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Deutscher

6. Sitzung

Bonn, den 6. Dezember 1961

Inhalt:

Gedenkworte zum Opfertod des Feldwebels Erich Boldt Präsident D. Dr. Gerstenmater . . . 53 A

Glückwünsche zu den Geburtstagen der Frau Abg. Dr. Rehling und des Vize- präsidenten Dr. Schmid ...... 53 B

Aussprache über die Erklärung der Bundes- regierung Brandt () (SPD) 53 C Dr. von Brentano (CDU/CSU) . . 65 A Dr. Mende (FDP) 74 B Dr. DolLinger (CDU/CSU) . . . 85 D Erler (SPD) 91 B Döring (Düsseldorf) (FDP) . . . 104 B Dr. Barzel (CDU/CSU) 107 C Dr. Atzenroth (FDP) 114 D Dr. Gradl (CDU/CSU) 118 C Ollenhauer (SPD) 123 B

Wahl der Wahlmänner und Wahl der Mit- glieder kraft Wahl des Richterwahlaus- schusses (Drucksachen IV/8, IV/48) . . 64 D, 73D, 85B

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Anlage 127

Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. , Mittwoch, den 6. Dezember 1961 53

6. Sitzung

Bonn, den 6. Dezember 1961

Der Herr Bundesminister der Justiz hat unter dem 30. No- Stenographischer Bericht vember 1961 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Wahl, Dr. Harm () und Genossen betr. Ratifizierung der Europäischen Übereinkommen über Auslieferung und Rechts- hilfe in Strafsachen — Drucksache IV/18 — beantwortet. Sein Beginn: 9.03 Uhr. Schreiben ist als Drucksache IV/46 verteilt. Der Herr Bundesminister der Justiz hat unter dem 1. Dezem- ber 1961 die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD betr. Fest- nahme des jugoslawischen Staatsangehörigen Vracari č — Druck sache IV/21 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Druck- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Die Sitzung sache IV/47 verteilt. ist eröffnet. Meine Damen und Herren, wir kommen zur Ta- Meine Damen und Herren, gestern ist mir die gesordnung. Die Fragestunde ist auf morgen vor- amtliche Meldung des Wehrbeauftragten über ein mittag angesetzt. Ich rufe auf den Punkt 2 der Ereignis zugegangen, das die deutsche Presse schon Tagesordnung: vor einiger Zeit gemeldet hat. Mir scheint der Vor- Aussprache über die Erklärung der Bundes- gang bei der Bundeswehr bedeutend und wichtig regierung. genug, um vor dem Deutschen Bundestag folgendes zu sagen. Am 16. November 1961 explodierte auf Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brandt dein Truppenübungsplatz Putlos in einem Spreng- (Berlin) . loch, in dem sich der 28jährige Feldwebel Erich Boldt von der Panzerpionierkompanie 70 mit zwei ande- Brandt (Berlin) (SPD) : Herr Präsident!- Meine ren Soldaten befand, eine Sprengladung. Um die Damen und Herren! Meine Freunde und ich wün- beiden Soldaten zu schützen, warf sich der Feld- schen der neuen Bundesregierung Erfolg, wo immer webel Boldt — in klarer Erkenntnis der Konsequen- es sich darum handelt, Gefahren vom unserem Volk zen — auf die Ladung. Er verlor das Leben. Durch abzuwenden und das zu tun, was im Interesse der seinen raschen, mannhaften Entschluß, der einer Freiheit und der Gerechtigkeit notwendig ist. vorbildlichen Gesinnung entsprang, hat er seinen Dies ist nicht die Regierung, die wir in dieser Kameraden das Leben gerettet. Zeit für notwendig halten. Aber dies ist die ord- nungsgemäß zustande gekommene Regierung der (Die Abgeordneten erheben sich.) Bundesrepublik Deutschland. Sie ist auch unsere Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag Regierung, und wir sind selbstverständlich bere ft, verneigt sich vor dem Opfertod dieses jungen Sol- ihr die Chance zu geben, um die der Bundeskanz- daten der Bundeswehr. Unsere ehrerbietige Anteil- ler gebeten hat. nahme gehört seiner Frau und seinem Sohne. — Meine Freunde werden es dieser sehr bewußt Meine Damen und Herren, Sie haben sich von Ihren gegen uns gebildeten Regierung allerdings nicht Plätzen erhoben; ich danke Ihnen. leichter machen, als sie es verdient, nicht leichter, Glückwünsche zum Geburtstag spreche ich aus als es dem Interesse unseres Volkes, wie wir es der Frau Abgeordneten Dr. Rehling. sehen, in dieser ernsten Lage entspricht. (Beifall.) Es wäre leicht, das unwürdige Gezerre zur Regie- rungsbildung zu beleuchten. Hier war es wirklich Zum 65. Geburtstag habe ich dem Vizepräsidenten schwer, keine Satire zu schreiben. Aber damit befas- dieses Hauses, unserem Kollegen Professor Carlo sen sich die Kabarettisten in unserem Lande. Schmid, gratuliert. (Beifall.) (Abg. Dr. Mommer: Sehr gut!) Folgende amtliche Mitteilungen werden ohne Es ist bis zu einem gewissen Grade rührend, wie Verlesung in den Stenographischen Bericht aufge- bemüht sich die Regierungserklärung zeigt, das — nommen: wie soll ich es nennen — politische Freistilringen zu erklären. Sie verweist entschuldigend auf die Der Herr Bundesminister der Justiz hat unter dem 29. Novem- ber 1961 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Kühn (Köln), Staaten, in denen es noch mehr Minister gibt als Frau Dr. Rehling und Genossen betr. Unterzeichnung und Rati- bei uns. Das ist ein überraschender Gesichtspunkt, fizierung von Abkommen des Europarates — Drucksache IV/20 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache IV/36 verteilt. meine Damen und Herren, bei dem, wenn man ihn Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hat unter dem weiter verfolgt, die Sowjetunion mit ihrer Minister- 29. November 1961 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hubert, Höfler und Genossen betr. Ratifizierung von Über- inflation zu einem noch unerreichten Vorbild wird. einkommen des Europarates — Drucksache IV/17 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache IV/40 verteilt. (Oh-Rufe bei der CDU/CSU.) 54 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Brandt (Berlin) Dagegen kommen die Vereinigten Staaten mit weni- chen, daß außenpolitische Verhandlungen nicht auf ger Ministern aus. den Marktplatz gehören. In einem Punkt kann es den berühmten Streit, Wir stehen an einem entscheidenden Einschnitt was früher da war, Henne oder Ei, nicht geben. Den unserer Geschichte. Deutschland war 1945 besiegt, Damen der CDU gebührt das unbestreitbare Ver- es wurde 1949 politisch organisiert, und 1962 wird dienst, daß sie eine Ministerin durchgedrückt hatten, sich entscheiden, ob seine Teilung besiegelt wird. noch bevor es dafür ein Ministerium gab. Nach 12 Jahren der Bundesrepublik müssen wir (Lachen bei der SPD.) Wünsche als Illusionen erklären. Die bisherige Wie- dervereinigungspolitik ist gescheitert. Auch die Probleme der Entwicklungshilfe existierten Es gibt heute offensichtlich keinen erkennbaren bereits vor dem 17. September; aber das neue Mini- Preis für die sterium — unter einem Tarnnamen — war für die Wiedervereinigung außer dem der Aufgabe der Freiheit. Koalitionsarithmetik erforderlich, und selten hat der Bundeskanzler — den ich zur Wiederherstellung (Abg. Dr. Heck: Das war schon immer so!) seiner Gesundheit beglückwünschen darf — sich so — Der Streit darum, verehrter Herr Kollege, ob das an sein Wort gehalten wie mit steiner Erklärung, jemals anders war, ist fruchtlos. Die Frage jetzt die Zahl der Minister werde für ihn kein Stein sein, heißt nur, ob wir uns mit dieser Feststellung und an dem man sich stoße. mit einem bedauernsvollen Achselzucken begnügen (Lachen bei der SPD.) wollen. Ich meine, die Wiedervereinigung darf für uns nicht von der Tagesordnung verschwinden, nur Das, was man das „FDP-Papier" 'genannt hat, weil sie im Augenblick und auf unabsehbare Zeit wird vernünftigerweise jetzt Koalitionsverein- aussichtslos ist. barung und nicht mehr Vertrag genannt. Ein Mit- glied des Hauses wollte es, wie ich meine: törichter (Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Das tut weise, als eine Art „Geheime Reichssache" betrach- sie auch nicht!) tet wissen. — Dann ist es ja gut, wenn wir uns darin einig (Lachen bei der SPD.) sind. Sie hat für uns zu jeder Zeit mehr zu sein als ein geläufiges Lippenbekenntnis. Ich kann hier nur der Formulierung von Professor Dr. Peters, Köln, zustimmen: „Die innere Schwäche (Beifall bei der FDP und Abgeordneten der Mitte.) wird offenbar durch formalen Perfektionismus er- - setzt." Die eigene Verantwortung des einzelnen Wir haben jede Entscheidung auf ihre Folgen für Abgeordneten kann durch kein Koalitionsabkommen das deutsche Selbstbestimmungsrecht zu prüfen. beurlaubt werden. Die Idee der Freiheit, die die meisten von uns (Beifall bei der SPD.) über das sonst Trennende hinweg vereint, ist keine defensive Idee. Sie ist offensiv und auf ihre umfas- Was den Koalitionsausschuß angeht, so möchte sende Verwirklichung in der Welt gerichtet. Die ich einen seiner Mitbegründer, Herrn Dr. Krone, an bloße Defensive würde den Westen insgesamt und das erinnern, was er im April dieses Jahres auf dem die Bundesrepublik im besonderen in die sichere Kölner Parteitag der CDU gesagt hat — ich zitiere —: Niederlage führen. Die Forderung der FDP nach einem Koalitions- Die Bundesrepublik ist, so will mir scheinen, im ausschuß ruft Schatten von Weimar wach. Sie ganzen gesehen, gegen den ideologischen Bazillus wirft uns in unserer staatlichen Entwicklung des Kommunismus gefeit. Unsere Sorge um die wieder zurück. Sie widerspricht dem Grund- Sicherheit entspringt nicht der Angst vor weltan- gesetz. schaulicher Zersetzung. Wir brauchen uns vor dem (Hört! Hört! bei der SPD.) Kommunismus als Idee nicht zu fürchten, .und dar- Ich mache mir diese letzte Behauptung nicht zu aus hat die Politik praktische, positive Konsequen- eigen, denn keine Vereinbarung dieser Art, über- zen zu ziehen. haupt keine Vereinbarung kann die dem Kabinett Wir haben uns zu den Menschen in der Zone hin- und den Abgeordneten durch das Grundgesetz zu- zuwenden. Das Herz der Nation schlägt hier, aber gewiesene Verantwortung schmälern. das Gewissen lebt vor allem in der Unterdrückung (Beifall bei der SPD und bei den Regierungs drüben. parteien.) (Beifall bei der SPD.) Die Regierungserklärung erscheint mir in vielen Und ohne das Gewissen können wir nicht leben. Punkten, auch in der Form des etwas unorganischen Der 13. August 1961 greift noch tiefer als der Aneinanderreihens, etwas kleinkariert geraten zu 17. Juni 1953. sein. Ich verzichte auf eine polemische Auseinander- Ich habe vor wenigen Tagen von einem Arzt einen setzung mit allen möglichen Einzelpunkten und auch Brief bekommen. Er sagt — ich darf zitieren —: auf den berühmten Gang, der über das Post- und Der Wunsch, herauszukommen, nimmt nach der Fernmeldewesen zur Außenpolitik führt. totalen Abschnürung epidemische Formen an. Wovon wir auszugehen haben, ist die Lage der Mindestens 95 Prozent der Flüchtenden werden Nation. Das Recht unseres Volkes auf die Wahrheit gefaßt und gehen einem grausamen Schicksal braucht dabei nicht dem Grundsatz zu widerspre entgegen. Sehen Sie sich bitte die blutenden Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 55

Brandt (Berlin)

Fleischklumpen an, die uns eingeliefert werden, Freund des deutschen Volkes empfinden können,

und zwar in immer steigender Zahl, weil die dessen Haltung und Politik unsere Landsleute drü- einfachen Grenzer auf Befehl der Offiziere er- ben peinigt und die Wiederherstellung unserer

barmungslos mit den Bajonetten zuschlagen staatlichen Einheit verhindert. Die vor uns liegen-

mußten, sonst wären sie dran. Geben Sie der den internationalen Verhandlungen werden auch

hiesigen Bevölkerung eine Hoffnung, damit die darüber entscheiden, ob für Deutschland die Voraus- von Woche zu Woche steigende Selbstmord- setzungen für eine andere Art des Verhältnisses kurve endlich fällt, die zu Weihnachten Böses zur Sowjetunion gegeben sind. Aber wir dürfen ahnen läßt. uns darüber keiner Täuschung hingeben: Die gegen- wärtige Krise überlagert nur unsere Aufgabe, mit Das ist die erschütternde Realität in unserem Lande, der Großmacht im Osten in ein Verhältnis zu kom- der wir, die freien Deutschen, ins Auge sehen müs- men, das uns im vollen Einvernehmen mit unseren sen. Verbündeten der Lösung der deutschen Frage auf Wir alle sollten es als unsere gemeinsame Auf- dem Boden des Selbstbestimmungsrechtes näher gabe betrachten, der Bevölkerung der Bundesrepu- führt und damit die im beiderseitigen Interesse lie- blik klarzumachen, daß die bloße Erhaltung des Be- gende Normalisierung der Beziehungen ermöglicht. stehenden nicht ausreicht. Wir werden unsere Frei- Wir sollten uns, meine Damen und Herren, alle heit nur erhalten, wenn wir um die Freiheit der darin einig sein, daß wir unsere Probleme nur poli- 17 Millionen ringen und bereit sind, unsere Aktivi- tisch und nicht militärisch lösen können. Von dieser tät, unseren Einfallsreichtum, unsere Wirtschaft, Erkenntnis spürt man in der Regierungserklärung unsere Zivilcourage und unsere Freundschaften in leider zu wenig. der Welt darauf zu konzentrieren. (Beifall bei der SPD.) (Beifall bei der SPD.) Ich wende mich nicht gegen das Gewicht der ernsten Die Bundesrepublik wird sich den Rund-um-Blick militärischen Fragestellungen in der Regierungs- angewöhnen müssen, zu dem Berlin seit Jahren erklärung, sondern beklage den Mangel des politi- gezwungen ist. Denn wir können nicht die Tatsache schen Gegengewichts. ignorieren, daß wir nicht nur Nachbarn des kommu- nistischen Ostens sind und bleiben werden, son (Beifall bei der SPD.) dern daß wir vor allem unseren Landsleuten nicht In diesem Zusammenhang möchte ich zu einer den Rücken zuwenden dürfen. Wir müssen in Zu- Einzelfrage sagen: An der Stelle der Regierungs- - kunft wirklich alles tun und nicht nur darüber reden, erklärung, wo von unseren Beziehungen zu den um ihnen wenigstens die Hand reichen zu können. osteuropäischen Staaten die Rede ist, hätten wir Dabei wird es mit der bloßen politischen Abwehr, gern ein offeneres, wenn möglich, freundschaftliches, mit dem Einigeln nicht getan sein. Denn noch nie- dem Ausgleich dienendes und der Zukunft zu- mals ist ein diktatorisches Regime durch lethargische gewandtes Wort an die Adresse der uns benach- Unaktivität daran gehindert worden, neue Forde- barten Völker im Osten gehört. rungen zu stellen. (Beifall bei der SPD.) (Beifall bei der SPD.) Die Haltung der Bundesrepublik muß von zwei In Ostberlin schaltet man um auf den nationalen Grundsätzen bestimmt sein: Erstens. Die Deutschen Ton. Was wir nicht fordern, werden die anderen lassen sich heute in ihrer Friedensliebe von keinem unter ihrem Zeichen verlangen. anderen Volk übertreffen. Und diejenigen hier, die Das Scheitern der bisherigen Wiedervereinigungs- mit fast 40 % der Mandate die Opposition in diesem politik darf nicht zu leichtfertigen Vorwürfen gegen- Hause stellen, stehen, wo immer es darauf an über unseren Freunden in der Welt führen. Sie -kommt, an der Spitze derer, die sich gegen die Ver- haben sich auf das gemeinsame Ziel verpflichtet, leumdungskampagne stellen, die sich gegen unser Volk richtet, als ob es revanchistisch, kriegslüstern (Abg. Dr. Heck: Siehe Deutschlandplan!) oder neonazistisch gewesen sei oder sei. aber nicht dazu, deutsche Politik zu betreiben. (Beifall im ganzen Hause.) (Sehr wahr! bei der SPD.) Denn so ist es nicht, sondern das ist ein Teil eines Wir werden ihre Hilfe bekommen, aber wir kön- Feldzuges nicht nur zur Verleumdung der Bundes- nen von keinem von ihnen erwarten, daß sie sich republik, sondern auch zur Zersetzung des Lagers dien Kopf mehr zerbrechen, als wir es selber tun. der Demokratie. (Beifall bei der SPD.) (Erneuter Beifall auf allen Seiten.) Der amerikanische Präsident hat in seinem Inter- Zweitens. Die Bundesrepublik ist bereit und muß view mit der „Iswestija" richtig erklärt, daß offen- bereit sein, entsprechende eigene Beiträge zu lei- sichtlich die Wiedervereinigung nicht gegen den sten, Beiträge, die sich aus ihrer eigenen und der Willen der Sowjetunion erreicht werden kann. Dar- Friedensliebe ihrer Bevölkerung ergeben. Zu die- aus würde folgern, daß wir uns, um sie zu errei- sem zweiten Punkt hat die Bundesrepublik, so chen, um eine Verbesserung der Beziehungen zur meine ich, in der Vergangenheit keine rühmliche Sowjetunion zu bemühen hätten. Das scheint in der Rolle gespielt. Es wird unerläßlich sein, deutsche heutigen Situation fast aussichtslos. Und wir sind Vorstellungen zu den Problemen der Rüstungskon- uns sicher darüber einig, daß wir niemanden als trolle und Rüstungsbegrenzung, aber vor allem auch 56 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Brandt (Berlin) für die Grundsätze eines Friedensvertrages zu er- die eine geschichtsbildende Kraft haben. Wir sind arbeiten. erfreut, daß sich diese Entwicklung trotz zeitweiser (Beifall bei der SPD.) Verkrampfungen über den engeren Rahmen hinaus Sie hätten vom Selbstbestimmungsrecht auszugehen, vollzieht, und wir hoffen, daß es zu einer verstärk- seine unerläßliche Folgen für die freie Gestaltung ten parlamentarischen Mitwirkung und Kontrolle in unserer inneren Verhältnisse zu entwickeln und zu der europäischen Gemeinschaft kommen wird. Sie formulieren; zu formulieren vor allem, inwieweit erinnern sich, daß meine Freunde bei aller unein- nach außen unser legitimes Sicherheitsbedürfnis mit geschränkten Anerkennung unserer Freundschaft zu den Interessen aller unserer Nachbarn in Einklang Frankreich immer der Meinung waren, daß das gebracht werden kann. Im übrigen könnte ich mir freie Europa nicht ohne England vorstellbar ist. vorstellen, daß wir auch international einen Schritt (Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Das weiterkommen, wenn die Grundsätze eines Frie- haben wir auch gesagt!) densvertrages für ganz Deutschland erörtert wer- den und versucht wird, einer Einigung hierüber Wir haben die Hoffnung, daß insbesondere auch näherzukommen, unter bewußter Ausklammerung Dänemark und Norwegen den Weg in diese Ge- der heute vorhandenen tatsächlichen Teilung. Ich meinschaft finden werden, deren Grundsätze es auch halte es jedenfalls für erforderlich, daß nicht nur die möglichst neutralen oder allianzfreien Ländern er Bundesrepublik, sondern der Westen überhaupt leichtern sollten, Mitglied zu werden oder sich we- seine positiven Vorstellungen von einem Frieden nigstens zu assoziieren. Mit ernster Sorge und in mit und für Deutschland, und das heißt zugleich aufrichtiger Freundschaft denken wir in diesem einer Entspannung in Mitteleuropa, den sowjeti- Augenblick an das tapfere finnische Volk. schen Vorschlägen entgegenstellt, (Beifall.) (Beifall bei der SPD) Unser Bündnissystem ist weiter zu entwickeln. jenen Vorschlägen, die das Wort Frieden mißbrau- Dabei möchte ich ausdrücklich das Prinzip unter- chen und bei ihrer Durchführung nur zu einer Ver- streichen, daß wir bereit sein müssen, unseren Ver- schärfung der internationalen Lage beitragen wür- pflichtungen nachzukommen. Das beinhaltet auch den. das Mittragen der Risiken. Dabei wird es überhaupt (Abg. Wehner: Sehr wahr!) keine Opposition um der Opposition halber geben. Wir werden die Verpflichtungen, die sich- aus un- Mit einer derartigen Politik werden wir unsere serer Mitgliedschaft zur NATO ergeben, bejahen, Freunde entlasten und neue Freunde gewinnen. sofern sie vernünftig, sinnvoll und vertragsgemäß Wir können hier sinnvoll anknüpfen an zwei Do- sind. kumente, die im vorigen Bundestag ungeachtet vie- (Unruhe in der Mitte. — Abg. Dr. Vogel: ler Spannungen zustandegekommen sind. Ich meine Was heißt das?) die Berliner Entschließung vom 1. Oktober 1958, Über die Wehrdienstzeit werden wir im zuständigen und ich meine die Erklärung des Herrn Bundestags- Ausschuß beraten. präsidenten vom 30. Juni 1961. Beide gewichtige Äußerungen und zusätzliche Hinweise auf den Frie- Wir bleiben, neuerdings in Gemeinschaft mit der densvertrag sind, sofern die Berichte darüber stim- Regierung, men, im Koalitionsabkommen festgehalten. Uns scheint, daß die Regierungserklärung dahinter in (Abg. Majonica: „Neuerdings?") entscheidender Weise zurückbleibt. bei einem Nein zur deutschen Verfügungsgewalt (Beifall bei der SPD.) über Atomwaffen. (Beifall bei der SPD.) Im übrigen sind auch wir der Meinung, daß die Frage der Ostgrenzen erst in einem Friedensvertrag Nach dem Interview des amerikanischen Präsiden- mit einer gesamtdeutschen Regierung geregelt wer- ten mit der „Iswestija" weiß wohl auch jedermann, den kann. Und ich unterstreiche, was wir früher ge- daß die Bundesrepublik keine Atomwaffen bekom- sagt haben, nämlich, daß wir keine Politik hinter men wird. dem Rücken der heimatvertriebenen Landsleute machen dürfen. (Abg. Majonica: Das ist doch niemals von uns gefordert worden! — Gegenrufe von Meine Freunde und ich begrüßen die positive Er- der SPD.) klärung der Regierung für die Entwicklungsländer, der ich hinzufügen möchte, daß es für die Bundes- In der Regierungserklärung hat der vierte Bundes- republik darauf ankommt, bei uns funktionierende kanzler den dritten Bundeskanzler dementiert, Modelle nicht schematisch übertragen zu wollen und (Beifall bei der SPD — Abg. Majonica: Ich dennoch darauf zu achten, daß sich unsere Maß- würde sagen: damit dementiert die vierte nahmen in eine sinnvolle Gesamtplanung der be- SPD die dritte SPD!) treffenden Länder einordnen. Wir sollten jedenfalls alles unterlassen, was irgendwo Hindernisse auf der bekanntlich wiederholt Atomwaffen ohne die dem Weg zur Selbstbestimmung erhalten würde. jetzt vorgebrachte Einschränkung gefordert hat. Der europäische Zusammenschluß gehört zu den (Sehr wahr! bei der SPD. — Zuruf von der entscheidenden positiven Strömungen unserer Zeit, Mitte: Nein, das ist nicht wahr!) Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 57 Brandt (Berlin) Die Idee einer NATO-Atommacht muß nach Ge- halten, oder als sollte die Sicherheit der Bundes sichtspunkten der politischen Klugheit und der mili- republik ein Verhandlungsgegenstand sein. Nie- tärischen Zweckmäßigkeit entschieden werden. mand schätzt unsere Sicherheit gering ein; aber (Unruhe in der Mitte.) nach meinen Informationen trifft das nicht den Kern. Es muß uns allen darum gehen, daß es mit unseren Unter die politischen Gesichtspunkte rechne ich an Freunden eine gemeinsame Deutschlandpolitik gibt. erster Stelle, daß jedes amerikanische Disengage- Zu einer solchen Politik gehört die Erkenntnis, daß ment von Europa vermieden werden muß. es keine ausreichende Sicherheit für die Bundes- (Sehr richtig! bei der SPD.) republik gibt, wenn wir Berlin nicht stark und le- bensfähig erhalten oder gar unseren Anspruch auf Die Einheitlichkeit des Bündnisses muß erhalten das Selbstbestimmungsrecht aufgeben. bleiben, in dem wir uns doch wohl nicht diskrimi- (Beifall bei der SPD.) niert fühlen. Schließlich sollten wir keine Veranlas- sung zu einer im Prinzip gleichgearteten Bewaff- Als am 27. November 1958 Chruschtschows Ulti- nung des Warschauer Paktes geben. Zu den mili- matum bekanntgegeben wurde, habe ich am selben tärischen Gesichtspunkten gehört eine Bewaffnung, Tage erklärt, der Plan einer „entmilitarisierten die das Bündnis als Einheit betrachtet und bereits Freien Stadt Westberlin" laufe darauf hinaus, die das konventionelle Risiko für die andere Seite stei- rechtliche und wirtschaftliche Zugehörigkeit zur Bun- gert, obwohl jeder Konflikt in Europa die Gefahr desrepublik zu durchschneiden. Ich bedauere, in die- einer schnellen Ausweitung zu einem atomaren sem Punkt recht behalten zu haben. Wir erkennen Krieg in sich bergen würde. Die Bundesrepublik dankbar die bewährten Garantien der drei West- darf sich also nicht drängen, und sie darf keines- mächte für die Lebensfähigkeit, die Sicherheit und falls das erste Land sein, das faktisch zusätzlich die Freiheit West- an. Wir brauchen insofern nuklear ausgerüstet wird. auch keine Sorgen zu haben und können uns auf das gegebene Wort unserer Freunde verlassen. (Beifall bei der SPD.) In den letzten Tagen hat es eine Reihe von Ge- Im übrigen gibt es keinen Grund, unseren Verbün- rüchten oder Spekulationen gegeben, wonach angeb- deten zu mißtrauen, notfalls auch das letzte Risiko lich die bisherigen staatsrechtlichen Beziehungen in den Fragen der gemeinsamen Lebensinteressen zwischen Berlin und Westdeutschland verändert einzugehen. Es gibt ein natürliches Interesse unse- oder durch einen Vertrag ersetzt werden sollten. res Volkes, daß Entscheidungen über Tod und Leben Lassen Sie mich hierzu sagen: das Verhältnis- Berlins nicht über den Kopf seiner Regierung hinweg ge- zur Bundesrepublik ist eine Sache des politischen troffen werden können. Die Beachtung dieses Inter- Willens der freien Deutschen, wie er sich im Grund- esses muß sich in Formen vollziehen, die das Ver- gesetz und in der Berliner Verfassung ausdrückt. trauen innerhalb der Allianz nicht gefährden und (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten politisch und militärisch gleichermaßen wirksam der CDU/CSU und der FDP.) sind. Wir halten das Vorprellen der Bundesregie- rung in dieser Frage für völlig unangebracht. An diesem Grundsatz etwas zu ändern, erfordert eine Verfassungsänderung, und dafür wird es in (Beifall bei der SPD.) diesem Hauses keine Mehrheit geben. Allgemein ist eine gewisse Zurückhaltung dem An- (Erneuter Beifall bei der SPD und bei Ab sehen der jungen deutschen Demokratie durchaus geordneten der CDU/CSU und FDP.) bekömmlich. Die Zugehörigkeit Berlins zur Bundesrepublik ist Für Fragen der europäischen Sicherheit hat die bekanntlich durch die alliierten Vorbehalte des Jah- Bundesregierung, wenn wir ihre Erklärung richtig res 1949 eingeschränkt. Die bestehenden Bindungen verstehen, praktisch jedes Regionalabkommen abge- müssen jedoch erhalten bleiben. Man könnte sie lehnt. Das ist jedenfalls eine Änderung von Ansich eher noch stärken, nachdem die andere Seite in so ten, die der Verteidigungsminister früher geäußert frevlerischer und herausfordernder Weise den Rest hat. von Viermächte-Vereinbarungen für den östlichen (Sehr wahr! bei der SPD.) Teil Berlins zerstört hat. Jedenfalls sind diese Ver- Nach unserer Auffassung kann eine gleichwertige bindungen zwischen dem größeren und dem kleine- und kontrollierte Rüstungsbegrenzung als Ansatz ren Teil des freien Deutschland nicht der Grund eines über seinen engeren Rahmen hinausgehenden der gegenwärtigen Berlin-Krise. Abkommens wertvoll sein. Jedenfalls wird man die- (Beifall bei der SPD.) sem Thema nicht gerecht, wenn man von unserer Wir alle, jener Teil des Hauses so gut wie dieser Seite jeden gedanklichen Beitrag dazu überhaupt und wie die Mitte, sind daran interessiert, daß eine ablehnt, zumal er von unseren Verbündeten erwar- gemeinsame Verhandlungsbasis des Westens mög- tet wird. lichts bald erreicht wird. Dabei muß der Westen sich Meine Damen und Herren, für die bevorstehenden auf das sowjetische Ziel einstellen, Berlin nur zu Verhandlungen hat die Bundesregierung drei Grund- benutzen, um auf dem Weg über eine Isolierung der sätze genannt, deren Reihenfolge den Eindruck er- Bundesrepublik weltpolitisch eine entscheidende weckt, als ob die Bundesregierung die eigentliche Schwächung des Westens überhaupt zu erreichen. Wir Gefahr darin erblicke, wir könnten innerhalb des alle wünschen eine Entspannung — Berlin am aller- atlantischen Bündnisses einen minderen Status er- meisten! —; aber sie darf nicht durch einen faulen 58 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Brandt (Berlin) Kompromiß erkauft werden, der als Ergebnis von Lage haben. Wir sollten sie tatkräftig und durch Schwäche nur zu neuen Forderungen der anderen eigene Vorschläge fördern. Berlin als drittes Staats- Seite und damit in die sichere Niederlage führen gebilde auf deutschem Boden darf und wird es nicht würde. geben, denn wir haben das Wort unserer Verbün- (Beifall bei der SPD und bei den Regie deten, daß es kein Abkommen gegen den Willen rungsparteien.) der betroffenen Bevölkerung geben wird. Meine Freunde und ich messen den vor uns liegenden Be- Berlin ist ein Teil Deutschlands. Es gibt keine sprechungen in Paris eine große Bedeutung bei und grundlegenden Veränderungen in Berlin, die nicht hoffen, daß alle Beteiligten und Mitverantwortlichen Veränderungen in Deutschland, hervorrufen und be- auf deutscher Seite entsprechend unterrichtet und deuten. zu Rate gezogen werden. (Erneuter Beifall bei der SPD und bei den Regierungsparteien.) Berlin ist heute eine Aufgabe aller freien Deut- schen geworden. An seiner lebendigen Kraft wird Der in den letzten Jahren gemeinsam vertretene man unseren Selbstbehauptungswillen ablesen. Ber- deutsche Standpunkt, daß es keine isolierte Berlin- lin ist damit eine Aufgabe, die nicht bloß mit Geld Lösung gibt, bleibt richtig. Wir müssen deshalb eine zu erledigen ist. Ich hoffe, daß es zu einer Frage der Statusverschlechterung für Westberlin ablehnen. politischen Moral wird, daß Menschen nach Berlin Wir fordern mit der Regierung und mit Ihnen allen kommen, nicht nur, um es sich anzusehen, sondern die Beseitigung der seit idem 13. August vorgenom- um dort zu bleiben, es mit aufzubauen und zu menen Rechtsbrüche. Die Mauer muß weg! sichern. Diese Stadt muß unser geistiges und kultu- (Beifall im ganzen Hause.) relles Zentrum werden. Sie hat dazu alle Voraus- setzungen. Aber um sie zu einem solchen Zentrum Sie bleibt eine ständige Provokation. Hier darf es zu machen, müssen die politischen und moralischen keine falschen Status-quo-Vorstellungen geben. Kräfte unseres Volkes mobilisiert werden. (Sehr wahr! bei der SPD.) (Beifall bei der SPD und der FDP.) Ich möchte in diesem Zusammenhang in allem Ernst auf die Kundgebung der 50 000 Jugendlichen Meine Damen und Herren, auf dem Hintergrund hinweisen, die kürzlich in Berlin stattgefunden hat. dieser Situation haben meine Freunde und ich vor- Die Forderungen dieser 50 000 jungen Menschen geschlagen, die vierte Bundesregierung auf breitest - kann nur jeder in unserem Lande teilen. Wir wer- möglicher Basis, d. h. als Allparteienkabinett, zu den es auf die Dauer niemandem verbieten können, bilden. Niemand mache es sich bitte so leicht, die- seinem Empfinden über die Schandmauer stärkeren sen Vorschlag auch noch nachträglich als taktisch Ausdruck zu verleihen. Was Berlin angeht: unsere bedingt abzutun. Unsere Fragestellung war — man Polizei denkt wie die Bevölkerung. Sie ist zum braucht sie sich nicht zu eigen zu machen, aber man Schutze der Ordnung in West-Berlin, aber nicht zum sollte sie, bitte, ernst nehmen —: Was ist objektiv Schutze der Mauer da. erforderlich, damit die Bundesrepublik so gut wie möglich mit den Schwierigkeiten fertig wird, die (Beifall bei der SPD.) auf ihrem Wege liegen? Ich rufe nicht zur Unvernunft auf, obwohl jene Man ist den von uns vorgeschlagenen Weg nicht Mauer die extreme Unvernunft ist. Wir sind ein gegangen. Man hat sich statt dessen auf die Ge- sehr geduldiges Volk, aber man sollte unsere Ge- meinsamkeit zur Ausschaltung von 11 1/2 Millionen duld nicht überstrapazieren oder sich wundern, Wählern verständigt, wenn eis Grenzen unserer Selbstachtung gibt. (Sehr wahr! bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der FDP.) und ich vermute, man wird das eines Tages be- In den letzten Wochen ist Ulbricht in einer Reihe dauern. von Fällen in Einzelheiten über das hinaus gegan- (Sehr richtig! bei der SPD.) gen, was die Sowjet-Union ihm geraten hat. Ihm durch einen sog. Friedensvertrag weitere Hand- Man hat uns entgegengehalten, eine Regierung lungsvollmachten zu geben, sollte auch die Regie- der nationalen Konzentration müsse in Reserve ge- rung der Sowjet-Union noch einmal überlegen, denn halten werden, bis wir — vom Typhus und von der sie kann durch ihn in schwer kontrollierbare Dinge Cholera abgesehen, Herr Kollege Mende — einem hineingezogen werden. Sie sollte auf der anderen wirklichen Notstand gegenüberstünden. Das ist ein Seite verstehen, daß wir kein Vertrauen haben kön- schwaches Argument. nen in die Vertragstreue eines Regimes, das täglich (Sehr wahr! bei der SPD.) bestehende Verträge bricht. Ulbricht Schikanemög- Als ob nicht schon genug geschehen wäre! lichkeiten einzuräumen, heißt, den Zustand der Spannung in Mitteleuropa zu verewigen, unter dem (Lebhafter Beifall bei der SPD.) alle leiden. Da sage ich mit dem neuen Bundesjustizminister: Auf der bestehenden Rechtsbasis sind sachlich Jeder deutsche Politiker sollte die Schandmauer technische Abkommen denkbar, beispielsweise über sehen — und jetzt zitiere ich ihn wörtlich —, „dann Fragen des Verkehrs und des Zugangs. Sie würden würde mancher kleinliche Hader in Bonn verblas- den Charakter von Durchführungsvereinbarungen sen." zum Zwecke der Entspannung der augenblicklichen (Beifall bei der SPD.) Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 59 Brandt (Berlin) Gemeinsame Bemühungen, meine sehr verehrten Wenn wir von der Lage der Nation sprechen — Damen und Herren, können doch sinnvollerweise und wovon anders hat eine Regierungserklärung nicht erst dann einsetzen, wenn der Karren fest- und die Aussprache darüber zu handeln —, dann gefahren ist. darf keiner so tun, als könne er die Innenpolitik (Erneuter Beifall bei der SPD.) von der Außenpolitik trennen oder als gebe es ein zusammenhangloses Nebeneinander von materiellen Es kam und kommt doch darauf an, miteinander zu und geistigen Dingen. überlegen, was getan werden kann, um Gefahren abzuwenden und unsere Interessen so gut wie mög- Wir müssen uns selbst und unser Volk seelisch lich zu wahren. und geistig vorbereiten auf die weltweite Ausein- andersetzung kommender Jahre und Jahrzehnte, — Niemand soll glauben, wir hätten die Allparteien- und Jahrzehnte! Wir müssen die kommunistische regierung vorgeschlagen, um einen breiteren Buckel Herausforderung annehmen und wissen, daß wir zu bieten, auf dem man unserem Volk noch mehr uns an den kulturell-geistigen und an den sozialen aufbürden könnte. Wir haben sie vorgeschlagen, Fronten zu bewähren haben werden. um ein Unglück abwenden zu helfen. Wir haben sie Wir brauchen die Intelligenz unseres Volkes und vorgeschlagen, weil es richtig gewesen wäre, vor müssen auf den Tag hinarbeiten, an dem bei uns in unserem Volk, vor der ganzen Welt, vor Freund der Bundesrepublik nicht mehr das Geld über den und Feind ein Zeichen der Reife und der Entschlos- Geist zu bestimmen haben wird, sondern der Geist senheit aufzurichten. über das Geld. (Beifall bei der SPD.) (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Unruhe Es war das Kennzeichen dieses Herbstes, daß wir bei der CDU/CSU.) in der Bundesrepublik zum erstenmal seit ihrem — Ich hoffe nicht, daß zu viele derer, die es angeht, Bestehen eine Regierungskrise hatten. Die Art, in das Lachen darauf vernehmen. Dieses Lachen müßte der man sie überwunden hat, hat uns außenpolitisch auf die geistigen Kräfte und auf die junge Intelli- Ansehen gekostet genz in unserem Volk tief beunruhigend wirken. (Sehr wahr! bei der SPD) (Erneuter lebhafter Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.) und in unserem Innern zu einem kopfschüttelnden Abwenden vieler unserer Mitbürger und Ihrer Wir brauchen den Willen zur krisenfesten, aus- Wähler geführt, geglichenen, gerechten Wirtschaftsordnung. Wir (Beifall bei der SPD) brauchen die Erkenntnis, daß jeder wirkliche soziale Fortschritt eine Niederlage des Kommunismus ist. und das zu einem Zeitpunkt, in dem wir gerade auf (Beifall bei der SPD.) das politische Bewußtsein und auf die wache Bereit- schaft, sich für die Allgemeinheit verantwortlich zu Wenn wir von der Lage der Nation ausgehen, fühlen, mehr angewiesen sind als jemals zuvor. dann brauchen wir keine Selbstzufriedenheit. In der Regierungserklärung wurde apodiktisch erklärt, die (Beifall bei der SPD.) Bundesrepublik s e i ein sozialer Bundesstaat. Man darf wohl über Parteigrenzen hinweg sagen: (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl! — Abg. Das politische Verantwortungsbewußtsein und die Dr. Barzel: Ist sie auch!) innere Substanz haben nicht Schritt gehalten mit Wir meinen — und in Wirklichkeit gibt es doch eine dem bewundernswerten und bewunderten äußeren ganze Menge links von der Mitte, nicht dem Sitzen Wachstum unserer Bundesrepublik. Das politische nach, sondern der Haltung nach, die mit uns genau Klima und die Integration des Bürgers in den Staat derselben Meinung sind —, daß noch viel zu tun ist, sind bei uns unterentwickelt geblieben. Das Schlag- wort, meine Damen und Herren, „Weiter wie bis- (Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat denn her", das bestritten?!) (Unruhe bei der CDU/CSU) bevor wir im Sinne unseres Grundgesetzes zum demokratischen und sozialen Bundesstaat geworden das Schlagwort „Weiter wie bisher" taugt dazu sind. um so weniger, als wir alle wissen und wissen (Lebhafter Beifall bei der SPD.) müssen, daß es nicht stimmt. Niemand in diesem Hause wird die Leistungen (Beifall bei der SPD.) der hinter uns liegenden Jahre verkleinern wollen. Gegensätze in unserem Volk zu überwinden, es auf (Zurufe: Aha! und Beifall bei der CDU/CSU. Entscheidungen vorzubereiten und unserem Volk — Zuruf von der Mitte: Mal so, mal so!) klarzumachen, daß die Bundesrepublik kein Selbst- Aber es gilt doch auch zu erkennen, daß immer zweck ist, daß wir unsere Freiheit nur bewahren neue Aufgaben auf uns zukommen werden, wenn wir sie für unser ganzes Volk gewin- nen, das ist die innenpolitische Aufgabe der Regie- (Lachen bei der CDU/CSU — Zuruf von der rung, bei deren Erfüllung wir ihr helfen wollen, ge- Mitte: Das mußte ja mal gesagt werden!) rade weil wir in der Regierungserklärung darüber und daß die sozialpolitischen Bemühungen mit der so wenig gehört haben. wirtschaftlichen Entwicklung Schritt halten müssen. (Beifall bei der SPD.) (Unruhe bei der CDU/CSU.) 60 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Brandt (Berlin) — Meine Herren, die Sie das so lustig finden: Ja, das einzige, leicht drohende Wort der Regie rungserklärung war im Grunde an die Adresse der (Zurufe von der CDU/CSU) Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften gerichtet. Wenn Sie schon nicht zuhören, wenn Ihnen das (Sehr wahr! bei der SPD. — Zuruf von der Herr Katzer sagt, dann hören Sie doch bitte bei mir CDU/CSU: Machen Sie doch keinen Klas mal zu! senkampf!) (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Anhal Wir würden es für verhängnisvoll halten, wenn die tende Unruhe bei der CDU/CSU. — Zuruf Tarifautonomie der Sozialpartner angetastet würde, von der SPD: Aber wer ist denn Herr und wir möchten nicht hoffen, daß gewisse Arbeit- Katzer!) geberverbände zu einer Fehleinschätzung der realen Es erscheint uns sinnwidrig, die Aufgaben der so- Gegebenheiten verleitet worden sind. zialen Ordnung in einen Gegensatz zu stellen zur (Lebhafter Beifall bei der SPD.) Freiheit des einzelnen und der Gesellschaft. Nachdem die Arbeitnehmer an den Rand der (Sehr richtig! bei der SPD.) Regierungserklärung gedrückt worden sind, Die weitestgehende Verwirklichung der sozialen Ge- (Lachen und Widerspruch bei der CDU/CSU) rechtigkeit ist vielmehr eine der Grundvoraussetzun- gen, um die Freiheit in der modernen Industriege- wird es darauf ankommen, daß sie nicht auch an sellschaft zu erhalten. den Rand der Bundespolitik gedrückt werden (Beifall bei der SPD.) (Beifall bei der SPD. — Zuruf von der CDU/CSU: Modifizierter Klassenkampf!) Darum war es für uns enttäuschend, daß von dem Meine Freunde werden wie in der Vergangenheit grundlegenden Gedanken einer umfassenden So- zialreform in der Regierungserklärung kaum mehr (Zuruf von der CDU/CSU: Die letzte Wahl als das Wort übriggeblieben war. rede!) Unser Volk ist zu Opfern aufgerufen. Jawohl! an allem mitwirken, was den arbeitenden Menschen Aber wenn von Opfern die Rede ist, dann tut es zum mitgestaltenden Wirtschaftsbürger macht. uns und allen anderen Beteiligten gut, nicht immer (Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch!) zuerst an die anderen zu denken. Ohne ideologische Voreingenommenheit -möchten (Beifall und Zurufe von der CDU/CSU. — wir uns an dem orientieren, was aus unserer Sicht Beifall bei der SPD.) und Verantwortung notwendig ist. Wenn von den breiten Schichten der Bevölkerung (Zurufe von der CDU/CSU.) fühlbare Leistungen erwartet werden, dann fragen sie mit Recht, was die Leistungsfähigeren beizutra- Notwendig ist beispielsweise die sozialrechtliche gen bereit sind; Gleichstellung des Arbeiters. Deshalb werden wir unverzüglich initiativ werden, um für die Arbeiter (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle zu sichern. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD. — Zuruf von der dann fragen sie mit Recht, ob die Opfer auch eini- CDU/CSU: Früher aufstehen!) germaßen gerecht verteilt werden. Niemandem wäre auch damit gedient, wenn wir (Erneuter Beifall bei der SPD und bei Ab an der schlichten Wahrheit vorbeigingen, daß die geordneten der CDU/CSU.) Frage des gerechten Anteils am Ertrag der gemein- Einer meiner Freunde hat es dieser Tage so formu- samen Arbeit in unserer Bundesrepublik ungelöst liert: Wenn man schon glaubt, die Arbeitskraft un- ist. Die Statistik für das Jahrzehnt 1950 bis 1960 serer Bürger im Rahmen einer zivilen Dienstpflicht weist eindeutig aus, .daß die Entwicklung des Lohn- in Anspruch nehmen zu müssen, und Gehaltseinkommens je Arbeitnehmer wesent- (Zuruf von der CDU/CSU: Glauben Sie lich zurückgeblieben ist hinter der Entwicklung das nicht?) (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU) dann muß doch auch jeder Bürger wissen, Herr — hinter der Entwicklung des Volkseinkommens Zwischenrufer, daß der vermögende Mitbürger ein je Kopf der Bevölkerung. angemessenes, materielles Opfer zur Lösung unse- rer Probleme bringt. (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU.) (Beifall bei der SPD. — Unruhe bei den Re Bleibt die Frage der nach Meinung der Wissen- gierungsparteien.) schaftler nicht zu leugnenden Konzentrationsten- denz in unserer Wirtschaft. Unter Hinweis auf die Meine Freunde und ich haben es bedauert, daß Vermögenskonzentration ist sogar von einer „Re- die Regierung in ihrer Erklärung kein anerkennen- feudalisierung" gesprochen worden. des Wort für die Leistungen der Arbeiter und An- gestellten in Vergangenheit und Gegenwart gefun- (Zurufe von der CDU/CSU.) den hat. Wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, der (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. von Bren Freiheit und der Zukunft unseres Volkes wegen den tano: Das ist doch selbstverständlich!) Machtmißbrauch zu verhindern, eine ausgeglichene Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 61 Brandt (Berlin) Ordnung zu schaffen und dem Gesamtinteresse ge- len, daß diese Bundesregierung den insoweit vor genüber den Gruppeninteressen zum Durchbruch zu uns liegenden Aufgaben kaum gerecht werden kann. verhelfen. Daserschwert die Lage. (Beifall bei der SPD.) (Zuruf von der Mitte: Abwarten!) In den Vereinigten .Staaten und Großbritannien Meine Damen und Herren, der Respekt vor dem (Zuruf von der CDU/CSU: Hat er das mit Grundgesetz, vor unserer rechtsstaatlichen und frei- Brenner abgesprochen?) heitlichen, demokratischen Grundordnung, ist die hat eine Entwicklung von Jahrhunderten dazu ge- Grundlage unseres gemeinsamen Wirkens. Daran führt, daß diese Ordnungsaufgabe als selbstver- müssen und werden wir auch denken, wenn es sich ständlich anerkannt wird. Hier erzwingt die öffent- um eine sinnvolle Notstandsgesetzgebung handelt, liche Meinung in viel stärkerem Maße, als das bei (Sehr gut! in der Mitte.) uns in Deutschland der Fall ist, eine angemessene Mit einiger Kühnheit hat die Bundesregierung da- Einordnung der verschiedenen gesellschaftlichen von gesprochen, daß sie das Verhältnis zwischen Gruppen in das Ganze. In Deutschland neigen die dem Bund und den Ländern mit einer gewisser Interessentengruppen ebenso wie überall zur stär- Sorge beobachtet habe. Schließlich hat sie ja weit- kestmöglichen Durchsetzung ihrer Interessen. gehend selber die Ursachen für das unbefriedigende (Sehr wahr! bei der SPD.) Verhältnis zu den Ländern geschaffen. Aber dieser Neigung auch zum Machtmißbrauch (Sehr wahr! bei der SPD.) stehen keine sehr langjährige demokratische Tradi- Das eklatanteste Beispiel dafür war der Versuch der tion, keine in diesen Fragen stärkere öffentliche Errichtung einer eigenen Fernsehanstalt. Meinung und leider auch keine politische Führung gegenüber, die ihre demokratische Ordnungsauf- (Unruhe bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. gabe in ausreichender Weise erfüllt. Heck: Das kann er sich nicht entgehen lassen!) (Beifall bei der SPD. — Zuruf von der CDU/CSU: Na, na!) Das oberste Gericht hat diesen Versuch, durch ein Parteifernsehen eine unangemessene Machtposition Offenbar befinden wir uns nach der Vergötzung zu errichten, für verfassungswidrig erklärt. des Staates im Hitlerreich in einer Periode einer (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der gewissen Staatsverneinung, die in unserer poli- - tischen Lage jedoch mehr als bedenklich ist. Mitte.) (Abg Dr. Barzel: Gefördert durch „Ohne In der heutigen Situation würde allen Beteiligten mich" ! — Gegenruf des Abg. Matzner: So gedient sein, wenn der Herr Bundeskanzler sich an was Dummes!) sein im Jahre 1957 gegebenes Versprechen hielte und, wie er damals sagte, „in regelmäßigen Bespre- Im Grunde genommen geht es darum, die demokra- chungen mit den Chefs der Länderregierungen die tische Verantwortung jedes einzelnen für die Ge- Zusammenarbeit zu vertiefen" versuchte. Statt des- meinschaft zu wecken und ein gesundes demokra- sen hat ausgerechnet er, wenn die Zeitungen inso- tisches Staatsbewußtsein zu entwickeln. Wir haben weit richtig berichtet haben, im Juni dieses Jahres in der Vergangenheit mit Sorge beobachtet, daß zu den Föderalismus als eine den Deutschen von den wenig getan wurde, um das Gemeinschaftsbewußt- Amerikanern und den Franzosen aufgezwungene sein zu stärken und leine gesunde Einordnung der Staatsform bezeichnet. Teile in das Ganze zu sichern, und daß die Inter- essentengruppen in ihrem Machtstreben häufig (Heiterkeit bei der SPD. — Zuruf von der auch dann gestärkt wurden, wenn dies mit den CDU/CSU: Sind Sie Föderalist geworden?) öffentlichen Interessen nicht mehr zu vereinbaren — Ich höre den Zwischenruf, ob wir Föderalisten war. geworden seien. Meine Damen und Herren, wir (Zurufe von der Mitte: Siehe Gewerkschaf stehen ganz schlicht und ernst und ehrlich auf dem ten! — Das gilt für alle!) Boden des Grundgesetzes der Bundesrepublik Wir haben große Sorge, daß die neue Bundes- Deutschland! regierung dieser Aufgabe, eine gesunde Ordnung (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Zurufe der gesellschaftlichen Kräfte und damit die Entwick- von der CDU/CSU.) lung eines stärkeren demokratischen Staatsbewußt- Die Selbstverwaltung der Gemeinden wird in Zu- seins zu sichern, eher noch weniger gewachsen ist kunft stärker gesichert, sie wird in gewisser Hin- als die vorangegangenen Regierungen. Entstehungs- sicht wiederhergestellt werden müssen. Das ist ins- geschichte und Zusammensetzung der neuen Regie- rung lassen keinen Zweifel darüber, daß hier ein besondere eine Frage der Ausstattung mit den er- Bündnis vorliegt, das sich ganz offensichtlich in eine forderlichen Finanzmitteln. Es wird auch darum ge- weitgehende Abhängigkeit von ganz bestimmten hen, einige gemeindefeindliche Tendenzen, die in Kreisen der Wirtschaft begeben hat. Wir wissen, einer Anzahl von Bundesgesetzen Eingang gefunden daß es sich hier nicht um die ganze•Wirtschaft, viel- haben, durch eine sorgfältige Neuberatung zu be- leicht nicht einmal um ihre wichtigsten Teile han- seitigen, und ich darf wohl damit rechnen, daß die delt. Wir kennen Zeugnisse von verantwortlichen Freien Demokraten nicht vergessen haben, was sie Männern — von den Selbständigen bis zu den Lei- hierzu bis zum 18. September gesagt haben. tern großer Unternehmen —, die unsere Sorge tei- (Beifall bei der SPD.) 62 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Brandt (Berlin) Der Erklärung der Bundesregierung ist nicht zu in der damaligen Regierungserklärung eindeutiger entnehmen, daß sie die Initiative für ein neues geäußert; aber geschehen ist trotzdem nichts. Wir Parteiengesetz zu ergreifen gedenkt. Alle in diesem möchten, daß etwas geschieht. Deshalb werden wir, Bundestag vertretenen Parteien sind aufgerufen, wenn die Regierung nicht selbst bald ihre allge- den Auftrag unserer Verfassung zu erfüllen, nicht meine Erklärung konkretisiert, dem Bundestag fol- zuletzt, um durch Offenlegung der Finanzen eine gende Maßnahmen vorschlagen, um erstens den Zu- Beherrschung von Parteien durch anonyme Geld- sammenschluß zu marktbeherrschenden Unterneh- geber zu verhindern. men genehmigungspflichtig werden zu lassen, zwei- (Abg. Dr. Heck: Sehr richtig! — Zustim tens der Kartellbehörde wirksame Möglichkeiten mung bei der SPD.) zur Kontrolle marktbeherrschender Unternehmun- gen zu geben, drittens die Preisbindung zweiter In das Bewußtsein der Bundesregierung ist offen- Hand, die ein Übel ist, daraufhin eingehend zu prü- sichtlich die Tatsache noch nicht klar genug einge- fen, wo und in welchem Umfang sie aus übergeord- drungen, daß die Konzentration der Interessenver- neten Gründen des Gemeinwohls wirklich notwen- treter im Raume Bonn zu einem staatspolitischen dig sein mag, viertens dem Bundeskartellamt das Problem geworden ist. Recht und die Pflicht zu geben, aus eigener Initia- tive überall dort Untersuchungen vorzunehmen, wo (Zustimmung bei der SPD.) ein begründeter Verdacht der Marktbeherrschung Es gibt selbstverständlich legitime Formen der vorliegt, und fünftens ernsthaft die Bildung eines Interessenvertretung, aber gerade zu ihrem Schutz Preisrats vorzusehen, in dem die Stimme der Haus- erscheint es uns notwendig, Auswüchse und Über- frau einen wesentlichen Einfluß erhalten müßte. griffe durch eine Registrierungspflicht zu verhin- (Beifall bei der SPD.) dern. (Beifall bei der SPD.) Die Aktienrechtsreform ist — ebenso wie die Strafrechtsreform und die Finanzreform — zum In den vergangenen Jahren sind die Freien De- zweitenmal in einer Regierungserklärung angekün- mokraten gemeinsam mit uns gegen die Einrichtung digt. Wenn auch diesmal die Verabschiedung des von Reptilienfonds vorgegangen. Das Koalitionsab- Aktiengesetzes unangemessen verzögert wird, wer- kommen — wenn es richtig zitiert worden ist — den meine Freunde initiativ werden, um wenigstens spricht vom Gegenteil. Wir werden an dem prakti- eine ausreichende Publizität schen Verhalten im Parlament feststellen, was in der Großunternehmen zu sichern. Es ist nicht sinnvoll, eine große- Aktien- der Vergangenheit Grundsatz und was Taktik war. rechtsreform vorzuschlagen und dabei das Problem (Zurufe von der Mitte: Wir auch! — Abg. der Unternehmensverfassung in der Großwirtschaft Majonica: Das haben wir in den Länder einschließlich der Mitbestimmung einfach auszu- parlamenten festgestellt!) sparen. Wir schließen uns den guten Worten an, die die Von ganz entscheidender Bedeutung für eine frei- Regierung für die Beamten gefunden hat. Aber gute heitliche demokratische Entwicklung ist es, daß alle Worte allein für den öffentlichen Dienst tun es jungen Menschen unabhängig vom Stand und Ein- nicht. kommen ihrer Eltern die gleiche Chance erhalten, (Zurufe von der Mitte.) sich ihrer Begabung gemäß zu entfalten. Wir Sozialdemokraten werden Vorschläge unter- (Beifall bei der SPD.) breiten, um die wirtschaftliche Stellung der Beam- ten zu sichern. Der Zugang zum Hochschulstudium ist bei uns in (Abg. Majonica: Also doch Geld vor Geist!) der Bundesrepublik immer noch allzusehr mit tra- ditionellen und sozialen Vorurteilen verbunden. Hier geht es insbesondere darum, das Besoldungs- gefüge vor allem des einfachen und des mittleren (Zurufe von der CDU/CSU: Das ist nicht Dienstes zu verbessern. wahr! Wer etwas leistet, hat seine Chance!) (Beifall bei der SPD. — Zustimmung des — Aber meine Damen und Herren, gehen Sie doch Abg. Majonica.) bitte einmal zum Verband Deutscher Studenten- schaften und lassen Sie sich die Statistik über die Wenn ich mich zum Problem der Sicherung und soziale Gliederung an unseren Universitäten und des Ausbaus der freiheitlich-demokratischen Grund- Hochschulen zeigen! ordnung hier äußere, dann bedarf es auch noch eines Wortes zu den Fragen der Bedeutung wirt- (Beifall bei der SPD. — Abg. Schmücker: schaftlicher Macht. Wir haben keine Ressentiments Das hat damit nichts zu tun!) gegenüber den Großunternehmen. In der Regierungserklärung ist nichts darüber ge- (Lachen in der Mitte.) sagt worden, was man zu tun gedenkt, um die Be- gabtenförderung und die Hilfe für die Studierenden Es geht hier allein darum, wie der Mißbrauch wirt- auszubauen. schaftlicher Macht unterbunden werden kann. (Abg. Dr. Heck: Ländersache! — Weitere (Beifall bei der SPD.) Zurufe von der CDU/CSU.) Was zu diesen Themen in der jetzigen Regie- Über den Einzelforderungen steht unsere Vor- rungserklärung steht, ist erschütternd mager. Vor stellung von der Art des Zusammenwirkens in die- vier Jahren — im Jahre 1957 — hat man sich dazu ser Bundesrepublik. Entweder hat man den Geist, Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 63

Brandt (Berlin) von dem Sie dauernd reden, Herr Majonica, oder sein. Ich aber kehre nach diesem globalen Hinweis man hat ihn nicht. auf die praktischen Aufgaben, um die es hier im Ringen um die Freiheit, um die Gerechtigkeit und (Beifall bei der SPD.) den Fortschritt gehen wird, zurück zur Frage der Es geht um die Vorstellungen vom Zusammenwir- Zusammenarbeit in diesem Hohen Hause, zur Frage ken in dieser Bundesrepublik, es geht um unsere unserer gemeinsamen Verantwortung. Bitte — wenn man das hier sagen darf —, nicht nur für uns allein, für Millionen von Menschen in dieser Das Verhältnis zwischen Regierung und Oppo- ist ein Thema, das so alt ist wie der Bundes- Bundesrepublik, um Gewissensfreiheit und um mehr sition tag und älter. Daß die Regierung es in diesem Jahr Duldsamkeit in unserem öffentlichen Leben. nicht besonders erwähnt hat, ist hoffentlich ein Zei- (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der chen dafür, daß sie es ohne besondere wörtliche Er- CDU/CSU.) wähnung, ohne Ankündigung besser machen will Es geht um unsere Überzeugung, daß es der inneren als bisher. In den vergangenen zwölf Jahren hatte Aussöhnung unseres Volkes bedarf und daß wir den es noch jede Partei bitter zu bezahlen, die eine Frieden nach außen noch schwerer gewinnen wer- Koalition unter dem Herrn Bundeskanzler einge- den, wenn wir nicht vorher den Frieden im Innern gangen ist. erreicht haben. (Beifall bei der SPD. — Zuruf von der (Beifall bei der SPD.) CDU/CSU: Und dann drängten Sie sich da nach?) Lassen Sie mich einen Vorschlag machen, der Den Herren von der FDP brauche ich das wohl nicht nach dem Abschluß eines sehr harten und teilweise besonders zu sagen. nicht sehr schönen Wahlkampfes, wie mir scheint, besondere Bedeutung hat. Der Herr Bundespräsi- (Zuruf von der CDU/CSU: Aber Sie wollten dent hatte eine Anregung des Ringes Politischer dabeisein!) Jugend, in dem die Jugendorganisationen der drei Ich kann nur hoffen, daß sie diesmal bessere Erfah- Parteien des Bundestages vertreten sind, sehr be- rungen machen; denn das wären bessere Erfahrun- grüßt, sich für eine faire, offene, aber doch tolerante gen für uns alle. Auseinandersetzung der demokratischen Parteien (Lachen bei der CDU/CSU.) einzusetzen. Sollten wir nicht alle zusammen das Der Regierungsstil, meine Damen und Herren, Interesse haben, dem Beispiel anderer demokrati- - scher Staaten zu folgen und auch in der Bundes- war in diesen zwölf Jahren durch das gekennzeich- republik eine von uns allen getragene, aber unab- net, was man vielerorts „Kanzlerdemokratie" ge- hängige Organisation zur Überwachung und Siche- nannt hat. Ich verzichte auf eine Aufzählung ihrer rung einer fairen. politischen Auseinandersetzung bedauerlichen Erscheinungsformen. Jedenfalls hat zu bilden? sie mit einer Geringschätzung so ziemlich aller Kräfte (Lachen bei der CDU/CSU.) außerhalb des Bundeskanzleramts — Sie mögen auch hierzu den Kopf schütteln oder (Sehr wahr! bei der SPD) lachen. zu einer Vergiftung der Atmosphäre, (Zuruf von der CDU/CSU: Da kann man (Pfui-Rufe von der CDU/CSU — Heiterkeit nur lachen!) bei der SPD) — Da könne man nur lachen?! Dann haben Sie den zu einem Gegeneinander der demokratischen Par- traurigen Mut, über das zu lachen, womit unsere teien geführt und eine Anzahl guter Kräfte und Per- amerikanischen Freunde und Verbündeten und an- sonen bis in die letzten Wochen hinein kaltlächelnd dere, die auch etwas von Demokratie verstehen, gut verschlissen. gefahren sind! (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Barzel: (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Das ist hart an der Grenze!) CDU/CSU.) Bei uns — nicht bei uns als Partei, sondern in unse- Ich bin überzeugt, wir würden damit einen wertvol- rem Land und in unserem politischen Leben — len Beitrag zur politischen Bildung und zur politi- (Abg. Dr. Barzel: Ist das der Beitrag zum schen Gesittung in unserem Lande leisten. neuen Stil? — Abg. Wehner: Retten Sie (Beifall bei der SPD.) mal die Freiheit!) Meine Damen und Herren, wir werden im Laufe sind zwölf Jahre lang Talente zerbrochen worden, dieser Aussprache zur Regierungserklärung uns statt daß sie gepflegt worden wären. Es ist viel noch im einzelnen zu dem äußern, was nicht nur, guter Willen mißbraucht worden, statt Vertrauen zu wie soeben angedeutet, hier und jetzt und in den säen. Wir haben gelegentlich eine demokratische kommenden Jahren notwendig ist, um die Freiheit Abart des Personenkults erlebt zu sichern und weiter auszubauen, sondern was er (anhaltende große Heiterkeit und lebhafter erforderlich ist, um dem Grundsatz der Gerechtig- Beifall bei den Regierungsparteien) keit näherzukommen und um im Wirtschaftlichen, im Sozialen und im Geistigen dem Fortschritt un- — jeder macht seine Erfahrungen! — serer Bundesrepublik und unseres Volkes zu die- (erneute große Heiterkeit und Zurufe von nen. Darauf wird im einzelnen zurückzukommen den Regierungsparteien) 64 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Brandt (Berlin) gegenüber einem Manne, der seine unbestreitbaren können wir dort nur übernehmen, wo wir nach ge Verdienste um diese Bundesrepublik Deutschland meinsamer Beratung zu gemeinsamer Willensbil- hat — das darf man doch wohl auch noch sagen — dung gelangen. und der doch natürlich auch weiß, wie wir alle es Wir bleiben der Ansicht, daß es besser gewesen wissen, daß es Kandidaten gegeben hat, die eine wäre, die denkbar breiteste Basis für eine Regie- größere Mehrheit bei der Wahl zum Bundeskanzler rung zu finden, die den Notstand verhindern sollte. in diesem Bundestag bekommen hätten. Wir bleiben der Meinung, daß die vor uns liegen- (Zurufe von der Mitte.) den Aufgaben gemeinsam besser hätten bewältigt Ich bedauere es ehrlich, daß Dr. Adenauer nicht werden können. Vielleicht werden sie nur gemein- zuweilen seine Autorität anders eingesetzt hat, sam zu meistern sein, Die Sozialdemokraten wer- den dann nicht bequemer geworden sein, aber sie (erneute Gegenrufe von der Mitte) werden von der gleichen Liebe zur Freiheit und und ich möchte annehmen, daß er selbst es be- zum Dienst an ihren Mitbürgern erfüllt sein. dauert, daß er das auf seine Person konzentrierte Ich möchte noch eines deutlich machen: Die Ge- Vertrauen — besonders des Auslandes — nicht stär- meinsamkeit in den Grundfragen der Politik wird ker auf unser ganzes Volk zu übertragen vermocht nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden. hat. Wir werden darum ringen, und es wird nicht unsere (Beifall bei der SPD.) Schuld sein, wenn sie nicht zustande kommt. Es gibt Denn niemand darf sich darüber einer Täuschung keine isolierte Gemeinsamkeit in Berlin-Fragen. hingeben: Wir stehen nach all diesen Jahren — Wenn es wahr ist — und es ist wahr —, daß Berlin auch was das Vertrauen unserer Freunde in der ein wesentlicher Teil der deutschen Frage ist, dann Welt angeht — noch nicht auf einem festen Boden, wird die Gemeinsamkeit in bezug auf Berlin sich nur dann bewähren, wenn es über das Thema Ber- (Zuruf von der Mitte: Dazu haben Sie bei lin hinaus zu einem Zusammenwirken gegenüber getragen, Herr Brandt!) den heute drohenden Gefahren für das ganze obwohl die Demokratie in Deutschland nicht auf Deutschland kommt. Ich appelliere an dieses Haus zwei Augen steht. Ich hoffe, daß die FDP diesmal und an die Regierung, im Interesse der Zukunft un- bessere Erfahrungen macht, weil es auch unsere seres Volkes diese Bereitschaft ernst zu nehmen, die besseren Erfahrungen wären. Verantwortung für das Ganze über die Taktik des - (Zuruf von der FDP: Danke für die Sorge!) Tages, das Große über das Kleinere zu stellen. Das erwarten unsere Menschen hier und dazu beschwö- Jedenfalls bin ich für meine Person — , und ich ren uns ,die Menschen hinter der Mauer. Die Ant- glaube das auch im Namen meiner Freunde sagen wort darauf und die Verantwortung dafür liegen bei zu können — bereit zu einem Versuch, es besser zu uns allen. machen als bisher. Wir freuen uns über einige ent- sprechende Töne einiger Bundesminister. Aber der (Lebhafter Beifall bei der SPD.) Kapellmeister bleibt entscheidend. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Da- (Heiterkeit bei der SPD.) men und Herren! Nach einer interfraktionellen Ver- Eine Änderung des bisherigen Regierungsstils ist einbarung sollte um 11 Uhr oder kurz danach die die Voraussetzung für eine Gemeinsamkeit in den Wahl der Wahlmänner und die Wahl der Mitglie- Lebensfragen unserer Nation. Wir hoffen, daß man der kraft Wahl des Richterwahlausschusses in die- in Zukunft nicht mehr von einer Kanzlerdemokratie sem Hause erfolgen. Die Fraktionen sind entspre- sprechen muß, sondern von einem Staat, in dem die chend unterrichtet. Es ist jetzt 20 vor 11 Uhr, und Regierung die volle Verantwortung trägt, die Par- ich nehme an, daß der Sprecher der CDU/CSU-Frak- teien aber verantwortungsbewußt mitarbeiten kön- tion etwa eine Stunde sprechen wird. Ich möchte nen deshalb eigentlich dem Hause vorschlagen, da es (Abg. Majonica: Bei der Vereidigung aus besonders gut besetzt ist, die Wahl etwas vorzu- ziehen! — Weiterer Zuruf von der Mitte: ziehen. Ausziehen! Freiwillig ausziehen!) Ich werde jetzt zur namentlichen Abstimmung und nicht ausgesperrt werden. läuten lassen. Wir wollen dann die Wahl etwas vor 11 Uhr durchführen. Geht das oder wollen Sie, daß Der Staat, das sind wir alle. Die parlamentarische die Wahl erst nachher erfolgt? Bitte, Herr Mom- Opposition, die mit fast 40 % der Mandate in die- mer, zur Geschäftsordnung! sem Hause auch noch mehr ist als bloß Opposition, wird sich jedenfalls so verhalten, daß sie jederzeit (SPD) : Herr Präsident! Meine Da- imstande ist, auch Regierungsverantwortung tragen Dr. Mommer men und Herren! Die Fraktionen sind dahin ver- zu können. Unsere grundsätzliche Bereitschaft zur ständigt, daß die Wahl nach einer Rede in einer Zusammenarbeit in den Lebensfragen unseres Vol- Pause nach 11 Uhr stattfindet. Wir haben Kollegen, kes ist nicht davon abhängig, ob wir in der Regie- die einen Anreiseweg haben und die sich darauf rung sitzen. Niemand sollte jedoch glauben, er eingestellt haben, daß sie nicht vor 11 Uhr hier könne die SPD zu gleicher Zeit aussperren und doch mithaften lassen. Wir haben ein Recht auf laufende sein müssen. Deswegen bitte ich, die Wahl nach der Rede unseres Kollegen von Brentano vorzunehmen. und eingehende Information, die noch keine auto- matische Billigung einschließt. Mitverantwortung (Unruhe.) Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 65

Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Einen neuert hat. Die Union ist die stärkste Kraft dieses Augenblick, meine Damen und Herren! Ich will dem Hohen Hauses, das führende Element der deutschen nicht zuwider sein, aber ich muß sagen: das Haus Politik geblieben. ist jetzt ausgezeichnet besetzt, Herr Kollege Mom- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. mer, und ich bin mir nicht sicher, ob das nachher, Mommer: Wie lange noch?) so gegen 12 Uhr, noch so ist. Aber Sib möchten je- denfalls, daß die Wahl nachher stattfindet. Wenn ich diese unbestreitbare Tatsache feststelle, so verschweige ich damit nicht, daß unsere Gestal- Da wir in der Tat vereinbart haben, die Wahl in tungsmöglichkeiten durch den Verlust der absoluten einer Pause nach 11 Uhr vorzunehmen, kann ich sie Mehrheit eingeschränkt worden sind. Wir können nicht gegen den Widerspruch des Herrn Abgeord- die Verantwortung nicht mehr allein tragen und neten Mommer jetzt ansetzen. müssen, dem Willen des Wählers entsprechend, sie Wir fahren in der Aussprache fort. Ich gebe das mit anderen politischen Kräften teilen. Diese Über- Wort dem Herrn Abgeordneten von Brentano. legungen haben zur Bildung der Koalitionsregierung unter dem Bundeskanzler Dr. ge- führt. Dr. von Brentano (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Mit der Erklärung, Im Laufe der Verhandlungen haben sich beide die der Stellvertreter des Bundeskanzlers, Bundes- Seiten auch darüber verständigt, welche Richtlinien wirtschaftsminister Erhard, am 29. November hier sie ihrer gemeinsamen Arbeit zugrunde legen wol- abgegeben hat, hat die neue Bundesregierung dem len. Das Ergebnis dieser Überlegungen war die viel- diskutierte Deutschen Bundestag ihr Programm vorgelegt. Koalitionsvereinbarung. Der Herr Kol- lege Brandt hat von dieser Vereinbarung schon ge- Auf die Gefahr hin, des Personenkultes bezichtigt sprochen, und mein Fraktionsfreund Dr. Weber wird zu werden, möchte ich mich doch dem lobenswerten sich im Laufe der Diskussion noch mit dieser Frage Beispiel meines Vorredners anschließen und unse- beschäftigen. Darum kann ich mich auf wenige Be- rem verehrten Herrn Bundeskanzler sagen, wie sehr merkungen beschränken. wir uns freuen, daß wir die Aussprache heute in Wir haben im Bund und mehr noch in den Län- seiner Gegenwart durchführen können. dern in den vergangenen Jahren zahlreiche in ihrer (Beifall bei den Regierungsparteien.) Zusammenstellung wechselnde und manchmal recht Die Fraktion der CDU/CSU hat die Erklärung buntscheckige Koalitionen erlebt. In jedem Falle sorgfältig geprüft. Meine Freunde und ich werden haben die Partner das gleiche getan, was- hier in in der heutigen Aussprache einige Anmerkungen zu Bonn geschehen ist und was mir so selbstverständ- dieser Erklärung machen; wir werden Anregungen lich zu sein scheint, daß man eigentlich gar nicht geben und auch Fragen stellen. Aber gerade des- darüber sprechen sollte. wegen lege ich Wert auf die Feststellung, daß meine Nicht ohne ein gewisses Schmunzeln habe ich eine politischen Freunde und ich die Regierungserklä- Anfrage gelesen, die wohl demnächst in diesem rung billigen und ihr zustimmen. Hohen Hause behandelt werden soll. Sie beschäftigt Natürlich sind wir uns bewußt, daß jede Koali- sich mit der sonderbaren Frage, ob es sich bei der tionsregierung ihre Arbeit unter anderen Voraus- Koalitionsvereinbarung etwa um ein Staatsgeheim- setzungen aufnimmt als eine Regierung, die nur nis handle. Die Anfrage ist an die Bundesregierung von einer politischen Partei getragen ist. Bestand gerichtet, und ich möchte ihrer Antwort nicht vor- und Erfolg einer Koalitionsregierung hängen von greifen; aber für meine politischen Freunde und für der Bereitschaft der Koalitionspartner ab, Meinungs- mich selbst möchte ich auf diese Frage mit einem verschiedenheiten über den innen- und außenpoli- schlichten Nein antworten. tischen Kurs im Wege des echten Kompromisses zu (Abg. Dr. Mommer: Haben Sie es gehört, überwinden und sich in einer loyalen Zusammenar- Herr Mende? — Abg. Wittrock: Haben Sie beit zu begegnen. Soweit es sich um reine Zweck- denn inzwischen die Originalfassung ver mäßigkeitsentscheidungen handelt, kann es nicht öffentlicht? Die können Sie dann doch auch schwerfallen, im Einzelfall zu einer vernünftigen veröffentlichen, Herr von Brentano!) Verständigung zu gelangen. Ungleich schwieriger — Herr Kollege, es sind eine Reihe von Fassungen muß eine solche Zusammenarbeit sein, wenn sich veröffentlicht worden, sogar in synoptischer Dar- Meinungsverschiedenheiten in grundsätzlichen Fra- stellung. Ich hatte noch gar nicht , alles zu gen zeigen sollten. Es wird in solchen Fällen eines prüfen. Ich werde es bestimmt nachholen, und wenn großen Maßes an Verantwortungsbewußtsein bei jemand informiert werden will, soll er zu mir kom- allen Beteiligten bedürfen. Aber ich zweifele nicht men. Ich bin bereit. daran, daß diese Bereitschaft vorhanden ist. Wir in meiner Fraktion sind uns durchaus der Tatsache (Abg. Wittrock: Sie brauchen nur die Ori bewußt, daß die Bundesregierung die Verantwor- ginalfassung zu veröffentlichen!) tung vor dem ganzen Deutschen Bundestag und da- Aber ich meine doch, Herr Kollege Brandt hätte mit vor dem ganzen deutschen Volk trägt. einen ganz guten Vorschlag gemacht: man solle die Mit dieser Verpflichtung zur Zusammenarbeit ist Diskussion darüber in Zukunft den Kabarettisten es durchaus vereinbar, wenn ich ausspreche, daß überlassen. Ich glaube, daß man damit der Situation der deutsche Wähler auch am 17. September den gerecht würde. Führungsauftrag für die CDU/CSU ausdrücklich er (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.) 66 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. von Brentano Meine Damen und Herren, auch Briefe, die vor anerkannten Loyalität innerhalb der Koalition, wenn einer Eheschließung gewechselt werden, pflegen mit ich dabei mit Nachdruck feststelle, daß die Fraktion einer gewissen Diskretion behandelt zu werden, der CDU/CSU ihre politische Eigenständigkeit be- nicht nur wenn sie zu einer Liebesheirat, sondern haupten und das eigene Profil in der politischen auch wenn sie zu einer Vernunftehe führen, und Öffentlichkeit auch in Zukunft zeigen wird. eine solche Koalition stellt eine Vernunftehe dar. Meine politischen Freunde, die das von der Bun- Es scheint mir — um die Dinge einmal auszuspre- desregierung entwickelte Programm billigen und chen — so selbstverständlich und so unerläßlich zu unterstützen, sind entschlossen, es zum Wohl des sein, daß diejenigen, die sich zu gemeinsamer Ver- ganzen deutschen Volkes zu verwirklichen. Wir antwortung zusammenschließen, in einen Meinungs- sind uns — ich sagte es schon — der Verantwortung austausch darüber eintreten, wie sie dieser gemein- vor dem ganzen deutschen Volk bewußt. samen Verantwortung gerecht werden wollen, daß ich nicht recht begreifen kann, warum darüber eine Aber diese Verantwortung tragen nicht nur die lange Diskussion entstehen konnte. Ich glaube nicht, Regierungsparteien — mein Vorredner hat selbst daß jemand auf den abwegigen Gedanken kommen darauf hingewiesen —, diese Verantwortung trägt könnte, etwa ein Parteiprogramm als verfassungs- auch die Opposition. Wir alle haben ein Mandat widrig zu erklären, und hier liegt doch ein ver- der Wähler. Wir zusamm en vertreten das Volk, gleichbarer Tatbestand vor: zwei politische Gruppen das ganze deutsche Volk, den Teil des deutschen haben den Versuch unternommen, Richtlinien dar- Volkes, in dem die freiheitliche Grundordnung wie- über auszuarbeiten, nach welchen Grundsätzen sie derhergestellt werden konnte, und den Teil unseres ihre gemeinsame Arbeit führen und nach welchen deutschen Vaterlandes, in dem die Menschen noch Zielen sie diese gemeinsame Arbeit ausrichten wol- unter dem unerbittlichen Zwang eines in seinen len. Eine solche Vereinbarung ist nicht mehr, aber ideologischen Vorstellungen und in seiner prak- auch nicht weniger als ein vernünftiges Instrument, tischen Verwirklichung uns fremden und von uns das dazu beitragen soll, der gemeinsamen Aufgabe leidenschaftlich abgelehnten totalitären Systems gerecht zu werden. leben müssen. (Abg. Wehner: Ein Messer ohne Heft, ein Dieses Bewußtsein gemeinsamer . Verantwortung Messer, dem die Klinge fehlt!) wird niemand von uns veranlassen können, etwa von einer Einheitspartei zu träumen oder einen — Und wenn schon! Einheitsstaat zu wünschen. Diese gefährlichen Spe- (Sehr gut! bei der SPD.) kulationen mit einer pseudodemokratisch getarn- Ganz gewiß wird durch eine solche Vereinbarung ten Diktatur liegen uns allen fern. kein Gewissenszwang ausgeübt. Gerade die Frak- (Zuruf von der SPD: Auch Strauß?) tion der CDU/CSU hat in den vergangenen zwölf Jahren immer wieder gezeigt, daß sie die Unabhän- Eine Allparteienregierung, meine Damen und Her- gigkeit der Entscheidung ihrer Mitglieder respek- ren, ist damit selbstverständlich nicht vergleichbar, tiert. wie schon das Wort besagt. Aber es ist unbestreit- (Beifall bei der CDU/CSU. — Lachen bei bar — und das sollten wir uns klarmachen —, daß der SPD.) in einer solchen Allparteienregierung die Kontroll- funktion der Opposition untergehen müßte. Wir, meine Damen und Herren, kennen keinen Fraktionszwang. Vielleicht kann die ernste außenpolitische Lage zu einer Entwicklung führen, die uns die Frage (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) stellt, ob wir nicht gezwungen sind, das lebendige Ob die Erfahrungen im Deutschen Bundestag diese und fruchtbare Wechselspiel zwischen Mehrheit und uneingeschränkte Feststellung auch für die anderen Minderheit, zwischen Regierung und Opposition, im in diesem Hohen Hause vertretenen Fraktionen Interesse der gemeinsamen Bewältigung schwerster rechtfertigen, möchte ich dahingestellt sein lassen. politischer Probleme vorübergehend einzustellen. Sicherlich hoffen wir alle, daß uns das erspart bleibt; (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des denn eine solche Entscheidung wäre tatsächlich der Abg. Wehner.) Ausdruck äußerster Not und ernstester Gefahr. Ich wiederhole eindeutig und klar: die Fraktion Aber schon jetzt ist die Verantwortung, die auf uns der CDU/CSU kannte in der Vergangenheit keinen allen ruht, so groß, daß wir jeden Versuch unter- Fraktionszwang und wird ihn auch in Zukunft nicht nehmen sollten, bei den anstehenden Entscheidun- kennen. Ich stelle damit klar, daß für die Mitglie- gen über Lebensfragen unseres deutschen Volkes der meiner Fraktion selbstverständlich auch kein ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit zu erarbeiten und Koalitionszwang gelten kann und gelten wird, und auch nach außen zu zeigen. ich zweifle nicht daran, daß auch die Fraktion der (Beifall bei der CDU/CSU.) Freien Demokratischen Partei für sich die gleiche Feststellung treffen wird. Ich glaube nicht, meine Damen und Herren, daß Meine Damen und Herren, unsere Zustimmung zum wir, um eine solche Zusammenarbeit im politischen Regierungsprogramm beruht darum auch nicht auf Leben, ein besseres gegenseitiges Verstehen zu .einer Koalitionsvereinbarung, sondern auf einer erzielen, irgendeiner bürokratischen Überwachung freien Gewissensentscheidung. Es steht nicht in bedürfen. einem Widerspruch zu der von mir geforderten und (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 67 Dr. von Brentano Aber ich möchte den Appell der Bundesregierung tragen, und ich wäre glücklich, wenn wir dazu bei- aufnehmen und für meine politischen Freunde und tragen könnten, sie abzutragen. mich erklären, daß wir bereit sind, in der, prakti- (Beifall auf allen Seiten des Hauses.) schen Arbeit des Parlaments alles zu tun, um eine vertrauensvolle und aufrichtige Zusammenarbeit Aber nachdem Herr Kollege Brandt vermißt hat, auch mit der Opposition zu gewährleisten. daß in der Regierungserklärung in diesem Augen (Beifall bei den Regierungsparteien.) blick ein Wort etwa über die Aufnahme irgendwie gearteter Beziehungen zu Warschau gesprochen Meine Damen und Herren, ich hoffe, auch die wurde, möchte ich sagen: Wäre das die richtige Aussprache über die Regierungserklärung wird zei- Antwort auf die Entscheidung, an der auch die gen, daß diese Übereinstimmung in weiten Berei- Regierung von Warschau mitgewirkt hat, auf die chen doch besteht oder daß Ansatzpunkte dafür Entscheidung, die Mauer durch Berlin zu errichten?! gegeben sind, die wir sorgsam beachten und wei- (Beifall bei den Regierungsparteien. — terentwickeln sollten. Das scheint mir eine zwin- Abg. Brandt (Berlin) : Das ist eine Antwort gende Forderung zu sein, der sich niemand von uns auf etwas, das nicht gesagt wurde!) entziehen darf. — Sie haben die Frage gestellt; ich habe einiges Wir alle haben empfunden, daß sich die Regie- dazu gesagt, aber ich habe keine Antwort auf eine rungserklärung von den vorangegangenen in einem Frage gegeben. entscheidenden Punkte unterscheidet. Mit großem Ernst hat die Bundesregierung auf die gefährliche Meine Damen und Herren, wir reden von der internationale Lage hingewiesen. Sie hat angekün- Notwendigkeit, eine echte Opferbereitschaft im digt, daß sie Maßnahmen treffen muß, die tief in deutschen Volk anzusprechen. Herr Kollege Brandt das Leben des einzelnen eingreifen werden. Sie hat hat — in einer, wie mir scheint, nicht unzutreffen- darauf hingewiesen, daß sie von dem ganzen deut- den Weise — auch davon gesprochen, daß das schen Volk Opfer verlangen wird, die dem Ernst Staatsbewußtsein in unserem Volke nicht hin- der Lage entsprechen. Wir sind der Bundesregie- reichend entwickelt sei. Auch ich glaube, daß wir rung für diese offenen Worte dankbar. Ich habe den Opferbereitschaft nur erwarten können, wenn die Eindruck, daß das deutsche Volk und die Welt, Menschen, die wir ansprechen, die innere Bereit- insbesondere aber auch die mit uns verbündeten schaft mitbringen. 'Diese innere Bereitschaft setzt Nationen, diese Sprache 'erwartet und wohl ver- eine Klärung des Verhältnisses des Menschen zur standen haben. staatlichen Gemeinschaft voraus. - (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich stelle die Frage, ob es innerhalb unserer plu- ralistischen 'Gesellschaft gelungen ist, im Bereich Auch in anderen, in großen und starken Ländern der Jugenderziehung, im 'Bereich der Erwachsenen- haben die Regierungen mit ,der gleichen Eindring- bildung die Vorstellung von einem allgemeingül- lichkeit an das Parlament und an das Volk appelliert. tigen Menschenbild zu entwickeln. Eine gewisse Ich könnte viele Erklärungen dieser Art in Erinne- Staatsmüdigkeit und Staatsverdrossenheit sind viel- rung rufen, aber ich beschränke mich darauf, auf die fach die Folgen eines vergeblichen 'Suchens nach eindrucksvolle Rede zu verweisen, die der ameri- brauchbaren und glaubwürdigen Idealen. Gerade kanische Präsident Kennedy am 26. Juli an das unsere heranwachsende Generation ist hier berührt. amerikanische Volk gerichtet hat. Diese Rede Sie hat zunächst eine nüchterne Einstellung zur wurde gehalten, noch bevor die Sperrung der Sek- Umwelt. Ich glaube, das sollten wir begrüßen; denn torengrenze in Berlin und die Errichtung der mit solcher Einstellung werden diese Menschen un- schauerlichen Mauer in der alten deutschen Reichs- abhängiger gegen demagogische Verlockungen und hauptstadt dem deutschen Volk und der Welt die auch gegen nationalistische Verführung. Aber wir unerbittliche Härte und Grausamkeit der Politik müssen uns darüber im klaren sein, daß gerade des Ostblocks vor Augen geführt haben. Ich spreche diese junge Generation für ihre Pflichten gegenüber bewußt von der Politik des Ostblocks; denn wir Staat und Gesellschaft noch keine überzeugende mußten ja hören und lesen, daß diese unmensch- Begründung gefunden hat. liche Maßnahme von den Staaten Ides Warschauer Paktes beschlossen und gebilligt wurde. Auch in der Vergangenheit haben wir uns schon mit dieser Frage beschäftigt. Ich selbst habe vor Hier darf ich eine Bemerkung zu einem Punkt diesem Hause einmal davon gesprochen, daß der machen, den Herr Kollege Brandt in der Regierungs- Mangel an echtem Nationalgefühl, an Bürgersinn, erklärung, vermißt hat. Meine Damen und Herren, an Bereitschaft zur Einordnung und zur Mitarbeit zu Sie alle stimmen mir wohl zu, wenn ich sage: Wir einem echten staatspolitischen Problem werden würden es begrüßen, wenn wir gute, geordnete, könnte. Nun, wir kennen die Gründe, oder doch vielleicht im Laufe der Zeit freundschaftliche Bezie- einige besonders wichtige. Einmal ist es vielleicht hungen auch zu den Völkern des Ostblocks, insbe- die unbewußte Erinnerung an die Zeit des Dritten sondere auch zu Polen herstellen könnten. Reiches, in dem die anständige Gesinnung gerade (Beifall bei den Regierungsparteien.) der jungen Menschen so schamlos mißbraucht wurde und die viele von ihnen in einen unlösbaren Gerade wenn ich Polen nenne, scheue ich mich Konflikt zwischen Pflicht und Gewissen hineinge- nicht, daran zu erinnern, daß wir gegenüber diesem führt hat. Manche sind daran zerbrochen, manche Volk in der Tat eine moralische Verantwortung haben seelische Defekte und Deformationen davon- 68 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. von Brentano getragen, die bis heute noch nicht überwunden sind, schließen, sondern einander bedingen, und wir und nur wenige vermochten es im wahren Sinne des glauben, daß die sittliche Grundlage, die unser poli- Wortes, die Vergangenheit zu bewältigen und die- tisches Denken und Handeln bestimmt, auf der ver- ses Trauma von sich abzuwälzen. pflichtenden Tradition christlichen Denkens beruhen Zum anderen hören wir den Einwand, daß man muß. für einen Teil des Vaterlandes doch kein nationales (Beifall bei der CDU/CSU.) Gefühl, doch keinen Patriotismus aufbringen könne. Wir sind überzeugt, daß die von der Union ge- Es sind nicht die schlechtesten, die der Parole wählte Zusammenarbeit der Menschen der beiden „Deutsche an einen Tisch" zwar mißtrauen, aber großen christlichen Bekenntnisse im politischen die Forderung, daß der Deutsche nicht des Deut- Raum für den Staat, für die Gesellschaft und für je- schen Feind sein dürfe, aufmerksam hören. Sie wis- den einzelnen wertvoll und unerläßlich ist. Das sen nicht — viele können und andere wollen es staats- und gesellschaftspolitische Einverständnis nicht wissen —, daß der Deutsche, der sein Volk evangelischer und katholischer Christen mußte unter und seine Freiheit liebt, sich in diesem Gefühl mit dem Druck nationalsozialistischer Verfolgung ent- den Millionen in der Zone begegnet, die nur auf deckt werden. Diese vertrauensvolle Zusammen- die Stunde warten, das auch aussprechen zu dürfen. arbeit mußte im Rahmen der Union vertieft werden. Meine Damen und Herren, niemand wird mir Es liegt mir durchaus fern — ich möchte das unterstellen, daß ich damit nationalistische In- gleich hinzufügen —, anderen zu unterstellen, daß stinkte oder auch auch nur eine ungesunde Über- Freiheit, Persönlichkeitsentfaltung, Menschenwürde betonung nationalstaatlichen Denkens ansprechen und alles, was ich sagte, für sie unverbindliche Be- wollte. Im Gegenteil, unsere Politik der vergange- griffe seien. Ohne gegenseitige Achtung und ohne nen Jahre war bestimmt von der Überzeugung, echte Toleranz können wir nicht zusammenarbeiten, daß das deutsche Volk ein unlösbarer Bestand- weder in einer Koalition noch mit der Opposition. teil der freien Welt sein müsse. In dieser Zusam- Aber es erscheint mir angebracht, gerade zu Beginn menarbeit darf es keinen Rückfall in nationalisti- der neuen parlamentarischen Arbeit auf gewisse sche Aspirationen geben. Aber unsere Zusammen- unverzichtbare Grundsätze hinzuweisen, für die arbeit mit der freien Welt ist nur dann und solange meine politischen Freunde in loyaler Zusammen- glaubwürdig, als wir unsere Pflichten und unsere arbeit mit anderen jederzeit einzutreten entschlos- Aufgaben auch gegenüber der eigenen Nation er- sen sind. kennen und sie ebenso ernst nehmen wie unsere - Bündnisverpflichtungen. Wenn ich davon sprach, daß viele Menschen der jungen Generation das Verhältnis zum Staat, zur (Beifall bei der CDU/CSU.) Gemeinschaft, dieses Gefühl der Verantwortung Es geht um die Frage der Verantwortung für das noch nicht gefunden hätten, dann appelliere ich da- Ganze. Wir glauben, daß nur derjenige Verantwor- mit an die Bundesregierung, und ich appelliere auch tung zu tragen vermag, der bewußt in der Freiheit an 'die Regierungen der Länder. lebt und leben will. Aber die Freiheit ist, so meine Ich möchte eine Einzelheit nennen, die, glaube ich, kein staatsrechtlicher Begriff. Sie ist ein mora- ich, wert ist, auch hier einmal besprochen zu wer- lisches Postulat. Der Staat kann und muß durch den. Es ist ein Einzelfall, aber ein Einzelfall, Verfassung und Gesetz die Voraussetzungen dafür den wir ernst nehmen müssen. Wie können wir schaffen und erhalten, daß die Menschen in der draußen in der Welt glaubwürdig sein, meine Da- Freiheit leben können. Aber er kann den Freiheits- men und Herren, wenn wir selbst Menschen in diese begriff nicht definieren und er kann die Freiheit Welt schicken, die unsere Politik desavouieren? Ich nicht vermitteln. Er vermag nur die äußeren Gren- lese hier in einer Zeitung einen Bericht von Her- zen der Freiheitssphäre abzustecken, innerhalb mann Kesten, der sicherlich nicht zu den Leuten ge- derer sich der Mensch in eigener Verantwortung hört, die eines maßlosen Konformismus verdächtig betätigen muß, Grenzen, die dort liegen, wo die sind. Freiheit des anderen oder das rechtmäßige Inter- (Heiterkeit und Zustimmung bei der CDU/CSU.) esse der Gemeinschaft berührt werden. Weil wir glauben, daß die Freiheit ein sittlicher Begriff ist, Er berichtet über ein Gespräch, das in dem Verlags- lehnen wir die unbedingte Freiheit ab, den schran- haus des großen und bekannten vorzüglichen Mai- kenlosen Individualismus, dessen Gebrauch oder, länder Verlegers Feltrinelli stattgefunden hat. In richtiger gesagt, Mißbrauch in die Anarchie führte. diesem Gespräch ist ein junger deutscher Schrift- Auch die staatsbürgerliche Freiheit des Einzelmen- steller aufgetreten. Als es zu einer Diskussion kam, schen bedarf des sittlichen Korrelats der Bindung. so schreibt Kesten, erklärte dieser junge Schrift- Deswegen lehnen wir natürlich auch jede Form steller, seine Romane seien völlig unpolitisch. Er kollektivistischer Freiheit ab, die den Menschen sprach mit Verachtung von Moral. Es sei ein Zufall, angeblich frei macht, während sie ihn in Wirklich- daß seine Romane von Berlin handelten. Übrigens keit in die Unfreiheit führt. sei die Mauer quer durch Berlin keineswegs unmo- ralisch. Sie habe im Gegenteil ihre positiven Seiten. Ich stelle diese Überlegungen hier an, meine Da Hier protestierten die italienischen Gesprächsteil- men und Herren, um zu erklären, warum ich von nehmer. Der Schriftsteller sagte weiter, die Mauer der Eigenständigkeit unseres politischen Willens sei notwendig gewesen. Drei bis vier Millionen und Handelns spreche. Wir sind der Überzeugung, Menschen seien aus dem Osten in den Westen ge- daß Politik und Weltanschauung einander nicht aus flohen, darunter unerläßlich notwendige Elemente. Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 69 Dr. von Brentano Das habe die Deutsche Demokratische Republik nicht das ist kein guter Stil der Diskussion, das ist — dulden können, also habe sie die Mauer bauen erlauben Sie mir, das zu sagen — Demagogie. müssen. Das sei gut und vernünftig und sittlich. Er (Beifall bei der CDU/CSU.) sprach dann von der miserablen Bundesrepublik und der sittlichen Deutschen Demokratischen Re- Wollen Sie denn wirklich ernstlich — nach dem, was publik. Sie selber anerkannt haben; Sie haben selber von Dieser Mann heißt Uwe Johnson. In einer den Leistungen der letzten 12 Jahre gesprochen — Notiz, die ich vorgestern in der Zeitung las, ist zu der christlich-demokratischen Fraktion unterstellen, finden, daß Uwe Johnson einer der neuen Stipen- daß es ihr an sozialem Gewissen fehle? diaten der Deutschen Akademie Villa Massimo in (Abg. Mattick: Ja! — Gegenrufe von der Rom für das Jahr 1962 geworden ist. CDU/CSU. — Zuruf: Pfui! — Abg. Dr. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Vogel: Das ist der Stil!) Ich lasse diesen Vorwurf nicht gelten. Ich habe die wirklich aufrichtige Bitte an die zu- ständigen Instanzen — an das Innenministerium — , Aber ich möchte ein anderes sagen. Ich habe den daß sie diese Stipendiaten sorgfältiger auswählen. Ausführungen von Herrn Kollegen Brandt aufmerk- Wir haben die Gewissensfreiheit in Deutschland, sam zugehört, habe gehört, wie er sich mit den Fra- das ist selbstverständlich, und Herr Uwe Johnson gen der Sozialpolitik, der Wirtschaftspolitik beschäf- kann in Deutschland sagen, was er will. Aber er hat tigt hat, wie er die Ausbildung an den Universitäten keinen Anspruch darauf, von dieser Bundesrepublik kritisierte und wie er die Forderungen für eine als Stipendiat und Sprecher in das Ausland geschickt Reihe von Personen und Gruppen aufstellte. Es hat zu werden. mir eigentlich das besser gefallen, was Herr Kollege Brandt vor wenigen Tagen auf der (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Arbeitstagung der SPD gesagt hat. Er wird mir erlauben, es vorzu- Wehner: Mit einer Regierungserklärung lesen. Er sagte wörtlich: auf einen Johnson schießen, das ist ein bißchen viel! — Weitere Zurufe links.) Was haben wir in Hannover gesagt: es ist noch — Wenn Sie anderer Meinung sein sollten, würde nie etwas erreicht worden ohne die Bereitschaft, ich Sie bitten, das zu begründen. auch Opfer zu bringen. Wir werden es uns nicht so billig machen, allein dem privaten Wohl- (Abg. Wehner: Es geht um die Proportion, leben das Wort zu reden und uns einem egoisti- nicht um die Meinung!) schen Materialismus zu unterwerfen. - — Ich höre den Einwand, es gehe um die Propor Ich zitiere weiter — alles aus der Rede —: tion, nicht um die Meinung. Gewiß, das ist ein schö- Wir stehen an mehr als einem Punkt vor der nes Wort. Aber wenn wir nur an die Proportion Wahl zwischen öffentlichen gemeinschaftlichen denken, dann kommt einmal der Augenblick, in dem Interessen auf der einen Seite und engem die Proportion sich umgekehrt hat, und dann ist es zu spät für uns. Gruppendenken oder privater 'Bequemlichkeit auf der anderen Seite. Wir werden nicht allen (Beifall bei der CDU/CSU.) alles versprechen, sondern wir werden offen Ich habe von der Notwendigkeit, die Menschen sagen, daß Kraftanstrengungen nötig sind, weil anzusprechen, deswegen gesprochen, weil ich glaube, wir sonst in der Welt von morgen nicht beste- daß hier dem Bund und den Ländern wirklich eine hen können. Aufgabe gestellt ist, der wir uns annehmen sollten, (.Beifall bei der SPD'. — Beifall bei der nicht durch die Schaffung — wie ich meine — eines CDU/CSU.) Wissenschaftsministeriums, sondern durch eine grö- ßere Einflußnahme auf die Gestaltung unserer Meine Damen und Herren, ich hätte mich gefreut,

Jugend - und Erwachsenenbildung im Bund und in eine solche Feststellung heute auch in der Rede den Ländern, vom Bund und von den Ländern, vom des Herrn Brandt zu hören und nicht nur den Ver- Bund mit den Ländern. such, in der Tat allen alles zu versprechen. Im übrigen möchte ich davon absehen, hier zu (Beifall bei der CDU/CSU — Abg Schmitt einzelnen Fragenkomplexen Stellung zu nehmen, die Vockenhausen: Das war so dünn wie der in der Regierungserklärung behandelt worden sind. Beifall! — Weiterer Zuruf von der SPD: Einige meiner Kollegen werden darauf im einzelnen Ausgesprochene Demagogie!) eingehen. Meine Fraktion hält es selbstverständlich — Eben das habe ich gerade gesagt; das ist ganz für erforderlich, über die Einzelfragen zu disku- richtig. tieren. Erlauben Sie mir, jetzt zu dem Teil der Regie- Ich möchte in diesem Zusammenhang nur zwei rungserklärung überzugehen, der sich mit außen- Bemerkungen zu dem machen, was Herr Kollege politischen Fragen beschäftigt, und meine Bemer- Brandt ausgeführt hat. Die erste beschäftigt sich mit kungen dazu mit der Feststellung einzuleiten, daß der Feststellung, daß — ich glaube, daß ich wörtlich meine Fraktion auch diesem Teil der Regie- zitiere — die Regierungserklärung den Arbeitneh- rungserklärung zustimmt. Die große bewegende mer an den Rand gedrückt habe, und wohl der Be- Frage, die uns alle seit der Gründung der Bundes- sorgnis, daß das in der Bundespolitik auch so ge- republik beschäftigt, ist die gewaltsame Teilung schehen könne. Meine Damen und Herren, ich finde, unseres Vaterlandes. Die 'Bundesregierung stellt 70 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. von Brentano fest, daß die Wiederherstellung der Einheit Meine Damen und Herren, ich glaube, wir können Deutschlands in Frieden und Freiheit das unver- mit Befriedigung und mit Dankbarkeit feststellen, rückbare Ziel der deutschen Politik bleiben müsse. daß die Nationen der freien Welt, mit denen wir Niemand in diesem Hause, niemand in unserem uns in einem Bündnis zusammengeschlossen haben, Vaterland wird dem widersprechen. unsere legitime Forderung unablässig unterstützt haben. Sie haben immer wieder neue Vorstöße un- Aber wir wissen, daß wir allein und auf uns ge- ternommen, um die Sowjetunion an den Verhand- stellt diese Aufgabe nicht lösen können. In den lungstisch zu bringen. Sie haben immer wieder neue Pariser Verträgen und in zahlreichen Erklärungen, Initiativen entfaltet und Vorschläge ausgearbeitet. die die Bundesregierung und der Bundestag abge- geben haben, ebenso in vielen Erklärungen unserer Herr Kollege Brandt sagte, wir müßten uns mehr Verbündeten in den Ministerratssitzungen der den Kopf zerbrechen. Hat er denn die Bemühungen Atlantischen Gemeinschaft oder der Westeuro- der letzten zwölf Jahre nicht verfolgt? Hat er nicht päischen Union ist immer wieder ausdrücklich und beobachtet, wie sehr wir uns, oft gemeinsam mit verbindlich darauf verzichtet worden, zu gewalt- ihm und seinen Freunden, den Kopf über diese samen Mitteln zu greifen. Wir haben darauf ver- Frage zerbrochen haben, wie wir auch mit neuen traut, daß sich die Welt dieses Anliegens eines Initiativen an unsere Verbündeten herangegangen großen Volkes annehmen wird. Wir haben damit sind? Hat er nicht miterlebt, wie der Friedensplan gerechnet, daß sich die Sieger des Weltkrieges am ausgearbeitet worden ist, der im Juli 1959 nach Verhandlungstisch zusammenfinden würden, um sorgfältiger Vorbereitung, auch Vorbereitung mit diesen Unrechtstatbestand zu beseitigen ,einen Un- der Opposition, — nicht Zustimmung, das will ich rechtstatbestand, dessen Bestehen und Fortdauer nicht behaupten —, in Genf auf den Tisch gelegt den Frieden in der ganzen Welt gefährdet. Bis zur wurde? Und hat er nicht erlebt, daß auch dieser Stunde haben sich diese Hoffnungen nicht erfüllt. sorgfältig vorbereitete Plan mit einer Handbewe- gung vom Tisch geschoben wurde? Aber ich widerspreche dem Herrn Kollegen Brandt, wenn er an diese Feststellung die Folgerung (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) knüpft, die Wiedervereinigungspolitik sei geschei- Wir haben uns in den vergangenen Jahren be- tert. müht und wir werden uns in den folgenden Jahren (Zustimmung in der Mitte.) bemühen. Aber, meine Damen und Herren, wir Sollten wir es uns denn immer wieder in der Dis- werden uns im Rahmen des Möglichen und des zu kussion so billig machen? Ist denn wirklich jemand Verantwortenden bemühen, und hier besteht viel- hier im Hause, der unseren alliierten Freunden den leicht ein Unterschied. Vorwurf macht, daß sie nicht alles unternommen (Beifall bei der CDU/CSU.) hätten, um immer wieder in Verhandlungen mit der Sowjetunion auf die Lösung der Deutschlandfrage Wir hatten Meinungsverschiedenheiten, weil an- hinzuwirken? Ist irgend jemand im Hause, der nicht dere sich auch den Kopf zerbrochen haben und das wüßte, daß es die Sowjetunion gewesen ist, die seit Ergebnis uns nicht gefallen hat. Das war z. B. der 12 Jahren alle diese Anfragen, Angebote und Vor- Deutschland-Plan. schläge mit einem starren Nein beantwortet hat? (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Aber ich meine, es geht nicht nur darum, daß wir Wenn ich davon spreche, daß wir uns mit der uns gemeinsam mit unseren Verbündeten den Kopf Bundesregierung darin einig wissen, daß die Wie- zerbrechen über Lösungsmöglichkeiten auf diesem derherstellung der 'deutschen Einheit ein unverrück- Gebiete politischer Spannungen. Wir müssen uns bares Ziel unserer Politik sein muß, so möchte ich auch mit den Alliierten gemeinsam den Kopf dar- noch eine weitere Feststellung treffen gegenüber über zerbrechen — und vielleicht erlaubt mir die einer Bemerkung des Herrn Kollegen Brandt. Er Opposition, daran zu erinnern —, wie wir die Ver- sagte, das Herz Deutschlands schlage hier, aber das teidigungskraft der freien Welt erhöhen können. Gewissen drüben in der Zone. Das ist eine Bemer- An diesem Kopfzerbrechen hat sich bisher die kung, von der ich annehme, daß sie nicht so ge- Opposition nicht in genügendem Maße beteiligt. meint war, wie sie verstanden werden könnte. Ich (Sehr richtig! bei der CDU/CSU. — Zurufe nehme für uns alle in Anspruch, daß das Gewissen von der SPD.) Deutschlands auch hier schlägt. Wenn wir nämlich die Verteidigung der freien Welt (Beifall bei den Regierungsparteien. — organisieren, dann organisieren wir auch die Ver- Abg. Wehner: Muß man darüber streiten, teidigung Berlins, das ein Teil der freien Welt ist was denen hinter der Mauer bleibt? — und sein soll. Abg. Brandt [Berlin]: In meiner Rede hieß (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von es: auch!) der CDU/CSU: „Ohne mich"!) — Nein, nein. Aber wir sind uns einig, daß die Bemühungen, die (Abg. Brandt [Berlin] : Herr von Brentano, deutsche Frage zu lösen, diese wiederholten, red- ich habe gesagt: Das Herz schlägt hier; das lichen und standhaften Bemühungen, bisher ergeb- Gewissen schlägt vor allem auch drüben! nislos geblieben sind. Ich stimme Herrn Brandt zu, — Gegenrufe von Mitte.) wenn er sagt, daß das deutsche Volk in diesen lan- Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 71 Dr. von Brentano gen Jahren eine bewundernswerte Geduld gezeigt in anderen Staaten der freien Welt? Man hat sie hat. mundtot gemacht; sie müssen schweigen, weil ein Niemand, der die Charta der Vereinten Nationen lauter den Verlust der Freiheit, ja vielleicht unterschrieben hat, hat das Recht, an der Forderung den Verlust des Lebens bedeutet. des deutschen Volkes vorbeizugehen. Darum Mitten durch Deutschland ziehen sich nun Mauern, spreche ich es auch offen aus: Die Deutschen empfin- Stacheldrahtverhaue, Gräben und Panzerfallen, weil den es manchmal mit Bitterkeit, daß die große Or- sich diese armseligen Handlanger des Kommunis- ganisation der Vereinten Nationen sich in tagelan- mus, diese zurückgebliebenen Willensvollstrecker gen Diskussionen mit der beklagenswerten Unord- des Stalinismus bedroht fühlen. Sie wissen um den nung in anderen Teilen der Welt beschäftigt, daß Gewaltverzicht, den wir ausgesprochen haben. Sie diese Organisation, die dem Frieden und der Frei- wissen, daß unsere Verbündeten mit uns zusammen heit in allen Teilen der Welt gleichermaßen ver- die Wiedervereinigung in Freiheit im Wege der pflichtet ist, aber zu den deutschen Problemen Verhandlung erreichen wollen. Sie haben keine an- schweigt. dere Handhabe drüben, die völlige Entleerung des von ihnen beherrschten Raumes zu verhindern. Drei (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Weh Millionen Menschen haben in den vergangenen ner: Sie haben vielleicht gelesen, was hier Jahren ihre Heimat, ihre Familie, ihre Existenz- geschrieben wurde, daß man sie nicht be grundlage aufgegeben und sind in den freien Teil fassen soll! — Abg. Brandt [Berlin] : Vor Deutschlands geflohen, wail sie den Zwang des wenigen Monaten wurde man deswegen totalitären Systems nicht mehr ertragen konnten. noch angegriffen!) Und das, was drüben in der Zone geschieht, ge- — Sie kennen doch den Unterschied, meine Damen schieht auch bei 85 Millionen Menschen in den an- und Herren. — Wir alle nehmen ehrlich Anteil an deren Bereichen des sogenannten Satellitensystems, den Bemühungen der jungen Völker, aus der Un- Menschen, denen wir uns auch verbunden fühlen, selbständigkeit in die Freiheit hineinzuwachsen. Menschen, die den gleichen Anspruch haben, in Wir sind alle gegen die Opfer und die Auseinander- Freiheit zu leben, den wir für uns und den wir für setzungen, die zuweilen mit äußerster Härte und unsere Freunde und Landsleute in der Zone er- Erbitterung geführt werden, und wir wünschen, daß heben. diese jungen Nationen, denen wir uns in Freund- (Beifall bei der CDU/CSU.) schaft verbunden fühlen, die politische, die morali- sche und die wirtschaftliche Unterstützung der Welt Aber am 13. August hat man ein übriges- getan. finden, um ihre großen Aufgaben zu lösen. Man hat quer durch die alte Reichshauptstadt nun auch eine Mauer errichtet, und man hat diese Maß- Aber wir verstehen es nicht und wir können es nahme mit unüberbietbarem Zynismus dahin kom- nicht verstehen, daß das Verbrechen, das auf deut- mentiert, daß sie dem Frieden, der Freiheit und der schem Boden tagaus tagein begangen wird, nicht Wohlfahrt der Eingemauerten dienen solle! Wenn auch schon längst in den Vereinten Nationen einen nun Deutsche aus Deutschland nach Deutschland Sturm der Entrüstung hervorgerufen hat. Vor weni- fliehen wollen, dann werden sie von Volkspolizisten gen Tagen noch diskutierte man in den Vereinten und Rotarmisten abgeschossen wie wilde Tiere. Nationen über den Kolonialismus. Aber die brutal- Wenn ein Deutscher aus Ost oder West seine näch- ste Form des Neokolonialismus unserer Zeit war sten Angehörigen besuchen, wenn er den Friedhof nicht Gegenstand dieser Debatte und auch nicht aufsuchen will, auf dem seine Angehörigen be- Gegenstand einer Resolution. Es blieb dem Ver- graben liegen, dann muß er bei der Mauer stehen- treter der Vereinigten Staaten, Stevenson, vorbe- bleiben, wenn er nicht Gefahr laufen will, verhaftet halten, in einer langen, hervorragenden Denkschrift oder erschossen zu werden. darauf hinzuweisen, mit welchen Methoden der Meine Damen und Herren! Ich sage das alles kommunistische Block Freiheit und Menschenwürde nicht, um nationale Leidenschaften anzufachen. Ich unterdrückt. Wir sind der Regierung der Vereinig- sage es ganz gewiß nicht, um die Spannung zu ver- ten Staaten und all den vielen Freunden in der schärfen, unter der wir alle leiden. Ich sage eis, weil Welt dankbar, die immer wieder auf diese Not des wir zu diesen unmenschlichen Vorgängen und zu deutschen Volkes hingewiesen haben. Aber es wa- diesen tausendfachen Verbrechen einfach nicht ren nicht nur unsere Verbündeten, es waren auch schweigen dürfen. zahlreiche Staaten Lateinamerikas und Afrikas, die in den vergangenen Monaten auf diese beispiellose (Beifall bei der CDU/CSU.) Unterdrückung der Menschen im kommunistisch Ich sage es, um auch an das Weltgewissen zu appel- beherrschten Raum und ganz besonders in Deutsch- lieren: Wer die Freiheit für sich und sein Volk ver- land hingewiesen haben. langt, wer die Freiheitsrechte da verteidigt, wo sie (Beifall bei der CDU/CSU.) in seiner Heimat unterdrückt werden, der verliert die Glaubwürdigkeit, wenn er nicht mit der gleichen Meine Damen und Herren, ich wiederhole: Ist es mutigen Entschlossenheit auch dagegen protestiert, nicht wert, sich in einer Organisation wie den Ver- wenn gleichartige Verbrechen in anderen Teilen der einten Nationen damit zu beschäftigen, daß drüben Welt, in Deutschland begangen werden. in der sowjetisch besetzten Zone 16 Millionen deut- scher Menschen leben, die das gleiche Recht besit- (Beifall bei den Regierungsparteien.) zen, in Freiheit zu leben, wie wir in der Bundes- Wir alle müssen uns doch darüber im klaren sein, republik und wie Hunderte von Millionen Menschen was in den Menschen vorgeht, die jenseits dieser 72 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. von Brentano Mauer leben. Ihre Hoffnung auf die Solidarität der Ich richte auch die dringende Bitte an die Bun- freien Menschen in der Welt muß schwinden. Aber desregierung, darauf hinzuwirken, daß dieser Zu- wir dürfen nicht zulassen, daß sie sich verraten und sammenhang sichtbar bleibt. Ich habe keinen Zwei- preisgegeben fühlen. Auch wenn wir wissen — lei- fel, daß hier die Absichten der Bundesregierung und der wissen —, daß die weltpolitische Lage wenig unserer Verbündeten übereinstimmen. Das Schluß- Aussicht bietet, daß die deutsche Frage in nächster kommuniqué von Washington hat das Ziel der ge- Zukunft gelöst werden wird, so dürfen wir deswe- meinsamen Politik der Bundesregierung und ihrer gen nicht schweigen. Das Schweigen könnte allzu Verbündeten ausdrücklich hervorgehoben: die Wie- leicht als die Preisgabe eines unverzichtbaren An- derherstellung der staatlichen Einheit des deutschen spruchs mißdeutet werden. Und auch die Welt darf Volkes in Frieden und in Freiheit. dazu nicht schweigen, denn die Freiheit in der Welt ist in Wahrheit unteilbar. Die entschlossene Haltung unserer Verbündeten, die in Berlin weder ihre Rechte noch die freiheitliche Meine Damen und Herren, vor dem 13. August Lebensordnung der Berliner preisgeben wollen, bie- gab es vielleicht Deutsche in der Bundesrepublik, tet einen guten Ansatzpunkt für Verhandlungen. die sich schon anschickten, vor einem scheinbar un- Allerdings glauben wir, daß die Verhandlungen sich überwindlichen Hindernis zu kapitulieren. Vielleicht nicht auf die drei westlichen Sektoren Berlins be- gab es auch Menschen, die dazu neigten, sich mit schränken sollten. Berlin war eine Einheit, und die einem Zustand abzufinden, weil sie glaubten, ihn vier Alliierten hatten die gemeinsame Verantwor- doch nicht ändern zu können. Das ist, wie mir tung für diese Stadt übernommen. Der flagrante scheint, seit dem 13. August anders geworden. Bis Bruch des Viermächtestatus, der in Etappen voll- dahin gab es noch eine Stelle in Deutschland, in der zogen wurde und der mit der Errichtung der Mauer die Viermächteverantwortung, wenn auch in einer in Berlin seinen vorläufigen Abschluß fand, sollte verkümmerten Form, sichtbar wurde. Es gab noch die Ausgangsposition des Westens nicht bestimmen. eine Stadt, in der sich Menschen aus der Bundes- Die faktische Hinnahme des heute bestehenden Zu- republik und aus der Sowjetzone begegnen konn- standes müßte die Verhandlungen — Verhandlun ten. Es gab noch einige Straßen, die durch die Stadt gen, denen wir zustimmen — in gefährlicher Weise führten und den Weg in die Freiheit offenhielten. präjudizieren. Aber auch hier scheint mir die Erklä- Hier war noch etwas von Deutschland sichtbar. Seit rung der Bundesregierung keine Zweifel offenzu- dem 13. August hat auch dieser Zustand ein Ende lassen. Die originären Rechte der Alliierten können gefunden. nur im Rahmen der Viermächtevereinbarung- erfolg- Die Erklärung der Bundesregierung gibt eine zu reich vertreten werden. Das war auch der entschei- treffende Analyse der Ziele der Sowjetunion. Der dende Grund, warum die Bundesregierung davor Zugriff auf Berlin gilt nicht nur dieser Stadt; er gilt warnte, als der Gedanke aufkam, zwar die Wieder- Deutschland. Das, was in Berlin an Freiheit übrig- herstellung der Viermächteverantwortung zu ver- geblieben ist, soll zerstört werden. Wir wissen, langen, aber gleichzeitig einen Dreimächtestatus für was es bedeutet, wenn man von einer „freien Stadt" West-Berlin zu proklamieren. spricht. Wir wissen aber auch, daß heute die Men- Es erscheint uns selbstverständlich, daß die Sicher- schen im freien Teil der Stadt Berlin unter dem heit der Bundesrepublik in diesen Verhandlungen Schutz der Besatzungsmächte noch in Freiheit le- nicht angetastet werden darf. Jede Gefährdung der ben. Wir sind dem Präsidenten der Vereinigten Sicherheit würde nicht nur die Bundesrepublik, son- Staaten und mit ihm allen unseren Freunden und dern auch die westliche Bündnisgemeinschaft schwä- Verbündeten dankbar, daß sie sich mit letzter Ent- chen. Wir haben darum nicht einmal das Recht, auch schlossenheit für die vitalen Interessen Berlins ein- nur mit dem Gedanken zu spielen, eine Minderung setzen, der Sicherheit als Kompensationsobjekt in Berlin- (Beifall bei den Regierungsparteien) Verhandlungen anzubieten. Gerade wenn es um die und wir stimmen auch den Grundsätzen zu, die für Verwirklichung des zweiten Grundsatzes geht, näm- die möglichen bevorstehenden Verhandlungen auf- lich um die Erhaltung der bestehenden politischen, gestellt worden sind. Diese Verhandlungen werden wirtschaftlichen und rechtlichen Bindungen zwischen sich vielleicht zunächst auf Berlin konzentrieren. Ich Berlin und der Bundesrepublik, müssen wir in der sage bewußt: konzentrieren; denn sie können ja Lage sein, auf die Kraft unserer Verteidigung hin- nichts anderes sein als ein Teil der Verhandlun- zuweisen. Berlin ist ein Teil dieser freiheitlichen gen, in denen es um Deutschland geht. Wir alle Sphäre, die wir nur schützen und erhalten können, wissen es und wir haben es wiederholt gemeinsam wenn wir gemeinsam die Kraft dazu aufbringen. festgestellt, daß eine isolierte Berlin-Lösung undenk- Über die Aufrechterhaltung der gemeinsamen bar wäre. In letzter Konsequenz könnte sie ja nichts Deutschland-Politik sprach ich schon, und wenn ich anderes bedeuten als die Hinnahme der Dreiteilung noch einmal darauf zurückkomme, dann nur, um zu Deutschlands. betonen, daß nach unserer Überzeugung die Bun- (Sehr wahr! in der Mitte.) desregierung mit Recht erklärt hat, daß die Frage Darum wird auch bei den bevorstehenden Verhand- der europäischen Sicherheit nicht im Zusammenhang lungen der Grundsatz gelten müssen, daß die end- mit der Berlin-Krise diskutiert werden darf. Ich gültige Lösung der Berlinfrage nur im Rahmen möchte hier an eine Formulierung anknüpfen, die einer Lösung der Deutschlandfrage gefunden wer- mein Vorredner gebraucht hat, als er selbst vor den kann und darf. faulen Kompromissen warnte, die die Begehrlichkeit (Beifall bei den Regierungsparteien.) der anderen Seite nur steigern könnten. Wir haben Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 73 Dr. von Brentano immer den Standpunkt vertreten, daß die Frage der kanische Präsident und seine Mitarbeiter auch bei europäischen Sicherheit nur in Verbindung mit dem den jüngsten Gesprächen gezeigt haben, verpflich- Problem der Wiederherstellung der deutschen Ein- ten uns; denn wir empfinden diese Solidarität kei- heit diskutiert werden kann, — ein Standpunkt, der neswegs als eine Selbstverständlichkeit. Wir wissen auch hier in diesem Hause vertreten wurde, ein vielmehr sehr wohl, daß sie auch unseren Freunden Standpunkt, der auch in dem Friedensplan des in der Welt harte Anstrengungen und schwere per- Jahres 1959 wiederzufinden ist. sönliche Opfer auferlegt. Es scheint mir eine ebenso törichte wie böswillige Je stärker wir in die europäische Gemeinschaft Entstellung der politischen Ziele der Bundesregie- und mit ihr und durch sie in die atlantische Ge- rung zu sein, wenn jemand sagt, West-Berlin müsse meinschaft hineinwachsen, um so stärker ist unsere die Rechnung dafür bezahlen, daß die Bundesregie- gemeinsame Kraft, die wir nicht ausbauen, um einen rung nicht auf die atomare Ausrüstung der Bundes- Krieg zu führen, wohl aber um ihn verhindern zu wehr verzichten wolle und sich gegen eine militä- können. rische Beschränkung in Mitteleuropa sträube. Meine (Beifall bei den Regierungsparteien.) Damen und Herren, es geht nicht um atomare Waf- fen für die Bundeswehr; es geht um die Beschaffung Weil das notwendig ist, weil wir hinter den Be- einer wirksamen Verteidigungskraft für die NATO, mühungen unserer Verbündeten und Freunden nicht zurückstehen dürfen, wenn wir damit rechnen wol- (Beifall bei den Regierungsparteien) len, daß sie unsere Freiheit und die Freiheit Berlins und es wäre unverantwortlich, wenn die Bundes- schützen und uns in der harten Auseinandersetzung regierung sich dazu hergäbe, die Sicherheit der um die Wiedervereinigung unseres deutschen Vater- Bundesrepublik ernsthaft zu gefährden, in der wahn- landes unterstützen werden, darum — das möchte witzigen Vorstellung, Berlin dadurch zu helfen. Auch ich für meine Freunde sagen — sind wir auch bereit, der schärfste und unerbittlichste Kritiker sollte eine uns hier in diesem Hause und vor dem deutschen unbestreitbare Feststellung anerkennen: Die ge- Volk dafür einzusetzen, daß wir alle — ich wieder- sicherte Freiheit der Bundesrepublik ist eine unab- hole: alle! Opfer bringen, die gebracht werden müs- dingbare Voraussetzung für die Erhaltung der Frei- sen, um der Welt den Frieden zu erhalten, dem heit Berlins und ebenso für die Wiederherstellung deutschen Volk die Freiheit zu sichern und sie der Freiheit in der sowjetisch besetzten Zone. denen, die sie verloren haben, wieder zu geben. Natürlich wissen wir alle, daß wir die Wieder- (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar vereinigung Deutschlands jederzeit erreichen könn- teien.) - ten, wenn wir den Preis der Freiheit dafür zahlten Meine Damen und und unsere Bündnispartner in der freien Welt ver- Vizepräsident Dr. Jaeger: Herren, ich unterbreche die Aussprache zu diesem rieten. Wer das will, soll es aussprechen. Wer es Punkt der Tagesordnung und rufe gemäß inter- nicht will, soll nicht zweideutige Erklärungen und fraktioneller Vereinbarung auf die Punkte 4 a und unbegründete Vorwürfe vorbringen. 4b: (Beifall bei der CDU/CSU.) Wahl der Wahlmänner (Drucksache IV/8) Im übrigen ist, wie Herr Kollege Brandt mit Recht Wahl der Mitglieder kraft Wahl des Richter- gesagt hat, die Plenarsitzung sicherlich nicht der wahlausschusses (Drucksache IV/48) geeignete Ort, um über die Einzelheiten der Vor- Nach § 6 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesver- bereitung von Ost-West-Verhandlungen zu disku- fassungsgericht und nach § 5 Abs. 1 des Richterwahl- tieren. Auch ich habe den Wunsch, daß die Bundes- gesetzes beruft der Bundestag die Wahlmänner und regierung den Auswärtigen Ausschuß bald und lau- die Mitglieder kraft Wahl des Richterwahlaus- fend so gut wie in der Vergangenheit, Herr Kollege schusses nach den Regeln der Verhältniswahl. In Schröder, über ihre Verhandlungen und Gespräche den Drucksachen IV/8 und IV/48 liegen Ihnen je mit den Verbündeten unterrichtet. drei Vorschläge vor. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Meine Damen und Herren, ich bitte nun wegen Wir wollen und werden die Bundesregierung bei des Wahlmodus um Ihre Aufmerksamkeit. Es liegen ihren Bemühungen unterstützen. Wir werden alles vor ein Vorschlag a) der Fraktion der CDU/CSU, tun, um das Werk der europäischen Einigung fort- ein Vorschlag b) der Fraktion der SPD und ein Vor- zusetzen, um die Freundschaft, die uns mit unseren schlag c) der Fraktion der FDP. Ich bitte Sie, auf europäischen Nachbarn verbindet, zu vertiefen. Der beiden Drucksachen, die als Wahlzettel gelten, den Entschluß der britischen Regierung, den europäischen Vorschlag anzukreuzen, den Sie zu wählen wünschen. Gemeinschaften beizutreten und damit die politische Die Änderung des Wahlvorschlages macht die Wahl Einigung Europas voranzutreiben, ist eine Bestä- ungültig. Es gibt weder Kumulieren noch Pana- tigung dafür, daß wir den richtigen Weg gegangen schieren. Sie können nur einen Wahlvorschlag an- sind. kreuzen; alles andere macht den Stimmzettel un- (Beifall bei der CDU/CSU.) gültig. Die politische und moralische Unterstützung, die Die beiden Wahlen werden mit verdeckten Stimm- wir in der Vergangenheit bei den europäischen Re- zetteln vorgenommen. Ich bitte daher, die Wahl- gierungen gefunden haben — insbesondere bei der zettel — die beiden genannten Drucksachen — dop- französischen Regierung und bei der britischen pelt zu falten. Zur besseren Unterscheidung ist die Regierung —, und das Verständnis, das der ameri Drucksache IV/8 gelb getönt. 74 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961

Vizepräsident Dr. Jaeger Ich darf darauf hinweisen, daß die Berliner Mit- Die Berlin- und Deutschlandfrage, die Außenpoli- glieder dieses Hauses bei diesen beiden Wahlen tik und die Verteidigungspolitik werden das Schick- volles Stimmrecht haben. sal unseres Volkes in allen Landschaften und allen Schichten in der nächsten Zeit bestimmen. Von ihnen Meine Damen und Herren, es ist interfraktionell wird es abhängen, ob es uns gelingt, den Frieden zu vereinbart, daß wir beide Wahlen in einem einzigen wahren, oder ob über uns alle in West und Ost, ob Wahlgang durchführen, und zwar in der Weise, daß im atlantischen Bündnis oder im Warschauer Pakt abweichend vom üblichen Verfahren der Namens- oder bei den blockfreien Nationen, das Chaos und aufruf unterbleibt, dafür aber sämtliche Mitglieder Verhängnis eines nuklearen Krieges hereinbricht. den Saal verlassen und durch die Mitteltür wieder eintreten. Dort befinden sich die beiden Urnen. Ich Die jüngste Entwicklung auf dem Gebiet der Ber- bitte Sie, wenn Sie den Saal betreten, in die Urne lin- und Deutschlandpolitik erfüllt uns alle mit tie- rechts den Wahlzettel IV/8, in die Urne links den fer Sorge. Die aggressive und von der Sowjetunion Wahlzettel IV/48 zu werfen. Nur wenn alle Mitglie- ausdrücklich gebilligte Politik der Ostberliner Funk- der, die ihren Wahlzettel abgegeben haben, sich in tionäre gegen die deutsche Hauptstadt hat die Welt den Sitzungssaal begeben, ist es möglich, den in diesem Sommer fast an den Rand des Krieges ge- Namensaufruf durch dieses Verfahren zu ersetzen. bracht. Der Absicht der Sowjetunion, Berlin vom Das Verfahren dient dem Zweck, den üblichen freien Westen 'zu trennen und so die letzte Klammer namentlichen Aufruf zu ersparen und damit Zeit zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu zer- zu gewinnen. schlagen, muß begegnet werden. Eine 'direkte oder indirekte Sanktionierung der Unrechtsmaßnahmen Ich muß Sie bitten, wenn Sie den Saal wieder vom 13. August 1961 in Berlin durch Parlament und betreten haben, bis zum Ende der Abstimmung im Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist aus- Saal zu bleiben, dessen Türen außer der Mitteltür geschlossen. Darum kann es bei künftigen Verhand- alle geschlossen sind. Während des Wahlganges lungen um Berlin nicht um Vereinbarungen über die müssen die Türen links und rechts im Plenarsaal Sicherung des gegenwärtigen Zustandes in der ge- und sämtliche Türen zu den Umgängen Süd und teilten Hauptstadt gehen, sondern nur um die Über- Nord verschlossen bleiben. Ich bitte, sobald die Mit- windung des widernatürlichen und durch die Kom- glieder den Saal verlassen haben, die angegebenen munisten in einem. Gewaltakt heraufbeschworenen Türen zu schließen. Zustandes in Berlin. Befinden sich alle Mitglieder im Besitz der Wahl- Die Freie Demokratische Partei hat — wie- auch zettel? — Das scheint der Fall zu sein. Ich bitte die beiden anderen Parteien des Deutschen Bundes- nunmehr die Mitglieder des Hohen Hauses, den tages — stets die Forderung erhoben, isolierten Saal zu verlassen. Weiterhin bitte ich zwei Schrift- Verhandlungen über Berlin die deutsche Zustim- führer, an der Mitteltür Platz zu nehmen. mung zu versagen. Wir waren und wir sind der (Die Abgeordneten verlassen den Saal.) Meinung, daß eine radikale Trennung der Probleme Berlins von denen Gesamtdeutschlands unmöglich Ich bitte, nunmehr alle Türen außer der Mitteltür ist. Das Schicksal dieser Stadt ist unlösbar mit der zu schließen. Zukunft unseres Vaterlandes verbunden. Das Berlin- Ich eröffne die Wahl. Ich bitte die Mitglieder, Problem — hier unterstreiche ich die Ausführungen ihre Stimmzettel abzugeben, nachdem sie durch die meiner beiden Vorredner — wird erst dann endgül- Mitteltür hereingegangen sind. — tig gelöst sein, wenn Berlin wieder Hauptstadt eines wiedervereinigten Deutschland ist. Haben alle Mitglieder des hohen Hauses — außer dem Sitzungsvorstand — ihre Wahlzettel abgege- (Beifall bei der FDP und in der Mitte.) ben? Es kommt niemand mehr. Dann ist — mit Die gegenwärtige unerträgliche Lage in der 'deut- Ausnahme des Sitzungsvorstandes, der seine Stimm- schen Hauptstadt zwingt jedoch zu raschem Handeln zettel nachträglich abgibt — die Wahlhandlung ge- und zu idem Versuch, kurzfristig wenigstens zu einer schlossen. Die Türen können geöffnet werden. Ich gewissen Normalisierung des Lebens in beiden Tei- bitte die Schriftführer, mit den Urnen von len dieser Stadt zu ,kommen. der Mitteltür zum Sitzungsvorstand zu kommen. — Der amerikanische Präsident Kennedy hat sich in Nachdem auch 'der Sitzungsvorstand seine Wahl- seinem Interview mit der sowjetischen Regierungs- zettel abgegeben hat, ist die Wahlhandlung end- zeitung „Iswestija" zunächst darauf beschränkt, als gültig geschlossen. erstes Verhandlungsziel einer kommenden Ost- Meine Damen und Herren, ich darf Sie bitten, West - Konferenz über Berlin eine Zusicherung der Platz zu nehmen. Wir wollen bis zur Auszählung Sowjetunion zu nennen, die den Westmächten er- des Wahlergebnisses mit der Aussprache über die lauben würde, ihre Rechte, die sie jetzt in West- Regierungserklärung fortfahren. Das Wort hat der berlin in Übereinstimmung mit dem bestehenden Abgeordnete Dr. Mende. Viermächteabkommen besitzen, weiterhin auszu- üben, und die die Freiheit der Verbindungen in die Stadt und aus der Stadt heraus gewährleistet. Dr. Mende (FDP) : Herr Präsident, meine Damen Alles, was wir wünschen, und Herren, ich habe die Ehre, im Namen der Bun- destagsfraktion der Freien Demokratischen Partei zu — so sagte Präsident Kennedy wörtlich — der Regierungserklärung die folgende Stellung- ist die Unterhaltung begrenzter, und zwar zah nahme abzugeben. lenmäßig sehr begrenzter Streitkräfte der drei Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 75 Dr. Mende Mächte in Westberlin und z. B. eine internatio- Notwendigkeit entfallen, separate Berlin-Verhand- nale Administration für die , so daß lungen einer Konferenz über Deutschland und Güter und Personen ohne Behinderung hin- und Europa vorzuschalten. Auf jeden Fall darf uns die herfahren können. Dann könnten wir den Frie- im Vordergrund stehende Berlinkrise nicht daran den in diesem Gebiet für viele Jahre sichern. hindern, unsere gemeinsamen Bemühungen fortzu- Ich glaube, wir Deutschen können — wie offenbar setzen, in der deutschen Frage endlich einmal einen auch die Amerikaner — solche Gespräche über Schritt voranzukommen. Berlin lediglich als Vorverhandlungen betrachten, Die Bundesregierung hat in ihrer Erklärung be- denen sich möglichst bald Hauptverhandlungen über tont, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutsch- die Fragen „Deutschland" und „europäische Sicher- lands in Frieden und Freiheit das unverrückbare heit" anschließen müssen. In der Tat könnte sich, Ziel deutscher Politik bleibe, auch wenn gegen- falls sich zwischen Ost und West über Berlin eine wärtig noch kein Zeitpunkt für eine Verwirklichung vertragliche und vernünftige Vereinbarung ermög- angegeben werden könne. Die Regierung hat recht, lichen läßt, dadurch eine Entspannung der interna- wenn sie die Auffassung vertritt, daß die derzeitige tionalen Lage ergeben, die für die weit schwierige- unnatürliche Spaltung unseres Volkes immer wieder ren Konferenzen — die dann folgen müssen — über zu schweren Spannungen und Krisen geführt habe. die mitteleuropäischen Probleme von einigem Nutzen In der Tat ist auf der Teilung Deutschlands keine wäre. Sicherheit und kein Frieden in Europa aufzubauen. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland Mit Deutschland ist auch Europa geteilt. Die Spal- sollte sich darum dafür einsetzen, daß die West- tung unseres Vaterlandes widerspricht infolgedes- mächte das Interimsgespräch über Berlin auf jeden sen nicht nur den Interessen des deutschen Volkes, Fall so anlegen, daß eventuelle Abmachungen nicht sondern in gleichem Maße auch denen seiner Nach- den Weg zu einer Ost-West-Konferenz verbauen, barn und aller an einer friedlichen Entwicklung der vielmehr den Weg zu weiteren umfassenderen Ver- internationalen Lage interessierter Völker. Mir handlungen freimachen. scheint es notwendig zu sein, gerade auf diesen Sachverhalt hier hinzuweisen, um jenen Stimmen Wir erachten es des weiteren für selbstverständ- im In- und Ausland entgegenzutreten, die noch lich, daß sich solche Berlin-Verhandlungen nicht auf immer in der berechtigten Forderung unseres Vol- eine vertragliche Regelung des Status von West- kes nach seiner staatlichen Einheit und der Beendi- berlin allein beschränken dürfen. Diese Verhand- gung der Sklaverei für 17 Millionen unserer Lands- lungen müssen vielmehr das Ziel haben, den Vier- leute nichts anderes als den Ausdruck nationaler,- mächtestatus von Großberlin wiederherzustellen und nationalistischer, deutsch-nationaler oder gar pan- Vereinbarungen zu treffen, die die Lebensbedingun- germanistischer Tendenzen erblicken. gen der Bevölkerung in beiden Teilen Berlins spür- bar verbessern und die Freizügigkeit zwischen dem Seit der Aufnahme in die erste Deklaration der Ostsektor und den westlichen Sektoren der alten Vereinten Nationen vom 1. Januar 1942, ergänzt Reichshauptstadt wiederherstellen. durch die Erklärung der Alliierten auf der Krim (Beifall bei den Regierungsparteien.) Konferenz vom 12. Februar 1945 und die mit großer Stimmenmehrheit gefaßte Resolution der UNO-Voll- Wir stimmen mit der Bundesregierung darin über- versammlung vom 14. Dezember 1960, ist der An- ein, daß bei diesen Verhandlungen weder die Sicher- spruch auf Selbstbestimmung und freie und ge- heit der Bundesrepublik noch die bestehenden poli- heime Wahlen für alle Nationen, Sieger wie Be- tischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bindungen siegte des Zweiten Weltkrieges, verbindlich gesetz- zwischen Berlin und der Bundesrepublik einschließ- tes Recht. Es sei noch einmal daran erinnert, daß in lich des freien Zugangs der Zivilbevölkerung preis- der mit großer Stimmenmehrheit gefaßten Resolu- gegeben werden dürfen und daß auf eine Wieder- tion der UNO-Vollversammlung vom 14. Dezember vereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit 1960 erneut festgestellt wurde, daß alle Völker nicht verzichtet werden kann. Wir sprechen die Er- das Recht der freien Selbstbestimmung haben — wartung aus, daß die Bundesregierung ihrerseits den Artikel 2 — und daß jeder Versuch zur teilweisen verbündeten Regierungen ein entsprechendes Ver- oder völligen Zerstörung der nationalen Einheit und handlungskonzept vorschlagen wird, das unseren der territorialen Integrität eines Landes unverein- Alliierten die Möglichkeit gibt, die deutschen bar ist mit den Zielen und den Grundsätzen der Wünsche mit Nachdruck und Erfolg gegenüber der Charta der Vereinten Nationen — ausgedrückt in Sowjetunion zu vertreten. Artikel 6 — und daß jeder Staat gewissenhaft und Die Bundestagsfraktion der Freien Demokrati- genauestens die Bestimmungen der Charta der Ver- schen Partei hofft jedoch auch, daß sich weder die einten Nationen, der universalen Erklärung der Bundesrepublik noch die Westmächte gegebenen- Menschenrechte und dieser Deklaration auf der falls Verhandlungen mit der Sowjetunion allein des- Basis der Gleichheit, der Nichteinmischung in die halb verschließen werden, weil neben der Berlin- inneren Angelegenheiten des Staates und des Re- frage auch noch andere Themen angeschnitten wer- spekts vor den souveränen Rechten und der terri- den sollen. Denn falls die diplomatischen Sondie- torialen Integrität aller Völker befolgen muß; so rungen ergeben sollten, daß bei Verhandlungen fast wörtlich in Artikel 7. über einen ausgeweiteten Themenkreis Fortschritte Wenn wir Freien Demokraten daher immer wie- in der Berlin- und Deutschlandfrage gleichermaßen der in den vergangenen Jahren und auch heute als erzielt werden können, würde selbstverständlich die das mahnende Gewissen für die deutsche Wieder- 76 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Mende vereinigung auftreten, so sollte man uns nicht im den und Freiheit und den Wettbewerb des Geistes In- oder Ausland daraus den Vorwurf des Nationa- wie der wirtschaftlichen und sozialen Systeme. Da- lismus machen. Sollte allerdings das Eintreten für bei soll und wird jeweils die bessere Erkenntnis die Einheit und Freiheit und Selbstbestimmung auf die Dauer siegen. Für uns ist es von einer seines Volkes Nationalismus sein, dann sind wir lebensentscheidenden Bedeutung, zu sehen, ob die stolz darauf, Nationalisten zu sein. Formeln des dialektischen Materialismus den öst- lichen Machthabern überhaupt noch die geistige (Beifall bei der FDP.) Souveränität lassen, Fehler zu erkennen, auf alte Auch die in unserer Koalitionsvereinbarung fest- Grundsätze und Machtansprüche zu verzichten und gelegten Grundsätze gehen von dieser rechtlichen dem Frieden um des Friedens willen, der Freiheit Basis für die Wiederherstellung der deutschen Ein- um der Freiheit willen Gerechtigkeit widerfahren heit und einer vollen deutschen Souveränität aus. zu lassen. Wir sind uns hierbei der Zustimmung und der Unter- Wir halten nicht viel davon, mit Pathos an die stützung unserer westlichen Verbündeten gewiß. Sowjets zu appellieren. Wir glauben aber, daß auch Wir müssen aber ebenso den Wunsch haben, die die Sowjets sich der Wirkung deis ungeteilten Rechts Nationen deis Ostblocks und vor allem die Sowjet- in der öffentlichen Meinung der Welt auf die Dauer union davon zu überzeugen, daß die klare und un- nicht werden entziehen können. zweideutige Verwirklichung der auch von ihnen Die Freie Demokratische Partei glaubt nach wie völkerrechtlich anerkannten Grundsätze der Atlan- vor, daß zur Herbeiführung eines gerechten Frie- tikcharta dem Frieden und damit dem Wohlergehen densvertrages mit ganz Deutschland die Neubele- der Völker der östlichen wie der westlichen Welt bung der vor zwei Jahren vertagten Genfer Außen- dient. Alle Bündnisformen politischer wie militä- ministerkonferenz einen gangbaren Weg darstellen rischer Art müssen diesem Ziel untergeordnet blei- und daß es sich empfehlen würde, diese Außen- ben. Wir müssen Hand in Hand mit unseren Ver- ministerkonferenz zu einer ständigen Deutschland- bündeten jede politische Möglichkeit prüfen und konferenz im Range der Außenminister oder ihrer aufgreifen, die der Sicherung von Frieden und Frei- Stellvertreter umzugestalten. heit dient. (Beifall bei der FDP.) Aus diesem Grunde verträgt sich die in den Ver- Es ist nun aber die Frage, wie man auf dem Ge- trägen von 1954 festgelegte und auch heute noch biet der deutschen Wiedervereinigung in den kom- rechtlich gültige Entscheidungsfreiheit für eine menden Monaten und Jahren wenigstens- einen gesamtdeutsche Regierung durchaus mit den in Schritt vorankommen kann. Präsident Kennedy hat unserer Koalitionsvereinbarung wie in der Regie- in seinem „Iswestija"-Interview zu erkennen gege- rungserklärung angegebenen außenpolitischen und ben, daß die Vereinigten Staaten offenbar die Ab- militärpolitischen Bindungen der Bundesrepublik sieht haben, bei künftigen Ost- West - Verhandlungen Deutschland und der Bundesregierung. Wir sind über Deutschland auf die Viermächteerklärung vom sicher, daß unsere Verbündeten das Recht und die 23. Juli 1955 in Genf zurückzukommen. In dieser Freiheit ebensowenig einschränken wollen wie wir Viermächteerklärung ist ein Sicherheitspakt für selbst und deshalb gern auf die Erörterung von Europa, eine Begrenzung, Kontrolle und Inspektion Vorschlägen eingehen, die der Sache des Friedens des Umfangs der bewaffneten Streitkräfte und und der unbedingten Sicherung der Selbstbestim- Rüstungen vorgesehen sowie die Errichtung einer mung der Völker dienen können. Entscheidend bleibt Zone zwischen Ost und West, in der nur eine ge- für uns alle nur, daß solche Vorschläge nicht aus- genseitig zu vereinbarende Anzahl von Streitkräf- schließlich taktischer oder dialektischer Natur sind ten stehen darf. Zugleich hatten die Vier Mächte und nur darauf hinzielen, den machtpolitischen damals einer Lösung der deutschen Frage durch Interessen irgendeiner Gruppe einseitig Vorteile zu freie Wahlen in Deutschland zugestimmt. Noch sichern. liegt auch der sogenannte Herter - Plan vom Hier haben wir heute in erster Linie an das 15. Mai 1959, den auch mein Kollege von Bren- Rechtsgefühl der Sowjetregierung und an die von tano hier in Erinnerung rief, sozusagen unerledigt ihr selbst als verbindlich erklärten Grundsätze des auf dem Tisch des inzwischen verwaisten Verhand- Völkerrechts zu appellieren. Die schändliche Mauer lungssaales der Großmächte in Genf. Dieser west- in Berlin ist nicht nur aus Steinen, Mörtel und liche Friedensplan, der Grundzüge für eine stufen- Stacheldraht errichtet worden; hineingemauert sind weise Wiedervereinigung Deutschlands, eng ver- leider auch rechtlich nicht vertretbare Macht- bunden mit der europäischen Sicherheit, und eine ansprüche, Angst vor der allzu sichtbaren Erkennt- deutsche Friedensregelung vorsah, wurde damals in nis wirtschafts- und sozialpolitischer Unzulänglich- Genf nicht ausdiskutiert. Die Großmächte hatten sich keiten im kommunistischen Herrschaftsbereich und nach wenigen Tagen an der Berlin-Frage und an die Sorge vor der werbenden Kraft des erhabenen Interimslösungen für die alte deutsche Reichshaupt- Gedankens der Freiheit. stadt hoffnungslos festgefahren, ohne noch einmal auf die damit unlösbar zusammenhängenden Fragen (Beifall bei den Regierungsparteien.) Deutschlands und der europäischen Sicherheit ein- Was die Sorge vor Machtgruppierungen an der zugehen. Wir Freien Demokraten sind der Auffas- Grenze zwischen Ost und West betrifft, so können sung, daß dieses Material der Genfer Viermächte- wir die Völker der östlichen Welt beruhigen. Weder konferenz auch heute noch genügend Ansatzpunkte die Deutschen noch ihre Verbündeten wünschen für erneute Ost-West-Verhandlungen über Deutsch- oder suchen Gewalt. Sie wünschen und suchen Frie land bietet. Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 77

Dr. Mende Sicherlich wird man diese Papiere dem neuesten Wir legen besonderen Wert darauf, daß diese Stand der internationalen politischen und militär- Bemühungen um die Behauptung der Freiheit mehr technischen Entwicklung anpassen müssen. Aber das als bisher koordiniert werden, und wir werden der Grundelement aller dieser Pläne und Beschlüsse der von der Bundesregierung ins Auge gefaßten Ver- vergangenen Jahre, d. h. die feste Verbindung zwi- längerung der Dienstpflicht auf 18 Monate zustim- schen den deutschen Problemen und den Fragen der men. europäischen Sicherheit, ist nach wie vor der Aus- Die Freie Demokratische Partei hat die wesent- gangspunkt aller weiteren Planungen und Überle- gungen über die Zukunft Deutschlands. Es kommt lichen Elemente des Aufbaus der deutschen Nach- jetzt darauf an, jeden weiteren Versuch des Ostens, kriegsdemokratie hier in diesem Hause mitverant- die Berlinfrage in seinem Sinn zu lösen und die wortet: den Beitritt zum Europarat, zur EVG — die Freiheit und Sicherheit der Bundesrepublik und des später in der Assemblée Nationale scheiterte —, zur Westens ernsthaft zu bedrohen, durch die Zusam- Westeuropäischen Union und zur NATO. Sie hat menfassung aller politischen und militärischen auch später in der Opposition die innerpolitischen gezogen Kräfte der freien Welt zu vereiteln. Konsequenzen aus allen diesen Verträgen und beispielsweise sämtlichen Verteidigungshaus- Es ist aber nicht weniger geboten, daß die Bun- halten in diesem Bundestag zugestimmt, ob in Re- desregierung und ihre Verbündeten den ernsten gierung oder in Opposition. Wir sind der Meinung, Versuch machen, die Initiative in der Deutschland- das Bekenntnis zur Verteidigung der Freiheit ist politik für sich und den Westen zu gewinnen und nur dann glaubwürdig, wenn man sich nicht nur zu zum geeigneten Zeitpunkt die Lösung der Deutsch- den Verträgen bekennt, sondern die schwierigen land- und Berlinfrage durch Friedensverhandlungen innerpolitischen Konsequenzen ebenfalls auf sich für ganz Deutschland zu erreichen. nimmt. (Beifall bei der FDP.) (Beifall bei den Regierungsparteien.)

Mögen auch die Chancen gegewärtig noch so gering Hier ist der Sprecher der sozialdemokratischen sein, mit den Sowjets in diesen Fragen zu einer Opposition, Herr Kollege Brandt, ausgewichen. Er Verständigung zu kommen, unsere Verantwortung erklärte lapidar, die Opposition werde die Frage für den Frieden und das Schicksal der 17 Millionen der Dienstpflichtverlängerung beraten. Meine Damen Landsleute hinter Mauer und Stacheldraht verpflich- und Herren, das erwarten wir selbstverständlich tet uns immer wieder zu neuen Anstrengungen und von einem Parlament, daß die Opposition einen- An- Versuchen, die unselige Spaltung unseres Vaterlan trag mit berät. des zu beenden. (Beifall bei der FDP.) (Abg. Wehner: Bis jetzt ist es aber nicht geschehen!) Die Bundesregierung hat in ihrer Erklärung vor dem Deutschen Bundestag am 29. November aus- Uns hätte interessiert, wie sich die Sozialdemokra- drücklich versichert, sie werde sich dafür einsetzen, ten in dieser Frage entscheiden wollen. Wiedervereinigung daß nichts geschieht, was die (Beifall bei den Regierungsparteien. — erschweren oder verhindern könnte. Die Bundesre- Abg. Wehner: Endlich dem Parlament vor gierung darf überzeugt sein, daß sie bei diesem Be- legen!) mühen die volle Unterstützung der Bundestagsfrak- tion der Freien Demokratischen Partei haben wird, Die Freie Demokratische Partei hat sich bereits im die eine Resignation immer als schlechtes Mittel Wahlkampf zu dieser unpopulären Belastung der der Politik, die Aktionen und geistige Auseinander- deutschen Jugend bekannt und ist — nach der Wahl setzungen aber als das richtige Mittel der Politik — bereit, diese unpopuläre Konsequenz für unsere angesehen hat. Sicherheit auf sich zu nehmen. (Beifall bei der FDP.) (Abg. Brandt [Berlin]: Wer so redet, will ja Ich möchte auch hier für die Fraktion der Freien die Zustimmung gar nicht haben! — Abg. Demokratischen Partei noch einmal betonen, daß Wehner: Sie werden noch der Koalitions wir zur Sicherung unserer Freiheit eine umfassende knüppel werden!) Verteidigungspflicht des ganzen Volkes für notwen- dig erachten. Wir haben schon in unserem soge- Wir dürfen aber von dieser Maßnahme allein nannten Berliner Programm im Jahre 1957 festge- nicht die unbedingt notwendige und von der NATO stellt, daß die Freiheit nicht allein durch Bekennt- gewünschte Verstärkung der konventionellen nisse gesichert werden kann, sondern daß sie not- Kampfkraft im mitteleuropäischen Raum erwarten. falls auch mit der Waffe verteidigt werden muß. Es ist Aufgabe der Bundesregierung, alle Maßnah- Unsere Wehrpolitik muß der politisch-geographi- men zu ergreifen — das gilt auch für die Gesetz- schen Lage der Bundesrepublik, den militärischen gebung über die Rechtsverhältnisse der Soldaten —, Gegebenheiten und der Entwicklung der modernen damit die Verteidigungsanstrengungen unseres Rüstungstechnik entsprechen. Wir brauchen eine Volkes ein Höchstmaß an Wirksamkeit haben. Wir Verteidigungspflicht, die sich gründet auf die der wollen nicht vergessen, daß auch im technischen NATO unterstellten Kampfeinheiten, auf die Ein- Zeitalter letztlich immer noch der Mensch der be- heiten der territorialen Landesverteidigung und auf stimmende Faktor für die Wirksamkeit der Technik die Kräfte des zivilen Bevölkerungsschutzes. auch in der Verteidigung ist. 78 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Mende Wir Freien Demokraten sprechen vielleicht nicht ser Gedanke leitete die Freien Demokraten bei ihrer so oft von der Notwendigkeit der europäischen Entscheidung für die jetzt gebildete Koalitionsregie- Einigung, von den Aufgaben der NATO und von rung und gegen eine Allparteienregierung. dem Bündnis mit dem Westen, weil diese Ziele Wir alle wissen, daß sich unser Volk in einer schon so Bestandteil der deutschen Politik geworden sehr ernsten Lage befindet. Diese Lage verpflichtet sind, daß wir sie als selbstverständlich ansehen. alle staatstragenden politischen Kräfte, in den Le- Die Freie Demokratische Partei hat seit 1949 alle bensfragen der Nation zusammenzuarbeiten. Diese Bemühungen unterstützt, die auf die stärkere Bin- Zusammenarbeit muß aber nicht bedeuten, daß alle dung an den Westen gerichtet waren. im Bundestag vertretenen politischen Parteien die (Abg. Wehner: Und wie war es mit der Regierungsverantwortung gemeinsam tragen müs- EWG?) sen. Eine Allparteienregierung kann niemals die Die Freie Demokratische Partei hat alle Vertrags- Regel sein; sie muß die Ausnahme bleiben. Eine werke, die der Einigung Europas dienen sollten, Regierung ohne Opposition ist in der parlamentari- mit verantwortet. schen Demokratie nur aus bestimmten Ausnahme- gründen zu rechtfertigen. (Abg. Wehner: Besonders die EWG?! Da haben Sie mit zwei Händen gestimmt!) (Zurufe von der SPD.) — Herr Kollege Wehner, warten Sie doch ab! Sie Das würde vor allem für den Verteidigungsfall, von rufen, wie bei der Regierungs-Erklärung bei der dem wir alle hoffen, er möge nicht eintreten, eben- Mauer, fünf Zeilen zu früh. so gelten wie für andere mögliche Phasen unmittel- barer Bedrohung von Leib, Leben und Eigentum. (Abg. Wehner: Haben Sie so einen Beck messer bei sich?) (Erneute Zurufe von der SPD.) — Die Freie Demokratische Partei hat alle Ver- — Eine Allparteienregierung jetzt, meine Herren tragswerkë, die der Einigung Europas dienen soll- von der Opposition, hätte bedeutet, daß wir uns ten, mit verantwortet. Dem Vertrag über die Euro- in der Skala der Möglichkeiten einer Reaktion auf päische Wirtschaftsgemeinschaft konnte sie nicht zu- weitere krisenhafte Zuspitzungen schon jetzt der stimmen, weil sie fürchtete, das Europa der Sechs letzten Steigerung bedient hätten. Wir wären damit werde zu einer Spaltung des freien Teils unseres Gefahr gelaufen, daß wir zu einer Dramatisierung Kontinents führen. Inzwischen ist die Entwicklung der gegenwärtig ohne Zweifel ernsten Lage beige- weitergegangen. Großbritannien, Dänemark und tragen hätten, - andere europäische Staaten bemühen sich um den (Abg. Mattick: Unerhört!) Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Der Zusammenschluß aller Staaten des freien die morgen oder übermorgen doch noch wesentlich Europa — zunächst zu einer wirtschaftlichen Ein- gefährlicher werden könnte. heit — muß das Ziel der Europapolitik bleiben. (Abg. Mattick: Unerhört!) Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, alles — Herr Kollege Mattick, das ist keine Unterschät- zu tun, was die Aufnahme weiterer europäischer zung der Mauer; aber über die Mauer hinaus gibt Staaten in die Gemeinschaft Europas fördert. es eine noch weit gefährlichere Entwicklung, die Neben der Sicherung unserer Freiheit gegen Sie und uns alle noch stärker treffen kann als die Bedrohung von außen ist der Aufbau einer freiheit- Mauer. lichen Gesellschaftsordnung in einem freiheitlichen (Beifall bei den Regierungsparteien.) Staat unsere Antwort auf die kommunistische Her- ausforderung. Die Schandmauer in Berlin ist nicht Eine Allparteienregierung kann immer nur eine nur ein Akt der Unmenschlichkeit und ein neuer Übergangsregierung sein. Man muß erkennen, daß Schlag gegen die deutsche Einheit und das Selbst- derartige Lösungen innenpolitische Gefahren herauf- bestimmungsrecht des deutschen Volkes, sie ist beschwören, die nur unter außergewöhnlichen Um- auch das Eingeständnis der Überlegenheit unserer ständen in Kauf genommen werden sollten. In der Gesellschaftsordnung gegenüber dem politischen Innenpolitik würde eine Allparteienregierung im und wirtschaftlichen System des Ostens. letzten zu einer Neutralisierung der wirtschafts-, (Beifall bei den Regierungsparteien.) sozial- und gesellschaftspolitischen Kräfte führen. Eine solche Regierung würde schließlich durch die Der von Chruschtschow ausgerufene friedliche Wett- Diskussion gelähmt sein, wann der Zeitpunkt der bewerb zwischen Kapitalismus — sprich freiheit- Beendigung der Krise und damit der Rechtfertigung liche Gesellschaftsordnung — und Sozialismus — ihres Bestehens gekommen ist. Da die eine der Par- sprich Kommunismus — mußte in Deutschland ab- teien, die eine solche Regierung mit tragen, zu die- gebrochen werden, weil die Massenfluchtbewegung sem Zeitpunkt wieder ausscheiden müßte, könnte aus der sowjetischen Besatzungszone den überzeu- die Handlungsfähigkeit auch durch die Diskussion gendsten Beweis für die Richtigkeit unseres Weges darüber begrenzt sein, wer nach Beendigung der lieferte. Regierungskrise die Regierungsverantwortung wei- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ter trägt und wer die Rolle der Opposition zu über- nehmen hat. Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung in der Regierungserklärung die Notwendigkeit einer Wir haben aus diesen Gründen der gegenwärtigen parlamentarischen Opposition im Rahmen unseres Koalitionsregierung den Vorzug gegeben. Sie schafft demokratischen Staatswesens unterstrichen hat. Die klare parlamentarische Fronten und ermöglicht das Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 79

Dr. Mende Wechselspiel von Regierung und Opposition, das allein zu überlassen, ihre berechtigten wirtschaft- nach unserer Meinung heute noch erlaubt ist; wie lichen Forderungen durch gewerkschaftliche Organi- es morgen sein wird, das liegt nicht allein in unserer sation erkämpfen zu müssen. Hand. Die vierte Bundesregierung verfügt über die (Beifall bei der FDP.) stabile Mehrheit von 309 Abgeordneten gegenüber 190 Abgeordneten der Opposition. Das gegenseitige Treueverhältnis zwischen Staat und Beamten verlangt, daß die Regierung rechtzeitig (Zurufe von der SPD.) tätig wird, wenn sich der allgemeine Lebensstandard — Meine Herren von der Opposition, Sie können verändert hat; denn auch der im öffentlichen Dienst von mir schlecht verlangen, daß ich mich bei Ihnen Tätige hat ein Recht, an dem allgemeinen wirtschaft- dafür entschuldige, daß Sie nicht mehr Abgeord- lichen Aufstieg unseres Volkes beteiligt zu werden. nete in diesem Haus versammeln können. Dienstleistungen beim Staat dürfen grundsätzlich (Beifall bei den Regierungsparteien. — nicht geringer bewertet werden als Dienstleistungen Zuruf von der SPD: Siehe Kanzlerwahl! — in der freien Wirtschaft, wenn man nicht Gefahr Weitere Zurufe von der SPD.) laufen will, nur noch zweitrangigen Nachwuchs für den öffentlichen Dienst zu erhalten. Es ist das gute Recht, es ist sogar die Pflicht der (Sehr gut! bei der FDP.) Opposition, aus der Opposition in die Macht und Verantwortung einzutreten. Wir haben im Januar Die Beamtenbesoldung sollte nicht wieder in das dieses Jahres in Stuttgart dafür das Wort vom Schlepptau von Tarifverhandlungen geraten. Viel- „Kopiloten" in der Regierungsmaschine geprägt. mehr muß umgekehrt die Besoldungspolitik für die Darüber haben Sie gelacht. Aber ich bitte Sie, es Beamten Vorbild für den gesamten öffentlichen meiner Partei doch nicht als Fehler anzukreiden, daß Dienst sein. Die zwischen Bund und Ländern ver- Sie weiter unten sitzen müssen und daß wir in die lorengegangene Einheit der Besoldung muß wieder- Mitverantwortung eingetreten sind. hergestellt werden. Dabei wird gleichzeitig zu prü- fen sein, wieweit beim einfachen und mittleren (Beifall bei der FDP. — Lachen bei der SPD.) Dienst die Sozialteile des Gehalts verbessert werden Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung die können. großen rechtspolitischen Aufgaben, die dem 4. Deut- Die Freie Demokratische Partei hat in ihrem Auf- schen Bundestag gestellt sind, in der Regierungs- ruf zur Bundestagswahl den Aufgaben, die Wissen- erklärung an hervorragender Stelle genannt hat. Die schaft und Forschung stellen, einen breiten- Raum Strafrechtsreform wird ebenso wie die Novellierung gewidmet. Es ist in den Koalitionsverhandlungen p unseres Strafprozeßrechtes Zeugnis ablegen von dem auch erwogen worden, ob man nicht ein „Ministerium freiheitlichen Geist unseres Staatswesens und von für Wissenschaft und Forschung" unter Leitung der Sicherung der Rechte der Bürger in einem demo- eines international anerkannten deutschen Wissen- kratischen Rechtsstaat. Die Aktienrechtsreform muß schaftlers etwa vom Range eines Professors Coing der in unserem Wirtschaftsleben vorherrschenden oder Professor oder anderer einrichten sollte. Rechtsfigur der Aktiengesellschaft die Gestalt und Man ist von diesem Plan zunächst, auch angesichts den Inhalt verleihen, die unsere Bemühungen im des Widerstandes der Länderkultusminister, in ver- Rahmen der Eigentumspolitik um eine breite Ver- fassungsmäßiger Hinsicht abgekommen. mögensstreuung unterstützen und fördern. Von der Reform des Urheberrechts erwarten wir jene Wür- Der Sprecher der Opposition, Kollege Brandt, er- digung und Anerkennung und jenen Schutz der wartet in der nächsten Zeit eine stärkere Förderung geistigen Leistung, die für unsere geistige und kul- der geistigen Ausbildung des Nachwuchses und der turelle Entwicklung unentbehrlich sind. In einer Zeit, Studenten. Sicher wäre ihm die Regierung verbun- in der die materiellen Werte überbewertet werden, den, wenn er mit dazu beitrüge, die verfassungs- sollte endlich auch in Deutschland die geistige Lei- politischen Bedenken der Länder um des Bundes stung die ihr gebührende Einschätzung erfahren. willen zu verringern. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Essen] : Um der Wissenschaft willen!) Die Bundesregierung sollte den Plan zur Schaffung eines Rechtspflegeministeriums verwirklichen. Das Die angekündigte Berücksichtigung der Vorschläge Vertrauen der Rechtsuchenden und die Unabhängig- des Wissenschaftsrates ist für uns ein erster Schritt keit der Gerichte kann durch eine Eingliederung der zur Förderung von Wissenschaft und Forschung. Sie Spezialgerichtsbarkeiten in die Zuständigkeit des ist eine Mindestvoraussetzung liberaler Kultur Justizministeriums unter Aufrechterhaltung der orga- politik. nisatorischen Selbständigkeit gestärkt werden. Der Bereitschaft der Bundesregierung, sich an der Errichtung neuer Hochschulen zu beteiligen, muß die (Abg. Jahn [Marburg] : Was sagt denn der schnelle Inangriffnahme des Ausbaus und der Ver- Justizminister dazu?) mehrung unserer Bildungsstätten folgen. Neue Wir begrüßen das Bekenntnis der Bundesregierung Bildungsstätten sind die Voraussetzung für die Akti- zum Berufsbeamtentum. Sie sollte daraus die Ver- vierung und Stärkung aller in unserem Volke vor- pflichtung entnehmen, von sich aus die wirtschaft handenen geistigen Kräfte im Interesse unserer liche Stellung der Beamten, Pensionäre, Witwen und freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung. Waisen laufend zu beobachten. Dieser Weg ist Wenn wir — diese Aufforderung und Bitte richte staatspolitisch richtiger als der, es den Beamten ich an alle drei Fraktionen — in den nächsten 80 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Mende Jahren nicht mehr für die deutsche Wissenschaft gabe gestellt. Ein erster Schritt auf diesem Wege und Technik tun, werden wir in zehn Jahren selbst sollte die Beseitigung jener zusätzlichen Belastun- zu einem der Entwicklungsländer auf diesem Ge- gen sein, die heute noch die Entfaltung 'zahlreicher biete gehören. mittlerer und kleinerer Existenzen behindern. Das (Beifall bei der FDP.) gilt vor allem für die Belastung der lohnintensiven Betriebe durch das gegenwärtige Aufbringungs- Die Schaffung neuer und weiterer Bildungsstätten system für das Kindergeld. Wir verstehen deshalb ist aber auch unabdingbar verbunden mit unseren die Ankündigung der Bundesregierung, daß ein Ge- Bemühungen um eine konstruktive Zusammenarbeit setzentwurf zur Vereinheitlichung des Kindergeld- und um die Unterstützung der jungen Staaten Asiens rechts die Aufbringung der für die Zahlung von Kin- und Afrikas. Die Verstärkung der Bildungshilfe für dergeld insgesamt erforderlichen Mittel regeln diese Staaten ist eine der vordringlichsten Aufgaben müsse, als die Ankündigung der Aufbringung des unserer Zeit. Die Entwicklungshilfe muß die Förde- Kindergeldes aus öffentlichen Mitteln. Wir sind 'der rung der Selbsthilfe und des eigenen Aufbauwillens Überzeugung, daß es in dieser Wahlperiode möglich der Entwicklungsländer zum Inhalt haben, nicht die sein wird, dieses Ziel schrittweise zu erreichen. Gewährung von Geschenken, die allzu leicht zu Korruption führt. Im 3. Deutschen. Bundestag haben alle drei Par- teien die Notwendigkeit einer Die Wirtschaftspolitik, im Jahre 1948 vom Frank- Eigentumsbildung breiter Schichten unseres Volkes unterstrichen. Die furter Wirtschaftsrat mit Hilfe der Freien Demokra- Leistungen der vierten Bundesregierung werden tischen Partei und gegen den Widerstand der Sozial- auch danach gemessen werden, ob es ihr 'gelingen demokratischen Partei und ihres damaligen Spre- chers Professor Nölting begonnen, hat den Aufbau wird, ohne Neuverteilung bestehenden Eigentums breiteste Schichten unseres Volkes an der Eigen- unseres Landes mit einem von aller Welt anerkann- tumsbildung zu beteiligen. ten Erfolg ermöglicht. Die soziale Marktwirtschaft hat sich als die Form gesellschaftlicher Wirkung er- Der steigende Anteil der öffentlichen Haushalte wiesen, in der die geistigen Kräfte, das Können, die an der Vermögensbildung muß eingeschränkt wer- Fertigkeiten und der Fleiß eines Volkes in allen sei- den. Der Vorrang breit gestreuter Vermögensbil- nen Schichten am stärksten zur Geltung kommen. dung in privater Hand muß das Ziel der Regierungs- Wir werden deshalb auch in Zukunft diese soziale politik für die nächsten vier Jahre sein. Nach unse- Marktwirtschaft gegen jeden Versuch einer Verfäl- rer Auffassung kann diese Eigentumspolitik am be- schung verteidigen. Es wird eine unserer wichtigsten sten durch Ausbau des Sparprämiensystems,- des Aufgaben im Rahmen der europäischen Zusammen Bausparprämiensystems und durch die Wiederan- arbeit sein, diese soziale Marktwirtschaft auch in erkennung der Beiträge auf Grund langfristiger Ka- der EWG zu verwirklichen. Wir sind sicher, daß die pitalansammlungsverträge als Sonderausgaben ver- Völker Europas ebenso wie das deutsche Volk aus wirklicht werden. Diese Förderungsformen haben dieser Form wirtschaftlicher und gesellschaftlicher vor allem Iden Vorzug, daß sie ohne Belastung be- Betätigung den höchsten Nutzen ziehen werden. stimmter Bevölkerungsgruppen von jedem Bürger ohne Rücksicht auf Beruf und Arbeitsplatz in An- Die Erfolge der sozialen Marktwirtschaft täuschen spruch genommen werden können. Sie verwirklichen uns nicht darüber hinweg, daß große gesellschafts- damit auch auf diesem Gebiet die Forderung nach politische Aufgaben noch zu bewältigen sind. Für der Gleichheit vor dem Gesetz, hier verstanden als uns Freie Demokraten sind Leistung und Können Gleichheit der Chancen beim Eigentumserwerb. des einzelnen unentbehrliche Bestandteile des ge- meinsamen Erfolgs. Jedem Aufstiegsmöglichkeiten Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß sich der- nach seiner Leistung, nach seinem Können zu bieten artige Förderungsmaßnahmen nicht allein auf den ist die gemeinsame Aufgabe von Regierung und Anreiz des Sparwillens durch Gewährung steuer- Opposition. licher Vergünstigungen und durch Prämiengewäh- Wir sind überzeugt, daß von der unternehme- rung beschränken dürfen. Vielmehr ist erforderlich, rischen Initiative der selbständigen Schichten unse- daß für Einkommensschwache durch differenzierte res Volkes ein entscheidender Impuls für unsere Ge- Prämien die Sparfähigkeit gestärkt wird. Auch hier sellschaftsordnung ausgeht. Wir begrüßen es des- gilt die Forderung, daß die Sozialisierung der Löhne halb dankbar, daß die Regierungserklärung die Not- und Gehälter nicht weitergehen darf. Wir erwarten, wendigkeit unterstreicht, die Leistung und Wett- daß die Bundesregierung die Beiträge zur Arbeits- bewerbsfähigkeit der selbständigen. Existenzen in losenversicherung senken wird. Hier zeigt sich ein Handel, Handwerk und Gewerbe, in der Landwirt- Weg für die Entlastung der Arbeitnehmer und die schaft und in den freien Berufen zu stärken. Mittel- Steigerung der Sparfähigkeit breiter Schichten. standspolitik ist für uns Freie Demokraten ein we- Dem selben Ziel muß Ouch die seit langem von sentlicher Teil unserer Gesellschaftspolitik, die von uns geforderte Befreiung der Überstundenvergütung (der Notwendigkeit selbständiger und nichtselbstän- und Überstundenzuschläge von der Lohnsteuer diger Schichten unseres Volkes ausgeht. dienstbar gemacht werden. Man muß bei jeder gesetzgeberischen Maßnahme (Beifall bei der FDP.) prüfen, ob sie die Gefahr eines Eingriffs in die ge- gliederte Gesellschaftsstruktur unseres Volkes in Nur am Rande sei vermerkt, daß damit zugleich die sich birgt. Die Bundesregierung hat sich mit der An- weder von den Arbeitgebern noch von den Gewerk- kündigung, das Selbständigwerden bisher abhän- schaften gewünschte Schwarzarbeit wesentlich ein- giger Existenzen zu ermöglichen, eine große Auf geschränkt werden würde. Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 81

Dr. Mende

Die Privatisierung des Erwerbsvermögens der öf- der Länder vollzogen werden sollte, sondern daß sie fentlichen Hand muß ein wesentliches Element der einen gerechten Ausgleich zwischen der Aufgaben- Eigentumspolitik der neuen Bundesregierung sein. stellung und den Steuerquellen bringen muß. Bei Bei der Festsetzung der Ausgabekurse muß dem der Durchführung der Finanzreform wird sich zeigen, wirklichen Wert mehr als bei der Privatisierung des ob sich das föderalistische Prinzip unseres Grund- Volkswagenwerkes Rechnung getragen werden. gesetzes in der Verantwortung für das Ganze be- Wenn das Eigentum in der Hand vieler seine wert- währt. Daß die Neuordnung der Gemeindefinanzen volle gesellschaftspolitische und soziologische Funk- mit an hervorragender Stelle stehen muß, möchte tion erfüllen soll, so darf die Achtung vor dem ich ausdrücklich betonen. Gesunde Gemeindefinan- Eigentum nicht dadurch gefährdet werden, daß der zen sind eine der Grundvoraussetzungen für eine Eindruck entstehen könnte, Bundesvermögen werde funktionierende Demokratie von unten nach oben. verschenkt. Wir alle wissen, daß die vor uns liegenden Auf- Nach unserer Auffassung ist das Familieneigen- gaben erhöhte Schwierigkeiten bei der Deckung tum die gesellschaftspolitisch wertvollste Eigen- unseres Haushalts mit sich bringen werden, und tumsform. Angesichts dieser Erkenntnis müssen wir wir beneiden den von unserer Partei gestellten Bun- mit Sorge feststellen, daß sich in der Hand gemein- desfinanzminister in keiner Weise um die Last, nütziger Wohnungsbaugesellschaften riesige Zu- die er wird tragen müssen. Ein Problem, das trotz sammenballungen von Wohnungseigentum und da- steigender Steuereinnahmen nicht genug beachtet mit auch politischer Macht gebildet haben. werden kann! Trotzdem erwarten wir von der Bun- desregierung, daß sie vor einer irgendwie gearteten (Beifall rechts.) Steuererhöhung jede andere Möglichkeit für die Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen Deckung des Haushalts ausschöpft. Es müssen end- und Herren von der sozialdemokratischen Oppo- lich alle Möglichkeiten des Kapitalmarktes für die sition, auch auf diesem Gebiet keine Machtkonzen- Finanzierung des außerordentlichen Haushaltes er- tration. schlossen werden. (Beifall bei der FDP und Abgeordneten Die Mängel des geltenden Umsatzsteuerrechts und der CDU/CSU.) ihre Auswirkung auf die Wettbewerbsfähigkeit der Wir wollen das schon deswegen nicht, weil dieses verschiedenen selbständigen Existenzen, die Aus- Wohnungseigentum im wesentlichen mit öffent- wirkungen der Gewerbesteuer und die Steuerbe- lichen Mitteln gebildet wurde, die von der Allge- lastung der einzelnen Einkommensgruppen machen meinheit erarbeitet und aufgebracht worden sind. die gesellschaftspolitische Bedeutung der Finanz- Wir verkennen dabei nicht, daß in den ersten Jah- und Steuerpolitik deutlich. Die Bundesregierung hat ren des Wiederaufbaus zur Abwendung der Woh- unsere volle Unterstützung bei der Ankündigung nungsnot die schnelle Errichtung von Wohnraum der Reform der Umsatzsteuer. Es wäre sicher in der im Vordergrund stehen mußte. Für die Zukunft aber Vergangenheit möglich gewesen, durch eine Sen- sollte die Übereinstimmung mit der von der Bundes- kung des Umsatzsteuertarifs eine weitgehende Wett- regierung als richtig anerkannten Gesellschaftspolitik bewerbsneutralität zu erreichen. Wir stehen heute der Maßstab für die Gemeinnützigkeit sein. Die Drei- vor der Aufgabe, zu prüfen, ob wir diesen Weg gleisigkeit von Althausbesitz, sozialem Wohnungs- noch gehen können oder ob wir den Ausweg in bau und freiem Wohnungsbau, die wir heute in der anderen Systemen werden suchen müssen. Wohnungspolitik zu verzeichnen haben, würde sich Im Rahmen der eben genannten Neuordnung der auch auf diese Weise mit beseitigen lassen. Gemeindefinanzen muß auch die Frage der Ge- Die schrittweise Überführung des Wohnungs- werbesteuer neu durchdacht werden. Auf dem Ge- marktes in die soziale Marktwirtschaft bedingt für biete der Einkommen- und Lohnsteuer wird die neue den Althausbesitz, der jahrelang die Last der Miet- Bundesregierung vor der Aufgabe stehen, die Aus- preisfestsetzung getragen hat — nicht jeder Haus- wirkungen der Lohnbewegung und das dadurch be- besitzer ist reich, und nicht jeder Mieter ist arm —, dingte Hineinwachsen neuer Einkommensschichten Förderungsmaßnahmen, die ihm für den Übergang in die Steuerpflicht und in die Progression zu über- in die Marktwirtschaft die Herstellung der Wett- prüfen. Die Frage der unverhältnismäßig hohen Be- bewerbsfähigkeit ermöglichen. lastung der mittleren Einkommen, die Forderung nach der Beseitigung des sogenannten Mittelstands- Die Bundesregierung hat mit Recht die Notwen- bogens, ist noch immer ungelöst. digkeit einer Verbesserung des Bund-Länder-Ver- hältnisses betont. Wir können diese Forderung nur Das Bekenntnis der Regierungserklärung zur Not- mit allem Nachdruck unterstützen. Die vor uns lie- wendigkeit der sozialen Sicherung findet unsere genden Aufgaben verlangen eine vertrauensvolle Unterstützung. Mit der gleichen Überzeugung aber Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Das unterstreichen wir die Feststellung, daß die For- gilt in hervorragendem Maße für die Verwirklichung derung nach sozialer Sicherung ihre Grenze dort der längst fälligen Finanzreform. Die Ankündigung findet, wo die persönliche Freiheit des einzelnen der Bundesregierung, daß eine unabhängige Kom- gefährdet werden könnte und wo durch ein Über- mission schon in angemessener Frist geeignete Vor- maß von Forderungen die Grundlage aller sozialen schläge für die Neuordnung der Finanzverfassung Sicherheit, nämlich die Währungsstabilität, in Ge- vorlegen sollte, dürfte die Unterstützung des ganzen fahr geraten könnte. Hauses finden. Ich kann hier wohl unwidersprochen (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten feststellen, daß diese Finanzreform nicht auf Kosten der CDU/CSU.) 82 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961

Dr. Mende Die Währungsstabilität ist nicht nur die Voraus- Existenz zu begründen. Die Bundesregierung wird setzung für eine gesunde Wirtschaftsordnung, sie zu prüfen haben, wie dieser Personengruppe über ist auch die Grundlage einer gesunden und wirk- die vorzeitige Auszahlung der Hauptentschädigung samen Sozialpolitik. Gerade hier wird in besonde- hinaus geholfen werden kann. rem Maße die Einheit von Wirtschafts- und Sozial- Die Freie Demokratische Partei hatte bereits im politik deutlich. Der Sozialaufwand in der Bundes- 3. Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zur republik ist heute mit am höchsten innerhalb der Beweissicherung der in der sowjetischen Besatzungs- Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die zweite zone und im Sowjetsektor von Berlin erlittenen Schä- Einkommensverteilung, d. h. die Abschöpfung von den vorgelegt. Sie unterstützt deshalb die entspre- Steuern und Sozialabgaben von den Löhnen, Ge- chende Ankündigung der Bundesregierung. hältern und Einkommen zur Bestreitung des Sozial- aufwandes, muß auf das unbedingt notwendige Maß Ein besonders bedrückendes Kapitel auf dem Ge- beschränkt bleiben. Das bedeutet nicht Kürzung der biet der Kriegsfolgen ist das Los jener Frauen, die Sozialleistungen, sondern ein Überdenken unserer im Kriege ihre Männer oder ihre Verlobten ver- Sozialpolitik mit dem Ziele einer sinnvollen, zweck- loren haben. Sie sind heute genötigt, ihr Leben mäßigen und wirksamen Verteilung des von der allein zu gestalten und ihre wirtschaftliche Existenz Allgemeinheit aufgebrachten Sozialaufwands. Es durch ihre Arbeitskraft allein zu sichern. Die Tat- bedeutet auch Verwendung der in der zweiten Ein- sache, daß sie in vielen Fällen erst verspätet in das kommensverteilung aufgebrachten Mittel für eine Berufsleben eingetreten sind, begründet ihre Sorge Sozialpolitik, die der Struktur unserer Gesellschaft um eine angemessene Alterssicherung. Hier sind der gerecht wird und die Tendenzen zur Nivellierung be- Sozialpolitik Aufgaben gestellt, die schnell in An- seitigt. Wer den Lohn weiter sozialisiert, mindert griff genommen werden müssen. den Leistungswillen des einzelnen. Das gleiche gilt für die Schaffung von Wohnraum (Beifall bei der FDP.) für alleinstehende Frauen. Die Forderung nach der Die Sozialpolitik von heute bestimmt das Gesicht familiengerechten Wohnung darf nicht jene Frauen unserer Gesellschaftsordnung von morgen. Sie be- ausschließen, die gegen ihren Willen als Folge eines stimmt damit, ob wir auf die Dauer den Wettbe- furchtbaren Krieges nicht in der Lage waren, eine werb mit dem Kollektivismus östlicher Prägung Familie zu gründen, und die auch in Zukunft nicht gewinnen werden oder nicht. Die Alternative zum in der Lage sein werden, das Glück einer Familien- totalen Kollektivismus des Ostens heißt nicht we- gründung zu erfahren. Diese berufstätigen allein- niger Kollektivismus im Westen, sondern heißt stehenden Frauen müssen aus ihrem Untermieter- Stärkung der Selbstverantwortung der Persönlich- dasein herausgeführt werden. Das sollte für uns keit des einzelnen an Stelle jeglicher kollektivisti- ebenso eine Ehrenpflicht sein wie die gerechte Ge- scher Tendenzen. staltung der Kriegsopferversorgung. (Beifall bei der FDP.) (Beifall bei der FDP und bei der CDU/CSU.) Von dieser Erkenntnis sollte die Sozialpolitik der Ein drängendes Problem ist die Frage der Ent- vierten Bundesregierung bestimmt sein. schädigung der Reparations - und Demontageschäden. Die Trennung der Sozialpolitik im eigentlichen Ein Gesetzentwurf, der diese Frage regelt, muß Sinne und der Beseitigung der Kriegsfolgen macht davon ausgehen, daß den Betroffenen ein Rechts- uns die Verschiedenartigkeit der Aufgabenstellung anspruch auf Ersatz des ihnen entstandenen Schadens in unserer besonderen Situation deutlich. Die Koa- zusteht. Auch in dieser Frage sollte die Bundes- litionsparteien sind sich darüber einig, daß die regierung und sollte der Bundestag die Achtung vor Kriegsfolgengesetzgebung in diesem Bundestag dem Privateigentum bezeugen. möglichst abgeschlossen werden sollte. Meine Fraktion erwartet, daß der 4. Deutsche In der Kriegsopferversorgung muß endlich an die Bundestag sowohl die Reform der Krankenversiche- Stelle der nivellierenden, vom Bedürftigkeitsprinzip rung wie die Reform der Unfallversicherung durch- ausgehenden Ausgleichsrente eine angemessene führen wird. Es scheint uns ein Gebot der Gerech- Verwirklichung des Entschädigungsprinzips treten. tigkeit zu sein, daß das Recht der Unfallversicherung Hier hat die Gesetzgebung auch ein Stück Gesell- im Rahmen der Reform von den ihm jetzt innewoh- schaftspolitik zu verwirklichen und die berechtigten nenden Härten befreit wird. Die Unfallversicherung Rechtsansprüche des einzelnen zu erfüllen. sollte daher als erstes sozialpolitisches Reformwerk in Angriff genommen werden. Die Reform der ge- Die Ankündigung der beschleunigten Auszahlung setzlichen Krankenversicherung wird ein Prüfstein der Hauptentschädigung fördert auch auf diesem dafür sein, inwieweit Bundesregierung und Bundes- Weg den von allen Parteien des Bundestages ver- tag bereit sind, den Gedanken der Selbstverantwor- tretenen und propagierten Eigentumsgedanken. tung zu fördern. Im Mittelpunkt einer fortschritt- Diese baldige Auszahlung der Hauptentschädigung lichen Krankenversicherung muß die Sicherung vor muß darüber hinaus soziale Not von Menschen be- den Folgen schwerer Krankheitsfälle stehen. seitigen, die bisher in besonderem Maße unter dem Schicksal der Vertreibung oder des Kriegsschadens Eine wesentliche Aufgabe der Sozialreform wird zu leiden hatten. Wir denken hier hauptsächlich an in der vierten Legislaturperiode des Deutschen Bun- die ehemals Selbständigen, die durch Alter oder destages eine Überprüfung der sich aus der Renten- Gesundheitsschäden nicht in der Lage waren, im reform des Jahres 1957 ergebenden sozialen Tatbe- freien Teil Deutschlands noch einmal eine eigene stände sein. In diesem Zusammenhang muß auch Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 83 Dr. Mende sichergestellt werden, daß staatliche Zuschüsse zur Ich glaube, im Bundestagswahlkampf 1961 war der Alterssicherung den Versicherungseinrichtungen Geist durch des Herrgotts Güte gleichermaßen auf aller Bevölkerungsgruppen in gleicher Weise und alle Parteien wohl verteilt. Aber die materielle Zu- in dem notwendigen Umfang zugute kommen. wendung kann nicht allein bei den gegnerischen Parteien gesehen werden. Man muß auch prüfen, Einhelligkeit dürfte in diesem Hause auch darüber wie man selber in der Lage sein konnte, einen so beistehen, daß die unsoziale und ungerechte Höchst- großen Propagandaaufwand zu treiben, von dem rentenbestimmung endlich fällt. Wir wären dem wir wissen, wie teuer er ist. Herrn Bundesarbeitsminister dankbar, wenn er in seinem Haus Vorschläge zur Beseitigung der un- (Beifall bei der FDP und bei der CDU/CSU. sozialen und unübersichtlichen Rentenanrechnungs- — Zurufe von der SPD.) bestimmungen in den verschiedensten Gesetzen Die Harmonisierung von Geist und Geld in der schnellstens ausarbeiten ließe. Politik würde in der Tat eine vielleicht sogar ganz- Im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung tägige Sitzung rechtfertigen. Aber es dist sehr die scheint uns eine der aktuellsten gesetzespolitischen Frage, ob e s wirklich noch richtig ist, den alten Notwendigkeiten die gesetzgeberische Regelung der klassenkämpferischen Grundsatz Übernahme von Facharbeitern in das Angestellten- (Aha-Rufe von der SPD) verhältnis zu sein. Wir alle wissen, daß zahlreiche Betriebe seit langem betriebsintern und arbeitsrecht- aufzustellen, daß bei den Parteien dieser Seite nur lich aus der technischen und gesellsschaftspolitischen die Millionäre und bei den Parteien jener Seite nur Entwicklung die Konsequenzen gezogen und be- die armen Bürger sitzen. währte Facharbeiter den Angestellten gleichgestellt (Beifall bei der FDP und in der Mitte. — haben. Auf dem Gebiete der gesetzlichen Renten- Lachen bei der SPD.) versicherung wird dieser begrüßenswerten sozio- logischen Entwicklung durch die Gestaltung deis Wer Behauptungen aufstellt, die Freien Demokraten Katalogs ein Riegel vorgeschoben. Wir erwarten, seien sozialreaktionär und gewerkschaftsfeindlich, daß die Bundesregierung in dieser Beziehung schon verkennt die Gewerkschaftsgeschichte. in nächster Zeit initiativ wird. (Zurufe von der SPD.) Über den Aufgaben, die die Alterssicherung der Denn die Liberalen waren es — Herr Kollege Weh- ner, Sie wissen das besser als ich —, die gegen den arbeitenden Generation betreffen, dürfen wir ein - entscheidendes Problem nicht übersehen: ich meine Widerstand der Sozialisten eine Gewerkschaftsbe- die Aufwertung der privaten Lebensversicherung. wegung überhaupt ermöglichten durch das Eintreten Eine Bundesregierung, die zur Stärkung der Selbst- für die Koalitionsfreiheit. verantwortung aufruft, darf es nicht länger dulden, (Lachen bei der SPD.) daß diejenigen, die in der Vergangenheit selbstver- antwortlich ihre Alterssicherung in Angriff genom- In der ersten Zeit der Gewerkschaftsbewegung wa- men haben, jetzt auf Fürsorge oder Hilfsbereitschaft ren die Sozialisten ängstlich darauf bedacht, hier ihrer Verwandten angewiesen sind. nicht einen Rivalen entstehen zu lassen. (Beifall bied der FDP.) (Erneutes Lachen bei der SPD. — Zuruf von der SPD: Nehmen Sie einen Kursus in Ge Die Aufwertung der privaten Renten- und Lebens- werkschaftsgeschichte!) versicherungen ist daher ein Giebot der Gerechtig- keit. Sie muß ein Bestandteil der Gesellschafts- Koalitionsrecht, Koalitionsfreiheit und Tarifhoheit politik der neuen Bundesregierung sein. sind liberale Errungenschaften, keine sozialistischen Errungenschaften. Lassen Sie mich an die zahlreichen Mitglieder (Beifall bei der FDP.) dieses Hauses, die gleichzeitig in der Gewerkschafts- bewegung tätig sind, sei es als führende Funktio- Die Verwirklichung dieser liberalen Errungenschaf- näre, sei es als Mitglieder, ein klärendes und viel- ten würde vielen Menschen im Osten ihren sehn- leicht Mißverständnisse beseitigendes Wort richten. lichsten Wunsch erfüllen. Es ist der Versuch gemacht worden, die Koalition Wir wissen aber auch, daß die Freiheit zu koalie- zwischen der Chnistlich-Demokratischen und Chr ist- ren untrennbar mit der Verpflichtung verbunden ist, lich-Sozialen Union und den Freien Demokraten als an das allgemeine Wohl zu denken. Die Pflicht zur sozialreaktionären und gewerkschaftsfeindlichen Be- Beachtung der Rechte aller Bürger unseres Staates sitzbürgerblock zu diffamieren. auch bei der Ausübung des Grundrechts der Koali- (Zurufe von der SPD.) tionsfreiheit ergibt sich aus dem in Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes niedergelegten Grundgedanken Den Freien Demokraten ist dabei die Schuld an die- des Gemeinschaftsvorbehalts. Sie entspricht aber ser angeblichen Zielsetzung der neuen Regierungs- auch dem sozialstaatlichen Charakter der Bundes- koalition zugeschoben worden. Es klang in den republik, verstanden als Garantie der Rechte aller Worten des Sprechers der sozialdemokratischen Schichten und Gruppen. Die Bemühungen der Opposition, des Kollegien Brandt, an, man solle Geist Freien Demokratischen Partei, den Art. 2 Abs. 1 und Geld auch in der Politik einigermaßen harmo- unseres Grundgesetzes für diesen Bereich näher aus- nisieren. zuführen und .die Pflicht zu statuieren, vor Eröff- (Abg. Brandt [Berlin] : Habe ich nicht gesagt!) nung eines Arbeitskampfes einen Schlichtungsver- 84 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Mende such zu unternehmen, entsprechen dem Geist und als eine der vorrangigen Aufgaben dieser Bundes- dem Willen des Grundgesetzes. Niemand hat das regierung ansehen. Wir haben bekanntlich darauf Recht, sie als gewerkschaftsfeindlich und als Angriff in den Koalitionsverhandlungen einen besonderen auf die Tarifhoheit zu bezeichnen. Wir haben aller- Wert gelegt. dings die Sorge, daß das allgemeine Wohl über dem Gruppenegoismus der Tarifpartner vergessen wer- Wir entnehmen der Regierungserklärung, daß die den könnte. Bundesregierung sich auch in der Agrarpolitik von dem Grundsatz leiten lassen will, aus politischen und (Beifall bei der FDP. — Zurufe von der soziologischen Gründen eine möglichst breite Schicht SPD.) gesunder selbständiger mittelständischer Existenzen Angesichts der Vollbeschäftigung mag für einige zu erhalten und ihnen den Anschluß an die allge- Industriegewerkschaften die Versuchung bestehen, meine Wirtschaftsentwicklung zu sichern. Es ist die rasch und mühelos Erfolge zu erzielen. Diese Erfolge Pflicht, auch bei der deutschen Landwirtschaft den werden kurzfristig sein, wenn darüber das Gesamt- Anspruch auf die Kostendeckung ordnungsmäßig interesse aus den Augen verloren wird. Was wir geführter Betriebe anzuerkennen, ein Grundsatz, der brauchen, ist eine langfristige Sicherung und Stär- in der allgemeinen Wirtschaft üblich ist. kung gesunder Wirtschafts- und sozialer Verhält- In der Regierungszusage, daß die derzeitige Wirt- nisse, auf deren Grundlage allein eine gesunde Ge- schafts- und Einkommenslage der Landwirtschaft samtordnung möglich ist. nicht verschlechtert werden dürfe, daß sie vielmehr, wo sie unzureichend ist, verbessert werden müsse, Wir bedauern es, daß die Tarifpartner die Mah- sehen wir die Bestätigung unserer agrarpolitischen nungen zur Vernunft, die in dem Gutachten des Grundforderungen. Wir haben schon Vorschläge für Bundesbankpräsidenten Blessing enthalten sind, eine entsprechende Ergänzung des Landwirtschafts- nicht in dem Maße beachtet haben, wie wir es er- gesetzes angemeldet und hoffen, daß die Bundesre- warten. Das Gebot der Stunde ist eine Versach- gierung dieser Notwendigkeit auch Rechnung tragen lichung der Lohndiskussion! Der Deutsche Bundes- wird. tag als die demokratisch gewählte Vertretung des ganzen deutschen Volkes muß seiner Verantwor- Alle unsere Bemühungen um die Gestaltung unse- tung auch auf diesem Gebiet gerecht werden. Die res Staates und unserer Gesellschaft dienen dem Freie Demokratische Partei sieht in der im letzten obersten Ziel deutscher Politik: der Wiederherstel- Bundestag verabschiedeten Entschließung, mit der lung der staatlichen Einheit Deutschlands- in ge- die Tarifpartner aufgefordert wurden, das freiwillige sicherter Freiheit. Die Bundesregierung hat unter- Schlichtungswesen zur Regelung von Lohn- und strichen, daß wir dieses Ziel nicht durch Gewalt Arbeitsbedingungen im Rahmen ihrer Autonomie erreichen wollen, sondern daß wir an das Gerech- weiter auszubauen, einen ersten, aber wertvollen tigkeitsgefühl und an die politische Vernunft aller Ansatzpunkt für eine Initative des Deutschen Bun- Völker dieser Erde appellieren, dem deutschen destages. Es erscheint uns durchaus erwägenswert, Volk wie allen anderen Völkern das Recht zuzu- daß das Parlament die Tarifpartner einlädt, um sie gestehen, in einem Staat nach seinen Vorstel- in der Diskussion mit den volkswirtschaftlichen Zu- lungen zu leben und zu arbeiten. sammenhängen, den gesamtwirtschaftlichen Not- Die Sowjetunion sollte prüfen, ob es nicht auch wendigkeiten und den möglichen Konsequenzen zu in ihrem Interesse liegt, durch eine gerechte Lösung konfrontieren. Wir können uns vorstellen, daß eine der Deutschlandfrage einen Krisenherd in Mittel- vertrauensvolle Teilnahme an einem solchen Ver- europa zu beseitigen, normale Verhältnisse in such uns einen entscheidenden Schritt voranbringen Mitteleuropa herzustellen und dem Recht der Selbst- wird. Wir schöpfen diese Zuversicht aus dem Wis- bestimmung auch im europäischen Raum zum Durch- sen um das große Maß an Einsicht in die allgemeine bruch zu verhelfen. Situation, das die deutschen Gewerkschaften in den ersten Jahren nach der Währungsreform bewiesen Die Welt, vor allem aber die Sowjetunion, muß haben. wissen, daß es niemals möglich sein wird, die Zu- stimmung dieses frei gewählten Parlaments für (Zurufe von der SPD.) eine Regelung zu erreichen, durch die die Unrechts- Dafür möchten wir den Gewerkschaften und den maßnahmen vom 13. August 1961 nachträglich sank- deutschen Arbeitnehmern unsere Anerkennung aus- tioniert werden, durch die direkt oder indirekt, sprechen. wenn auch nur auf Zeit, auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit verzichtet wird und durch die (Beifall bei der FDP. — Abg. Jahn [Mar die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bin- burg] : Werden die sich freuen!) dungen Berlins an die Bundesrepublik Deutschland gelöst oder gelockert werden. Die Freie Demokra- Wir verbinden diese Anerkennung mit der Bitte, in der gegenwärtigen schwierigen Zeit auch an die tische Partei hat am 30. August 196.1 auf einer Pressekonferenz vor der in- und ausländischen Zukunft zu denken und nicht nur an den Tag. Presse hier in Bonn und vor dem ganzen deutschen (Zurufe von der SPD.) Volk erklärt, daß das Grundgesetz für die Bundes- republik Deutschland und Artikel 7 des Deutsch- In den agrarpolitischen Aussagen der Bundesre- landvertrages uns und unsere Verbündeten ver- gierung erkennen wir den Willen zu einer Neuorien- pflichten, keiner Schmälerung des Besitzstandes an tierung der Landwirtschaftspolitik, die wir durchaus deutscher Einheit zuzustimmen. Das gilt auch für die Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 85 Dr. Mende bestehenden Bindungen zwischen der Bundesrepu- Bundesverfassungsgericht vom 12. März 1951 — blik Deutschland und Westberlin. Drucksache IV/8 — wurde folgendermaßen abge- Wir begrüßen es daher, daß die Bundesregierung stimmt: sich in der Erklärung vom 29. November 1961 aus- Es wurden insgesamt 487 Stimmen abgegeben. drücklich zu diesen Grundsätzen bekannt hat. Es ist Hiervon entfielen auf den Vorschlag a) 232 Stim- unsere tiefe Überzeugung, daß die Bundesregierung men, auf den Vorschlag b) 197 Stimmen und auf den bei dieser Erklärung die Unterstützung aller drei Vorschlag c) 58 Stimmen. Nach den Grundsätzen der Fraktionen dieses Hauses, aller Mitglieder dieses Verhältniswahl entfallen auf den Vorschlag a) 6 Hohen Hauses hat. Die Berliner werden aus diesem Mandate, auf den Vorschlag b) 5 Mandate und auf Bekenntnis der frei gewählten deutschen Regierung den Vorschlag c) 1 Mandat. Damit sind gewählt von und, des frei gewählten deutschen Parlaments die dem Vorschlag a) der Fraktion der CDU/CSU die feste Zuversicht entnehmen, daß alle Pläne, die Abgeordneten Dr. h. c. Pferdmenges, D. Dr. Gersten- deutsche .Spaltung durch eine Abtrennung West-Ber- maier, Hoogen, Dr. Wilhelmi, Dr. Zimmermann lins von der Bundesrepublik zu vertiefen, zum (München), Dr. Weber (Koblenz), von dem Vorschlag Scheitern verurteilt sind. b) der Fraktion der SPD die Abgeordneten Wittrock, Meine Damen und Herren! Die Koalitionsver- Jahn, Dr. Schäfer, Hirsch, Dr. Klein (Berlin) und von handlungen standen und stehen ebenso wie heute dem Vorschlag c) der Fraktion der FDP Abgeord- die vierte Bundesregierung im Mittelpunkt harter neter Dr. Dehler. Kritik, nicht nur in den Reihen der Opposition. Diese Die Abstimmung aber die Wahlvorschläge für die Kritik ist oft weit über das Maß vielleicht manchmal Wahl der Mitglieder kraft Wahl des Richterwahl- berechtigten Unmuts hinausgegangen. Die Freien ausschusses gemäß § 5 des Richterwahlgesetzes vom Demokraten haben in diesem Hause eine Schlüssel- 25. August 1950 — Drucksache IV/48 — hatte fol- position zwischen den Christlichen Demokraten und gendes Ergebnis: den Sozialdemokraten. Sie sind sich der großen Ver- Es wurden insgesamt 487 Stimmen abgegeben. antwortung dieser Stellung vor dem ganzen deut- Hiervon entfielen auf den Vorschlag a) 232 Stim- schen Volke bewußt. Es ist unser Wunsch und men, auf den Vorschlag b) 197 Stimmen und auf den Wille, in loyaler Partnerschaft mit der CDU/CSU in Vorschlag c) 58 Stimmen. Nach den Grundsätzen der gemeinsamen Regierungsverantwortung zusam- der Verhältniswahl entfallen auf den Vorschlag a) menzuarbeiten. Es ist gleichermaßen unsere Absicht, 5 Mandate, auf den Vorschlag b) 5 Mandate in den großen Schicksalsfragen unserer Nation eine - Gemeinsamkeit aller drei Parteien des Deutschen (Sehr gut! bei der SPD) Bundestages anzustreben. Unser Verhältnis zur so zialdemokratischen Opposition wird daher gleicher und auf den Vorschlag c) 1 Mandat. Damit sind maßen von dem Wunsch und Willen beseelt sein, gewählt von dem Vorschlag a) der Fraktion der daß über den Parteien das gemeinsame deutsche CDU/CSU als Mitglieder die Abgeordneten Etzel, Vaterland steht. Mick, Memmel, Dr. Weber (Koblenz), Dr. h. c. Güde, von dem Vorschlag b) der Fraktion der SPD als (Beifall bei der FDP.) Mitglieder Dr. , Hannover- Niemand in diesem Hause und außerhalb dieses Kleefeld, Abgeordneter Wagner (Ludwigshafen), Hauses kann heute in (Selbstüberhebung und Selbst- Abgeordneter Dr. Reischl, , Frankfurt überschätzung bereits über unsere Politik urteilen (Main), Abgeordneter Wittrock und von dem Vor- und richten wollen. Wir Freien Demokraten stellen schlag c) der Fraktion der FDP als Mitglied Abge- unsere Entscheidungen und unsere Arbeit in der ordneter Dr. Dehler. vierten Bundesregierung unter das Urteil der Ge- schichte. Wir fahren in der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung — Punkt 2 der Tagesordnung (Beifall bei den Regierungsparteien. — Oh — fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dollinger. Rufe bei der SPD.)

Vizepräsident Dr. Jaeger: Meine Damen und Dr. Dollinger (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Herren, nach der Mittagspause sprechen als erste sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man sich Redner die Abgeordneten Dr. Dollinger und Erler. in dieser Aussprache zur Regierungserklärung mit ihr und den Ausführungen der Opposition ausein- Ich unterbreche die Sitzung für zwei Stunden; sie andersetzen will, so ist man in einer etwas schwie- wird um 15.30 Uhr wieder aufgenommen. rigen Lage im Hinblick auf die Ausführungen der (Unterbrechung von 13.27 bis 15.31 Uhr.) Opposition. Wir haben heute morgen die Rede des Herrn Kollegen Brandt gehört. Sie wurde auch Vizepräsident Schoettle: Die unterbrochene an die Presse verteilt, und es ist nun festzustellen, Sitzung ist wieder eröffnet. daß ein nicht unbeträchtlicher Teil dessen, was in der verteilten Fassung steht, hier nicht vorgetragen Bevor wir in die Beratung über Punkt 2 der worden ist. Tagesordnung eintreten, möchte ich Ihnen das Er- gebnis der beiden Wahlen bekanntgeben, die wir (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) heute vormittag durchgeführt haben. Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob dies aus Zeit Über die Wahlvorschläge für die Wahl der Wahl- gründen geschehen ist oder ob Herr Brandt viel männer gemäß § 6 Abs. 2 des Gesetzes Über das leicht irgendwelche Bedenken bekommen hat und 86 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Dollinger sich etwa durch sein Schweigen von diesen geplan- Es wäre wünschenswert, daß auch die Sozialdemo- ten Ausführungen distanzieren will. kratie bei ihren Überlegungen diesen Gedanken immer entsprechend hochhält. Wir haben manchmal (Abg. Wehner: Das ist doch einmal etwas den Eindruck gehabt — gerade bei Ihrem sogenann- Neues bei einer Debatte über die Regie ten „Regierungsprogramm" —, daß man aus dem rungserklärung! Endlich ist mal einer auf Bereich der Zuständigkeit der Länder manches her- d i e Idee gekommen!) auslösen wollte, und das wäre letzten Endes zu — Herr Wehner, es ist nicht uninteressant, daß Sie Lasten der Länder gegangen. über dieses Füllhorn von Geschenken, (Abg. Brandt [Berlin]: Sagen Sie ein (Abg. Wehner: Da haben Sie sich aber einen Beispiel!) Witz geleistet!) In dem nichtgehaltenen Teil der Rede des Herrn das gerade in dem nicht vorgetragenen Teil ent- Brandt ist auch über Fragen der deutschen Land- halten ist, geschwiegen haben. wirtschaft gesprochen worden. Die Haltung des SPD (Hört! Hört! in der Mitte.) zu diesem Problem — ich erinnere z. B. an die Hal- tung bei der Getreidepreisdebatte im Europäischen Es ist heute in diesem Raum Deutschlands Nikolaus- Parlament — lag nach unserer Auffassung nicht ge- tag; da kann man es der Opposition nicht übel- rade im Interesse der deutschen Landwirtschaft. nehmen, wenn sie an diesem Tag einmal die Rute Wenn die SPD zwischenzeitlich in manchen Punkten schwingt und der Regierung alles vorhält, was falsch eine andere Position bezogen hat, sollte es uns gemacht und was versäumt worden ist. Das können freuen. wir sehr wohl verstehen, zumal der Opposition durch die Entscheidung der Wähler die Rolle des Wir stellen gern fest — ich beziehe mich auf das Knecht Rupprecht zugewiesen worden ist. Sie kön- gestrige Bulletin, in dem darauf hingewiesen wor- nen dabei Äpfel und Nüsse verteilen. den ist —, daß Minister Schwarz in Brüssel eine Reihe von Vorbehalten gemacht hat. Wir möchten (Abg. Wehner: Die „Pflaumen" stehen dort!) Herrn Minister. Schwarz für diese Haltung danken Ja, kann man auch haben! — Ich muß sagen, daß und ihm auch das Vertrauen für die weiteren Be- es sich bei all dem, was hier ausgeteilt worden ist, ratungen aussprechen, möchten ihm aber auch eine zum Teil wohl auch um hohle Nüsse gehandelt hat. gewisse Rückenstärkung für die kommenden Be- Wir gönnen natürlich Herrn Brandt durchaus das sprechungen mitgeben. Die Erklärung von Minister Vergnügen, hier heute noch mal sehr viel zu sagen, Schwarz, daß die deutsche Landwirtschaft durch- das da er die Absicht hat, nach Berlin zurückzukehren Richtpreissystem keine Mindereinnahmen haben und damit dieses Hohe Haus wieder zu verlassen. dürfe, haben wir mit Befriedigung zur Kenntnis Nun, meine Damen und Herren, bei dem Thema genommen. Die damit zusammenhängenden Maß- reine Luft und sauberes Wasser ist auch die Frage nahmen müssen unserer Meinung nach in Zukunft des Urheberrechts erwähnt worden. Ich glaube, man in ein vertragskonformes System übergeführt wer- sollte bei solchen Betrachtungen mit dem Wort „ab- den mit dem Ziel, insibesondere die am meisten schreiben" etwas vorsichtig sein; denn wenn man betroffenen Gebiete — z. B. Zonenrandgebiete und heute so manche Ausführungen der Sozialdemokra- marktferne Bereiche — wirtschaftlich so erstarken ten zum Thema Wirtschaftspolitik liest, könnte man zu lassen, daß ihre Lebensfähigkeit gewahrt bleibt. sagen: haargenau aus dem Wörterbuch von Pro- Wir stehen auch hinter der Absicht der Bundes- fessor Erhard, und wenn man heute manche außen- regierung, die Auswirkungen des Richtpreissystems politischen Betrachtungen der SPD liest, kann man u. a. dadurch zu mindern, daß zusätzliche Paritäts- zu dem Ergebnis kommen, daß sie aus dem Voka- punkte geschaffen werden, wodurch dann ein Fracht- bular von Bundeskanzler Adenauer oder von Herrn kostengefälle wirksam wird. Wir erachten es für von Brentano kommen. zwingend notwendig, den Roggen in das zur Debatte (Lachen und Zurufe von der SPD. — Abg. stehende System der Getreidepolitik einzubeziehen. Wittrock: Witzbold!) Aber auch bei Berücksichtigung dieser und anderer Aber trotzdem, meine sehr verehrten Damen und in den elf Punkten von Minister Schwarz enthal- Herren, ist nach wie vor manches unklar geblieben. tenen Forderungen geben wir uns keinen Illusionen Ich möchte auf einige Punkte eingehen. darüber hin, daß die Anpassung an die neuen Bedin- gungen des Gemeinsamen Marktes alle Kräfte der Herr Brandt hat auch das Thema Föderalismus Landwirtschaft erfordern wird, und zwar besonders angeschnitten. Gerade die Bayern freuen sich na- während der ganzen zweiten Phase. Wir sollten im türlich, wenn die SPD nach langen Jahren des Irr- Augenblick noch nicht darüber sprechen, ob die tums nun so stark für den Föderalismus spricht. vertraglich vorgesehene Übergangsfrist verkürzt Die SPD braucht sich keine Sorge darüber zu ma- werden kann. chen, daß die CSU den Föderalismus etwa aufgebe; denn in den Vereinbarungen über die Bildung der Es kann in diesem Zusammenhang auch nicht be- gemeinsamen Fraktion CDU/CSU — und wir haben stritten werden, daß dem Grünen Plan in Zukunft ja nicht die Absicht, wie vielleicht mancher vor nach wie vor unsere besondere Aufmerksamkeit ge- Monaten geglaubt hat, an diesem Verhältnis CDU/ hören muß. Alle bisherigen Bemühungen zur Förde- CSU etwas zu ändern — ist auch etwas über die rung der Landwirtschaft können nicht über die Tat- Frage des Föderalismus festgelegt. Die Eigenstaat- sache hinwegtäuschen, daß wir den Grünen Plan in lichkeit der Länder wollen wir durchaus beachten. Zukunft aufstocken müssen. Ich will nicht auf Details Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 87 Dr. Dollinger eingehen, möchte aber doch sagen, daß im Hinblick genden Parteien eine Selbstverständlichkeit ist, daß auf die notwendige Technisierung und Mechanisie- diese Probleme weiterhin behandelt werden. Ich rung der deutschen Landwirtschaft vor allem die denke z. B. an die Kriegsopferversorgung. Wir sind Gewährung von ausreichenden Krediten zu trag- der Meinung, daß auch das Problem der Kriegs- baren Zins- und Tilgungssätzen von sehr großer opfer im Rahmen der fortschreitenden Sozialreform Bedeutung ist. Allein kann die Landwirtschaft diese den entsprechenden Platz haben sollte. Auch der finanziellen Mittel nicht aufbringen. Im Grünen Plan Familienpolitik wird in Zukunft unsere weitere Auf- des laufenden Haushaltsjahres waren zum erstenmal merksamkeit gelten. Ansätze für eine Sondermaßnahme für die von der Natur benachteiligten Gebiete enthalten. Wir glau- Bei dem Thema Wirtschaft wird immer wieder die Frage der ben, daß es sehr nützlich gewesen ist, die dafür Konzentration angeschnitten. Ich glaube, vorgesehenen 70 Millionen DM auszugeben. wir müssen unterscheiden zwischen solchen Konzen- trationen, die wegen der technischen Bedingungen Ich habe hier im Rahmen dessen, was der Vertrag eine gewisse Notwendigkeit sind, und solchen Kon- ermöglicht, einige Einwände zur europäischen Wirt- zentrationen, die den Wettbewerb ausschalten, die schaftspolitik vorgetragen. Ich möchte jedoch keinen Machtgebilde entstehen lassen. Wir haben im letz- Zweifel daran aufkommen lassen, daß wir selbstver- ten Bundestag den Beschluß gefaßt, eine Enquete ständlich nach wie vor zu diesen Verträgen stehen. über diese Frage zu veranlassen, und ich möchte an Wir sind aber der Meinung, daß alle Möglichkeiten. dieser Stelle sagen, daß die Bundesregierung alles die der Vertrag gegebenenfalls auch zu unseren tun sollte, um die Enquete bald zum Abschluß zu Gunsten enthällt, ausgenutzt werden müssen. bringen, damit wir auf Grund dieser Unterlagen in (Sehr gut! in der Mitte.) der Lage sind, die Folgerungen zu ziehen. Bezüglich der Importe von Nahrungsmitteln glau- Es gibt Punkte in der Regierungserklärung, die ben wir, daß zunächst einmal Waren den Vorrang wir schon vor vier Jahren gelesen haben, die aber haben sollten, die aus Ländern des Gemeinsamen nach wie vor schwierige Probleme darstellen. Ich Marktes kommen; Einfuhren aus Drittländern kom- nenne hier die Umsatzsteuerreform. Ich glaube, daß men erst in zweiter Linie. Der Handel mit Ostblock- in den letzten vier Jahren von der Regierung, zum staaten muß unserer Auffassung nach sehr vorsichtig Teil auch vom Parlament, sehr gutes Material zu gehandhabt werden. Keinesfalls darf es dahin kom- dieser Frage erarbeitet worden ist und daß es nun men, daß dieser Osthandel sich zum Nachteil unserer Aufgabe dieses Bundestages ist, zu entscheiden, wie Landwirtschaft auswirkt. eine möglichst wettbewerbsneutrale Umsatzsteuer,- die die Konzentration nicht fördert, gestaltet werden Die Sozialdemokratie hat sich auch mit dem Mittel- kann. Dabei wird zu entscheiden sein, ob dieser stand beschäftigt. Wir freuen uns, daß wir auf die- Erfolg im Rahmen des geltenden Systems durch sem Gebiet in Zukunft die Unterstützung der SPD Änderungen und Verbesserungen oder durch ein erwarten können; in der Vergangenheit haben wir neues System erzielt werden kann. sie manchmal nicht gehabt. Meine Damen und Herren, wir sollten dabei aber (Abg. Brandt [Berlin] : Wo gibt es denn das, auch nicht die Entstehung der Europäischen Wirt- daß man gegen etwas polemisiert, was dem schaftsgemeinschaft übersehen. Es muß Vorsorge ge- Haus nicht vorgetragen worden ist!) troffen werden, daß unser Wirtschaftsleben nicht Eine Regierungserklärung soll Grundsätze und durch zu häufigen Wandel von Steuern oder von Richtlinien für die Regierungsarbeit bringen. Nicht Steuersystemen in eine Unruhe hineinkommt. Es alles, was in einer Zeitspanne von voraussichtlich ist unbedingt anzustreben, daß unsere Vertretungen vier Jahren anfallen wird, kann schon in dieser in den europäischen Organen alles daransetzen, daß Regierungserklärung behandelt sein. die Harmonisierung des europäischen Steuerrechts beschleunigt wird. Es tauchen immer wieder neue Gesichtspunkte auf, wobei es darauf ankommen wird, daß die Regie- (Zustimmung bei der CDU/CSU.) rung rechtzeitig reagiert. Wir haben eine Reihe von Es könnte sonst geschehen, daß wir eines Tages Problemen, bei denen wir erst am Anfang der Lö- zwar innerhalb der Bundesrepublik wettbewerbs- sung stehen. Ich nenne die Entballung, die Raum- neutrale Steuern haben, daß aber innerhalb der ordnung; sie sind von sehr entscheidender Bedeu- Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eine Wettbe- tung, und Lösungen sind hier sicher sehr schwierig. werbsneutralität der Steuern nicht existiert und die Daß damit das Verkehrsproblem in den Städten zu- deutsche Wirtschaft dadurch Nachteile erleidet. sammenhängt, ist klar. Wir müssen uns aber auch Der grenzüberschreitende Verkehr spielt bei der darüber im klaren sein, daß in der Gesetzgebungs- Umsatzsteuer eine besondere Rolle. Im vorigen Bun- arbeit und in der Arbeit der Regierung Probleme destag hatten wir — die Regierung spricht das in auftauchen werden, die dieses Parlament nicht allein ihrer Erklärung wieder an — auch das Problem der und unabhängig lösen kann. Ich brauche hier nur Finanzreform und der Gemeindesteuern. auf den Bereich der Europäischen Wirtschaftsge- Wir haben im vergangenen Bundestag nach harten Auseinan- meinschaft hinzuweisen. dersetzungen eine Senkung bei der Gewerbesteuer Manche Punkte sind in der Regierungserklärung durchgeführt, die für den sogenannten mittelstän- nur gestreift, manche zu kurz gekommen. Das geben dischen Bereich der Wirtschaft eine Entlastung ge- wir zu. Bei manchen Punkten lag es vielleicht dar- bracht und auf der anderen Seite für die Gemeinden an,. daß es für die Regierung und für die sie tra einen Einnahmeausfall verursacht hat. 88 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Dollinger Bei den Gemeinden ergeben sich viele Probleme Zweifel die Sicherung der Konjunktur und des Wirt- auch aus einem gewissen Strukturwandel. Im Be- schaftlichen Wachstums. reich der heutigen Großstädte gab es früher rein Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist landwirtschaftliche Gemeinden, die inzwischen über- leicht und stellt kein Problem dar, eine Serie von wiegend zu Wohnsiedlungsgemeinden geworden Wünschen, eine Dringlichkeitsskala aufzustellen sind. Dort sind Aufgaben zu erfüllen — Schulhaus- für Dinge, die nun erledigt werden sollen. Viel bau, Wasserversorgung, Kanalisation —, die nach schwieriger ist die Frage, wie das Geld beschafft unserer Auffassung mit den vorhandenen Steuer- werden kann, um diese Vorhaben durchzuführen. mitteln nicht erfüllt werden können. Wir sind daher der Meinung, daß die Frage der Finanzreform und Ich habe manchmal den Eindruck, daß man es sich der Verbesserung der Einkommensverhältnisse der das etwas leicht macht. In den Finanzierungsplänen Gemeinden unbedingt behandelt werden muß. der SPD zum Regierungsprogramm war der Satz zu lesen: „Wenn die Wirtschaft wie bisher wächst, (Zustimmung bei der CDU/CSU.) dann ...". Meine Damen unid Herren, das ist rich- Es freut mich, daß sowohl der bayerische Finanz- tig: Wenn die Wirtschaft wächst ... das kommt mir minister Eberhard als auch sein Kollege in Nord- aber etwa so vor, wie wenn ich es in einem Unter- rhein-Westfalen, Herr Finanzminister Pütz, auf die- nehmen dem Buchhalter überlasse, die voraussicht- sem Gebiet einige Vorschläge gemacht haben, die lichen Gewinne zu verteilen, die man noch gar nicht nach meiner Meinung in der Zukunft eine große hat. Es kommt nicht darauf an, zu sagen: „Wenn Rolle spielen sollten. Der Herr bayerische Finanz- die Wirtschaft wächst, werden wir ..."; wir müssen minister Eberhard hat vorgeschlagen, daß die Kom- vielmehr zunächst einmal alles daransetzen, daß munen durch Erschließung eigener Steuerquellen auf die Wirtschaft wächst. Kosten der Länder unter Wahrung des föderativen Charakters der Finanzverfassung auf kräftigere Füße (Beifall bei der CDU/CSU.) gestellt werden sollen, und zwar dadurch, daß nach Denn, meine Dachen und Herren, die Hochkonjunk- einer gewissen Übergangszeit das Aufkommen aus tur ist kein Naturgesetz. Ich habe manchmal das der Kraftfahrzeugsteuer voll den Gemeinden zu- Gefühl, daß bei uns auch in der Öffentlichkeit viel fließt, die Gemeinden einen zehnprozentigen Anteil zu wenig daran gedacht wird, daß — wenn ich es an dem Ertrag der Lohnsteuer erhalten und außer- etwas übertrieben aussprechen darf — von heute dem die Grunderwerbsteuer ausschließlich den Ge- auf morgen vielleicht auch einmal wirtschaftliche meinden zufließt. Finanzminister Eberhard ist der Rückschläge eintreten können. Meinung — ich möchte sagen: der optimistischen Meinung —, daß eine solche Reform bis zum 1. Ja- (Aha! bei der SPD.) nuar 1963 durchgeführt werden könnte. Ich glaube, Es ist auch nicht damit getan, daß man in diesem daß diese Gedankengänge einer Überprüfung wert Zusammenhang nur das Problem der Großwirtschaft sind. anspricht. Wir sollten auch wissen, daß die Wirt- Die bisherige Regelung des kommunalen Finanz- schaft die Voraussetzung für die Erfüllung einer ausgleichs innerhalb der Länder sollte auch nach Reihe von entscheidenden Gemeinschaftsaufgaben Verwirklichung dieser Eberhardschen Gedanken- schafft. Ohne eine gut funktionierende Wirtschaft gänge beibehalten werden, sie sollte sogar intensi- könnten wir keine Sozialpolitik treiben. Wir haben viert werden. Wir von der CSU erkennen die Not- nicht die Absicht, die Sozialpolitik in den kommen- wendigkeit der Stärkung der kommunalen Selbst- den Jahren einzuschränken. Wir nehmen die For- verantwortung und damit zwangsläufig einer kom- derung des Grundgesetzes nach dem sozialen munalen Finanzreform gern, an und begrüßen die Rechtsstaat sehr ernst, und wir nehmen auch die Vorstellung, die der bayerische Finanzminister ent- soziale Frage aus christlicher Verantwortung ernst. wickelt hat. Die Sozialpolitik ist für die wirtschaftliche Ent- Ich hoffe, es wird möglich sein, daß Bund und wicklung auch insofern von großer Bedeutung, als Länder diese Frage möglichst bald gemeinsam auf- in ihren Bereich auch die Gesundheitspolitik fällt. greifen, damit es in diesem Bundestag gelingt, das Darüber hinaus beeinflußt die Sozialpolitik auch Problem vielleicht doch zu einem befriedigenden das Gefühl der sozialen Sicherheit, die psycholo- Abschluß zu bringen. gische Einstellung des Staatsbürgers zum Staat, zur (Beifall bei der CDU/CSU.) Wirtschaft, zur Arbeit in entscheidender Weise. Meine Damen und Herren, zu dem Thema „Außen- Wir sollten hier aber auch einmal feststellen, daß und Sicherheitspolitik" möchte ich mich nicht weiter die Sozialpolitik in den letzten Jahren nicht schlecht äußern. Das Ziel ist klar: Frieden und Freiheit gewesen ist. Die durch die Wirtschaftspolitik er- müssen bewahrt werden, die Freiheit Berlins ist zu reichte Steigerung des Lebensstandards ist den brei- erhalten. Um das alles tun zu können, ist es notwen- testen Schichten unseres Volkes zugute gekommen. dig, daß unsere Verteidigung im Rahmen der NATO Auch die Eigentumspolitik gehört in diesen Bereich. entsprechend stark ist. Ich glaube aber, daß wir Meine Freunde werden auf dieses Problem noch zu die enormen Belastungen in bezug auf die Verteidi- sprechen kommen. gung und auf Berlin nur dann werden tragen kön- Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas nen, wenn wir auf dem Gebiet der Innenpolitik eine zu den Forderungen nach höheren Löhnen, längerem klare Linie haben. Die Voraussetzung gerade für Urlaub und kürzerer Arbeitszeit sagen. Es besteht die Bereitstellung der finanziellen Mittel ist ohne die Gefahr, daß genauso, wie heute mancher Unter- Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 89 Dr. Dollinger nehmer seine Position am Verkäufermarkt übertrie- für das Parlament erst dann kommen, wenn es heißt: ben ausnützt, auf der anderen Seite auch die Knapp- Wir sind bereit, das und das zu leisten, wenn wir heit der Arbeitskräfte ausgenützt wird. Wir hatten gleichzeitig auch bereit sind, eine Deckung zu be- in den letzten Jahren eine laufende Verkürzung der schließen, das heißt neben dem Populären auch da's Arbeitszeit zu verzeichnen. Die regelmäßige wö- Unpopuläre zu tun. chentliche Arbeitszeit betrug im Jahre 1956 noch (Beifall bei der CDU/CSU.) 48 Stunden. Die erste Verkürzung von 48 auf 45 Stunden erfolgte in der Metallindustrie. Heute sind Sollten Steuererhöhungen notwendig sein, müssen wir bei 44 Stunden. 50 bis 60 % aller Arbeitnehmer sie an der Leistungsfähigkeit orientiert sein. Für — das sind immerhin 10 bis 12 Millionen — haben uns sind die Steuersätze kein Dogma. Wir sind bereits die Fünftagewoche. durchaus bereit, zu überprüfen, wenn es notwendig sein sollte, ob die Proportionalzone richtig ist, ob Die Erfahrung hat gezeigt, daß durch diese Ar- der Verlauf der Progressionskurve richtig ist, ob es beitszeitverkürzung keine Produktivitätssteigerung mit dem Plafond stimmt. Darüber kann man erfolgen konnte. Wir müssen daran denken, daß sprechen. übertriebene Arbeitszeitverkürzungen die Leistun- gen unserer Wirtschaft in ein Gefälle bringen kön- Aber ich möchte vor einem warnen, nämlich da- nen. Eine Zahl sollte uns doch etwas zu denken ge- vor, so zu tun, als ob man mit einer Belastung der ben — ich lasse jetzt einmal den Umstand, daß auf großen Einkommen das Problem lösen könnte. den einzelnen Menschen eine höhere PS-Zahl ent- (Abg. Burgemeister: Sehr richtig!) fällt, außer (Betracht und stelle Mensch und Arbeits- zeit einander gegenüber —: Im Jahre 1960 lag die Die SPD hatte in ihrem Regierungsprogramm einige Zahl der Beschäftigten gegenüber 1956 um 8 % hö- Vorschläge gemacht, die auf eine stärkere Belastung her; die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden war die der Großverdiener hinauslaufen. Auch das Problem gleiche. der Staffelung der Vermögensteuer, der Erbschaft- Ich betone noch einmal: Vorrang der Wirtschafts- steuer, einer höheren Belastung der Körperschaften politik im Inneren auch 'bei der Gesetzgebung und und der Einkommen über 100 000 DM wurde zur damit auch hei der Steuerpolitik. Von der Oppo- Sprache gebracht. Nach den eigenen Angaben der sition wird immer wieder eine gerechtere Vertei- SPD würden derartige Maßnahmen zu einer Mehr- lung der Steuerlast gefordert. Über die Frage, ob einnahme von 1,735 Milliarden DM führen. Das eine gerechtere Verteilung möglich ist, kann man klingt nach sehr viel. Halte ich dem aber entgegen, ohne Zweifel streiten. Immerhin haben wir im Jahre welch einen Steuerausfall die Erhöhung der Pausch- 1958 unter Herrn Finanzminister Etzel eine enorme beträge für Werbungskosten und Sonderausgaben Entlastung der Steuerzahler durchgeführt. Wir ha- von 1200 DM auf 2400 DM zur Folge hätte, dann ben damals 45 % der Arbeitnehmer von der direk- sieht es schon ganz anders aus. Eine solche Ver- ten Steuerzahlung freigestellt. doppelung der Pauschbeträge würde allein schon einen Steuerausfall von 2,5 Milliarden DM ver- (Beifall bei der CDU/CSU.) ursachen. Ein solcher Satz war vorher nie zu verzeichnen. Meine Damen und Herren, ich warne daher vor (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) der Annahme, man könne durch eine Belastung der Ich gebe Ihnen zu, daß der Prozentsatz heute nicht verhältnismäßig wenig großen Einkommen enorme mehr bei 45, sondern zwischen 36 und 38 liegt, und Mehreinnahmen erzielen. Wir sollten bei unserer zwar weil seit 1958 die Löhne und Gehälter gestie- Steuerpolitik immer berücksichtigen, ob es tragbar gen sind. Ich darf auch darauf hinweisen, daß ab Ist, daß der Leistungswille unserer Wirtschaft und 1. Januar 1962 für Verheiratete mit Kindern eine der in der Wirtschaft Tätigen durch Steuererhöhun- weitere steuerliche Entlastung eintritt, nachdem der gen vermindert wird. Wir sollten uns weiter fragen: Freibetrag für das erste Kind von 900 auf 1200 DM Will man, daß die Steuererhöhungen durch Preis- erhöht worden ist. erhöhungen zu Lasten des kleinen Mannes abge- wälzt werden? Nun einige Bemerkungen zur künftigen Steuer- politik. Wir wünschen keine Steuererhöhungen. Wir Wir sollten schließlich prüfen, ob wir es verant- glauben, daß in erster Linie Sparsamkeit Platz grei- worten können, daß die Wettbewerbsfähigkeit der fen muß. deutschen Wirtschaft in der EWG und auf dem (Abg. Niederalt: Das ist leichter gesagt (als Weltmarkt durch übermäßige oder unterschiedliche getan!) steuerliche Belastung in Frage gestellt wird. Hier muß gesagt werden, daß die steuerliche Belastung Ich bin mir darüber im klaren, daß das eine proble- der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren an- matische Geschichte ist. Aber wir sollten diesen Ge- gestiegen ist. Wir haben eine steuerliche Belastung sichtspunkt immer im Auge behalten. Vielleicht von 25 % des Bruttosozialproduktes erreicht. Ich kommen wir schneller, als wir in den letzten Jahren darf darauf hinweisen, daß wir unter Hinzurechnung glaubten, an den Rand ides Defizits. Die Probleme, der Sozialabgaben mit 35 % die höchste Belastung die dann auftauchen, werden auch für das Parlament erreicht haben. Zum Vergleich sei gesagt, daß Frank- schwieriger werden. In den letzten Jahren konnten reich, Norwegen und Schweden knapp über 30 % wir Ausgaben immer leicht beschließen, denn wir liegen, die anderen Staaten unter diesem Satz. Ich brauchten uns über die Deckung im allgemeinen meine also, daß wir auf diesem Gebiet sehr vorsich- keine Sorge au machen. Die Schwierigkeiten werden tig sein sollten. 90 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Dollinger Landwirtschaftspolitik, Mittelstandsförderung, re starken Befürchtungen, die man ausgesprochen gionale Wirtschaftspolitik, all das sehen wir unter hatte, als unbegründet erwiesen haben. dem Gesichtspunkt einer Stärkung des Wachstums Ich glaube, daß es Aufgabe der Bundesregierung der gesamten Volkswirtschaft. sein wird, auch durch eine Abstimmung von Wirt- Ich darf auch einmal einige Sätze zu der Frage der schafts- und Sozialpolitik zu versuchen, zu einer Selbständigen sagen. Im Zusammenhang mit der gesamtwirtschaftlichen Konzeption zu kommen. Die wirtschaftlichen Entwicklung und dem Konzentra- Sozialpartner haben die Tarifautonomie. Wir soll- tionsproblem wird immer wieder darauf hingewie- ten aber auch an dieser Stelle auf die große Verant- sen, daß die Selbständigen bei uns in zunehmender wortung hinweisen, die den Tarifpartnern mit die- Gefahr sind. Im allgemeinen wird auch gesagt, die ser Autonomie gegeben ist. Wir haben in manchen Zahl der Selbständigen nehme laufend ab. Nun, Wirtschaftszweigen in den letzten Monaten gewisse meine Damen und Herren, die Frage der Selbstän- Rückgänge in der Entwicklung zu verzeichnen. Auf digkeit ist nicht nur eine Frage der Wirtschaftsord- diese Dinge wird später noch eingegangen werden. nung, nicht nur eine Frage der Gesetzgebung und Wir sind froh, daß die Erscheinungen der Über- der steuerlichen Belastung, sondern ist auch eine hitzung vorüber sind. Wir glauben, daß damit auch Frage der persönlichen Einstellung dahingehend, ob manche Angriffe gegen uns im Rahmen der Welt- jemand bereit ist, sich auf eigene Füße zu stellen, handelspolitik gegenstandslos geworden sind. Die Risiko und Verantwortung zu übernehmen. anormalen Zuwachsraten der letzten Jahre werden (Beifall bei der CDU/CSU.) wir in Zukunft nicht mehr haben. Das Wirtschafts- Ich freue mich, feststellen zu können, daß die Ent- leben wird sich normalisieren. Das wird auch Rück- wicklung der Selbständigen gar nicht so schlecht ist, wirkungen auf die Steuermittel haben, die dem wie man es häufig glaubt. Wir haben im Jahre 1950 Bund und den Ländern zur Verfügung stehen. 3,24 Millionen Selbständige gehabt. Wir wissen, Im Zeichen der sich anbahnenden Normalisierung daß z. B. in der Landwirtschaft die Zahl der Selb- gilt es zu vermeiden, daß wir von der Szylla der ständigen seit den letzten zehn Jahren um 110 000 Überhitzung an die Charybdis der Rezession gera- abgenommen hat. Wir haben im Jahre 1956 3,21 ten. Wir müssen versuchen, das Wachstum in ruhige Millionen Selbständige gehabt. Im Jahre 1960 und stetige Bahnen überzuleiten. Die Tarifpartner stellt die Statistik die Zahl der Selbständigen wie- sollten bei ihren Überlegungen die Lage der ge- derum mit 3,24 Millionen fest, d. h. die Zahl ist noch samten Volkswirtschaft niemals aus dem Auge las- genauso hoch wie im Jahre 1950, wenn zwischen- sen. In diesen Tagen ist zu lesen, daß z.- B. die durch auch eine Schwankung zu verzeichnen gewe Metallarbeiter-Gewerkschaft eine Nominallohnerhö- sen ist. Diese Tatsache widerlegt die manchmal aus- hung, eine Arbeitszeitverkürzung und eine Urlaubs- gesprochene Behauptung, daß die Selbständigen in verlängerung mit einer Auswirkung von 17 % unserer Wirtschaftsordnung zum Untergang verur- Lohnerhöhung fordert. Es scheint mir sehr fraglich teilt seien. zu sein, ob das volkswirtschaftlich vertretbar ist. Die wirtschaftliche Lage, wie wir sie haben — die Die Regierung wird die Pflicht haben, Wirtschafts-, Hochkonjunktur —, hat ohne Zweifel auch ihre Ge- Finanz- und Sozialpolitik zu koordinieren. Wir be- fahren. Sie kennen den gegenwärtigen Stand der grüßen das Bekenntnis der Bundesregierung zur Arbeitslosigkeit: wir haben zur Zeit 113 000 Ar- sozialen Marktwirtschaft. Wir sind der Meinung, beitslose. Wir wissen, daß 600 000 offene Stellen daß hier eine Fortentwicklung notwendig ist und vorhanden sind. Aus diesem Spannungsverhältnis daß die moderne Industriegesellschaft uns laufend ergeben sich eine Reihe von Schwierigkeiten. Probleme stellt, die zu lösen sind. Es kann kein Zweifel sein, daß sich in den letzten Die soziale Marktwirtschaft wird es uns ermög- Jahren die Schere zwischen Produktivität und Lohn- lichen, die wirtschaftlichen Kräfte unseres Volkes entwicklung geöffnet hat. 1959 betrug z. B. die auf der Grundlage der persönlichen Initiative und Lohnsteigerung 5 % bei einer Erhöhung der Pro- der Verantwortung weiterzuentfalten. Wir begrü- duktivität um 5,5 %. Im Jahre 1961 ist bisher eine ßen daher auch die Ankündigung der Regierung Lohnsteigerung von 10,5 % festgestellt worden, bezüglich der Verbesserung der Wettbewerbsver- während der Produktivitätsfortschritt bei nur 4 % hältnisse, weil wir glauben, daß die soziale Markt- liegt. Das ist ein offenes Mißverhältnis, und wir wirtschaft ohne Wettbewerb einfach nicht existieren müssen uns darüber im klaren sein, daß eine Wei- kann. terentwicklung in diesem Sinne für unsere gesamte Wir begrüßen auch die Feststellung der Regie- Volkswirtschaft sehr schwerwiegende Folgen haben rung, daß die Währung gesund erhalten werden kann. soll; denn der deutsche Sparer hat ein Anrecht, zu wissen, daß auch an ihn gedacht wird. Es kann Wir sind heute noch dankbar, daß die vergangene erfreulicherweise festgestellt werden, daß die Spar- Regierung durch die Aufwertung der D-Mark — tätigkeit in den letzten Jahren zugenommen hat. wenn diese auch für manche Bereiche beachtliche Sie betrug pro Kopf der Bevölkerung im Jahre 1950 Schwierigkeiten gebracht hat — stark zur Beruhi- 92 DM, und sie betrug im Jahre 1960 897 DM. gung des Wirtschaftslebens beigetragen hat. Es kann festgestellt werden, daß trotz dieser Maß- Meine Damen und Herren, die Regierungserklä- nahme heute die Kapazitäten unserer Wirtschaft rung hat keinen Zweifel daran gelassen, daß wir ausgenutzt sind und Reserven an Arbeitskräften nun in Jahre hineinkommen, in denen von uns nicht zur Verfügung stehen, daß sich also manche Opfer verlangt werden, Opfer für die Erhaltung Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 91 Dr. Dollinger von Frieden und Freiheit. Auch die Opposition hat dann nehmen wir auch noch jemanden mit, das ist von dieser Opferbereitschaft gesprochen. Ich glaube, selbstverständlich. daß wir den verbündeten Völkern nicht zumuten (Beifall und Heiterkeit bei der SPD. — Abg. können, Lasten zu tragen, wenn wir nicht bereit Dr. von Brentano: Mit Vergnügen!) sind, das gleiche zu tun. Aus diesem Grund habe Nachdem wir uns einmal darüber verständigt haben, ich auch einige Bedenken gegen den umfangreichen Katalog der Versprechungen der Sozialdemokratie. müssen wir die Spielregeln einhalten. Das ist das eine. In der westlichen Welt sieht man manchmal mit (Abg. Dr. von Brentano: In Ordnung!) Neid auf die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland, Nun ein Zweites! Was ist der Sinn einer Debatte, und wir sollten nicht dazu beitragen, daß dieser wie wir sie heute hier miteinander führen? Ich hatte Neid noch vergrößert wird. Wir sollten den Ernst vorhin bei dem Echo, das mein Freund der Stunde begreifen. Wir sollten uns darüber im mit manchen Teilen seiner Rede auf der anderen klaren sein, daß wir als Parlament dem Volk nur Seite des Hauses fand, das Gefühl, daß man es als dann Opfer zumuten können, wenn das Parlament unziemlich oder beinahe als unziemlich betrachtet, mit guten Beispielen vorangeht. wenn die Opposition sich herausnimmt, in manchen (Beifall bei der CSU.) Punkten mit der Bundesregierung — mit der jetzigen oder auch der früheren — unzufrieden zu sein. Las- Aus diesem Grunde scheint es mir absolut notwen- sen Sie mich das hier ganz klar sagen: Es wäre eine dig zu sein, daß wir im Deutschen Bundestag dar- ganz schlechte Opposition, die nicht auch die Regie- auf verzichten, Anträge zu stellen, die nicht in diese rung und die Mehrheitsparteien durch ihre kritischen Linie hineinpassen, die vielleicht auf Popularitäts- Einwände, vielleicht sogar einmal durch ihre zuge- hascherei beruhen. spitzt kritischen Einwände immer wieder zur Über- Wir hoffen, daß die freiheitliche Gesellschafts- prüfung der Richtigkeit ihrer eigenen Auffassung ordnung gewahrt werden kann. Wir hoffen, daß zwingen würde. auch in der Hochkonjunktur Arbeitgeber wie Ar- (Beifall bei der SPD, in der Mitte und rechts.) beitnehmer gesamtvolkswirtschaftlich verantwort- Deshalb müssen wir aufeinander hören. Deshalb lich handeln. In den nächsten Jahren geht es doch ist es sicher so, daß in manchen Dingen — ich nicht darum, kleine egoistische Vorteile da und dort spreche gar nicht von heute, sondern von vergange- zu erzielen, sondern es geht darum, die Freiheit nen Debatten und von manchem, was auch im Lande unseres gesamten Volkes zu erhalten. Wenn es bei losgeht — diejenige politische Gruppe, die nicht im der NATO heißt „Wachsamkeit ist der Preis der Vollbesitz der Informationen der Regierung ist, in Freiheit", dann könnte über unsere Arbeit geschrie- der einen oder anderen Frage einmal über das Ziel ben werden: „Der Preis der Freiheit soll Verant- hinausschießt, in der einen oder anderen Frage ein- wortung heißen". mal einen Pfeil losläßt, bei dem die Regierung nach- (Beifall bei den Regierungsparteien.) her mit anderen Informationen aufwarten kann. Auch das ist ganz natürlich. Diese Auseinandersetzungen zwischen Regierung, Vizepräsident Schoettle: Das Wort hat der Regierungsparteien und Opposition sind das Salz Abgeordnete Erler. einer parlamentarischen Demokratie. (Beifall bei der SPD und bei den Regie- rungsparteien. — Abg. Niederalt: Aber das Erler (SPD) : Herr Präsident! Meine sehr verehr- Salz darf sich nicht zu Klumpen versteinern!) ten Damen und Herren! Herr Kollege Dollinger hat zu Beginn seiner Ausführungen das Verhältnis der — Na, den Eindruck, daß ich so ein versteinerter beiden Teile der Arbeitsgemeinschaft CDU/CSU in Klumpen bin, habe ich bisher eigentlich nicht gehabt. der einheitlichen CDU/CSU-Bundestagsfraktion er- Ich kenne da ganz andere, etwas umfangreicher ge- läutert. Das gibt mir Anlaß zu einer Feststellung. ratene Exemplare von Volksvertretern; Der Kollege Dollinger hat soeben als zweiter Spre- (Heiterkeit) cher der Fraktion der CDU/CSU gesprochen. Damit aber darüber wollen wir nicht weiter reden. das auch unter uns ganz klar ist: wir hatten uns Man kann es doch wohl offen aussprechen: Die darauf geeinigt, daß die CDU/CSU-Fraktion sich Regierung sorgt schon dafür, daß ihr genug Lob ge- nicht nach Bedarf in ihre Bestandteile zerlegen kann: spendet wird; da muß sie gelegentlich auch einmal (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.) ein Quentchen Kritik und Tadel vertragen können. mal ist sie eine einheitliche Fraktion, und mal spielt (Abg. Niederalt: Da haben Sie recht!) sie Doppelkopf; das geht nicht. Aber noch ein weiteres Wort zur Rolle der Oppo- Es ist nicht nur ihre Aufgabe, Kritik zu (Erneuter Beifall bei der SPD.) sition. üben — manchmal wird das aber, und deswegen Ich sage das deshalb, damit wir uns darüber ver- habe ich das hier gesagt, als scheinbar nebensäch- ständigen: wenn wieder einmal die Fraktionsvor- lich, unerwünscht oder schädlich behandelt —, oh sitzenden zu Besprechungen beim Herrn Bundes- nein, sie muß noch mehr tun. Sie ist ein wesentlicher kanzler erscheinen und der Fraktionsvorsitzende der Faktor in unserem Staatsleben. Sie trägt diesen Staat CDU/CSU glaubt, er müsse noch jemanden mitneh- mit, men, dann bitte ich, daß er uns das wissen läßt; (Sehr gut! in der Mitte) 92 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Erler auch wenn sie nicht auf den Bänken der Regierung nächst: Wir nehmen den Tatbestand, wie er ist. Das sitzt. Sie hat diesen Staat mit geschaffen. hat mein Freund Willy Brandt gesagt: Dies ist (Beifall bei der SPD und bei den Regie jetzt die Bundesregierung für uns alle. rungsparteien.) Trotzdem möchte ich mir die Bemerkung nicht Sie hat das Grundgesetz, in dessen Geist wir arbei- ganz versagen, daß eigentlich angesichts der Lage, ten, mit erarbeitet und mit beschlossen. Daran darf in der sich unser Volk auch heute noch befindet, ich auch einmal erinnern. Sie trägt Verantwortung nicht nur am 13. August und in den Wochen, die in Ländern und Gemeinden, auch in der unmittel- ihm folgten, befunden hat, ein unüberhörbares Sig- baren Ausführung von eigenem Mandat und nicht nal für die Umwelt hätte aufgerichtet werden müs- lediglich in der Rolle der Opposition. Soviel zu die- sen, dem zu entnehmen ist: in diesen gefährlichen sem Punkt. Stunden rücken die freien Deutschen in der Bun- desrepublik 'Deutschland so eng zusammen, wie das Der Herr Kollege Mende hat einiges über die zur Wahrung der Lebensinteressen unseres Volkes Entstehungsgeschichte der jetzigen Bundesregie- nur irgend möglich ist. rung gesagt — auch die anderen Sprecher sind dar- auf eingegangen — und mit einem gewissen Stolz (Beifall bei der SPD.) auf die sichere Mehrheit verwiesen: 309 Abgeord- Das wäre überlegenswert gewesen, und zwar zur nete stünden hinter der Regierung, und die Oppo- Abwehr von Gefahren, die auch heute noch nicht sition zähle deren 190. Er hat also dabei die Ber- ausgeräumt sind. liner einmal weggelassen. Meine Damen und Her- ren, der Herr Kollege Mende hat einen Zwischen- Vizepräsident Schoettle: Herr Abgeordneter, ruf überhört. Dieser Zwischenruf bezog sich nicht gestatten Sie eine Zwischenfrage? auf Wahlen draußen im Lande — wie die ausgegan- (SPD) : Bitte. gen sind, das wissen Sie so gut wie wir; wir haben Erler: beide ungefähr die gleiche Stimmenzahl gewon- Dr. Burgbacher (CDU/CSU) : Sehr verehrter Herr nen; so ist das gar nicht —, sondern die Wahl, von Kollege Erler, glauben Sie nicht, daß der Eindruck der die Rede war, war die Wahl des Bundeskanz- von der Einheitlichkeit der freien Deutschen im Aus- lers, und da machte unser Zwischenrufer nur ganz land noch größer sein könnte, wenn Sie in der bescheiden darauf aufmerksam, daß es doch selt- Opposition in allen Grundfragen der Außenpolitik sam sei, daß der Bundeskanzler bei einem so klaren mit uns eine gemeinsame Haltung einnehmen? Mehrheitsverhältnis und bei einem so gutbesuchten - Haus gerade acht Stimmen über das Existenzmini- (Lachen 'bei der SPD.) mum hinaus bekommen hat. Erler (SPD) : Herr Kollege Burgbacher, ich glaube (Beifall bei der SPD. — Abg. Brandt [Ber das ehrlich gestanden nicht, einmal weil ich nach lin]: Mit den Berlinern von fünf Stimmen! unseren bisherigen Erfahrungen loyalerweise Zwei- — Gegenrufe von der Mitte. — Abg. fel anmelden muß, ob das ehrliche Bemühen um die Dr. Mende: Art. 38 des Grundgesetzes! Ein Erarbeitung einer gemeinsamen Linie und nicht nur Beweis für die Nichtverfassungswidrigkeit der Wunsch, die Opposition möge sich hinten an- des Koalitionsabkommens!) schließen und dadurch die Gemeinsamkeit bekun- — Ich registriere auch nur. Mein Freund Willy den, ohne weiteres schon vorausgesetzt werden Brandt hat sich vorhin dazu geäußert, wobei übri- kann, zum zweiten weil ich wirklich und wahrhaftig gens dann die Frage erlaubt sein mag, wozu Sie der Meinung bin — gut, die Dinge sind vorbei; das Abkommen überhaupt geschlossen haben, wenn trotzdem sage ich es mit Bedauern —, daß man es heute nicht mehr gilt, obwohl es nicht verfas- angesichts der außerordentlichen Umstände, in de- sungswidrig ist. nen wir heute unser Staatsschiff zu steuern gezwun- (Beifall bei der SPD.) gen sind, für die Zeit der Bewältigung dieser Um- stände — weiß Gott nicht, für alle Zeit, das ist Aber das ist ein anderer Punkt. Mit dem Koalitions- selbstverständlich — auch der Umwelt gegenüber abkommen müssen Sie sich beschäftigen, das ist zu einer solchen Handlung der Entschlossenheit und nicht unsere Sorge, meine Damen und Herren. Dar- der Demonstration mit Nutzen hätte kommen ;,kön- auf ist Herr Kollege Mende gekommen und nicht nen. Ich entsinne mich, daß der Kollege Reinhold ich. Ich habe von idem Koalitionsabkommen über- Maier hier einmal gesagt hat: Was muß eigentlich haupt nicht gesprochen, sondern von der Entste- in der Bundesrepublik alles passieren, damit ein- hung der Bundesregierung. Sicher gehört das Ab- mal etwas passiert? kommen in die Entstehungsgeschichte hinein. Es ist gewissermaßen die Geburtsurkunde. Aber auf dem Der Kollege Katzer — allerdings gebe ich zu: Taufschein stehen nachher ganz andere Sachen, und Am Fernsehen hat einer seiner Koalitionskollegen das ist ja auch interessant zu sehen. etwas schnippisch gefragt: Wer ist Herr Katzer?; ich hoffe, daß er sich demnächst auch einmal bei (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.) seinen neuen Koalitionsfreunden persönlich vor- Bei der Erörterung der Entstehungsgeschichte ist stellt; das wird er sicher tun —, der Kollege Katzer nun gefragt worden, ob es richtig war, daß man hat in der Sozialen Ordnung" einen nachdenkli- sich in der Öffentlichkeit so hart dazu äußerte, daß chen Satz geschrieben: es nun zu der engen Koalition und nicht doch zu Wenn die außenpolitische Situation gegen eine einer Allparteienregierung gekommen sei. Zu Minderheitsregierung spricht, spricht sie dann Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 93 Erler nicht für eine Allparteienregierung? Darauf ist seien, sich unser Volk in einer Notlage befinde. eine befriedigende Antwort .... nicht gegeben Denn was in Berlin und was in der Zone geschieht, worden. Deshalb stellt sich doch wirklich die das geschieht auch in Deutschland, meine Damen Frage, was muß denn noch passieren, um eine und Herren; solche Rechtfertigung zu geben? Genügt die (Beifall bei der SPD.) bedrängte Situation in Berlin nicht, genügt das das ist ein Vorgang, der sich in der ganzen Nation harte Schicksal unserer Landsleute in der Zone abspielt; und wir hier sprechen — das nicht? ist der Auf- trag unseres Grundgesetzes — für jene Deutschen, Diese Frage habe nicht ich gestellt, sie stammt aus die nicht in Freiheit sprechen können, und in dem Ihrer Mitte, meine sehr verehrten Damen und bescheidenen Maße unserer Möglichkeiten sind wir Herren! aufgerufen, für sie zu wirken. Daraus aber hätte Kollege Mende, ich kenne einen Abgeordneten sich wahrscheinlich eben doch eine andere Konse- dieses Hauses, der einmal in einer Lage, in der es quenz ableiten lassen müssen. noch keine Mauer gab, als man sich in Berlin noch frei bewegen konnte, als noch wesentlich mehr Ver- Vielleicht hätte das, verehrter Kollege von Bren- bindungen zu den geknechteten Landsleuten in der tano, auch einen gewissen Einfluß gehabt auf die Gefühle, die Zone möglich waren, als noch manches ein bißchen Sie mit Recht hier erwähnt haben, die offener war als heute, einer Lage, in der das so- in der jungen Generation unserem Staatswesen ge- wjetische Ansinnen auf Abtrennung Berlins aus un- genüber sich vielleicht noch nicht ganz so entwickelt serer Lebensgemeinschaft und auf völkerrechtliche haben, wie es sein sollte. Ich glaube, ein solches Stück Vorleben hätte vielleicht manchem klar- Zementierung der Spaltung Deutschlands in der Form der von der Sowjetunion vorgeschlagenen gemacht, daß die Bundesrepublik Deutschland der Verträge noch nicht auf dem Tisch lag, — ich kenne freie Teil des deutschen Vaterlandes ist und daß je- also einen Abgeordneten, der damals leine Forcie- der junge Mensch wissen muß und wissen kann, daß des, rung in Richtung auf eine solche Allparteienregie- was wir hier tun, nicht auf den Wirkungs- rung gestellt hat. bereich der Bundesrepublik Deutschland beschränkt bleibt, sondern dazu bestimmt ist, dem ganzen deut- (Zuruf von der FDP.) schen Volke und dem ganzen deutschen Vaterland Er hat ,gesagt: Der Deutsche Bundestag hat vier zu dienen. Tage lang darum gerungen, ob der Friede Deutsch- In dieser äußeren Lage nun, in diesen Drohungen, lands auf dem Wege über eine Politik des entspan- unter denen wir zu leben gezwungen sind,- kommt nenden Ausgleichs zwischen Ost und West gesucht es darauf an, dieses freie Stück unseres Vaterlan- wenden soll, oder ob es der abschreckenden Wir- des, die Bundesrepublik Deutschland und den freien kung deutscher Atomwaffen zur Sicherung des Frie- Teil unserer deutschen Hauptstadt Berlin, auch im dens bedürfe; und er hat nach weiteren Passagen Innern so stabil, so krisenfest, so sicher, so freiheit- dann daraus die Folgerung gezogen, daß eine Re- lich und so gerecht wie möglich zu gestalten. gierung gebildet werden sollte, die imstande sei, das Programm des nationalen Notstands auszufüh- Ich will mich zu diesen verschiedenen Themen ren, und zwar unter einem Bundeskanzler, der der etwas äußern und bekenne offen, daß ich dabei stärksten Fraktion dieses Hauses entstamme und keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe; das ist der den Willen und die Eignung für eine gemein- ausgeschlossen; man kann nur auf einige Probleme same Außenpolitik besitze. Gemeint war klar und aufmerksam machen. eindeutig eine Allparteienregierung. Der Sprecher, In der Debatte hat z. B. der Kollege Dollinger von icier das damals gesagt hat, war Dr. Mende. dem Föderalismus als einem Ordnungsprinzip in (Agb. Dr. Mende: Der Sprecher war ich, unserem Staate gesprochen. Ich bin ihm hier noch und Sie haben sich dem verschlossen; Sie eine Antwort schuldig. Es steht nicht nur — aber haben Nein dazu gesagt!) das ist schon wichtig genug — in unserem Regie- Der Sprecher war Dr. Mende! rungsprogramm, daß die sozialdemokratische Bun- (Zuruf von der FDP.) desregierung — wenn sie gekommen wäre — den föderalen Aufbau der Bundesregierung achten und Offenbar ist also die Notlage nach Ihrer Meinung vertrauensvoll mit den Ländern zusammenarbeiten damals größer gewesen als heute. Eine ganz inte- wird, sondern unser Verhältnis zum Föderalismus ressante Feststellung. als Ordnungsprinzip fließt seit 1945, und nicht erst (Zurufe.) seit 1949 — etwa Weil wir hier auf den Bänken der Eine ganz interessante Feststellung! Opposition sitzen — aus anderen Quellen. Wir haben in Deutschland auf sehr schmerzliche Weise (Abg. Wehner: So 'ein Spieler ist das! — alle miteinander eingeprügelt bekommen, wie we- Abg. Mende: Zumindest war es ein ent sentlich für die Bewahrung der Freiheit der Bürger scheidender Wendepunkt und der Beginn unseres Landes es ist, daß Macht sich nicht in der atomaren Rüstung!) unguter und vielleicht noch dazu unkontrollierter Meine Damen und Herren, ich bin nun einmal der Weise in zu wenigen Händen zusammenballt. In Meinung, daß wir das, was in unserem Volke ge- Stunden von Gefahren muß man Macht konzentrie- schieht, nicht so eng sehen dürfen, daß nur, wenn ren. Auch das ist eine Binsenweisheit. Aber der unmittelbar Leib, Leben und Eigentum von Einwoh- innere Zustand eines Staates ist um so freiheitlicher, nern der Bundesrepublik Deutschlands bedroht je mehr wir noch über die klassischen Grundsätze 94 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Erler der Gewaltenteilung hinaus versuchen, die Macht Aber die Gemeindefreiheit muß auch dafür sorgen, faktoren einander in der Balance halten zu lassen. daß das, was eigenständig geregelt werden kann, auf (Abg. Dr. Dr. h. c. Dresbach: Aber, Herr der örtlichen, überschaubaren Ebene wirklich in die Erler, eure Väter dachten etwas anders!) Hand genommen wird. Daher, was heute in der Debatte über die Regierungserklärung an den ver- — Entschuldigen Sie, unsere Väter haben auch noch schiedensten Punkten anklang, das Bemühen um die keinen hinter sich gehabt. Es ist doch Wiederherstellung der Autonomie unserer Gemein- wohl erlaubt, aus der Geschichte zu lernen. den auf einem doppelten Wege. Einmal auf dem (Lebhafter Beifall bei der SPD.) Wege einer Neugestaltung der Finanzverfassung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, wo die Ich meine, es gibt andere, die waren früher Föde- Gemeinden als dritte Säule eingezogen werden ralisten und haben sich inzwischen in Zentralisten müssen. verwandelt. Aber das will ich nicht als einen grund- sätzlichen Wandel ansehen, sondern das hängt so Hier wurde der Minister Eberhard so gelobt. Nun mit der zufälligen Regierungsverantwortung zusam- erheben wir keine Urheberrechtsklagen, so ist das men, das kann wieder vergehen. gar nicht, aber das steht auch wieder in unserem Regierungsprogramm, daß die Gemeinden an dem (Heiterkeit bei der SPD.) Aufkommen ertragreicher und krisenfester .Steuern Das Prinzip der Gewaltenteilung in unserer Ge- beteiligt werden und in diesem Sinne dritte Säule sellschaft reicht doch heute weit hinaus über die unserer Finanzverfassung werden müssen. klassischen Regeln des Zusammenspiels von Legis- Gut, wenn wir uns so weit einig sind, hoffe ich, ganze lative, Exekutive und Justiz. Sie haben die daß sich, obwohl man uns vor der Wahl dafür be- bunte Fülle der Verbände, der Parteien, die alle schimpft hat und gesagt hat, das sei wegen der ein Stück Einfluß auf den politischen Bereich aus- fehlenden Zweidrittelmehrheiten und der fehlenden üben. Sie sind nicht vom Übel, sondern in einer Grundgesetzergänzung und wegen der Länder gar freiheitlichen und in einer pluralistischen Gesell- nicht möglich, nun vielleicht doch in gemeinsamer schaft notwendig. Nur müssen wir wissen, daß das Arbeit alle die zusammenfinden, die man für ein dort zu einem Übel werden kann, wo eine be- so großes Werk braucht, und daß man das große stimmte Gruppe, ausgestattet mit einem Übermaß Werk der Neuordnung der Finanzverfassung in der an Macht, versucht, ihr Gruppeninteresse dem All- Bundesrepublik Deutschland in Angriff nimmt. Ich gemeinwohl vorgehen zu lassen. Das wissen wir möchte diese Hoffnung hier — ausdrücklich- im doch alle, und darum müssen wir also ringen, daß Namen meiner Freunde — aussprechen. Erst dann dies nicht eintreten kann. sind die Gemeinden imstande, die ihnen obliegenden Hierhinein gehört nun ein klares Bekenntnis zum Aufgaben auch eigenständig zu erfüllen. Allerdings machtverteilenden Prinzip des Föderalismus in einer sollte man sie dann zweitens auch nicht in der Er- demokratischen Gesellschaft. Jawohl, dazu sagen füllung dieser ihrer eigenständigen Aufgaben hin wir uneingeschränkt ja. dern, wie das gelegentlich durch Bundesgesetze — noch kurz vor dem Auseinanderlaufen des vorigen (Bravo! in der Mitte.) Bundestages — geschehen ist. Darüber müssen wir Das ist aber noch lange nicht identisch mit Parti- auch noch einmal nachdenken. Die Gemeinden dür- kularismus; denn beim Partikularismus streben die fen in ihren örtlichen Aufgabenbereichen nicht ver- Teile vom Ganzen weg. Beim Föderalismus wissen kümmern. sie, daß sie ans Ganze gebunden sind und eine un- Was wollen wir daraus lernen? — Daß die Demo- trennbare Schicksalsgemeinschaft bilden, Stücke des kratie, in der wir uns bewegen, nie vollendet ist, Ganzen sind. Das heißt, daß gerade der Föderalist daß sie eine ständige Aufgabe bleibt, immer neue überall dort, wo er wirkt, wissen muß, daß auch die Probleme stellt. Unsere Gesellschaft ist einem be- Länder dem Ganzen verpflichtet sind so wie das ständigen Strukturwandel unterworfen — sie fließt Ganze den Teilen. Sonst, meine Damen und Herren, —, und infolgedessen werden auch die Organisa- könnte es z. B. nicht gehen, wie es unser Grund- tionsformen, die politischen Regeln, die Gesetze, die gesetz vorsieht, daß die Kulturpolitik von den Län- wir hier zu beschließen haben, immer wieder diesem dern in den entscheidenden Bereichen getragen wird, Wandel angepaßt werden. weil es sich doch wohl um eine „deutsche Kultur" Aber dabei kommt es u. a. darauf an, daß wir handelt, eine Kultur, die dem ganzen Volke eigen unsere Rolle richtig spielen; ich meine die Rolle des ist, wenn sie auch in manchem Ausprägungen ört- Parlaments, das nicht ein ausführendes Organ der licher Art hat. Bundesregierung ist, sondern das als Ganzes der Hierher gehört auch, daß wir das Prinzip der Ge- Regierung als Kontrolleinrichtung gegenübergestellt meindefreiheit sehr ernst nehmen. Ich kenne Föde- ist. Auch das müssen wir sehen: diese lebendige ralisten, bei denen reicht das föderalistische Prinzip Spannung nicht nur zwischen Regierungsmehrheit genau noch bis zum Verhältnis zwischen Land und und Opposition, sondern zwischen Parlament und Bund; Regierung, gehört auch zu den Notwendigkeiten, (Zuruf von der SPD: Genau!) die wir beachten müssen, um die Freiheit zu bewah- aber im Land hätten sie ganz gern ,die französische ren, und es gehört dazu, daß das Parlament dabei Präfekturverfassung. Das sind mir schöne Födera- auch auf seine eigene Behandlung durch die Regie listen! rung achtet und ein gewisses Maß von Selbstachtung (Heiterkeit.) entfaltet, damit wir Vorbild für draußen werden. Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 95 Erler Unsere Demokratie hat leider nicht die lange Ge- worden, für Notfälle Vorkehrungen zu treffen. Seien schichte, wie sie gewachsene Demokratien in man- wir uns darüber im klaren, daß das eben nur geht, chen anderen europäischen und überseeischen Län- wenn die Gliederung des Bundes in Länder, die dern haben. Da haben wir noch sehr viel nachzuho- grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Ge- len. Wir werden erst dann festen Grund unter den setzgebung, die Bindung der Staatsgewalt an die Füßen haben, wenn unsere Mitbürger im Lande Grundrechte, die Gewaltenteilung und die Grund- draußen weithin wirklich begriffen haben — und sätze der im Notfall notwendigen Dezentralisation sich so verhalten —, daß sie keine Untertanen mehr, bei gleichzeitiger Gesamtverantwortung respektiert sondern Staatsbürger sind, die Rechte haben, aber werden. Wir haben eine Fülle von Anmerkungen auch korrespondierende Pflichten erfüllen müssen; zu diesem Thema gemacht und werden sicher später das gehört zusammen. darauf zurückkommen. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Wir wollen diesen Staat aber nicht nur so stabil der FDP.) wie möglich, so fest auf dem Grundgesetz stehend wie möglich, gestalten, sondern wir wollen uns auch Hier könnte, obwohl es nicht Sache der Bundes- darum bemühen, jedem einzelnen Bürger das Ge- regierung ist, vielleicht eine Einrichtung wie die fühl zu geben: in diesem Staat habe ich das, was Bundeszentrale für Heimatdienst über den Rahmen in dieser unvollkommenen Welt an Gerechtigkeit des normalen Schulunterrichts hinaus, der ja in gefunden werden kann, auch wirklich verbürgt. Länderhand liegt, einiges tun. Hier liegt die große Hierher gehört die Justizreform, die Reform des Aufgabe politischer Bildung, die wir nicht verwech- Strafprozeß- und des Verkehrsstrafrechtes. Wir seln dürfen mit der Propaganda für eine bestimmte haben vorgeschlagen, eine Familienrechtskommis- Partei, auch wenn sich diese Partei gerade in der sion einzusetzen, die auch auf diesem dornigen Ge- Regierung befindet. Die Öffentlichkeitsarbeit ist biet einmal unabhängig von den politischen Aus- eine Öffentlichkeitsarbeit für den ,ganzen. Staat und einandersetzungen des Tages Grund machen soll. nicht für die Mehrheitspartei. All das muß das Gefühl wecken, daß in der Demo- Hierher gehört auch, meine Damen und Herren, kratie der Staatsbürger sein Schicksal und das der daß wir mit unserem Grundgesetz so behutsam wie Gemeinschaft mitbestimmt. möglich umgehen. Es gab unter den Juristen dieses Hauses Erwägungen darüber, wie man dieses Haus Dazu gehört, daß es in einem demokratischen davor bewahren kann, bei aller guten Absicht unter Staatswesen keine wirkliche Macht geben kann, Umständen selber einmal verfassungsrechtlich da- ohne daß ihr auf irgendeine Weise eine Kontrolle nebenzutreten und nachher von Karlsruhe gerügt zu zugeordnet ist. Es gibt hier die vielfältigsten For- werden. — Das ist aber nur eine Nebenerwägung, men. Im Wirtschaftsleben z. B. ist die wirksamste mir geht es um etwas anderes. Das Grundgesetz Form der Machtkontrolle die Gegenmacht im Wett- sollte einen solchen Rang haben, daß man nicht bewerb. Aber da, wo das nicht reicht, muß von im Laufe einer Legislaturperiode bei den ver- Rechts wegen nachgeholfen werden. Kartellgesetz! schiedensten Sachgesetzen zu den verschiedensten Ich glaube, wir werden da manches noch neu regeln Terminen plötzlich entdeckt: da ist also noch rasch müssen, um einer ungesunden Machtkonzentration eine Grundgesetzergänzung mit hineinzuflicken, entgegenzuwirken. Hierher gehört auch ein gewisser sondern daß sich die Regierung überlegt: wo mag Einblick in die Machtpositionen unserer großen es Notwendigkeiten geben, und daß sie das auf län- Wirtschaftsunternehmungen dort, wo sie wirklich gere Zeit übersieht. Sie weiß, daß es zu Grund- Macht darstellen und nicht durch andere Faktoren gesetzergänzungen oder -änderungen einer Zwei- bereits kontrolliert werden. Hierher gehört eine drittelmehrheit des Hauses bedarf. Darin steckt der neue Unternehmensverfassung, die die Unternehmen Zwang zur Zusammenarbeit mit der Opposition, durchsichtiger macht und damit der öffentlichen Kri- jetzt nun nicht als Opposition, als Gegenüberstehen- tik aussetzt; denn ein wichtiger Teil der Kontrolle den, sondern als Partner. Sonst bekommt man keine der Macht vollzieht sich durch die öffentliche Beob- Grundgesetzergänzungen zustande. achtung und Kritik. Das geht uns so, das geht der Regierung so, und das muß allen so gehen, die Wir wollen der Bundesregierung nicht in irgend- Macht ausüben, gleichgültig in welchem Bereich sie einer Weise das Initiativrecht beschneiden. Das steht sich befinden. Hierher gehört dann auch der Einbau ihr nach dem Grundgesetz zu; das ist selbstver- etwa der Erfahrungen mit dem Mitbestimmungs- ständlich. Es ist aber eine Frage des politischen recht. Stils, wieweit man dahinkommen kann, daß gerade Ich war vorhin etwas seltsam von dem Vorstoß im Umgang mit dem Grundgesetz zunächst einmal berührt, den gerade der Kollege Dr. Mende gegen vorgeklärt wird, für welche Notwendigkeiten und eine bestimmte Zusammenballung von Macht unter- wie eine breite Grundlage geschaffen werden kann, nahm: nämlich gegen die bevor eine öffentliche Polemik entbrennt, die dann gemeinnützigen Woh- Herr Kollege Dr. Mende, normalerweise das Ergebnis gefährdet. nungsbauunternehmen. wenn ich darin Ihre Ankündigung erblicken dürfte, Ich habe nach den bisherigen Ausführungen des daß sie überall dort — auch im Bereich der privaten neuen Bundesinnenministers Höcherl das Gefühl, Großwirtschaft —, wo große Wirtschaftskomplexe daß er diesen Zusammenhang richtig erkennt. Wir mit Hilfe öffentlicher Mittel — z. B. durch Selbst- hoffen, daß er auch die praktischen Folgerungen finanzierung oder über Steuerbegünstigungen — daraus zieht. Es ist in den vergangenen Monaten entstanden sind, den Weg zur breiten Eigentums- manchmal z. B. über die Notwendigkeit gesprochen streuung mit uns beschreiten wollen — 1957 stand 96 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Erler es in der Regierungserklärung; diesmal ist es ver- Gerade Herr Kollege Dollinger hat im Zusammen- gessen worden, Herr Kollege Barzel —, hang mit der Eigentumspolitik sehr ausführlich auf (Abg. Dr. Barzel: Wird nachgeholt!) die Mittelstandsprobleme aufmerksam gemacht. Hier gibt es in vielem ein hohes Maß an Übereinstim- dann wären wir uns sehr bald einig. Was ich aber mung. Endlich hat sich der Gedanke einer wettbe- nicht für richtig halte, ist, daß man sich nur einen werbsneutralen Umsatzsteuer überall herumgespro- Zweig herauspickt. Das Ganze, verehrter Herr Kol- chen. Ich möchte das ausdrücklich anerkennen, auch lege Mende, wird ideologisch nämlich mit schwerer hier, ohne dine Urheberrechtsgebühr für meine Fracht behaftet, wenn man sich ausgerechnet die Freunde zu verlangen. Das Institut für die Mittel- gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmen als ein- schichten sollte so beschaffen sein, daß die Erkennt- zigen Faktor herausnimmt, bei dem man Macht kon- nisse der modernen Wissenschaft auch für Selb- trollieren will. ständige nutzbar gemacht werden können. Nebenbei, (Beifall bei der SPD.) Kollege Dollinger — vielleicht haben Sie es ge- Dazu kommt, daß ein großer Teil jener Unternehmen merkt —: Sehen Sie, jetzt sind einige Teile dran, in der Rechtsform der Genossenschaft betrieben wird. die der Kollege Brandt aus Zeitmangel weggelassen Ich wäre sehr froh, wenn überall im Wirtschaftsleben hat. Sie kommen also auf Ihre Kosten. Nur sagt das die Mitglieder als Genossenschaftler — oder auch jeder halt in seiner Sprache; das ist selbstverständ- als ehrenamtliche Mitarbeiter, von denen es hier lich. Aber ich halte die Punkte für so wichtig, daß Hunderte und Tausende gibt — in der gleichen sie nicht der zeitlichen Begrenzung, die sich der Weise Einfluß auf die Unternehmenspolitik hätten, Kollege Brandt gesetzt hat, zum Opfer fallen sollten. wie es bei diesen Unternehmen der Fall ist. Es Ich muß einen Satz zu den Ankündigungen der Stecken hier Probleme drin, das sei zugegeben; zu Bundesregierung bezüglich der Behebung der Ver- passender Zeit wird darüber zu reden sein. kehrsnöte sagen. Mir wäre es lieb gewesen, wenn Wenn wir schon vom Wohnungsbau hier spre- Herr Minister Seebohm seine Gedanken, die er vor chen — er spielt auch in der Regierungserklärung der Wahl vorgetragen hat, auch nachher in die Re- eine gewisse Rolle —, dann sollten wir auch spüren, gierungserklärung hineinpraktiziert hätte — das ist wie eng der Spielraum hier durch die Tatsache leider nicht geschehen —, nämlich daß die vom geworden ist, daß der Bodenwucher für absehbare Verkehr erbrachten spezifischen Verkehrsabgaben Zeit eine vernünftige Wohnungsbaupolitik, die auch so lange für den Straßenbau zweckgebunden wer- für den kleinen Mann erträgliche Mieten bringt, den, bis die Verkehrsnöte wirklich behoben- sind. geradezu zu verhindern droht. Was sich auf dem Bau- (Beifall bei der SPD.) landmarkt abspielt, ist erschütternd. Ich habe mit Interesse in der Regierungserklärung gelesen, daß Als zweites gehört wohl die Feststellung hier- man, um diesem Problem, aber auch noch einigen her, daß unsere Bundesbahn erst dann wieder rich- anderen, zu Leibe zu gehen, ernsthafte Anstren- tig wettbewerbsfähig wird, wenn die Bundesregie- gungen auf dem Gebiet der Raumordnung vorhabe. rung ihr zu einer angemessenen Kapitalausstattung Ich begrüße das. Nach meiner Meinung kann durch verhilft und ihr die gemeinwirtschaftlichen Sonder- ein entsprechendes gewichtiges Vorgehen erreicht lasten abnimmt. werden, daß auch unsere wirtschaftlich schwachen Im Ruhrgebiet herrscht von Zeit zu Zeit Unruhe, Gebiete mit an die allgemeine Entwicklung heran- wenn bestimmte Betriebe von den Schwierigkeiten gezogen werden. Eine Bemerkung aber kann ich mir bei der Anpassung an die Umstellungsvorgänge in nicht versagen: wir fangen wirklich etwas spät mit der Energiewirtschaft betroffen sind. Die Bergbau- der Raumordnung an, meine Damen und Herren, enquete, die Energie-Enquete ist immer noch in der nachdem wir einige Millionen Wohnungen hinge- Arbeit. baut haben und der Raum auf diese Weise erst einmal besetzt ist, den es eigentlich zu ordnen ge- (Widerspruch des Abg. Dr. Dr. h. c. Frie golten hätte. densburg.) (Zuruf.) Ist sie fertig? — Dann um so besser! — Ich höre — O nein, Raumordnung reicht weit über die ge- das soeben vom Kollegen Friedensburg. — Ich meindlichen Probleme hinaus, — Ballungsproblem finde, wir sollten dafür sorgen, daß uns die Bun- und all das; aber darüber wollen wir wohl jetzt desregierung möglichst bald die Grundzüge einer keine Fachdebatte führen, die kommt sicher ein vorausschauenden Energiepolitik vorträgt, weil es andermal. sich um die Bewahrung einer der sicheren Grund- Herr Kollege Mende hat hier das Wohnungsbau- lagen für große Teile unseres Wirtschaftslebens problem angesprochen und daraus — in seiner überhaupt und um die Existenz von Hunderttausen- Sicht — ein Stückchen Eigentumspolitik gemacht. den von Menschen und von zahlreichen Gemein- Wir werden uns sehr bald über Vorschläge meiner wesen in der Bundesrepublik Deutschland handelt. Freunde zur Vereinheitlichung der Sparförderung Sonst werden vielleicht Anpassungsprozessen ge- unterhalten können und auch darüber, wie der genüber Opfer gebracht, die nur bestimmte Schich- Grundgedanke der Regierungserklärung des Jahres ten treffen, während heute hier das Wort Opfer in 1953, daß die Ausgabe von Volksaktien nicht auf einem ganz anderen Sinne gemeint war. Betriebe im Bundesbesitz beschränkt bleiben solle, Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn in diesem Bundestag vielleicht doch einmal einer wir von Opfern sprechen, sollten wir uns nicht ernsthaften Diskussion zugeführt werden kann. scheuen: dann muß man auch von Geld sprechen. Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 97 Erler Mit all dem, was Sie, Kollege Dollinger, zur Steuer- Wir wissen, daß das für jene Länder in Wahrheit politik vorgetragen haben — Sie haben sich dabei auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, aber ja auch eingehend mit dem Regierungsprogramm sie spüren dann wenigstens unsere Bereitschaft, der SPD beschäftigt —, haben Sie mich nicht davon ihnen auf diese Weise zu helfen. Wenn das außer- überzeugt, daß selbst dann, wenn dadurch, daß um dem unsere Hausfrauen freut, warum soll man es der Wiederherstellung eines größeren Maßes an dann nicht tun? Nach unseren bisherigen Erfahrun- Gerechtigkeit willen Spitzeneinkommen und Spit- gen steigen die Umsätze so, daß bei dem Geschäft zenvermögen ein angemesseneres Ausmaß an kaum Steuerausfälle eintreten. Lasten auf sich nehmen, keine völlige Umschichtung unseres Steuersystems eintritt, daß selbst dann, Meine Damen und Herren, da wir hier schon von wenn dadurch nicht viele, viele Milliarden zusätzlich Steuern sprechen, möchte ich jenes Schuldbekennt- in unseren Säckel fließen, es sich nicht dennoch nis in Ihre Erinnerung rufen, das die Bundesregie- lohnt, dahinzukommen, daß jeder Bürger unsere rung in ihrer Regierungserklärung zum Thema Landes weiß: wenn Opfer gebracht werden, dann „Finanzreform" ausgesprochen hat. Sie hat nämlich werden sie in unserem Lande nach den Maß- gesagt, man müsse sich darum kümmern, aus der stäben der Gerechtigkeit gebracht. Das ist doch der allzu gelegentlichen Steuerflickarbeit herauszukom- Punkt, auf den es ankommt. men, die Jahr um Jahr hier und dort Kleinigkeiten ändert und die unser Steuersystem als Ganzes auf (Beifall bei der SPD.) die Dauer eher verschlechtert als verbessert. Das Wir sind nun einmal der Meinung, daß es auf die ist richtig, und wir werden deshalb wie die Bundes- Dauer nicht angeht, wenn ein Land in unserer Lage, regierung dafür eintreten, daß zur Lösung des Ge- das sich heute noch mit den Folgen des verlorenen samtproblems der Finanzreform in all ihren Aspek- Krieges herumzuschlagen hat, wenn ein solches ten möglichst bald eine Sachverständigenkommission Land Spitzeneinkommen und Spitzenvermögen we- eingerichtet wird. Das stand auch in unserem Regie- sentlich generöser behandelt als etwa — um nur rungsprogramm, aber mit einem wichtigen Unter- zwei Beispiele zu nennen — die Vereinigten Staa- schied: Wir wünschen nicht, daß die Kommission bis ten oder Großbritannien. Hier ein besser ausgewo- ans Lebensende ihrer Mitglieder tätig wird, son- genes Verhältnis wiederherzustellen — beileibe dern daß sie Ende 1962 das Ergebnis ihrer Arbeiten nicht mit konfiskatorischen Sätzen zu arbeiten —, vorlegt. Aber auch hier, meine Damen und Herren: ist wichtig. Daß das Arbeiten nicht bestraft werden ohne Zweidrittelmehrheit und Zusammenarbeit der darf daß die Initiative nicht erstickt werden darf, Parteien und der Länder ist die Aufgabe der Finanz- darüber sind wir uns einig; aber hier ist noch ein reform nicht zu meistern. erheblicher Spielraum für ein höheres Maß an Ge- Lassen Sie mich noch auf ein anderes für unsere rechtigkeit gegeben. innere Stabilität wichtiges Gebiet eingehen. Es ist Daher eben doch unsere Vorschläge, nicht nur das hier verschiedentlich vom sozialen Bundesstaat ge- Steuersystem übersichtlicher zu gestalten, sondern sprochen worden. Auch der ist nie fertig, auch der auch die Vermögen- und Erbschaftsteuer für Mil- ist eine mit dem sich verändernden Fluß unserer lionenvermögen gestaffelt zu erhöhen, große Spe- technischen und industriellen Entwicklung beständig kulationsgewinne der Einkommensteuer zu unter- neu gestellte Aufgabe. Auch der, verehrter Kollege werfen, mit der außergewöhnlichen Begünstigung Gerstenmaier, trifft in Wahrheit eben doch nie ganz großer anonymer Gesellschaften bei der Körper- an die Grenzen, von denen Sie gesprochen haben, schaftsteuer Schluß zu machen und für Großeinkom- sondern auch der muß in Bewegung gehalten wer- men über 100 000 DM jährlich bei der Einkommen- den und darf nicht erstarren. steuer eine etwas stärkere Progression als bisher (Abg. D. Dr. Gerstenmaier: Genau das ist einzuführen. gemeint, Herr Kollege Erler!) Gerade wenn man von Opfern spricht, erleichtert es den sonst Betroffenen ihre Opferbereitschaft ganz — Das nehme ich mit Befriedigung zur Kenntnis. erheblich, wenn sie wissen, daß sich die hier ge- Es ist eine Binsenwahrheit, daß ein Volk nur jene meinten Gruppen in einer angemessenen Weise an sozialen Leistungen erbringen kann, die sich aus den Opfern beteiligen. einer gesunden und einer ständig wachsenden Wirt- Was wir auf der anderen Seite vorgeschlagen schaft herausarbeiten lassen. Daher wünschen wir, haben und dem Hohen Hause auf dem Gebiete eini- daß die Bundesregierung endlich auf die Forderung ger Verbrauchsteuern demnächst in Form von Vor- eingeht, in Form eines Jahreswirtschaftsberichts lagen zuleiten werden, das hat nicht unbedingt etwas eine Übersicht über das, was war, und über das, mit dem Nikolaus zu tun, sondern das hat auch etwas was vermutlich kommt, sowie über die Ziele zu mit unserer Außenhandelspolitik zu tun und damit, schaffen, die die Regierung selber mit dem Instru- daß sich die Bundesregierung auf einer Reihe inter- mentarium moderner Konjunkturpolitik erreichen nationaler Konferenzen in einer sehr schlechten will. Ich habe beide Ohren gespitzt, verehrter Herr Lage gesehen hat, als sie den konzentrischen An- Kollege Dollinger, als Sie davon sprachen, daß die griffen der Entwicklungsländer gegenüberstand bei Hochkonjunktur kein Naturgesetz sei. Jawohl! Ge- der Forderung, nun endlich einmal durch die Redu- rade weil das so ist, brauchen wir einen solchen zierung von Fiskalabgaben bestimmte tropische Pro- Jahreswirtschaftsbericht und ein Instrumentarium dukte in die Bundesrepublik in größerem Ausmaß für aktive Konjunkturpolitik. einzuführen. Das erspart uns vielleicht auch manches Ge- (Beifall bei der SPD.) schwätz über die vielbeschrieene Versachlichung der 98 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Erler Lohnpolitik. Ich glaube es einfach nicht, daß man, Deswegen sollte man das Wort des Deutschen Ge wie Herr Dr. Mende und wie die Bundesregierung werkschaftsbundes in dieser Frage nicht überhören. es getan haben, einen so engen Sektor aus dem Hier war davon die Rede, daß die Gewerkschaften Wirtschaftsablauf herausgreifen und nur auf dem in den ersten Jahren nach der Währungsreform ein Gebiet der Lohnpolitik den Beteiligten, vor allen bemerkenswertes Maß an Einsicht gezeigt hätten. Dingen natürlich dem einen Beteiligten, nämlich Meine Damen und Herren, Hand aufs Herz! In- den Gewerkschaften, gut zureden kann. Das geht zwischen etwa nicht?! Ist die Bundesrepublik gar nicht. Die Lohnbildung gehört genau wie die Deutschland nicht — bei allen Diskussionen und Preisbildung in den Gesamtzusammenhang unserer Auseinandersetzungen, die es natürlich zwischen wirtschaftlichen Vorgänge hinein. Wenn Sie dieses den Gewerkschaften und ihren Vertragspartnern Gespräch versachlichen wollen, gibt es dafür nur auch gibt — gleichzeitig dasjenige Land in der west- eine einzige vernünftige Grundlage: den von uns lichen Welt mit dem geringsten Ausfall an Arbeits- geforderten Jahreswirtschaftsbericht. Mit ihm ha- zeit durch Arbeitskämpfe?! ben Sie dann ein solches Gespräch über diese Pro- bleme. (Beifall bei der SPD.) (Beifall bei der SPD.) Lohnt es sich nicht, einmal darüber nachzudenken, Ich habe mich gewundert, daß man sich ebenso (Erneuter Beifall bei der SPD) wie zur Lohnpolitik auch auf einem anderen Ge- ob hier eine volkswirtschaftliche Gesamtverantwor- biet einseitig nur an eine Adresse gewandt hat. tung zum Ausdruck kommt, die wir respektieren Man hat nämlich vor einem Übermaß an Forderun- und anerkennen sollten?! gen, die eine Inflation auslösen könnten, nur bei der Sozialpolitik gewarnt. Andere Gruppen der Ge- Und noch eine Bemerkung. Wo wären wir wohl sellschaft, die bei ihren Wünschen an das Parlament geblieben, wenn nicht auch und gerade durch die nicht gerade zart besaitet auftreten, wurden nicht Tätigkeit der Gewerkschaften mit den steigenden genannt. Von anderen Haushaltsansätzen, die unter Produktionsmöglichkeiten und der effektiv gestie- Umständen auch etwas mit der Entwicklung der öf- genen Produktion unserer Wirtschaft einigermaßen, fentlichen Ausgaben rund mit möglichen inflationä- nicht einmal voll, das Arbeitnehmereinkommen, ren Gefahren zu tun haben, wurde nicht gesprochen. aber darüber hinaus auch durch unsere Tätigkeit das abgeleitete Einkommen der Empfänger von Lei- Genau diese beiden Dinge waren es, die uns zu stungen aus der Sozialversicherung usw. mit der der Feststellung geführt haben, die Herr von Bren- allgemeinen Entwicklung Schritt gehalten -hätte?! tano etwas sehr hart mit dem Wort „Demagogie" Wir wurden hellhörig, als hier neulich in der De- glaubte zurückweisen zu müssen, nämlich daß die batte — nicht über die Regierungserklärung, son Gefahr bestehe, daß die Arbeitnehmer angesichts dern über die neue Rentenanpassung — von den der Regierungserklärung das Gefühl bekommen Sprechern der FDP ziemlich deutlich zum. Ausdruck könnten, sie würden an den Rand der Regierungs- gebracht wurde, daß man jetzt innerhalb der neuen politik gedrückt. Meine Damen und Herren, wenn Bundesregierung beginnt, den Grundsatz der auto- unser Kollege Katzer dasselbe sagt, dann ist das matischen Rentenanpassung an die Entwicklung der offenbar keine Demagogie. Ich hoffe auch, daß es Löhne und Preise in Frage zu stellen. Meine Damen nicht etwa als Demagogie betrachtet wird, wenn und Herren, seien wir hier wachsam! Unsere Bin- sich Ähnliches in den Beschlüssen findet, die der nenkonjunktur lebt davon, daß der gestiegenen Pro- Deutsche Gewerkschaftsbund bei seiner Analyse duktionsfähigkeit auf der einen Seite auf der ande- der Regierungserklärung gefaßt hat. Da heißt es: ren Seite auch immer die Kaufkraft des Letzten Verbrauchers gegenüberstand. Dafür müssen wir Zu den lebenswichtigen Fragen der Arbeitneh- nämlich auch sorgen. mer hat sich die Regierungserklärung gar nicht oder nur ausweichend geäußert. Es fehlt in der (Beifall bei der SPD.) Regierungserklärung jede Kritik an den maß- Ansonsten war Herr Kollege Dr. Mende zu den losen Gewinnsteigerungen der Unternehmun- Gewerkschaften ziemlich freundlich; denn er hat die gen. Dagegen wird den Gewerkschaften eine Gewerkschaften in seine Ahnenreihe einbezogen. maßvolle Lohnpolitik zugemutet und damit die Vielleicht gibt es dafür einmal eine Ehrenmitglied- Drohung verknüpft, daß gegebenenfalls neue schaft beim DGB. Lösungen und Formen der Zusammenarbeit der (Heiterkeit.) Sozialpartner gefunden werden müßten. Mal sehen, was sich tun läßt, Kollege Dr. Mende. Der einseitige und arbeitgeberfreundliche Stand- Aber Sie haben hier eine Vokabel gebraucht, die punkt der Regierungserklärung konnte nicht mich etwas erschreckt hat. Sie haben schlicht Kapi- deutlicher dokumentiert werden. Die Drohung talismus und freiheitliche Gesellschaft gleichgesetzt. mit einem Eingriff in die Tarifautonomie deckt Das ist genau jene Gegenüberstellung, die die Kom- sich auffallend mit den Vorstellungen der Bun- munisten haben wollen, damit sie dann der Gegen- desvereinigung der deutschen Arbeitgeberver- pol zum Kapitalismus seien. Verzeihen Sie, Kollege bände. Dr. Mende, das ist noch 19. Jahrhundert! Wir sind Mit diesem Zitat wollte ich Ihnen lediglich warnend inzwischen weiter. vor Augen führen, daß nicht etwa nur wir allein es (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Mende: gewesen sind, die bei der Durcharbeitung der Re- Kollege Erler, ich habe mich auf Chruscht gierungserklärung dieses Gefühl gewonnen haben. schows Terminologie ausdrücklich bezogen!) Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 99 Erler Die Bundesrepublik Deutschland, in der wir nicht Drittens ist das Notaufnahmegesetz überflüssig regieren, sondern in der wir in der Opposition geworden. Denn wer heute noch unter der Gefahr, stehen, ist inzwischen, wie viele andere westliche tödlich getroffen zu werden, von drüben heraus- Industriestaaten, in einen gesellschaftlichen Trans- kommt, der hat wahrhaftig eine Gefahr für Leib formationsprozeß hineingeraten, bei dem verdammt und Leben hinter sich gebracht. wenig vom Kapitalismus des 19. Jahrhunderts übrig- (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten geblieben ist. der Regierungsparteien.) Wie wir das taufen, ist mir vollkommen gleich- Weiter sollten wir uns darum bemühen, die Vor- gültig. Entscheidend ist, daß uns der Durchbruch finanzierung des Lastenausgleichs mit Energie wei- zu neuen Ufern gelingt und daß wir auf dem Wege terzutreiben, um dort zu einem Abschlußgesetz zu dahin sind. gelangen. Es müßte jetzt möglich sein — wo doch (Beifall bei der SPD.) keine großen Flüchtlingsströme mehr kommen die Mittel bereitzustellen, um die Lager endlich auf- Das Ziel — ich möchte nicht davon abgehen — steht zulösen, — was weitgehend eine Frage der Woh- im Grundgesetz. Da steht nicht „Kapitalismus", son- nungsbaupolitik ist. dern da steht „der demokratische und soziale Bun- desstaat". Auch für die vertriebenen Bauern genügt, glaube (Sehr gut! bei der SPD.) ich, nicht das, was in der Regierungserklärung steht, daß nämlich entsprechend der bisherigen Planung Mir langt das völlig als Umschreibung dessen, was verfahren werden soll. Wir wissen genau, daß die wir haben wollen. Zahl der nach dieser Planung angesetzten Bauern- (Beifall bei der SPD.) stellen infolge ungenügender Haushaltsmittel, ge- stiegener Kasten und eines zu komplizierten Ver- Das ist natürlich in dem Sinne zu verstehen, daß ein fahrens von Jahr zu Jahr zurückgegangen ist. Aber solches Ziel nie ganz erreicht wird. Es bleibt immer abgesehen von den materiellen Dingen wird es noch eine Menge zu tun übrig trotz vielem, was wohl heute mehr denn je wichtig, daß die kulturelle getan worden ist. Tradition, die unsere Landsleute mitgebracht haben, bei uns nicht verlorengeht, daß wir es ihnen ermög- Da war die Rede, Kollege Dollinger, von der lichen, immer wieder zu zeigen, was alles zur le- Alterssicherung der Selbständigen. Da ist von uns bendigen Kulturgemeinschaft dieses unseres Volkes — Sie werden im nächsten Jahr auf Grund der gehört, und daß wir dann das ganze deutsche- Volk Zahlen merken, daß dieses Problem immer drängen meinen und nicht nur die Bewohner der Bundes- der wird — die Einführung einer Mindestrente zur republik Deutschland, auch wenn diese die freien Debatte gestellt worden, damit die Altersversorgung Deutschen sind. nicht für viele illusorisch wird und sie nicht doch Ein anderes Thema ist in der Regierungserklärung noch trotz der Rente zum Wohlfahrtsamt laufen sehr mager behandelt worden. In der Debatte kam müssen. Damit werden wir uns sehr bald zu be- es etwas deutlicher heraus. Wir werden darüber schäftigen haben. Deswegen brauchen wir das heute sicher in diesem Hause — das ist heute schon ab- nicht auszudiskutieren. Wir werden uns weiter be- zusehen — erbitterte Auseinandersetzungen führen. fassen müssen mit Fragen, die sich im Hinblick auf Deswegen sei es ganz freundschaftlich heute schon manche Verbesserungen der Kriegsopferversorgung, angekündigt. Ich meine das Gebiet der sozialen aus der Rentenanpassung und mit Rücksicht auf Krankenversicherung. Hier wird etwas in die De- Veränderungen auch der Leistungen an die Vertrie- batte geworfen, was als Schlagwort dient, was aber, benen im Lastenausgleichsgesetz ergeben. glaube ich, den Tatbestand eben nicht trifft: das Wort von der Stärkung der Selbstverantwortung. Lastenausgleich! Das führt mich zu einer in der Bundesrepublik sehr wesentlichen Bevölkerungs- Ich will zugeben, daß es in der sozialen Kranken- gruppe, bei der einige Probleme jetzt in diesem versicherung Leute gibt, die die Versicherungsein- Parlament auf die Hörner genommen werden müs- richtungen zum Schaden der Mitversicherten und sen. Wir haben, glaube ich, nachdem ja wohl alle der Allgemeinheit schamlos mißbrauchen. Jawohl! Ausreden, man würde sonst einen Sog auf die Laßt uns darüber reden, wie wir denen, die das miß- Zonenbevölkerung entfalten, dahingeschwunden brauchen, das Handwerk legen können! sind, doch wirklich die Aufgabe, endlich Heimat- (Sehr gut! bei der SPD.) einander vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge Aber es entspricht geradezu polizeistaatlichem Den- voll gleichzustellen. Gleiches Schicksal verdient ken, wenn man, weil einige sündigen, alle bestraft gleiche Hilfe, meine Damen und Herren! (Beifall (bei der SPD — Zuruf von der CDU/ (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten CSU: Doch nicht bestraft!) der FDP. — Zuruf von der CDU/CSU: Steht doch in der Regierungserklärung drin!) — wir reden sowieso noch im einzelnen darüber; ich kündige es nur an, damit Sie wissen, wo wir stehen Das ist das eine. — und wenn man ausgerechnet Ärzten und Ver- sicherten mit jenem globalen Mißtrauen gegenüber- Zweitens sollten wir mit dem nur zu Ungerechtig- tritt und so tut, als gebe es in unserer Bevölkerung keiten führenden System der verschiedenen Stich- eine übergroße Masse geborener Drückeberger. tage gründlich aufräumen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das sagt doch (Beifall bei der SPD.) keiner!) 100 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Erler Der Aufstieg unseres Landes ist von fleißigen Nachdruck — ich glaube, wirklich im Sinne von Leuten vollbracht worden, so daß ein geringeres uns allen — dargetan, daß wir Deutschen nach den Maß an Mißtrauen bei der Reform der sozialen schmerzlichen Erfahrungen mit unserer jüngsten Krankenversicherung durchaus angemessen wäre. Geschichte von keinem anderen Volk in der Einsicht (Beifall bei der SPD.) uns übertreffen lassen, was ein militärischer Kon- flikt gerade für uns und auch für unsere Hauptstadt Eine erfreuliche Feststellung habe ich hier heute bedeuten würde, und in der Liebe zum Frieden, daß in der Debatte machen können, nämlich die, daß die aber gleichzeitig diese Friedensliebe mit der Ent- Freien Demokraten bereit sind, unseren Vorschlä- schlossenheit gepaart ist, unsere Freiheit gegenüber gen auf dem Gebiete des Kindergeldes — Kinder- jedem zu bewahren, der sie uns nehmen zu können geld auch für das zweite Kind und Finanzierung aus glaubt, und mit dem Willen, mit politischen Mitteln, öffentlichen Mitteln — zu folgen. Wir werden Ihnen auf friedlichem Wege, nie erlahmend, immer wieder (zur FDP) möglichst bald Gelegenheit geben, sich das unsere dazuzutun, daß auch jenen Landsleuten hier im Bundestag zu diesen Vorschlägen zu beken- die Freiheit wieder einmal zuteil wird, denen sie nen. Darauf können Sie sich verlassen. heute durch fremde Gewalt vorenthalten wird. (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Wenn wir das so sehen, dann überkommt uns — FDP). mich jedenfalls — ein gewisses Bedauern darüber, Vielleicht läßt sich das auch noch etwas anrei- daß der Abschnitt über die Gedanken der Bundes- chern durch einige Gedanken — deren Ausführung regierung zu dem wichtigen Weltproblem der kon- nicht einmal allzuviel Geld kostet — über die Er- trollierten Begrenzung der Rüstungen und der Ab- leichterung der Familiengründung durch Darlehen. rüstung so mager ausgefallen ist. Es genügt nicht, daß wir uns nur allgemein zur Ich habe mich hier heute auch darüber gefreut, kontrollierten Ab- rüstung bekennen und sagen: die anderen haben daß und wie eine Lanze für eine vernünftige Neu- einen guten Friedensplan, und dem schließen wir gestaltung der Beamtenbesoldung gebrochen worden uns hinten an. Aus vielen, vielen Gesprächen weiß ist. ich, daß die anderen darauf warten, daß auch wir (Zuruf von der CDU/CSU.) beim Mitdenken helfen, daß auch wir unseren Regie- — Das kam ja von den Regierungsparteien! Warum rungsapparat ein bißchen besser darauf einrichten darf ich mich nicht darüber freuen, Herr Kollege? müssen, als das zur Zeit geschieht. Denn allein das Das werden Sie doch wohl einsehen. Ich nehme an, Durchdenken und Durcharbeiten der Literatur geht daß das Wort • deswegen so besonders sachkundig über die Kraft der wenigen Menschen, die in unseren und zutreffend hier gesprochen werden konnte, weil Regierungsämtern damit befaßt sind. ) der Finanzminister der gleichen Partei angehört; dahinter können wohl keine bösen Absichten ge- Wir sollten uns, wenn wir nun schon nur zu 'all- steckt haben. Deswegen bin ich sicher, daß die Neu- gemeinen Gedanken ja sagen, auf gar keinen Fall ordnung der Beamtenbesoldung relativ rasch von- dazu verleiten lassen — wie es die Regierungs- statten gehen wird. erklärung tut —, zu spezifischen Gedanken nur blanko nein zu sagen, ohne das im einzelnen sorg- Meine Damen und Herren, nach allen diesen Aus- fältiger durchzurechnen, als es in der Regierungs- führungen noch zwei Schlußbetrachtungen. Ich erklärung geschehen ist. Ich halte es auch nicht für glaube erstens, daß dieser Überblick über die Not- weise — um das ganz offen zu sagen —, daß die wendigkeit, die Bundesrepublik gerade so hart am Regierungserklärung in einem viel härteren Wort- Rande der Demarkationslinie zwischen den beiden laut, als ihn der Verteidigungsminister in den Ver- Welten in Ost und West so stabil und gesund und einigten Staaten gebraucht hat, der das Thema freiheitlich und gerecht wie möglich zu machen, sehr behutsam behandelt hat, plötzlich unsere Ver- gezeigt hat, daß die Auseinandersetzung mit dem bündeten mit der Forderung überfällt, die NATO natürlich auch ihre sicherheitspoliti- Kommunismus baldmöglichst zur vierten Atommacht zu machen. schen Aspekte hat, aber im übrigen viel weiter Sicher steckt darin — Willy Brandt hat darauf auf- reicht, daß sie viel mehr ist als ein militärisches merksam gemacht — ein wichtiger Punkt: wenn es Problem. Wenn wir die Dinge — auch wenn wir uns um Leben und Tod des eigenen Volkes gehen kann, um Einzelheiten streiten mögen — im Prinzip so dann ist es legitim, zu erwarten, daß derartige Ent- sehen, dann wird es uns auch gelingen, die geistigen scheidungen nicht über den Kopf der eigenen Re- und seelischen Kräfte der Nation zum Bestehen die- gierung hinweg gefällt werden können. Jawohl, ser Auseinandersetzung zu mobilisieren. darüber muß man mit den Verbündeten reden. Aber Ich möchte in dieser weltweiten Auseinander- die Formel, die in der Regierungserklärung steht, setzung einen Satz wiederholen, den mein Freund ist vom Verteidigungsminister bei seinen Äußerun- Willy Brandt hier gesprochen hat: daß wir uns alle gen in den Vereinigten Staaten von Amerika ver- miteinander schützend vor unser Volk stellen müs- mieden worden. Sie würde gerade dazu beitragen, sen, wenn die sowjetischen Politiker und ihre Ge- jener, auch kommunistischen Propaganda gegen uns folgsleute jenseits der Zonengrenze versuchen, ihre Nahrung zu geben, die leider in etwas leichtsin- Geschäfte gegen das deutsche Volk dadurch zu be- nigen Äußerungen des Bundeskanzlers während der treiben, daß sie das deutsche Volk und die Bundes- Wahlzeit Nahrung gefunden hat, in der er eben republik Deutschland diffamieren, es handle sich um zum Unterschied von seinem Verteidigungsminister Revanchisten, Militaristen, Kriegsbrandstifter und — ich muß das doch noch einmal sagen — nicht ähnliches Gelichter. Willy Brandt hat mit großem zwischen den Atomwaffen und den Trägern unter- Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 101

Erler schieden, sondern sich für die atomare Bewaffnung Meine Damen und Herren, wir waren bereit, uns schlechthin ausgesprochen hat. Wer ein Pfund Lite- unterrichten zu lassen und ernsthaft mit Ihnen dar- ratur zu dem Zweck zu lesen wünscht, dem stelle über zu reden. Und dann wird mir heute gesagt, die ich sie gern zur Verfügung; ich will Sie hier mit Opposition hätte sich ja auch einmal den Kopf dar- den Zitaten gar nicht langweilen. Daher teile ich die über zerbrechen können, wie man Mehrleistungen Kritik, die im „Rheinischen Merkur" zu dem Thema auf dem Gebiet der Verteidigung aufbringt. So geht ausgesprochen worden ist mit der Befürchtung, daß das nicht. Berlin solche atomaren Hochsprünge mit einer wei- (Beifall bei der SPD.) teren Verschärfung der Krise bezahlen müsse. Ich bitte daher die Bundesregierung, sich sorgsam Wir sind bereit, ein gebührendes Maß an Verant- zu überlegen, ob man hier in der Öffentlichkeit wortung zu tragen, aber dann, wenn man mit uns vorpreschen sollte, wohlwissend, daß die Verbün- geredet hat, bevor man die Entscheidungen aus- gebrütet hat, wenn man offen die Karten auf den deten zu diesem. Thema entweder eine dezidiert andere Meinung oder noch .gar keine Meinung Tisch gelegt hat, damit wir die Argumente prüfen haben. Der Verteidigungsminister hat in den Ver- können und damit wir miteinander darüber reden einigten Staaten gesagt, daß er den Rahmen seines können, wie man es am besten macht für Volk und Vortrags überschreiten würde, wenn er mögliche Staat. Das ist doch wohl das Minimum dessen, was Lösungen und Formeln nennte; denn das würde wir verlangen können. die kommende Diskussion stören, weil jede öffent- (Beifall bei der SPD.) liche Erörterung die ruhige Behandlung dieser Frage erschweren und die negativen Kritiker alar- Eine bestimmte Form der Dienstzeitverlängerung mieren würde, die genau alle Möglichkeiten wüß- ist unausweichlich. Die Frage ist, ob das wirklich mit ten, wie man eine Frage nicht lösen könne. Genau dem richtigen Maß und für alle in der richtigen das scheint mir eingetreten zu sein. Daher bitte ich, Weise geschehen ist. Dabei werden z. B. vom Stand- die Regierungserklärung nachträglich dahin zu punkt der Gerechtigkeit Probleme aufgerissen. Wenn korrigieren, daß wir uns zunächst einmal behut- man die Dienstzeit für die, die man hat, verlängert, samer auf das einstellen, was die Verbündeten zu zieht man noch weniger ein. Wie sieht das aus bei sagen haben; denn ich glaube nicht, die deutsche der territorialen Verteidigung? Wie sieht es bei Politik fährt gut, wenn sie in solchen Fragen als den verschiedenen Waffengattungen aus, wo es Rammbock auftritt. welche gibt, bei denen der Mann trotz der Ver- bandsübungen schon nach einem Jahr eigentlich Hier ist vorhin nach der Rede meines Freundes nicht mehr recht weiß, was er zu tun hat, -und an- Brandt noch einmal gefragt worden: Wie ist denn dere, wo er auch mit zwei Jahren in einer hoch das eigentlich mit eurer Haltung zu den größeren mechanisierten Truppe noch kein ausgebildeter Verteidigungsanstrengungen der Bundesrepublik? Kämpfer ist? Laßt uns doch über diese Dinge ein- Ich will darauf ganz unzweideutig anworten: Wir Deutsche können — auch im Hinblick auf unsere mal reden! Verhandlungsposition — von unseren Verbündeten Verehrter Kollege Mende, bei allem Respekt vor nicht verlangen, daß sie in einer Frage, in der Ihrer wackeren Haltung — „wir haben uns im unser Schicksal so auf dem Spiele steht wie das Koalitionsvertrag darauf geeinigt" —: der Koali- ihre, für uns Mehrleistungen auf dem Gebiet der tionsvertrag ist kein Ersatz für eine sachliche De- Verteidigung erbringen, während wir mit den Hän- batte dieser Fragen. den in der Hosentasche danebenstehen. Das ist aus- geschlossen. Darüber herrscht in diesem Hause (Beifall bei der SPD.) überhaupt kein Streit, und das möchte ich einmal Auch für die Verteidigung gibt es die Pflicht, daß klarstellen. das Parlament mitdenkt. Auch die Verteidigung ent- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Dehler.) zieht sich nicht dem Gebot der Diskussion auf der Noch etwas anderes: Wie man das am zweck- Suche nach der besten Lösung. Auch sie braucht eine mäßigsten macht, darüber hätte nun weiß Gott die sachkundige Beratung, und das Finden der besten Bundesregierung zu gegebener Zeit auch einmal mit Form kann man nicht durch stramme Haltung erset- uns ein Wort reden können. zen. (Beifall bei der SPD.) (Beifall bei der SPD.) Am 22. August 1961, also 9 Tage nach dem Ich glaube nicht, daß man es so machen kann, wie es 13. August, nach der Pariser Außenministerkonfe- in Ihren Äußerungen möglicherweise anklang — renz, nach dem Besuch des damaligen Ministers in vielleicht wissen Sie mehr —: Ich kenne zwar die den Vereinigten Staaten, hatte ich darum gebeten, Absichten der Regierung im einzelnen nicht, aber ich einmal im Verteidigungsausschuß des alten Deut- billige sie. Das wäre genau so falsch, wie wenn bei schen Bundestages — denn den gab es doch noch — uns das Echo lautete: Wir kennen zwar die Absich- darüber zu berichten, was im Busche ist und was ten der Regierung nicht, aber wir mißbilligen sie. unter Umständen getan werden muß. Der Minister Wir wollen erst die Absichten der Regierung genau — so habe ich mir sagen lassen — war bereit zu kennen, dann wollen wir darüber reden, wie man es kommen; die Mehrheitsparteien, FDP eingeschlos- am besten macht, und davon wird unsere Entschei- sen, haben damals unser Begehren niedergestimmt dung abhängig sein, von nichts anderem. — wahrscheinlich weil gerade Wahlkampf war. (Zuruf des Abg. Dr. Mende.) 102 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Erler

— Sicher, es ist kein Gespräch mit uns geführt wor- unserer Sicherheit hineinstellen in die größeren Zu- den! sammenhänge, weil sonst die Gefahr bestehen (Abg. Dr. Mende: Das Thema ist in unserer bleibt. Deshalb sollte man etwas weniger selbst- Partei schon mindestens ein Jahr in der gerecht über die Vergangenheit reden. Debatte!) Ich will jetzt gar nicht den Geschichtsschreibern — Entschuldigen Sie! Genau dies ist ein Thema, bei die Aufgabe abnehmen; ich meine nur: es steht doch dem ein verantwortlicher Politiker wissen muß, was leider fest, daß das, was viele damals gesagt, an- die Regierung an Tatsachen mitgebracht hat und gekündigt, erhofft, erstrebt haben, eben heute nicht wie die Planung aussieht. Wenn ich dieses Thema als Ergebnis auf unserem Tische liegt, sondern lei- auf Zeitungsberichte hin zur Entscheidung bringen der das Gegenteil. wollte, wäre ich geradezu verantwortungslos. Jetzt haben wir es zu tun mit einer Sowjetunion, (Beifall bei der SPD.) die die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges völker- rechtlich zu Papier bringen und in der Berlin - Frage Herr von Brentano hat gesagt, die Verteidigungs- noch mehr nach Hause tragen will. Deshalb wird bemühungen, die verstärkt werden müßten — da- drüben versucht, die Sowjetzone völkerrechtlich ins mit hat er recht — gälten auch der Bewahrung un- Spiel zu bringen, und deshalb ist es gefährlich, die serer Position in Berlin. Richtig! Aber da ist es lehr- Gefahr einer Isolierung der Berlin-Frage leugnen zu reich, wofür Verteidigungsbemühungen notwendig wollen. Leider laufen wir doch zunächst — auch sind und was man unter Umständen nicht mit ihnen wenn das von Herrn Dr. Mende als Interimsge- erreichen kann. In der Berliner Frage zeigt sich spräch bezeichnet wird — auf eine isolierte Dis- nämlich, daß man Positionen, die man politisch ge- kussion zu, bei der niemand weiß, wann und unter räumt hat, in dieser unserer Welt militärisch nicht welchen Umständen sie je weitergeht. Unter Um- mehr zurückgewinnen kann. ständen bezahlen dann wirklich die Falschen. Wir (Sehr wahr! bei der SPD.) sollten uns da nicht zu Gefangenen eigener Wunsch- vorstellungen machen lassen. Deshalb hat die Verteidigung eine doppelte Seite: die militärischen Anstrengungen und eine zähe, ein- Deshalb war es gut, daß der Bundestag in der fallsreiche und auch tapfere Politik, die auch dem Vergangenheit — und in Teilen klang das ja auch Bundestag in der Berlin-Frage früher gemeinsames heute bei Ihnen erfreulicherweise noch durch — Bekenntnis war. Mir tut es leid, daß wir eine solche immer wieder auf den unlösbaren Zusammenhang Debatte in den vergangenen Jahren nicht zwischen- zwischen Berlin, der ganzen deutschen Frage und - durch einmal in Berlin abgehalten haben. Weil die dem Problem der europäischen Sicherheit aufmerk- Sowjetunion uns aus Berlin weggescheucht hat, ist sam gemacht hat. das heute soviel schwieriger geworden, meine Herr Kollege von Brent ano hat davor gewarnt, Damen und Herren! die europäische Sicherheit mit der Berlin - Frage zu (Beifall bei der SPD.) koppeln. Natürlich dari sie nicht mit der Berlin Frage allein gekoppelt werden; das wäre falsch; sie Wenn wir schon von Verteidigung sprechen: In ist zu koppeln auch mit der deutschen Frage; denn der Regierungserklärung ist vom Bevölkerungs- Berlin ist eingebettet in die deutsche Frage und von schutz etwas „mager" die Rede. Er ist ein Teil der dia her in die Frage der europäischen Sicherheit. Es Landesverteidigung. Warum wird die Regierung handelt sich doch um den gesamten Zusammen- jetzt erst aktiver? Auch hier handelt es sich um eine hang, wie er sehr richtig auch von der NATO im gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Ge- Dezember 1958 unmittelbar nach Vorlage des russi- meinden und der politischen Kräfte, ohne deren Zu- schen Ultimatums vorgetragen worden ist. sammenwirken sie schon rein organisatorisch gar nicht bewältigt werden kann. Ich bejahe den Grund- Heute haben wir es also leider nur noch mit dem satz, daß man die Kräfte für den Bevölkerungs- Rest von West-Berlin zu tun. Jeder Versuch, die schutz nur gewinnen kann, wenn Klarheit darüber Viermächtediskussion über ganz Berlin wieder in besteht, daß das gleichzeitig als eine Leistung aner- Gang zu bringen, ist verdammt schwierig. Hier ist kannt wird, die im Dienste der Landesverteidigung mit Recht vor dem falschen Status-quo-Denken an- erbracht wird. gesichts der Mauer gewarnt worden. Der Koalitions- vertrag, von dem ja niemand weiß, was „geheime Die Sicherheit für die Bundesrepublik Deutsch- Kommandosache" ist unid was nicht und welche land, um die wir uns in der jetzigen Lage bemühen, Fassung die richtige ist — ich nehme einfach ein- bleibt, auch wenn wir noch viel mehr täten als wir mal die, die in den Zeitungen stand —, hat verlangt, tun können, Stückwerk. Unser Land bleibt gefähr- daß die Bundesregierung hier die Initiative zurück- det, solange Deutschland gespalten ist — wir haben gewinnen müsse, und hat sich dabei bezogen auf es mit der Insellage unserer Hauptstadt zu tun — unsere gemeinsame Arbeit, die Bundestagsentschlie- und solange jenseits der Zonengrenze ein un- ßung vom 1. Oktober 1958, und die Rede des Bun- menschliches Regime auf unsere Landsleute einen destagspräsidenten vom 30. Juni 1961. solchen Druck ausübt, daß dort ein Überdruck im (Abg. Dr. Mende: Richtig!) Dampfkessel mit unberechenbaren Folgen entsteht.

Deshalb gehört zur Sicherheitspolitik — ich wieder- Meine Damen und Herren, es ist schade, daß das, hole das noch einmal — außer der militärischen was also in dem Papier steht, eben nicht bis in die Komponente auch die politische hinzu. Deshalb muß Regierungserklärung durchgedrungen ist, und ich man sogar dieses Berlin-Problem auch im Interesse wäre Ihnen sehr dankbar, Kollege Dr. Mende, wenn Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 103 Erler es Ihrem Einfluß gelänge, hier die Übereinstimmung kann, die uns unmittelbar auf den Nägeln brennen. von Geburtsurkunde und Taufschein in der prakti- Bin Wort zur europäischen Zusammenarbeit. Wir schen Politik wiederherzustellen. haben mit Befriedigung registriert, daß sich die Bun- (Beifall bei der SPD.) desregierung über den Eintritt Großbritanniens freut. Ich glaube, es sollte gemeinsame Aufgabe In der Berlin-Krise hat der alte Bundestag eine aller kontinentalen Partner sein, das ihre zu tun, Reihe guter Werke getan. Wir haben mehr Zusam- die Briten nicht nur in die Europäische Wirtschafts- menwirken fertigbekommen, als die Regierung uns gemeinschaft hineingehen zu lassen und Hindernisse eigentlich ermöglichte, unter sehr ungünstigen inne- dagegen aus dem Wege zu räumen, sondern sie ren Verhältnissen. gleichzeitig auch in enger Fühlung mit allem zu hal- Daher noch einmal die Warnung davor, die Ver- ten, was sich auf dem Gebiet der politischen Zusam- bindung Berlins mit den größeren Fragen auch nur menarbeit entspinnt. Denn es wäre verhängnisvoll, stückweise aufzugeben; und mit der Warnung na- wenn wir eine politische Gemeinschaft ohne Groß- türlich die Hoffnung für die Bundesregierung, daß britannien und eine wirtschaftliche mit Großbritan- es selbst bei der jetzigen Lage ihr gelingen möge, nien hätten; schon wegen der Verteidigungspro- diesen Zusammenhang wiederherzustellen. bleme wäre das nahezu undenkbar. Gerade das En- gagement der Briten ist ein wertvolles Sicherheits- Sehr seltsam hat mich berührt, was in dieser De- unterpfand für uns alle. batte über die Behandlung der Berlin - Frage vor den Vereinten Nationen gesagt worden ist. Meine Da- Die gewachsenen Demokratien Großbritanniens men und Herren, da ist der Regierende Bürgermei- und einiger skandinavischer Länder würden dem ster von Berlin damals heftig angegriffen worden, gesamten politischen Klima innerhalb der euro- weil er die Unverfrorenheit hatte z u meinen, man päischen Gemeinschaften nur bekömmlich sein. Wir sollte die Sache wegen der Verletzung der Men- sind der Meinung, hier ist ein Prozeß in Gang ge- schenrechte vor die Vereinten Nationen bringen. kommen, der nicht umkehrbar werden darf. Die Ge- (Abg. Brandt [Berlin] : Nicht nur deswegen!) meinschaft darf nicht aufgelöst, nicht gelockert wer- und es hat dann sogar, glaube ich — ich weiß es den. Sie muß fester werden und trotzdem offenblei- nicht genau —, eine Diskussion !auf der Außenmini- ben für die verschiedenen Formen der Mitwirkung sterkonferenz in Paris gegeben, oder der Assoziierung anderer. Diese Formen sollte (Abg. Brandt [Berlin] : Wir werden wohl man so wählen, daß nicht etwa die Sowjetunion mal auspacken müssen!) bestimmen kann, wer sich an den europäischen Gemeinschaften beteiligen darf und wer nicht. wo auch die Bundesregierung sich dagegen wehrte, daß das Berlin-Problem dort landet. Und ein weiteres! Es gilt, die Gemeinschaftsein- Meine Damen und Herren, ich freue mich über die richtungen zu stärken, daraufhin auch noch einmal neue Erkenntnis. In der Regierungserklärung der die Pläne unserer französischen Freunde sich anzu- Bundesregierung erscheint sie nicht. Wir waren sehen. Es gilt, die Exekutiven zusammenzufassen nicht der Meinung, daß es gut wäre, etwa unter dem und dafür zu sorgen, daß ihnen dann eine funktio- Stichwort „Gefährdung ides Weltfriedens" eines Ta- nierende parlamentarische Kontrolle gegenüber- ges unvermeidlich mit der Berlinfrage im Sicher- steht. Das Parlament hat eine ungeheuer integrie- heitsrat und .damit beim sowjetischen Veto zu lan- rende Wirkung. Die Arbeit unserer sozialistischen den, sondern wir waren der Meinung, daß es wirk- Fraktion etwa ist ein gutes Beispiel dafür, und viel- lich besser ist, die Sache, solange der Westen die leicht kommen wir dann bald dahin, daß ein solches Dinge noch in der Hand hat und nicht alle anderen Parlament auch durch direkte Wahl der Abgeord- Völker vor der sowjetischen Drohung zittern, unter neten besonders eng mit unseren Bevölkerungen dem Gesichtspunkt zertretener Menschenrechte vor verbunden wird. Denn bei den europäischen Gemein- die Vereinten Nationen zu (bringen. schaften kommt es darauf an — auch hier spreche ich, glaube ich, für uns alle —, daß sie Gemein- (Abg. Brandt [Berlin] : Bonn hat sich doch schaften der Völker werden und nicht nur organi- dem widersetzt, entgegen Erwägungen der sierte Bürokratien. Daher ist es wichtig, daß die Amerikaner! — Hört! Hört! bei der SPD.) Bundesregierung die deutschen Absichten auf Ich wollte hier nur darauf hingewiesen haben. Ich diesem Gebiete klärt und das Parlament laufend wäre nicht auf dieses Thema zu sprechen gekom- informiert. men, wenn nicht plötzlich die Vereinten Nationen Meine Damen und Herren, damit habe ich den attackiert worden wären, warum sie sich nicht mit innen- und außenpolitischen Überblick abgeschlos- dem Problem beschäftigt hätten. Aber unsere eigene sen. Politik hat das leider zu verantworten. Im letzten Absatz der Regierungserklärung steht Die Bundesregierung will sich nach der Regie- ein Satz, der nicht allzuviel Gutes verheißt. Da rungserklärung mit aller Kraft für das Zustande- heißt es in Wahrheit, daß die Bundesregierung den kommen des Friedensvertrages einsetzen. Da bleibt Anschluß der Opposition an ihre Vorstellungen ein ganzes Kapitel offen. Wie? Welche Vorberei- fordert, statt daß sie die Hand bietet zur gemein- tungen trifft sie? Trifft das zu, was im Koalitions- samen Erarbeitung der Vorstellungen, die wir zu- vertrag darüber verabredet ist, oder nicht? sammen verwirklichen wollen. Sie sagt dort, sie Hierher gehört noch, daß die Außenpolitik der erwarte, daß alle Mitglieder dieses Hohen Hauses Bundesrepublik im Zeichen wachsender europäischer den Grundprinzipien der Politik der Regierung zu- Gemeinschaft sich nicht auf die Sorgen beschränken stimmen. Nein, meine Damen und Herren, wichtig 104 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Erler sind Diskussion und Mitwirkung an der Entschei- gen Wochen geschlossen wurde. Aber Herr Kollege dung, bevor die Entscheidungen fallen, und nicht nur Erler kennt mich persönlich lange und gut genug das Bitten um nachträgliche Zustimmung. und weiß, daß er mir gewissermaßen die andere Rolle, nämlich hier Sprecher einer Koalition zu sein, Und ein allerletztes, aus einem ganz anderen doch sehr erleichtert hat. Thema! Eine persönliche Anmerkung. Herr Kollege von Brentano sprach von den sittlichen Grundlagen, Er hat sehr eindrucksvoll darauf verwiesen, die sich bei unserer Arbeit auf die verpflichtende welche Funktion eine Oppositionspartei in der par- Tradition christlichen Denkens gründen müssen. Er lamentarischen Demokratie hat. Er hat ihre Kontroll- erwähnte dabei, daß in der Zeit der Verfolgung funktionen sehr eindringlich geschildert und hat sehr durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft die einleuchtend demonstriert, daß es auch Aufgabe der Christen beider Konfessionen sich zusammengefun- Opposition sei, die Regierung ständig zu einer Über- den und dort also den Weg in die spätere Union prüfung ihrer eigenen Absichten und ihrer Ent- vorbereitet hätten. Lassen Sie mich aus eigenem scheidungen zu zwingen. Er hat sogar hinzugefügt, Erleben und Erleiden etwas hinzufügen. Am 15. Sep- daß man bei dieser Kontrollfunktion in der Methode tember 1939, vor mehr als 22 Jahren, stand ich vor sehr unterschiedlich vorgehen und gelegentlich auch dem Volksgerichtshof in Berlin und wurde dort über das Ziel hinausschießen könne. Mit dieser letz- zusammen mit einem evangelischen Geistlichen zu ten Bemerkung, Kollege Erler, haben Sie es mir zehn Jahren Zuchthaus wegen der Arbeit gegen das wirklich sehr erleichtert, als Koalitionssprecher auf- Hitlerregime verurteilt. Jawohl, es haben sich da- zutreten. Sie haben das sicherlich nicht absichtlich mals Christen aller Konfessionen über die trennen- getan; aber ich habe das so empfunden. den Gräben hinweg gefunden, aber im Widerstand gegen das „Dritte Reich" und im Wirken für ein Ich möchte ein Drittes hinzufügen, das Sie, Herr neues Deutschland — ich sage das ganz offen und Kollege Erler, nicht erwähnt haben, als Sie über ehrlich —, Christen u n d Nichtchristen. Was uns die Funktionen einer Opposition gesprochen haben. vorschwebte, uns, den Christen — zu denen zählte Ich meine eine Funktion, die man vielleicht gar nicht ich auch in jenen Jahren in Berlin im . Kirchenkampf so deutlich herausstellen kann, die sich aber aus mit meinem Freunde —, das war ein demokratisches dem parlamentarischen Wechselspiel ergibt. Eine Deutschland, in dem es verschiedene Kräfte gibt, die parlamentarische Opposition zwingt möglicherweise miteinander ringen. Da gingen wir nicht von der eine Regierung, gelegentlich von gefährlichen Kom- Vorstellung aus, daß sich dann alle Christen etwa promissen im außenpolitischen Bereich Abstand zu in einer Partei fänden. Deswegen wollte ich als nehmen. In einer parlamentarischen Demokratie, Nachklang sagen: ich sage ja zum Herausstellen wo man sich der Kritik der Ö ffentlichkeit und der der sittlichen Grundlagen, aber ich meine, daß das Wähler zu stellen hat, wird eine Regierungspartei Christentum nicht auf ein bestimmtes gesellschafts- und eine Regierungskoalition auch immer an die politisches Ordnungsbild verpflichtet; es gibt kon- Zeit denken müssen, wo sie sich dieser Kritik der servative, liberale und sozialdemokratische Christen. Öffentlichkeit zu stellen hat. Sie wird zwangsläufig auch immer daran denken, wie sie sich angesichts Das wollte ich hier nur gesagt haben, damit wir einer solchen kritischen Betrachtung durch ihre gar nicht erst falsche Akzente setzen. Die Christen Wähler mit der Opposition mit Aussicht auf Erfolg als Salz der Erde wirken in verschiedenen politi- auseinandersetzt. schen Parteien. Denn sobald sie sich in einem Volk mit unserer im wesentlichen durch das Christentum Herr Kollege Erler, mit Ihrer Definition der Auf- geprägten Tradition alle in einer Partei fänden, gaben einer Oppositionspartei in einer parlamen- wäre das wieder ein Einparteienstaat, den wir alle tarischen Demokratie haben Sie selber die besten nicht wollen. Deshalb wollte ich diese mahnende Argumente gegen eine Allparteienregierung in die- Bemerkung aus eigenem Erleben hier noch anschlie- sem Hause geliefert. ßen, weil ich der Überzeugung bin, daß unsere (Sehr richtig! in der Mitte.) Demokratie der Vielfalt der Kräfte und des Wirkens von Christen in allen demokratischen Parteien be- Ich hätte das gar nicht so überzeugend tun können, darf. weil man mir vielleicht unterstellt hätte, ich spreche von einer veränderten Situation aus. (Lebhafter Beifall bei der SPD und einigen Abgeordneten der FDP.) Herr Kollege Erler, Sie sagten der Eindruck im Ausland wäre dann am stärksten gewesen, wenn man sich in der augenblicklichen Situation zur Bil- Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat der dung einer Allparteienregierung entschlossen hätte. Abgeordnete Döring. Sie denken wahrscheinlich an das uns befreundete demokratische nachbarliche Ausland. Ich meine, der Eindruck im Ausland wird immer dann am stärksten Döring (Düsseldorf) (FDP) : Herr Präsident! Meine sein, wenn man dort feststellt, daß bei uns das par- Damen und Herren! Die Erinnerung des Kollegen lamentarisch-demokratische System im Wechselspiel Erler an eine sehr böse Zeit in der Geschichte un- von Regierung und Opposition funktioniert. Der seres Volkes und sein Rückblenden auf bitterste Eindruck wird vielleicht dann am stärksten sein, Stunden, die er in dieser Zeit hat durchmachen müssen, macht es mir gar nicht so leicht, den An- wenn dieses System gerade in politisch kritischen schluß zu finden an einige seiner eingangs gemach- Zeiten funktioniert. ten Bemerkungen über die Koalition, die vor weni- (Beifall bei den Regierungsparteien.) Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 105 Döring (Düsseldorf) Herr Kollege Erler, Sie sagten dann weiter, mein sen, ob Ihre Erinnerung an die März-Debatte des Kollege Mende habe heute morgen übersehen, daß Jahres 1958 noch sehr frisch ist. Sie fragten nämlich der Bundeskanzler bei der Abstimmung nur acht meinen Kollegen Mende, warum er eigentlich am Stimmen über sein Existenzminimum bekommen 25. März 1958 einen nationalen Notstand gegeben habe. Sie sagten, das schwäche das Gewicht der sah, der ihn zu der Forderung nach einer All- Tatsache, daß die Koalition in diesem Hause mehr parteienregierung veranlaßt habe. Nun, meine als 300 Abgeordnete habe, doch außerordentlich ab. Damen und Herren, Sie erinnern sich alle an diese Wenn ich mich recht erinnere, hat der Bundeskanz- recht leidenschaftliche Debatte im März 1958, und ler bereits einmal mit einem geringeren Existenz- ich glaube, es ist gar kein Geheimnis, daß die Freie minimum eine Kanzlerschaft angetreten; ich glaube Demokratische Partei damals der Meinung war — mit einer Mehrheit von einer Stimme. Aus seiner die Sozialdemokratische Partei war es, glaube ich, Perspektive wird er — davon bin ich überzeugt — mit ihr —, dieser Zeitpunkt, im März des Jahres es als einen ganz beachtlichen Erfolg betrachten, 1958, könne vielleicht ein bedeutsamer Wendepunkt daß er sich gegenüber 1949 immerhin um sieben in der Geschichte der Nachkriegszeit sein. Es ist gar Punkte verbessert hat. kein Geheimnis, daß wir damals der Meinung waren, (Heiterkeit und Zurufe von der SPD.) im Rahmen der zu diesem Zeitpunkt aufgeworfenen Probleme vielleicht eine erneute Behandlung der Damit will ich folgendes sagen: gerade diese Ab- deutschen Frage unter günstigeren Aspekten er- stimmung ist der deutlichste Beweis dafür, daß es reichen zu können. bei uns keinen Koalitionszwang gibt und keinen Vielleicht gab es damals mehr Spielraum als heute. Koalitionszwang geben wird. Angesichts der sehr harten gegenteiligen Auffassung (Abg. Dr. Burgbacher: „Fraktionszwang"!) und der Argumente der damaligen Regierung, die Herr Kollege Erler, damit ist der Beweis erbracht, allein von der CDU und der CSU getragen wurde, daß diese Koalition in jedem Fall gewillt ist, den waren wir der Überzeugung, daß man eine Ände Art. 38 des Grundgesetzes zu respektieren, wenn es rung der Situation oder eine Änderung der Auffas- auch vielleicht einmal der einen oder anderen Frak- sung der damaligen Regierungsparteien nur errei- tion in dieser Koalition nicht gefallen sollte. chen könne, wenn man in gemeinsamer Verantwor- tung einen solchen Weg zu gehen versuchte. Die Zum Koalitionsabkommen äußerten Sie, Herr Kol- Bundesregierung und die Koalitionsparteien des lege Erler, noch einmal wie Kollege Brandt heute Jahres 1958 haben sich dieser Forderung verschlos- - morgen Bedenken. Ich habe mich immer darüber sen. Aber darüber heute noch eine Debatte zu füh- gewundert, daß bei der Betrachtung dieser Koali- ren, wäre, glaube ich, sehr müßig. tionsvereinbarungen niemals Vergleiche gezogen Herr Kollege Erler, ich hätte diese Frage gar nicht worden sind zu der Koalitionsvereinbarung, die in aufgeworfen, wenn Sie nicht meinem Kollegen den Jahren 1957 bis 1961 zwischen der CDU und der Mende den Vorwurf gemacht hätten, er habe die CSU bestanden hat, ohne daß jemand auf die Idee damalige Situation offensichtlich als schlechter be- gekommen wäre, darin etwas Verfassungswidriges zu sehen. Ich habe mich eigentlich noch mehr dar- urteilt als die heutige, weil er sich heute gegen eine Allparteienregierung wende. Herr Kollege Erler, ich über gewundert, daß sich die Kollegen der sozial- erinnere mich dieser Nacht noch sehr genau, als demokratischen Fraktion — ich sah heute morgen den Kollegen Steinhoff aus Düsseldorf; vielleicht ist mein Kollege Mende einsam und verlassen hier am Rednerpult stand und seine Forderung stellte, und er noch da — nicht daran erinnern, daß wir im Jahre 1956 bei einer Regierungsbildung in Düssel- ich erinnere mich noch sehr genau der Unterbre- dorf ebenfalls eine Koalitionsvereinbarung getroffen chung der Sitzung. Ich erinnere mich noch sehr ge- nau, daß dann die CDU/CSU-Fraktion, die Regie- (Hört! Hört! bei der CDU/CSU) rungsfraktion, und die Freie Demokratische Frak- und sogar einen Koalitionsausschuß gebildet haben. tion mit Spannung darauf warteten, was nun wohl (Heiterkeit bei der CDU/CSU.) die große sozialdemokratische Fraktion zu dieser Kollege Steinhoff wird mir sicherlich bestätigen, daß Forderung der Freien Demokratischen Partei sagen das eine ausgezeichnete Einrichtung war. Ich will würde. Auch ich war innerlich sehr »angespannt, mich aber nicht nur an ihn wenden; ich glaube, auch Kollege Erler. Und was war das Ergebnis? Aus dem die Kollegen aus der CDU werden feststellen, daß Mund Ihres Fraktionsvorsitzenden haben wir dann der Koalitionsausschuß, den sie zusammen mit der zu unserer großen Enttäuschung — das gestehe ich CSU hatten, sowie die Koalitionsvereinbarung eine sehr offen, und meine Koalitionskollegen werden ganz gute Basis für die Zusammenarbeit waren. auch diese Aussprache sehr wohl verstehen; sie dient nämlich ganz allgemein einer Klärung — ge- Meine Herren Kollegen von der Opposition, hört, daß die sozialdemokratische Fraktion nicht warum soll eine Koalitionsvereinbarung, warum soll bereit war, etwa der These, die auf- ein Koalitionsausschuß, der erprobt ist in der Kon- gestellt hatte, zu folgen; vielmehr gab sie damals stellation CDU-CSU, der erprobt ist in der Kon- eine für uns kaum faßbare Erklärung ab. Und das, stellation FDP-SPD, im Jahre 1961 in Bonn nicht was drei Tage, nachdem diese »Debatte zu Ende war, einmal in der Konstellation CDU/CSU-FDP funk- öffentlich gesagt wurde, konnte eigentlich ihre Zu- tionieren? rückhaltung im entscheidenden Augenblick in (Beifall bei den Regierungsparteien.) keiner Weise mehr kompensieren. Herr Kollege Erler, Sie haben eine weitere Frage Nun, Herr Kollege Erler, ist ein solche Rück- aufgeworfen, die mich doch etwas hat zweifeln las- erinnerung sicher noch kein Beweis dafür, daß Ihre 106 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Döring (Düsseldorf) jetzige Forderung nach einer Allparteienregierung licher gewesen und dem sie mehr zu verzeihen ge deswegen etwa völlig überflüssig oder falsch sei. wesen wäre, bedeutend konkreter darüber geäu- Aber, Herr Kollege Erler: Ich hätte begriffen, wenn ßert, wie die Regierung ihre Regierungserklärung man in der Sozialdemokratischen Partei nach dem ausgelegt wissen möchte. 13. August, nach den Vorgängen in Berlin aufge- Herr Kollege Brandt und Herr Kollege Erler, aus standen wäre und gesagt hätte: Dies sind Alarm- den Worten aller Sprecher der Regierungsparteien zeichen, die uns veranlassen, nun die Forderung müssen Sie entnommen haben — und es besteht an nach einer Allparteienregierung zu stellen. Aber diesem Tage keine Veranlassung, zu unterstellen, das ist leider unterblieben. daß diese Worte nicht ehrlich gemeint waren —, (Abg. Brandt [Berlin] : Na, na!) daß der ehrliche Wille zur Aussprache, zur Diskus- — Nachdem der Wahlkampf vorüber war! sion auch auf seiten der Koalition besteht. (Abg. Brandt [Berlin] : Nein!) Lassen Sie mich noch einen Punkt richtigstellen. Herr Kollege Erler, Sie zitierten meinen Freund Herr Kollege Brandt, eine offizielle Forderung nach Mende und sagten, er habe in seinen Ausführungen einer Allparteienregierung seitens der Sozialdemo- heute gesagt: Kapitalismus ist .gleich freiheitliche kratischen Partei ist vor dem 17. September meines Sozialismus ist gleich Kom- Wissens nicht gestellt worden. Ich habe damals Gesellschaftsordnung, munismus. sehr aufmerksam, wie man das als Wahlkämpfer (Abg. Erler: Nur den ersten Teil!) ja tun muß, Berichte und Informationen gelesen. Ich habe den Eindruck, man muß bei Debatten seine (Abg. Erler: Dennoch lückenhaft! — Wei Vorredner manchmal mißverstehen. Ich weiß nicht, tere Zurufe.) ob Ihnen das Protokoll der Rede des Herrn Kolle- Aber selbst wenn ich einmal in Betracht ziehe, daß gen Mende schon vorgelegen hatte. die Sozialdemokratische Partei es für opportun oder (Abg. Erler: Herr Döring, ich habe den besser gesagt für zweckmäßig hielt — ich möchte zweiten Satzteil überhaupt nicht erwähnt, keinen falschen Akzent setzen —, die Forderung von dem Sie eben gesprochen haben, son nach einer Allparteienregierung nach dem 17. Sep- dern nur den ersten: Kapitalismus gleich tember zu stellen, dann mag ihr das unbenommen freiheitliche Gesellschaftsordnung!) bleiben, und ich glaube ihr, daß sie eine solche Forderung aus Besorgnis um die außenpolitische — Herr Erler, ich muß, um es ganz klarzustellen- Entwicklung und die in der Deutschlandpolitik und damit es keine Mißverständnisse über die ideo- stellt. Ich glaube Ihnen, daß Sie das ehrlichen Her- logischen Grundlagen gibt, meinen Kollegen Mende zens tun. zitieren. Ich darf das — mit der Genehmigung des Aber, Herr Kollege Erler, ich verwahre mich da- Herrn Präsidenten — tun. Er hat gesagt: gegen, daß Sie denen, die Gegner einer Allparteien- Der von Chruschtschow ausgerufene friedliche regierung sind — auch aus wohlerwogenen innen- Wettbewerb zwischen Kapitalismus — sprich politischen Gründen —, etwa unterstellen, daß sie freiheitliche Gesellschaftsordnung — und Sozia- um das Schicksal Deutschlands und des deutschen lismus — sprich Kommunismus — ... Volkes weniger besorgt wären. Er hat Herrn Chruschtschow zitiert und ihm richti- (Beifall bei den Regierungsparteien.) gerweise unterstellt, daß für ihn diese Übereinstim- Herr Kollege Brandt, ich habe heute morgen bei mung besteht, nicht für uns. einigen Passagen Ihrer Darlegungen — ich meine nicht die über Berlin, ich meine nicht die über die Herr Abgeordneter, Außenpolitik, sondern ich meine einige Passagen Vizepräsident Dr. Dehler: gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten im Bereich der Innenpolitik — das Gefühl gehabt, daß Sie sich von einer Sozialdemokratischen in eine Erler? sentimentaldemokratische Partei zu verwandeln ge- denken, Döring (Düsseldorf) (FDP) : Aber bitte, Herr Kol- (Heiterkeit bei den Regierungsparteien) lege Erler! als Sie sagten: „Sie wollen 11 1/2 Millionen Wähler" — nämlich die, die die Sozialdemokratische Partei Erler (SPD) : Ich halte es für völlig ausgeschlos- gewählt haben — „einfach beiseiteschieben". Herr sen, daß Herr Chruschtschow den Kapitalismus als Kollege Brandt, das ist wohl eine Unterstellung, freiheitliche Gesellschaftsordnung bezeichnet hat. und sie wird durch keine Äußerung, die heute von Das ist Herrn Mendes Interpretation von dem, was Sprechern der Regierungsparteien gemacht worden Herr Chruschtschow gemeint hat. ist, auch nur im geringsten gerechtfertigt. Weiter, Herr Kollege Brandt! Wenn ich mir die Döring (Düsseldorf) (FDP) : Es handelt sich um Reden, die heute gehalten worden sind, in Erinne- eine Deutung, die Herr Mende gegenüber der rung rufe oder sie im Protokoll nachlese, dann muß Chruschtschowschen Darstellung vorgenommen hat. ich sagen: verglichen mit dem, was Sie und der Kol- Herr Kollege Erler, lesen Sie es noch einmal im lege Erler über Ihre Vorstellungen zur Außenpolitik, Protokoll nach, und Sie werden feststellen, daß das, zur Deutschlandpolitik gesagt haben, hat sich mein was man Herrn Mende unterstellt hat, gar nicht sein Kollege Mende, bei dem Zurückhaltung begreif- kann, auch nach dem Wortlaut nicht. Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 107 Döring (Düsseldorf) Ein Letztes, Herr Kollege Erler! Ich habe mich Ich habe aus den Besprechungen über diese Frage in gefreut, heute bei dieser Debatte feststellen zu kön- der Vergangenheit den Eindruck, daß auch hier weit- nen, daß in einigen Punkten zwischen den Spre- gehend Übereinstimmung erzielt werden kann. Ich chern der Regierungsparteien und den Sprechern glaube, Einzelprobleme dieses Komplexes hier im der Opposition sogar eine weitgehende Überein- Plenum erörtern zu wollen, führt an den Dingen stimmung besteht. Es ist von allen Sprechern fest- vorbei. Dafür ist hier wohl nicht der richtige Ort. gestellt worden, es sei unser Wunsch und Wille, Aber darin stimme ich mit Ihnen überein: es bedarf daß keine isolierten Verhandlungen über Berlin einer sorgfältigen Überprüfung und Erörterung. Ich erfolgen. Von allen ist klar zum Ausdruck gebracht glaube auch, daß sich dann gemeinsam eine sachlich worden, daß niemand mehr isolierte Verhandlungen richtige Entscheidung finden lassen wird. über das Deutschlandproblem für möglich hält. Von Zum Schluß wiederhole ich noch einmal das, was allen Seiten ist erklärt worden, daß man eine Lö- heute morgen der Sprecher der Christlich-Demokra- sung dieser Probleme in unserem Sinne nur dann tischen Union, der Kollege von Brentano, und was für möglich hält, wenn sie engstens mit dem Pro- mein Kollege Mende gesagt haben. Sie werden uns blem der europäischen Sicherheit verbunden wird. immer bereit finden zu einer offenen und freimüti- Es besteht also eine weitgehende Übereinstimmung gen Aussprache, insbesondere über die Probleme, in dieser Schachteltheorie und in der Betrachtung die uns alle im Augenblick intensiv beschäftigen, der gegenwärtigen Situation. Es müßte deshalb ei- die Frage: Wird es uns gelingen, den Frieden zu gentlich auch möglich sein, sich in den zuständigen erhalten? Wird es uns gelingen, eine Veränderung Ausschüssen dieses Hauses, nämlich im Ausschuß in der Situation des ganzen deutschen Volkes noch für Auswärtiges und im Ausschuß für Verteidigung, in absehbarer Zeit zu erreichen? Niemand kann wohl über Fragen der Methodik in anderer Form zu un- aus der heutigen Debatte entnommen haben, daß terhalten, als das vielleicht in der Vergangenheit es seitens der Regierung und der Regierungsfrak- gelegentlich der Fall gewesen ist. tionen an gutem Willen dazu fehle. Wir glauben jedenfalls eines: wenn man seitens (Beifall bei der FDP.) der Westmächte zu Verhandlungen über Berlin be- reit ist, wenn es wirklich zu Verhandlungen kom- Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat der men sollte, die uns den Eindruck vermitteln müssen, Abgeordnete Dr. Barzel. als sollte isoliert über Berlin verhandelt werden, dann muß es nach unserer Überzeugung das Be- streben sein, wenigstens für die angestrebten Ziele Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine einer Interimslösung zu erreichen, daß über den Damen und meine Herren! Ich habe die Ehre, im Status ganz Berlins verhandelt wird und daß nicht Namen meiner Freunde zu den allgemeinpolitischen der Ausgangspunkt etwa Verhandlungen über West- Teilen der Beiträge der Kollegen Brandt und Erler berlin sind. Sie werden mit uns wohl darin überein- einige Ausführungen zu machen. Zu den außerpoli- stimmen, daß am Ende einer isolierten Verhandlung tischen Teilen wird sich mein Berliner Freund und über Westberlin vermutlich nur ein Status quo mi- Kollege Gradl hier äußern. nus für Westberlin stehen würde. Ich glaube, auf die Fragen des Kollegen Erler nach Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch dem Warum dieser Koalition (brauche ich nicht ein- auf ein Problem eingehen, das der Kollege Erler zugehen. Das hat heute vormittag schon der Vor- angeschnitten hat, das Problem der Dienstzeitver- sitzende unserer Fraktion getan. längerung für die Streitkräfte der Bundesrepublik. Ich möchte beginnen mit einem Dank dafür, daß Mein Kollege Mende hat durch einen Zwischenruf sowohl der Kollege Brandt wie der Kollege Erler bereits klargestellt, daß dieses Problem sich nicht heute von „unserer" Regierung gesprochen haben. etwa erst seit dem August 1961 stellt. Dieses Pro- Ich erinnere mich an frühere Debatten, wo immer blem besteht seit langer Zeit. Wer sich einmal in- mit einem gewissen bösen Unterton von „Ihrer" Re- tensiver um die Dienstzeitprobleme in der Bundes- gierung gesprochen worden ist. Ich stelle fest, daß wehr gekümmert und bemüht hat — das ist seitens das anders geworden ist, und bedanke mich dafür. aller Fraktionen geschehen —, der weiß, welch große Ich möchte ein Zweites tun. Der Kollege Brandt Schwierigkeiten in der Vergangenheit bestanden. war so liebenswürdig, den Herrn Bundeskanzler zu Mein Kollege Mende hat heute morgen nichts an- seiner Genesung zu beglückwünschen. Ich möchte deres zum Ausdruck gebracht als die Tatsache, daß das zurückgeben an Sie, Herr Kollege Brandt. Wir uns dieses Problem seit über einem Jahr bekannt haben ja festgestellt, daß der Grippeerreger ein in- ist und von uns diskutiert wurde und daß wir einer terfraktioneller Bazillus ist: der eine war vor der Dienstzeitverlängerung positiv gegenüberstehen. Reise krank, der andere hinterher. Wir freuen uns, Aber, Herr Kollege Erler, ich stimme Ihnen zu: daß beide wieder da sind. es gibt keine Vorlagen, und es hat darüber auch Sie haben — damit wir nun nicht nur Blumen- noch keine Erörterung im zuständigen Ausschuß sträuße austauschen — geglaubt sagen zu sollen, die gegeben oder geben können. Dieses Problem bedarf Regierungserklärung sei „kleinkariert". Nun, ich einer Erörterung, selbstverständlich auch einer sorg- glaube, unsere Phantasie erlaubt uns ein ähnliches fältigen Erörterung zwischen Koalition und Oppo- Attribut für verschiedene Reden der Opposition. Für sition. Eine solche Entscheidung kann und soll man mich wenigstens ist das Karo, auch wenn es klein nicht treffen, ohne sie mit allen Fraktionen des ist, eine klare Kontur, und die habe ich doch sonst- Hauses sorgfältig geprüft und besprochen zu haben. wo gelegentlich vermissen müssen. 108 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Barzel Ein Wort noch zu einer Frage, die heute immer schen Politik in den einzelnen Ländern Deutsch- wieder angeschnitten worden ist, vor allem auch lands Sorge zu tragen. Die Exponenten der von Herrn Kollegen Brandt, alber eben auch noch deutschen Länderpolitik innerhalb der sozial- vom Kollegen Döring, auch Herr Erler hat davon demokratischen Partei verpflichten sich, Koordi- gesprochen, — zur Frage des Koalitionspapiers und nierungsbeschlüsse und Richtlinien des Partei- des Koalitionsausschusses. Ich will mich auf die po- vorstandes und des Parteiausschusses innezu- litische Seite beschränken; denn die rechtliche ist ja halten. heute nicht mehr strittig gewesen. Ich lege Wert auf (Hört! Hört! bei der CDU/CSU. — Abg. .die Feststellung, daß die Fraktion der CDU/CSU in Brandt [Berlin] : Wenn das nur klappen vollem Umfang, uneingeschränkt, zum Art. 38 des würde!) Grundgesetzes steht. Niemand, keine Fraktion, keine Partei, keine Regierung, kein Papier vermag Sie verpflichten sich ferner, in kritischen Situa- dieses Grundrecht des Abgeordneten, nur seinem tionen und bei möglichen Überschneidungen Gewissen zu folgen, einzuschränken oder gar auf- von Kompetenzen im Rahmen der Länderpolitik zuheben. Dieses Recht hat Vorrang vor allem. Ich den Parteivorstand zu unterrichten und die weiß mich in dieser Interpretation einig mit unse- in gegenseitiger Aussprache als Richtlinien er- ren Koalitionsfreunden von der FDP. arbeiteten Grundsätze jeweils zu vertreten. Ich lege aber, weil der Kollege Brandt heute mor- So weit der Beschluß eines Parteitages der Sozial- gen meinen verehrten Fraktionskollegen und jet- demokratischen Partei Deutschlands. Ich will nicht zigen Minister Dr. Krone zitiert hat, Wert auf eine fragen, ob das verfassungskonform sei, weil ich zweite Feststellung: Die Fraktion der CDU/CSU ist überhaupt nicht die Vermutung äußern möchte, daß nicht willens oder bereit, hier .das entstehen zu las- rechtsstaatliche und demokratische Politiker in un- sen, was in Österreich Usance geworden ist und serem Land irgendeine Praxis pflegen, der die Ver- was, wenn es bei uns Wirklichkeit würde, gegen fassung entgegensteht. das Grundgesetz wäre. Einem Koalitionsausschuß (Beifall bei der CDU/CSU.) als Oberregierung oder als Oberparlament werden wir nicht zustimmen. Und ich glaube, daß die Praxis Aber ich meine, daß man uns das dann auch nicht der bisherigen Sitzungen doch zeigt, daß die Taten in die Schuhe schieben sollte. Wenn Sie an der durchaus diesem Vorhaben entsprechen. Quelle Interesse haben: Vielleicht lesen wir die Handbücher der SPD etwas sorgfältiger als Sie! Ich möchte aber, weil der Kollege Döring eben auf den Koalitionsausschuß in Düsseldorf bei der von (Heiterkeit bei der CDU/CSU.) - SPD und FDP gebildeten Regierung unter dem jet- Ich muß mich nun mit dem zweiten Einwand be- zigen Kollegen und früheren Ministerpräsidenten schäftigen, mit dem Einwand, die Regierungserklä- Steinhoff von 1956 bis 1958 zu sprechen gekommen rung sei aus dem Programm der SPD abgeschrieben. ist — einen Koalitionsausschuß, der sich, wenn ich Über diesen Einwand kann ich mich nur freuen. recht informiert bin, sogar über Regierungsgeschäfte Denn ich erwarte nun breite Mehrheiten in wichti- und Ministerpersonalien unterhalten hat —, doch gen Fragen, — ein schöner Beitrag zu einem neuen sagen, daß wir nicht willens und bereit sind, eine Stil. solche Übung hier entstehen zu lassen. Aber zweitens, meine Damen und meine Herren (Abg. Dr. Heck: Sehr richtig!) — lassen Sie es mich ganz ruhig sagen —: wer hat denn nun eigentlich verbrannt, was er früher ange- Die CDU/CSU ist nur bereit, einen Koalitionsaus- betet hat? schuß wirksam werden zu lassen, der sich voll und (Sehr gut! und Beifall bei der CDU/CSU.) ganz im Rahmen des Grundgesetzes hält, so wie er schon früher bestanden hat, also kurzum: einen Ge- Wollen Sie vielleicht — sprächskreis der Fraktionen, die die Bundesregie- (Abg. Erler: Sie meinen das Ahlener Pro rung tragen, zum Zwecke des Sich-Zusammenfindens. gramm?) (Abg. Dr. Mende: Genau das war verein ein öffentliches Gelächter bewirken und behaupten, bart!) Ihre Sozialisierungskataloge seien die Grundlage des Durchbruchs zur Sozialen Marktwirtschaft ge- — Ich bedanke mich für die Klarstellung, Herr Kol- wesen oder Ihre „Ohne-mich"-Kampagne hätte etwa lege Mende. die NATO-Politik bewirkt? Das sollten Sie nicht Der Kollege Erler hat von dem Salz gesprochen. tun. Aber bei allem Streit, den wir über Plagiate und Da das Salz sicher nicht auf eine Seite beschränkt über Urheberrecht anzufangen scheinen: Wir Christ- ist, möchte ich hier aber noch eines sagen. Die Frak- lichen Demokraten stellen einfach erfreut fest, daß tion der CDU/CSU ist auch nicht etwa bereit, hier die 12jährige Politik und das Programm dieser eine Praxis einreißen zu lassen, die analog einem Union inzwischen zum Richtpunkt auch für die an- Beschluß eines Parteitages der Sozialdemokratischen deren geworden sind. Partei Deutschlands wäre. Mit Genehmigung des (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Erler: Herrn Präsidenten darf ich diesen Beschluß hier Welches Programm? Das Ahlener Pro zitieren: gramm? Oder haben Sie ein neues?) Der Parteitag hat beschlossen: — Herr Kollege Erler, es ist eben so — — Der Parteivorstand ist ermächtigt und verpflich- (Abg. Erler: Welches Programm?— Welches tet, für die Koordinierung der sozialdemokrati Programm?) Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 109

Dr. Barzel

— Lassen Sie mich das bitte erst abschließen! Es tretenen Parteien gelten zu lassen un d nicht dem- ist eben so: Wenn katholische und evangelische Chri- jenigen, der den sozialen Rechtsstaat sozial, aber sten zusammenarbeiten — und sie tun es ohne jeden nicht sozialistisch ausgestaltet, etwa vorzuwerfen, Monopolanspruch —, dann enstehen eben Dinge, an daß er mit diesem Begriff leichtfertig umgehe. denen keiner vorbei kann. Das dürfen wir hier, (Sehr gut! in der Mitte.) glaube ich, feststellen. Ich bitte, hier nicht diese Debatte so zu führen; denn Aber ein Zweites, Herr Kollege Erler, als ganz das wäre praktisch der Vorwurf einer verfassungs- kurze Antwort auf das, was Sie am Schluß über widrigen Politik. Christlichkeit gesagt haben. Man soll auch nieman- den hindern — und hier zitiere ich sinngemäß aus Hier ist ein bißchen unsere soziale Gesinnung an- dem Gedächtnis ein Wort des Herrn Präsidenten gezweifelt worden. Nun, ich will Ihnen nicht die Gerstenmaier —, eine politische Gemeinschaft zu Zahlen über das vorlegen, was geschehen ist. Aber bilden, die sich freiwillig unter Gottes Gebot stellt. mir scheint doch manchmal, daß wir, ich möchte Und wir sind die einzige, die das tut. Das scheint sagen, über dem Hügel von Problemen, die wir mir doch auch der Beachtung wert. noch vor uns haben, den Berg der Probleme ver- gessen, den wir trefflich abgetragen haben, den Berg Wenn Sie nun fragen, Herr Kollege Erler: „Wel- der Probleme, die wir gelöst haben. ches Programm?" — ich will diese Frage gern be- (Beifall bei der CDU/CSU.) antworten —, so darf ich dazu sagen, daß alle Parteien dieses Hauses eine gewisse Programm- Bevor Sie uns in irgendeiner sozialen Frage Vor- geschichte hinter sich haben. Ich freue mich über würfe machen, nennen Sie mir bitte den Staat der alle Entwicklungen, die dem Wohle des Volkes Welt und die Politik in der Welt, die in diesen dienen. Ich freue mich darüber, daß wir hier ein 12 Jahren — ausgehend von einer Lage wie bei bißchen näher zusammenrücken, und da soll man uns 1949 — Vergleichbares erreicht hätte. jedenfalls nicht solche Bemerkungen machen. (Zustimmung in der Mitte.) (Abg. Erler: Sie sprachen von dem Pro Ein Wort zum Notstandsgesetz. Ich will mich hier gramm, ich möchte es gerne lesen, schicken sehr vorsichtig ausdrücken, weil ja der neue Herr Sie es mir! Ist es das alte oder ein neues?) Innenminister Verhandlungen angekündigt hat, über — Aber Herr Kollege Erler, Sie sollten doch unsere die Sie sich freuen, wie ich Ihren Äußerungen ent- Publikationen mindesten mit demselben Ernst stu- nommen habe. Aber wenn hier schon der Kollege dieren, mit dem wir Ihre lesen! Tun Sie doch nicht so, Brandt und auch der Kollege Erler so positiv- zum als gäbe es kein CDU-Programm. Ich bin bereit, Notstandsgesetz sprechen, dann erlauben Sie mir, Ihnen die ganzen Sachen zuzustellen. in diesem Gemeinsamkeitsbemühen, das wir heute entfachen, Auch einmal eine Bitte an Sie zu richten. (Beifall bei der CDU/CSU.) Sicher haben Sie genauso wie wir studiert, was ein- Ich möchte ein Wort zu den Befürchtungen sagen, zelne dem DBG angehörende Gewerkschaften zu die sowohl der Kollege Erler als auch der Kollege dieser Frage beschlossen haben. Sie haben sicher Brandt geäußert haben, hinsichtlich der Tarifver- in diesen Beschlüssen gelesen, daß man für den Fall, tragshoheit und der Zusammenarbeit der Sozial- daß ein Notstandsgesetz verabschiedet würde, den partner. Sie haben beide hier sehr harte Befürch- Gedanken des Generalstreiks erwägen müßte. Das tungen geäußert und, wie ich glaube, doch die Vor- sind zum Teil doch Gewerkschaften, die sich in ihren stellung der Bundesregierung, soweit ich sie richtig eigenen Satzungen das Recht haben geben lassen, zu beurteilen vermag, falsch wiedergegeben. Ich auch den politischen Streik auszurufen, ohne vorher darf Ihnen sagen, daß der § 1 des Tarifvertragsgeset- ihre Mitglieder zu fragen. zes auch für uns eine unverrückbare und unabänder- Ich will in der Frage nicht insistieren, sondern nur liche Grundlage der Politik ist. Ich darf Sie daran eine herzliche Bitte an Sie richten: Machen Sie erinnern, daß die Idee der sozialen Partnerschaft Ihren Einfluß auf diesem Gebiet geltend, damit wir aus unserem christlich-sozialen Denken geboren ist wirklich zu einer Notstandsgesetzgebung kommen, und nicht aus irgendwelchen Rudimenten klassen- wie sie unser Volk braucht! Denn alles das, was kämpferischer Haltung. Ich darf zum dritten aus- hier über Allparteienregierung und Notlage unseres drücklich bestätigen, was der Herr Kollege Erler Volkes gesagt wird, kann dabei durch praktische gesagt hat: Zu einer freiheitlichen Ordnung gehören Taten vorzüglich glaubhaft gemacht werden. nicht nur freie Preise — dazu gehören auch freie Löhne. Aber hier ist eine Versachlichung im In- (Zustimmung in der Mitte.) teresse des Gemeinwohls notwendig. Nun, das sehen Ich muß leider noch etwas anderes zurückweisen. wir alle, und so scheint mir die Regierungserklärung Die Kollegen Brandt und Erler haben ein Problem in diesem Punkt nur ein Problem anzusprechen, das etwas vorsichtiger angesprochen, als es die Kollegen wir alle miteinander sehen. Wehner und Ollenhauer in der Vordebatte getan Ich möchte mich einigen anderen Fragen zuwen- haben. Der Kollege Wehner hat es für richtig ge- den, die vor allem der Kollege Brandt heute morgen halten, die Koalition einen „geleimten Bürgerblock" angesprochen hat. Auch der Kollege Erler hat sich zu nennen. länger dazu geäußert. Es ist vom freiheitlichen so- (Abg. Brandt [Berlin] : Er stützte sich auf zialen Rechtsstaat gesprochen worden. Ich möchte das Industrieinstitut!) Sie sehr herzlich einladen, diesen Begriff doch als — Ich stütze mich auf den „Vorwärts". die gemeinsame Heimat für alle hier im Hause ver (Heiterkeit in der Mitte.) 110 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Barzel Herr Kollege Ollenhauer nannte sie eine „Besitz- Dr. Barzel (CDU/CSU) : Bitte! bürgerkoalition". Sonst wird in Ihrer Presse vom „sozialen Rückschritt" gesprochen. Ich hätte das Erler (SPD) : Herr Kollege Barzel, ist Ihnen be- nicht angesprochen, wenn nicht der Kollege von kannt, daß und Brentano heute in der Debatte an Sie die Frage sich ausdrücklich gegen diese aus der Mottenkiste gerichtet hätte, ob Sie etwa unser soziales Gewissen des Deutschen Industrieinstituts herausgeholte Ter- bezweifeln wollten, und wenn es da nicht aus Ihren minologie gewandt haben? Daher kommt es näm- Bänken geklungen hätte: Ja! Deshalb muß ich hier- lich. zu noch ein paar Worte sagen. Meine Damen, meine Herren, Sie glauben, es gebe eine Gefahr des so- Dr. Barzel (CDU/CSU) : Aber Herr Kollege Erler, zialen Rückschritts. Ich bedanke mich zunächst für es ist doch einfach nicht wahr. In zwei Leitartikeln diese Formulierung. Denn dann haben wir also bis- im „Vorwärts" hat der Kollege Wehner nicht zitiert, her einen auch von Ihnen bestätigten, festgestellten sondern dieses Wort uns vorgeworfen. Er hat nicht Fortschritt gehabt. gesagt, er zitiere etwas. Ich möchte an diesem Punkt Ist eigentlich eine Koalition, die wir mit den die Debatte aber nicht verschärfen. Freien Demokraten eingehen, automatisch etwas so (Abg. Mattick: Das haben Sie schon getan!) Scheußliches, wie Sie es bezeichnen? Ist das etwas anderes, als wenn Sie in Hamburg oder in Bremen — Aber meine Damen, meine Herren, ich habe mich doch für meine Verhältnisse bisher sehr sanft be- oder in Niedersachsen oder auch in Düsseldorf nommen. Ich habe — wie Sie sehen — für die vierte solche Koalitionen eingehen? Das sollte man doch Periode gute Vorsätze gefaßt. Lassen Sie mich doch nicht tun. dabei! — Herr Brandt geht schon hinaus. Das ist Dieses böse Wort vom „Bürgerblock", auch ein Beitrag zum Stil. (Abg. Brandt [Berlin] : Das stammt doch Ein Wort zur Gemeinsamkeit! Ich möchte Sie sehr vom Industrieinstitut!) herzlich bitten, das in Ruhe sagen zu dürfen, damit dieses böse Wort vom „geleimten Bürgerblock" von wir hier nicht hitzig werden. Der Kollege Brandt Herbert Wehner und von der „Besitzbürgerkoali- hat davon sehr oft und sehr stark gesprochen. Das tion" von Erich Ollenhauer deckt sich durchaus mit unseren Vorstellungen, die (Zurufe von der SPD: Industrieinstitut!) sowohl die Bundesregierung in ihrer Erklärung wie der erste Sprecher unserer Fraktion hier vorgetragen kann ich allerdings verstehen; denn es ist geboren haben. Ich möchte mich besonders bei dem Kollegen aus dem Ärger über die nun vierte verlorene Wahl. Erler für sein Wort von der praktischen Tat der (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Erler: Gemeinsamkeit bedanken, mit dem er all denen Wer hat bei dieser Wahl mehr Stimmen eine Absage gab, die es künftig noch wagen, irgend- verloren, Sie oder wir?) einen von uns einen Revanchisten zu nennen. Vielen — Herr Kollege Erler, wir wollen doch nicht anfan- Dank! Das war ein wesentlicher Beitrag zu dieser gen, hier zu erzählen. Soll ich Ihnen die Zitate des gemeinsamen Politik in den großen Fragen. Herrn Brandt vorlesen, in denen er sagt, es sei nicht Die Bundesregierung hat sich erfreulicherweise das Ziel der Sozialdemokratischen Partei, in dieser genau wie wir zu einer Kooperation mit der Oppo- Wahl Stimmen oder Mandate zu gewinnen, sondern sition bekannt, und sie hat bekundet, daß sie in den es sei das Ziel, die absolute Mehrheit zu erobern? Lebensfragen zur Gemeinsamkeit aller kommen Ich habe Ihre Dürkheimer Rede bei den Akten. Soll möchte. Wir bitten die Bundesregierung, das wirk- ich Ihre Rede vom 28. April verlesen, Herr Kollege lich zu tun. Sie braucht sich dabei nicht an den Brandt? Da haben Sie doch das alles gesagt! schlechten Beispielen zu orientieren, wie sie etwa Daß aber dieses böse Wort von einer politischen gelegentlich in der Zusammenarbeit zwischen dem Partei gesprochen wird, die sich nach ihren Äuße- Herrn Regierenden Bürgermeister von Berlin und rungen nun anschickt, auch Volkspartei zu werden, seinem dortigen Koalitionspartner praktiziert wer- also, wenn es recht verstanden ist, doch wohl Partei den. auch der Bürger, das kann ich allerdings nicht ver- (Pfui-Rufe bei der SPD. — Abg. Mattick: stehen. Sie sind zu sich selbst zurückgekehrt!) (Abg. Wehtier: Sind die Arbeiter nicht Meine Damen, meine Herren, wir sind zur Zu- Bürger? — Abg. Brandt [Berlin] : Was ist sammenarbeit bereit. Wir sind zu einer Kooperation das für eine Terminologie? — Weitere aller im Parlament bereit. Ich möchte allerdings Zurufe von der SPD.) dies sagen: Ich glaube, daß am Beginn gemeinsamer — Ich bin froh, daß Sie diesen Einwand bringen; Politik das Ja zum Wehrhaushalt stehen muß, das denn jetzt sind wir endlich dabei, zu erkennen, daß der Kollege Mende so betont hat; auch das Ja zur diese Bürger-Terminologie, die von Ollenhauer und Wehrpflicht, das der Kollege Erler, wenn ich ihn Wehner geprägt ist, aus klassenkämpferischem Den- richtig verstanden habe, heute gesprochen hat. Es waren dann noch einige Fragen, über die man wahr- ken kommt. (Beifall bei der CDU/CSU.) scheinlich sprechen muß; hoffentlich war das kein verklausuliertes Nein. Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter Meine Damen und Herren, es ist heute von den Dr. Barzel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des beiden Herren, mit denen ich mich zu befassen habe, Herrn Abgeordneten Erler? sehr oft und sehr nachhaltig und zum Teil sehr Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 111 Dr. Barzel schön und sehr ernst über die Notwendigkeit ge- — Eine Sekunde! Wenn ich mich recht erinnere, hat sprochen worden, die Verfassung zu achten. Es ist der Kollege Dr. — ich bitte mir auf vom Grundgesetz, von der Demokratie, und es ist die Sprünge zu helfen — sein Ministerpräsidenten- besonders vom „Stil" gesprochen worden. Nun, las- mandat niedergelegt und das Amt hier im Hause be- sen Sie mich hierzu eines sagen. Ich will mich auf vorzugt. einen Punkt beschränken; aber erlauben Sie mir (Zurufe von der SPD: Kiesinger!) gütigerweise, Ihnen den vorzutragen, sehr viel zar- Aber ich meine, Herr Kollege Jahn, allein dies zeigt, ter vorzutragen, als Sie heute morgen etwa den .daß wir auf ein Problem hinweisen. Herrn Bundeskanzler angepackt haben. (Zurufe von der SPD: Kiesinger! — Zuruf Nach herrschender Staatsrechtslehre sind die Am- von der FDP: Er meint Kiesinger!) ter des Bundestagsabgeordneten und des Mitglieds einer Landesregierung unvereinbar, wenn der be- — Aber, meine Damen und Herren, man wird doch treffende Abgeordnete zugleich Mitglied des Bun- von einer solchen Stilfrage hier in Ruhe sprechen desrates ist. Das gilt insbesondere, wenn dieser können! Sie haben ja auch über unseren angeblich Abgeordnete in seinem Lande als Regierungschef mangelnden Stil gesprochen; da lassen Sie mich das das Recht zur Bestimmung der Richtlinien der Lan- doch in Ruhe vortragen! — Ich glaube, es ist kein despolitik hat. Ich will diese Rechtsfrage hier nicht guter Stil, hier auszuscheiden, „weil nicht alle Blü- vertiefen, ich will auch nicht etwa eine Verfassungs- tenträume reiften". Meine Damen und meine Her- klage androhen; aber ich meine, daß im Interesse ren, es gibt auch ein Ansehen des Parlaments und unseres freiheitlichen Rechtsstaates davon gespro- ein Ansehen der Kleinarbeit der Mitglieder dieses chen werden muß. Denn wenn diese Inkompatibilität Hauses, und ich bitte Sie, sich zu überlegen, ob verletzt wird, dann wird nicht nur Recht beein- diese Schritte dem gedient haben. — trächtigt, sondern dann wird der demokratische Stil Meine Damen und Herren, ich möchte auch we- wesentlich beschädigt; nige Worte an den Kollegen Mende und an den Kol-

(Beifall bei der CDU/CSU) legen Döring richten. Ich glaube, daß diese Debatte ein guter Anfang war; ,die Beiträge unserer Koali- und ich meine, daß die Demokratie zu ihrer Existenz

nicht nur der formellen Rechtlichkeit, sondern auch tionsfreunde waren durchaus koalitionsfreundlich; ich möchte mich dafür sehr herzlich bedanken. des Stils und des geistigen Gehalts bedarf, der im

Stil der Handelnden Ausdruck finden muß. (Beifall bei der CDU/CSU.) Deshalb möchte ich hier ein ganz offenes Wort Herr Kollege Mende, Sie kennen mich — wir- haben an den Kollegen Brandt richten, ein Wort, meine zusammen studiert —; Sie werden erwarten, daß Damen und Herren, das ich mir nicht etwa als per- ich da noch etwas dahinter habe. Sie haben im zwei- sönliches Wort anzukreiden, sondern wirklich aus ten Teil Ihrer Rede zahlreiche innenpolitische Pro- diesem sachlichen Zusammenhang zu werten bitte. bleme angesprochen. Ich bin gespannt auf die — Zu seiner Rede kam der Kollege Brandt von dort, darf ich das ganz schlicht und freundschaftlich sagen von seinem Sitz als Abgeordneter. Herr Kollege — Deckungsvorschläge. Wir werden die Deckung Brandt hätte ebenso von dort, von seinem Sitz als sicherlich nicht durch Steuersenkungen bekommen Mitglied des Bundesrates, kommen können. Und weil können. ihm nun die Wähler den Weg nach dort, dem Sitz des Bundeskanzlers, nicht freigegeben haben, wol- Nun aber ein Wort, Herr Kollege Mende, weil Sie von der „Schlüsselposition" der Freien Demokraten len Sie, wie man hört, Herr Kollege Brandt, auf die in diesem Hause gesprochen haben. Ich will das Mitarbeit in diesem Hause verzichten. Das nenne sehr nüchtern und ernst tun, weil es, glaube ich, ich nicht einen Beitrag für einen neuen Stil und auch nicht einen Beitrag für die Achtung der Insti- wirklich ein Problem ist, das uns alle miteinander angeht. Sie sind die einzigen — so, glaube ich, muß tutionen. man objektiv zugeben —, die ihr Wahlziel wirklich (Beifall bei der CDU/CSU.) erreicht haben. Allerdings war es weniger weit ge- steckt als das der beiden anderen Parteien. Wir sag- Vizepräsident Dr. Dehler: Herr Abgeordneter ten: Die absolute Mehrheit sichert die Stabilität der Barzel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn staatlichen Ordnung und die Kontinuität der Politik. Abgeordneten Jahn? Sie sagten, wenn ich Sie recht verstanden habe: Es ist besser, die Mehrheit zu brechen und eine Part- (CDU/CSU) : Bitte schön! Dr. Barzel nerschaft mit uns zu begründen.

Der Wähler hat nun entschieden, und er hat Jahn (Marburg) (SPD) : Herr Kollege Dr. Barzel, Ihnen, wie ich glaube, mit dem Recht zugleich die erinnern Sie sich daran, daß der Ministerpräsident Pflicht übertragen, zweierlei zu tun. Erstens: Darzu- des Landes Baden-Württemberg noch über ein Jahr tun, daß auch eine Koalition und ein Dreiparteien lang diesem. Hause angehört hat? system Stabilität und Kontinuität sichern können. (Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt ja gar Zweitens: Die Wähler haben Sie verpflichtet, nun nicht!) gemeinsam mit uns für vier Jahre Verantwortung

zu tragen. Ich bedanke mich, daß Sie beiden Dr. Barzel (CDU/CSU) : Verzeihen Sie gütiger- Punkten durch Kopfnicken zustimmen, und ich will weise; meine Erinnerung reicht nicht so weit. deshalb darauf verzichten, noch auf andere Dinge

(Lachen bei der SPD.) einzugehen. 112 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Barzel Aber erlauben Sie mir ein Wort zu der partner- zu sprechen. Es ist klar — und hier besteht keine schaftlichen Formulierung, die Sie auch heute wie- Unterschiedlichkeit unter uns, wie die Rede von der in Ihrem Debattenbeitrag vorgetragen haben. klargemacht hat —, daß alle Vermuten Sie bitte keinen Hintergedanken, wenn diese Opfer gerecht verteilt werden müssen. Es ist ich Ihnen sage, daß ich eine bessere Formulierung aber ebenso unerläßlich, daß diese Opfer unserem dessen, was Partnerschaft ist, nicht kenne als die, Volk sinnvoll erscheinen müssen und verständlich die der verstorbene Ministerpräsident gemacht werden müssen. Die Bundesregierung muß einmal gegeben hat. Arnold sagte: „Partnerschaft — und das ist eine herzliche Bitte — gerade in die bedeutet keine Gleichschaltung und keine Ver- ser Situation im ständigen Kontakt mit dem Volk wischung der Verschiedenartigkeit. In der Bezeich- sein. Dem Volk muß offen gesagt werden, was ist, nung Partner liegt auch eine Anerkennung der Un- warum dieses oder jenes gefordert werden muß. Ich terschiedlichkeit." Ich denke, daß wir auch insoweit glaube, der Gebende muß heute innerlich davon übereinstimmen, und es ist gut für die Öffentlich- überzeugt sein, daß das Geforderte notwendig ist, keit, wenn das sichtbar wird. daß sinnvoll von ihm gefordert wird. Dies list des- halb nicht die Zeit für Versprechungen. Wir werden, Und nun erlauben Sie mir noch — ich hoffe, daß meine Damen, meine Herren, auf manches verzich- Sie mir nicht verübeln werden, wenn ich mich auch ten müssen, weil Freiheit und Sicherheit bedroht unter Ihren Ahnherren umgesehen habe —, mit der sind. Mir scheint aber, daß das Geld, das wir hier- Genehmigung des Herrn Präsidenten ein Wort aus für aufwenden, gut angelegt ist. einer Schrift von Friedrich Naumann zu zitieren, einer Schrift aus dem Jahre 1900 mit der Überschrift Lassen Sie mich zur allgemeinen Innenpolitik noch „Demokratie und Kaisertum". Friedrich Naumann ein Wort sagen, das, glaube ich, auch ein Wort von schreibt dort: Gemeinsamkeit hier unter uns sein könnte, ein Wort von Gemeinsamkeit hinweg über alle Unterschiede Bei allen Wahlakten und Abstimmungen ent- zwischen christlich-sozial und neoliberal und neo- scheidet die Majorität. Damit aber die Majorität sozialistisch, Unterschiede, die sicherlich sehr be- regieren kann, muß erst eine Majorität vorhan- achtlich sind und im Detail sehr deutlich werden. den sein, und zwar nicht eine Majorität für in Mir scheint es nötig, von gewissen Tendenzen zu einzelnes Gesetz oder eine einzelne Handlung. sprechen, die uns alle gemeinsam angehen, nämlich Regieren besteht bekanntlich in zusammen- von neo-feudalistischen Tendenzen und Erscheinun- hängendem Handeln auf verschiedenartigen Ge- gen in unserer Gesellschaft. bieten, im Ausführen größerer Gedankengänge. - Eine Majorität, die nur auf ein oder zwei Leit- Verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Ich bin ein sätzen aufgebaut ist, wird stets in Gefahr ein, Feind der Uniformität, der Gleichmacherei und der an der Vielartigkeit der politischen Probleme zu Nivellierung. Ich huldige auch nicht der Ansicht, zerschellen. Man erinnert sich, wie der Libera- daß Macht alles das sei, was mißbraucht werden lismus am preußischen Militärproblem zerbro- könnte. Ich bin aber zugleich dagegen, daß sich chen ist. innerhalb unseres freiheitlichen demokratischen — So weit Friedrich Naumann. Die Stelle, Herr Kol- Rechtsstaates neue Fürstentümer entwickeln, — lege Mende, geht weiter, aber was dann kommt, Fürstentümer, mit der Tendenz, zu Kurfürsten- gebe ich Ihnen lieber privat. tümern zu werden. Solche Fürstentümer gründen sich nicht nur auf Geld, sie gründen sich auch auf (Abg. Dr. Mende: Ich kenne es!) Verbände, auch auf Konzentrationen jedweder Art. — Sie kennen es. Dann wissen Sie, daß jetzt die Darüber wird noch zu sprechen sein. Wir begrüßen Sätze von Friedrich Naumann darüber kommen, auch unter diesem Gesichtspunkt die Erklärung der warum nur das Zweiparteiensystem eine stabile Bundesregierung über das Parteiengesetz, über Kar- Ordnung herstelle. Aber ich wollte sie nicht zitieren. tell- und Aktienrecht, über den Fortgang der Eigen- (Abg. Dr. Mende: Warum soll sich Nau tumspolitik, über die Strukturpolitik, über die Re- mann vor einigen Jahrzehnten nicht auch form der Umsatzsteuer, über die Mittelstandspoli- geirrt haben wie am 17. September dieses tik und so fort. Jahres Professor Eschenburg?!) Wir hoffen, daß wir recht bald Vorlagen zu die- — Ausgezeichnet. Ich freue mich, daß wir aus unse- sen wirklich wichtigen gesellschaftspolitischen Pro- rer gemeinsamen Studienzeit den Friedrich Nau- blemen bekommen, die der Lösung dienlich sind. mann nicht vergessen haben. Wir werden uns in den Antworten wahrscheinlich unterscheiden. Ich möchte aber doch schon jetzt Die Fraktion der CDU/CSU steht loyal zu dieser unsere Kollegen von der Opposition herzlich ein- Koalition. Da aber nun unterschiedliche Fraktionen laden, niemals so zu tun — ich weiß nicht, ob es hier mit unterschiedlichen Programmen und Auf- hier geschehen ist; aber ich sage es für die künf- fassungen zusammenarbeiten, können auch wir nicht tigen Debatten —, als sei dieses Problem, das ich darauf verzichten, einige eigene Akzente zu setzen. nur ganz flüchtig ansprechen kann, ein Problem, Ich glaube, daß unser Fraktionsvorsitzender Hein- das auf unser Land beschränkt sei, oder etwa ein rich von Brentano heute morgen dazu schon Wich- Problem, das sich in sozialistisch regierten Ländern tiges gesagt hat. nicht stelle. Ich glaube, daß Sie sehr wohl wissen, Darf ich daran noch einige Ergänzungen knüpfen. was in dem Programm der schwedischen Sozialisten Ich begrüße es, daß die Bundesregierung den Mut zu diesen Fragen ausgeführt ist. Die schwedischen fand, von Opfern für Freiheit, Sicherheit und Einheit Sozialisten regieren nun seit 30 Jahren und haben Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 113 Dr. Barzel I nach 30 Jahren in ihrem Programm vom vorigen geht, die Gesetzgebung über Jugendschutz, Jugend Jahr die „Konzentration wirtschaftlicher Macht" be- hilfe und Sozialhilfe erneut zur Debatte zu stellen. klagt und — ich darf mit Genehmigung des Präsi- Dem Herrn Familienminister möchte ich einen denten einen Satz zitieren — festgestellt: sehr herzlichen Glückwunsch sagen. Wenn ich sehe, Die große Masse .der Arbeitnehmer ist von Be- wie nun von allen Parteien familienfreundliche Pro- schlüssen abhängig, die von einer Minderheit gramme und Erklärungen vorgelegt werden, dann gefaßt werden, die nur an ihr eigenes Interesse freue ich mich über den Wettbewerb, der hier im denkt. Hause über die besten Ideen dazu eintreten wird, und auch darüber, daß wir die entsprechenden Vor- Ich sage das nicht, um jetzt zu polemisieren und lagen mit breiter Mehrheit werden verabschieden etwa die Frage zu stellen: „Ich denke, der Sozia- können. lismus löst das auf?", nein, um darzutun, daß dies (Beifall bei der CDU/CSU.) ein Problem ist, das uns wirklich alle miteinander angeht. Wir sollten deshalb aus dieser Sache ein Der Herr Kollege von Brentano hat über die Ju- bißchen von den Schärfen herausnehmen, die auch gend gesprochen. Lassen Sie mich ein Wort zur heute in einigen Reden aufgetreten sind. Familie sagen. Ich möchte anregen, daß wir Studien anfertigen, und zwar nicht zuletzt über die gesamte Ich habe mit großer Freude — und ich glaube, Stellung der Familie in der Rechts- und Sozialord- daß es einem großen Teil meiner Kollegen so er- nung; da gibt es wirklich noch ein paar verstaubte gangen ist — die Ausführungen über die Wirt- individualistische Zöpfe. Ich denke ferner an eine schaftspolitik gehört, weil sie wirklich den Geist Studie über die Erwerbstätigkeit der Mütter und der sozialen Marktwirtschaft atmen, also einer der Landfrauen; an eine Studie über die Lage der Politik, die der Würde des Menschen, der Entfal- alten Menschen und auch über die Lage der kinder- tung der Familie und der Wohlfahrt des Volkes reichen Familien. Unsere Familienpolitik muß — dient. Es hat sich also — ich sage das ganz offen, wie bisher — sichtbar werden beim Wohnungsbau, weil das einige befürchtet hatten — nicht jene bei der Reform der Kranken- und Unfallversiche- These durchgesetzt, die ein Mitglied der Fraktion rung, auch bei der Eigentumsbildung. der FDP einmal außerhalb des Hauses so formuliert hatte: „Unheilvoll waren und sind die unter fal- Mir scheint, daß stärker als bisher sichtbar wer- schem Namen — etwa der sozialen Gerechtigkeit — den muß, daß unsere Politik, die wir für den Mittel- erfolgenden Eingriffe in die Wirtschaft." Ich freue stand, für die Landwirtschaft, für die Eigentumsbil- mich, daß wir bei der sozialen Marktwirtschaft ge- dung betreiben, nicht allein aus materiellen Er- - blieben sind. kenntnissen lebt, sondern doch vor allem aus der Sorge um die Funktion und die Erhaltung der Fa- Über die Fragen der Agrarpolitik, die heute in milie und des Familienbetriebes. So wie es eine der Debatte eine Rolle spielten, wird sicherlich noch Frage unserer Menschlichkeit ist, wie wir für die ausführlich gesprochen werden. Ich möchte uns alle Jugend und für die Alten sorgen, so scheint es mir nur einladen, wenn wir immer von Erfahrungen auch eine Frage unserer Grundüberzeugung zu unserer Generation sprechen, die Erfahrung des sein, ob wir es zulassen wollen, daß mitten im Hungers nicht auszuschließen und daraus gewisse Wohlstand oftmals allein die Mütter die Zechen für Folgerungen für die Pflege der heimischen Produk- diesen zu zahlen haben. tion zu ziehen. Wir begrüßen deshalb, daß sich die Bundesregierung gerade in dieser Etappe erneut Ich weiß, daß für viele dieser Fragen, die ich an- zu den Zielen des Landwirtschaftsgesetzes bekannt deute, der Bund nicht direkt zuständig ist. Ich denke hat. Denn Disparität als Dauerzustand wäre weder hier auch an die Ausbildung der Jugend, an die Lage volkswirtschaftlich vernünftig noch ein Beitrag zu der Krankenhäuser und an die Situation der sozia- einer Sozialordnung, die allen als lebenswert, auch len Berufe. Wir sind nicht überall zuständig. Aber als verteidigenswert erscheint. wer eigentlich will uns hindern, Studien hier vorzu- legen und das öffentliche Bewußtsein weiter zu mo- Einen Satz möchte ich einem Punkte widmen, der, bilisieren? wie ich glaube, in der Regierungserklärung zu ver- missen ist. Ich möchte daran erinnern, daß uns das (Beifall bei den Regierungsparteien.) Problem der Einschränkung der Sonntagsarbeit von Es stünde uns schlecht an, wenn inmitten verbrei- der Verfassung auf die Tagesordnung gesetzt ist. terter und verbesserter Wohlfahrt alle die Bereiche Das ist ein Befehl des Grundgesetzes, nicht etwa ein notleidend würden, die sei je mehr aus dem Ideellen Leitsatz, dessen Befolgung zur Disposition unserer und aus dem Opfer gestaltet werden als aus dem Meinungen gestellt wäre. materiellen Vorteil. Im Zusammenhang hiermit und insbesondere im Alles das sind Fragen der rechten Wertordnung, Hinblick auf den Schlußteil der Rede des Herrn Kol- aber auch Fragen unserer Selbstachtung. Deshalb legen Erler möchte ich meiner Freude darüber Aus- stelle ich mit Genugtuung fest, daß die Koalition in druck geben, daß man sich in all den anderen Par- diesen für uns sehr wichtigen Sätzen einig ist. teien offensichtlich darum bemüht, ein besseres Ver- Ich zitiere: hältnis zu den Kirchen und zur Christlichkeit zu bekommen. Ich glaube, daß wir sehr bald Gelegen- Die Grundwerte des Grundgesetzes sind die heit finden werden, das glaubhaft zu machen, wenn Basis der Koalition. Die Herstellung einer ge- wir hier über Ehe und Familie und auch über das rechten Sozialordnung sowie die Förderung des Strafrecht sprechen, oder auch dann, wenn es darum Mittelstandes und der Landwirtschaft sind kon- 114 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Barzel krete Ziele der Politik der Koalition. Die Koali- Sozialreform ist für uns nicht nur Revision der tion erstrebt eine Struktur der Gesellschaft, die Reichsversicherungsordnung. Sozialreform ist für der menschlichen Person Freiheit und Entfal- uns eine Politik, gerichtet auf die Struktur und das tung, der Familie den ihr zukommenden Rang, Ganze der Gesellschaft. Dazu gehört, um auch das dem -breiter gestreuten Privateigentum seine noch einmal klarzustellen, auch der deutsche Arbei- ordnende Funktion, allen Schichten Gerechtig- ter. Darum sind alle unsere verschiedenen Politiken, keit und Freiheit von Not gewährt. wenn ich so sagen darf, ob es nun um Eigentum oder Familie oder Landwirtschaft oder Mittelstand Das will die Koalition. geht, doch gespeist aus einem Geist ; sind, wie ich Ich meine, die Unkereien über die sozial- und ge- sagte, eine Politik in verschiedenen Bereichen. Ich sellschaftspolitische Haltung dieser Koalition wer- meine auch — und deshalb beklage ich sehr die den nach vier Jahren eher peinlich sein. Wir wer- Absage, die der Kollege Brandt an die Politik der den unsere Politik der Freiheit fortsetzen. Sie be- sozialen Privatisierung gegeben hat —, daß wir ginnt beim Menschen, bei der Familie und steigt diese Politik des „Eigentums für jeden" fortsetzen dann auf über die Gesellschaft zum Staat. Ich er- müssen; denn wie sonst wollen wir der kommu- innere an die Debatte, die wir mit Herrn Kollegen nistischen Parole „Enteignung aller" eigentlich be- Arndt über diese Frage hatten. gegnen? Der östlichen Bedrohung unserer °Freiheit werden (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu wir nicht mit dem Abbau von Freiheit bei uns be- rufe von der SPD.) gegnen, sondern mit Ausbau und Pflege der Frei- Herr Kollege Erler, wir werden unsere Politik auch heit, der Rechtlichkeit und der Redlichkeit in unse- künftig aus letzter Verantwortung gestalten. Sie rem Staat. Wer aber die in unserem Grundgesetz wissen, daß ein Streit zwischen uns besteht, ein gesetzte Grenze der Freiheit überschreitet, muß mit Streit, den wir hier einmal ausgetragen haben dar- der ganzen Kraft der Verfassung zur Ordnung ge- über, ob Politik eine Sache der vorletzten, wie der zwungen weden. Damit der Rechtsstaat in der Kollege Arndt ausführte, oder eine Sache der letzten Stunde der Not nicht untergehe, brauchen wir um Verantwortung sei, wie wir ausgeführt haben. Ich des Rechtsstaates willen bald ein Notstandsgesetz. meine, wenn wir darin einig wären, wären wir auch Meine Damen! Meine Herren! Zur Freiheit gehört ein Stück weiter in der Frage, die Sie am Schluß auch die Freiheit für die kirchlichen, für die geisti- angedeutet haben. gen, für die weltanschaulichen und gesellschaftlichen Den vielfältigen Gefahren und Gefährdungen die- Kräfte. Eine solche Politik der Freiheit stärkt unsere ser Zeit wollen wir — wenigstens ist das- unser moralische und geistige Überlegenheit gegenüber Vorsatz — begegnen, nicht durch die Flucht in dem Kommunismus. Wir glauben daran, daß Gott Äußerlichkeit und Nebel und Quantität und Unver- den Menschen auf Freiheit angelegt hat. Darum bindlichkeit, sondern durch Besinnung auf das We- glauben wir auch, daß nicht der Kommunismus, der sentliche, durch — wenn ich so sagen darf — Kraft auf Zwang gegründet ist, sondern der Westen, der aus der Qualität und durch Bindung der Freiheit an aus der Kraft der Freiheit lebt, überlegen ist und ewige Normen. Aus diesem Geist stehen wir hier in bleiben wird. Verantwortung, aus eben diesem Geist stehen wir (Beifall bei den Regierungsparteien.) auch zu Berlin, stehen wir auch zur Zone. Meine Damen, meine Herren, hierzu wird Kollege Unsere Außen- und unsere Innenpolitik haben in Gradl sprechen. Darf ich ihm die Überleitung geben: der Freiheit wie in der Würde der menschlichen ich glaube, das Recht ist auf unserer Seite. Mir Person und dem Vorrang der Familie eine gemein- scheint, wenn gelebte Freiheit, wenn eine gute So- same Wurzel. Militärische Sicherung der äußeren zialordnung und wenn eine im Letzten begründete Freiheit, soziale Sicherheit für jedermann, soziale Verantwortung dazukommen, werden wir überlegen Marktwirtschaft, Verstärkung der personalen Ver- bleiben, dann wird am Ende das Recht, dann wird antwortung unserer inneren Ordnung, — alles das am Ende nicht der Kommunismus siegen. Und das lebt aus einem Geist, ist eine Politik in ver- ist das Thema, mit dem wir uns gemeinsam in den schiedenen Bereichen. Über die Fortsetzung der so- nächsten vier Jahren zu beschäftigen haben. zialen Marktwirtschaft wird noch gesprochen wer- den. Sie ist Freiheit in Ordnung, und ich glaube, (Beifall bei der CDU/CSU.) daß der gesellschaftspolitische Akzent dieser Poli- tik noch stärker hervortreten wird. Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat der Einer der Kollegen der Sozialdemokratischen Par- Abgeordnete Dr. Atzenroth. tei hat bemängelt, daß wir zur Sozialreform nichts gesagt haben. Nun, einer meiner Freunde hat be- Dr. Atzenroth (FDP) : Herr Präsident! Meine reits gesagt, daß Selbstverständlichkeiten nicht mehr Damen und Herren! Für die Freien Demokraten war festgestellt werden. Also dann noch einmal: Wir ein entscheidender Grund für den Eintritt in diese werden unsere Politik der Sozialreform fortsetzen. Koalition auch die Erwartung, daß wir unsere libe- Wir sind ein wenig stolz darauf, daß es uns gelun- rale Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik inner- gen ist, die Proletarität in diesem Lande zu besei- halb einer Koalition in stärkerem Maße durchsetzen tigen, und ich glaube, daß auch dadurch die Abkehr können, als das in den vergangenen Jahren möglich der Deutschen vom Marxismus in allen Bereichen gewesen ist. Das war umgekehrt auch der Grund verstärkt worden ist. weshalb wir uns einer Koalition mit der Sozial Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 115 Dr. Atzenroth demokratischen Partei versagt haben; denn dort stehen. Es war also nichts hinter meinen Worten hätten wir diese Erwartung nicht hegen können. zu suchen. Wir haben in den Jahren der Opposition unsere Aber wenn Herr Chruschtschow von Sozialismus Meinung vertreten, Anträge stellen können. Aber spricht, dann meint er ja nicht das, was wir unter wir sind doch nur sehr selten zum Zuge gekommen. Sozialismus verstehen, etwa eine sozialdemokrati- Wir erwarten von unserem neuen Koalitionspartner, sche Partei, sondern dann meint er den Kommunis- daß er uns, ebenso wie wir auf manche unserer mus. Insoweit, Herr Erler, ist wohl auch das Miß- Forderungen schließlich verzichten müssen, an einer verständnis gegenüber den Worten meines Freun- Reihe von Stellen behilflich sein wird, unsere For- des Mende zu verstehen, Mit 'diesen Worten kann derungen, die im wesentlichen die gleichen sind, man trefflich spielen; aber es muß erst ein Sinn die wir seit zwölf Jahren hier im Bundestag vertreten, dahinter gefunden werden. zu erfüllen. Dabei wollen wir uns als ein loyaler Bei aller Anerkennung unseres Wirtschafts- Koalitionspartner erweisen. Wir wollen aus dieser systems sind wir allerdings nicht der Meinung, daß Koalition nicht einseitig Rechte beziehen, sondern in der vergangenen Zeit alle Möglichkeiten ausge- wir sind bereit, auch die Pflichten zu erfüllen, die schöpft worden sind. Deshalb muß es unser Ziel Sie von uns erwarten, so wie wir sie von Ihnen sein, nicht auf diesem einmal eingeschlagenen Wege erwarten. Wir wollen in diesen vier Jahren — ich stehenzubleiben, sondern die Marktwirtschaft wei- wiederhole es — ein loyaler Koalitionspartner sein terzuentwickeln. Große Bereiche unseres Wirt- und zu einer echten Partnerschaft kommen. schaftslebens stehen außerhalb dieses Systems. Es muß endlich gelingen, auch hier einen Einbruch Herr Barzel, wie Sie für Ihre Fraktion eigene zu erzielen. Die Zeit ist reif. Akzente gesetzt haben, so will auch ich das auf dem beschränkten Gebiet zu tun versuchen, zu dem Die Gegner eines solchen Wirtschaftssystems war- ich hier für unsere Fraktion spreche. nen immer wieder; es sei noch zu früh, die Woh- nungswirtschaft oder den Verkehr stärker in den Wir Freien Demokraten haben es nicht nötig, das Wettbewerb einzuordnen. Aber das sagen sie schon Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft zu erneu- seit Jahren. Hätten wir nicht im Jahre 1949 unter ern. Wir haben sie mit Intensität und konsequent Führung von den Mut gehabt, seit dem Wirtschaftsrat verfochten. Allein konnten das kalte Wasser zu springen, dann könnten wir wir nicht immer durchdringen. Aber wir haben sie allesamt heute nicht schwimmen. Heute ist das Was- immer so vertreten und werden sie auch in der ser wesentlich wärmer geworden. Wir werden- des- Folgezeit in der gleichen Weise vertreten. Wir er- halb unseren ganzen Einfluß für mehr Marktwirt- warten, daß auch unser Partner bei diesem System schaft als bisher einsetzen ; es muß allerdings auch nicht nur verbleibt, sondern es zu verstärken hilft. gleichzeitig heißen: für weniger Staat als bisher. Eine zustimmende Erklärung zur sozialen Markt- wirtschaft hat ja sogar auch die Oppositionspartei In der Regierungserklärung ist in dem nächsten gegeben, allerdings nur einmal in Godesberg. In der Absatz von der Aufrechterhaltung der Stabilität un- heutigen Rede des Kollegen Brandt habe ich einen serer Währung gesprochen. Diese Forderung wird Hinweis auf das Wort „Marktwirtschaft" jedenfalls von allen Parteien unterstrichen. Einzig bezeichnend vermißt. ist für mich die Tatsache, daß diese Unterstreichung in dem Wahlaufruf des Deutschen Gewerkschafts- Für uns war immer der freie Wettbewerb die bundes fehlt. Aber bei solchen Forderungen kann Grundlage des Wirtschaftsystems, bei dem das man sich natürlich verschiedene Vorstellungen ma- Können, das Wissen und auch der Wagemut des chen. Nicht jeder, der für die Währungsstabilität einzelnen die Voraussetzung des Handelns bilden. eintritt, ist auch bereit, die notwendigen Voraus- Herr Kollege Erler, das mag man Kapitalismus nen- setzungen zu schaffen. Man kann wirklich nicht be- nen. Und da zeigt sich schon, Herr Kollege Erler haupten, daß unsere Währung in den letzten acht — ich finde leider seine Aufmerksamkeit nicht; und Jahren übermäßig stabil geblieben ist. Dabei braucht die Worte sollen sich gerade an ihn richten —, die man nicht gleich das harte Wort Inflation zu ver- Verschiedenheit in den Begriffen. Mit dem Wort wenden. Aber denken wir an die Sparguthaben! allein kann man nichts anfangen. Wenn Herr Sie sind in ihrem Wert leicht verringert worden. Chruschtschow von Kapitalismus spricht, dann meint Der Zins hat diesen Wertverlust kaum ausgleichen er die freie Welt, zu der Sie sich doch sicherlich können. Wenn wir die Menschen in der Bundes- auch zählen und wir uns auch zählen. republik zum Sparen ermahnen — und erfreulicher- (Abg. Wehner: Warum schränken Sie das weise folgen sie dieser Mahnung in starkem Maße denn bei uns so ein mit „sicherlich"?) —, dann ist es unsere Pflicht, dafür zu sorgen, daß der Wert der Ersparnisse voll und ganz erhalten — Herr Kollege Wehner, Sie brauchen nicht anzu- bleibt und nicht jedes Jahr kleine Prozente davon nehmen, daß ich damit irgendwelche Bedenken zum abgeknabbert werden. Ausdruck bringen wollte. In erster Linie ist dafür eine Politik übermäßiger (Abg. Wehner: Da fängt es an!) Ausgaben der öffentlichen Hand verantwortlich, die Ich bin völlig ehrlich davon überzeugt — ich gebe heute mehr als 40 % des Sozialprodukts für sich Ihnen diese Ehrenerklärung durchaus freiwillig —, verbraucht. Man hat den Eindruck, daß an vielen daß sie, die Sozialdemokraten, voll und ganz zur Stellen in der Verwaltung kein ernster Sparwille freien Welt gehören und daß Sie in Ihrem Kampf besteht. Herr Erler, hier sind auch Haushalte ge gegen den Kommunismus nicht hinter uns zurück meint, bei denen Sie die Forderung nach Einschrän- 116 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Atzenroth kung vermissen. Wir fordern nicht allein eine Mä- partner, deren Autonomie wir als liberale Partei ßigung in der Lohnentwicklung, wir sind auch be- bejahen. Wir werden unsererseits nichts unterlas- reit, Forderungen in bezug auf Ausgaben der öffent- sen, um sie immer wieder auf die Verantwortung lichen Hand zu stellen, die nach unserer Meinung gegenüber der Allgemeinheit hinzuweisen. Man an vielen Stellen überhöht sind. Wir sind überzeugt, kann sich nicht einfach auf den Markt berufen, auf daß die auf uns zukommenden neuen Lasten auch das Gesetz von Angebot und Nachfrage, da der mit wesentlich geringeren Geldaufwendungen ge- Gesetzgeber dieses System durch seine Bestimmun- tragen werden können, als sie zunächst angefordert gen wie Kündigungsschutz, Arbeitszeitverordnung, werden. Wir sind bereit zu den Opfern, die uns Mindesturlaubsbestimmung und andere soziale insbesondere die Verteidigung auferlegen wird. Verpflichtungen einschränkt. Aber wir glauben nicht immer, daß das, was nun als Wir haben in den vergangenen Jahren versucht, Höhe des Opfers gefordert wird, auch wirklich not- dieser Mahnung stärkeres Gewicht zu verleihen, der Sparsamkeit wendig ist. Hier muß ein Maßstab als wir eine Ergänzung des Tarifvertragsgesetzes in allerstrengstem Sinne angelegt werden. beantragten. Diese Anträge sind in der vergan- Wir dürfen auch nicht davor zurückschrecken, genen Legislaturperiode abgelehnt worden. Wir etwa überhöhte Ansprüche aus alter Zeit min- werden trotzdem wieder auf sie zurückkommen und destens für die Zukunft auf ein angemessenes Maß hoffen, gerade hier auf besseres Verständnis unse- zurückzuschrauben. Auch Vollbeschäftigung und res Koalitionspartñers zu stoßen, als das in den Wirtschaftswachstum um jeden Preis dürfen keine vergangenen Jahren der Fall gewesen ist. Wir Dogmen sein, wenn sie unsere Währung bedrohen. werden der Bundesregierung darüber hinaus noch andere Vorschläge mit gleichen und ähnlichen Zie- Die Bundesregierung sucht in dem Bericht nach len unterbreiten. Die Bundesregierung selbst ist einem neuen Instrumentarium für ihre Konjunktur- aber nicht davon befreit, ihrerseits dem Parlament politik, nachdem die alten, klassischen Mittel mehr Vorschläge darüber zu machen, wie sie der bedroh- oder weniger versagt haben. Solche Hilfen wird sie lichen konjunkturellen Entwicklung begegnen will. bitter nötig haben; denn alle Anzeichen deuten Die Gefahren drohen nicht nur von der auslän- darauf hin, daß wir mit unserem Wirtschaftswachs dischen Konkurrenz. Herr Erhard wird uns auch tum demnächst in stärkere Schwierigkeiten geraten deutlich sagen müssen, bis zu welchem Grade die werden. An vielen Stellen zeigt sich deutlich, wie deutsche Wirtschaft die Lasten tragen kann, die unser Wettbewerbsvorsprung gegenüber dem Aus- sich aus der unvermeidlichen Vermehrung- unpro- land, gegenüber anderen Ländern schwindet. Wir duktiver Leistungen, etwa durch erhöhte Verteidi- produzieren von Jahr zu Jahr teurer. Wenn auch gungsausgaben, ergeben. die Entwicklung der Löhne in diesen Ländern paral- lel mit der unseren verläuft, so steigen doch bei uns Meine Damen und Herren, die Förderung des Mit- unverhältnismäßig stark die Kosten durch Arbeits- telstandes gehört zu den Forderungen und Wün- zeitverringerung, Erhöhung der Lohnzuschlagkosten schen aller Parteien. Auch diese Regierungserklä- und ähnliche Ausgaben. Die zu treffenden Maßnah- rung nimmt wieder zu diesem Thema Stellung, nach men müssen also das Ziel haben, die Produktivität meinem ,Gefühl aber etwas weniger deutlich als die der deutschen Wirtschaft zu erhalten, möglichst Regierungserklärung des Jahres 1957. Darin war aber weiter zu steigern. der Wunsch nach Mittelstandsförderung viel schär- fer zum Ausdruck gekommen. Wir können das hin- Diesem Ziel können steuerliche Maßnahmen die- nehmen, wenn es uns gelingt, in der vor uns liegen- nen, die 'die Investition begünstigen, vor allem aber den Legislaturperiode die Erfolge zu vergrößern. Maßnahmen zur Förderung unserer Produktions- Dann verzichten wir gern auf ein umfangreiches intensität. Herr Erler, Sie haben gesagt, daß unsere Versprechen. Binnenkonjunktur davon lebt, daß der steigenden Produktion ein gleiches Maß an Kaufkraft gegen- Die Frage der Mittelstandsförderung steht natür- überstehe. Völlig einverstanden! Aber unsere Sorge lich in enger Verbindung mit der Frage der Konzen- ist, daß das Maß an Kaufkraft dem Maß an Pro- tration wirtschaftlicher Macht, auf die in der Regie- duktionssteigerung vorauseilt. Dann könnten Ge- rungserklärung sehr wenig eingegangen wird. Sie fahren auftreten; denn es ist eindeutig, daß das darf jedoch nicht zurückgestellt werden, und, Herr Einkommen aus unselbständiger Arbeit dem Brutto- Dollinger, wir können nicht warten, bis hier das Er- sozialprodukt vorausgeeilt ist. Man wird nun ein- gebnis der Untersuchungen der Enquete-Kommis- wenden, daß gleichzeitig auch der Unterschied sion vorliegt; denn dieser Kommission haben wir ja zwischen Brutto- und Nettoeinkommen größer ge- selber die Frist von zwei bis .zweieinhalb Jahren worden ist, weil sowohl der Steuerfiskus als auch zur Verfügung gestellt, und sie wird — wie man die Sozialversicherung einen immer größeren An- solche Kommissionen kennt — ihr Ergebnis sicher- teil am Arbeitslohn für sich fordern. Aber auch die lich nicht früher vorlegen. Wir müssen früher han- Steigerung des Nettoeinkommens liegt noch immer deln, und wir sind auch gar nicht in vollem Umfang über der unseres Sozialprodukts. Leider kommt hin- auf das Ergebnis dieser Untersuchungen angewiesen. zu, daß die einbehaltenen Steuern und Sozialbei- Die bisherigen steuerlichen Maßnahmen zur Un- träge nicht eine Geldstillegung darstellen, sondern terstützung des Mittelstandes haben nur die klein- ebenfalls zu einem großen Teil wieder zurück in sten Betriebe betroffen. Für die große Masse ist den Konsum fließen. Hier müssen die neuen Instru- noch wenig geschehen. Sicher hat man in. verstärk- mente des Wirtschaftsministers einsetzen. Hier tem Maße bei der Kreditgewährung geholfen. An- liegt aber auch die große Aufgabe für die Sozial- dererseits gibt man im Rahmen der Entwicklungs- Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 117

Dr. Atzenroth hilfe fremden Ländern — allerdings durch dirigi- Wir wollen die Unternehmen, die zu privatisieren stische Maßnahmen — Kredite zu einem Zinssatz sind, zu den günstigsten Preisen veräußern, und wir von etwa 2 %, während man gleichzeitig dem Mit- sind auch bereit, zu warten, eine solche Veräuße- telstand, dem man helfen will, Belastungen in Höhe rung durchzuführen, wenn der Zeitpunkt noch nicht des Vier- und Fünffachen dieses Satzes auferlegt. gekommen ist. Der Erlös muß in das Bundesver- Hier muß etwas geschehen. Hier muß mehr gesche- mögen fließen. Wie über die Verwendung entschie- hen, als ,die Regierungserklärung es bisher ver- den wird — ob für soziale Zwecke, ob für Förderung spricht. von Wissenschaft und Kunst oder ob für andere dringend notwendige Aufgaben — steht auf einem Was die Regierungserklärung zur Anpassung an ganz anderen Blatt. Man sollte sie nicht mit dem die veränderten Marktverhältnisse sagt, wird von System der Privatisierung verknüpfen, wie das uns unterstützt. Diese Anpassung muß in erster leider geschehen ist. Linie von der Wirtschaft selbst vorgenommen wer- den, die sich den Gesetzen des Marktes und des Mit der Bundesregierung und mit unserem Koali- Wettbewerbs unterzuordnen hat. Hilfen des Staates tionpartner treten wir für eine Förderung der Eigen- durch Subventionen sollen zur seltenen Ausnahme tumsbildung bei breiten Schichten der Bevölkerung werden. Aber da, wo der Staat zu unserem Leid- ein. Wir lehnen es aber ab, daß diese Förderung in wesen immer noch so stark als Auftraggeber tätig Gestalt von Geschenken auf Kosten der Allgemein- ist, also vor allem im Bauwesen, müßte er in den heit erfolgt; denn das wäre eine Umverteilung von Zeiten übermäßiger Konjunktur mit größerer Ver- Eigentum, ein Gedanke, der unserer Rechtsauffas- antwortung bremsen, um es nicht zu einer wirt- sung widerspricht. Wir denken uns die Förderung schaftlichen Übersteigerung kommen zu lassen, die der Vermögensbildung in der Weise — darin gehen dann mitunter recht merkwürdige Blüten treibt. wir mit Ihnen einig —, daß die Leistungen der Men- schen — beruhend auf Konsumverzicht, aber auch Zur Frage der Kartellgesetzgebung will ich nur besonders intensiver und längerer Arbeit — be- wenig sagen. Unsere Haltung ist bekannt. Auch lohnt werden. Wir wollen also den Erwerb von Herr Brandt hat nicht versäumt, darauf einzugehen. Eigentum fördern, nicht aber das In-den-Schoß-fallen. Allerdings empfiehlt es sich, neue Maßnahmen so Erst wenn dann noch die freie Verfügbarkeit hin- lange nicht zu treffen, wie im Bereich der EWG die Entscheidungen nicht gefallen sind. Dort aber müs- zukommt, ist echtes Eigentum geschaffen. sen wir unsere Gedanken durchzusetzen versuchen. Ich will nicht auf das Gebiet der Finanzen ein- gehen. Mein Kollege Mende hat schon unsere- Vor- Wir begrüßen alle Maßnahmen, die der Förde- stellungen darüber im großen Rahmen dargelegt. rung des Wettbewerbs dienen, geben uns allerdings Auch wir fordern eine Finanzreform, und wir sind nicht der Hoffnung hin, daß durch Abschaffung der froh, daß die Sozialdemokratische Partei ihre Bereit- Preisbindung der zweiten Hand etwa plötzlich schaft erklärt hat, daran mitzuwirken. Dann können wesentliche Preissenkungen zu erreichen sind. Dafür wir wahrscheinlich auch zu einer wirklichen Lösung müssen andere, wirksamere Maßnahmen getroffen kommen, denn dazu bedarf es ja einer Grundgesetz- werden. änderung. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Wir werden uns insbesondere der Umsatzsteuer- Wort zur Privatisierung sagen. Diese Forderung ist reform annehmen, über die mein Kollege Mende von uns seit einem Jahrzehnt erhoben worden. Wir schon sehr viel gesagt hat. Wir können uns heute können nicht anerkennen, daß, wie Herr Brandt noch nicht festlegen, ob wir das alte System ver- gesagt hat, solche Unternehmen für eine fortschritt- ändern oder ein neues oder neue Systeme in Be- liche und freiheitliche Wirtschaftspolitik unentbehr- tracht ziehen. Wir haben zwar intensiv an diesem lich seien. Hat etwa das Volkswagenwerk diese Problem gearbeitet, sind aber auf eine Reihe von Aufgabe erfüllt, nämlich — wie der Kollege Brandt Schwierigkeiten gestoßen, die es uns heute nicht sagte — die einseitige Beherrschung eines Industrie- möglich machen, die bindende Erklärung abzuge- zweiges durch wenige Unternehmen zu verhindern? ben, für welches System wir uns heute schon ent- Es hat im Gegenteil selbst geherrscht. Aber wenn wir scheiden. Aber das Problem muß mit aller Dring- privatisieren, meine Kollegen aus der CDU, dann lichkeit angepackt werden. wollen wir es nicht so tun, wie es bei dem Volks- Wir sind mit dem Kollegen Erler darin einig, daß wagenwerk geschehen ist. Sprechen wir nicht über die Fiskalabgaben allmählich beseitigt werden müs- den Sozialbonus, lassen wir den beiseite! Aber trotz- sen. Das ist eine Forderung, die die Freien Demo- dem sind rund eineinhalb Milliarden D-Mark un- kraten schon seit Jahren erhoben haben. Seine Hin- nütz verschwendet worden. weise auf die Förderung der Entwicklungsländer (Hört! Hört! bei der SPD. — Zuruf: Wo halten wir auch in diesem Rahmen ebenfalls für durch?) sehr wichtig. — Durch den falschen Ausgabekurs der Aktien, In der Frage der Wohnungswirtschaft sind wir und zwar so, daß die Vermögensbildung durch Ge- vielleicht nicht ganz so einig mit der CDU. Die Re- schenke erfolgt ist, hinter denen jedoch kein System gierungserklärung kündigt — allerdings in sehr vor- stand. Ziemlich wahllos sind diese Geschenke auf sichtiger Form — den Übergang des Wohnungs- die Staatsbürger verteilt worden. Wenn man Ge- bestandes in die Marktwirtschaft an. Wir drängen schenke verteilen will, muß man das auch systemvoll auf eine Beschleunigung und hoffen, daß die dann tun unter wirklicher Berücksichtigung von sozialen erzielte Freiheit nicht durch andere Maßnahmen Beweggründen. wieder eingeschränkt wird. 118 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Atzenroth Ein Wort an den Kollegen Erler zu der Frage Juni dieses Jahres noch einmal eine gemeinsame der großen Wohnungsbaugesellschaften. Mein Kol- Entschließung vorgeschlagen haben, die in dieselbe lege Mende hat nicht in erster Linie eine Kontrolle Richtung wies, und daß die sozialdemokratische dieser Gesellschaften gefordert, sondern darauf hin- Fraktion sich dieser Entschließung versagt hat. Sie gewiesen, daß diese ursprünglich als gemeinnützig können also auf diesem Gebiet nicht das Vorrecht gebildeten Gesellschaften ihren Charakter dadurch für sich in Anspruch nehmen. verloren hätten, daß sie Nutznießer der Zuwendun- (Abg. Büttner: Wir waren gegen die Zwei gen geworden seien, Eigentum verwalteten und die gleisigkeit, Herr Dr. Atzenroth!) von ihnen abhängigen Menschen auch weiterhin ab- hängig blieben. Wir wollen gerade, daß die Men- — Es lag voll und ganz an dem System, von dem schen, die in den Wohnungen der gemeinnützigen Ihr Kollege Erler gesprochen hat. Wohnungsbaugesellschaften wohnen, recht bald da- Meine Damen und Herren, wir begrüßen als zu kommen, ein echtes Eigentum daran zu erwerben. Koalitionspartner die Regierungserklärung als die Gestatten Sie mir noch einige Ausführungen zur Grundlage der in den nächsten vier Jahren zu ver- Verkehrspolitik. Wir bejahen die Bemühungen der folgenden Politik. Sie hat nur allgemeine Ausfüh- Bundesregierung zur Schaffung eines leistungsfähi- rungen enthalten, und das konnte nicht anders sein. gen Gesamtstraßennetzes und werden uns dafür Ich habe versucht, in einigen Punkten unsere be- einsetzen, daß entsprechende Mittel zur Verfügung sonderen Wünsche kenntlich zu machen. Wir hoffen, gestellt werden. Unsere 'besondere Sorge gilt den daß wir von den Gedanken, die ich hier entwickelt Menschen im Verkehr und den Verkehrsnotständen habe, möglichst viele verwirklichen können. Wir in den Gemeinden und Städten. Der Bund wird hoffen dabei in weitem Maße auf unseren Koalitions- gerade bei der Lösung der innerstädtischen Ver- partner, in kleinerem Maße auch auf die Oppo- kehrsverhältnisse mit entscheidenden Mitteln helfen sitionspartei. In diesem Sinne glauben wir auch zu müssen. einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Opposition kommen zu können. Zusammenfassend möchte ich noch einmal sagen, daß wir Freien Demokraten alles tun werden, um (Beifall bei der FDP.) unsere Vereinbarungen mit unserem Koalitionspart- ner ehrlich und getreulich zu erfüllen. Wir werden Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat der dabei unsere Eigenständigkeit bewahren und ver- Abgeordnete Dr. Gradl. suchen, unseren Partner davon zu überzeugen, daß - die Forderungen, die wir stellen, berechtigt und Dr. Gradl (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine nicht übertrieben sind. Damen und Herren! Der Sinn einer solchen Debatte Aber noch ein Wort zur sozialen Verantwortung. ist doch wohl unter anderem, daß man sich am An- Den Freien Demokraten ist häufig, besonders von fang einer vierjährigen Bundestagsperiode darüber der Opposition, der Vorwurf gemacht worden, daß klar wird, wo man steht. So verstehe ich auch eine sie ein geringeres Gefühl für soziale Verantwortung Bemerkung, die der Herr Kollege Brandt heute hätten als die anderen Parteien. Das ist eine Ver- morgen in seiner Rede gemacht hat. Er sprach dort leumdung. Die FDP läßt sich von keiner anderen davon, daß die bisherige Wiedervereinigungspolitik Partei in ihrer sozialen Verantwortung übertreffen. gescheitert ist. Ich gehe auf diese Bemerkung ein, Aber nicht derjenige ist der Sozialste, der mit sei- nicht um zu polemisieren — wir sind sicher alle nen Forderungen an die Allgemeinheit an der Spitze darüber einig, daß der Hintergrund für eine Polemik marschiert. Die höchsten Renten können ein sozialer zu ernst ist —, sondern weil ich anregen möchte, Fehler sein, wenn sie nur durch eine übermäßige noch einmal über dieses Wort nachzudenken und Belastung der arbeitenden Menschen aufgebracht dann vielleicht — vielleicht! — zu dem Ergebnis werden können. Die SPD hat sich in Godesberg für zu kommen, daß man es besser nicht mehr gebrau- eine freiheitliche Wirtschaftspolitik eingesetzt. Sie chen sollte. Man sollte es einmal deshalb nicht mehr ist aber nicht bereit, die Folgerungen auch auf dem gebrauchen, weil es ein gefährliches Wort ist, nicht sozialpolitischen Gebiet zu ziehen. Die Bundesregie- nur gefährlich in dem Sinne, in dem mein Freund rung sagt mit Recht, daß die Grenze der sozialen Brentano darauf erwiderte, daß man nämlich damit Sicherheit dort liege, wo die persönliche Freiheit der sowjetischen Politik irgendwie ein Alibi zu- des einzelnen gefährdet werde. Nur wer diese schieben könnte, sondern auch deshalb gefährlich, Grenze richtig erkennt, ist wirklich sozial. Wer sie weil es die Menschen mutlos macht, zumindest dann überschreitet, handelt in letzter Konsequenz unso- mutlos macht, wenn es keine Alternative gibt. Und zial. es gibt keine. Herr Kollege Brandt hat heute morgen mit Recht gesagt: Es gibt heute offensichtlich keinen Herrn Kollegen Erler muß ich noch ein Wort zum erkennbaren Preis für die Wiedervereinigung außer Kindergeldgesetz sagen. Sie haben soeben erklärt, dem der Aufgabe der Freiheit. daß wir nunmehr Ihren Wünschen nachzukommen bereit seien, eine Änderung in der durch das Kinder- Ich halte das Wort auch deshalb für unglücklich, geldgesetz geschaffenen Organisation vorzunehmen. weil es falsch ist. Sicher, wer wollte bestreiten, daß Herr Erler, ich darf daran erinnern, daß der Aus- die Politik bisher nicht zu dem Ziel geführt hat, das gangspunkt bei der FDP zu suchen ist; unsere wir alle ersehnen. Wer wollte das zumal nach dem Forderung ist das gewesen. Sie haben ihr allerdings 13. August bestreiten? Aber vielleicht gibt dieses bei dem ersten Kindergeldgesetz voll und ganz zu- Wort auch Anlaß, daß wir einmal darüber nach- gestimmt. Ich darf aber daran erinnern, daß wir im denken und uns alle fragen, ob wir, jeder von uns, Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 119 Dr. Gradl und ob unser ganzes Volk sich bisher, insbesondere Hoffnung!" Nun, wir stimmen sicher überein: um bis zum 13. August — danach scheint es erfreulicher- Gottes willen soll man die Menschen drüben in der weise besser zu werden — genügend vergegenwär- Zone in all dieser Not nicht noch belügen. Wir ha- tigt haben, was die Ereignisse von 1945 nicht nur für ben kein Patentrezept, und wir können keinen das Einzelschicksal, sondern auch für das Schicksal Termin sagen. — Aber auch das nicht, um zu pole- des ganzen Volkes gebracht haben, misieren, sondern um gemeinsam darüber nachzu- (Beifall bei der CDU/CSU) denken. — Der Herr Kollege Brandt hat heute auf diese Frage dann später in seiner Rede indirekt eine wie tief wir als Ergebnis dieser zwölf Hitlerjahre Antwort gegeben. Er hat gesagt: Wiedervereinigung tatsächlich gesunken sind, wie ohnmächtig wir da- ist auf unabsehbare Zeit aussichtslos. Meine Damen mals wirklich geworden sind und wieweit die Macht und Herren, jeder von uns kennt verzweifelte über Deutschland an andere Mächte übergegangen Stunden in dieser Sache. Aber ich meine, das sollten ist. wir den Menschen nicht sagen. Wir wissen — das Diese Situation muß man, glaube ich, doch vor ist die Wahrheit — nicht, was morgen ist. Wir ken- Augen haben; und wenn man sie vor Augen hat, nen die Aussichten nicht. Wir kennen die Zukunft dann, meine ich, muß man sagen, daß es ein ge- nicht. Aber darauf kommt es auch nicht an, sondern schichtliches Unglück ist, das sich da an unserem worauf es ankommt, ist doch, daß wir unseren Wil- Volk vollzogen hat, und angesichts der geschicht- len anstrengen und unsere Zielstrebigkeit zeigen lichen Tiefe unseres Unglücks kann main bei einer und den Menschen damit Hoffnung geben. unvoreingenommenen Wertung heute wirklich nicht sagen, daß die Politik zur Bewältigung dieses Un- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Gestatten Sie glücks gescheitert ist. Man kann es nicht sagen, und eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Weh- man sollte es nicht sagen. ner? (Beifall bei der CDU/CSU.) Dr. Gradl (CDU/CSU) : Bitte schön! Dazu ein weiteres. Was hat denn, konzentriert auf das engere Feld der Wiedervereinigung un- mittelbar, diese Politik getan? Sie hat Unterstützung Wehner (SPD) : Ich wollte Sie nicht unterbrechen, gesucht, sie hat um Verständnis geworben, sie hat Herr Dr. Gradl; denn ich weiß, wie sehr wir im Freunde gesammelt; sie hat damit die Konsequenz Grunde übereinstimmen. Weil Sie aber jetzt den - gezogen aus der Erkenntnis, daß wir allein ohn- Abgeordneten Brandt wegen einer Äußerung zur mächtig sind. Was hat sie weiter getan? Sie hat ver- Rede stellen, die die Aussichten betrifft, muß ich sucht, dem deutschen Verlangen nach Wiederher- Sie bitten, mir jetzt eine Frage nach der Äußerung stellung der Einheit und Wiedergewinnung der des Ministers für gesamtdeutsche Fragen am Freiheit für alle Kraft und Nachdruck wiederzu- 9. August im Deutschen Fernsehen zu beantworten, geben. Damit hat sie die Konsequenz aus der Tat- wo er gesagt hat: „Meine Landsleute, die Sie jetzt sache gezogen, daß wir eben in der Ohnmacht optisch, akustisch und sonst mit mir verbunden sind, geteilt worden sind, und auch die Konsequenz aus seien Sie versichert: der Weg über Berlin wird der Tatsache, daß man in der Politik in der Welt Ihnen nie abgeschnitten werden; das sind die Ver- nichts durchsetzen kann, wenn man nichts ist und träge, die das gewährleisten". Und am 13. August nichts hat. Man zählt nur, wenn man etwas ist und hat er im selben Deutschen Fernsehen gesagt: „Das, wenn man etwas hat. was am 13. geschehen ist, hat mich nicht überrascht". (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das eine Frage?) Das war das Tun dieser Politik. Es war richtig, und es ist weiter richtig. Denn nur so läßt sich über- — Das ist die Frage. Denn es geht hier um die haupt eine Basis schaffen, auf der man Politik für Frage, ob man denen drüben eine Hoffnung geben Deutschland real betreiben kann. kann oder machen soll und worin sie besteht. Meine Frage ist, ob etwa dies die Art sein soll, in der wir Deshalb, meine ich, sollten wir uns — bei aller zu denen sprechen, die jetzt hinter der Mauer Kritik, die geübt werden mag und die in diesem und leben. jenem vielleicht auch berechtigt sein mag — nicht (Beifall bei der SPD.) darauf einlassen, von dieser Politik zu sagen, daß diese Politik gescheitert ist. Die Aufgabe ist doch Dr. Gradl (CDU/CSU) : vielmehr, nach vorn zu sehen und darauf aus zu Herr Kollege Wehner, ich sein, daß man von der Basis aus, die mittlerweile muß hier also für den Bundesminister für gesamt- gewonnen worden ist, zusammen mit unseren deutsche Fragen antworten. Ich meine, daß jeder, Freunden das Rechte sucht und tut, wenn einmal der damals gesprochen hat, in dem Augenblick, in eine Chance kommt. dem er gesprochen hat, aus den Einsichten heraus geredet hat, die er hatte. Ich habe auch von anderen, Dazu noch eine andere Bemerkung. Die Frage die damals gesprochen haben, genau dasselbe ge- liegt nahe, wenn man sich mit diesem Thema über- hört wie das, was Herr Lemmer gesagt hat. haupt auseinandersetzt: Wann trägt denn diese Po- litik einmal ihre Frucht? Der Herr Kollege Brandt (Zustimmung in der Mitte.) hat heute morgen einen erschütternden Brief eines Wenn wir uns einmal darüber aussprechen sollten, Mannes aus der Zone verlesen. In diesem Brief was damals gesagt worden ist, würde das ein bitte steht der Satz: „Geben Sie der Bevölkerung eine res Kapitel für uns alle hier werden, Herr Kollege 120 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Gradl Wehner; denn wir alle haben doch wohl zu den Zweitens. Die politische Verbundenheit Berlins Menschen in der Zone gesagt: Bleibt drüben und mit der Bundesrepublik — eine Verbundenheit, die haltet aus! Ich brauche nicht fortzufahren; Sie wis- seit mehr als einem Jahrzehnt besteht — entspricht sen, was ich damit meine. Ich hoffe, alle hier wis- dem freien und vollen Willen der Bevölkerung Ber- sen, welche Verantwortung wir alle damals auf uns lins; über ihn kann man nicht hinweggehen. genommen haben, als wir so zu den Menschen in Drittens. Berlin ist nun einmal die deutsche Haupt- der Zone sprachen. stadt, heute im Grunde wohl mehr als früher. Eine (Beifall bei der CDU/SCU.) Lockerung der Bindungen würde bedeuten, daß die Da ich Berliner Abgeordneter bin, möchte ich auch ohnehin beschränkten Positionen des freien Deutsch- ein Wort zu den besonderen Fragen sagen, die land in Berlin abgebaut würden, die Pankower Sepa- Berlin betreffen. Sie alle haben die Erklärung der ratistenregierung aber Rang und Namen Berlins, der Regierung dazu gehört. Kaum war die Erklärung in Hauptstadt, für sich mißbrauchen könnte und dürfte. der Welt, gab es eine Fülle von Gerüchten und Das ist für unsere legitimen nationalen Interessen Mutmaßungen darüber, was denn nun in ganz an- nicht zumutbar. derer Weise etwa in und mit Berlin geschehen Dies ist unser Standpunkt, auch gegenüber allen würde. Auch Herr Kollege Brandt hat heute morgen Spekulationen dieser Frage; er entspricht der Erklä- mit Recht von den Gerüchten und Spekulationen rung der Bundesregierung über die Erhaltung der über die bisherigen staatsrechtlichen Beziehungen bestehenden politischen Bindungen. zwischen Berlin und Westdeutschland gesprochen. Das Bild, das dadurch in der Öffentlichkeit entstan- Nun ein Wort zu der Frage der Konzentrierung den ist, ist in der Tat einigermaßen verwirrend. Ich der vielleicht kommenden Ost-West-Verhandlungen glaube, um so mehr sollten wir uns an das halten, auf die Berlin-Frage. Stichwort: Berlin soll isoliert was klar von verantwortlicher Stelle gesagt worden behandelt werden. ist. Man hat dieser Taktik, die da offenbar einge- Erstens ist in der Regierungserklärung die Aus- schlagen wird, entgegengehalten: Es gibt keine iso- sage des Präsidenten der Vereinigten Staaten zu lierte Berlin-Lösung. Nun, meine Damen und Her- den drei vitalen Interessen in Berlin wiedergege- ren, das ist kein Widerspruch. Natürlich ist die ben. Diese Erklärung des Präsidenten Kennedy ist Berlin-Frage ein Teil der deutschen Frage. Natürlich ebenso wichtig und, ich glaube, man kann auch sa- bleibt es mit seiner Insellage ein Problem, solange gen, beruhigend wie die andere, daß die Vereinig- Deutschland geteilt ist. Natürlich gibt es erst eine ten Staaten bereit sind, für die Verteidigung dieser Lösung der Berlin-Frage, wenn Berlin wieder Haupt- vitalen Interessen auch die größten Risiken zu über- stadt des geeinten Deutschland ist. Aber jetzt — in nehmen. Das ist die eine Aussage. dieser Situation — geht es ja offenbar nicht um Lösung, sondern es geht zunächst darum, die Berlin- Die zweite Aussage ist: Die Bundesregierung Krise zu entschärfen — jedenfalls um den Ver- ihrerseits hat klargestellt, daß ein unabdingbarer such —, einen Modus vivendi herzustellen, der, Grundsatz bei Verhandlungen die Erhaltung der be- wenn der Versuch gelingt, eine bessere Atmosphäre stehenden politischen, rechtlichen und wirtschaft- und Basis für eine spätere Behandlung der weiter- lichen Bindungen zwischen Berlin und der Bundes- reichenden Fragen schaffen würde, jener Fragen, die republik sowie der freie Zugang der Zivilbevölke- natürlich einmal auf den Tisch kommen müssen: die rung ist. — Das sind klare Feststellungen. Ich deutsche Frage und Friedensordnung in Mitteleuropa. glaube, wir tun alle gut daran, uns entgegen allen Der Herr Kollege Erler hat dem Sinne nach gesagt, Gerüchten an diese verantwortlichen Aussagen zu das sei ein gefährlicher Weg; man dürfe die Gefahr halten. einer Isolierung der Berlin-Frage nicht unterschät- Nun ein Wort zu den Spekulationen. Sie kommen zen. Das ist zweifellos richtig. Natürlich ist das Be- zum Teil aus sehr trüben Quellen. Ich glaube nicht, wegungsfeld Berlin eng, und natürlich muß man daß es richtig wäre, an dieser Stelle auf das Für, sich bei einer Konzentrierung auf Berlin ganz sicher wenn es das überhaupt gibt, und auf das Wider sein, daß man auf dem engen Manövrierfeld, das dieser Spekulationen auch nur theoretisch einzuge- Berlin darstellt, die Bewegungsgrenzen unter allen hen, schon deshalb nicht, weil die. Sowjetunion Umständen und auf jedes Risiko hin einhält. Man jedes Für und Wider in unseren öffentlichen Aus- muß wissen, daß man dann notfalls eben fest wider- sprachen mithört. Ich meine aber, wir sollten auch steht. nichts tun, um durch Spekulationen unsere eigene Die Erklärungen aus Washington zur unbedingten Verhandlungsposition zu zersetzen. Dies ist eine Verteidigung der vitalen Interessen Berlins und die Bitte auch an diejenigen, die nicht hier im Hause mannigfachen militärischen und sonstigen Anstren- sind, aber draußen mit der Feder oder dem Wort gungen der Verbündeten — einschließlich derer der ein Gewichtiges zu der Formung der deutschen Po- Bundesrepublik — lassen das als gewiß erscheinen. sition beitragen können. Ich glaube, wir sollten an dieser Gewißheit nicht Was die politischen Bindungen angeht, beschränke zweifeln. ich mich deshalb auch nur auf einige kurze, grund- Ein Wort zu dem Thema europäische Sicherheit! sätzliche Feststellungen: Der Herr Kollege Erler sagte vorhin, die euro- Erstens. Die politische Verbundenheit gehört zur päische Sicherheit habe, so meine die Bundesregie- Lebensfähigkeit Berlins genauso wie die Verbun- rung, mit Berlin nichts zu tun, das sei richtig, aber denheit in Wirtschaft und Währung. sie habe sehr wohl mit der deutschen Frage zu tun. Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 121 Dr. Gradl I Dieser Zusammenhang kommt mit einer beson- Grunde Randpotenzen, das Randgebiet treffen, auf deren und, wie ich sagen möchte, sehr erfreulichen westlicher Seite aber ein Kerngebiet, das die Bun- Deutlichkeit in der Erklärung der Bundesregierung desrepublik als Potenz im Bereich des Westens in dem Abschnitt über die europäische Sicherheit immerhin darstellt. Das wäre also eine sehr einsei- zum Ausdruck. Den Kernpunkt dieses Abschnitts tige Verschiebung, die da jedesmal droht. Deswegen bildet die Feststellung der Regierung, daß die Pro- muß man wohl Verständnis dafür haben, daß die bleme der europäischen Sicherheit nur in Verbin- Bundesregierung so zurückhaltend ist und daß sie dung mit der Wiederherstellung der deutschen Ein- an idem generellen Satz festhält: militärische plus heit zu erörtern sind. politische Entspannung, europäische Sicherheitsord- nung plus Wiedervereinigung. Das besagt doch wohl zweierlei: Erstens, daß das Ziel, die Wiedervereinigung, mit dem Problem der Alle diese Überlegungen sind heute leider reine europäischen Sicherheit engstens verbunden ist, daß Theorien, solange uns Moskau seine Konzeption der eines im Zusammenhang mit dem anderen gesehen sogenannten zwei deutschen Staaten präsentiert, und angegangen werden muß. Wir müssen uns in und es gibt ja nicht die geringste Andeutung irgend- der Tat in das Faktum fügen, daß nach den Erleb- einer Korrekturbereitschaft auf sowjetischer Seite. nissen der jüngeren Vergangenheit die Wieder- Wir sollten uns nur einen Augenblick klarmachen, zusammenführung der Deutschen für die Umwelt was das letzten Endes bedeutet: zwei deutsche Staa- auch die Frage der Sicherheit aufwirft. ten. Es bedeutet, daß die ,Sowjetunion ihr Sprung- brett in Mitteldeutschland behalten will. Solange die Zweitens besagt diese Aussage der Bundesregie- Sowjetunion auf dieses Sprungbrett nicht verzichtet, rung, daß militärische und politische Entspannungs- sind wir in echter Gefahr und das freie Europa mit in Europa — und zumal in der Mitte maßnahmen uns, müssen wir in unserer Sicherheitspolitik die har- Europas — Hand in Hand gehen müssen. Darin ten Konsequenzen ziehen, die wir zu ziehen jetzt stimmen wir doch wohl alle überein. Es nützte der bereit sind. So lange können wir gar nichts anderes Ruhe und dem Frieden in Mitteleuropa gar nichts, tun als die Position des freien Deutschland so fest wenn gewisse militärische Potenzen zwar beschränkt und so sicher zu machen wie nur irgend möglich. würden, aber die Bürgerkriegsituation, die jeden Ich füge hinzu: wir Deutsche sind vom Schicksal und Tag mit den Schüssen an der Mauer in einer so von der Geschichte nun einmal verurteilt, die west- schrecklichen Weise zum Ausdruck kommt, erhalten liche und die östliche Welt von heute als Nachbarn bliebe. zu haben. Wir müssen wünschen, auch nach Osten, Wenn das so ist, hat, so glaube ich, die Bundes- auch zur Sowjetunion in ein gutes Verhältnis zu regierung auch recht, wenn sie sagt, daß die Frage kommen. Wir fordern nichts als jenes fundamentale der europäischen Sicherheit nicht in den Zusammen- Recht der Völkergemeinschaft, das man sich beinahe hang mit der Berlin-Krise gehöre. Die Sowjetregie- schon nicht mehr auszusprechen traut, weil es immer rung macht kein Hehl daraus, wie sehr ihr an einer und immer wieder gesagt worden ist, aber auch Beschränkung und Schwächung der militärischen gesagt werden muß: die Selbstbestimmung. Verteidigungskraft des Westens in Europa liegt. Ein Wort zu den Bemerkungen der Regierungs- Der Kreml würde es mit Recht als einen großen erklärung über den Gewaltverzicht. Die Bundes- Erfolg buchen, wenn er mit dem Hebel der Berlin- regierung hat in ihrer Erklärung ihre wiederholte Drohung eine Schwächung der Bundesrepublik und Versicherung erneuert, daß sie auf Drohung mit Ge- damit der NATO erreichen könnte, das Ganze viel- walt und auf Gewaltanwendung verzichte. Das ist leicht schön frisiert unter dem Begriff der euro- natürlich nicht nur unser aller oberflächliche Meinung, päischen Sicherheit. Das wäre dann ein sehr un- sondern das ist unsere tiefste Überzeugung, unser gleiches Geschäft; das wäre eine Geschäft, von dem tiefstes Empfinden. Wir haben zuviel vom Krieg neulich jemand gesagt hat, daß es der Tausch eines kennengelernt, als daß wir anders eingestellt sein Apfels gegen einen Obstgarten wäre. könnten. Wir haben nationale Ziele, aber wir wol- Ich glaube, daß man die Auffassung der Bundes- len sie mit friedlichen Mitteln verfolgen. regierung richtig deutet, wenn man sagt: Wenn ein Dennoch will ich hier eine zwar nicht kritische wirklicher Ausgleich gefunden werden soll, müssen Anmerkung, aber doch ein Wort zum Bedenken in Konzessionen und Gegenkonzessionen der gleichen dieser Frage anfügen. Es ist ja so: im Grundsätz- Ebene, der gleichen Dimension angehören, also lichen ist man in der Politik schnell einig; die Apfel gegen Apfel, Obstgarten gegen Obstgarten. Schwierigkeiten fangen an, wenn man ins Konkrete Berlin-Verhandlungen sind eine Dimension, Sicher- geht. In der Erklärung der Bundesregierung heißt heit und Wiedervereinigung sind eine andere Di- es, daß sie in diesen Gewaltverzicht auch die Wie- mension. Das hat, glaube ich, Herr Kollege Erler, dervereinigung einzubeziehen (bereit sei und daß sie auch bei der Einstellung der Bundesregierung zu der den Gewaltverzicht insgesamt zum Gegenstand in- Frage isolierter regionaler Sicherheitsmaßnahmen ternationaler Verhandlungen zu machen bereit sei. eine Rolle gespielt. Das ist eine schwierige Frage. Nun, .auch hier könnte man ohnehin sagen — das Wir sind dabei in der schwierigsten Situation; denn ist ja immer unsere Aussage gewesen —: Wieder- je mehr regionale Maßnahmen in Mitteleuropa vereinigung in Frieden und Freiheit. Und 'doch ge- räumlich begrenzt sind — und soweit sie uns an- statten Sie eine Bemerkung dazu: Gewaltverzicht gehen, sollten sie das ja sein —, um so mehr — und darf nicht nur ein Verzicht auf Gewalt für die Wie- das ist das Ziel aller regionalen Maßnahmen, die dervereinigung sein, er muß auch ein Verzicht auf der Osten bisher in die Debatte geworfen hat — Gewalt gegen die Wiedervereinigung sein. würden diese Maßnahmen auf östlicher Seite im (Abg. Dr. Bucerius: Sehr gut!) 122 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Dr. Gradl Was ich meine, das sagt vielleicht eine Erinnerung Vereinten Nationen auch daran, wie die Vertreter an den 17. Juni 1953. der nicht gebundenen Staaten auf der Belgrader Ein weiteres. Ein Gewaltverzicht in Sachen Wie- Konferenz nach dem Beginn der sowjetischen Atom- dervereinigung muß auch zugunsten aller Deutschen versuchsreihe reagiert haben; das war auch nicht gelten. Was seit dem 13. August an der Mauer ermutigend. Wir wissen, daß vor allen Dingen die geschieht und was lange vorher schon an der Zonen- jungen Staaten eine Scheu vor der Parteinahme grenze geschehen ist, das ist aber Anwendung von haben, sofern es nicht an ihren eigenen Lebensnerv Gewalt. Solange Deutsche mit Gewalt gehindert wer- geht. Im Grunde ist das dasselbe Problem, wie es den, von einem Teil Deutschlands in 'den anderen hinsichtlich einer Mammutfriedenskonferenz mit 52 zu gehen, wäre ein Gewaltverzicht einseitig. Wir oder mehr Staaten auftritt; da stellt sich die Pro- fordern immer: Die Mauer muß weg! Wenn wir das blematik fast in derselben Weise. fordern, dann meinen wir damit doch, daß die Ge- Wir sollten in unserer Haltung dazu zunächst bei waltanwendung und Gewaltdrohung wegmuß, die dem Standpunkt bleiben, den wir bisher eingenom- das Zonenregime anwendet und für die die Mauer men haben. Es wird nicht ausgeschlossen, daß die das drastische Beispiel ist. Vereinten Nationen unter Umständen ,als ein letzter Meine Damen und Herren, ich will das Thema Ausweg in einer ganz besonderen Situation benutzt der Gewaltanwendung und des Gewaltverzichts hier werden können. Aber grundsätzlich sollten wir dar- nicht bis ins letzte ausleuchten; das tun wir viel- an festhalten, daß die Vier Mächte die Verantwor- leicht besser in den Ausschüssen. Aber ich wünsche tung für Deutschland haben. Wir sollten nichts tun, von der Bundesregierung, daß wir in den Ausschüs- was die Gefahr in sich birgt, daß diese Verantwor- sen die Gelegenheit erhalten, gründlich darüber zu tung verwässert oder zersetzt wird. Wir sollten viel- sprechen, ehe verbindliche Verhandlungen darüber mehr darauf zielen, daß die 'deutsche Frage im Be- geführt werden. reich und im Gremium der Vier zu einer stetigen und in unserem Sinne zielstrebigen Erörterung Für diejenigen, denen es vielleicht zu lange wird, kommt. zum Trost ein vorletztes Wort. Es handelt sich um die Frage: Kann man die Vereinten Nationen den Lassen Sie mich mit folgender Bemerkung schlie- deutschen Nöten, dem, was uns bewegt, dienstbar ßen. Die drei Schutzmächte Berlins, unsere Verbün- machen, kann man sie für unsere Belange nutzen? deten, haben in den letzten Monaten sehr Erheb- Herr Kollege Erler hat diese Frage gestellt, und ich liches getan, um ihren Willen zum Schutz und zur glaube ihn richtig verstanden zu haben, wenn ich Verteidigung der freiheitlichen Position in Berlin sage: er ist eher dafür, daß man die Vereinten Na- durch Taten greifbar deutlich zu machen. Das wird tionen nutzbar zu machen versucht. zu oft — nicht hier im Hause, aber ansonsten — gedankenlos hingenommen. Es ist doch nicht einfach Nun muß ich zunächst, Herr Kollege Erler — eine Selbstverständlichkeit, daß der amerikanische Herr Kollege Erler, wenn Sie einen Augenblick Präsident vielen zehntausenden von jungen Män- noch einmal herhören würden —, auf Wunsch mei- nern zumutet, Beruf, Lehre, Studium, Familie zu nes Freundes Brentano eines richtigstellen. Sie ha- verlassen, um für die Verteidigung eines Platzes ben ihn — ich habe es inzwischen in seiner Rede bereit zu sein, der viele tausende von Kilometern nachgelesen, tun auch Sie es — heute morgen falsch entfernt jenseits des Atlantiks liegt und die Haupt- verstanden. Er wollte nicht zum Ausdruck bringen stadt des ehemaligen Kriegsgegners 'ist: Und es ist und er hat nicht zum Ausdruck gebracht, 'daß man doch nicht einfach selbstverständlich, daß die Drei die deutsche Frage vor die Vereinten Nationen Mächte bereit sind, das äußerste Risiko auf sich zu bringen sollte, sondern das, was er sagen wollte nehmen. Jeder weiß, was es heißt, wenn eine Ag- und auch gesagt hat, war: Die Vereinten Nationen gression gegen Westberlin das notwendig machen befassen sich mit vielen Notständen in der ganzen sollte. Sicher, wir wissen, hier geht es nicht nur Welt, in sehr abgelegenen Erdteilen; deshalb soll- um Berlin, nicht nur um deutsches Interesse, hier ten sie sich eigentlich ex officio auch einmal um geht es um die Selbstbehauptung der freien Welt die Dinge kümmern, die sich in Europa — nicht nur insgesamt. Gott sei Dank stimmen unsere nationalen in Deutschland —, in Osteuropa vollziehen. Interessen da mit den umfassenderen Interessen Diese Frage, ob man die Vereinten Nationen für dieser Mächte überein. Dennoch, so meine ich, sollte unsere Zwecke nutzbar — das ist kein schönes man sich bei uns im Lande die Leistungen und die Wort, aber mir fällt im Augenblick kein anderes Bereitschaft unserer Verbündeten im westöstlichen ein — machen kann, ist heikel, nicht deshalb, weil Ringen um Berlin und Deutschland eindringlicher es hier Differenzen zwischen Regierung und Oppo- vor Augen halten, und nicht nur das, sondern sich sition gibt, sondern weil man sich dabei mit einer auch stärker bewußt werden, daß wir materiell und Institution befassen muß, in der wir nicht Mitglied moralisch nachzuholen haben. sind — unser Beobachter hat ja nur Gastrecht —, (Beifall bei der CDU/CSU.) und weil man bei der Beurteilung der Vereinten Nationen unter den besonderen deutschen Gesichts- Ich glaube, es ist gut — es ist heute verschiedent- punkten durchaus kritische Betrachtungen nicht ver- lich schon begrüßt worden —, daß die Bundesregie- meiden kann. Es gibt hinsichtlich des Befassens der rung in ihrer Erklärung ausgesprochen hat, daß Vereinten Nationen mit solchen Dingen wie den Opfer und Leistungen notwendig sind. Meine Damen unseren einige Präzedenzfälle, die nicht ermutigend und Herren, in den letzten Monaten hat man so viel sind. Ich denke z. B. an Ungarn und an Tibet. Ich von dem gesprochen, was auf uns zukommt. Das erinnere im Hinblick auf die Zusammensetzung der st so gesagt und geschrieben worden, als ob wir Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 123 Dr. Gradl sehr unerwünschte Dinge sozusagen nur noch fata- Verweigerung einer Koalition mit der CDU/CSU listisch hinzunehmen hätten. In Wirklichkeit ist doch nicht zu verhindern. die Aufgabe, nicht hinzunehmen, sondern zu ver- Ob es überhaupt dieser eindringlichen Fürspra- hindern. Und um zu verhindern, müssen sowohl chen und Zureden bedurft hätte, will ich hier nicht unsere Verbündeten als auch die Sowjets erkennen, untersuchen. Wahrscheinlich war die Neigung von daß es uns Deutschen selbst jetzt bitterernst ist. vornherein stark genug, um alle Schwierigkeiten zu Solchen Ernst erweist man nicht mit Worten, son- überwinden. Aber das Resultat ist jedenfalls: es ist dern mit lebendiger Anteilnahme, mit Leistung, eine Regierung dieser beiden Fraktionen gebildet Wagnis und Opfer. Die Deutschen hinter der Mauer worden, wobei für maßgebende Teile dieser beiden und die Deutschen hinter dem Todesstreifen, die Fraktionen der Gesichtspunkt entscheidend war, daß Menschen in der Zone und in Ostberlin erwarten diesen Nachweis von hier; sie haben wahrhaftig eine Regierung zustande gebracht würde unter Aus- ein Recht darauf ihn zu erwarten. schluß der Sozialdemokratie, unter Ausschluß von 11 1/2 Millionen Wählern, von mehr als 36 % der Auf dem konservativen Parteikongreß Mitte Ok- Wähler, die sich am 17. September für unsere Partei tober in Brighton hat der britische Außenminister entschieden haben. Es ist in ihrer Entstehungs- Lord Hume für sein Land gesagt: geschichte und in ihren Kundgebungen eine Regie- In diesen dunklen Zeiten sind Mut und Opfer- rung ohne und gegen die Sozialdemokratie. bereitschaft die einzigen Heilmittel. Die Nation Wir stellen das ohne jede Bewertung fest. Aber muß den Sinn ihrer Existenz und ihres Lebens wir wollen hier nicht so tun, als ob eine andere wiederfinden. Lösung nicht möglich gewesen wäre. Wenn es in Ich glaube, genau dasselbe müssen wir selbst uns diesem Lande normale demokratische Grundsätze auch sagen. Die Bundesregierung hat erklärt, daß gegeben hätte, wäre die Antwort auf das Wahl- die Bundesrepublik bereit sei, die Opfer und Risi- resultat gewesen, daß die beiden bisherigen Oppo- ken auf sich zu nehmen, die zur Verteidigung der sitionsparteien, die jetzt zusammen die Mehrheit vitalen Interessen in Berlin notwendig sind. Die hätten, den Versuch gemacht hätten, eine Regierung Aufgabe, meine ich, ist, diese Bereitschaft zur Er- zu bilden. haltung unseres ganzen Volkes im freien Teil (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Deutschlands zu wecken, eine Aufgabe nicht nur der CDU/CSU.) Regierung, sondern eine Aufgabe des ganzen Hau- ses, eine Aufgabe für uns alle. Das ist nicht geschehen. Das muß die FDP- verant- worten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP.) Wie sich das praktische Verhältnis zwischen der n. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat unter diesem Vorzeichen gebildeten Regierung und der Herr Abgeordnete Ollenhauer. der Sozialdemokratie gestalten wird, werden wir sehen. Es ist nur eines festzustellen: es hat nicht an der Weigerung der Sozialdemokratie gelegen, Ollenhauer ,(SPD) : Herr Präsident! Meine Damen in dieser besonders schwierigen Situation ihren und Herren! Meine Fraktion hält es für richtig, diese Teil an Verantwortung auch in der Regierung zu Aussprache über die Regierungserklärung von un- übernehmen. Das ist eine wesentliche Feststellung serer Seite zu beenden. Es war, wenn man den Sinn auch noch für die Zukunft. Denn, meine Damen und dieser Aussprache richtig nimmt, eine etwas einsei- Herren, viele von Ihnen wissen, daß diese Lösung tige Aussprache; denn die Regierung selbst hat an unter den gegebenen innen- und außenpolitischen dieser Debatte heute nicht teilgenommen. Wir neh- Umständen nicht die glücklichste und keine Lösung men das zur Kenntnis, aber wir werden bei den ver- ist, die den Lebensinteressen unseres Volkes am schiedenen sachlichen Aufgaben, vor die Regierung besten entspricht. und Parlament in den nächsten Monaten gestellt sein werden, alle die Argumente und sachlichen (Beifall bei der SPD.) Vorstellungen erneut vorbringen, die uns bei den Ich 'habe hier keinerlei Angebote zu machen. einzelnen Punkten bewegen. Ich möchte jetzt nur Nach ihrer Position muß die Sozialdemokratie nicht einige abschließende Feststellungen treffen, um die in jeder Regierung sein. Es wird sich zeigen, daß Position der sozialdemokratischen Bundestagsfrak- es falsch ist, in einer solchen Lage einen so beacht- tion in diesem 4. Bundestag noch einmal darzu- lichen Teil unseres Volkes trotz seines loyalen An- stellen. gebots aus der Regierungsverantwortung auszu- Es ist hier sehr viel über die Geschichte und die schalten. Umstände dieser Koalitionsbildung gesagt worden, (Beifall bei der SPD.) und Herr Barzel hat es für richtig gehalten, noch einmal eine Debatte über sogenannte prinzi Das ist eine Feststellung. Wir werden Gelegenheit pielle Begriffe aufzubringen. Ich werde sie nicht haben, uns später miteinander .zu überlegen, welche aufnehmen. Ich will nur eines feststellen: es kann Konsequenzen sich aus Ihrer Entscheidung ergeben nicht bestritten werden, daß einflußreiche Institu- haben. tionen und zentrale Zeitungen in der Bundesrepu- Die jetzt gebildete und hier vorgestellte Regie- blik nach dem 17. September nicht nur einmal, son- rung entspricht nicht den Vorstellungen der Sozial- dern mehrmals der FDP dringend nahegelegt haben, demokratie, und zwar vor allem im Hinblick auf die Bildung einer bürgerlichen Regierung durch die die außergewöhnlichen Umstände, unter denen wir 124 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 Ollenhauer jetzt und in der nächsten Zeit zu arbeiten und zu schiedene Weise und auf verschiedenen Wegen leben haben werden. unsere Vorschläge in bezug auf die nach unserer Meinung notwendige Ausgestaltung der Bundesre- Ein Zweites. Ich möchte die Debatte um Berlin publik zu einem sozialen Rechtsstaat für alle vor- und das Problem der Wiedervereinigung hier nicht legen. Wir werden dann sehen, wie Sie sich zu vertiefen. Wir haben uns sowohl in der Rede dem verhalten, was nach unserer Meinung zur Er- meines Freundes Willy Brandt als auch in der Rede füllung dieses Grundsatzes nötig ist. Ich will auch meines Freundes mit vollem Bedacht hier nicht auf Einzelheiten eingehen. Man sollte zurückgehalten, dieses sehr komplizierte Problem nicht so tun, als habe man es herrlich weit gebracht. im einzelnen unter Aufnahme aller möglichen Ge- Gewiß, es gibt sehr bemerkenswerte Leistungen der rüchte und Kombinationen zu diskutieren. Wir Bundesrepublik. Ich darf aber daran erinnern, daß respektieren den Wunsch der Regierung, in den in den meisten Fällen die entsprechenden Gesetze kommenden schwierigen Verhandlungen nicht durch von Regierungskoalition und Opposition gemeinsam öffentliche Parlamentsverhandlungen belastet zu verabschiedet worden sind. Ich will Ihnen aber eines werden, sagen, ohne auf weitere Beispiele eingehen zu wol- (Beifall bei den Regierungsparteien) len. Ich habe vor zwei Tagen aus einem persönlichen die unter Umständen ihre Bewegungsfreiheit ein- Grund eine Unterhaltung mit einer Frau gehabt, die schränken könnten. Ich füge aber hinzu, wir kön- 45 Jahre als Hausangestellte tätig war und die in nen unsere Besorgnisse über den Gang der Ver- einer großen menschlichen Not zu mir kam, weil sie handlungen nicht unterdrücken, einfach vor der Frage steht, was aus ihr nach Voll- endung deis 65. Lebensjahres werden wird, weil sie, (Beifall bei der SPD) obwohl sie 40 Jahre gezahlt hat, von ihrer heutigen und ich möchte hier im Namen meiner Fraktion nur Rente nicht leben kann. dem einzigen Wunsch Ausdruck verleihen, (Zurufe von der SPD.) (Zurufe von der SPD: Der Herr Außen minister hört das gar nicht! — Das ist der Das ist ein Fall. Sie kennen alle solche Fälle. Ich bin neue Stil!) immer berunruhigt, wenn ich so viel Selbstzufrie- denheit und Selbstsicherheit sehe daß wir in den kommenden Wochen die Möglich- keit haben, von den Verhandlungsführern der Bun- (Beifall bei der SPD) desregierung in den kommenden internationalen und auf der anderen Seite weiß, daß unter- uns Verhandlungen im zuständigen Ausschuß informiert heute noch Hunderttausende wie diese Frau leben. zu werden und in voller Kenntnis der Sachlage an (Sehr wahr! bei der SPD.) den endgültigen Entscheidungen mitzuwirken. Denn wenn das Wort von der „gemeinsamen Verantwor- Sie leben in Furcht vor dem Alter, und sie brauch- tung" mehr als eine Deklamation sein soll, dann ten es nicht. Ich sage das nur als Beispiel, weil es muß die Zusammenarbeit in diesem Geiste erfol- uns hier nicht um irgendeinen Wettlauf geht, son- gen. Ich warte diese Informationen ab und enthalte dern um die Erfüllung der elementarsten Dinge in mich jeder Äußerung über einzelne Kombinationen jeder geordneten menschlichen Gemeinschaft un- und Spekulationen. serer Zeit. Ich will nur auf eines hindeuten. Wir dürfen in Ich sage das noch aus einem anderen Grunde. den nächsten Wochen und Monaten in keinem Hier ist von der Notwendigkeit der Verteidigung Augenblick vergessen, daß es sich bei der Frage der Freiheit gesprochen worden. Einverstanden! Wir unseres Verhältnisses zu Berlin und zum gesamt- werden da wie immer in unserer Geschichte unseren deutschen Problem, zum Problem der Wiederver- Teil übernehmen. Dazu brauchen wir weder Beleh- einigung nicht um eine Frage handelt, die wir nach rungen noch Ermahnungen. politischen oder taktischen Zweckmäßigkeiten zu entscheiden haben, sondern daß wir hierbei alle (Zuruf von der SPD: Noch einen Herrn dem Grundgesetz verpflichtet sind. Barzel!) (Beifall bei der SPD und bei den Regierungs Aber ich will Ihnen eines sagen: wir werden die parteien. — Abg. Wehner: Sehr wahr!) Freiheit — nicht auf militärischem, sondern auf gei- stigem, politischem und sozialem Gebiet — nicht Ich hoffe, daß wir uns alle — jeder auf seinem Ge auf die Dauer erfolgreich gegen die weltweite In- biet und im Bereich seiner Verantwortung — der ent tervention des Kommunismus sichern können, wenn scheidenden Bedeutung dieser Sachlage bewußt sind. wir nicht den Menschen das Gefühl der Freiheit Drittens. Ein anderer Punkt wird ein wesentlicher auch dadurch geben, daß sie in einer wirklichen Bestandteil der Arbeit des vierten Bundestages sein, Freiheit von Not und Sorge leben können. ich meine — wenn man so will — das ganze Kapitel (Beifall bei der SPD. — Zustimmung bei der inneren Ausgestaltung der Bundesrepublik zu den Regierungsparteien.) einem sozialen Rechtsstaat. Die Bundesregierung hat in ihrer Regierungserklärung gesagt, daß dieser Da gibt es eben noch viel zu tun, und da liegt das Grundsatz unseres Grundgesetzes sozusagen erfüllt Problem. Ich will das nicht vertiefen. Haben Sie sei. Wir werden im Laufe unserer parlamentarischen keine Sorge; wir haben genug darüber reden kön- Arbeit, wie wir es heute schon für eine Reihe von nen. Ich bin aber etwas beunruhigt durch eine Be- Punkten angekündigt haben, dem Hause auf ver- merkung des Herrn Barzel. Er hat gesagt: Wir Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 6. Dezember 1961 125

Ollenhauer müssen die Freiheit sichern; darum ist das Not- Uns hat das Zwiegespräch heute schon großen Spaß standsrecht vordringlich. gemacht. (Abg. Dr. Barzel: Nein!) (Erneute Heiterkeit und Beifall bei der SPD.) — Entschuldigen Sie, das kann man nachlesen; wir Wir werden von der Sache her etwas dazu tun, um können es beide zusammen tun. Sie haben ihm es noch ein bißchen anzuregen. Insofern wird dieser einen sehr großen Vorrang gegeben. Ich kann Ihnen neue Bundestag sicher lebhafter als der alte. Wir hier nur sagen, daß meine Freunde erklärt haben: sollten uns heute durch den trüben Anfang nicht Wir sind bereit, in einer sachlichen Weise über Not- erschüttern lassen. wendigkeiten auf diesem Gebiet zu reden. Das ist (Heiterkeit.) unsere Haltung. — Bitte sehr! Noch ein letztes Wort von meiner Seite aus, und Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident, darf ich zwar zum Verhältnis von Regierung und Opposition. eine Zwischenfrage stellen? Wir akzeptieren diese Regierung als die rechtmäßig zustande gekommene, von der Mehrheit des Hauses Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Bitte sehr! gebildete Regierung. Unsere Position ist die Oppo- sition. Wir erklären noch einmal, daß wir bereit sind, auch als Opposition, als Vertreter unserer Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Kollege Ollenhauer, 11,5 Millionen Wähler unseren Teil von Verant- lassen Sie mich das durch eine Frage klarstellen. wortung, vor allem in den großen nationalpolitischen Erinnern Sie sich, daß ich folgendes gesagt habe: Lebensfragen, zu übernehmen. Aber ich füge hinzu Der Rechtsstaat und die Freiheit dürfen im Falle — und ich hoffe, daß wir hier übereinstimmen —: der Not nicht untergehen; deshalb brauchen wir das Mitarbeit und ein gutes, positives Verhältnis zwi- Notstandsgesetz? schen Regierung und Opposition heißt, daß man der Opposition nicht nur zumutet, wenn Not am Mann Ollenhauer (SPD) : Diese Art von Betrachtungs- ist, die bereits bezogene Position der Regierung zu weise halte ich eben nicht für die entscheidende. unterstützen, sondern daß man sie in der Weise Auch dazu nur eine Bemerkung. Was auf dem Ge- verantwortlich auch von Ihrer Seite beteiligt, biet der Notstandsregelung zur Debatte steht, ist ein (Auf der Tribüne werden Scheinwerfer ein Kapitel; denn eine innere Gefährdung ganz anderes geschaltet. — Zuruf von 'der CDU/CSU: in Augenblick über- dieses Rechtsstaates gibt es Gute Regie vom Fernsehen!) haupt nicht. - (Zustimmung bei der SPD.) daß man sie voll informiert und daß wir an der Gestaltung der Entscheidung dieser großen Lebens Wo ist sie denn? Was ich bedaure, ist — und das fragen auch den uns zugemessenen Anteil haben. ist der zweite Teil meiner Bemerkung Ihnen gegen- über —, daß Sie als Beweis für Ihre Auffassung (Beifall bei der SPD.) gewisse Statuten von Gewerkschaften über politi- Von Ihrem Verhalten wird es abhängen, welcher sche Streiks zitieren. Mir ist übrigens nicht bekannt, Stil in diesem Hause hier gebraucht wird. wieweit das zutrifft. Aber das macht doch die Men- schen gerade hellhörig. Was ist denn unsere Auf- (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD. gabe? Unsere Aufgabe ist hier, gemeinsam ein gro- — Abg. Dr. Barzel: Fernsehen, Herr Prä ßes Plus für die Demokratie nach 1945 und nach sident! — Weitere Zurufe von der CDU/ 1949 lebendig zu erhalten, nämlich die staatserhal- CSU: Was ist denn hier los? — Die „rote tende Kraft und Aktivität von 6 Millionen Gewerk- Optik" !) schaftlern. Das ist doch die eigentliche Frage. (Beifall bei der SPD.) Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen Wir müssen hier sehr vorsichtig sein; und ich und Herren, keine Aufregung — mir liegen keine möchte nicht, daß dieser Akzent von unserer Seite weiteren Wortmeldungen vor —, es ist gar kein unwidersprochen bleibt. Anlaß zur Aufregung! Schließlich — ich will mich darauf beschränken — Die Aussprache über die Erklärung der Bundes- hat Herr Barzel gemeint, wir seien über unsere regierung ist geschlossen, Punkt 2 der Tagesordnung Wahlniederlage am 17. September enttäuscht. Nun, ist erledigt. solche Niederlagen werden Sie mehr ins Gedränge Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der bringen als uns; heutigen Sitzung. Ich berufe die nächste Sitzung (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) ein für Donnerstag, den 7. Dezember, vormittags denn Sie haben die absolute Mehrheit verloren, und 9 Uhr. Sie werden noch merken, was Sie da noch für Trouble kriegen. Die Sitzung ist geschlossen. (Heiterkeit auf allen Seiten und Beifall bei der SPD.) (Ende der Sitzung: 20.23 Uhr.)

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Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage

Liste der beurlaubten Abgeordneten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich a) Beurlaubungen Dr. Dr. h. c. Baade 7. 12. Baier (Mosbach) 7. 12. Dr. Elbrächter 8. 12. Gaßmann 9. 12. Frau Geisendörfer 7. 12. Dr. Dr. Heinemann 10. 12. Dr. h. c. Menne (Frankfurt) 12. 12. Dr. Menzel 15. 12. Meyer (Oppertshofen) 7. 12. Rademacher 7. 12. Ramms 6. 12. Rasner 6. 12. Reitzner 30. 12. Frau Rudoll 31. 12. Dr. Schmid (Frankfurt) 6. 12. Dr. Schneider 15. 12. Frau Schroeder (Detmold) 7. 12. Stingl 22. 12. Storch 7. 12. Vogt 20. 12. Dr. Zinn 7. 12.

b) Urlaubsanträge Dr. Aschoff 18. 12. Gerns 14. 12. Wendelborn 31. 12.