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Sendung vom 17.10.2000

Dr. Bundesminister a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, herzlich willkommen bei Alpha- Forum. Zu Gast ist heute Dr. Gerhard Stoltenberg, langjähriger Ministerpräsident in Schleswig-Holstein und ehemaliger Bundesminister. Herzlich willkommen, Herr Dr. Stoltenberg. Stoltenberg: Guten Tag. Reuß: Sie waren schon unter den Kanzlern und Bundesminister für Wissenschaft und Forschung, Sie waren über elf Jahre lang Ministerpräsident in Schleswig-Holstein, Sie waren Bundesfinanzminister – das Königsministerium, wenn man so will – und Bundesverteidigungsminister: Hand aufs Herz, gab es ein Amt, das Ihnen dabei ganz besonders viel Freude gemacht hat? Stoltenberg: Ach, eigentlich war jede Aufgabe lohnend, und ich habe bei jeder dieser Aufgaben auch ganz gute Erinnerungen – neben manchen Blessuren oder Rückschlägen, die es im politischen Leben eben auch immer wieder einmal gibt. Insgesamt habe ich also positive Erinnerungen daran. Es hat mir natürlich besondere Freude bereitet, dass mich Ludwig Erhard mit 37 Jahren in das Wissenschaftsministerium berufen hat. Ihm war ich schon deswegen verbunden, weil ich ja in meinem Berufsweg habilitierter Hochschullehrer in war: Ich war Dozent für Neue Geschichte gewesen und kannte daher die Universitäten ziemlich gut. Das war auch eine Zeit, in der die Wissenschaft in Deutschland Rückenwind hatte, in der die Zweifel an der modernen Wissenschaft nicht so stark waren wie später. Es gab auch keinesfalls diese Aggressivität, wie wir sie bis heute z. B. in der Auseinandersetzung um die Kernenergie erleben. Damals hatte der Deutsche z. B. einstimmig ein Atomgesetz verabschiedet: Das alles ist heute so gar nicht mehr vorstellbar. Aber auch die anderen Aufgaben und vor allem natürlich die Aufgabe, im eigenen Heimatland Ministerpräsident zu sein, haben mir ebenfalls viel Freude bereitet. Reuß: Würden Sie sagen, dass Sie ein Pflichtmensch sind? Gibt es für Sie so etwas wie die Freude an der Pflicht? Stoltenberg: Es gibt schon auch Freude an der Pflicht. Mein Lebensweg war natürlich zum einen sehr stark durch mein Elternhaus geprägt. Er war aber auch geprägt durch die sehr frühen Jugenderfahrungen des Krieges, der Diktatur und der Zerstörung. Das hat mich schon ein Stück weit geprägt. Ich habe das ja auch im letzten Jahr in einem Buch, das durch die Zusammenfassung einer großen Zahl von Aufsätzen von mir im Schleswig- Holsteinischen Zeitungsverlag – der größten Zeitungsgruppe im Norden – entstanden war, im Einzelnen beschrieben. Man kann also meinen Lebensweg nicht ganz abtrennen von dieser frühen Erfahrung, von diesem Schrecken des Krieges und der Diktatur, von dieser falschen Politik. Ich bin eigentlich schon als Gymnasiast und dann als Student zu dem Ergebnis gekommen, dass es die Aufgabe meiner Generation sein wird, sich nun wirklich für ein demokratisches, ein freiheitliches Deutschland einzusetzen, das in der Gemeinschaft der Nationen erneut seinen Platz findet. Und das hat mich dann auch früh in die Politik gebracht: Ich bin ja schon mit 25 Jahren Landtagsabgeordneter geworden und dann mit 28 Jahren Abgeordneter des Bundestages. Im Übrigen bin ich 1955 in Bayern zum Bundesvorsitzenden der Jungen Union gewählt worden. Das geschah – ein wenig zu meiner eigenen Überraschung – auf einer Bundestagung der Jungen Union in Augsburg. Dadurch bin ich auch sehr früh in den Parteivorstand der CDU gekommen, wo ich die großen alten Männer der Union wie , Ludwig Erhard und die anderen der Gründergeneration sehr früh kennen lernte. Das hat mein Leben in der Tat bereichert. Reuß: Sie sind Holsteiner und haben selbst einmal den Staatsrechtler Lorenz von Stein zitiert, der den Holsteiner so charakterisiert: "Kein Stamm des deutschen Volkes übertrifft ihn an Zähigkeit in dem Festhalten des einmal Erkannten oder Beschlossenen." Zeugt das von Entschiedenheit? Zeugt das von Prinzipientreue oder auch ein wenig von Sturheit? Stoltenberg: Ich bin Holsteiner – allerdings von der mütterlichen Seite aus auch Schleswiger. Ich bin also in beiden Teilen meines Heimatlandes verankert. Die Schleswiger werden von Lorenz von Stein, der im Übrigen selbst ein Schleswiger war, weil er aus dem Bereich um Eckernförde kam, als etwas beweglicher und geistesoffener geschildert. Nein, es ist schon etwas dran: Die Holsteiner haben eine ziemliche Standfestigkeit und möglicherweise manchmal auch eine etwas fehlende Flexibilität, was dann als Sturheit gilt. Das mag es bei mir beides geben, aber das Schleswiger Element kommt eben auch dazu. So ungefähr würde ich das jedenfalls selbst bewerten. Reuß: Spitzenpolitiker kommen nicht umhin, dass ihnen auch Etiketten verpasst werden. Der langjährige, legendäre SPD-Fraktionschef im Bundestag, , nannte Sie einmal den "großen Klaren aus dem Norden". Hat Sie diese Bezeichnung getroffen? Fühlten Sie sich dadurch richtig beschrieben? Stoltenberg: Ich empfand das nicht als Kränkung. Nun ist das ja auch der Markenname eines sehr bekannten Spirituosenprodukts aus Flensburg, und insofern gehörte auch nicht viel Phantasie dazu, diesen Namen einmal auf Politiker anzuwenden. Nein, das war für mich nie eine kränkende Bemerkung gewesen – auch nicht aus dem Mund von Herbert Wehner. Reuß: Ich würde unseren Zuschauern nun gerne den Menschen Gerhard Stoltenberg etwas näher bringen. Sie sind am 29. September 1928 in Kiel geboren. Ihr Vater war Pastor, Ihre Mutter Lehrerin. Wenn Sie sich an Ihre frühe Kindheit zurückerinnern: Was kommt Ihnen da in Erinnerung? Wie war Ihr Elternhaus? Stoltenberg: Die frühe Kindheit war eine besonnte Kindheit. Mein Vater war Pastor in einer besonders schönen und auch landschaftlich besonders reizvollen Gemeinde in Ostholstein. Manche Menschen kennen ja den Weissenhäuser Strand oder die Hohwachter Bucht: Das sind heute ganz beliebte Orte des Fremdenverkehrs. Damals war das alles noch still und wenig erschlossen. An diese frühe Kindheit, an das Pastorat in Hohenstein, an den wunderschönen großen Garten, die unendlich vielen Besucher, die zu uns kamen – meine Eltern hatten nämlich ein sehr gastfreundliches Haus –, erinnere ich mich mit großer Freude. Das war wirklich schön. Danach zogen wir nach Bad Oldesloe, wo ich letztlich aufgewachsen bin: Da begann dann aber doch in meiner frühen Jugend die Eintrübung durch die Erfahrungen des Krieges, der schrittweise auch unsere Stadt ergriffen hat. Mein Elternhaus ist dann auch bei einem der letzten schweren Bombenangriffe im April 1945 noch ziemlich beschädigt worden. Die ganze Familie kam jedoch aus all den Schrecknissen des Krieges wieder heil und unversehrt zusammen: Wir haben es wirklich als eine Gnade empfunden, als ein Geschenk, dass für uns in unserer Heimatstadt in einer Zeit ein Neuanfang möglich wurde, in der so erschreckend viele Menschen ihre Heimat verloren hatten. Reuß: Wie gesagt, Ihr Vater war Pastor, und Sie sind auch christlich erzogen worden. Welche Rolle spielte der Glaube für Sie persönlich und auch für Ihre Politik? Stoltenberg: Ich bin bewusst in meiner evangelischen Kirche verankert: Ich bin Christ, auch wenn ich nicht mit allen politischen Bewegungen in meiner Kirche sonderlich einverstanden war – aber das ist nicht das Wichtigste. Ja, der Glaube ist mir wichtig. Reuß: Ihr Vater war vier Jahre lang Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen, im Zweiten Weltkrieg wurde er dann als Militärpfarrer dienstverpflichtet: Welche Rolle spielte denn zu Hause im Gespräch der Krieg? Welche Rolle spielte die Politik? Hatten Sie ein politisches Elternhaus? Stoltenberg: Meine Eltern waren eigentlich nie aktiv politisch tätig: weder vor 1933 noch nach 1933 und auch nicht nach 1945. Mein Vater hatte das Amtsverständnis, dass sich ein Pastor nicht demonstrativ einseitig politisch binden, sondern für alle Menschen da sein sollte. Dennoch wurde in der Familie schon auch gelegentlich über Politik geredet: Noch mehr natürlich, als ich dann selbst in die Politik ging, denn da gewann die Politik in den häuslichen Debatten mit meinen Eltern noch an Stellenwert. Reuß: Gab es da immer eine Übereinstimmung mit dem, was Sie politisch vertreten haben? Stoltenberg: Ach, nicht immer im Einzelnen, aber in der Grundrichtung schon. Reuß: Bis 1944 besuchten Sie die Oberschule in Bad Oldesloe. Sie wurden von Ihren Mitschülern, wenn ich das richtig nachgelesen habe, der "Lord" genannt. Warum? Stoltenberg: Da müssten Sie schon meine Mitschüler fragen, denn das kann ich selbst nicht so ganz sicher bewerten: Ich war in meiner Klasse vielleicht doch so ein bisschen Meinungsführer. Wir hatten auch neben einigen nicht sonderlich eindrucksvollen einige sehr gute Lehrer: Das galt auch für nach 1945, als ich dann wieder zur Schule ging, um mein zu machen. Vor allem unser Deutschlehrer in diesen Jahren war exzellent: Durch ihn haben wir die große klassische Literatur auch mit ihren moralischen Kategorien oder Konflikten sehr gut kennen gelernt. Diese Verankerung in der Literatur war eine Bereicherung für mich, die bis heute für mich wichtig ist – wenn ich auch nicht ganz so viel an Belletristik lese, wie das vielleicht manche andere tun. Reuß: Sie wurden mit 15 Jahren noch zur Marine als Flakhelfer einberufen. Wie haben Sie als so junger Mensch das Ende dieses Krieges erlebt? Stoltenberg: Ich war ja zum Schluss des Krieges noch auf einem Flugplatz im Norden Schleswig-Holsteins ganz dicht an der dänischen Grenze. Dort waren die modernsten neuen Strahlflugzeuge der Luftwaffe stationiert, und deswegen gab es dort auch immer Bombenangriffe. Das war eine harte Zeit für mich. Als sich die Kapitulation abzeichnete, bekam ich die Entlassungspapiere und bin dann zusammen mit einem Freund mit dem Fahrrad – uns wurden gerade noch zwei Fahrräder ausgehändigt – zum Teil auf Schleichwegen nach Oldesloe zurückgefahren. Ich bin also nicht in dem Sinne in Gefangenschaft gewesen. Ich musste später zwar noch meine endgültigen Entlassungspapiere holen, aber der Gefangenschaft bin ich sozusagen entgangen. Reuß: Sie gingen danach, wie Sie bereits erwähnten, wieder in die Schule und haben dort im Jahr 1949 Ihr Abitur gemacht, um im Anschluss daran an der Universität in Kiel neuere Geschichte, Wirtschaftswissenschaften und Philosophie zu studieren. Sie waren nebenher für die "Lübecker Nachrichten" und für die "Welt" auch ein wenig journalistisch tätig: Hatten Sie damals schon eine konkrete Berufsvorstellung? Stoltenberg: Eine ganz konkrete nicht, aber der Gedanke, einmal Hochschullehrer zu werden, hat mich bereits in meinem Studium beschäftigt. So bin ich auch nach der Promotion, obwohl ich 1954 gleich in den gewählt worden war, noch an der Universität geblieben. Dort habe ich dann mit einem Forschungsstipendium meine Habilitationsschrift geschrieben: Diese Arbeit war übrigens sehr stark geprägt durch die Frage, wie es denn damals in der schweren Krise vor allem in der ländlichen schleswig-holsteinischen Bevölkerung zu dieser Hinwendung zum Nationalsozialismus gekommen war. Ich habe mich dann 1960 - da war ich schon im Bundestag – auch habilitiert und einige Jahre lang auch Vorlesungen gehalten. Nachher war mir das jedoch nicht mehr möglich. Reuß: Sie sind sehr früh mit 18 Jahren im Jahr 1947 in die CDU eingetreten und waren dann auch Gründungsmitglied der Jungen Union. Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb einmal: "Dass ein zur SPD, ein Gerhard Stoltenberg zur CDU ging, hatte Elemente des Zufälligen." Würden Sie dem zustimmen? Stoltenberg: Nicht ganz. Mich hat schon 1945, als dann wieder die ersten Bücher und Zeitschriften erschienen und die ersten Versammlungen stattfanden, das Konzept bzw. das Angebot der verschiedenen Parteien sehr interessiert. Die CDU war deshalb für mich attraktiv, weil sie eine wirklich neue Partei war. Die Sozialdemokraten knüpften demgegenüber dort wieder an, wo sie 1933 aufgehört hatten, und die Freien Demokraten knüpften Ihrerseits an die alten liberalen Tradition an. Die CDU war jedoch eine ganz neue Partei. Das Verhältnis der Konfessionen war damals ja weit schwieriger als heute: Dass es eine Union der Konfessionen gab, war ein sehr weitreichender Schritt. Auch die Tatsache, dass hier christlich-soziale, liberale und auch konservative Gruppierungen zusammenkamen, empfand ich als positiv – ebenso wie selbstverständlich das Grundbekenntnis zu den Prinzipien des Christentums. Das alles zusammen war wichtig für mich. Ein Zufall war der Eintritt in die CDU daher eigentlich nicht: Es war schon eine überlegte Entscheidung. Reuß: Im Rahmen eines Besuchsprogramms der US-Regierung lernten Sie auch die Vereinigten Staaten kennen: Sie waren zu Beginn der fünfziger Jahre in den USA und haben dort einen jungen Assistenten der Harvard University kennen gelernt, . Sie haben aber auch den späteren Sicherheitsberater von Präsident John F. Kennedy, McGeorge Bundy, kennen gelernt. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht? Hat Sie dieser Besuch geprägt? Stoltenberg: Dieser Besuch war schon wichtig für mich. Es war eine unerhörte Chance, mit 24 Jahren in ein solches Programm mit dem etwas anspruchsvollen Titel "Young Political Leaders" eingeladen zu werden. Wir waren eine Gruppe von 15, 16 jungen Repräsentanten bzw. Verantwortlichen der Jungen Union, der Jungsozialisten und Jungdemokraten. Wir durchliefen dort ein exzellent organisiertes gemeinsames Programm. Danach konnte dann jeder für sich für die Dauer von einigen Wochen wählen, wohin er darüber hinaus noch gehen wollte. Ich hatte vorher mit diesem Henry Kissinger schon einen Briefwechsel gehabt: Er gab eine Zeitschrift heraus, die ich ebenfalls bezog. So habe ich ihn eben angerufen und kam durch ihn nach Harvard. Dort lernte ich wirklich sehr interessante Leute kennen. Daraus ist mit Henry Kissinger bis heute eine lebenslange Freundschaft erwachsen. Ich komme aufgrund meiner gewissen federführenden Arbeit im Bereich der internationalen Beziehungen für die Konrad-Adenauer- Stiftung auch heute noch immer wieder in die USA. Dies war zuletzt im Mai dieses Jahres der Fall. Ich treffe dabei jedes Mal, wenn er da ist – diesmal war er verreist – meinen Freund Henry zu interessanten Gesprächen, so, wie ich auch andere alte Bekannte dort wieder treffe. Ich habe jetzt im Mai gerade wieder einmal im Faculty Club in Harvard mit einem der bekanntesten Professoren dort gefrühstückt: In diese gleichen Räume war ich auch schon 1952 von McGeorge Bundy eingeladen worden. In einem doch sehr bewegten Leben ist es eine sehr gute Erfahrung, im Menschlichen und im Thematischen ein solch großes Stück Kontinuität zu erleben. Ich gehe gerade jetzt, wo ich ja nicht mehr so aktiv in der Politik drinstecke, gerne an amerikanische Universitäten und halte dort Vorträge. Ich habe für jede Reise immer wieder eine ganze Reihe von Einladungen. Ich diskutiere dabei nicht nur mit den Professoren, sondern vor allem auch mit den jungen Leuten: Das macht mir enorm viel Spaß und ist im Übrigen auch sehr wichtig. Denn politische Beziehungen zwischen befreundeten Ländern werden nicht nur dadurch lebendig, dass sich so genannte Spitzenpolitiker oder Abgeordnete oder Leute aus der Wirtschaft treffen: Das ist sicherlich auch alles nötig, aber diese Beziehungen müssen auch dadurch eine neue Grundlage erhalten, dass man bereits möglichst viele der guten Studenten an den führenden Universitäten in diesen deutsch- amerikanischen, europäisch-amerikanischen Dialog mit einbezieht. Im Hinblick auf das Interesse dieser jungen Leute an diesen Themen sind meine Erfahrung sehr gut. Das müssten jedoch noch mehr Leute aus Deutschland machen: Das sind nämlich nicht so furchtbar viele. Reuß: Wir sind nun bereits beim Thema angelangt, denn ich würde nun gerne zum Politiker Gerhard Stoltenberg kommen. Sie sind 1951, also mit 23 Jahren, Landesvorsitzender der Jungen Union in Schleswig-Holstein geworden. Vier Jahre später sind Sie, wie Sie bereits erwähnten, in Augsburg zum Bundesvorsitzenden der Jungen Union gewählt worden. Damit gehörten Sie zum engsten Führungszirkel der CDU, nämlich zum Bundesvorstand. Wie hat Sie dort der "Alte", wie man Konrad Adenauer damals bereits nannte, eigentlich aufgenommen? Stoltenberg: Ach, das war schon eine besondere Erfahrung. Weil natürlich die mittlere und jüngere Generation in den Nachkriegsjahren nur schwach vertreten war - viele waren im Krieg geblieben, andere mussten sich um ihre beruflichen Probleme kümmern –, kam ich da in einen Vorstand, in dem das Durchschnittsalter mindestens doppelt so hoch war wie mein eigenes Lebensalter. Der Zweitjüngste war Kai-Uwe von Hassel mit seinen 45 Jahren, während ich zu dem Zeitpunkt 26 Jahre alt war. Die alten Herren haben mich dort aber mit einem gewissen Wohlwollen behandelt: auch Adenauer. Ich habe mich dann, nachdem ich die ersten beiden Sitzungen nur zugehört hatte, auch aktiv an den jeweiligen Debatten beteiligt. Die Protokolle sind mittlerweile übrigens veröffentlicht, und so kann man das auch nachlesen. Ich habe dort im Laufe der Zeit mit einer Reihe dieser älteren Politikern ein ganz gutes Verhältnis entwickelt. Wir haben Konrad Adenauer aber auch einige Male geärgert. Die Junge Union war nämlich loyal, aber sie war nicht unkritisch. In zwei Situation, in denen er nach unserer Meinung Fehler gemacht hatte - das berührte vor allem auch den Streit mit Erhard – haben wir dazu sehr wohl kritische Stellungnahmen verfasst. Das schätzte er nicht so sehr, aber dafür hat er es uns auch nicht lange nachgetragen. Es gab dazu lediglich einmal eine Aussprache. Aber insgesamt muss ich schon sagen, dass Konrad Adenauer an den jungen Leuten schon ein Interesse hatte. Als ich ihm in einem Gespräch vor der Bundestagswahl 1961 einmal entwickelte, wie die Junge Union beabsichtige, den Wahlkampf zu führen, hat er gemeint, dass er das ganz gut fände, aber dass er sich daran erinnere, dass in dem ersten Wahlkampf, den er als junger Mann in Köln mitgemacht hatte, auch noch andere Dinge gemacht worden seien. Das schilderte er mir ausführlich, und dann fragte ich ihn, wann das denn gewesen sei: "Wann war denn das, Herr Bundeskanzler?" Er antwortete: "Ja, das war die Kommunalwahl 1895!" Darauf habe ich ihm geantwortet, dass das im Geburtsjahr meines Vater gewesen sei. So weit waren also die Erfahrungen damals auseinander. Aber er war natürlich schon ein bedeutender Staatsmann: Bei allen Eigenarten, trotz der paar Schwächen, die er hatte, und trotz der gewissen Inflexibilität in zunehmendem Alter war er wirklich ein großer Mann. Dass ich ihn so intensiv erleben durfte, empfinde ich als eine bleibende Bereicherung in meinem Leben. Reuß: Sie wurden also 1954 mit 25 Jahren jüngster Landtagsabgeordneter in Schleswig-Holstein. Drei Jahre später wurden Sie bereits für den Bundestag nominiert. Auch diese Nominierung hat eigentlich ihre eigene kleine Geschichte. Das war ursprünglich einmal der Wahlkreis von Kai-Uwe von Hassel gewesen, der Ministerpräsident geworden war. Der Nachrücker ist dann nicht wieder nominiert worden, und so waren plötzlich Sie im Gespräch. Konrad Adenauer hat Sie dabei wohl auch unterstützt – trotz Ihrer Kritik an ihm. Stoltenberg: Zu denen, die mir sehr stark dazu geraten haben, in den Bundestag zu gehen, gehörte auch einer der damals prominenten älteren CDU-Leute, , der Mitbegründer der Berliner CDU und spätere Bundesminister. Wir hatten persönlich ein gutes Verhältnis zueinander, und er selbst war in der Weimarer Republik auch mit 25 Jahren in den Reichstag gewählt worden. Er sagte zu mir: "Sie sind Vorsitzender der Jungen Union, Sie müssen in den Bundestag gehen." Es gab auch noch einige andere, die das befürworteten. Als ich dann tatsächlich ins Gespräch kam, habe ich gesagt: "Ich bin bereit dazu." Aber ich hatte bei der Wahl einen sehr starken Gegenkandidaten in diesem Wahlkreis Schleswig- Eckernförde. Ernst Lemmer ging daraufhin zu Konrad Adenauer und sagte zu ihm: "Diese Sache da ist nicht ganz klar." Auf seine Veranlassung hin hat Konrad Adenauer dann den beiden Kreisvorsitzenden der CDU persönliche Briefe geschrieben, in denen er mich sehr empfohlen hat. Das hat bei den beiden einen tiefen Eindruck hinterlassen und sicherlich zu meinem sehr guten Ergebnis bei der Nominierungsversammlung beigetragen. Reuß: 1957 kamen Sie in den Bundestag: Das war der größte Wahlerfolg der CDU in der Geschichte, denn sie hat bei dieser Wahl die absolute Mehrheit gewonnen. Sie gehörten nicht zu denjenigen, die es sich auf den Hinterbänken bequem machten, sondern haben sich sofort engagiert – auch im Haushaltsausschuss. Sie haben daneben aber auch Ihre Lehrtätigkeit beibehalten. War Ihnen damals noch nicht ganz klar, ob Sie sich beruflich ganz auf die Politik oder doch auf eine akademische Laufbahn konzentrieren sollten? Stoltenberg: Einige meiner älteren Freunde und im Übrigen auch meine Eltern hatten mir gesagt: "Wenn du schon in die Politik gehst, dann musst du wenigstens immer eine Alternative haben. Du musst immer eine berufliche Plattform haben, damit du auch in der Lage bist, gehen zu können, wenn es Probleme gibt oder wenn unzumutbare Entwicklungen eintreten." Das war mir selbst auch wirklich wichtig, und so habe ich mir eben diese berufliche Plattform an der Universität verschafft. Das gibt einem doch ein Stück innerer Gelassenheit und Unabhängigkeit, und das war natürlich für mich auch eine ganz wichtige persönliche Erfahrung. Reuß: Konrad Adenauer hat Sie schon sehr früh für ministrabel gehalten. 1962, im Rahmen der so genannten "Spiegel-Affäre", hat die FDP kurzzeitig die Koalition verlassen, und Franz Josef Strauß musste als Verteidigungsminister zurücktreten. Danach wurden dann verschiedene Namen für seine mögliche Nachfolge genannt: unter anderem auch Ihrer. Sie haben damals jedoch abgelehnt. Warum? Stoltenberg: Es war ein ganz kleiner Kreis der Führung der CDU/CSU, mit dem Adenauer diese Fragen beriet. Er war natürlich selbst auch ein wenig angeschlagen durch diese ganze Affäre, und so stützte er sich in der Zeit etwas stärker auf seine wichtigsten Mitstreiter. Dort, in diesem Kreis, wurden für die Nachfolge von Strauß verschiedene Namen genannt. Er war es, der dann meinen Namen genannt hat – zur Bestürzung all dieser alten Herren, denn ich war erst 34 Jahre alt. Einer aus diesem Kreis, einer meiner Freunde, rief mich gleich an und sagte: "Ich muss mal dringend mit Ihnen reden." Das war an einem Freitag Mittag, und so trafen wir uns noch schnell, bevor er ins Wochenende fuhr. Dabei sagte er mir: "Der Alte hat ein Auge auf Sie geworfen." Er schilderte mir die ganze Episode und sagte auch: "Ich rate Ihnen ab." Ich antwortete ihm: "Richtig, ich denke ja nicht mal daran, das zu machen. Ich werde doch nicht mit 34 Jahren auf die Hardthöhe gehen und Befehlshaber von namhaften Generälen werden, die zum Teil noch im Zweiten Weltkrieg General waren wie z. B. General Speidel, der bei Rommel eine bedeutende Rolle gespielt und auch zum Widerstand gehört hatte. Das halte ich doch für völlig unvorstellbar." Die Sache versandete dann auch, aber irgendwie ist sie doch zu einem Journalisten durchgedrungen. Konrad Adenauer machte nämlich, nachdem die Regierungsumbildung erfolgt war, einen Empfang für die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion im , um sie etwas zu beruhigen. Wir standen alle in einer Reihe, und er begrüßte einen jeden von uns persönlich. Als ich an der Reihe war, sagte er ziemlich laut: "Herr Stoltenberg, diesmal sind Sie mir durch die Binsen gegangen, aber Sie kommen auch noch dran." Das hat sich irgendwie herumgesprochen, und so wurde das dann in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" veröffentlicht. Aber es war natürlich völlig in Ordnung, dass das nichts geworden ist, denn ich war dann später doch drei Jahre älter und ein wenig erfahrener: Der Einstieg ins Wissenschaftsressort war auch viel richtiger, als nun gleich auf die Hardthöhe zu gehen. Reuß: Im April 1965 suchten Sie eine weitere Herausforderung: Sie wurden Direktor bei der Friedrich Krupp GmbH. Sie hatten also im Grunde genommen drei Möglichkeiten in Ihrem beruflichen Weg: Sie konnten in die Politik, in die Wirtschaft und in die Wissenschaft gehen. Was hat letztlich den Ausschlag für die Politik gegeben? Stoltenberg: Ach, dieses Angebot von Alfred Krupp von Bohlen und Halbach, der bald darauf gestorben ist, und von Berthold Beitz war natürlich so verlockend, dass ich gesagt habe: "Das machst du mal für einige Zeit." Ich habe mich dafür auch an der Universität beurlauben lassen. Das blieb aber nur eine Episode, weil dann schon im Herbst 1965 das Angebot von Erhard gekommen ist: Für mich war ganz klar, dass die Chance, Bundesminister für Wissenschaft zu werden, die Attraktivste dieser drei Optionen darstellte. Ich habe das auch nie bereut. Ich habe ja schon gesagt, dass das eine Zeit war, in der die Wissenschaft einen enormen Rückenwind hatte. Wir haben in vier Jahren den Etat des Wissenschaftsministers verdoppelt und auch neue Programme aufgelegt, die mir heute noch Freude machen, wenn ich an sie denke. Das war wirklich eine gute Zeit. Reuß: Sie waren bis 1969 Wissenschaftsminister. Das heißt, Sie waren als jüngster Bundesminister auch während der Zeit der Studentenproteste Minister. Haben Sie damals auch den Dialog gesucht? War er überhaupt möglich? Die Studenten demonstrierten gegen die Notstandsgesetzgebung, gegen den Vietnamkrieg: Gab es diesen Dialog? Hatten Sie überhaupt die Chance dazu? Stoltenberg: Ja, ich habe ihn schon geführt, aber es war schwierig. Es hat zu der Zeit auch eine Legendenbildung gegeben, denn es wurde sofort gesagt – und das ist ja auch typisch für diese aggressiven linken Streiter –, dass die Politiker nicht mit ihnen reden würden. Wir wurden sofort denunziert, denn sie sagten: "Die Politiker reden nicht mit uns!" Nach meiner Berufung zum Wissenschaftsminister hatte ich gerade im Jahr vor den Studentenunruhen an mehreren deutschen Universitäten gesprochen. In meiner Heimatuniversität Kiel habe ich z. B. auch über die Zukunft der deutschen Universitäten gesprochen. Nun, damals gab es vielleicht 7000 oder 8000 Studenten in Kiel. Zu dieser Veranstaltung der evangelischen Studentengemeinde kamen vielleicht 150 bis 180 Leute einschließlich zehn, zwölf Wissenschaftlern. Ich fand das nicht so eindrucksvoll, weil ich an dieser Universität früher ja wirklich verankert gewesen war. Aber die Veranstalter sagten mir, dass das seit Jahren die größte politische Veranstaltung sei, die an der Kieler Universität stattgefunden hätte. Diese Veranstaltung war an sich nicht schlecht, aber sie war doch recht schlecht besucht. Ein Jahr später wurde gesagt: "Ihr diskutiert nicht mit uns!" So liefen diese Prozesse nun einmal ab. Also habe ich mich als Wissenschaftsminister und gleichzeitig als jüngster Minister auf den Weg gemacht und an einer Reihe von deutschen Universitäten große Kundgebungen gehalten. Nun, diesmal kamen jeweils über 1000 Leute. Aber es gab auch fast jedes Mal Krach und Krawall. Wir mussten wirklich eine Art von Bodyguard organisieren: Das waren eigentlich wirklich unzumutbare Verhältnisse. Diese Bodyguards waren eine Gruppe von etwas kräftigeren, gut gebauten und nicht ängstlichen Studenten vom RCDS und anderen Gruppen, die 40, 50 Mann stark ums Podium herum standen und die tätlichen Angriffe abzuwehren hatten. So wurde damals in der Tat die Diskussion geführt. Wir haben diese Diskussionen zwar alle ohne Abbruch oder Sprengung überstanden, aber nachdem ich das acht oder zehn Mal gemacht hatte, habe ich mir gedacht, dass das nun auch nicht gerade die adäquate Form des vernünftigen akademischen Diskurses und der anspruchsvollen Debatte sei. So haben wir uns dann wieder darauf konzentriert, mit kleinen Gruppen zu sprechen. Nein, diese Sache war insgesamt schon eine Protestbewegung, über die man sehr Vieles, auch Differenziertes, sagen könnte. Denn da gab es ja auch gemäßigte reformerische Kräfte. Es gab aber auch Kräfte, die Staat und Gesellschaft umkrempeln wollten: Das Stichwort lautete "Systemsprengung". Man darf das alles wirklich nicht verharmlosen. Danach hat ja , nachdem er Bundeskanzler geworden war, versucht, einen Teil dieser Leute in die SPD-Linke zu integrieren – mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Diese Auseinandersetzungen haben nämlich auch noch die siebziger Jahre sehr stark mitbestimmt. Reuß: Kurt Georg Kiesinger, der Kanzler der Großen Koalition, hat Ihnen zweimal Angebote gemacht, Ministerien zu übernehmen, die protokollarisch höher angesiedelt gewesen wären als das Wissenschaftsministerium. Einmal hätten Sie Chef des Bundeskanzleramts werden können: im Rang eines Bundesministers. Zum anderen hätten Sie etwas später auch Bundesinnenminister werden können. Beides haben Sie abgelehnt: Warum? Stoltenberg: Mir machte diese Aufgabe im Wissenschaftsministerium wirklich enorm viel Freude. Ich habe ja auch schon gesagt, dass wir wirklich voran kamen: Wegen der besseren Finanzausstattung war es auch in konzeptioneller Hinsicht möglich geworden, Programme völlig neu zu entwickeln. Das Programm zur Förderung der Datenverarbeitung war so etwas. Das hatte es vorher nicht gegeben, und das ist in der Tat zu einem Vorläufer bei dieser ganzen Computerentwicklung geworden. Nehmen Sie meinetwegen auch dieses große Programm für die Meeresforschung. Ganz zum Schluss, also kurz vor dem Regierungswechsel, haben wir noch die Grundlagen für ein Programm mit dem Titel "Neue Technologien" gelegt: Im Jahr 1969 haben wir damit zum ersten Mal die Umwelttechnologie in ein Programm aufgenommen. Das war zehn Jahre bevor die Grüne Partei gegründet worden ist. Ich sage das nur im Hinblick auf gewisse Legendenbildungen. Ich fand das also wirklich so lohnend, dass ich den Bundeskanzler um Verständnis dafür gebeten habe, wenn ich lieber in diesem Ministerium bleiben wollte. Ich habe es ihm auch hoch angerechnet, dass er mir das nicht übel genommen hat, sondern das akzeptiert hat. Ich wäre schon noch ein paar Jahre länger in diesem Ministerium geblieben, aber es kam dann der Regierungswechsel, und wir gingen in die Opposition. Reuß: Dort blieben Sie nicht lange, denn man brauchte Sie in Schleswig-Holstein. Dort stand zu befürchten, dass die CDU die Landtagswahl verlieren könnte. Es gab einen neuen Oppositionschef bei der SPD, den so genannten "roten Jochen", Jochen Steffen. Sie wurden 1970 zum Spitzenkandidaten nominiert, und dies nicht unbedingt in der klaren Sicherheit, dass Sie diese Wahl auch gewinnen würden. Ist Ihnen denn der Weggang von leicht gefallen? Stoltenberg: Ich habe mir das natürlich sehr genau überlegt, denn ich war nach dem Regierungswechsel stellvertretender Fraktionsvorsitzender geworden: mit der ganzen Verantwortung für den Bereich Wirtschaft und Finanzen. Das war schon eine lohnende Tätigkeit. Aber in solchen Wendezeiten sind natürlich die persönlichen Beziehungen und auch die heimatlichen Bindungen am stärksten, und so habe ich dann eben doch gesagt: "Ich mache es!" In Schleswig-Holstein war die Sache bis dahin ja so, dass wir nie eine reine CDU-Mehrheit besessen hatten. Wir waren zwar schon seit 20 Jahren Regierungspartei, aber wir waren das immer nur in Koalitionen: zuerst mit drei Partnern, dann mit zwei und zum Schluss mit der FDP. Die FDP hat uns dann aber nach dem Bonner Regierungswechsel im Stich gelassen. Und so mussten wir alleine "springen", was nicht einfach war. Aber es ist dann eine enorm erfolgreiche Wahl geworden: Wir verbesserten uns zur allgemeinen Überraschung von vorher 44, 45 Prozent auf 51,9 Prozent. Das war der Anfang einer sehr schönen und für mich sehr erfreulichen Zeit. Im eigenen Land mit guten Freunden und Kollegen über elf Jahre lang Ministerpräsident zu sein, war etwas, an das ich gerne zurückdenke. Wir haben auch eine Menge geschafft im Hinblick auf die Entwicklung des Landes. Deswegen hat es mich auch nicht mehr so sehr nach Bonn gezogen. Nach dem Rücktritt von im Jahr 1973 gab es eine ganze Reihe von Freunden, die mich sehr stark aufgefordert haben, für den Bundesvorsitz der Partei zu kandidieren. Aber ich habe mir gesagt: "Obwohl man sich ja vieles zutrauen soll, aber Ministerpräsident in Kiel, also im äußersten Norden und damit weit weg von Bonn, und gleichzeitig Parteivorsitzender in Bonn in einer für die CDU sehr komplizierten Lage zu sein, ist etwas, das ich mir nicht antun werde." Insofern habe ich meine bundespolitischen Möglichkeiten ein Stück weit zurückgestellt: Ich finde das im Rückblick auch richtig, obwohl ich für die unionsgeführten Länder im Bundesrat bis zum Jahr 1982 natürlich schon auch einige wichtige Aufgaben übernommen hatte. Reuß: Man hat den Eindruck, Gerhard Stoltenberg war in seiner aktiven Zeit ein Politiker der eher leisen Töne. Auch Parteifreunde haben einmal gesagt: "Er haut nicht auf den Tisch, sondern hebt immer nur den Zeigefinger." Haben sich Ihrer Ansicht nach die eher leisen Töne in der Politik bewährt, oder gehört das Klappern schon auch zum Geschäft? Stoltenberg: Natürlich gehört auch das gelegentlich zum Geschäft. Man muss schon auch manchmal laut reden können, und man muss auch manchmal die Kontroverse suchen bzw. akzeptieren – je nachdem, wie es gerade kommt. Aber ich halte in der Tat nichts von den Leuten, die ständig mit lauter Stimme andere nur kritisieren oder attackieren oder bestimmte Sachverhalte problematisieren. Das ist nicht mein Verständnis von Politik. Ich bin in die Politik gegangen, weil ich etwas gestalten will, das nach meiner Erwartung und Vorstellung unserem Land uns seinen Bürgern dient. Das war meine politische Motivation – und nicht diejenige, bestimmte Ämter um jeden Preis zu haben. Insofern habe ich die Politik immer auch als einen ernst zu nehmenden Dialog, als einen öffentlichen Diskurs, als eine öffentliche Debatte verstanden, bei der es die meisten Menschen – diese Erfahrung habe ich schon früh gemacht – höher schätzen, wenn Politiker um die Sache ringen und sich wegen dieser Sache auch sachlich auseinander setzen, als wenn sie sich gegenseitig beschimpfen. Damit bin ich eigentlich auch ganz gut gefahren: Das hat mir über eine lange Zeit hinweg das Echo meines politischen Lebens durchaus gezeigt. Mir hat im Übrigen auch die politische Demoskopie gezeigt, dass das eine Form der politischen Auseinandersetzung ist, die zu Recht von den meisten Menschen gewünscht wird. Reuß: Mitte der siebziger, zu Beginn der achtziger Jahre verfügte die CDU über viele Persönlichkeiten: auch in den Ländern. Im Bundestag saß als Fraktionsvorsitzender und Oppositionschef , der ehemalige Ministerpräsident aus Rheinland-Pfalz. In Niedersachsen regierte Ernst Albrecht, in Schleswig-Holstein Gerhard Stoltenberg und in Bayern Franz Josef Strauß, der dann im Jahr 1980 auch Kanzlerkandidat wurde. Sie hatten sich zuerst gegen ihn ausgesprochen, als er nominiert war, haben Sie sich jedoch bereit erklärt, die Funktion des Vizekanzlerkandidaten zu übernehmen. War das schwierig, war das der Versuch des Ausgleichs? Stoltenberg: Ich kannte Franz Josef Strauß ja seit den fünfziger Jahren. Ich kannte ihn sogar recht gut, denn wir saßen ja auch einige Jahre zusammen im Bundeskabinett. Die Beziehungen zu ihm waren eigentlich überwiegend ganz gut und zeitweise sogar recht gut. Es gab sicherlich immer einmal wieder ein Gewitter oder eine Auseinandersetzung - das konnte bei Strauß nicht anders sein, denn das lag ganz einfach an seinem Temperament –, aber das war nicht das dominierende Moment unserer Beziehung. Als Helmut Kohl 1979 erklärte, er wolle diesmal nicht als Kanzlerkandidat antreten, sind zwei Namen ins Spiel gebracht worden: Ernst Albrecht, den er selbst vorgeschlagen hat, und Franz Josef Strauß. Mein Votum für Albrecht entsprang nicht einer Missachtung von Strauß, sondern der Einschätzung, dass er zwar mit enormer Unterstützung in Bayern und in Süddeutschland rechnen konnte, aber bei uns in Norddeutschland gegen Helmut Schmidt antreten musste, der ja doch ein recht populärer Kanzler war. Schmidt war ein Hamburger: mit unmittelbarer Verankerung in Schleswig-Holstein durch sein bekanntes Haus am Brahmsee bei Kiel. Ich war also der Ansicht, dass Strauß bei uns in Norddeutschland gegen Schmidt nicht die Mehrheit gewinnen würde: Dazu waren auch die demoskopischen Zahlen zu eindeutig. Mein Votum entsprang also mehr der allgemeinen Interessenlage der CDU. Nun, Strauß wurde von einer Mehrheit der Bundestagsfraktion gewählt, und ein paar Monate später, als ich ihn mit Blick auf die Bundestagswahl zu Beginn des Jahres 1980 nach Lübeck eingeladen hatte, um dort auf einer großen Veranstaltung zu sprechen, kam er vorher zu mir und wollte alleine mit mir sprechen. Dabei sagte er mir, dass er selbst auch Probleme in Norddeutschland sehen würde: Das hatte er mittlerweile erkannt. Er bat mich dabei sehr, was ich ansonsten bei ihm nie erlebt habe, denn er gehörte nicht zu den Leuten, die sehr oft andere Leute um etwas gebeten haben, doch an seiner Seite als Vizekanzler und zukünftiger Finanzminister in die Wahl zu gehen. Das habe ich mir dann längere Zeit überlegt, denn das entsprach im Grunde genommen nicht meiner eigenen Planung. Ich habe mit meiner Familie und meinen Kieler Freunden darüber gesprochen, ob es sinnvoll sei, damit die Aussichten der CDU für die Wahl ein Stück zu verbessern. Ich habe nach dem Gespräch mit Strauß in Kiel auch mit Helmut Kohl darüber gesprochen und dann letztlich gesagt: "Ich mache es!" Wir haben zwar unser Ziel verfehlt, die Mehrheit gegen SPD und FDP allein zu erreichen – das wäre damals unter den gegebenen Bedingungen auch nur sehr schwer vorstellbar gewesen –, aber wir haben doch einen erheblichen Erfolg errungen. Wir wurden mit Strauß – und ein bisschen habe ich daran wohl auch mitgewirkt – stärkste Fraktion. Wir hatten ein Ergebnis von ungefähr 44, 45 Prozent: Wenn wir das heute auch hätten, dann wären wir ziemlich froh. Die Tatsache, dass wir stärkste Fraktion wurden, hat uns bald darauf, als die Regierung Schmidt nicht mehr weiter konnte, sehr geholfen, mit der FDP zusammen auch wirklich eine neue Mehrheit zu bilden. Insofern ist diese Aktion nicht sinnlos gewesen, auch wenn wir nicht den unmittelbar angestrebten Erfolg hatten. Reuß: 1982 zerbrach die sozial-liberale Koalition, Helmut Kohl wurde Kanzler und Sie Finanzminister. Sie waren auch in der Opposition anerkannt als erfolgreicher Finanzminister: Sie haben die Nettokreditaufnahme von 50 Milliarden auf etwas über 20 Milliarden gedrückt. Die Inflationsrate sank sogar in negative Zuwachsraten, wie das so schön heißt, und Sie haben auch Bundesbeteiligungen konsequent privatisiert. Dennoch gab es auch Kritik an Ihnen, auch aus den eigenen Reihen. Franz Josef Strauß sagte z. B.: "Es nützt doch nichts, wenn wir in der Haushaltskonsolidierung von Erfolg zu Erfolg rasen und gleichzeitig Landtagswahl um Landtagswahl verlieren." War Ihr Sparkurs zwar wirtschaftlich erfolgreich aber politisch – zugespitzt formuliert – schädlich? Stoltenberg: Man kann den wirtschaftlichen Erfolg und die politische Bilanz nicht ganz trennen. Die politische Bilanz besteht freilich nicht alleine aus dem Wirtschaftserfolg, aber dass wir schon 1983 aus der Rezession herausgekommen sind, die uns sehr hart getroffen hatte, als wir an die Regierung kamen, dass schon 1983 eine langsame Zunahme der Beschäftigung einsetzte, dass dann vor allem in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in der alten Bundesrepublik zusätzlich über zwei Millionen Arbeitsplätze entstanden – das war ja auch ein politischer Sachverhalt und nicht nur ein ökonomischer – und dass wir die Inflation von acht auf knapp zwei Prozent heruntergedrückt haben, all das hing natürlich mit dieser Finanzpolitik zusammen. Hinzu gekommen ist damals ja auch noch die Steuerreform: Denn wir haben gemessen am Bruttosozialprodukt in Wahrheit die Einkommens- und Körperschaftssteuer in drei Stufen insgesamt stärker gesenkt, als das Herr Eichel heute machen will, obwohl er sich selbst immer als den größten Steuerreformer aller Zeiten lobt. Diesen Vergleich nehme ich also gerne auf. Nein, die wirtschaftspolitische, die beschäftigungspolitische, die stabilitätspolitische Bilanz der zweiten Hälfte der achtziger Jahre war schon gut. Nun, Strauß hat sie in den entscheidenden Besprechungen dann letzten Endes auch unterstützt. Zwischendurch hatte er freilich auch gegrollt. Ich trete ihm sicherlich nicht zu nahe – das sollte man bei einem hochverdienten verstorbenen Mitstreiter auch nicht tun –, wenn ich sage, dass das für ihn selbst keine sehr komfortable Lage war. Er wollte damals nicht mehr nach Bonn gehen, was man im Hinblick auf sein Lebensalter auch verstehen konnte, aber er fühlte sich auch nicht wohl darin, dass er nicht bei allen wichtigen Entscheidungen mit dabei war. Man kann aber nun einmal nicht beides haben, und so hatte eben mancher Groll in diesem Sachverhalt seinen Hintergrund. Ich muss aber schon sagen, dass er in den wirklich entscheidenden Koalitionsgesprächen bei Helmut Kohl – auch über die Steuerreform – wirklich konstruktiv war. Wobei natürlich auch seine engere Umgebung mit Leuten wie Max Streibl, oder hilfreich war. Man kann also nicht sagen, dass uns damals die CSU in große Schwierigkeiten gebracht hätte. Nein, wir hatten gegen Ende der achtziger Jahre andere Streitigkeiten in der CDU/CSU, die zum Teil ganz überflüssig waren und die uns den Erfolg dieser Politik etwas eingetrübt haben. Dann begann aber selbstverständlich dieses einmalige Ereignis, diese einmalige Zeit, in der wir durch glückliche Umstände, aber auch durch eine sehr gute Politik die deutsche Wiedervereinigung erzielen konnten. Reuß: Ein Wort noch zu einer für Sie sicherlich auch menschlich schwierigen Situation. 1987 kam es zu der so genannten Barschel/Pfeiffer-Affäre. Ihr Nachfolger im Amt des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten, , hatte mit Hilfe seines Medienreferenten einige, wie es dann später hieß, Machenschaften gegen seinen Oppositionsgegner Björn Engholm eingeleitet. Im ersten Untersuchungsausschuss hieß es, die Würde des Menschen Engholm sei angetastet worden. Als Sie davon erstmals erfuhren: Was haben Sie gedacht? Stoltenberg: Diese ganze Affäre begann ja durch eine gezielte Presseveröffentlichung im "Spiegel". Der "Spiegel" erscheint zwar am Montag, aber schon am Sonnabend davor wurde diese Geschichte über die Agenturen massiv verbreitet. Sie hatte natürlich auch Wirkung auf die Landtagswahl, die wir – die CDU zusammen mit der FDP – mit 1000 Stimmen knapp verloren haben. Das hat mich alles sehr beunruhigt und schockiert, aber wichtiger ist dabei doch etwas anderes: Diese erste Darstellung, die nicht nur von der SPD, sondern von einer breiten Öffentlichkeit übernommen worden ist, wurde ja Jahre später durch den zweiten Untersuchungsausschuss widerlegt. Denn erst nach Jahren traten Zeugen auf, die gesagt haben: "Das ist gar nicht so gewesen." Dieser zweite Untersuchungsausschuss – unter der Mehrheit der SPD wohlgemerkt – hat ja fast einstimmig festgestellt, dass diese Vorwürfe nicht aufrecht erhalten werden können. Er hat festgestellt, dass die Beteiligung Barschels an den Machenschaften dieses kriminellen Psychopaten Pfeiffer nicht als erwiesen gelten. Insofern ist diese Sache also neu zu schreiben. Was uns damals, als wir dies alles noch nicht wussten, beschwert hat, war die Tatsache, dass Uwe Barschel unter Schockeinwirkung – wie ich hier einmal unterstelle – und auch unter erheblichen gesundheitlichen Problemen, die er hatte, uns nicht die reine Wahrheit gesagt hatte. Die Wirkung dieser Beschuldigung hat ihn so schwer getroffen, dass er dann leider die eigenen Freunde - ich hatte in diesen Tagen ja intensive Gespräche mit ihm geführt – und die Öffentlichkeit über gewisse Dinge falsch informiert hat. Dadurch ist er ins Zwielicht geraten, und dadurch konnten wir ihn auch nicht überzeugend verteidigen, als sich ein paar Wochen später herausstellte, dass er uns und die Öffentlichkeit nicht völlig richtig informiert hatte. Das bleibt eine ganz bittere Erinnerung, aber man muss von solchen Erfahrungen auch Abstand gewinnen und den Blick auch wieder nach vorne richten können. Aber es stimmt schon, das gehört zu meinen unangenehmsten Erinnerungen in der Politik. Reuß: Sie haben dann noch einmal ein ganz spannendes Amt übernommen: Sie wurden 1989 Bundesverteidigungsminister. Es kam dann weitgehend überraschend die deutsche Einheit, und Sie mussten etwas vollbringen, was wahrlich ein Kraftakt war: Sie mussten zwei Armeen, die sich jahrzehntelang feindlich gegenüber gestanden waren, fusionieren. Wie haben Sie das damals empfunden? Stoltenberg: Nun, ich habe das natürlich als eine unglaubliche historische Wende empfunden. Die Zeichen dafür waren ja schon vorher da gewesen, denn das alles baute sich doch im Laufe des Jahres 1989 allmählich auf: dieser von Gorbatschow herbeigeführte Kurswechsel usw. Dass die Mauer dann aber im November wirklich fiel, ist noch acht Tage vorher nicht fest vorhersagbar gewesen. Es hatte zuerst diese enorme Fluchtbewegung gegeben und dann danach diese Begeisterung der Menschen, die sich erstmals frei treffen konnten. Wir hatten bei all dem die nachhaltige Unterstützung vor allem der amerikanischen Regierung unter der Führung von George Bush. Ich habe ja an einem erheblichen Teil dieser Gespräche und Verhandlung teilgenommen bzw. sie im Auftrag der Regierung selbst geführt. Das war schon eine unglaubliche Erfahrung: Das galt auch für meine ersten Besuche in der DDR zu der Zeit. Ich war schon seit den siebziger Jahren privat mehrfach in der DDR, weil ich dort einige Jugendfreunde hatte und ich mich um die dortige evangelische Kirche gekümmert habe. Dabei war ich natürlich immer von der observiert worden. Nun wieder in die gleichen und auch noch in andere Städte zu kommen und in einer freiheitlichen Atmosphäre mit den Menschen sprechen zu können: Das war eine unglaubliche Erfahrung, die mich heute noch beglückt. So ist der Prozess dann ja auch ganz schnell vorangegangen: friedlich! Man muss ja nur daran denken, welche Kriege im Kosovo und in Bosnien in der jüngsten Zeit geführt wurden: Da wissen wir es doch doppelt zu schätzen, dass das damals alles friedlich abgelaufen ist. Es gab dann auch die ersten Kontaktaufnahmen mit den nicht kommunistischen Regierungen in unseren östlichen Nachbarländern: Auch das war hochinteressant. Und es gab die Notwendigkeit, die wir freilich schon vor dem 3. Oktober, dem Tag der Einheit, einige Monate lang vorbereitet hatten, die Befehls- und Kommandogewalt über die NVA zu übernehmen, die weitgehend aufgelöst worden ist, aber mit ihren riesigen Beständen an Waffen, Munition und Ausrüstung selbstverständlich unter Kontrolle bleiben musste. Ich traf dabei mit Zustimmung des Kabinetts die Entscheidung, einer gewissen Anzahl – das ging dann aber doch hoch in die Tausende – von Unteroffizieren und auch Offizieren der NVA die Chance zu geben, soweit sie nicht deutlich belastet waren, nach einer entsprechenden Probe- und Lehrgangszeit in die Bundeswehr aufgenommen zu werden. Das hat sich alles sehr gut bewährt, wie ich glaube. Und insofern war das schon eine lohnende und gute Zeit. Reuß: Unsere Zeit geht leider schon zu Ende. Ich darf mich bei Ihnen für Ihr Kommen und das sehr angenehme Gespräch ganz herzlich bedanken. Zum Schluss würde ich gerne mit einem Wort von Bernd Brügge, einem Journalisten, enden, der in einer Biografie über Sie einmal geschrieben hat: "Immer war und ist Gerhard Stoltenberg unverwechselbar derselbe, dessen kühle Klarheit als Markenzeichen für den hohen geistigen Anspruch an sich selbst und andere steht." Das ist auch in diesem Gespräch sicherlich noch einmal deutlich geworden. Noch einmal ganz herzlichen Dank an Sie. Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, das war Alpha-Forum, heute mit Dr. Gerhard Stoltenberg, einst Ministerpräsident in Schleswig-Holstein und Bundesminister. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen, auf Wiedersehen.

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