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Sendung vom 27.01.1998, 20.15 Uhr

Dr. Postminister a.D. im Gespräch mit Dr. Thomas Rex

Herr Rex: Ich begrüße Sie, verehrte Zuschauer, bei Alpha-Forum. Diesmal zu Gast: Dr. Werner Dollinger. Herr Dollinger, Sie waren der einzige, der unter allen vier Bundeskanzlern der Union ein Ministeramt bekleidete. Zuletzt waren Sie Verkehrsminister bis 1987, aber Ihre Karriere begann bereits 1962 als Bundesschatzminister. Damals war Bundeskanzler. Wie war er denn als Chef? Dr. Dollinger: Ich habe Adenauer das erste Mal im Bundestagswahlkampf 1949 in Fürth erlebt. Wir waren von Karl-Sigmund Meyer eingeladen. An Adenauer hat mich damals beeindruckt, wie er mit der Presse sprach. Im Laufe der Diskussion bemerkte einer: "Jetzt wollten wir Sie ausfragen, Herr Bundeskanzler, und Sie haben uns ausgefragt." Ich habe ihn anschließend noch einmal erlebt, bei einer Veranstaltung der CSU im Holzmüllerbau am Plärrer in Nürnberg. Acht Tage vorher war dort eine Veranstaltung mit Ministerpräsident Erhard gescheitert. Auch als Adenauer da war und das Thema "Deutsche " behandeln wollte, wurde während der Veranstaltung randaliert. Es mußte eine kurze Pause eingelegt werden. Als Adenauer wieder kam, sagte er: "So eine Radau-Gesellschaft, wie hier in Nürnberg, ist mir noch nirgends begegnet. Das ist ja eine Schande für diese Stadt und für die Nürnberger Polizei, die restlos versagt hat." Dann hat er weiter zu Ende gesprochen, wieder zum Thema Wehrmacht. Er ist nicht zurückgewichen, das hat mir imponiert, weil ich gemerkt habe, wenn man eine Behauptung aufstellt und sie anschließend fallen läßt, dann ist man verloren. Er hat sich behauptet. Herr Rex: War das für Sie in Ihrem Verhältnis zu Bundeskanzler Adenauer von Nachteil, daß Sie ein Abgeordneter aus Franken waren. Dr. Dollinger: Nein, es war kein Nachteil. Ich war ja im eigentlichen Sinne kein bayerischer Abgeordneter. Ich habe mich immer als Bundestagsabgeordneter gefühlt, Bayern war im Hintergrund. Ich war nie so weiß-blau. Meine Stadtfarben sind schwarz-weiß. Herr Rex: Sie hatten mit Franz Josef Strauß eine Auseinandersetzung. Er nannte Sie einen "bayerischen Preußen". Dr. Dollinger: Er hat mich als "Napoleon-Bayer" bezeichnet. Er kannte mich und hat gesagt: "Jetzt kommt der Napoleon-Bayer." Damit hat er meine Einwände abgetan, oder zumindest versucht sie abzutun. Herr Rex: Herr Dollinger, Sie gehörten ab 1953 dem an und schon bald gehörten Sie auch zum Fraktionsvorstand der CSU. Sie waren auch mal Landesgruppenchef und Sie waren von Anfang an ministrabel. Sie hätten Atomminister werden können, Sie hätten damals schon Verkehrsminister werden können, aber Sie haben erst beim Bundesschatzressort "Ja" gesagt. Warum war das so? Dr. Dollinger: Ich war der Meinung, daß man sich in die ganze Welt von etwas eingewöhnen muß. Ich habe immer den Standpunkt vertreten, daß man nur ein Ressort annehmen soll, von dem man etwas versteht. Denn der Minister soll eigene Gedanken in sein Amt einbringen. Ich habe sowohl das Atomministerium, als auch das Verteidigungsministerium, das mir Strauß einmal angeboten hatte, abgelehnt. Ich bin also bei dem geblieben, wovon ich etwas verstanden habe und das waren Wirtschaftsfragen. Herr Rex: Das hängt mit Ihrer Ausbildung zusammen. Sie sind Diplom-Kaufmann. Sie haben Ihre Doktorarbeit zum Thema "Strukturwandel der Wirtschaft in Deutschland" geschrieben. Herr Dollinger, Sie stammen aus einer Kolonialwarengroßhandelsfamilie. Ihre Frau hat eine Ziegelei mit in die Ehe eingebracht ... Dr. Dollinger: ... eine Ruine, die ausgebombt war. Herr Rex: ... eine Ruine. Die Sie 1945 wieder aufgebaut haben. Aber warum Sind Sie vor diesem Hintergrund nie Wirtschaftsminister geworden? Sie waren ja auch Vorsitzender im Wirtschaftsausschuß des Deutschen Bundestages. Dr. Dollinger: Ja, das war aber erst später, in der Oppositionszeit. Das Ressort war mit gut besetzt. Das war nicht zur Diskussion gestanden und ich war damals, nach meiner Meinung - und auch rückblickend - noch viel zu jung für so ein Ressort. Das Schatzministerium hatte einen schönen Namen. Im richtigen Leben gibt es echte, unechte und zweifelhafte Schätze. Ich habe Bundesliegenschaften gehabt, industrielle Bundesvermögen, z. B. Veba, die privatisierte Bauabteilung - außer Post, Bahn und Verteidigung. Das war ein interessantes Ressort. Das Amt war sehr spannend, wenn auch überschaubar: Fünfhundert Personen waren im Ministerium beschäftigt. Da konnte man sehr viel lernen. Das war besser, als gleich in ein ganz großes Ressort zu gehen. Herr Rex: Die Privatisierung der Veba war damals ein schwieriges Problem in der Bundesrepublik. Sie hat hohe Wellen geschlagen. War das rückblickend alles richtig so, wie Sie das gemacht haben? Würden Sie es heute anders machen? Dr. Dollinger: Es war meiner Meinung nach im wesentlichen richtig. Wir hatten unter dem Gesichtspunkt privatisiert, daß der Staat nicht wirtschaften soll, wo es nicht notwendig ist. Das war damals unsere Philosophie. Was bei der Veba war, hing mit der früheren Struktur zusammen. Als die Elektrizitätswirtschaft aufkam, konnte ein Privatunternehmen - zum Beispiel Preußen-Elektra - solche Strecken ja nicht mit Strom versorgen. Es waren viel zu wenig Teilnehmer. Das hätte sich nicht rentiert. Insofern ist das gut gewesen. Ich habe da viel gelernt. Herr Rex: Herr Dollinger, Sie waren in fast allen Ressorts Minister - um das mal so zu sagen. Sie waren Schatzminister und - wir haben gerade davon gesprochen - Postminister, Verkehrsminister, Sie waren sogar mal drei Wochen lang für die Entwicklungshilfe zuständig. Was war denn für Sie das wichtigste Ressort? Dr. Dollinger: Also, ich muß sagen - aus dem Zeitablauf heraus - waren die Ressorts für mich immer interessant. Ich habe die Meinung vertreten, daß man auch etwas bieten können muß. Ich habe das vorhin schon einmal gesagt: Aufgrund meiner Ausbildung lag der Bereich der Wirtschaft eben nahe. Das Entwicklungshilfeministerium lag schon am Rande. Das mußte ich damals sehr schnell übernehmen. Erhard hat das einfach gemacht. Er hat mir einen Brief geschrieben, in dem folgendes stand: "Ich beauftrage Sie laut Geschäftsordnung mit der Führung des Ministeriums." Daraufhin - das sage ich nur, um zu zeigen, wie gründlich da gearbeitet wurde - kam noch mal ein Brief. Ich mußte zum Bundeskanzler, um eine Ernennungsurkunde zu bekommen. Als ich entlassen wurde, standen dann zwei Ressorts darauf. Deshalb sind meine Urkunden nicht gleich, da ich bloß eine Urkunde bekommen habe. Das hing jedoch von den Zeitumständen ab. Aber das Schatzministerium und die Privatisierung war damals etwas völlig neues. Es hat nicht nur im Ausschuß heftige Debatten gegeben, sondern auch im Deutschen Bundestag. Wir hatten die Sitzung im Bundestag in . Das war die letzte Sitzung vor dem neuen Berlinabkommen. Damals überflogen russische Flugzeuge ständig die Kongreßhalle und störten uns. Wir haben trotzdem beschlossen, daß die Veba privatisiert wird. Aber so wie heute war das nicht, daß man einfach sagt: "Privatisiert mal!" Wir haben auch versucht, breit zu streuen. Das war wichtig im Interesse der Vermögensbildung. Und ich bedauere es bei den jetzigen Privatisierungen etwas, daß es nicht so ist - abgesehen von Telekom und . Die bisherigen Privatisierungen liefen ja meistens so, daß Staatsbetriebe von Großunternehmen übernommen worden sind. Danach stand uns damals nicht der Sinn. Herr Rex: Herr Dollinger, wir haben Konrad Adenauer angesprochen. Es gibt doch sicher große Unterschiede zu den anderen Unionskanzlern Erhard, Kiesinger, . Wie ist das für Sie, wenn Sie die jeweiligen Regierungschefs heute beurteilen? Dr. Dollinger: Das kann man wohl sagen. Also, bei Adenauer hatte man großen Respekt. Wenn man junger Abgeordneter ist, hat man sogar den doppelten Respekt. Aber bei Adenauer ist es gut gelaufen. Ich konnte auch in der Zeit als Landesgruppenchef sehr viel mit ihm sprechen. Das Gute war, Adenauer hat sich immer Zeit genommen, wenn ein Minister darum gebeten hatte. Der Staatssekretär Globke war ganz großartig. Der war zwar sehr umstritten, aber niemals wegen seiner Leistung, sondern wegen seiner politischen Vergangenheit. Wenn man bei Globke angerufen hat, hat er gefragt: "Was wollen Sie denn beim Bundeskanzler?" Das haben Sie ihm erklärt und ganz schnell hatten Sie einen Termin. Ich habe mal innerhalb von drei Stunden einen Termin bekommen. Da wollte Herr Schäfer zurücktreten und hat mir als Landesgruppenstellvertreter gesagt: "Ich mache da nicht mehr mit." - aus verschiedenen Gründen. Da habe ich sofort den Globke angerufen. Ich machte es ganz dringend, bekam einen Termin und konnte das dann auch wieder ausbügeln. Schäfer ist nicht zurückgetreten. Das war gut. Die Sitzungen, die Adenauer im Kabinett geleitet hat, waren souverän. Er hat auch diskutieren lassen. Aber es kam immer der Zeitpunkt, an dem er gesagt hat: "Jetzt ist genügend diskutiert worden, meine Herren. Aktendeckel umgelegt, wir haben es so beschlossen, aus!" Da war er straff in der Führung. Bei Erhard war das etwas anderes. Erhard wollte immer Harmonie haben. Das war verständlich, aber das ging nicht immer. Dann wurden die Dinge verschoben und weiterberaten. Kiesinger war als Bundeskanzler sehr an der Außenpolitik interessiert. Termine hat man bei ihm nur schwer bekommen. Ich entsinne mich noch ganz genau: Mein persönlicher Referent wollte einen Termin für mich haben. Eines Tages sagte Neussl - das war Kiesingers persönlicher Referent: "Sie stehen auf der Warteliste auf Platz 39". Mir fällt auch noch eine andere Geschichte ein: Ich bin mal in Spanien vom spanischen Postminister eingeladen worden. Der war gleichzeitig Innenminister - bedingt durch die Diktatur damals. Ich hatte eine Audienz bei Franco. Das stand in der Zeitung. Als ich nach Deutschland zurückkehrte, hatte schon der Bundeskanzler angerufen. Er wollte mich sofort sprechen. Er wollte wissen, was ich dort über die Außenpolitik erfahren hatte. Der war eben sehr auf Außenpolitik fixiert. Das andere war ihm weniger wichtig, das kann ich so sagen. Bundeskanzler Kohl war auch immer von starkem Harmoniebedürfnis erfüllt. In der Koalition unter Kohl hat das Kabinett ja eigentlich an Bedeutung verloren. Denn der Koalitionsausschuß hat festgelegt, was behandelt werden darf und was nicht. Wenn der Ausschuß gesagt hat: "Das wird nicht mehr behandelt", dann kam es auch nicht mehr auf die Tagesordnung. Ich habe es ja selbst erlebt. Das war auch nicht gut. Das ist aber aus dem Zwang der Verhältnisse heraus geschehen. Also, das waren die wesentlichen Unterschiede. Herr Rex: Wir haben eben schon einmal Franz Josef Strauß angesprochen und Ihr Verhältnis zum CSU-Vorsitzenden, zum Ministerpräsidenten. Sie sind evangelisch, er war katholisch. Sie sind Franke, er war Altbayer. Gab es da Konflikte? Dr. Dollinger: Ich würde nicht ehrlich sein, wenn ich nicht sagen würde, daß wir ein gewisses Spannungsverhältnis gehabt haben. Aber das war immer sachlich bedingt. Wir haben auch öffentliche Diskussionen gehabt, die ich gar nicht wollte. Aber manchmal passiert das eben. Damals war das auch nichts Ungewöhnliches. Es war eben so, daß Strauß das Konfessionelle sehr großzügig behandelt hat. Als Vorsitzender des evangelischen Arbeitskreises bekam ich von Strauß jede Unterstützung. Er war auch bei den Jahrestagungen dabei. Er hat genau erkannt, daß es wichtig ist, daß sich auch der evangelische Bevölkerungsteil mit einem hohen Anteil für die CDU/CSU entscheidet, denn sonst ist es in Deutschland nicht zu schaffen. Das hat er richtig erkannt. Da hat er sehr begütigend gewirkt. In den anderen Fragen - da war es eben ein Unterschied, ob man in Bonn oder in München war: Als Ministerpräsident rückte er natürlich Bayern in den Vordergrund, ohne aber Bonn völlig auszuschalten. Das war bei ihm nicht das Thema. Als bayerischer Abgeordneter hat er Bayern natürlich nicht übersehen, aber immer gewußt, daß wir den Bund brauchen. Herr Rex: Aber beim Kreuther Trennungsbeschluß 1976, da waren Sie völlig anderer Meinung. Dr. Dollinger: Ja, das stimmt. Strauß hat damals gesagt: "Du hast eine völlig falsche Meinung, aber Du bist ein fairer Gegner." - auch aufgrund meiner Einstellung. Ich bin nach wie vor der Meinung - ohne es beweisen zu können - daß Strauß mit dem Ergebnis gar nicht glücklich war. Denn "der Dolch im Gewande" - um das Wort zu gebrauchen - der wäre ihm lieber gewesen. Wenn man mit dem Vorschlag ganz knapp unterlegen wäre, hätte man sagen können: "Wenn ihr jetzt nicht folgt, dann geht es anders herum, dann kommt es zur Trennung." Aber der Beschluß war für alle sehr überraschend. Auch ich habe nach der Abstimmung in Kreuth den Eindruck gehabt, daß manche über das Ergebnis selbst erschrocken sind. Herr Rex: Aber es ist Ihnen auch zu verdanken, daß dieser Beschluß keine Einbahnstraße war. Dr. Dollinger: Das ist richtig. Ich war dann auf Wunsch von Strauß in der Verhandlungsdelegation. Das zeigt auch seine Großzügigkeit, daß er mich dorthin berufen hat, das hätte er nicht tun müssen. Er wußte ja, wie ich denke. Ich habe dort auch entsprechend mitgewirkt. Ich bin der Meinung, der Entscheid von Kreuth, der Mehrheitsbeschluß, war falsch. Es hat sich auch später bestätigt, als Strauß Kanzlerkandidat war, daß er die erhoffte Zustimmung in Norddeutschland nicht gehabt hat. Herr Rex: Kommen wir bitte noch einmal auf Bundeskanzler zurück. Zu dieser Zeit war Vizekanzler. Was ist denn zum Verhältnis Dollinger - Brandt zu sagen? Dr. Dollinger: Ich habe Herrn Brandt natürlich gekannt, war auch öfters in Berlin mit ihm zusammen. Interessant ist vielleicht folgende Geschichte: Ich war als Bundesschatzminister auch für die Unterkunft der Ministerien zuständig. Die Minister haben starken Druck auf uns ausgeübt, damit wir in Bonn bauen. Aber der Druck ging immer nur bis zum Antrag. Als wir dann im Kabinett darüber sprachen, hat Adenauer dem zugestimmt. Wir sollten in Bonn etwas machen. Wir hatten nur Bedenken, wie das in Berlin wirkt. Daraufhin hat Adenauer mit mir vereinbart: "Sie fliegen nach Berlin und unterrichten den Regierenden Bürgermeister Brandt, daß wir jetzt Ministerien in Bonn bauen, aber gleichzeitig" - und das war der Clou der Geschichte - "auch in Berlin entsprechend bauen." Daraufhin bin ich zu Brandt gefahren, habe ihm das mitgeteilt. Der hat sehr freudig aufgenommen, daß wir dort Neubauten errichten bis es zur Wiedervereinigung kommt. Er hatte sofort Ideen, hat von der Freien Universität gesprochen. Das Verhältnis war korrekt, war nicht sehr intim, aber es war korrekt. Herr Rex: Sie waren ja damals schon dafür, Berlin wieder zur Bundeshauptstadt zu machen. Heute gibt es diesen Entschluß. Es wird einen Umzug geben, der sehr teuer werden wird. Wie sehen Sie das heute? Dr. Dollinger: Die Kosten sind natürlich eine Frage der Ansprüche. Das ist völlig klar. Daß ich für Berlin war, das war logisch. Wir haben jahrelang von der Wiedervereinigung gesprochen. Manche haben gar nicht geglaubt, daß wir das ernst meinten. Mir ist es in CSU-Kreisen so ergangen. Wir hatten zum Gedenktag der Wiedervereinigung immer eine Veranstaltung in einem Eigenheim bei Bad Windsheim. Zwei Jahre vorher habe ich auch wieder mal eine kurze Rede gehalten. Da kam einer der alten Parteifreunde zu mir und hat gesagt: "Jetzt sagen Sie wieder Wiedervereinigung. Sie glauben doch selber nicht mehr daran." Ich habe gesagt: "Ich glaube daran, sonst würde ich es nicht sagen." Das ist dann schneller gegangen, als ich geglaubt oder gedacht habe. Ich besaß eine positive Einstellung, die mich verpflichtet hat, zu sagen: "Wir müssen jetzt, wenn wiedervereinigt ist, unbedingt wieder nach Berlin." Das war konsequent, denn sonst hätten unsere vorherigen Behauptungen nicht mehr gestimmt. Ich habe mich gefreut, daß der Berlinbeschluß kam. Aber die Kosten, die sind - was man so liest - sicher etwas davongelaufen. Ich habe zum Beispiel nie verstanden, warum der Reichstag, das Reichstagsgebäude, entkernt wurde. Ich habe nämlich damals als Schatzminister den Südflügel an Herrn Gerstenmeier übergeben, im Beisein des früheren Präsidenten Löwe, einem SPD-Mann. Aber was man da eigentlich entkernen will, weiß ich auch nicht. Das Gebäude wird deshalb nicht größer und die Kuppel darauf, na ja...... Ich bin der Meinung, da hätte man sicher manches sparen können. Es sind die Ansprüche, die die Kosten in die Höhe treiben. Als ich nach Bonn gekommen bin, waren wir nicht komfortabel eingerichtet. Zwei, drei Abgeordnete teilten sich ein Zimmer. Die Räume waren beengt. Wir haben damals nicht einmal einen Sekretär gehabt. Ich habe dann halbtags einen Studenten engagiert. Ein paarmal in der Woche hat der für mich gearbeitet, denn ich habe nicht eingesehen, daß ich auch noch Schriftstücke selbst abheften sollte, obwohl ich das aber auch gekonnt hätte. Ich habe den Eindruck, daß man jetzt in Berlin auf einmal zu viel gefordert hat. Herr Rex: Herr Dollinger, Sie sprechen damit auch einen Wandel in der politischen Kultur an. Sie sind seit 1945 Politiker für die CSU. Sie haben in Ihrem Heimatort Neustadt-Aisch - das liegt in der Nähe von Nürnberg - die CSU mit begründet. Sie waren von 1953 bis 1990 im Bundestag. Sie waren jahrzehntelang in der Politik aktiv - Sie sind ja auch heute noch aktiv. Sie waren Minister. Vergleichen Sie doch bitte diese Zeit - mit Ihrer Zeit als Abgeordneter in Bonn, mit drei Kollegen in einem Zimmer - mit der politischen Kultur und den Ansprüchen heute. Jetzt kommt der Umzug nach Berlin, den Sie eben kritisiert haben. Hat sich die politische Kultur, die Arbeitsweise so stark geändert? Dr. Dollinger: Ja, ich bin der Meinung, das liegt am Zeitgeist. Die Menschen können nie genug bekommen und die Anforderungen und Ansprüche an das Leben werden immer größer. Das ist häufig im privaten Bereich so und es ist auch im Dienstbereich bei den Abgeordneten so. Ich finde das nicht gut. Man sollte sich beschränken und sich fragen: "Was kann ich verkraften?" Ich halte es genauso für Unfug, wenn man Urlaub auf Kredit macht. So etwas ist Blödsinn. Das kann man nicht verantworten. Deshalb sollte man auch als Politiker überlegen: "Was kann ich dem Bürger vertretbar an Geld abnehmen?" Das ist bei uns leider in eine Sackgasse geraten. Denn die Steuersätze sind zu hoch. Ich will jetzt keine Steuerdebatte führen. Fürchten Sie das nicht. Aber das ist die allgemeine Meinung heute. Man merkt das ja auch daran, in welchem Ausmaß bekannte Sportler ins Ausland übersiedeln, weil sie dort günstigere Steuerverhältnisse vorfinden. Die bleiben nicht hier. Genauso wie die Sportler machen es die Unternehmen. Die gehen auch nach Möglichkeit ins Ausland. Die Folge davon sind Steuerausfälle bei uns. Herr Rex: Wo liegen denn die Ursachen? Dr. Dollinger: Die Ursachen liegen bei den zu hohen Steuersätzen, ganz einfach. Das ist ein Problem. Wir haben uns daran gewöhnt, immer mehr Geld ausgeben zu müssen. Herr Rex: Haben sich auch die Politiker daran gewöhnt? Dr. Dollinger: Auch die Politiker haben sich daran gewöhnt und man vergißt oft, daß von jeder Gesetzesmaßnahme, die beschlossen wird, letztlich die Menschen im Guten und im Schlechten betroffen werden. Daher kommt es, daß man sagt: "Na ja, die verkraften es schon." Wenn dann wieder gejammert wird, wird das Jammern auf einmal nicht mehr ernst genommen, weil jeder sagt: "Die haben schon immer gejammert und haben es trotzdem verkraftet." Das ist das Gefährliche. Heute sind wir an einen Punkt angelangt, an dem eben überzogen wurde. Man darf ja nicht nur von den Steuern sprechen, man muß auch einmal über Gebühren reden. Das sind ja unwahrscheinliche Dinge, die den Einzelnen belasten. Wenn einer selbständig werden will, muß er erst die Hürden der Bürokratie überwinden. Wenn er dann im Betrieb ist und eine Maßnahme durchführen will, gibt es so viele Auflagen. Das ist ja wirklich schauerlich. Herr Rex: Sie haben mal kritisiert, daß die Politiker den Realitätsbezug verloren haben. Ist das so? Dr. Dollinger: Ja, vielfach. Ich will aber nicht verallgemeinern. Das wäre falsch. Aber viele haben den Bezug verloren. Wenn einer sagt: "Die Unternehmer haben geschlafen und deshalb haben wir jetzt die Arbeitslosigkeit", dann ist das meiner Meinung nach blanker Unsinn. Sicher gibt es welche, die geschlafen haben. Es gibt auch unter den Politikern Leute, die schlafen. Das kann man gar nicht bestreiten, aber so einfach ist die Sache nicht. Der Unternehmer muß letztendlich dafür sorgen, daß er rentabel arbeitet, denn sonst wird ja der Betrieb auf längere Sicht gefährdet. Herr Rex: Ist das auch eine Kritik an die EG-Bürokratie? Dr. Dollinger: Bei der EG-Bürokratie bin ich sehr kritisch. Ich habe im Bundestag als Vorsitzender des Wirtschaftsausschusses erlebt, daß wir Vorlagen aus Brüssel bekommen haben, zu denen wir nur ja oder nein sagen konnten. Das war bei Auslandsverträgen auch üblich. Da sind dann natürlich Dinge dabei, bei denen wirklich nicht mehr die Realität gesehen wird. Herr Rex: In Ihrer Zeit als Verkehrsminister, Herr Dollinger, gab es auch umstrittene Projekte. Ich spreche jetzt einmal den damals so genannten Rhein-Main- Donau-Kanal an. Es gibt den Main-Donau-Kanal, aber es fahren nur wenige Schiffe darauf, sagen Kritiker. Würden Sie das Projekt heute noch einmal so durchziehen? Dr. Dollinger: Also, wir haben das sehr genau überlegt. Ich habe mal, als ich nicht Verkehrsminister war, eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt mit dem Thema: "Sind Kanalbauten noch sinnvoll?" Ich habe damals den Main- Donau-Kanal und den Saar-Pfalz-Kanal erwähnt. Die Antwort der Regierung war klar: "Sie sind sinnvoll." Ich habe viel Ärger gehabt, wegen dieser Anfrage. Mir war klar, daß mich das natürlich auch verfolgt, wenn ich Verkehrsminister bin. Ich wurde damals sofort auf diese Anfrage angesprochen. Ich habe dann noch ein Heftchen von meinem Vorgänger als Verkehrsminister, Herrn Hauff, gefunden. "Zehn Fragen an den Verkehrsminister" hieß das. Darin wurde der Kanal angesprochen. Da war stand ungefähr folgendes geschrieben: "Wir sind gegen Kanalbauten, aber dem Main-Donau- und Saar-Pfalz-Kanal stimmen wir noch zu." Nun, als ich ins Ressort kam, erwartete ich den Auftrag. Es war schon eine Kommission zur Überprüfung der Kanalbauten und der Kosten eingesetzt worden. Mein Staatssekretär saß auch in dieser Kommission. Auch die vorzeitige Beendigung des Kanalbaues stand zur Diskussion. Es hat geheißen: "Einfrieren lassen". Die Kommission kam zu dem Ergebnis, man müsse den Kanal fertig bauen. Das käme billiger als die Stillegung, weil sonst Rechtsansprüche zur Rückverfügung von Grundstücken bestünden. Dann habe ich die Vorlage gemacht. Vom Kabinett wurde schließlich auch beschlossen, daß der Kanal weitergebaut wird. Ich habe das aufgrund der ganzen Rechtslage und der Finanzsituation eingesehen. Die Entwicklung des Verkehrsaufkommens auf dem Kanal ist meiner Meinung nach auch nicht so schlecht, wie zum Teil behauptet wird. Natürlich stellen der Balkankrieg in Jugoslawien und die allgemeine Flaute in der Wirtschaft ein gewisses Hemmnis dar. Aber ich glaube, daß der Kanalbau durchaus vertreten werden kann. Herr Rex: Sind Sie denn jetzt auch für die Schiffbarmachung der Donau? Dr. Dollinger: Das muß man überlegen. Da kann nicht ein Stück drin sein, das die ganze Sache bremst. Das soll man natürlich sinnvoll machen, so daß die Landschaft möglichst nicht zerstört wird. Da gibt es verschiedene technische Möglichkeiten, die immer noch diskutiert werden. Es wäre schon wichtig, da zu einem Ergebnis zu kommen. Herr Rex: In Ihre Amtszeit als Verkehrsminister fiel auch das Tempolimit auf den Autobahnen. Hat dieser Großversuch damals etwas gebracht? Sie selbst waren kein großer Freund des Tempolimits. Dr. Dollinger: Das hat meiner Meinung nach nicht viel gebracht. Die Autobahnen sind als Schnellstraßen gebaut worden. Das sollte man auch mal nüchtern sehen. Man kann nicht mit Autobahn vergleichen. Die bei uns sind sehr großzügig gebaut worden - mit geringen Steigungen und großem Radius im Verhältnis. Aber das ist ein besonderes Kapitel. Ich kann nur sagen: "Entscheidend ist nicht, was der Gesetzgeber verlangt, sondern daß der Bürger das für vernünftig hält." Gesetze, die auf dem Papier stehen, sind sinnlos. Da spielt auch die Frage nach der Ethik des Kraftfahrers eine Rolle. Wie verhält er sich? Nützt er es aus, daß er das Gaspedal durchtreten kann oder kann er das nicht verantworten? In diesem Punkt muß man an die Gewissenhaftigkeit des Kraftfahrers appellieren. Herr Rex: Aber jetzt sind sie seit zehn Jahren nicht mehr Verkehrsminister. Mittlerweile fahren bestimmt sechs, sieben Millionen Kraftfahrzeuge zusätzlich auf Deutschlands Straßen. Überall staut sich der Verkehr. Dr. Dollinger: Wir haben ja seinerzeit schon unter diesem Gesichtspunkt überlegt, wie man die Straßenverhältnisse verbessern kann. Das ist zum Beispiel nicht nur durch Bau- und Ortsumgehungen, sondern auch durch moderne Technik möglich. Damals hat ein Mitarbeiter meines Ministeriums von der "intelligenten Straße" gesprochen. Der wollte mit Leuchtsignalen und ähnlichem - was jetzt zum Teil schon verwirklicht ist - den Verkehr im Fluß halten. Das war sicher richtig, aber das alles ersetzt natürlich nicht das Einhalten von Geboten. Dabei muß man meiner Meinung nach auch beachten, daß man mit Schildern keine Verwirrung schafft. Ich habe seinerzeit einem Versuch zugestimmt, auf den Straßen einiger Städte die Verkehrsschilder zu dezimieren. Es waren offenbar zu viele. Wenn das Schild kein Aufsehen mehr erregt, weil es alltäglich und überall gegenwärtig ist, dann hält man sich nicht daran. Dann müßte man auch mal korrigierend eingreifen und weniger Schilder aufstellen, denn dann werden sie beachtet. Herr Rex: Herr Dollinger, Sie waren auch für die Bahn zuständig. Sie hatten der Bahn Anfang der Achtziger Jahre einen Schrumpfkurs - sprich Streckenstillegungen - verordnet. Wohin fährt denn Ihrer Meinung nach die privatisierte Bahn heute? Hat sie eine Chance - natürlich auch die vereinigte Bahn? Dr. Dollinger: Die Privatisierung der Bahn halte ich für richtig. Die Bahn ist in zunehmendem Maße auch in Europa verankert. Das können wir nicht nur national sehen, sondern auch im Hinblick auf die weitere Entwicklung. Um zu zeigen, daß die Umwandlung hier natürlich schwer ist, nenne ich folgenden Vergleich: Ein kleines Motorboot können Sie schnell drehen, bei einem großen Tanker geht das schwer. Bei der Bahn läuft es manchmal natürlich etwas anders, als man erwartet. Man muß die Bahn so organisieren, daß sie sich den heutigen Verhältnissen anpaßt. Das ist eine Renaissance der Bahn, das heißt, sie muß kundenfreundlich sein, sie muß pünktlich sein und die Ankunfts- und Abfahrtzeiten müssen wie Zahnräder ineinander übergehen. Denn die Übergänge haben die Bahn früher und heute sehr belastet. Zwar ist es zum Teil schon besser geworden. Aber wenn jemand meinetwegen von Bayreuth nach München fahren will und in Nürnberg umsteigen und eine Stunde warten muß - so war es einmal - dann ist das sinnlos. Dann fährt er gleich mit dem Auto. Er muß einen möglichst kurzfristigen und guten Übergang haben. Das sind Verbesserungen. Ich bin der Meinung, daß hier manches bereinigt werden muß. Es muß ein Umdenken vorhanden sein. Man muß rechtzeitig investieren. Man darf nicht zu spät investieren. Wenn der Verkehr schon weg ist oder sich verlagert hat, dann ist man zu spät dran. Man muß rechtzeitig und verständlich umstellen. Dazu gehört natürlich, daß die Verantwortlichen dann auch kundenfreundlich, das heißt unternehmerisch, denken müssen. Herr Rex: Das gilt jetzt auch für die Post. Sie waren mal Postminister. Dieses Ressort gibt es jetzt nicht mehr. Ist das schade? Dr. Dollinger: Bei der Post ist es ähnlich. Die Trennung in drei Teile habe ich nicht für richtig gehalten. Das habe ich auch dem Herrn Schwarz-Schilling schon gesagt, als er mich um ein Gespräch bat, bevor er es gemacht hat. Ich habe für eine Zweiteilung plädiert. Das hieße also: Gelbe Post plus Nachrichtenwesen - Bankwesen und Nachrichtenwesen extra. Das wäre besser gewesen. Jetzt haben wir drei Teile. Die haben lange genug gestritten, was man mit dem Postbankteil machen sollte. Daß man sich verständigt hat, ist gut. Aber auch hier sind natürlich sehr große Umstellungsprozesse im Gange. Ich bin auch der Meinung, daß die Postbedienung bis jetzt nicht so schlecht ist, wie man allgemein sagt. Ich habe mich in meinem eigenen Landkreis davon überzeugt. Da hat man Poststellen aufgelöst und zum Beispiel in einem Bäckerladen untergebracht. Da ist jetzt die Post drin. Die Postkundschaft hat mehr Möglichkeiten als vorher, dort ihre Wünsche erfüllt zu bekommen. Denn die Postschalter waren nicht so lange besetzt, wie die Poststellen jetzt. Es gibt also auch Fortschritte, aber der Umgewöhnungsprozeß, der muß gut laufen. Herr Rex: Darf ich noch einmal sechzig Jahre zurückgehen, bis hin zu den nationalsozialistischen Greueltaten. Sie haben im Krieg als Soldat gedient. Sie haben nach dem Krieg erfahren, was alles passiert ist. Sie hatten einen jüdischen Mitschüler. Den haben Sie später wiedergesehen. Dr. Dollinger: Das war Theodor Seemann aus Suchenheim bei Neustadt, der hat in Neustadt bei seinem Onkel gewohnt. Er war der Beste in unserer Klasse. Wir waren damals in der Realabteilung nur acht oder zehn Schüler und er war der Beste. Er hat am Samstag im Unterricht nie den Bleistift in die Hand genommen. Er war orthodox. Eines Tages ging er von Neustadt weg. Man hat ihn in der Schule zum Teil geschnitten - nicht alle. Ich hatte ein gutes Verhältnis zu ihm beibehalten. Aber eines Tages verließ er die Schule und ging nach Nürnberg. Dann habe ich lange nichts mehr von ihm gehört. Eines Tages habe ich erfahren, daß er in Holland lebt. Ich habe ihn dann über einen Bekannten wissen lassen, wenn er einmal nach Bonn kommen würde, sollte er mich doch besuchen. Das geschah auch. Ich war damals Schatzminister. Er kam zum Kaffeetrinken. Wir haben nach dem Lebenslauf auch Erinnerungen an die Schulzeit ausgetauscht. Ich fragte ihn dann, ob er nicht einmal nach Neustadt kommen wolle. Da hat er sich etwas besonnen und mir gesagt, daß er das nicht tun wollte. Ich habe danach nichts mehr von ihm gehört. Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Seine Familie ist damals in Auschwitz umgekommen. Sie lebten in Holland. Er hat sich versteckt. Wenn man sich daran erinnert, muß man sagen: Der Fanatismus von damals war unwahrscheinlich. Das hat sich auch bei den Schülern ausgewirkt, die mit ihm nicht mehr gesprochen haben, obwohl sie sich vorher gut mit ihm verstanden hatten. Ich warne vor Fanatismus. Herr Rex: Hat es denn 1945 überhaupt einen Anfang geben können - einen ethischen Anfang? Dr. Dollinger: Das war nur bedingt möglich. Ich habe das zum Beispiel bei meinen drei Kindern erlebt. Die haben in der Schule in Bezug auf Geschichtsunterricht sehr wenig über 1933 bis 1945 gehört. An sich war das verständlich. Die Herren waren ja auch irgendwie alle mehr oder minder betroffen. Heute habe ich eine gewisse Freude daran, wie ein Teil meiner Enkel, die alle bereits in die Schule gehen, versucht, sich bei mir kundig zu machen, wie das eigentlich war. Aber man konnte ja vieles nicht vergleichen, denn heute gibt es die Technik. Fernsehen gab es damals überhaupt noch nicht. Im Rundfunk wurde verbreitet: "Hier sind alle deutschen Sender". Auch die heutige Pressefreiheit gab es nicht. Da muß man die Zeitumstände sehen. Ich selbst erinnere mich noch daran, als ich im Jahre 1943/44 im Lazarett in Beuthen in Oberschlesien lag. Da habe ich mit einer Oberschwester abends immer ein bißchen politisiert. Da hat die gesagt: "Doch, der Jude muß mal raus" und da erzählte sie, was es so gibt. Eines Tages, ich sehe die Frau noch vor mir, sagte sie: "Stellen sie sich einmal vor, nicht weit von uns entfernt werden Menschen verbrannt." Das war Juli/August 1944. Das war in Beuthen. Ich weiß nicht, wie weit Auschwitz davon weg ist, ich glaube aber nicht sehr weit. Das war eine völlige Überraschung. Das hat niemand gewußt. Ich würde gerne sehen, was manche Leute, die sich heute so aufspielen - ich muß das Wort gebrauchen - gemacht hätten. Die hätte ich "heldenhaft" sehen mögen - mit Anführungs- und Schlußzeichen das "heldenhaft" natürlich. Der Zeitgeist war damals ganz anders. Man hat die Leute auch nicht richtig informiert. Herr Rex: Aber trotzdem waren Sie 1945 politisch demokratisch und Mitgründer der CSU. Wie kam es denn dazu, daß Werner Dollinger 1945/46 Politik gemacht hat? Dr. Dollinger: Das war verhältnismäßig einfach. Ich hatte Diphtherie mit doppelseitiger Lungenentzündung, durfte keinen Sport treiben. Auch beim Reichsjugendtag durfte ich keinen Sport treiben. Dadurch konnte ich mich auch von Jugendorganisationen, also auch von der Hitlerjugend, fernhalten. Es folgte die Schulausbildung, zu der ich nach Nürnberg mußte. Da gab es keinen Bildungsnotstand. Wir haben nur sechs Klassen in Neustadt gehabt. In Nürnberg habe ich gemacht. Danach kam das Studium. Ich wurde zunächst nicht zum Militär eingezogen, habe mich dann freiwillig gemeldet. Ich war im übrigen nie "UK-gestellt". Ich habe dann mein Studium abgeschlossen. Ich habe Glück gehabt. Scherzhaft sage ich: "Mit Verschlechterung der militärischen Lage hat sich mein Zustand gesundheitlich verbessert." Aber das war das Interessante für mich. Das Studium haben meine Eltern bezahlt, das ist also auch nicht mein Verdienst. Ich kam nach dem Krieg nach Neustadt. Da war ich gewissermaßen begehrt, weil man Leute gesucht hat für den Fragebogen - dieses riesige Handtuch. 131 Fragen standen da drauf. Dabei wurden so dumme Fragen gestellt, wie: "Wie haben Sie 1932 das letzte Mal gewählt?" Was sollte man da reinschreiben? Ich konnte damals überhaupt noch nicht wählen. Somit wurde ich angegangen, mich doch politisch zu betätigen. Viele waren politisch belastet, warteten auf die Entnazifizierung. Andere waren unsicher, was passieren würde, wenn die Russen kämen. Das Gerücht ging damals schon um. Die Amerikaner haben damals Thüringen geräumt. Das war ein großer Schock für die Bevölkerung und vielen fehlte einfach der Mut, etwas politisch zu tun. Einmal kam ein sehr bekannter Mann zu mir und hat sich eine Stunde lang mit mir unterhalten. Dann frage ich: "Wollen Sie nicht bei uns mitmachen?" Da sagte er: "Ich will doch nicht am nächsten Baum hängen, wenn die Russen kommen". Ich habe ohne Illusion geantwortet: "Wenn die kommen, dann hängen sie so oder so dort." Aber das war ein gewisses Hemmnis. Auch die Entnazifizierung war ein Hemmnis. Ich habe damals einfach gesagt: "Wir müssen alles tun, damit wir wieder selbstverantwortlich werden." Es gab ja keine deutschen Dienststellen. Der Landrat hat mir eines Tages gesagt, daß die Militärregierung seinen Kassenbeamten wegnehmen wolle, das könne er nicht durchstehen. Das hing natürlich mit der Bevölkerungsstruktur zusammen. Dies war für mich ein Anlaß, zu sagen: "Hier mußt du bereit sein, etwas zu tun, damit wir aus den Verhältnissen herauskommen. Damit wieder eine deutsche Verwaltung entsteht. Wir können nicht dauernd so weiter machen. Politische Unsicherheit muß durch eine eigene Regierung ersetzt werden". Das war mein Beweggrund. Herr Rex: Herr Dollinger, neben der Politik war die Kirche immer wichtig für Sie. Der Rheinische Merkur hat Ihre Stimme einmal eine der überzeugendsten und zugleich sympathischsten evangelischen Stimmen in der Politik genannt. Sie waren aber immer für die Trennung von Kirche und Politik? Dr. Dollinger: Ja. Herr Rex: Obwohl Sie auch in der Landessynode tätig waren - in der bayerischen, in der bundesdeutschen? Dr. Dollinger: Ich war von meinem Elternhaus her sehr kirchlich eingestimmt. Wir gehörten damals auch zur bekennenden Kirche, obwohl Deutschland politisch ganz anders war. Aber in der Kirche gab es keine Differenzen. Das ist ganz interessant gewesen. Aber ich sagte eben schon, daß ich für die deutsche Verwaltung war. Das beinhaltet natürlich auch ein Stück Nächstenliebe. Denn damals, 1946, habe ich als Stadtrat die Wohnungsverhältnisse erlebt. Die Heimatvertriebenen kamen. Die Lebensmittelversorgung - das war ja alles katastrophal. Da war für mich eben auch die Kirche ein wichtiger Punkt. Wir haben ja nie so volle Kirchen gehabt, wie nach dem Zusammenbruch. Warum gingen die Leute hin? Die Unsicherheit, der Verlust beziehungsweise die Ungewißheit über einen möglichen Verlust der Gefangenen, Lazarettaufenthalte.... Das hat alles eine Rolle gespielt. Für mich war wichtig, daß wir eine ethische, moralische Grundlage für das Leben haben. Luther hat einmal gesagt: "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" Das ist eine Frage, die man sich heute auch ab und zu stellen sollte. Aber heute denken die Leute darüber nicht mehr nach. Obwohl man sich manchmal schon fragen muß: "Wie ist das mit dem Leben?", wenn man von Massenkatastrophen hört. Diese Woche ist in der Türkei ein Omnibus verunglückt. Das führt aber im Augenblick bei uns nicht dazu, daß man ernsthaft über Gott nachdenkt, sondern man verdrängt den Tod. Das ist nicht gut. Für mich hat die Politik des Dritten Reiches - die ja ganz klar gegen die Kirchen und antichristlich war - bewiesen, daß man ohne Moral, ohne christliche Ethik auf Dauer nicht existieren kann. Ich fühle mich insofern geschichtlich mit der Entwicklung verbunden. Ich meine nach wie vor: Wenn man die Zehn Gebote mißachtet, dann ist es auf lange Sicht gesehen ein Bumerang. Der schlägt einfach zurück. Denn mit Gesetzen allein können Sie nicht handeln. Sie brauchen die Unterstützung des Bürgers. Herr Rex: Was muß die Kirche denn anders machen, damit wieder mehr Menschen in die Kirche gehen? Dr. Dollinger: Ich sage es einmal sehr offen: Ich möchte am Sonntag nicht einen abgeschmackten Kommentar aus einer Zeitung oder einer Rundfunk- oder Fernsehsendung in der Kirche hören. Da möchte ich die Verkündigung des Evangeliums hören. Darauf kommt es an. Das ist meiner Meinung nach ein unerschöpfliches Thema. Nehmen Sie die Bibel, das Alte oder das Neue Testament, da können Sie den Menschen viele Hinweise für den Alltag geben. Herr Rex: Sie haben gerade angesprochen, daß nach der Vereinigung der beiden deutschen Teile wieder mehr Menschen zur Kirche gegangen sind. Sie haben damals bei der Vereinigung davor gewarnt, daß eine mögliche Spaltung der Gesellschaft droht. Wie ist das, spaltet sich diese Gesellschaft, kann sie wieder zusammenkommen im kirchlichen Sinne, im gesellschaftlichen Sinne? Dr. Dollinger: Persönlich bin ich der Meinung, daß man bei uns gegenüber den früheren Ländern in der sogenannten DDR zum Teil zu hochmütig gewesen ist. Die Menschen haben da nicht weniger gearbeitet als wir. Aber sie hatten weniger Ertrag. Das lag am System. Das war nach meiner Meinung ein großer Fehler. Da hat man psychologisch falsch gehandelt. Wir müssen auch heute Verständnis für die Menschen haben, die da drüben sind, weil man von heute auf morgen nicht nachholen kann, was seit 1945 - wenn Sie so wollen seit 1933 - gestaltet worden ist. Deshalb bin ich der Meinung, daß dort alles geschehen muß, damit diese Spaltung überwunden wird. Ich bin auch zuversichtlich, daß das gelingt. Auch die Darstellungen über die Verhältnisse in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland sind meiner Meinung nach oft viel zu schwarz gemalt. Da wurde sehr viel getan, was sich letzten Endes bei uns auch auf den Haushalt ausgewirkt hat. Aber ich bin zuversichtlich - vor allem durch den Reiseverkehr. Es geht ja hin und her. Das ist gut. Manche bleiben hier im Westen, weil sie sagen, da geht es besser als im Osten. Aber ich bin zuversichtlich, daß im Lauf der Zeit alles überwunden werden wird. Herr Rex: Gegen Ende unseres Gespräches, Herr Dollinger, eine persönliche Frage: Sie haben drei Kinder und zehn Enkel. Sie waren erfolgreicher Unternehmer, Sie waren immer wieder Minister. Wie bringt man die Familie und das Leben in der Öffentlichkeit unter einen Hut? Dr. Dollinger: Tja, ich habe die richtige Frau gefunden, die mich immer unterstützt hat. Ich verstand von der Ziegelei technisch so gut wie nichts, als ich dort anfing. Die Ziegelei war ausgebombt. Aber meine Frau hat meine politische Mentalität mitgetragen. Als ich damals überraschend gewählt wurde - ich wollte ja nie Politiker werden - da habe ich gesagt: "Jetzt muß ich hier unterschreiben. Was soll ich machen? Soll ich die Wahl annehmen?". Darauf hat sie geantwortet: "Das mußt Du machen. Die vier Jahre werden vorbeigehen." Es wurden 38 Jahre daraus. Aber ich habe das nur machen können, weil meine Frau mit den Kindern zurechtkam und auch den Betrieb geführt hat. So habe ich das ganz gut überstanden. Herr Rex: Herr Dollinger, jetzt mit 80 Jahren, fahren Sie da immer noch nach Bonn? Dr. Dollinger: Ab und zu fahre ich noch hin, aber ich habe einen gewissen Abstand. Man sollte meinen, man weiß alles noch genau. Aber es ändert sich viel im Laufe der Jahre und man hat nicht alle Informationen, die man früher hatte - als Abgeordneter, als Minister. Darum muß man mit seinem Urteil etwas vorsichtig sein. Aber ich begleite das schon kritisch, politisch - nicht vom Tagesgeschehen aus, sondern ich versuche, mir die weitere Entwicklung vorzustellen. Herr Rex: Also ist Ihr Rat in Bonn immer noch gefragt? Dr. Dollinger: Dann und wann, ja. Herr Rex: Herr Dollinger, ganz herzlichen Dank. Wir bedanken uns bei einem Mann, der Minister unter allen Unionskanzlern war und 37 Jahre lang für die CSU in Bonn Politik gemacht hat. Herzlichen Dank auch Ihnen, verehrte Zuschauer, fürs Zuschauen bei Alpha-Forum.

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