahre haben sich auch in der Verteidi- ben unsere Soldaten ihre Aufgabe beispielhaft er- gungspolitik von Grund auf verändert. Es sind dies: füllt. Drastische Verringerung der Umfangszahlen, Neu- 876* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 strukturierung der nun gesamtdeutschen Streitkräfte Die Bewilligung von Mitteln für das Entwicklungs- für aktuelle und künftige Aufgaben, Bewältigung der projekt Panzerabwehr-Hubschrauber 2 erscheint uns Abrüstungsfolgen, Standorte- und Rüstungskonver- nicht plausibel. Dieses mag daran liegen, daß es der sion. Bundesregierung bisher nicht gelungen ist, einen ver- nünftigen Auftrag für die künftigen deutschen Streit- Der Generalinspekteur sagte bei der 32. Komman- kräfte zu formulieren. Wir werden jedoch die vielpro- deurtagung: „Nach der Wiedervereinigung steht die pagierte Luftbeweglichkeit so nicht mitmachen. Bundeswehr vor der größten Reform seit ihrer Grün- Schon gar nicht sind uns die voraussichtlich enormen dung. Sie kommt fast einem Neubeginn gleich." Die- Kosten einer künftigen Luftmechanisierung einsich- ses ist fürwahr eine treffliche Lagebeurteilung. Doch tig. Für diese Rüstungsprojekte gibt es derzeit kein was macht der Bundesminister der Verteidigung dar- vernünftiges militärisches Konzept und keine sicher- aus? heitspolitische Rechtfertigung. Hier wird aus politi- Wer nun glaubte, der von der Bundesregierung schen und wirtschaftlichen Erwägungen Geld verteilt, vorgelegte Einzelplan 14 dieses Bundeshaushaltes das wir für andere Aufgaben dringend benötigen. würde diese Erkenntnisse aufnehmen und umsetzen, Wir fordern die Streichung bzw. drastische Kürzung der sieht sich in der Tat getäuscht. Die Philosophie dieser abrüstungspolitisch schädlichen, sicherheits- dieses Haushaltentwurfes heißt vielmehr: Fortführen politisch unnötigen und für eine seriöse Streitkräfte- des Begonnenen, globale Minderausgaben statt planung nicht erforderlichen Mittel. Wir fordern die Schwerpunktbildung. Das Fazit ist: Hier wird nicht Umschichtung von Mitteln zugunsten der dringend neugestaltet, hier wird wider bessere Erkenntnis nur erforderlichen Baumaßnahmen und Sanierungsauf- verwaltet. Dies ist keine Politik, sondern Ausdruck der gaben in den neuen Bundesländern, z. B. aus den Hilflosigkeit gegenüber den Problemen und Folge ei- Ausgaben für die NATO-Infrastruktur und aus dem ner gedankenlosen Unbekümmertheit, mit der die Attraktivitätsprogramm. Baumaßnahmen in den alten Bundesregierung insgesamt an die großen Gegen- Ländern müssen gestoppt oder zumindest gestreckt wartsaufgaben herangegangen ist. werden, um für die Soldaten im Osten zumutbare Ver- Wir treten für Umschichtungen ein, die klare hältnisse zu schaffen. Gleiche Lebensbedingungen in Schwerpunkte setzen; wir treten für Kürzungen ein, Deutschland heißt auch gleiche Bedingungen für die die dafür die erforderlichen Finanzmittel freimachen Soldaten in Ost und West. Durch globale Minderaus- können. Die aktuellen Herausforderungen können gaben, insbesondere durch Kürzung der extrem ho- nicht mit halbherzigem Krisenmanagement unter hen Betriebsausgaben müssen umfangreiche Mittel Ausschluß der Öffentlichkeit bewältigt werden. für die Verbesserung der Infrastruktur und zur Unter- stützung der Kommunen geleistet werden. Mein Kol- Eine auf 370 000 Soldaten schrumpfende Bundes- lege Neumann aus Gotha wird hierzu im einzelnen wehr muß entschlossen umstrukturiert und neu ge- sprechen. gliedert werden, sie muß anders ausgerüstet werden, sie muß einen neuen Auftrag bekommen auf der Es ist zu prüfen, ob weitere Mittel zugunsten der Grundlage der unveränderten Wertebestimmung un- Standortkonversion und zur Beseitigung von Altlasten serer Verfassung! Der vorliegende Einzelplan 14 wird umgeschichtet werden können. Beide wichtigen The- dieser Forderung nicht gerecht, da die bisherigen men werden von der Bundesregierung und hier vom Ausrüstungs- und Rüstungsprogramme nur fortge- Bundesminister der Verteidigung absolut unzurei- schrieben werden. chend behandelt. Sie, Herr Bundesminister, haben es zu verantwor- Von der Verringerung der Streitkräfte, sowohl der ten, daß wie in den vergangenen Jahren auch in die- Bundeswehr als auch der Stationierungsarmeen, wer- sem Haushalt wieder der Jäger 90 mit 800 Millionen den viele Soldaten, zivile Beschäftigte, Städte, Ge- DM zu Buche schlägt. Und dies, obwohl das europäi- meinden und Regionen betroffen. Sie, Herr Bundes- sche Jagdflugzeug 90 wahrscheinlich nie in die Pro- minister der Verteidigung, vermeiden hartnäckig den duktion gehen wird. Wären Sie unseren Vorschlägen gesellschaftlichen Dialog zur Beantwortung wichtig- der vergangenen Jahre gefolgt, hätten durch Strei- ster Fragen, wie: chung des Jäger 90 schon weit mehr als 5 Milliarden — Was kommt nach dem Militär in den bisherigen DM eingespart werden können. Gerade die Freien Standorten, wenn Divisionsstäbe, Brigadestäbe, Ba- Demokraten spitzen hier wie in anderen Fällen stän- taillone, Geschwader und andere Einheiten abzie- dig den Mund, pfeifen aber nicht. hen? Das Heer reduziert seine Brigadezahl von 42 auf 28. — Wie bewältigen wir die Folgen der Truppenredu- Dieses ist eine gute Entscheidung, ist sie doch der zierung? sicherheitspolitischen Entwicklung angemessen. Warum aber, so frage ich, brauchen wir noch etwa 20 —Wie gelingt uns die Umstellung der bislang militä- mechanisierte Brigaden mit insgesamt über 4 000 risch genutzten Ressourcen und Dienstleistungen in zivile Verwendung, damit zum einen die Chancen, die Kampfpanzern, wenn rings um uns künftig nur noch befreundete demokratische Staaten sein werden? Ob- in der Abrüstung liegen, genutzt werden können und wohl dieses so ist, sind in diesem Haushaltsentwurf damit zum anderen die wirtschaftlichen Folgen der noch über 1 Milliarde DM für die Beschaffung von Abrüstung gedämpft werden? Kampffahrzeugen angesetzt. Die Beschaffung von Mit einem Satz: Wie planen wir sozialverträglich für Munition verschlingt die Riesensumme von über die betroffenen Menschen, Kommunen und Regionen 2 Milliarden DM. Hier liegt unseres Erachtens noch die Standortekonversion? Was verstehen Sie unter So- beachtliches Sparpotential. zialverträglichkeit, Herr Bundesminister? Erklären Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 877*

Sie, daß Sie gewillt sind, für Besitzstandwahrung der meinen Appell wiederholen: Informieren Sie lieber betroffenen Soldaten und Zivilbeschäftigten einzutre- schnell als später vollständig! ten. Erklären Sie, daß es keinem Soldaten oder Zivil- In der Armee ist es inzwischen ein geflügeltes Wort: beschäftigten schlechter gehen soll als bisher. Erklä- Der Mensch steht im Mittelpunkt und damit allen im ren Sie, daß Sie Sozialpläne für jede einzelne Dienst- Wege. Jeder weiß, daß bis 1994 militärisches und zivi- stelle entwickeln werden. Und erklären Sie schließ- les Personal in großem Umfang abgebaut werden lich, daß Sie einen nationalen Sozialplan für die muß. Vielleicht sage ich Ihnen etwas Neues: Aussteu- Standortekonversion im Bundeskabinett nicht nur ern und Umsetzen von Personal kostet Geld. In diesem vorschlagen, sondern auch verwirklichen wollen. Um Haushaltsentwurf ist noch nirgendwo ein Hinweis auf hier richtige Positionen beziehen zu können, bedarf es die Kosten des im Entwurf schon existierenden Perso- einer vollständigen Transparenz in den militärischen nalstrukturgesetzes. Angelegenheiten, die insbesondere wirtschaftliche Komponenten haben, und umfassender, frühzeitiger Die Anhebung der Gehälter in den neuen Bundes- Information der politisch Verantwortlichen, auch des ländern auf Westniveau wird sich nicht dadurch ver- Verteidigungsausschusses, der Betroffenen und Be- meiden lassen, daß man sie nicht in den Haushaltsent- teiligten durch die Bundesregierung und durch Sie, wurf aufnimmt. Allen ist bekannt, daß die Bezüge Herr Bundesminister! Leider weigern Sie sich, Herr noch in diesem Jahr auf 60 % der vergleichbaren Dr. Stoltenberg, die Auswirkungen der Abrüstung Westgehälter angehoben werden müssen. Auch die- und der damit verbundenen Verkleinerung oder Auf- ses ist im Haushalt nicht vorgesehen. Auch hier finden lösung von Garnisonen öffentlich und mit den Betrof- wir einen deutlichen Beweis für die Konzeptionslosig- fenen zu diskutieren. Sie nennen keine Zahlen für Sol- keit der Bundesregierung: Während im Westen in daten und Zivilbedienstete, die betroffen sein werden, Kürze Stellen in erheblichen Umfängen abgebaut Sie nennen keine Standorte und haben kein Konzept werden müssen, werden derzeit im Osten im großen für den Verminderungs- und Konversionsprozeß. Ein Stil Stellen angehoben. Der Verdacht drängt sich auf, weiteres Mal hoffen Sie, über einen wichtigen Wahl- daß hier an dem Erfordernis vorbei in einer unüber- termin, nämlich den 21. April 1991, im stark betroffe- sichtlichen Lage noch schnell Kar rieren gezimmert nen Bundesland Rheinland-Pfalz zu kommen. Dabei werden, die nicht gerechtfertigt sind. gilt hier der Grundsatz: Je früher Tatsachen offenge- Obwohl im Verteidigungshaushalt das Geld an al- legt werden, desto leichter können sich alle Beteilig- len Ecken und Enden fehlt, scheut sich diese Bundes- ten darauf einstellen und planen! regierung nicht, über 640 neue Planstellen für Solda- ten und Beamte aus dem Westen zu fordern, die als Die SPD fordert seit Beginn dieser Entwicklung ein Führungspersonal für den Aufbau der Bundeswehr im Konversionsprogramm, das den wirtschaftlichen Fol- Osten vorgesehen sind, davon allein 14 Generale, gen von Abrüstung, Truppenreduzierungen und 292 Obristen und Oberstleutnante und 77 Stellen für Standortauflösungen Rechnung trägt und einen Aus- Zivilpersonal im höheren Dienst. Und dies erfolgt alles gleich vorsieht. Wir verlangten dies bereits Anfang vor dem Hintergrund der umfangreichsten Personal- des Jahres 1990 im Zusammenhang mit der frühzeiti- reduzierung der Bundeswehr, die man sich nur vor- gen Einbindung aller Betroffenen in diesen Prozeß. In stellen kann; dies erfolgt, so grotesk es auch anmutet, unserem Regierungsprogramm, das uns auch in der parallel zu einem in Arbeit befindlichen Personalver- Opposition verpflichtet, werden regionale Struktur- minderungsgesetz. Sollen hier Leute nochmals beför- programme für betroffene Gebiete — unter anderem dert werden, um sie kurz darauf in den vorzeitigen dotiert mit freiwerdenden Mitteln aus dem Verteidi- Ruhestand zu schicken? Warum gehen Sie, meine Da- gungsetat — vorgesehen. In vielen Fachkonferenzen men und Herren von der Regierungskoalition, so über die Standortkonversion in den Bundesländern großzügig mit den Steuermitteln unserer Bürger um, haben wir die Unsicherheit verspürt. Mühevoll haben so müssen Sie sich fragen lassen. wir uns Zahlen über die Soldaten und Zivilbeschäftig- Wir Sozialdemokraten fordern, daß stattdessen im ten in den militärischen Standorten, Aussagen über Haushalt 1991 sichergestellt wird, daß alle Porte- das Profil der Beschäftigten und ihrer Arbeitsplätze, peeunteroffiziere vor ihrem Ausscheiden zum Stabs- über die Altersstruktur, über die Wirtschaftskraft der feldwebel befördert werden können. Der Haushalt für Streitkräfte und die Abhängigkeiten von Dienstlei- 1991 sieht auch wieder keine einzige Planstelle A 13g stungen aller Art besorgt. Dies hilft uns, die Förderge- für Offiziere des militärfachlichen Dienstes vor, ob- biete, ihre Förderkulisse und die daraus resultieren- wohl bereits im letzten Haushalt der Verteidigungs- den Förderungsmittel besser beurteilen zu können. ausschuß dies beschlossen hatte. In den übrigen Ver- Gegen Ihre Verschleierungstaktik, Herr Dr. Stolten- waltungen gibt es bei vergleichbaren Tätigkeiten be- berg, mußten wir angehen, damit die Bekanntgabe reits die Möglichkeit, die Besoldungsstufe A 14 g zu der Pläne über den Abbau und die Umorganisation erreichen. Den Soldaten verweigert man nach wie vor von Bundeswehrstandorten forciert und schließlich mit fadenscheinigen und absolut nicht stichhaltigen wieder Sicherheit für Arbeits-, Lebens- und Wirt- Gründen das Erreichen der Besoldungsstufe A 13 g. schaftsplanungen der betroffenen Menschen und Re- Wir Sozialdemokraten fordern die erforderlichen gionen geschaffen wird. Die Soldaten und Zivilbe- Planstellen im Haushalt 1991. Auch bei den zivilen schäftigten sind nämlich nicht so unmündig und pas- Mitarbeitern der Bundeswehr vermissen wir im Haus- siv, wie Sie offensichtlich vermuten. Vielleicht emp- halt die notwendigen Verbesserungen im Bereich des finden sie die Konversion und Reduzierung auch als mittleren und gehobenen Dienstes. Chance, ihre bisherige Lebensplanung zu verändern. Sie wollen ihr Schicksal in die Hand nehmen und nicht Auch das hat mit einer sozialen Politik nichts zu tun. der Bürokratie im BMVg überlassen. So kann ich nur Wir jedenfalls werden in der Kontinuität unserer so- 878* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 zialen Forderungen für die Streitkräfte bleiben. Daher wurfs: Wenn der politische und strategische Überbau werden wir das Thema Dienstzeitbelastung wieder fehlt, kann eigentlich nicht neu strukturiert werden auf die Tagesordnung dieser Legislaturperiode setzen und sind Rüstungsprogramme reine Makulatur. und darauf drängen, daß eine gesetzliche Regelung der Dienstzeit auch für Soldaten endlich eingeführt Was aber tut die Bundesregierung? Was tun Sie, wird. Auch die Frage der Beteiligungsrechte werden meine Damen und Herren, von der Koalition? Man wir wieder aufnehmen und unseren leider zum Ende hält sich bedeckt! Man sitzt aus! Man wartet, bis in der letzten Legislaturpe riode abgelehnten Gesetzent- den internationalen Gremien vorgedacht wird. Man wurf wieder einbringen. tastet im nationalen Bereich mit der Stange im Nebel, wo Führung und Gestaltungskraft gefordert sind. So In Europa sind wir auf dem Wege internationaler schickt z. B. die CDU ihren Generalsekretär Volker Zusammenarbeit und Übertragung souveräner Rühe als Minenhund mit der Bemerkung vor, die Bun- Rechte auf multinationale Institutionen schon ein gu- deswehr solle im Rahmen der Westeuropäischen tes Stück vorangekommen. Die SPD ist für eine ge- Union künftig zur Wahrung europäischer Interessen meinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Gemein- auch außerhalb Europas eingesetzt werden können, schaft. Dies kann am Ende auch gemeinsame europäi- „wenn es" , so Rühe wörtlich, „beispielsweise um die sche Streitkräfte bedeuten. Herstellung internationalen Rechts" gehe. Was sind In allen Parteien, in den Medien und in der Bevöl- denn europäische Interessen? Wo ist die Grenze zu kerung wird eine heftige Debatte geführt über die Interessen eines europäischen Partnerlandes? Hier ist künftige Rolle Deutschlands im Rahmen von Aktionen die Bundesregierung aufgefordert, endlich Klarheit in der Vereinten Nationen. Wir stehen unter erhebli- die Diskussion zu bringen. Zunächst müssen unsere chem internationalen Druck zugunsten einer Ent- Sicherheitsinteressen klar und eindeutig definiert scheidung für mehr internationales militärisches En- werden. Was dann den militärischen Anteil unserer gagement. Im Rahmen einer Fortschreibung des Sicherheitspolitik anbelangt, wollen wir, meine Da- Grundgesetzes muß diese Frage geklärt werden. Vor men und Herren, der Bundeswehr die Mittel und die einer Entscheidung wollen wir jedoch darüber eine Möglichkeiten, die sie zur Erfüllung des von uns, vom breite gesellschaftliche Diskussion führen. Dabei wird Deutschen Bundestag gestellten Auftrages braucht, eine Rolle spielen, daß der Gewaltverzicht Deutsch- nicht verweigern. lands bei den Bürgerinnen und Bürgern tief verwur- Lassen Sie uns dieses gemeinsam in die richtige zelt ist. Andererseits wissen wir, daß die Weltorgani- Reihen- und Prioritätenfolge bringen und uns der Ver- sation nicht völlig auf Zwangsmittel verzichten kann. antwortung bewußt sein, daß Haushaltsgelder, die Wir wollen diese Debatte in großer Ernsthaftigkeit anderenorts viel dringender gebraucht werden, nicht und dem Friedensgebot unserer Partei verpflichtet mit für unsinnige Programme und überholte Projekte aus- der Öffentlichkeit führen. gegeben werden dürfen. Erst dann können wir auch Ich möchte an dieser Stelle die Kolleginnen und die innere Krise, die Desorientierung und Motiva- Kollegen der Regierungskoalition nachdrücklich auf- tionsdefizite in der Truppe überwinden. Unser ge- fordern: Brechen Sie eine solche Entscheidung nicht meinsames Ziel muß sein, eine friedens- und abrü- über's Knie. Was wir brauchen ist eine neue Legitima- stungsorientierte Sicherheitspolitik zu definieren und tionsbasis für unsere Streitkräfte. Eine Verfassungs- eine entsprechend den verteidigungspolitischen Er- änderung muß von einer überzeugenden Mehrheit fordernissen richtig strukturierte und gerüstete Bun- der Bevölkerung getragen werden. Hierfür werden deswehr als zuverlässiges Instrument dieser Politik zu wir die politischen Bedingungen definieren müssen, ermöglichen. Wenn wir dann noch einen hohen Ak- unter denen die Bundesrepublik als Mitglied der Ver- zeptanzgrad für den Auftrag unserer Streitkräfte in einten Nationen nötigenfalls auch einen militärischen der Bevölkerung erreichen, kann man auch in Etatfor- Beitrag zur Friedensbewahrung oder Friedenswieder- derungen umsetzen, was unsere Sicherheit und damit herstellung im Rahmen der UNO leisten sollte. Es wird dem Frieden dienlich ist. weiterhin zu prüfen sein, wie das Grundgesetz bzw. die zukünftige deutsche Verfassung diese politisch gewollte Entscheidung hinreichend präzise begren- Carl-Ludwig Thiele (FDP): Als ich im letzten Jahr für zen kann, um Mißbrauch auszuschließen. Auf dieser den Deutschen Bundestag kandidierte, hatte nicht nur Basis lassen sich auch Einzelfragen aus dem Span- ich, sondern hatten auch große Teile der Bevölkerung nungsfeld Wehrpflicht, allgemeine Dienstpflicht, das Gefühl, daß das Zeitalter der Bedrohungen be- Wehrgerechtigkeit sowie Auftrag und Umfang künfti- endet sei und das Zeitalter des Friedens Einzug halten ger deutscher Streitkräfte sehr viel leichter lösen. werde. Meine Damen und Herren, der vorliegende Etatent- Auf grausame Weise sind wir dann ja alle von dem wurf wird den tiefgreifenden Änderungen der Außen- Golfkrieg zunächst eines anderen belehrt worden. und Sicherheitspolitik nicht gerecht. Er bietet keine Grundlage für einen Umbau unserer Streitkräfte, der Ich hatte damals gewünscht, daß die Sanktionen sich an den drastisch veränderten strategischen und und die politischen Bemühungen zum Erfolg, nämlich operativen Gegebenheiten orientiert. Unsere Bundes- einem Abrücken der irakischen Armee aus Kuwait wehr muß nicht nur umstrukturiert und neu gegliedert führen. Rückblickend muß ich feststellen, daß diese werden. Was das eigentliche Defizit ist: Nach dem Sanktionen wohl nicht zum Erfolg führen konnten, da Wegfall der Ost-West-Konfrontation hat unsere Bun- Saddam Hussein sein Volk so unterdrückte und heute deswehr keinen konkreten und plausiblen Auftrag. noch unterdrückt, daß auch eine Not im Volk den Und hier liegt das Grunddilemma dieses Etatsent- Sturz des Diktators nicht hätte herbeiführen können Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 879* und offensichtlich auch jetzt noch nicht herbeiführen hen kann. An diesen Zahlen wird deutlich, daß der kann. Verteidigungshaushalt 1991 einen Einschnitt in die europäische und die deutsche Politik markiert. Vor Dieser Krieg hat aber auch gezeigt, daß für die Be- allem ist dies ein Einschnitt in Umfang und Struktur wahrung von internationalem Recht, Frieden und der Bundeswehr. Freiheit notfalls gekämpft werden muß. Ich möchte an dieser Stelle den Streitkräften der Alliierten danken. Die von der FDP in diesem Hohen Hause unter Be- Dank möchte ich auch unseren Soldaten aussprechen, rücksichtigung der gesamtpolitischen Entwicklung die in der Türkei und im Mittelmeer gezeigt haben, schon in der 11. Legislaturperiode als verantwortbar daß wir Teil der NATO sind und zu unseren Bündnis- geforderte Trendumkehr bei Verteidigungsausgaben verpflichtungen stehen. unseres Landes nimmt nun konkrete Formen an. Die Ich möchte an dieser Stelle aber nicht unerwähnt Verschiebung der Schwerpunkte im Einzelplan 14 lassen, daß unser Grundgesetz uns mit gutem Grund kennzeichnet den Umbruch, der sowohl die ange- enge Schranken für den Einsatz der Bundeswehr auf- strebte Verkleinerung der Bundeswehr insgesamt wie erlegt hat. Nach unserer Auffassung besteht der Auf- vor allem die Integration des östlichen Teils — der trag unserer Streitkräfte da rin, Kriege zu verhindern ehemaligen NVA — personell und materiell verkraf- und Frieden zu bewahren. Friedenspolitik ist deshalb ten muß. die beste Verteidigungspolitik. Friedenspolitik ist deshalb auch die liberale Gestaltung der Außenpoli- Ein wesentliches Problem besteht in diesem Haus- tik, denn der Frieden ist die unabdingbare Vorausset- halt auf dem Gebiet der Bundeswehr Ost. Ich hatte zung für ein Leben in Freiheit und Menschenwürde. noch Dienstag letzter Woche die Möglichkeit, dort Besichtigungen vorzunehmen und Gespräche zu füh- Liberale tragen seit 1969 die Verantwortung für die ren. deutsche Außenpolitik. Walter Scheel und Hans-Diet- rich Genscher haben hierfür in der sozial-liberalen Unser Ziel muß es sein, aus dem Bereich der Bun- wie auch in der christlich-liberalen Regierung ge- deswehr Ost und dem Bereich der Alt-Bundeswehr kämpft und gearbeitet. — die in den neuen Bundesländern „O riginal-Bun- deswehr" bezeichnet wird — eine einzige Bundes- Diese Friedenspolitik auf der Grundlage von Solida- wehr zu werden. Dies setzt voraus, daß Vertrauen rität und Vertrauen in einem Bündnis demokratischer geschaffen wird. Das ist besonders deshalb erforder- Staaten führte zu den internationalen Menschen- lich, weil das kommunistische System der SED das rechts- sowie Abrüstungskonferenzen. Auf Grund des Land und die Menschen ausgeplündert hat, um sich Erfolgs dieser Konferenzen und auf Grund der durch hochzurüsten. Generalsekretär Gorbatschow ermöglichten tiefgrei- fenden Veränderungen im Osten, im Ost-West-Ver- Lassen Sie mich hierzu einige Zahlen nennen, die hältnis sowie in dem nunmehr wiedervereinten einen Teil der Problemlage verdeutlichen: Ca. Deutschland müssen bei uns in der Bundeswehr bis- 250 000 t Munition müssen entsorgt werden. Nach Ra- herige Konzepte und Strukturen überdacht und neu tifizierung der Wiener Verträge sind ca. 11 000 Panzer definiert werden. und gepanzerte Fahrzeuge zu vernichten. Von ca. Dieser Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 100 000 vorgefundenen Fahrzeugen sind 70 000 Fahr- 1991 trägt dem schon Rechnung. Die nächsten Haus- zeuge auszusondern. Bei der Summe der übernomme- halte werden es ebenfalls tun. Wenn man sich ansieht, nen Liegenschaften müssen im erheblichen Umfang daß der gesamte Haushalt der Bundesrepublik Wachdienste geschoben werden. Ein kurzfristig er- 300 Milliarden DM in 1990 auf gut 400 Milliarden DM reichbarer Schwerpunkt muß darin liegen, von der in 1991 gestiegen ist, so findet man in diesen Zahlen Bewachung auf den Dienst und die Ausbildung über- die deutsche Einheit und die um ein D rittel größer gehen zu können. Dies ist auch wichtig für die Moti- gewordene Bundesrepublik augenfällig wieder. Der vation der Bundeswehr im Osten. Verteidigungshaushalt ist demgegenüber nicht ge- Vergleicht man ferner die räumliche Unterbringung stiegen, sondern sogar gesunken. Gegenüber dem der Soldaten in den neuen Bundesländern, so wird Haushaltsansatz für die Bundeswehr Ost und West offensichtlich, daß hier direkter und konkreter Hand- von gut 60 Milliarden DM wurden rund 7,5 Milliarden lungsbedarf besteht. Küchen und Sanitätseinrichtun- DM eingespart. Unsere Bundeswehr hatte 495 000 gen sowie die Unterkünfte sind vorrangig herzurich- Mann; die NVA hatte 170 000 Mann. Hinzu kamen ten. Auf Grund der altertümlichen und enorm perso- auf dem Gebiet der alten DDR mehr als 400 000 Mann nalintensiven Heizanlagen sind auch in diesem Be- Betriebskampfgruppen bzw. paramilitärische Ver- reich schleunigst Verbesserungen herbeizuführen. Es bände. Ohne diese Verbände ergibt sich, daß es vor sollte alles getan werden, damit die hierfür vorgese- der deutschen Einheit 665 000 deutsche Soldaten henen Mittel in der Größenordnung von mehreren gab. hundert Millionen DM sofort eingesetzt werden, da- Die Gesamtstärke soll stufenweise auf 370 000 mit gröbste Mißstände beseitigt werden. Man muß Mann, mithin etwas mehr als die Hälfte, innerhalb von sich vor Augen führen, daß man hier mit relativ gerin- nur vier Jahren bis Ende 1994 gesenkt werden. Da gen Mitteln ein Maximum an Erfolg und Verbesse- diese Senkung nicht sofort durchgeführt werden rung erreichen kann. Diese Aufträge sollten insbeson- kann, haben wir einen Verteidigungshaushalt vorlie- dere an ortsansässige kleinere Unternehmen und gen, der so personalintensiv ist, wie noch nie einer Handwerker vergeben werden. Dieses kann dann war. 48 % werden für Personal ausgegeben. Dies ist gleichzeitig zu gewünschter Beschäftigung in den ein Anteil, der nur als Übergang in dieser Höhe beste- neuen Bundesländern führen. 880* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Ein ganz wesentliches Ziel von uns allen muß es Vorwoche der mehrere hundert Seiten dicke Haushalt sein, in den neuen Bundesländern Vertrauen in und zugeleitet wird, der vier Tage später im Plenum ver- für die Bundeswehr zu schaffen. Dieses setzt voraus, handelt werden soll. Die ernsthafte und gründliche daß die innere Führung in der Bundeswehr gerade in Auseinandersetzung mit diesem Haushaltsteil hätte den neuen Bundesländern gilt. Es muß deutlich wer- Zeit und umfassende Erläuterungen seitens der Bun- den, daß es in der Bundeswehr zu den besonderen desregierung benötigt. Pflichten des Vorgesetzten gehört, Würde und Rechte Kaum ein anderer Teil des Haushaltsentwurfs ver- des Soldaten zu respektieren, durch eigene Haltung mag so drastisch den Menschen in den sogenannten und Pflichterfüllung innerhalb und außerhalb des fünf neuen Ländern vorzuführen, welcher Stellenwert Dienstes ein Beispiel zu geben und von seiner Befehls- ihrer sozialen und wirtschaftlichen Katastrophe beige- gewalt im Bewußtsein seiner Verantwortung Ge- messen wird. brauch zu machen. Diese Tradition der inneren Füh- rung in unserer Bundeswehr muß fortgesetzt werden. An die Adresse des Kollegen Schulz vom Bünd- Es muß deutlich werden, daß in unserem Staat Solda- nis 90. Gerade auf Grund Ihrer Sympathien für den ten Rechte auch gegenüber Vorgesetzten haben. Inhalt des Antrages halte ich es für wenig nachvoll- Ich begrüße es, daß von den Generälen der NVA ziehbar, diesen mit formaler Argumentation abzuleh- niemand und von den gut 2 200 Obersten lediglich 80, nen, zumal da der Inhalt offensichtlich nicht schwer zu teilweise unter erheblicher Herabstufung, befristet erfassen war. von der Bundeswehr übernommen wurden. Man muß Ich hätte mir gewünscht, im Jahre 5 nach Einleitung sich immer wieder vor Augen führen, wie kopflastig der außen- und sicherheitspolitischen Perestroika in und funktionärsartig die NVA aufgebaut war: Bei der der Sowjetunion und im Jahre 2 nach der Wende in Bundeswehr gab es für 100 Mannschaftsdienstgrade der DDR, kurz: nach dem Ende des Kalten Krieges, zu ca. 12 Offiziere, bei der NVA 32. etwas Erfreulicherem als einem gigantischen Rü- Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Punkt nen- stungshaushalt reden zu können. Allein die Existenz nen, der noch diskutiert werden muß: Wehrpflichtige des Einzelplans 14 und weiterer offener und versteck- in den neuen Bundesländern erhalten 250 DM Weih- ter Militärausgaben in anderen Einzeltiteln des Haus- nachtsgeld und 500 DM Entlassungsgeld. Wehrpflich- halts ist nicht nur ein Ärgernis, sondern beredtes tige in der alten Bundesrepublik erhalten 380 DM Zeugnis alten Denkens dieser Bundesregierung. Weihnachtsgeld und 2 500 DM Entlassungsgeld. Da Dieses alte Denken setzt sich bei der veranschlag- Wehrpflichtige nach meiner Auffassung nicht mit nor- ten Höhe der militärischen Ausgaben fort. Während malen Bediensteten gleichgestellt werden dürfen und der Öffentlichkeit Verteidigungsminister Stoltenberg auch nicht so einzustufen sind, sondern etwas anderes quasi am Bettelstab hinkend vorgeführt wird, wäh- darstellen, sollte diese unterschiedliche Behandlung rend von angeblich drastischer Kürzung des Rü- im Westen und im Osten Deutschlands aufgegeben stungshaushalts die Rede ist, ergibt sich für 1991 ein und eine einheitliche Regelung gesucht werden. Für Betrag an Finanzmitteln für militärische Zwecke in mögliche Zusatzausgaben ist eine kostenneutrale einer Höhe von über 66 Milliarden DM. Die Gruppe Deckung im Einzelplan zu suchen. der PDS/Linke Liste macht nämlich die regierungs Lassen Sie mich abschließend für die FDP feststel- amtliche Trennung bei den Militärausgaben zwischen len, daß nach unserer Auffassung die Bundeswehr im den direkten Mitteln für das Verteidigungsministe- Rahmen der künftigen europäischen Sicherheitspoli- rium und den Mitteln zur Unterstützung des Golf- tik einen wichtigen Beitrag leisten muß und leisten kriegs nicht mit. wird. Für mich als neuen Abgeordneten ist es eine Dabei sind in dem von mir genannten Betrag wei- besondere Herausforderung, in dieser Zeit als Bericht-- tere militärische Ausgaben noch nicht enthalten: die erstatter der FDP für den Verteidigungsetat im Haus- Rüstungssonderhilfen und NATO-Verteidigungshil- haltsausschuß tätig zu sein. Wenn politische Tätigkeit fen, die Versorgungsbezüge der Soldaten der Bundes- Gestalten und nicht nur Verwalten bedeutet, dann lie- wehr, die Wehrstrafgerichtsbarkeit und anderes. gen sehr politische Jahre vor uns. Die realen Ausgaben der BRD im Jahr 1991 für mili- tärische Zwecke dürften weit über dem offiziell einge- Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Wer heute räumten Milliardenbetrag liegen. Das ist ein neuer abend die Nachrichten verfolgen konnte, durfte fest- bundesdeutscher Rekord, traurig und zynisch zu- stellen: Noch bevor hier die Debatte um den Verteidi- gleich. gungshaushalt begonnen hat, fordert Verteidigungs- minister Stoltenberg weitere 16,5 Milliarden DM für Denn mit diesem militärischen Gesamtetat wurde Neuinvestitionen! Die Kosten für den Minensuchboot- und wird nicht mehr nur der Kalte Krieg, sondern zum einsatz sind im jetzt vorgesehenen Haushalt auch ersten Mal in dieser Größenordnung zugleich ein hei- noch nicht enthalten. Das sind aktuelle Beispiele für ßer Krieg mitfinanziert. Unter dem Titel „Allgemeine die Uferlosigkeit dieses Rüstungshaushaltes. Finanzverwaltung" findet sich der Posten „Maßnah- men im Zusammenhang mit dem Golfkrieg", der mit Nicht ohne Grund hatten wir die Verschiebung der einem Betrag von angekündigt insgesamt rund Haushaltsdebatte beantragt und als Debattenort Ber- 17 Milliarden DM die Mitverantwortung der Bundes- lin vorgeschlagen. Gerade der Entwurf des Verteidi- regierung an dem verheerenden Krieg der USA im gungshaushaltes rechtfertigt und begründet unseren Nahen Osten symbolisiert. „Allgemeine Finanzver- Antrag. waltung" — soll das eindeutige Kriegsfinanzierung Es zeugt von Demokratieverständnis dieser Regie- zur allgemeinen unspektakulären Normalität dekla- rung, daß den Volksvertreterinnen am Freitag der rieren? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 881*

In diesem Kontext ist noch einmal auf das Thema desrepublik, wie er derzeit mit der geplanten Grund- Kriegssteuer einzugehen, denn Finanzminister Wai- gesetzänderung und den Diskussionen um Eingreif- gel hat hier gestern dankenswert offen den Charakter truppen vorbereitet wird, an denen sich zu unserem der Steuer dargelegt. Er sagte: Wären nicht die Bedauern mittlerweile immer mehr SPD-Politiker Kriegsausgaben anläßlich des Golfkrieges entstan- durch die Befürwortung von Blauhelmtruppen und den, so gäbe es im Frühjahr 91 keine Steuererhöhung: mehr beteiligen. Wir hoffen, der SPD-Parteitag bringt Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte zwischen ein Votum, das der heutigen Anzeige in der Frankfur- Steuerlüge und Kriegsfinanzierung. Aber aus Herrn ter Rundschau entspricht: gegen eine Grundgesetz- Waigels Erklärung ist der logische Schluß folgender: änderung, gegen Schnellschüsse, wo es bitterernst Die Bevölkerung darf für diesen Krieg zahlen; die ums Schießen geht! Lage in den neuen Bundesländern war derartige fi- nanzielle Maßnahmen nicht wert; Maßnahmen, die in ihrer von der Bundesregierung beschlossenen Art Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Dieser obendrein zutiefst unsozial sind. Militärhaushalt ist ein Haushalt wie aus den Zeiten des Kalten Krieges; man spürt noch immer den ab- In dieser Verteilung der Gelder für heiße und kalte schreckenden Geist der Ost-West-Konfrontation. Kriege spiegelt sich das Verständnis wider, das die Bundesregierung von der sogenannten neuen deut- Die Bundesregierung hat damit eine große Chance schen Verantwortung hat, das — wie alle laufenden vertan, denn eigentlich hätten vom ersten gesamt- Diskussionen von der Eingreiftruppe bis zu Out-of- deutschen Haushalt wesentliche Impulse für eine area-Einsätze — von Militarisierung, von Großmacht- friedliche Zukunft Europas ausgehen müssen. Statt politik geprägt ist. dessen ist der Trend zur Hochrüstung ungebrochen. Um der neuen Situation nach dem Zusammenbruch Die Menschen in den neuen Bundesländern können der Ost-West-Konfrontation dennoch Rechnung zu Militärausgaben in dieser Größenordnung nur als Zy- tragen, versucht die Bundesregierung mit haushalts- nismus empfinden angesichts der dortigen katastro- technischen Tricks, kosmetischen Eingriffen und ei- phalen Lage, die der Crash-Kurs der Bundesregierung nem finanztechnischen Bäumchen-Wechsel-Dich- nach sich zieht. Wir werden ihnen raten, sich das Geld Versteckspiel, der Öffentlichkeit den Eindruck ver- zum Leben von der Hardthöhe zu holen. mitteln, als werde im Militärhaushalt konsequent und Ein weiterer Roßtäuschertrick läuft im Zusammen- hart gespart. hang mit der geplanten Reduzierung der Bundes- wehr. Laut Unterrichtung der Bundesregierung über Außenpolitisch möchte sie wohl dokumentieren, den Finanzplan 1990-1994 soll die Reduzierung auf -daß sie sich nach der Ratififzierung der Zwei-plus 370 000 Mann bis 1994 „mit dem Inkrafttreten des Vier-Verhandlungen im Militärhaushalt Einschrän- ersten KSE-Vertrages beginnen" . Die in Pa ris verein- kungen auferlege. -barte Reduzierung hat aber unabhängig von den KSE Leider ist dem nicht so. Die militärische Kunst der Verhandlungen zu erfolgen. Diese Verknüpfung ist Tarnung im Haushaltsressort der Hardthöhe ist ledig- unzulässig. lich zu einer gewissen Perfektion entwickelt worden. Abgesehen davon, daß in unseren Augen 70 Milli- Man könnte es auch bewußte Irreführung der Öffent- arden DM Militärausgaben genau 70 Milliarden zu- lichkeit nennen. viel sind, zeigt sich unter dem Stichwort Reduzierung Die Militärausgaben reduzieren sich keineswegs eine weitere Entwicklung, die ins Bild paßt: Natürlich auf den Einzelplan 14, sondern sind als verteidigungs- sind 370 000 weniger als 495 000 Soldaten. Aber relevante Kosten in anderen Einzelplänen versteckt. gleichzeitig vollziehen sich im Rahmen dieser Redu- Zählt man diese getarnten Kosten mit, ergibt sich die zierung eine Modernisierung und Umstrukturierung unglaubliche Summe von über 73 Milliarden Mark. der Bundeswehr, die — schon lange geplant — jetzt Damit steht dieser neue Entwurf in der Tradition des ihren Anfang in den neuen Ländern nehmen und die Kalten Krieges und des Wettrüstens. eine offenkundige Vorbereitung auf das sind, was heute bereits ausführlich diskutiert wurde: Einsatzfä- Dieser Militärhaushalt ist durch keine sicherheits- higkeit deutscher Truppenteile, innerhalb und außer- oder außenpolitische Entwicklung begründet. Er steht halb des NATO-Gebietes, unter UNO oder NATO in einem eklatanten Widerspruch zu den außen- und oder bundesdeutschem Kommando. sicherheitspolitischen Veränderungen in Europa, die sich doch eigentlich bis auf die Hardthöhe herumge- Das als Abrüstung in Form der bloßen Reduzierung sprochen haben müßten. Der Warschauer Pakt wird zu verkaufen, ist Täuschung wie so vieles andere in am 1. April 1991 endgültig sein Leben aushauchen; der Regierungspolitik. Diese Entwicklung muß ver- die Sowjetunion hat ihr westliches Vorfeld geräumt stärkt Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit wer- und auch ihre Fähigkeit zu „raumgreifenden offensi- den. ven Operationen" verloren, und nicht zuletzt spre- Selten war der Widerspruch zwischen regierungs- chen die demokratischen Entwicklungen in Osteu- amtlicher Friedens- und Abrüstungsrhetorik und der ropa gegen eine weitere Aufrechterhaltung des mili- unproduktiven und unsozialen Auswirkungen von tärischen Apparates in diesem gigantischen Umfang. Militär so augenfällig wie in der aktuellen Situation. Was sich dieser Tage in Albanien und in Italien abge- Die PDS/Linke Liste lehnt daher den Rüstungshaus- spielt hat, ist ein Vorgeschmack dessen, was Westeu- halt ab, weil er für eine Politik steht, die nichts mit ropa und Deutschland in unmittelbarer Zukunft er- Friedenspolitik zu tun hat. Wir unterstützen die For- wartet. Gegen ein Millionenheer von ökologischen derungen der Friedensbewegung gegen eine Auswei- und wirtschaftlichen Flüchtlingen helfen weder Pan- tung des militärischen Handlungsspielraums der Bun- zer noch Patriots. Helfen könnten nur radikales Um- 882* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 denken in Richtung eines ökologischen Umbaus der rüstung" auftaucht — ein Ereignis, auf das die ehema- Weltwirtschaft, eines Konzeptes der ökologischen Si- lige Fraktion DIE GRÜNEN IM BUNDESTAG Jahr um cherheit und einer gerechten Weltwirtschaftsord- Jahr leider vergeblich warten mußte. Leider wurde nung. Der notwendige erste Schritt dazu wäre konse- uns bis jetzt keine Einsichtnahme in die sogenannten quente Abrüstung und Konversion. Aber im Zahlen- geheimen Erläuterungsblätter ermöglicht. wald des Militärhaushalts ist von Umdenken nichts zu Deshalb ergeben sich für uns folgende Fragen: Was spüren. Im Gegenteil, während sich der Warschauer verbirgt sich hinter den Ausgaben für wehrtechnische Pakt auflöst, wird keineswegs am Abbau der NATO Forschung, Technologie, Entwicklung und Erpro- gearbeitet, sondern an einem neuen Feindbild, das bung? Sollen sie der Konversion dienen, oder werden die Fortexistenz des Bündnisses legitimieren soll. Im sie für die Entwicklung von Spionagesatelliten ge- Golfkonflikt wurde ein mittelmäßiger Wüstendiktator nutzt? Worauf bezieht sich der Aufwendungsersatz für zu einem neuen Hitler hochstilisiert, ihm die viert- die Stornierung der Verträge der ehemaligen NVA? größte Militärmacht der Welt angedient, und dann Übernimmt die Bundeswehr möglicherweise ehema- wurde ohne Rücksicht auf die Folgen für die Bevölke- lige Rüstungsexportverpflichtungen der NVA? rung und die Umwelt der Krisenregion das „zwangs- abgerüstet" , was ihm vorher eilfertig und gewinnbrin- Diese Fragestellung ist uns um so wichtiger, als die gend geliefert worden war. für den Aufwendungsersatz veranschlagte Summe Mit dem Krieg am Golf sollte nicht nur der Irrglau- von 120 Millionen die Hälfte der Gesamtausgaben des ben an die Führ- und Gewinnbarkeit von Kriegen Kapitels ausmachen. genährt, sondern auch die Forderung nach der High- Die Bundesregierung setzt voll auf den weiteren Tech-Waffentechnologie und damit nach weiterer Ausbau der modernen Kriegstechnologie, auf die Aufrüstung legitimiert werden. Darüber hinaus soll er „smarten" Killerwaffen, die präzise durch Bunkertü- für die Befürworter weltweiter Einsätze der Bundes- ren Hunderte von Zivilisten töten. Dies zeigt sich an wehr in Zukunft wohl als Paradebeispiel für eine „ef- der deutlichen Prioritätensetzung der Ausgaben für fektive Konfliktlösung" dienen. Forschung, Entwicklung und Erprobung. Um das zu erreichen, wurde dieser Krieg unter Dieser Militärhaushalt wird, nachdem er kaum noch künstlichen Bedingungen geführt, unter einer bewuß- durch die klassische Bedrohung durch die Sowjet- ten Ausklammerung der gravierenden ökologischen union begründet werden kann, nun mit neuen Bedro- Folgen für die Golfregion und darüber hinaus. Aber hungen und neuen Feinden legitimiert. Nicht umsonst gerade diese Inkaufnahme scheinbar unscheinbarer spricht die Bundesregierung in ihrer Unterrichtung „Nebenfolgen" beweist die Unhaltbarkeit der Clause- (BT-Drs. 12!/201, S. 9) von der Notwendigkeit einer witzschen Denkweise. Denn für Clausewitz, jenen „vernünftigen Sicherheitsvorsorge", weil man neuen Kriegstheoretiker der napoleonischen Zeit und Lieb- Sicherheitsrisiken — gleich woher sie kommen — er- lingszitatlieferanten für die amerikanische Militärfüh- folgreich begegnen möchte. rung, waren die globalen Folgen moderner Kriegsfüh- rung nicht existent und die globalen Folgen hem- Nicht umsonst verwies der Bundesminister der Ver- mungslosen Wettrüstens unbekannt. teidigung weit vor der Golfkrise auf die Notwendig- keit einer gemeinsamen Politik der NATO gegenüber Kommen wir nun zum Militärhaushalt. Ein Trend diesen neuen Bedrohungen. durchzieht den gesamten Entwurf: Wenn man schon zur Abrüstung genötigt wird, dann, bitte schön, sollen So führte Minister Stoltenberg im Frühjahr 1990 erst mal die schrottreifen Waffen ausgemustert wer- mehrmals aus: den. Wenn man die Zahl der Waffen schon reduzieren Regionale Konflikte in Verbund mit religiösem muß, dann soll dies wenigstens durch qualitative Ver- Fundamentalismus, Terrorismus und Waffenpro- besserungen ausgeglichen werden. Was diese Regie- liferation, aber auch Drogenhandel, die ökologi- rung vorbereitet, ist keine wirkliche Abrüstung, son- schen Gefährdungen unserer Zeit und die zuneh- dern die propagandistische Vermarktung einer völ- menden Probleme der Entwicklungsländer erfor- kerrechtlich verbindlichen Zusage als Anpassung an dern immer mehr ein gemeinsames Handeln der militärische Notwendigkeiten. High-Tech soll die westlichen Industrienationen. Lücke schließen, die die Reduzierung hinterläßt. Außerdem ist in diesem Militärhaushalt nicht der Neben dieser Orientierung an neuen Bedrohungen geringste Ansatz für den vielprophezeiten Umbau und neuen Feinden, die den Militärhaushalt legitimie- und die Strukturreform der gesamtdeutschen Streit- ren sollen, fühlt sich die Bundesregierung auch noch kräfte erkennbar. Dabei ist doch der Zeitraum für der Rüstungsindustrie und dem militärisch-industriel- diese dringend erforderlichen Veränderungen durch len Komplex verpflichtet. Denn wie sonst ist es erklär- bereits getroffene nationale und internationale Ent- bar, daß auch in diesem Jahr für die Entwicklung des scheidungen klar vorgegeben. Jagdflugzeuges Jäger 90 800 Millionen Mark ausge- geben werden, wo doch jeder Pfennig für die Lösung Wo sieht man in diesem Entwurf die Umsetzung der der wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den Ergebnisse der Rüstungskontrollverhandlungen in neuen Ländern benötigt wird? Um die katastrophale Wien- oder die Implementierung der in den Zwei-plus Lage in den neuen Bundesländern etwas aufzufan- Vier-Verhandlungen vereinbarten Obergrenze der gen, schlagen wir vor, auf solche Projekte zu verzich- Personalstärke von 370 000 Mann? ten und mindestens 1 % des Gesamtetats zur Unter- Natürlich sind wir als Vertreter des Bündnisses 90/ stützung von Rüstungskonversion und Konversions- GRÜNE sehr erfreut, daß im Einzelplan 14 in diesem forschung einzusetzen und eine Bundesanstalt für Ab- Jahr erstmals ein Posten „Rüstungskontrolle und Ab- rüstungsplanung zu schaffen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 883*

Wenn man diese Regierung nicht an ihren Worten, Da braucht man sich ja nicht zu wundern, daß ange- sondern an ihrer Ausgabenpolitik mißt, dann hat sie in sichts solcher Stimmung und Stimmen die Anzahl der der Sicherheitspolitik überhaupt nichts dazugelernt. Wehrdienstverweigerer steigt. Die Entwicklungskosten für den Jäger 90 verschlin- Wenn z. B. ein evangelischer Pfarrer in Gladbeck in gen zehnmal mehr Steuergelder, als der Umweltmini- einem über 3 000mal als Brief versandten Text die ster für das Bundesumweltamt erhält. männlichen Gemeindemitglieder zwischen 17 und 35 Wenn die Bundesregierung jetzt keine durch Zah- auffordert, den Kriegsdienst zu verweigern, dann er- len beweisbare Abrüstung vornimmt, dann setzt sie zeugt so etwas Stimmung. sich dem Verdacht aus, in Europa und künftig wohl Oder wenn immerhin ein früherer SPD-Staatssekre- auch weltweit auf militärische Mittel gegründete klas- tär im Verteidigungsministerium — von Bülow — für sische Machtpolitik betreiben zu wollen. seinen Sohn, der demnächst zum Bund muß, einen Musterbrief entwirft, mit dem dieser einen Einsatz im Verstärkt wird der Eindruck eines Schreis nach mili- Golf als verfassungswidrig verweigern kann, dann tärischem Machtzuwachs durch die gegenüber 1990 braucht man sich nicht über die Stimmung zu wun- sogar noch gestiegenen Beiträge zu den NATO-Mili- dern. tärhaushalten. Es wird die Mentalität geschürt: „Frieden um jeden Die Bundesregierung liegt in den Ketten eines völ- Preis". Dies führt dazu, daß das Ansehen Deutsch- lig antiquierten Sicherheitsbegriffs. Sie ist immer noch lands im Ausland Schaden nimmt. auf eine nahezu ausschließlich militärisch definierte Sicherheit fixiert. Wir sind aber schon heute und erst Ich sagte es bereits: Dies wird uns noch teuer zu recht künftig vor allem ökologisch bedroht. stehen kommen. Vergessen sind die klugen Sätze, etwa von Madame Um dieser Bedrohung zu begegnen, müssen Staats- de Staël: „Freiheit ist eine Bürgschaft; vor Bürgschaf- gelder endlich nicht länger für weitere Aufrüstung, sondern für den ökologischen Umbau der Industriege- ten kann man nicht ausreißen, man muß sie leisten. " sellschaft eingesetzt werden. Die alte Fraktion der Oder von Blaise Pascal: „Gerechtigkeit ohne Macht ist GRÜNEN hatte in ihrem Vorschlag für einen Abrü- hilflos, Macht ohne Gerechtigkeit Tyrannei. " stungshaushalt 1990 bereits gezeigt, welche finanziel- Wir müssen Gerechtigkeit und Macht miteinander len Ressorucen durch Einsparungen im Rüstungs- in Einklang bringen. haushalt gewonnen werden könnten, wenn die Be- Wir sind keine Weltmacht — das ist gut —; aber wir reitschaft bestünde, eine radikale Defensivierung der haben keine politische Zwergenrolle. Bundeswehr vorzunehmen. Unsere Friedenspolitik muß die Komponente der Allein der wirtschaftliche Zusammenbruch in den militärischen Absicherung einschließen. neuen Bundesländern, ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen und ökologischen Problemen der Genau dieser Komponente unserer Friedenspolitik Zweidrittelwelt, die in allernächster Zeit auf uns zu- dient dieser Verteidigungshaushalt. rückschlagen werden, gebietet es, solche Vorschläge Dabei steht gerade im Jahr 1991 dieser Haushalt endlich ernsthaft zu durchdenken, statt sie wie bisher unter den 4 folgenden Prämissen: nur abzuschmettern. Erstens. Die Bundeswehr wird reformiert. Sie ändert ihren Auftrag, ihre Truppenstärke, ihre Strategie im Hans-Werner Müller (Wadern) (CDU/CSU): In der Bündnis, ihre innere Struktur und ihre Ausbildung. politischen Diskussion der letzten Monate ist der Ein- Zweitens. Die Bundeswehr schrumpft. Bei der Ver- zelplan des Bundesministers der Verteidigung zum einigung von Ost und West hatten wir einschließlich Steinbruch der Nation erklärt worden. der zivilen Bediensteten rund 700 000 Menschen; an Soldaten werden wir Ende 1994 nur noch 370 000 Es gibt so gut wie keine öffentliche Erklärung, von haben. Berufenen oder Unberufenen, die nicht Umschichtun- gen im Haushalt zu Lasten des Verteidigers vor- Drittens. Die Bundeswehr ist eine Armee ohne er- sieht. kennbaren Gegner. Eine neue NATO-Struktur ist überfällig. Zunächst ist das eine rein fiskalische Aussage. Hin- ter dieser Erklärung steht sehr oft ein Infragestellen Viertens. Die Bundeswehr ist eine Armee vor neuen der Verteidigungsbereitschaft schlechthin. Eine ge- Aufgaben. fühlspazifistische Stimmung, von der SPD kräftig ge- Lassen Sie mich deswegen unter Einbeziehung die- schürt, führt zu einer regelrechten Aufwiegelung ge- ser Prämissen einiges zu den Zahlen sagen. gen die Wehrbereitschaft. Über eine eventuelle Betei- ligung unserer Soldaten im Bündnisfall tobte eine hef- Erstens. Der Verteidigungshaushalt 1990 Teil West tig SPD-interne Diskussion: und Ost schließt mit einem Ist von 62,2 Milliarden. Der Entwurf 1991 hat einen Plafond von 52,6 Milliarden, Ich zitiere aus der Presse: „Genossen im Zwielicht", wobei die Kosten der Eingliederung der ehemaligen „SPD bleibt gespalten", „Björn Engholm schweigt, NVA in die Bundeswehr mit 4,3 Milliarden sowie eine die SPD spielt Weltmacht", „Doppelfehler der SPD", globale Minderausgabe von 1 Milliarde berücksich- „Offener Bruch verhindert", „Das Leid der SPD", tigt sind. Der Haushalt wird also von der Regierung „Schwungvoller Eiertanz der SPD", „Realos im Streit — dies ist meine erste Einschätzung — auf ein ver- mit Moralos". Die Liste ist beliebig fortsetzbar. nünftiges Maß zurückgeschnitten. 884* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991

Zweitens. Es geschieht ein erster Einstieg in die per- Ich kündige bereits hier in der ersten Lesung an, sonelle Reduzierung in einer beachtlichen Größen- daß wir uns im Haushaltsausschuß sorgfältig an- ordnung im militärischen wie im zivilen Teil. schauen werden, wie es mit der unterschiedlichen Bezahlung insbesondere der Grundwehrdienstlei- Drittens. Der Anteil an den Verteidigungsausgaben stenden in Ost und West bestellt ist, und zwar mit der an den gesamten Bundesausgaben beträgt noch Tendenz, die bestehenden Unterschiede abzubauen. 13,5 %. Das ist der niedrigste Anteil seit 1956. Erwähnt werden muß auch, daß das Attraktivitäts- Auch ein Blick auf die vorgesehene Finanzplanung programm fortgesetzt wird, das immerhin 370 Millio- bis 1994 ist nach meiner ersten Einschätzung interes- nen kosten könnte. sant. Ein Wort zu einigen Problemen, die sich aus der Beim Gesamthaushalt haben wir 1992 eine Steige- Übernahme der NVA ergeben. rung von 0,8 %, 1993 eine Steigerung von 2,2 To und Da müssen z. B. Bewirtschaftungen fortgesetzt wer- 1994 eine Steigerung ebenfalls von 2,2 % zu erwar- den, weil zivile Wohnsiedlungen von militärischen ten. Anlagen beheizt werden. Immerhin kostet dies na- Für den Verteidigungshaushalt ist allerdings ein hezu 1,5 Milliarden DM. Senken vorgesehen, und zwar 1992 von 2,9 %, 1993 Die Bauerhaltung und Modernisierung von Trup- von ebenfalls 2,9 % und 1994 von 3,0 %. Dies sollte penunterkünften muß vorangetrieben werden, wobei man schon registrieren. der Schwerpunkt bei der Instandsetzung der zum Teil Viertens. Wir erleben auch eine deutliche Ände- in äußerst schlechtem Zustand befindlichen Unter- rung der Ausgabenstruktur. Der Anteil der Betriebs- künfte, Küchen und Speiseräumen liegen wird. ausgaben an den gesamten Verteidigungsausgaben Erwähnt werden muß auch, daß für die Bewachung steigt auf 71,9 % gegenüber 66,4 % im Vorjahr. der Liegenschaften im Beitrittsgebiet etwa 1/2 Mil- Gleichzeitig vermindert sich der investive Anteil ent- liarde DM aufzubringen ist. sprechend um 5 To auf 28,1 % gegenüber 33,6 % im Vorjahr. Ein Wort zu Materialerhaltung und Bet rieb. Hier sind weniger Mittel als im vergangenen Jahr veran- Dieses Sinken des inventiven Anteils könnte — dies schlagt. Auch hier kommen neue Aufgaben auf uns zu muß man sehen — negative Folgen für die Bundes- für die Delaborierung und Entsorgung von Munition wehr und ihre Vertrags- und Bündnispartner haben. der ehemaligen NVA. Diese Folgen müssen gemindert werden. Ich befasse mich nun mit Forschung, Entwicklung, Lassen Sie mich einige Schwerpunkte im Ausga- Erprobung und den militärischen Beschaffungen. benbereich kommentieren. Will man moderne Ausrüstungsgüter beschaffen, so Den ersten Abbauschritt beim Personal habe ich bedarf dies eines Entwicklungsvorlaufs von etwa erwähnt. 10 Jahren. Das, was wir Ende der 90er Jahre brau- chen, muß also jetzt entwickelt werden. Zum dritten Nachtrag 1990 haben wir im Haushalts- ausschuß Beschlüsse gefaßt, die im Bereich Ost eine Wir brauchen intensive Forschung und Entwick- schnelle Abschmelzung insbesondere beim Zivilper- lung, damit unsere Armee in ihrer Ausrüstung innova- sonal vorsehen. Die Regierung bittet nun mit diesem tionsfähig bleibt und Alternativen zur Verfügung ste- Entwurf diese Entscheidungen noch einmal zu über- hen. Dabei wird die internationale Rüstungsoperation denken. immer wichtiger. Ausgaben für neue Vorhaben stehen im Haushalt Wir werden uns dieser Frage vorurteilslos stellen, 1991 nicht zur Verfügung. Es werden nur die bereits nicht zuletzt unter dem Eindruck einer Berichterstat- laufenden Entwicklungen fortgeführt. terreise in der vergangenen Woche in die Standorte südlich von Potsdam. Seit 1987 bereits erleben wir einen deutlichen Ab- wärtstrend bei den Beschaffungen. Im Entwurf sind Ich nenne nur einige der Stichworte: veraltete diesmal deutlich unter 10 Milliarden vorgesehen. Braunkohlenanlage, veraltete Wirtschaftsgebäude, Aufrechterhaltung von Fernmeldeversorgungen. Dabei müssen 160 Millionen aufgewendet werden, die nicht einmal der Beschaffung dienen, sondern Mit den Maßstäben in den Altländern kann leider Aufwendungsersatz für die Stornierung von Verträ- nicht gemessen werden. gen der ehemaligen NVA sind; rund 140 Millionen sind für Rüstungssonderhilfe an die Türkei und Grie- Diese Korrektur würde, wenn ich richtig rechne, ca. chenland bestimmt. 2 Milliarden kosten. Ich will es mit diesem kleinen Streifzug durch das Wir werden auch etwas für die Verbesserung der Zahlenwerk sein bewenden lassen. Laufbahnerwartung für Portepee-Unteroffiziere tun können. Das gilt auch für die Hebung zur Umsetzung Dieser Haushalt wird, so hoffe ich, dann, wenn wir des 5. Personaländerungsgesetzes. Das haben wir unsere sorgfältigen Beratungen beendet haben, dazu schon im vergangenen Jahr in Aussicht gestellt. Die beitragen, daß das Gerede von einer Armee in der Aufgeregtheit der Berufsverbände ist nicht nötig. Krise aufhört. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 14. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 13. März 1991 885*

Die Bundeswehr ist nicht irgendein Arbeitgeber, sondern eine Institution mit einem fest umrissenen Verteidigungsauftrag. Dazu, daß dieser Auftrag er- füllt werden kann, gibt der Haushalt die Vorausset- zungen. Ich appeliere gerade an die SPD: Überwinden Sie die Phase der Orientierungslosigkeit, in der Sie im Hinblick auf die politische Grundfrage der Wehrbe- reitschaft stecken, und treten Sie mit uns in einen kon- struktiven Dialog über eine leistungsfähige Armee von mündigen Bürgern ein!