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Deutscher

171. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Inhalt:

Glückwunsch zum Geburtstag der Abg. Große Anfrage der CDU/CSU betr. Deutsch- Frau Schanzenbach, Dr. Schellenberg und land- und Außenpolitik — Drucksachen Frau Brauksiepe ...... 9737 A, B VI/2700, VI/2828 — und mit Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr. Überweisung von Vorlagen an Ausschüsse 9737 B Beziehungen der Bundesrepublik Deutsch- land und der Volksrepublik Polen — Wahl des Abg. Wende als stellvertreten- Drucksache VI/1523 — des Mitglied des Verwaltungsrates der Brandt, Deutschen Bundespost 9737 B Bundeskanzler . 9739 D, 9791 B, 9814 C Erweiterung der Überweisung eines Gesetz- Scheel, Bundesminister 9742 D entwurfs 9737 C Dr. Barzel (CDU/CSU) . 9752 C, 9796 C, 9814C, 9815B Amtliche Mitteilungen ...... 9737 C Wehner (SPD) 9764 B Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) Bericht der Bundesregierung zur Lage der . 9784 B Nation 1972 (Drucksache V1/3080) in Ver- Dr. Jaeger, Vizepräsident . . . 9798 A bindung mit Mischnick (FDP) ...... 9799 B Stücklen (CDU/CSU) Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag 9804 B vom 12. zwischen der Bun- Dr. Ehmke, Bundesminister . . . 9814 D desrepublik Deutschland und der Union Borm (FDP) ...... 9815 C der Sozialistischen Sowjetrepubliken (Drucksache V1/3156) — Erste Beratung —, Dr. Schröder (Düsseldorf) (CDU/CSU) 9820 B mit Fragestunde (Drucksache V1/3165) Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag Frage des Abg. Dr. Böhme (CDU/CSU) : 7. Dezember 1970 zwischen der Bundes- Immobilienfonds der Landeszentral- republik Deutschland und der Volks- bank Nordrhein-Westfalen republik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Be- Ravens, Parlamentarischer ziehungen (Drucksache VI/3157) — Erste Staatssekretär 9771 B, C, D Beratung —, mit Dr. Böhme (CDU/CSU) . . . 9771 B, C II Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. , Mittwoch, den 23. Februar 1972

Frage des Abg. Dr. Schneider (Nürnberg) Fragen des Abg. Prinz zu Sayn-Wittgen- (CDU/CSU) : stein-Hohenstein (CDU/CSU) : Verfahren und Methoden zur Preis- Finanzierung der Krankenhausversor-- erhebung gung bis 1975 Hermsdorf, Parlamentarischer Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär . . . 9771 D, 9772 B, C Staatssekretär . 9777 C, D, 9778 B, C, D, Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) 9779 A 9772 B, C Prinz zu Sayn-Wittgenstein Hohenstein (CDU/CSU) . 9778 A, B, C Frage des Abg. Ott (CDU/CSU) : Dr. Fuchs (CDU/CSU) 9778 D Miete eines bundeseigenen Hauses in Köln durch Bundesminister Schiller Frage des Abg. Rollmann (CDU/CSU) : Hermsdorf, Parlamentarischer Studie über den Einfluß von Gewalt- Staatssekretär . . . 9772 C, D, 9773 A tätigkeit und Brutalität im Fernsehen Ott (CDU/CSU) ...... 9772 C, D auf Straßenspiele der Kinder Hauser (Bad Godesberg) (CDU/CSU) 9773 A Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär ...... 9779 A, B, C Frage des Abg. Dr. Fuchs (CDU/CSU) : Rollmann (CDU/CSU) 9779 B Maßnahmen zur Verbesserung der Hansen (SPD) 9779 C Infrastruktur in den ostbayerischen Landkreisen Frage des Abg. Baier (CDU/CSU) : Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär ...... 9773 B, C, D Erhöhung der finanziellen Leistungen für das Deutsch-Französische Jugend- Dr. Fuchs (CDU/CSU) . . . . . 9773 C, D werk Westphal, Parlamentarischer Fragen des Abg. Kiechle (CDU/CSU): Staatssekretär . 9779 C, D, 9780 A, B, C Beseitigung der zehnjährigen Grund- Baier (CDU/CSU) . . . 9779 D, 9780 A steuerfreiheit der Zweitwohnungen Rollmann (CDU/CSU) 9780 B Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär ...... 9774 A, C, D Dr. Fuchs (CDU/CSU) 9780 C Kiechle (CDU/CSU) 9774 C Fragen des Abg. Reddemann (CDU/CSU) : Frage des Abg. Dichgans (CDU/CSU) : Zeugnisverweigerungsrecht der Redak- Anerkennung von Ausgaben für den teure Erwerb von Kunstwerken als steuer- Dr. Bayerl, Parlamentarischer lich abzugsfähige Spenden Staatssekretär . . 9780 D, 9781 A, B, C Hermsdorf, Parlamentarischer Reddemann (CDU/CSU) . . . . 9781 B, C Staatssekretär . . . 9774 D, 9775 A, B Dichgans (CDU/CSU) 9775 A, B Frage des Abg. Walkhoff (SPD) : Frage des Abg. Pfeifer (CDU/CSU) : Umgehung des Verbots der Aufhebung von Mietverhältnissen durch Abbruch Freigabe des Militärhospitals der fran- der Mietwohnungen und Neubau von zösischen Garnison in Tübingen Eigentumswohnungen Hermsdorf, Parlamentarischer Dr. Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär . . . 9775 C, D, 9776 A Staatssekretär . . . . 9781 D, 9782 A Pfeifer (CDU/CSU) 9775 D Walkhoff (SPD) ...... 9782 A Maucher (CDU/CSU) 9776 A Frau Funcke, Vizepräsident . . . 9776 B Frage der Abg. Frau Lauterbach (SPD) : Inanspruchnahme der Krebsvorsorge- Fragen des Abg. Härzschel (CDU/CSU) : untersuchung der Krankenkassen — Situation der Rentner in Alters- und Erfahrungen hinsichtlich ausreichender Pflegeheimen Fachärzte und Laboreinrichtungen Westphal, Parlamentarischer Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär . . 9776 C, D, 9777 A, B Staatssekretär . . . 9782 B, D, 9783 A Härzschel (CDU/CSU) . 9776 C, D, 9777 B Frau Lauterbach (SPD) . 9782 C, 9783 A Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 III

Fragen des Abg. Maucher (CDU/CSU) : mietung und Verpachtung von bundes- Rehabilitationszentrum für erwachsene eigenen Grundstücken auf Bundesländer Hirngeschädigte und Gemeinden ...... 9829- B Rohde, Parlamentarischer Anlage 7 Staatssekretär . . 9783 B, C, D, 9784 A Schriftliche Antwort auf die Mündliche Maucher (CDU/CSU) . 9783 C, D, 9784 A Frage des Abg. Krockert (SPD) betr. Ver- wendung von thailändischem Tiefentorf Frage des Abg. Frau Lauterbach (SPD) : und Island-Moos bei der Herstellung von Prämienzahlungen für nicht benutzte Tabakerzeugnissen ...... 9829 B Krankenscheine Rohde, Parlamentarischer Anlage 8 Staatssekretär 9784 A Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Schlaga (SPD) betr. Er- Nächste Sitzung 9826 A fassung der von Selbstdrehern herge- stellten Zigaretten im Entwurf eines Elf- ten Gesetzes zur Änderung des Tabak- Anlagen steuergesetzes ...... 9829 D

Anlage 1 Anlage 9 Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 9827 A Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Dr. Sperling (SPD) betr. Anlage 2 steuerliche Begünstigung der Zigaretten, Entschließung des Bundesrates zum Ge- Zigarren und Rauchtabake, die aus an- setz über die weitere Finanzierung von deren Stoffen als Tabak bestehen . . . 9829 D Maßnahmen zur Verbesserung der Ver- kehrsverhältnisse der Gemeinden und Anlage 10 des Bundesfernstraßenbaus (Verkehrs- Schriftliche Antwort auf die Mündlichen finanzgesetz 1971) ...... 9827 B Fragen des Abg. Löffler (SPD) betr. Er- höhung des von den Mineralölfirmen Anlage 3 dem Tankstellengewerbe gewährten Bo- Schriftliche Antwort auf die Mündlichen nus 9830 A Fragen des Abg. Breidbach (CDU/CSU) betr. Lage der westdeutschen Allumi- Anlage 11 niumindustrie 9827 D Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Fragen der Abg. Frau Dr. Orth (SPD) Anlage 4 betr. unterschiedliche Handhabung des Mehrwertsteuerzuschlags für landwirt- Schriftliche Antwort auf die Mündliche schaftliche Veredlungserzeugnisse . . . 9830 C Frage des Abg. Dr. Becker (Mönchenglad- bach) (CDU/CSU) betr. Abschluß eines Abkommens über den Welthandel mit Anlage 12 Textilien 9828 C Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Fragen des Abg. Peiter (SPD) betr. Be- Anlage 5 nachteiligung der pflichtversicherten Handwerker und der freiwillig Ver- Schriftliche Antwort auf die Mündliche sicherten in der ehemaligen französischen Frage der Abg. Frau Funcke (FDP) betr. Zone durch § 32 des Angestelltenver- Steuerfreiheit für Fehlgeldentschädigung sicherungs-Neuregelungsgesetzes . . . 9831 A von Omnibusfahrern im Liniendienst . . 9828 D Anlage 13 Anlage 6 Zusätzliche Schriftliche Antwort auf die Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Frage des Abg. Dr. Götz (CDU/CSU) betr. Fragen des Abg. Dr. Ahrens (SPD) betr. Pensionierung von Beamten auf Lebens- beispielgebende Wirkung des Gesetzes zeit mit dem vollendeten 62. Lebensjahr über die verbilligte Veräußerung, Ver und Höhe der Pensionslast 9831 B

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Stenographischer Bericht Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll der Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung und Be- reinigung des Rechts im Verkehr mit Lebensmitteln, Beginn: 9.00 Uhr Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und son- stigen Bedarfsgegenständen—Drucksache VI/2310 —, Präsident von Hassel: Die Sitzung ist eröffnet. der in der Sitzung des Deutschen Bundestages am Vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich einiges 23. Juni 1971 dem Ausschuß für Jugend, Familie und bekanntgeben. Gesundheit als federführendem Ausschuß und dem Ausschuß für Wirtschaft sowie dem Ausschuß für Zu Beginn spreche ich namens des Hauses einigen Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zur Mitbe- Abgeordnetenkollegen zum Geburtstag Glückwün- ratung überwiesen wurde, auch dem Innenausschuß sche aus, der Frau Schanzenbach zu einem runden zur Mitberatung überwiesen werden. Ist das Haus Geburtstag, den sie am 7. Februar feierte, damit einverstanden? — Ich sehe keinen Wider- (Beifall) spruch; dann ist so beschlossen. alsdann dem Kollegen Professor Dr. Schellenberg, Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden der am Sonntag, dem 20. Februar, 65 Jahre alt ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht wurde, aufgenommen: (Beifall) Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 9. Februar 1972 den nachstehenden Gesetzen zugestimmt bzw. einen Antrag gemäß und der Kollegin Frau Brauksiepe, die heute einen Artikel 77 Abs. 2 GG nicht gestellt: runden Geburtstag feiert. Elftes Gesetz zur Änderung des Tabaksteuergesetzes Gesetz über die Rückzahlung der einbehaltenen Beiträge (Beifall.) zur Krankenversicherung der Rentner (Beiträge-Rückzahlungs- gesetz) Herzlichen Glückwunsch allen drei Kollegen! Drittes Gesetz zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen Meine Damen und Herren, es liegt Ihnen folgende Gesetz über die weitere Finanzierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse der Gemeinden und Liste von Vorlagen vor, die keiner Beschlußfassung des Bundesfernstraßenbaus (Verkehrsfinanzgesetz 1971) bedürfen und die nach § 76 Abs. 2 unserer Geschäfts- Zum Verkehrsfinanzgesetz 1971 hat der Bundesrat ferner eine Entschließung gefaßt, die als Anlage 2 diesem Protokoll beige- ordnung den zuständigen Ausschüssen überwiesen fügt ist. werden sollen: Der Bundesrat hat in der gleichen Sitzung beschlossen, hin- sichtlich des Bericht über die Tagung der Versammlung der West- Betr.: Gesetzes zur Änderung der Bezeichnungen der Richter und europäischen Union vom 29. November bis 1. Dezem- ehrenamtlichen Richter und der Präsidialverfassung der Ge- ber 1971 in Brüssel richte - Drucksache VI/3077 — zu verlangen, daß der Vermittlungsausschuß einberufen wird. zuständig: Auswärtiger Ausschuß (federführend) Sein Schreiben ist als Drucksache VI/3145 verteilt. Verteidigungsausschuß Der Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fern- außerdem mitberatend bei Empfehlung 217: meldewesenb hat am 4. Februar 1972 die Kleine Anfrage der A Ausschuß für Bildung und Wissenschaft geordneten Leicht, Höcherl, Dr. Althammer, Dr. Schmidt (Wupper- Betr.: Entschließung des Europäischen Parlaments über den tal), Dr. Müller-Hermann, Krammig und der Fraktion der CDU/ Kampf gegen die Verschmutzung der Flüsse und ins- CSU betr. Finanzlage von Bundesbahn und Bundespost — Druck- besondere des Rheins sache VI/3029 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache — Drucksache VI/3158 — VI/3115 verteilt. zuständig : Innenausschuß (federführend) Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Auswärtigen hat am 4. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Ab- geordneten Strauß, Stücklen, Dr. Wittmann (München), Dr. Jae- ger, Niegel, Biehle, Engelsberger und Genossen betr. Verant- Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht wortung der Vier Mächte für — Drucksache VI/3030 — der Fall; dann ist so beschlossen. beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/3124 verteilt. Der Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Alsdann teile ich mit, daß die Fraktion der SPD Finanzen hat am 8. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Abge- ordneten Dr. Rinsche, Dr. Hellige, Josten, Dr. Preiß, Werner, mit Schreiben vom 15. Februar 1972 für den Abge- Frau Dr. Wolf, Dr. Wulff und Genossen betr. Zollpräferenzen als stell- für Entwicklungsländer — Drucksache VI/3055 — beantwortet. ordneten Haar den Abgeordneten Wende Sein Schreiben ist als Drucksache VI/3133 verteilt. vertretendes Mitglied des Verwaltungsrates der Der Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen hat am 9. Fe- Deutschen Bundespost benannt hat. Ist das Haus bruar 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Strauß, Leicht, Höcherl, Dr. Althammer und der Fraktion der CDU/CSU betr. damit einverstanden? — Ich sehe keinen Wider- Haushaltslage des Bundes — Drucksache VI/3015 — beantwor- spruch; damit ist der Abgeordnete Wende als stell- tet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/3134 verteilt. vertretendes Mitglied des Verwaltungsrates der Der Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen hat am 8. Februar 1972 die Deutschen Bundespost gewählt. Kleine Anfrage der Abgeordneten Erhard (Bad Schwalbach), 9738 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Präsident von Hassel Lampersbach, Leicht, Rawe, Niegel und Genossen betr. Postbuch- Der Präsident des Bundestages hat entsprechend dem Beschluß ausgabe 1972 — Drucksache VI/3057 — beantwortet. Sein Schrei- des Bundestages vom 25. Juni 1959 die nachstehenden Vorlagen ben ist als Drucksache VI/3135 verteilt. überwiesen: Der Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr und für EG-Vorlagen das Post- und Fernmeldewesen hat am 8. Februar 1972 die Kleine Verordnung des Rates zur Ä nderung der Verordnung- (EWG) Anfrage der Abgeordneten Dr. von Bismarck, Dr. Dollinger, Nr. 1059/69 zur Festlegung der Handelsregelung für be- Dr. Warnke, Dr. Ritz, Seiters und Genossen betr. Sonderpost- stimmte, aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen hergestellte wertzeichen aus Anlaß des 25jährigen Bestehens der Hannover Waren Messe — Drucksache VI/3056 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/3136 verteilt. — Drucksache VI/3118 — Der Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen hat am 7. Fe- überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und bruar 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Höcherl, Leicht, Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor Dr. Althammer, Dr. Schmidt (Wuppertal), Krammig und der der endgültigen Beschlußfassung im Rat Fraktion der CDU/CSU betr. Neuverschuldung des öffentlichen Verordnung des Rates (EWG) über die Finanzierung von Gesamthaushalts — Drucksache VI/3049 — beantwortet. Sein Umstellungsmaßnahmen auf dem Sektor Kabeljaufischerei Schreiben ist als Drucksache VI/3138 verteilt. durch den EAGFL, Abteilung Ausrichtung Der Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen hat am 9. Fe- — Drucksache VI/3119 — bruar 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ott, Niegel, Dr. Kreile, Krammig und Genossen betr. Konjunkturzuschlag — überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Drucksache VI/3061 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Druck- Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor sache VI/3141 verteilt. der endgültigen Beschlußfassung im Rat Der Staatssekretär im Bundesministerium für Städtebau und Verordnung des Rates (EWG) zur Änderung der Verord- Wohnungswesen hat am 11. Februar 1972 die Kleine Anfrage der nung (EWG) Nr. 170/71 hinsichtlich der Satzungsbestimmun- Abgeordneten Dr. Ahrens, Dr. Schmitt-Vockenhausen, Liedtke, gen der Erzeugerorganisationen der Fischwirtschaft Müller (Mülheim), Spillecke, Dr. Schäfer (Tübingen), Mertes, — Drucksache VI/3120 — Krall, Gallus und der Fraktionen der SPD, FDP betr. Förderung der auf Stadt und Gemeinde bezogenen Forschung — Drucksache überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und VI/3035 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor VI/3144 verteilt. der endgültigen Beschlußfassung im Rat Der Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Richtlinie des Rates zur Einführung einer gemeinsamen Finanzen hat am 11. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Abge- Kreditversicherungspolice für öffentlichen Käufern aus drit ordneten Breidbach, Franke (Osnabrück), Volmer, Katzer, Vehar, ten Ländern gewährte mittel- und langfristige Finanzkredite Reddemann und Genossen betr. Beschäftigung und Einkommen — Drucksache VI/3121 — bei Stahl und Kohle — Drucksache VI/3060 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/3146 verteilt. überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschluß- Der Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und fassung im Rat Finanzen hat am 15. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Abge- ordneten Lampersbach, Dr. Luda, Engelsberger, Stücklen, Vehar, Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) des Rates Schedl, Josten, Dr. Rinsche, Dr. Jobst, Dr. Warnke, Niegel, zur Änderung der Verordnung Nr. 422/67 EWG, Nr. 5/67/ Berding und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU betr. Euratom über die Regelung der Amtsbezüge für den Präsi- Erkenntnisse der Untersuchungen der Prognos-AG — Drucksache denten und die Mitglieder der Kommission sowie für den VI/3098 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/3147 Präsidenten, die Richter, die Generalanwälte und den Kanz- verteilt. ler des Gerichtshofs Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der — Drucksache VI/3128 — Verteidigung hat am 15. Februar 1972 die Kleine Anfrage der überwiesen an den Innenausschuß (federführend), Haushaltsaus- Abgeordneten Gierenstein, Dr. Klepsch, Strauß, Dr. Zimmer- schuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der mann, Niegel, Adorno, Dr. Jaeger, Biehle, Kiechle, Dr. Witt- endgültigen Beschlußfassung im Rat mann (München) und Genossen betr. militärische Manöver als Mittel der Politik — Drucksache VI/3058 — beantwortet. Sein Jahresbericht über die Wirtschaftslage der Gemeinschaft Schreiben ist als Drucksache VI/3148 verteilt. Stellungnahmen des EP vom 9. Oktober 1971 — Drucksache VI/3151 - Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat am 16. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Strauß, überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft (federführend), Haus- Niegel und Genossen betr. Betriebsverfassungsgesetz — Druck- haltsausschuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig sache VI/3096 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache vor der endgültigen Beschlußfassung im Rat VI/3149 verteilt. Verordnung des Rates (EWG) zur Änderung der Verord- Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat nung (EWG) Nr. 766/68 zur Aufstellung allgemeiner Regeln am 16. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. für die Erstattungen bei der Ausfuhr auf dem Zuckersektor Rinsche, Roser, Dr. Marx (Kaiserslautern) und der Fraktion in bezug auf die zwischenzeitliche Änderung des Grund- der CDU/CSU betr. Zwischenbilanz der Entwicklungspolitik in betrags der Erstattung der Bundesregierung -- Drucksache VI/3099 — beantwortet. Sein — Drucksache VI/3152 — Schreiben ist als Drucksache VI/3162 verteilt. überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Der Bundesminister der Justiz hat am 16. Februar 1972 die Forsten mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Gleissner, Dr. Riedl der endgültigen Beschlußfassung im Rat (München), Dr. Wittmann (München), Röhner, Dr. Jobst, Schedl, Dr. Fuchs, Memmel, Weigl und Genossen betr. Sitz des Euro- Verordnung des Rates (EWG) über das Verfahren betreffend päischen Patentamtes — Drucksache VI/3101 — beantwortet. Sein die Änderung und Aussetzung der Zollsätze für landwirt- Schreiben ist als Drucksache VI/3163 verteilt. schaftliche Erzeugnisse, die unter eine gemeinsame Markt- organisation fallen Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für — Drucksache VI/3153 — Wirtschaft und Finanzen hat am 17. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Strauß, Stücklen, Höcherl, Niegel überwiesen an den Ausschuß für Wirtschaft mit der Bitte um und Genossen betr. steuerliche Abzugsfähigkeit von Zinsen bei Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der endgültigen Beschluß- Finanzierungsbeteiligungen — Drucksache VI/3094 — beantwortet. fassung im Rat Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3171 verteilt. Verordnung (EWG) des Rates zur Ä nderung der Verordnung Nr. 120/67/EWG über die gemeinsame Marktorganisation für Der Staatssekretär im Bundesministerium für Jugend, Familie Getreide und Gesundheit hat am 17. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Hammans, Frau Dr. Henze, Frau Stommel, Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der Getreide- Frau Brauksiepe, Dr. Huys, Dr. Jungmann, Burger, Frau Grie- preise für das Wirtschaftsjahr 1972/1973 singer und Genossen betr. Entwurf eines Gesetzes über den Be- ruf des Diätassistenten im Vergleich zum Gesetz über technische Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung Assistenten in der Medizin — Drucksache VI/3104 — beantwor- Nr. 120/67/EWG über die gemeinsame Marktorganisation für tet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3172 verteilt. Getreide hinsichtlich der Einfuhrregelung von Futtergetreide in Italien Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung des Richtprei- Jugend, Familie und Gesundheit hat am 21. Februar 1972 die ses für geschälten Reis für das Wirtschaftsjahr 1972/73 Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Meinecke (), Dr. Schmitt-Vockenhausen, Dr. Schäfer (Tübingen), Pensky, Siegler- Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der Inter- schmidt, Mertes, Kleinert, Schmidt (Kempten), Spitzmüller, Borm ventionspreise für Rohreis für das Wirtschaftsjahr 1972/73 und der Fraktionen der SPD, FDP betr. Bekämpfung des Drogen- und Rauschmittelmißbrauchs —Drucksache VI/3034 — beantwor- Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der Standard- tet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3174 verteilt. qualität für Weißzucker Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der Preise im Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Sektor Zucker, der Standardqualität für Zuckerrüben sowie Auswärtigen hat am 22. Februar 1972 die Kleine Anfrage der des Berechnungskoeffizienten für die Höchstquote für das Abgeordneten Dr. Jaeger, Dr. Marx (Kaiserslautern), Vogel, Dr. Zuckerwirtschaftsjahr 1972/1973 Wittmann (München), Kiechle, Freiherr von Fircks, Dr. von Bis- marck und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU betr. deut- Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der abgeleite sche Ostgebiete — Drucksache VI/3112 — beantwortet. Sein ten Interventionspreise, der Interventionspreise für Rüben Schreiben wird als Drucksache VI/3176 verteilt. rohzucker, der Zuckerrübenmindestpreise, der Schwellen- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9739

Präsident von Hassel preise, der Garantiemenge und des Höchstbetrags der Pro Wir haben im Ältestenrat vereinbart, daß wir die duktionsabgabe für das Zuckerwirtschaftsjahr 1972/73 Tagesordnungspunkte 2 bis 6: Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung des Erzeuger- richtpreises für Olivenöl für das Wirtschaftsjahr 1972/1973 2. Bericht der Bundesregierung zur Lage der Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der Richtpreise - und der Interventionspreise für Ölsaaten für das Wirt- Nation 1972 schaftsjahr 1972/1973 — Drucksache VI/3080 — Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der Haupt- interventionsorte für Ölsaaten und der dort geltenden abge- leiteten Interventionspreise für das Wirtschaftsjahr 1972/1973 3. Erste Beratung des von der Bundesregierung Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung des Beihilfe- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem betrags für Baumwollsaat für das Wirtschaftsjahr 1972/1973 Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der Beihilfe Bundesrepublik Deutschland und der Union für Flachs und Hanf für das Wirtschaftsjahr 1972/1973 der Sozialistischen Sowjetrepubliken Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der Orientie- rungspreise für Wein für den Zeitraum vom 16. Dezember — Drucksache VI/3156 — 1972 bis zum 15. Dezember 1973 Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der Zielpreise 4. Erste Beratung des von der Bundesregierung und Interventionspreise sowie der Bezugsqualitäten für Ta- bakblätter der Ernte 1972 eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Verordnung des Rates über die Gewährung einer Einkom- Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der mensbeihilfe an bestimmte Gruppen landwirtschaftlicher Be- Bundesrepublik Deutschland und der Volks- triebsinhaber republik Polen über die Grundlagen der Nor- Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 805/68 hinsichtlich der besonderen Einfuhrregelung malisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen für zur Mast bestimmte Jungrinder und Kälber — Drucksache VI/3157 — Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung des Grund- preises und der Standardqualität für geschlachtete Schweine für vom I. bis zum 31. Oktober 5. Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU 1973 betr. Deutschland- und Außenpolitik Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung des Richtprei- ses für Milch sowie der Interventionspreise für Butter, Ma- — Drucksachen VI/2700, VI/2828 — germilchpulver, Crana Padano und Parmigiano Reggiano für das Milchwirtschaftsjahr 1972/1973 6. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der Schwellen- preise für bestimmte Milcherzeugnisse für das Milchwirt- CSU schaftsjahr 1972/1973 betr. Beziehungen der Bundesrepublik Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der im Milch- wirtschaftsjahr 1972/1973 gültigen Beihilfen für Magermilch Deutschland und der Volksrepublik Polen und Magermilchpulver, die für Futterzwecke verwendet wer- den — Drucksache VI/1523 — Verordnung (EWG) des Rates zur Festsetzung der Orientie- nach der Abgabe der Regierungserklärung durch den rungspreise für Kälber und ausgewachsene Rinder für das Wirtschaftsjahr 1972/1973 und des Orientierungspreises für Herrn Bundeskanzler und der Einbringung der Rati- ausgewachsene Rinder für das Wirtschaftsjahr 1973/1974 fizierungsgesetze — Punkte 3 und 4 der Tagesord- Verordnung (EWG) des Rates zur Einführung einer Prämien- regelung zur Förderung der Rindfleischerzeugung nung — durch den Herrn Bundesaußenminister ge- — Drucksache VI/3150 — meinsam zur Aussprache stellen. überwiesen an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (federführend), Ausschuß für Wirtschaft, Haushaltsaus- Wir beginnen mit Punkt 2 der Tagesordnung, dem schuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation endgültigen Beschlußfassung im Rat 1972. Verordnung (Euratom) des Rates zur Änderung der Regelung der Bezüge und der sozialen Sicherheit der Atomanlagen- Das Wort hat der Herr Bundeskanzler. bediensteten der Gemeinsamen Forschungsstelle, die in den Niederlanden dienstlich verwendet werden — Drucksache VI/3161 — Brandt, Bundeskanzler: Herr Präsident! Meine überwiesen an den Innenausschuß (federführend), Haushaltsaus- schuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der Damen und Herren! Der dritte Bericht dieser Bundes- endgültigen Beschlußfassung im Rat regierung über die Lage im geteilten Deutschland Verordnung des Rates zur Bestimmung der Empfänger, der fällt zusammen mit der ersten Lesung der Verträge Bedingungen für die Gewährung und der Sätze der Entschädi- gung für besonders beschwerliche Arbeiten gemäß Artikel 100 mit der Sowjetunion und Polen. Unser friedliches des Statuts Streben nach deutscher Einheit und europäischer — Drucksache 3164 — Einigung wird durch diese Verträge dem Vorwurf überwiesen an den Innenausschuß (federführend), Haushaltsaus- schuß mit der Bitte um Vorlage des Berichts rechtzeitig vor der der Friedensstörung entzogen. Im September ver- endgültigen Beschlußfassung im Rat gangenen Jahres ist es zur Berlin-Vereinbarung der Vier Mächte gekommen, und diese ist im Dezember Meine Damen und Herren, wir beginnen nun mit durch Abmachungen der zuständigen deutschen Stel- der Tagesordnung. Wir alle wissen, daß wir in den len ausgefüllt worden. kommenden Tagen Probleme und Fragen eines Ran- Von den sechs Punkten, mit denen ich den vor- ges diskutieren, vor die ein Volk nur selten in seiner jährigen Bericht zur Lage der Nation abschloß, haben Geschichte gestellt wird. Wer hier Leidenschaften aus- sich die drei letzten erledigt. Die drei ersten will ich klammern wollte, verkennt das Wesen unserer par- hier ausdrücklich bekräftigen. lamentarischen Demokratie, verkennt aber auch, daß der Deutsche Bundestag der Ort ist, an dem alles das Erstens. Das in der Charta der Vereinten Nationen ausgetragen werden muß, was die Bürger in unse- niedergelegte Recht auf Selbstbestimmung muß im rem Lande bewegt. Dabei sollten wir einander ein- geschichtlichen Prozeß auch den Deutschen zustehen. räumen, daß jeder von uns sein Handeln und sein politisches Wollen an der Verantwortung für unser Zweitens. Die deutsche Nation bleibt auch dann ganzes Land und für alle unsere Bürger orientiert. eine Realität, wenn sie in unterschiedliche staatliche Lassen Sie uns in diesem Sinne an die Arbeit gehen. und gesellschaftliche Ordnungen aufgeteilt ist. 9740 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Bundeskanzler Brandt Drittens. Die auf Bewahrung des Friedens ver- Als wichtiges Ereignis ist seit dem vorigen Bericht pflichtete Politik der Bundesregierung erfordert eine zur Lage der Nation aber vor allem das erste Ab- vertragliche Regelung der Beziehungen auch zur kommen festzuhalten, das Bundesregierung und Re- DDR. Die in den 20 Punkten von niedergeleg- gierung der DDR geschlossen haben. Es geht- in einer ten Grundsätze und Vertragselemente bleiben die Reihe von Punkten über das hinaus, was zur bloßen für uns gültige Grundlage für Verhandlungen. Ausfüllung der Viermächtevereinbarung erforderlich gewesen wäre. Die Drei Mächte haben es uns ge- Die Erfahrung des zurückliegenden Jahres hat ge- genüber als konform mit der Vereinbarung bezeich- zeigt, wie stark unsere Politik in den westlichen Ge- net, die sie mit der Sowjetunion getroffen haben. meinschaften verankert ist und daß sie einen eigenen Beitrag zum Abbau von Spannungen zwischen Ost Die Berlin-Regelung — einschließlich dessen, was und West zu leisten vermag. der Senat in eigener Zuständigkeit abgemacht hat — wird die Beteiligten von einem Krisendruck befreien, Der amerikanische Präsident hat kürzlich davon der in den zurückliegenden Jahren nicht hatte be- gesprochen, daß 1971 eine Reihe von — ich darf ihn seitigt werden können. Die Bundesregierung dankt zitieren — „Durchbrüchen zum Frieden erzielt wor- allen, nicht zuletzt unseren alliierten Freunden, die den sind". Ähnlich wie die Vereinigten Staaten hat zu diesem Ergebnis beigetragen haben. — so sieht es die Bundesregierung — auch die Bun- (Beifall bei den Regierungsparteien.) desrepublik Deutschland aufgehört — ich darf wie- der zitieren —, „auf Grundlage der Gewohnheiten Es ergibt sich aus der politischen Lage, daß die Ber- von gestern zu reagieren, und damit begonnen, die lin-Regelung insgesamt erst im Zusammenhang mit Realitäten von heute und die Chancen von morgen der Ratifizierung des Moskauer Vertrages in Kraft zum Gegenstand ihres Handelns zu machen". treten wird. Die Bundesregierung kann wie die Verbündeten Gestern ist in Ost-Berlin bekanntgegeben worden, darauf verweisen, daß ihre Erwartungen im zurück- daß — als Geste des guten Willens, wie man es liegenden Jahr durch einige wichtige praktische Er- nannte — gebnisse bestätigt worden sind. Das Berlin-Abkom- (Abg. Stücklen: Rein zufällig!) men — und dies ist nicht nur unsere Wertung — neue Regelungen für den Reise- und Besucherver- hat den Frieden sicherer gemacht, weil es die Ge- kehr zu Ostern und Pfingsten in Kraft gesetzt wer- fahr einer wirklich bedrohlichen Konfrontierung der den sollen. Ich möchte das positiv registrieren Weltmächte reduziert, weil die zeitlich nicht be- grenzte Anwesenheit der Drei Mächte in Berlin von (Beifall bei den Regierungsparteien) der Sowjetunion nicht mehr in Frage gestellt wird, und jetzt nur hinzufügen: Guter Wille dort wird weil die Bindungen zwischen West-Berlin und dem gutem Willen hier begegnen. Bund bestätigt sind und weil die Stadt zum ersten- mal seit vielen Jahren wieder eine Perspektive der (Erneuter Beifall bei den Regierungspar friedlichen Entfaltung bekommen wird. teien.) Manche Sorgen, die vor einem Jahr und in der Meine Damen und Herren! Gemessen an der Si- Zwischenzeit geäußert wurden, sind gegenstandslos tuation, die uns seit Jahren bedrückt, gemessen dar- geworden. Den Berlin-Verhandlungen ist es gut be- an, daß die Verhältnisse nicht besser, sondern seit kommen, daß sie im wesentlichen aus dem Parteien- langem stetig schlechter geworden waren, ist heute streit herausgehalten werden konnten. Die Bundes- die Chance einer partiellen Verbesserung gegeben. regierung würde es begrüßen, wenn dies auf ande- Trotz aller Gegensätze und Schwierigkeiten, die ren Gebieten der Entspannungspolitik fortgesetzt bleiben, können wir heute — anders als vor einem werden könnte. Jahr — feststellen, daß beide Regierungen in Deutschland große Anstrengungen unternommen (Beifall bei den Regierungsparteien.) haben, um ihre Berlin-Abmachungen zustande zu bringen. Gestützt auf diese Erfahrung sollte es mög- Wenn das Berlin-Abkommen in Kraft tritt, wird lich sein, auch in anderen Bereichen Fortschritte zu es, meine Damen und Herren, mit einer Mehrzahl erzielen, die den beiderseitigen Interessen Rechnung menschlicher Erleichterungen verbunden sein. Dies tragen. gilt vor allem für die Besuchsmöglichkeiten der Westberliner und für den Berlin-Verkehr. Die Bundesregierung wird es auch weiterhin nicht an Bemühungen fehlen lassen, damit die Entspan- Im Vorfeld hat geregelt werden können, daß seit nung nicht um Deutschland herumgeht oder über dem 1. Januar 1972 für die Benutzung der Transit- es hinweggeht. wege keine individuellen Gebühren mehr entrichtet werden müssen. Außerdem haben zum Ende des ver- (Beifall bei den Regierungsparteien.) gangenen Jahres 150 Telefonleitungen zwischen West- und Ost-Berlin in Betrieb genommen werden Bei jedem Abkommen zwischen Ost und West han- können. delt es sich heute darum, ob — ohne Verwischen der grundlegenden Gegensätze — Konfrontation durch Mit der DDR konnte eine Postvereinbarung ge- Verständigung über das praktisch Mögliche und schlossen werden, die Verbesserungen und Beschleu- Notwendige ersetzt werden kann. Die politisch Ver- nigungen, auch im Päckchen- und Paketverkehr, ge- antwortlichen in West und Ost stellen sich dieser bracht hat. Telefon- und Telexleitungen wurden ver- Aufgabe. Wir dürfen uns ihr nicht entziehen. Von mehrt. beiden Staaten in Deutschland wird erwartet, daß sie Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9741 Bundeskanzler Brandt für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ihren Uns liegt jede Störung fern. Wir würden es viel- Beitrag leisten. mehr begrüßen, wenn mehr Austausch und Zusam- Inzwischen haben die beiden deutschen Regierun- menarbeit der Wissenschaft auf beiden Seiten zu- gen in eigener Kompetenz und auf der Basis der gute kämen. Gleichberechtigung mit dem Versuch begonnen, ei- In Ost-Berlin hat man es für erforderlich gehalten, nen praktisch wichtigen Sektor, nämlich den des Ver- sich von uns in der Bundesrepublik Deutschland kehrs, durch Vertrag zu regeln. Die Bundesregierung politisch und ideologisch noch schärfer abzugrenzen. hat ihr Interesse an einem Verkehrsvertrag, der der Wir müssen das hinnehmen und lassen uns unserer- parlamentarischen Zustimmung bedürfen wird, schon seits ja auch nicht davon abbringen, die Trennungs- hier vor einem Jahr bekundet. Dabei geht es natür- linie deutlich zu ziehen. Und das heißt, gerade die lich nicht nur um Eisenbahnen, um Autos und um junge Generation auf die unersetzlichen Werte Schiffe, sondern vor allem um die Menschen, die die einer freiheitlich-demokratischen Staats- und Le- Verkehrsmittel benutzen und die Möglichkeit be- bensform hinzuweisen. Aber wir geben die Hoffnung kommen sollen, sie umfassender und rascher zu nicht auf, daß die in der DDR Verantwortlichen es benutzen. in der weiteren Entwicklung doch für möglich hal- Die Bundesregierung muß auch heute wieder dar- ten, einem Abbau der physischen Schranken auf hinweisen, daß solche Verhandlungen schwierig zwischen den Menschen weniger furchtsam zu be- sind und daß positive Ergebnisse nur Schritt für gegnen. Schritt erwartet werden können. Ich möchte — wie Ich will hier noch einmal betonen: Der Gewalt- vor einem Jahr — vor übertriebenen Erwartungen verzicht der Bundesrepublik Deutschland schloß und warnen. Aber wir werden nichts unversucht lassen, schließt die Grenze zur DDR ein. Die Bundesregierung um in den Bereichen, die dafür in Betracht kommen, ist bereit, dies auch bilateral in aller Form und Ver- Verbesserungen zu erreichen. bindlichkeit festzulegen. Wir meinen, auf diese

Wir sind bereit — nach einem Verkehrsvertrag —, Weise dazu beitragen zu können, daß die Schrecken die Beziehungen zur DDR generell vertraglich zu überwunden werden, durch die die härteste Grenze regeln. Auch dabei wird es nicht nur um Formen in Europa gekennzeichnet ist. gehen können, sondern es wird um das Interesse der Mauer, Minenfelder und Schießbefehl gab es be- Menschen gehen müssen. Es wird zu berücksichtigen kanntlich, lange bevor diese Bundesregierung ihr sein, daß Verträge zwischen diesen beiden Staaten Amt übernahm. Gemeinsam mit allen Kräften guten in gleicher Weise verbindlich sein müssen wie zwi- Willens wollen wir alle Beharrlichkeit und alle Ziel- schen allen Staaten, daß die Rechte der Vier Mächte, strebigkeit darauf verwenden, daß sich die Ver- die in dem Berlin-Abkommen gerade ihren Ausdruck hältnisse nach und nach zum Besseren wenden. Das gefunden haben, ihre Geltung behalten, denn es gibt heißt: Abbau der Spannungen, bessere Beziehungen bekanntlich keinen Friedensvertrag, und daß beide zwischen Ost und West und dadurch bessere Bedin- Staaten, bei all ihrer Unterschiedlichkeit und Gegen- gungen für das deutsche Volk in seiner Gesamtheit, sätzlichkeit, doch zur Nation in Beziehung stehen. freiere Bewegung für Menschen, Güter und geistige Wir sind unserem Grundgesetz verpflichtet, und Werte nicht nur für die Deutschen in Deutschland, uns ist nichts davon bekannt, daß die Ausrichtung sondern für die Europäer in Europa. der DDR-Verfassung auf die Nation geändert wer- (Beifall bei den Regierungsparteien.) den soll. „Deutschland" und „deutsch" — das sind Meine Damen und Herren! In unserer Regierungs- Begriffe, zu denen wir stehen und von den andere erklärung vom Oktober 1969 haben wir gesagt, daß auch kaum weglaufen können. die DDR für uns zwar ein Staat ist, zu dem wir (Beifall bei den Regierungsparteien.) unsere Beziehungen verträglich — gut, wenn es Es hat nichts mit Juristerei zu tun und steht jeden- geht, jedenfalls durch Vertrag — gestalten wollen, falls über der Kategorie des Völkerrechts, daß die daß sie aber Ausland für uns nicht sein kann. Als Menschen in diesen beiden Staaten sich im Verhält- wir dies sagten, haben wir niemand diskriminiert, nis zueinander nicht als Ausländer empfinden. Und sondern nur eine schlichte, allen Deutschen vertraute die Regierungen in Deutschland sind gewiß gut be- Wahrheit ausgesprochen. raten, auch diese Realität weder zu leugnen noch Unsere Verhandlungspartner in Ost-Berlin ver- zu übersehen. meiden es, von den „beiden deutschen Staaten" Es ist wichtig, daß die Deutschen hüben und zu sprechen, wie wir es tun. Aber aus dem Namen drüben mehr voneinander wissen. Dies ist auch der ihres Staates können sie — und wollen sie vermut- Grund dafür, daß wir zum zweitenmal Materialien lich — das Wort nicht entfernen. Bürger der DDR über die gesellschaftliche Entwicklung in beiden und unsere Landsleute aus der Bundesrepublik wer- Teilen vorgelegt haben. Herr Kollege Franke wird den, wo immer sie außerhalb ihres Landes er- sich dazu morgen noch äußern. Ich will hier nur scheinen, als das angesehen, was sie sind, nämlich sagen: es handelt sich wiederum um eine Arbeit von als Deutsche. Wenn Touristen aus der DDR in einem Wissenschaftlern, die sich im Auftrag der Bundesre- Land, in das auch sie reisen dürfen, Touristen aus gierung, aber in eigener Verantwortung, diesmal der Bundesrepublik treffen, dann erkennen sie sich um eine sachliche Bestandsaufnahme auf wichtigen und verhalten sie sich als Landsleute. Gegen diese Rechtsgebieten bemüht haben. Die vorjährigen Ma- elementare Tatsache hilft keine Formulierungskunst, terialien haben bei uns und im Ausland viel Be- denn sie ist das Werk, das Ergebnis eines guten achtung gefunden. Die Behörden in der DDR haben Jahrtausends und nicht von bloßen 75 Jahren. hierin ganz zu Unrecht eine Einmischung gesehen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) 9742 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Bundeskanzler Brandt Die Deutschen in ihrer Gesamtheit sind in unseren scher Klassiker, die nach Auffassung der Kenner Jahren keine Staatsnation, sie sind dennoch durch vollständiger und philologisch genauer überhaupt viel mehr als bloß die gemeinsame Sprache ver- nicht sein können. - bunden: im menschlichen Bereich noch immer durch (Unruhe bei der CDU/CSU.) unzählige familiäre Bande, im geistigen durch eine gemeinsame Geschichte und Literatur. Daß sich dies Eine Ausgabe der Werke Schillers liegt vor. Sie nicht ändert, bis in der Zukunft eine politische Ver- heißt „National-Ausgabe". An einer Sammlung der bindung möglich sein wird, dazu bedarf es jener Werke, Briefe und Lebenszeugnisse Heinrich Heines Politik, die die Bewahrung der Nation erstrebt. wird gearbeitet. Das Institut, dem dieses auf 50 Bände berechnete Riesenunternehmen zu danken Jede Politik, die der nationalen Einheit dienen sein wird, trägt den Namen „Nationale Forschungs- will, muß jene Wirklichkeit erhalten helfen, die nicht und Gedenkstätten der klassischen deutschen Lite- erst 1871 anfing dazusein und die 1945 oder 1949 ratur". Eine neue Heine-Ausgabe wird auch bei uns nicht aufhörte, dazusein. Sie ist auch heute noch da, in Düsseldorf vorbereitet. Es wäre wohl sinnvoller jene Wirklichkeit der deutschen Nation, die auf dem und den beiden Seiten nicht abträglich, wenn sich Bewußtsein der Deutschen als einer geschichtlich ge- beide gelehrte Arbeitskreise zusammengetan hät- beruht. Dieses Bewußtsein wordenen Gemeinschaft ten. und die auf ihm beruhende Wirklichkeit sind jedoch (Beifall bei den Regierungsparteien.) nicht ungefährdet. Deshalb kommt viel darauf an, der Jugend hüben und drüben das Gefühl für und das Das konnte leider noch nicht sein. Bleibt die Hoff- Wissen um das, was ihr trotz aller Teilung gemein- nung, in der Verdoppelung und der Konkurrenz und sam bleibt, zu erhalten oder wiederzugeben und da- bei aller Gegensätzlichkeit der politischen Ordnun- mit ihr Verständnis dafür zu wecken, daß die ge- gen dennoch dem zu dienen, was über Generationen meinsame Geschichte deutscher Leistungen, deut- und Richtungen hinweg Deutsche der europäischen scher Irrungen und deutschen Leides mehr umfaßt, Kultur gegeben haben. als irgendeine enge Doktrin auszuschöpfen vermag. Zu unserer Deutschlandpolitik gehören gleicher- Diese Geschichte hat die charakteristischen Eigen- maßen das Festhalten am Recht auf Selbstbestim- schaften unseres Volkes geprägt und wird unser aller mung, die Bewahrung der Nation, vertraglich ge- Zukunft mitbestimmen. regelte Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Ein geregeltes Verhältnis, einen vertraglich fixier- Gleichzeitig mit diesem Bericht legt die Bundes- ten Modus vivendi zwischen den beiden deutschen regierung die Entscheidung über die Ostverträge in Staaten herbeizuführen und dadurch die trennenden die Hände des Deutschen Bundestages. Diese Ent- Schranken abzubauen, damit die Begegnung zwi- scheidung wird für den großen Versuch dieser schen den Menschen einer Nation leichter wird, Jahre, das Verhältnis zwischen Ost und West zu bleibt eine wichtige Aufgabe nationaler Politik. Sie verbessern und damit auch den Deutschen eine bes- hat auch europäische Bedeutung; sie ist jedenfalls sere Zukunft zu sichern, von ausschlaggebender Be- nur europäisch zu lösen. deutung sein. Die Politik, die wir hier, wenn es so Die Bundesregierung hat ihre deutsche Verantwor- weit ist, zu bestätigen und zu stützen bitten, dient tung. Dies kann jedoch nicht heißen, eine Außen- Europa und dem Frieden; sie dient dem innerdeut- politik mit Vorbehalten zu betreiben. Wir erkennen schen Frieden und der Nation. die Fakten in Europa an, und wir versichern unse- (Anhaltender Beifall bei den Regierungs ren Freunden und Verbündeten, daß wir mit Klar- parteien.) heit und Entschiedenheit alle unsere politischen Schritte und Absichten an den Realitäten messen Ich danke dem Herrn werden. Eine patriotische Politik in Deutschland Präsident von Hassel: Bundeskanzler für die Abgabe der Regierungs- kann heute nur eine europäische Politik sein. erklärung. (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Das Wort hat nunmehr zur Einbringung der Rati- Abgeordneten der CDU/CSU.) fizierungsgesetze gemäß den Punkten 3 und 4 der Dabei arbeitet der geschichtliche Wandel heute Tagesordnung der Herr Bundesminister des Aus- schneller denn je, und er gräbt tief. Wir erleben alle, wärtigen. wie tief er das in Westeuropa und hier bei uns im letzten Vierteljahrhundert getan hat, wie er das Be- Bundesminister des Auswärtigen: Herr schränkende und Feindliche verloren hat. Die Natio- Scheel, Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- nen bleiben, was sie sind, aber die Staaten nicht. Sie ren! Die allgemeine Lage der Welt, die den politi- existieren in immer engerer Zusammenarbeit mit- schen Hintergrund für die Einbringung der Ver- einander; reiner kann sich mehr wirklich unabhän- träge von Moskau und Warschau bildet, ist ernst. gig fühlen. Hier gibt es in gewissem Sinn Berührun- Wir alle wissen, daß der zweite Weltkrieg Pro- gen mit dem vornationalstaatlichen Zeitalter, als es bleme hinterlassen hat, die ungleich gefährlicher beides gab, Nation und Staat, aber beide noch nicht sind als diejenigen, die zu den früheren Konflikten dasselbe waren. geführt haben. Ost und West in Europa, in Mili- Im übrigen: nicht auf allen Gebieten ist die DDR tärbündnissen zusammengefaßt, stehen einander so weit von uns entfernt, wie wir es manchmal glau- hochaufgerüstet gegenüber. Die Trennlinie der Kon- ben. Ein Beispiel: Die Germanistik wird in der DDR frontation verläuft mitten durch unser Land und sehr eifrig betrieben. Es entstehen Ausgaben deut- teilt es gegen den Willen der Deutschen. Die Bun- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9743

Bundesminister Scheel desrepublik und die DDR sind heute gegeneinander sich unser Staat, noch mehr als andere, um den Frie- in stärkerem Maße abgeschlossen als gegenüber den bemüht und, wenn es sein muß, dafür auch jedem anderen Land der Welt. Mauer und Stachel- Opfer bringt. draht, Mißtrauen und Ideologien trennen uns. Die Wenn ich „Staat" sage, meine Damen und Her- nukleare Konfrontation der Weltmächte, zu denen ren, dann meine ich nicht nur die Regierung, sondern China jetzt hinzugetreten ist, stellt die Menschheit alle, die politische Verantwortung tragen, in Regie- vor ihre Existenzfrage wie nie zuvor in der Ge- rung und Opposition. Die Bundesregierung bestreitet schichte. der Opposition nicht ihren Friedenswillen. Wie Dies erklärt, warum der amerikanische Präsident könnte sie das? Haben wir nicht alle die Schrecken sich in Peking aufhält und wenig gefragt hat nach des Krieges erlebt? Haben wir nicht alle gemeinsam, protokollarischen oder formaljuristischen Bedenken jeder auf seinen Wegen, es unternommen, nach 1945 gegen eine solche Reise. Er will nichts unversucht nach innen und nach außen einen Staat aufzubauen, lassen, um noch einmal, bevor es zu spät ist, an der für sich in Anspruch nehmen kann, aus der Ge- die Stelle der Feindschaft die Vernunft und an die schichte gelernt zu haben? Es gibt keinen vernünf- Stelle des Rüstungswettlaufs die wirtschaftliche Zu- tigen Grund, daß sich die demokratischen Kräfte in sammenarbeit zu setzen. Aus diesem selben Grunde diesem Lande heute zerstreiten, wo sie gemeinsam wird er nach Moskau reisen. Bei seinen Moskauer eine Demokratie errichtet haben, die ihre Leistun- Gesprächen wird er sich auf die ersten Ergebnisse gen erbracht hat und die sich in der Welt sehen der Verhandlungen stützen können, die seit Jahren lassen kann. zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Die Fraktion der FDP, der ich angehöre, meine Staaten über die Begrenzung der strategischen An- verehrten Kollegen, hat die Verwirklichung der griffswaffen geführt werden. Westverträge in den 50er Jahren mitgetragen und Allenthalben in der Welt, meine Damen und Her- mitverantwortet, zusammen mit der heutigen Oppo- ren, sind Aggression und Gewalt im Vormarsch. sition. Das ist für uns nicht der Augenblick, die Was Ortega y Gasset einmal den „vertikalen Ein- Leistungen der Vergangenheit, die darin liegen, zu bruch der Barbarei" genannt hat, scheint sich in verleugnen. Diese liberale Fraktion trägt und ver- unseren Tagen abzuzeichnen. Die Kluft zwischen antwortet heute zusammen mit der Opposition von den industrialisierten Ländern und den Entwick- gestern die Ostverträge, die die notwendige Ergän- lungsländern verbreitert sich. Das provozierende zung zu den Westverträgen darstellen. So wie die Gefälle zwischen reich und arm im Weltmaßstab kleine Gruppe der Liberalen im englischen Unter- könnte eines Tages den Nährboden für elementare haus den Ausschlag für das englische Ja zu Europa Gewaltausbrüche bilden, deren Ausmaß wir uns gegeben hat, so schicken wir, die deutschen Liberalen heute noch gar nicht vorzustellen vermögen. uns an, das Ja zum Frieden und zur Entspannung in Wenn der erste Weltkrieg noch 9 Millionen Tote, Europa zu sichern. der zweite bereits 30 Millionen Tote gekostet hat, (Beifall bei den Regierungsparteien. — so wird ein neuer Weltkonflikt mit Sicherheit das Lachen bei der CDU/CSU.) Ende dieser unserer Zivilisation bedeuten, und nie- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wenn mand kann daran zweifeln, daß ein Konflikt zwi- wir in fairer Grundeinstellung an die vor uns liegen- schen Ost und West in Europa ein Weltkonflikt de Debatte herangehen, werden wir diesem Staat sein würde. Jedermann weiß, daß ein möglicher Kon- nach außen und nach innen einen großen, vielleicht flikt in Europa dort seinen Ausgang nehmen würde, einen entscheidenden Dienst erweisen. Nach außen, wo die Interessen und Armeen am dichtesten auf- weil die Welt in diesen Tagen auf den Deutschen einanderstoßen, nämlich entlang der Linie, die Bundestag blickt. Sie will nicht nur wissen, was für Deutschland in zwei deutsche Staaten unterschied- und was gegen die Verträge gesagt wird, die Welt licher Gesellschaftsordnung teilt. wird vor allem auf die Halbtöne hören, die ihr viel- Diese Bundesregierung — so wie andere vor ihr leicht Rückschlüsse auf das innere, das tiefere Den- — hätte ihre Verantwortung für das Wohl dieses ken unseres Volkes ermöglichen. Noch wichtiger als Volkes auf das sträflichste mißachtet, wenn sie nicht die Frage, mit welcher Mehrheit die Verträge ver- versucht hätte, ihren Teil zur Entschärfung der Lage abschiedet werden, wird sein, ob wir uns den Frie- beizutragen. Sie weiß, daß es sich in der Lage, in den nicht nur als Ziel gewählt haben, sondern ob der wir uns befinden, nicht nur um ungelöste Grenz- wir auch eine Sprache des Friedens führen. Ge- fragen handelt, sondern daß die physische und bio- legentlich wird darauf hingewiesen, daß die Wei- logische Erhaltung unseres Volkes auf dem Spiele marer Republik zugrunde gegangen sei, weil die steht. Mitte und die Rechte des Reichstags den braunen Faschismus unterschätzt hätten. Das mag zum Unheil Das Friedensinteresse einer so arbeitsteiligen und hochindustrialisierten Gesellschaft wie der unsrigen beigetragen haben. Mit Sicherheit war es die Un- muß noch größer sein als dasjenige anderer Staaten. fähigkeit jener Republik, die Spielregeln und die Die geringste internationale Erschütterung ist ge- Würde des Parlaments zu achten. Sie hat jenen eignet, unseren anfälligen und gefährdeten Produk- Weimarer Staat der Verachtung durch die eigenen tionsapparat in Unordnung zu bringen. Alle Krisen, Bürger preisgegeben. Dann erst, auf den Trümmern sei es in Berlin, im Mittelmeer, im Mittleren oder des Parlaments, konnte der braune Faschismus ins Fernen Osten, haben eine direkte Auswirkung auf Kraut schießen. unsere Wirtschaft, die die Grundlage unserer Le- Meine Kollegen, dies ist eine große Stunde für bensverhältnisse bildet. Es liegt daher nahe, daß unser Parlament und unseren Staat. Der Bundesrat 9744 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Bundesminister Scheel hat mit seiner sachlichen und würdigen Debatte eine uns- alle — im Mittelpunkt unserer Entspannungs Norm gesetzt. Ich möchte wünschen, daß wir sie be- und Friedenspolitik. achten. Diese Bundesregierung würde jedoch ihre- Pflicht Die Art und Weise, wie wir diese Debatte führen, in bedenklicher Weise verletzen, wenn sie es unter- wird aber auch für die Zukunft unseres Landes von lassen würde, auf die möglichen Folgen einer Ab- Bedeutung sein. Wollen wir sie so führen, daß der lehnung der Verträge hinzuweisen. Die Bundesre- nationalen Teilung ein innerer Graben in der Bun- gierung muß mit dem gebotenen Ernst die Frage desrepublik hinzugefügt wird? Soll nach der An- nach der Alternative stellen — das ist eine Frage, nahme der Verträge, einer Annahme mit vielleicht die zu beantworten die Opposition uns schuldet. geringer Mehrheit, der Kampf gegen die Verträge (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu weitergehen, und sollen damit die in ihnen liegen- ruf des Abg. Stücklen.) den Chancen im Keim erstickt werden? Oder sollen die Objektivität und die Sachlichkeit der Debatte Denn welches wäre der Wert eines ablehnenden den Beweis erbringen, daß bei uns jenes Maß an Votums, wenn es nicht abgesichert wäre durch eine disziplinierter Selbstkontrolle herrscht, das in dieser tragfähige und erfolgversprechende Alternative? Welt heute und in Zukunft erforderlich ist? Gemein- (Beifall bei den Regierungsparteien.) sam wollen wir den Beweis der Zuverlässigkeit und der demokratischen Reife erbringen. Die Bundes- Lassen Sie mich zum Inhalt der Verträge Stel- regierung ist jedenfalls entschlossen, ihre Darlegun- lung nehmen. Erstens. Die Verträge enthalten einen gen in einem Geist und einem Ton zu machen, die umfassenden Gewaltverzicht. Danach ist nicht nur den inneren Frieden für die Zukunft intakt lassen. die Anwendung von Gewalt, sondern auch die Dro- hung mit Gewalt ausgeschlossen. Dieser Ausschluß Meine Damen und Herren, die Bundesregierung gilt für alle Aspekte der gegenseitigen Beziehungen steht vor der schwierigen Aufgabe, zu überzeugen, zwischen den Vertragspartnern. Er bedeutet, daß wo die Entscheidung schon getroffen worden ist. alle Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mit- Auch das, was in den Ausschüssen von der Bundes- teln zu lösen sind. Worin liegt die politische Bedeu- regierung an Information und Argumenten noch tung dieses Gewaltverzichts? Die Sowjetunion kann geliefert werden wird, wird gegen den Beschluß sich jetzt nicht mehr wie noch 1969 auf ein angeb- der Oppositionsfraktion, zu den Verträgen nein zu liches Interventionsrecht aus den Artikeln 53 und sagen, wahrscheinlich wenig ausrichten. 107 der Satzung der Vereinten Nationen berufen. Gleichwohl würde diese Regierung ihrer Aufgabe Das wurde ausdrücklich durch den sowjetischen und ihrer Verantwortung nicht gerecht, wenn sie Außenminister bestätigt. nicht alles täte, um noch einmal in der eindring- (Abg. Stücklen: Wo steht es im Vertrag?) lichsten Weise die Bedeutung der Verträge für den Frieden und für die Zukunft dieses Landes vor aller — Nun, das steht im Vertrag in Art. 2, man braucht Welt klarzumachen. ihn nur einmal durchzulesen. Einen ersten Test haben die Verträge erfolgreich Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Wir können bestanden. Ohne sie würde es eine Berlin-Regelung ihn doch auch lesen!) nicht geben. Zweitens. Diese Verträge enthalten eine Aussage (Beifall bei den Regierungsparteien.) über die Grenzen. Sie schaffen keine Rechtsgrund- Das Viermächteabkommen über Berlin aber war der lagen für bestehende Grenzen und enthalten keine Prüfstein — nicht nur für uns —, ob die Sowjet- Stellungnahme zur Entstehung dieser Grenzen. Sie union bereit sein würde, über Entspannung nicht enthalten aber Verpflichtungen. Im deutschsowje- nur zu reden, sondern sie auf der Grundlage eines tischen Vertrag verpflichten sich die Partner, die vertretbaren Kompromisses auch konkret zu ver- Grenzen als unverletzlich zu achten. Das bedeutet, einbaren. Daher sagte der amerikanische Präsident, sie können nicht mit Gewalt geändert werden. Eine daß diese Regelung ein Meilenstein gewesen ist, daß friedliche und einvernehmliche Änderung der Gren- es dieses Berlin-Abkommen ihm ermöglicht habe, zen ist damit natürlich nicht ausgeschlossen. Das den Weg nach Moskau zu gehen. An die erwiesene hat der sowjetische Außenminister ebenfalls aus- Bereitschaft zum Kompromiß knüpfen sich die Er- drücklich bestätigt. Ferner haben in dem deutsch- wartungen, auch auf anderen Gebieten zu Regelun- sowjetischen Vertrag beide Seiten erklärt, daß sie gen zu kommen. Das ist die Bedeutung dieser Ab- keine Gebietsansprüche haben. Das entspricht unse- machung. rer bisherigen Politik. Die Bundesrepublik hat auch in der Vergangenheit keine Gebietsansprüche gel- Meine Damen und Herren, der Kern unserer tend gemacht, weder auf die Gebiete jenseits von Ost-West-Politik, das Verhältnis zwischen den bei- Oder und Neiße noch auf das Gebiet der DDR. Die den Staaten in Deutschland, wird von diesen Ver- Einheit Deutschlands wird nur dadurch erreicht, trägen natürlich beeinflußt. Sie haben ein Recht daß die Bundesrepublik das Selbstbestimmungs- darauf, zu erfahren, ob die Perspektive der Einheit recht des deutschen Volkes zur Grundlage einer Deutschlands mit den Verträgen verbessert oder ob solchen Entwicklung macht. die Spaltung Deutschlands vertieft wird. Diese De- batte gibt Gelegenheit, darüber zu diskutieren. Nicht (Abg. Stücklen: Wo steht das im Vertrag?) nur dieses Parlament, sondern das ganze deutsche Daß eine Politik, die darauf abzielt, auf einen Zu Volk hat ein Recht auf diese Antwort; denn die stand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem deutsche Frage bleibt für uns — und ich meine, für das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9745 Bundesminister Scheel Einheit wiedererlangt, nicht gegen diese Bestim- sätzlich von ihrem Wortlaut her auszulegen; ihre mungen des Vertrages verstößt, ergibt sich — um Auslegung kann nicht über das hinausgehen, das zu beantworten — aus dem Brief zur deutschen worüber zwischen den Vertragspartnern Einigung - Einheit, den ich anläßlich der Unterzeichnung des erzielt worden ist. Moskauer Vertrages an den sowjetischen Außen- Auch die Verpflichtungen hinsichtlich der Respek- minister richtete. Dieser Brief wurde von der tierung der Grenzen sind eindeutig. sowjetischen Seite ohne Widerspruch entgegen- genommen. Entspannung und Normalisierung, meine Damen und Herren, sind die Grundpfeiler des politischen (Zurufe von der CDU/CSU.) Prozesses in Europa, der von beiden Seiten in Eu- Im deutsch-polnischen Vertrag ist die Aussage ropa getragen wird und dessen Ziel die Erhöhung zur Grenze konkretisiert. Diese Aussage stellt klar, der Sicherheit in Europa ist. Davon werden natür- daß die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Linie als lich spezifische politische Zielvorstellungen, die die Westgrenze Polens nicht mehr in Frage stellt. Dies jeweiligen Vertragspartner haben mögen und die bedeutet, daß die Gebiete jenseits dieser Grenze sie vielleicht auch mit den Verträgen verbinden, von der Bundesrepublik Deutschland für die Dauer nicht berührt. Diese Zielvorstellungen sind ebenso- ihrer Existenz als polnisches Staatsgebiet zu be- wenig in den beiden Verträgen wie in anderen trachten und zu respektieren sind, wenngleich eine völkerrechtlichen Verträgen Gegenstand der Rege- friedensvertragliche Regelung für Deutschland noch lung. Sie konnten es auch gar nicht sein. nicht zustande gekommen ist und die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in bezug auf Es liegt in der Natur des Menschen begründet, Deutschland als Ganzes fortbestehen. daß er den Wunsch nach Entspannung und Frieden in ruhigen Zeiten nicht so deutlich bekundet wie in Diese Grenzregelung hat nichts mit den. Indivi- Augenblicken der Krise. wußte, dualrechten der Deutschen, die in den Gebieten jen- wovon er sprach, als am 20. November 1958, auf seits von Oder und Neiße leben, zu tun. Diese dem Höhepunkt der Berlin-Krise, zum sowjetischen Rechte waren nicht Gegenstand der Verträge. Ich Botschafter Smirnow sagte: habe, um das klarzustellen, in den Verhandlungen förmlich erklärt, daß niemand durch den Vertrag Oberstes Ziel jeglicher Politik muß es sein, Rechte verliert, die ihm nach den Gesetzen der Bun- eine Entspannung der Weltlage anzustreben. desrepublik Deutschland zustehen. Demgegenüber hat alles andere zurückzutreten! Der deutsch-polnische Vertrag schafft allerdings Wir, die Abgeordneten des Bundestages, sollten uns kein Optionsrecht für die Deutschen jenseits von solcher Einsichten nicht nur entsinnen, wenn eine Oder und Neiße. Im Zuge der Verbesserung unserer Krise vor der Tür steht oder sie schon ausgebrochen Beziehungen zu Polen eröffnet er uns jedoch die ist. Möglichkeit, uns für diese Deutschen zu verwenden. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Diese Bundesregierung hat jedenfalls vom ersten Drittens. Beide Verträge enthalten eine Bestim- Tage ihrer Regierungszeit an ihr Sinnen und Trach- mung, in der klargestellt wird, daß früher geschlos- ten auf die Verwirklichung einer Entspannung zwi- sene Verträge der Vertragspartner nicht berührt schen Ost und West in Europa gerichtet. werden. Das gilt auch, wie unseren Vertragspart- nern bekannt ist, für den Deutschland-Vertrag, den Entspannung entsteht nicht dadurch, daß man von wir mit unseren drei westlichen Verbündeten ab- Entspannung redet und sich vielleicht auch einer geschlossen haben. Dort heißt es, daß sich die gemäßigten Sprache bedient. Entspannung ist nur Unterzeichnerstaaten darüber einig sind, daß ein dort möglich, wo ein Minimum an Vertrauen ent- wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine steht, wo die Vernunft langsam die Oberhand über frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für Vorurteile und Mißtrauen gewinnt. ganz Deutschland ist, und daß sie sich weiterhin Aber da gibt es — so wird man einwenden — die darüber einig sind, daß die endgültige Festlegung ungelösten Probleme, die uns der zweite Weltkrieg der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung beschert hat. Wie wollen wir zu Entspannung kom- aufgeschoben werden muß. Damit ist klargestellt, men, wenn sich die Probleme als unlösbar erweisen, daß die Bundesrepublik nur für sich, nicht für einen wie , die Erfahrung von mehr als 25 Nachkriegsjah- gesamtdeutschen Souverän sprechen kann. Ferner ren gezeigt hat? Meine Antwort ist einfach: Gerade ist gesichert, daß die Rechte der Vier Mächte hin weil wir es in unserem Verhältnis zu Osteuropa mit sichtlich Deutschland als Ganzes unberührt bleiben. Fragen zu tun haben, die heute — heute — unlösbar sind, brauchen wir Entspannung und Zusammen- Viertens. Beide Verträge enthalten schließlich arbeit. In der gefährlichen Welt, in der wir leben, als Ziel der Vertragspartner die Normalisierung können wir nicht immer sicher sein, daß sich die der Beziehungen. Diese Normalisierung soll sich Entspannung einstellt, wenn wir sie gerade brau- auf alle Bereiche in den gegenseitigen Beziehungen chen. erstrecken. Sie ist das eigentliche politische Ziel der (Beifall bei den Regierungsparteien.) Verträge, das in die Zukunft weist. Auch angesichts der heute unlösbaren Fragen, die Die Rechte und Verpflichtungen aus den Ver- man das Deutschlandproblem nennt, ist die Entspan- trägen sind eindeutig formuliert. Sie geben keinen nung und Zusammenarbeit zwischen Ost und West Anlaß zu einem Dissens zwischen den Vertrags- in Europa möglich, und zwar durch den gegen- partnern. Völkerrechtliche Verträge sind grund- seitigen, vertraglich vereinbarten Gewaltverzicht 9746 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Bundesminister Scheel auf der Grundlage des Status quo. Ohne einen sol- daß es ohne eine befriedigende Berlin-Regelung chen Gewaltverzicht, ohne eine klare und rückhalt- keinen Vertragsabschluß geben könne. lose Äußerung zum Status quo gibt es weder Ent- Ich habe Herrn Gromyko den Kabinettsbeschluß- spannung noch Zusammenarbeit mit den osteuro- vom 23. Juli 1970, den ich auch hier noch einmal päischen Ländern. Hiervon müssen wir ausgehen, in Erinnerung bringen darf, wörtlich verlesen. Das meine Damen und Herren, und hiervon muß auch Kabinett sagte damals: jeder ausgehen, der zu einem besseren Verhältnis zu den Völkern Osteuropas kommen will. Der Rahmen, in dem sich die Verhandlungen halten werden, ist durch den Auftrag des Grund- (Beifall bei den Regierungsparteien.) gesetzes zur Wahrung der Einheit der deutschen Bereits 1966 hat der damalige amerikanische Prä- Nation, durch die Rechte und Verantwortlich- sident Johnson das so ausgedrückt: keiten der Drei Mächte für Deutschland als Gan- zes und Berlin und durch die internationalen Unsere Aufgabe ist es, eine Wiederversöhnung Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutsch- mit dem Osten zu erreichen, einen Übergang land gegeben. Die Bundesregierung ist der Auf- von der engen Konzeption der Koexistenz zu fassung, daß Fortschritte in der europäischen der größeren Vision des friedlichen Engage- Entspannung untrennbar verbunden sind mit ments ... Hand in Hand mit diesen Maßnahmen Fortschritten in Richtung auf eine befriedigende — so sagte er — Regelung der Lage in und um Berlin. Ein Ge- waltverzichtsvertrag wird daher erst dann in zur Stärkung der Ost-West-Beziehungen müs- Kraft gesetzt werden können, wenn entspre- sen Maßnahmen zur Beseitigung der territoria- len Grenzstreitigkeiten gehen, die eine Quelle chende Vereinbarungen vorliegen. von Spannungen und Reibungen in Europa Meine Damen und Herren, inzwischen liegt das bilden. Ergebnis der langwierigen und schwierigen Ver- Nun, meine Damen und Herren, die vorliegenden handlungen über Berlin vor uns. Verträge schaffen die Voraussetzung dafür, daß (Abg. Dr Marx [Kaiserslautern] : Aber nicht trotz der ungelösten Probleme eine genügend trag- unterschrieben!) fähige Grundlage für den politischen Dialog mit dem Nie zuvor in der Geschichte der modernen Diplo- Osten und eine für beide Seiten vorteilhafte wirt- matie hat es eine so enge Abstimmung, ein so enges schaftliche, technologische, wissenschaftliche und Zusammenwirken verbündeter Staaten gegeben, wie kulturelle Zusammenarbeit zustande kommt. Auch dies in diesen Verhandlungen zwischen den drei hier gilt, daß man wirtschaftliche Zusammenarbeit Westmächten und uns der Fall war. Für die Solidari- nicht erst dann herstellen kann, wenn sie am drin- tät, die sie uns gegenüber bewiesen haben, und für gendsten gebraucht wird. Regieren heißt ja voraus- die mit den Verhandlungen verbundenen ungewöhn- sehen, meine Damen und Herren. lichen Anstrengungen schulden wir den drei west- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU. lichen Verbündeten Dank, auch den Dank dieses — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist gut!) Hohen Hauses. Am 9. Februar dieses Jahres sagte Präsident (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar Nixon in seinem Bericht an den Kongreß: teien.) Die Vier Mächte erzielten eine Übereinkunft Die Gerechtigkeit gebietet es, auch die Bereit- über Berlin, die dazu bestimmt ist, die stän- schaft der Sowjetunion anzuerkennen, trotz aller digen Krisen über dieser Stadt in der Nach- Schwierigkeiten, trotz Zähigkeit zu einem positiven kriegszeit zu beenden und die Lage der tapfe- Abschluß beizutragen. ren Bevölkerung West- in konkreter (Erneuter Beifall bei den Regierungspar Weise zu verbessern. Zum erstenmal ergab sich teien.) die Aussicht auf konkrete Gespräche mit dem Osten über andere ungelöste Fragen der Sicher- Und schließlich sollten wir nicht vergessen, daß auch heit und Zusammenarbeit in Europa. die Mitwirkung der DDR notwendig war, um zu dem vorliegenden Ergebnis zu kommen. Ich habe vorhin schon erwähnt, daß es ohne Ge- waltverzicht und ohne Beachtung der Realitäten Die Opposition war zunächst ganz konsequent, dieses Berlin-Abkommen nicht gegeben hätte. Und wenn sie erklärte, die Berlin-Regelung werde der selbst der grimmigste Kritiker dieser Regierung Prüfstein für die Qualität der Verträge sein; sie wird ihr zugestehen müssen, daß während der Ver- würde auch ein Test für die Bereitschaft der Sowjet- handlungen in Moskau die Sorge um die Lebens- union, zur Entspannung beizutragen, sein. Jetzt, fähigkeit Berlins ihr Handeln und ihre Schritte täg- nachdem eine befriedigende Berlin-Regelung dar- lich bestimmt hat. auf wartet, in Kraft gesetzt zu werden, (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das sagen doch Sie nur? — Weitere Zurufe von der Kein Mitglied der damaligen Verhandlungsdelega- CDU/CSU) tion, meine Damen und Herren, wird vergessen, wie in der letzten Nacht der Verhandlungen vor der ist bei Ihnen, meine Damen und Herren, davon al- Paraphierung alle Beteiligten innerlich auf das lerdings weniger die Rede. äußerste angespannt waren, als ich meinem sowje- (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar tischen Kollegen immer noch einmal wiederholte, teien.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9747

Bundesminister Scheel Die Berlin-Regelung — und ich nehme an, daß zu verkehren versteht. Er wird erklären, daß sich Sie mir da zustimmen werden — öffnet und sichert das Parlament mit der Berlin-Regelung nicht unter die Wege von und nach Berlin und von Berlin zu Druck setzen lasse. Darum kann es sich auch- nach uns, sie öffnet den Berlinern eine Pforte zu Be- der Auffassung der Bundesregierung gewiß nicht suchen in der DDR, handeln. Meine Damen und Herren, bedenken Sie aber, bevor Sie so etwas aussprechen, wie die Lage (Abg. Stücklen: Durch die Mauer!) Berlins war und wie sie mit der Regelung sein sie bringt die Anerkennung der Bindungen West wird. Handeln Sie im Sinne der Präambel des Grund- Berlins an den Bund, gesetzes wenigstens für diejenigen, für die Sie jetzt (Unruhe bei der CDU/CSU) wirklich handeln können, für die Berliner, sie festigt die internationale Position Berlins und (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) seine Vertretung durch die Bundesrepublik und be- stätigt die Viermächteverantwortlichkeit für Berlin. Ich darf nunmehr einmal an etwas erinnern, was Damit, meine Damen und Herren, ist ein hochemp- der Kollege Barzel hier im Bundestag vor zwei Jah- findliches krisenträchtiges Problem vertraglich un- ren gefragt hat: ter Kontrolle gebracht worden. Was also, Herr Bundeskanzler, werden Sie (Beifall bei den Regierungsparteien.) erklären, oder was würden Sie erklären, falls die Sowjetunion Ihnen — wie 1968 uns zu- Es ist uns gelungen, darüber hinaus erhebliche sammen — praktische Verbesserungen zu erreichen. Die Visa gebühren- sind pauschaliert worden, die Fernmelde — er meinte: in der Regierungszusammenarbeit — und Fernschreibverkehrsverbindungen zwischen Ber- die Frage anträgt: Seid ihr lin und der DDR sind ausgeweitet worden. Das — die Deutschen — klingt bescheiden, meine Damen und Herren, bereit, nicht nur auf Gewalt, sondern auch auf (Zuruf des Abg. Stücklen) friedliche Veränderung der deutschen Dinge mit das klingt für Sie vielleicht bescheiden; für einen dem Ziel der Selbstbestimmung des deutschen Berliner, der seit zehn Jahren nur noch unter gro- Volkes zu verzichten? Das ist der Kern, das ist ßen Schwierigkeiten mit seinen Verwandten und die Frage. Bekannten in Ost-Berlin und der DDR telefonieren So die Frage von Herrn Barzel im Bundestag. Herr konnte, sieht sich die Sache anders an. Dr. Barzel, ich kann Ihnen zu diesem Komplex (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. sagen, was ich selbst dazu in den Verhandlungen in Stücklen: Das sind doch die normalsten Moskau vorgetragen habe. Auf der Verhandlungs- Dinge dieser Welt!) sitzung am 30. Juli 1970, in der ersten Phase der Niemand konnte erwarten, daß eine Berlin-Rege- Verhandlungen, habe ich folgendes dazu gesagt: lung die Mauer zum Verschwinden bringen würde. Es muß volle Klarheit herrschen, wenn der Ver- Aber mit dem Abkommen ist sicher eine Forderung trag zur Grundlage besserer Beziehungen und auch der Opposition erfüllt worden: die Mauer ist schließlich hoffentlich freundschaftlicher Bezie- mit dem Abkommen durchlässiger geworden. hungen zwischen unseren beiden Ländern wer- (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Einseitig! — Zu den soll. Daher darf ich wiederholen: Für jede rufe von der CDU/CSU: Wo?) Bundesregierung, gleich wie sie aussieht, bleibt die Einheit der Deutschen ein unverzichtbares — Ich warte auf Ihre Reaktionen, meine Damen und politisches Ziel. Ich sage das, um klarzumachen, Herren. Wir brauchen diese Reaktion. Ich bin wirk- daß eine friedliche Politik, die auf diesen Prin- lich manchmal erstaunt. zipien — Gewaltverzicht, Achtung der terri- Die Bundesregierung bringt die beiden Verträge torialen Integrität, keine Verletzung der Gren- jedenfalls mit dem guten Gefühl ein, für die Lebens- zen — beruht und der Einheit der Deutschen fähigkeit Berlins und für das Los seiner Bürger im Rahmen einer europäischen Friedensordnung mehr erreicht zu haben, als viele von uns, wenn sie dient, keine Verletzung des Vertrages darstellt. aufrichtig sind, vor einigen Jahren zu hoffen wagten. (Abg. Stücklen: Rahmen Sie den Vertrag ein!) (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) Ich weise noch einmal darauf hin, daß wir Was sagte doch der damalige amerikanische einer ausführlichen Erwähnung der Grenze Außenminister Dean Rusk 1968 auf der NATO-Kon- — ich zitiere immer noch aus meinen damaligen ferenz: Ausführungen in Moskau — Wenn man die Pauschalierung der Zugangsge- zwischen der Bundesrepublik Deutschland und bühren erreichen könnte, so wäre dies wohl der DDR in dem Artikel über die Achtung der eine große Sache. territorialen Integrität zugestimmt haben. Was wir nicht aufgeben können, ist das Recht der Die Pauschalierung der Gebühren damals eine große Regierung und der Bevölkerung, die nationale Sache! Vergleichen Sie damit doch einmal den Inhalt Einheit im Rahmen einer europäischen Frie- des Viermächteabkommens über Berlin. densordnung und auf , der Grundlage der freien Nun, meine verehrten Kollegen, es wird sich Selbstbestimmung mit friedlichen Mitteln anzu- immer jemand finden, der die Dinge ins Gegenteil streben. Es wäre niemandem in Europa damit 9748 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Bundesminister Scheel gedient, wenn man ein Volk dazu bringen Teilung kaum noch vertieft werden kann, es sei wollte, seine Identität zu verleugnen. Deshalb denn durch eine Politik, die sich auf Deklamationen haben wir mit großer Befriedigung Ihre Erklä- beschränken würde. rung (Beifall bei den Regierungsparteien.) — Gromykos Erklärung — Nein, wenn es einen Weg zur Einheit der Nation über das Recht der Völker und Staaten, sich gibt, dann nur über eine allgemeine Entspannung in friedlich zu vereinigen, zur Kenntnis genom- Europa, die tragfähig genug ist, das Trennende men. zwischen uns und der DDR in den Hintergrund tre- ten zu lassen. Nicht die friedliche Konkurrenz der Herr Barzel, das ist die Antwort auf Ihre Frage ge- beiden deutschen Staaten um den besten Beitrag wesen. zum Frieden und zur Zusammenarbeit vertieft die Das Ergebnis dieser Verhandlungen war der Brief Spaltung weiter. Wenn etwas die beiden Teile noch zur deutschen Einheit. Er gehört zusammen mit den weiter und endgültig voneinander entfernen kann, anderen begleitenden Dokumenten zu den Ratifizie- dann ist es die Indifferenz, die sich hinter unerfüll- rungsunterlagen. Ich möchte seinen Inhalt, der von baren Forderungen verbirgt. der sowjetischen Seite unwidersprochen entgegen- (Beifall bei den Regierungsparteien.) genommen worden ist, hier noch einmal zitieren: Meine Damen und Herren, wenn auf der Grund- Sehr geehrter Herr Minister, lage dieser Vertrage Entspannung und Zusammen- im Zusammenhang mit der heutigen Unter- arbeit zwischen Ost und West in Europa in Gang zeichnung des Vertrages zwischen der Bundes- kommen, dann wird auch das Verhältnis der beiden republik Deutschland und der Union der So- deutschen Staaten zueinander eingebettet sein in zialistischen Sowjetrepubliken beehrt sich die ein Klima, in dem es leichter sein wird, mehr Aus- Regierung der Bundesrepublik Deutschland tausch, mehr Kommunikation und mehr Freizügig- festzustellen, daß dieser Vertrag nicht im keit zu erreichen. Wer aber Angst vor der eigenen Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bun- Courage hat, desrepublik Deutschland steht, auf einen Zu- (Hört! Hört! und Lachen bei der CDU/CSU) stand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestim- wer befürchtet, mehr Kommunikation und Freizü- mung seine Einheit wiedererlangt. gigkeit importiere bei uns den Kommunismus, Genehmigen Sie, Herr Minister, die Versiche- (Zurufe von der CDU/CSU) rung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung. der erhebt doch indirekt die Forderung, die Regie- rung der DDR müsse erst kapitulieren, bevor es zu Es folgt die Unterschrift. Kontakten mit der Bundesrepublik kommen darf. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung (Beifall bei den Regierungsparteien. — ist weder so illusionistisch, zu glauben, noch so un- Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Wem sagen Sie aufrichtig, andere glauben zu machen, als sei uns das!?) mit diesem Brief eine politische Waffe in die Hand gegeben, mit der wir die Wirklichkeit, die traurige Von beiden können wir nur eines haben: entweder Wirklichkeit der deutschen Teilung aus den Angeln wir folgen dem Beispiel Honeckers und grenzen uns heben könnten. Dieser Brief zur deutschen Einheit ab aus Furcht vor Ansteckung, oder wir sind uns hält zusammen mit anderen Teilen des Vertrags- der Stärken der freiheitlichen Ordnung bewußt und werkes die deutsche Frage offen. Meine Damen und trauen uns den friedlichen Wettbewerb mit der Herren, das ist schon etwas, und das war gar nicht DDR überall dort, wo er möglich ist, zu. so selbstverständlich, wie sich das heute vielleicht (Beifall bei den Regierungsparteien.) für manchen ansehen mag. Hätte die Opposition im Sommer 1970, der Einladung der Bundesregierung Die Frage, ob der Kommunismus bei uns eine folgend, einen Vertreter Chance hat, wird von uns, ganz allein von uns, entschieden, — und davon machen die Universitä- (Abg. Stücklen: Als Statisten!) ten keine Ausnahme, meine Damen und Herren. zu den Verhandlungen entsandt, dann hätte sie sich (Beifall bei den Regierungsparteien.) an Ort und Stelle ein Bild von der Härte der Ver- Die handlungen, insbesondere in dieser Frage, machen Verträge sind ein Kernstück der friedlichen können. Koexistenz zwischen West und Ost und der Sicher- heit in Europa. Die Bundesrepublik Deutschland (Beifall bei den Regierungsparteien.) will mit ihnen nicht nur ihre eigene Lage verbes- Nein, meine Damen und Herren, die Wirklichkeit sern, auch nicht nur die Lage Berlins verbes- der Teilung kann man nicht mit juristischen Vor- sern. Wir sehen in den Verträgen einen wichtigen behalten wegzaubern. Sie ist die unmittelbare Folge Beitrag zur Stabilität unseres Kontinents. Die Ver- des von Hitler angezettelten und von uns allen ver- träge fördern das, was die Europäer erhoffen: die lorenen Krieges. Milderung der Spaltung des alten Weltteils durch friedlichen Austausch und Zusammenarbeit. (Beifall bei der SPD.) 1815, auf dem Wiener Kongreß, war es noch die Und jeder, der diese Teilung kennt, wie wir sie in europäische Staatskunst, die die Folgeprobleme der und Kassel erlebt haben, der weiß, daß die napoleonischen Kriege löste. 1918, in Versailles, Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9749

Bundesminister Scheel fehlte Rußland. Dann zog Amerika sich zurück. Es der europäischen Einigung, wirtschaftlich und poli- gelang nicht, ein Gleichgewicht zu schaffen. 1945, tisch, von jedem als unabänderlich betrachtet wird in Potsdam, hatte Westeuropa so gut wie kein Ge- und daß daraus die richtigen Folgerungen für Ent- wicht mehr. Diese Verträge, als Teil westeuropä- spannung und für Zusammenarbeit gezogen werden. ischer Politik konzipiert, in ständigen Konsultatio- (Beifall bei den Regierungsparteien.) nen mit den Bündnispartner erarbeitet, künden an: das wiedererstandene Westeuropa beginnt Herr Ich habe während der Verhandlungen in Moskau seiner eigenen Probleme zu werden. und danach bei jedem Gespräch mit sowjetischen Politikern darauf hingewiesen, daß auch diese Ent- Die Politik, die zu den Verträgen geführt hat, hat wicklung Teil einer europäischen Realität sei. Lassen wesentlich zum Zusammenhalt des sich gestaltenden Sie mich hierzu aus einer Aufzeichnung über meine Westeuropas beigetragen. Es war kein leeres Wort, Gespräche in Moskau vom 28./29. November 1971 als wir vor den Verhandlungen sagten, unsere ge- zitieren. Dort heißt es: samte Osteuropapolitik baue auf der fortschreiten- den Integration Westeuropas auf. In anderen Fragen Der Bundesminister des Auswärtigen wies auf mag es Nuancen und Meinungsverschiedenheiten die entscheidende Bedeutung der Gemeinschaft unter Europäern geben; was unsere Osteuropapoli- im Welthandel hin. Er schilderte ausführlich und tik angeht, bestehen keine. Präsident Pompidou eindringlich die Integrationsautomatik, insbe- sagte noch am 11. dieses Monats in Paris: sondere den Beginn der Übergangsphase der Gemeinschaften vom 1. Januar 1973 an. Er be- In den Beziehungen zum Osten haben wir eine tonte auch die Bedeutung, die den Europäischen vollendete Übereinstimmung zwischen der Poli- Gemeinschaften als Faktor für Sicherheit und tik der Bundesrepublik und der französischen Zusammenarbeit in Europa zukommen werde. Politik festgestellt. Ich hatte Gelegenheit, Der Außenminister erklärte unmißverständlich, — so sagte er — daß eine Änderung unserer EWG-Politik völlig dem Bundeskanzler erneut die vorbehaltlose Un- ausgeschlossen sei. terstützung zu bestätigen, die wir seiner Politik Meine Damen und Herren, ich habe auch nie 'einen auf diesem Gebiete zollen. Zweifel daran gelassen, daß diese Verträge nur auf Soweit Pompidou! Der britische Außenminister der Grundlage des bestehenden militärischen Gleich- Douglas-Home äußerte sich am 13. Februar noch: gewichts in Europa möglich sind. Schon in der Zeit, als ich Oppositionsführer im Deutschen Bundestag Die britische Regierung hat die von war, habe ich in einem Gespräch mit Ministerpräsi- Anfang an voll unterstützt und hat die Verträge dent Kossygin betont, daß eine funktionierende von Moskau und Warschau als wichtige Bei- Allianz mit intakter amerikanischer Truppenpräsenz träge zu den Beziehungen zwischen Ost und die Grundlage für die Entspannung in Europa sei. West begrüßt. Wir haben diese Politik im Bündnis und gegenüber Blicken wir doch einmal auf das, was seit Beginn unseren Vertragspartnern beharrlich weiterverfolgt. unserer Regierungszeit in Westeuropa geschehen Es ist deshalb wiederum kein Zufall, daß es in dem ist. Wir haben den inneren Ausbau der Gemeinschaf- Abschlußkommuniqué der NATO-Ministerratskonfe- ten, wie er in den Römischen Verträgen vorgesehen renz vom 4. Dezember 1970 heißt: „Die Minister der ist, vollendet. Mit der Wirtschafts- und Währungs- NATO-Länder begrüßten diese Verträge als Beitrag union haben wir den ersten Schritt zu einem ge- zur Minderung der Spannung in Europa." Denn, schlossenen Binnenmarkt mit freiem Verkehr von meine Damen und Herren, in der Tat ist der Zusam- Menschen, Gütern und Kapital getan. Die Erweite- menhalt der Allianz, seitdem wir unsere Osteuropa- rung der Gemeinschaften ist gelungen. Damit ist der politik begannen, besser geworden. Das, was im Stein aus dem Wege geräumt, der die Fortentwick- Harmel-Bericht 1967 vorgezeichnet wurde, ein Bünd- lung Europas seit den sechziger Jahren blockierte. nis, dessen Sicherheit nicht nur auf der Abschrek- Die politischen Konsultationen erst der Sechs, dann kung, sondern auch auf der Entspannung aufbaut, der Zehn, sind in Gang gekommen. Was mit dem wird jetzt Wirklichkeit. Allerdings: „Vor nicht allzu Fouchet-Plan 1962 endgültig gescheitert schien, langer Zeit waren unsere Bündnisse ausschließlich konnte damit wieder auf den Weg gebracht werden. auf die Eindämmung der Sowjetunon und der Volks- Unsere Ostpolitik, die europäische Ostpolitik, hat republik China gerichtet. Jetzt aber muß mehr in un- die Stagnation überwunden. Die Europäer haben sich sere Allianz hineinkommen. Es ist relativ einfach, zu einer gemeinsamen Standortbestimmung in dieser sich über das zu einigen, wogegen man ist; es ist Politik aufgerafft. Sie haben daraus identische Kon- sehr viel komplizierter, eine Allianz auf der Grund- sequenzen gezogen. Hieraus sind die ersten Ansätze lage dessen zusammenzuhalten, wofür man ist." Ich einer gemeinsamen Politik für die Zukunft erwach- habe jetzt Präsident Nixon zitiert. sen. In den letzten Monaten hat die Opposition eine Niemand auf der Welt verkennt dies, auch die So- stets wachsende und auch stets wechselnde Argu- wjetunion nicht. Das ist doch das Entscheidende. Es mentation gegen die Verträge ins Feld geführt. Da- kommt doch nicht auf die förmliche Anerkennung der für war vom Inhalt der Verträge immer weniger die Europäischen Gemeinschaften an, von der uns die Rede. Es handelt sich um Argumente von unter- Juristen der Kommission in Brüssel noch letzte Wo- schiedlichem Gewicht. Allen ist gemeinsam, daß sie che sagten, so etwas gebe es überhaupt nicht. Es nicht auf dem Wortlaut der Verträge aufbauen, son- kommt doch darauf an, daß der dynamische Prozeß dern daß sie das Produkt manchmal ganz unbegrenz- 9750 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Bundesminister Scheel ter politischer Spekulationen darstellen. Aber, meine Politik aussehen, die Sie an die Stelle derjenigen Damen und Herren, die Geschichte ist kein Produkt setzen wollen, die die Bundesregierung verfolgt? von Spekulationen. Sie setzt sich zusammen aus Wie soll eine Entspannungspolitik aussehen, wenn schwierigen Entwicklungen und mutigen Entschei- sie ohne die Grundlage des Status quo- frei- dungen. Niemand in unserer jüngsten Geschichte schwebend in der Luft hängt? Verhandeln heißt doch hat dies besser gewußt als der Bundeskanzler, auf nicht eigene Wunschzettel ausfüllen! den Sie sich, meine Damen und Herren von der (Beifall bei den Regierungsparteien.) Opposition, gern berufen. In seinen Erinnerungen zum Jahr 1955, dem Jahr seiner Moskau-Reise, Oder glauben Sie gar, es seien die Zeit und die schrieb Konrad Adenauer in aller Nüchternheit: Gelegenheit gekommen, sich politisch einzugraben, wenn unsere Freunde und Verbündeten längst die Es würde dies ein langer und mühseliger Weg Bewegung gewählt haben? Sollen wir die halbver- schwierigster Verhandlungen sein, ein Weg, auf fallenen Unterstände des kalten Krieges wieder be- dem man manche Umwege in Kauf nehmen ziehen, wenn sich unsere mächtigsten Verbündeten müßte, die zweifellos auch mit Gefahren ver- zur Entspannung und Zusammenarbeit entschieden bunden sein würden. Es müßte versucht werden, haben? Macht es überhaupt keinen Eindruck auf die einen Weg zu finden, der auch der Sowjetunion Opposition, wenn alle unsere Verbündeten geschlos- akzeptabel erschiene und bei dem sie hoffen sen für diese Politik, die wir gemeinsam treiben, könnte, ihre Zielsetzung gewahrt zu wissen. eintreten? Meine verehrten Kollegen von der CDU/CSU, den- ken Sie doch einmal über diese Worte nach! Die Argumente der Opposition sind deswegen so wenig einleuchtend, weil keine brauchbare und (Abg. Lücke [Bensberg] : Ein sehr guter Satz, keine machbare Alternative hinter ihnen steht. ein sehr richtiger Satz!) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu Fragen Sie sich, ob wir etwas anderes getan haben rufe von der CDU/CSU.) als das, was 1955 Konrad Adenauer als die Umrisse Meine Damen und Herren, es gibt allerdings die einer Verhandlung mit der Sowjetunion entworfen Folgen einer Ablehnung der Verträge. hat! möglichen Das ist aber etwas anderes als eine Alternative. An einer Behauptung kann die Bundesregierung allerdings nicht vorbeigehen, ohne ihr mit allem (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu Nachdruck zu widersprechen. Weder in den Ver- rufe von der CDU/CSU.) trägen noch in den begleitenden Dokumenten gibt Mein französischer Kollege, Maurice Schumann, es einen Anhaltspunkt für die wirklich grob fahr- wurde in einem Interview, das in der „Welt" abge- lässige Behauptung, diese Verträge würden Forde- druckt war, gefragt, wie sich die Lage nach einer rungen auf Reparationsleistungen an die Bundes- möglichen Ablehnung der Ratifizierung darstellen republik Deutschland begründen. könnte. Er antwortete, daß er sich weigere, diese (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Möglichkeit überhaupt ins Auge zu fassen. So sehr Wehner: Hört! Hört!) sind die Verträge heute schon Teil auch der Außen- Wer unseren Steuerzahlern das Schreckgespenst der politik unserer Verbündeten, daß die Folgen einer Reparationen an die Wand malt, handelt genauso Ablehnung in ihrer politischen Wirkung einfach unverantwortlich wie jener, der um jeden Preis eine unübersehbar sein würden. Inflation herbeidiskutieren möchte. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Lebhafter Beifall bei den Regierungs Die Entspannungsmöglichkeiten im Osten wären auf parteien.) unabsehbare Zeit verschüttet. Die Verbündeten im Westen empfänden die Ablehnung als ein Torpedo Oder, meine Damen und Herren, wollen wir etwa gegen ihre eigenen Entspannungspolitik. Wir Deut- dem Ausland suggerieren, bei uns gäbe es etwas zu schen hätten in Europa die Vorhänge herunterge- holen? Ich hoffe, daß die Abgeordneten der Opposi- lassen, gerade als das erste Licht heraufzudämmern tion selbst für die notwendigen Klarstellungen hier begann. im Deutschen Bundestag sorgen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, als würde es die CDU/CSU zu- Die Bundesregierung und die hinter ihr stehende lassen, daß einzelne ihrer führenden Mitglieder mit Mehrheit, meine verehrten Kollegen, werden dafür diesen trüben Gerüchten weiter hausieren gehen. sorgen, daß diese bedrückende Vorstellung, wir könnten in eine totale Isolierung geraten, nicht ver- (Beifall bei den Regierungsparteien.) wirklicht wird. Wir wollen der Opposition keine Argumente lassen sich immer finden und ins Feld falsche Verantwortung aufbürden. Die Mehrheit führen, wenn es sich darum handelt, die bereits ge- bringen wir selbst auf, meine Damen und Herren. troffene Entscheidung, nein zu den Verträgen zu (Beifall bei den Regierungsparteien.) sagen, zu begründen. Argumente entstehen und Argumente verschwinden wieder. Aber noch so viele Aber wir tun es in der festen staatspolitischen Hoff- Argumente gegen eine Politik machen noch keine nung, daß auch die Opposition nach der Ratifizie- Alternative. rung das als Grundlage ihres Handelns nimmt, daß (Beifall bei den Regierungsparteien.) Verträge, die abgeschlossen sind, zu halten sind. Und hier, meine Damen und Herren, liegt in der Tat Meine Damen und Herren, es gibt in der Kette der die größte Schwäche der Opposition. Wie würde die Gegenargumente allerdings eines, das von grund- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9751

Bundesminister Scheel sätzlicher Bedeutung ist. Ich meine das Argument, mittelfristig zu ändern sind. Es wird mit längeren mit kommunistischen Staaten könne man keine Ver- Zeiträumen gerechnet. Den Nachteil der anderen schließen, die Machtstrukturen und der Ver- setzt man nicht mehr absolut mit dem eigenen Vor- träge - haltenskodex in Ost und West seien zu verschie- teil gleich. Eine begrenzte Interessenübereinstim- den, der Westen zahle bei solchen Verträgen un- mung entwickelt sich über die Systeme hinweg, im weigerlich drauf. Verkehr, im Kulturaustausch, im Handel, in der (Abg. Dr. Müller-Hermann: Ein Popanz!) Technologie. Wenn dem so ist, meine Damen und Herren, dann Lassen Sie mich einmal erwähnen, was Minister- lassen wir alle Hoffnung fahren, daß der Frieden präsident Kossygin in seinem Bericht über den Plan und das physische Überleben dieser Welt durch am 6. April 1966 über ein Spezialgebiet der techno- Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung zwi- logischen Zusammenarbeit sagte: schen Ost und West gesichert werden können. Bis vor kurzem neigten wir dazu, die Bedeutung (Beifall bei den Regierungsparteien.) des Handels mit Patenten und Lizenzen zu un- terschätzen. ... Wir können und müssen den Dann sind alle internationalen Abkommen vom uns gebührenden Platz auf dem Weltmarkt in Teststoppvertrag 1963 über den Weltraumvertrag Lizenzen einnehmen. ... Der Kauf von Patent- 1967, den Nichtverbreitungsvertrag 1968, den rechten wird uns ermöglichen, Hunderte von Meeresbodenvertrag 1971 bis zum Vertrag zwischen Millionen Rubel an wissenschaftlichen For- den Vereinigten Staaten und Rußland zur Verminde- schungskosten zu sparen. rung des Risikos des Ausbruchs eines Nuklear- krieges Vergleichen wir damit einmal das, was Stalin 1952 in „Wirtschaftliche Probleme des Sozialismus" an (Abg. Stücklen: und der Warschauer Pakt?!) Einstellung zum Weltmarkt bekundete: nur eine zynische Staffage für die heraufziehende Die Desintegration eines einzigen- allumfassen- und unvermeidliche nukleare Konfrontation. Dann, den Weltmarkts muß man als die wichtigste meine Damen und Herren, sind die Amerikaner, die ökonomische Konsequenz des zweiten Welt- sich seit Jahren um ein Abkommen mit der Sowjet- kriegs betrachten. ... Dies hat auch zur Folge, union über die Begrenzung strategischer Nuklear- daß sich die allgemeine Krise des kapitalisti- waffen bemühen, ebenso naiv wie wir, die wir schen Systems vertieft. glauben, daß es möglich und notwendig ist, die Risiken des nuklearen Zeitalters Schritt für Schritt Deutlicher läßt sich der Wandel der Zeit doch kaum durch eine vertragliche Kodifizierung des Verhaltens kenntlich machen: der Unterschied zwischen ideolo- der beiden Staaten einzuengen. gisch bestimmtem Antagonismus und pragmatischer Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Wer glaubt, sich Das ist doch, meine Damen und Herren, der Kern leisten zu können, auf eine Regelung mit der So- des Problems unserer Zeit, daß zwei Mächte zwei wjetunion zu verzichten, soll uns doch einmal er- Mächte! — über die Mittel verfügen, unser aller klären, wie und mit wem er über die Besserung der Zivilisation zu zerstören. Eine dieser Mächte ist ein Verhältnisse in Zentraleuropa sprechen will. kommunistisches Land. Darin liegt der Zwang, daß sich die Verantwortung dieser beiden Mächte paart. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Dazu gibt es keine Alternative auf der Welt, meine Meine Damen und Herren, ich habe eigentlich Damen und Herren! schon immer darauf gewartet, und jetzt ist es so (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar weit: Wer eine Ostpolitik machen will — so wird teien.) jetzt verkündet —, braucht vor allem eine Fernost- politk. Diese Dinge sind viel zu ernst, um sie in über- (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.) kommene Schablonen des Antikommunismus hinein- zuzwängen. Gewiß, die Sowjetunion ist eine Welt- — Entschuldigen Sie, lassen Sie mich das ganz offen macht, und jeder, der mit ihr verhandelt, bekommt sagen: Es ist etwas Wahres daran. Aber hüten wir den Druck des dahinterstehenden gewaltigen Poten- uns vor der manchmal hier in Deutschland anzu- tials zu spüren. Die Sowjetunion macht keine Ge- treffenden Neigung zum politischen Eskapismus! schenke, wir haben solche auch nicht erwartet. Aber Wer sich nicht in der Lage sieht, mit dem Problem die Weltmacht Sowjetunion ist ebenso wie wir in des europäischen Ostens fertigzuwerden, weicht den fatalen Mechanismus von nuklearer Bedrohung gern aus auf die etwas undeutlicheren Konturen der und Abschreckung eingebunden. Aus diesem Grunde chinesischen Mauer. — und zuallererst aus diesem Grunde — ist sie (Beifall bei den Regierungsparteien.) daran interessiert, den permanenten Krisenherd Zen- Weil das Naheliegende und Dringende so unbequem traleuropa zu beseitigen. Daß dies so ist, ist unsere ist, flieht man in die Ferne. Seien Sie beruhigt, die Chance. Nur auf dieser realistischen Grundlage Bundesregierung hat eine Fernostpolitik. Sie wird konnten wir überhaupt zu einem Abkommen mit der sich allerdings von derjenigen des Jahres 1964 viel- Sowjetunion gelangen. leicht etwas unterscheiden. Lassen Sie uns nicht übersehen, daß auch die Be- (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs wußtseinslage von Weltmächten einem Wandel parteien.) unterworfen ist! Ein gewisser Pragmatismus in der Außenpolitik wird spürbar. Es wird erkannt, daß Wir wissen, daß die asiatischen Dinge behutsam andere gesellschaftliche Systeme nicht kurz- oder angefaßt werden müssen. Wir wissen auch, daß es 9752 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Bundesminister S cheel heute nicht mehr darum geht, die bestehenden guten Wenn uns dies gelingt, so hat meine Generation, Handelsbeziehungen auf rein privater Basis jetzt die man im Blick auf ihre vielen Toten im letzten Schritt für Schritt allmählich weiterzuentwickeln, Krieg die „geopferte" genannt hat, das Höchste- er- sondern es geht jetzt um diplomatische Beziehun- reicht, was sie erreichen konnte: den Frieden für gen. Das wissen wir. Meine verehrten Kollegen, sich und die Generation ihrer Kinder. Sie mögen versichert sein: die Bundesregierung (Langanhaltender lebhafter Beifall bei den wird zum richtigen Zeitpunkt das Nötige tun. Regierungsparteien.) Meine verehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir, zum Schluß ein paar persönliche Bemerkun- gen zu machen. Eine Politik schwebt nicht im luft- Präsident von Hassel: Meine Damen und Her- ren, mit der Rede des Herrn Außenministers, für leeren oder geschichtslosen Raum. Sie ist das Pro- die ich danke, sind die beiden Ratifizierungsgesetz- dukt vieler Faktoren, und nicht zuletzt stehen hin- entwürfe gemäß den Punkten 3 und 4 der Tages- ter ihr Menschen mit unterschiedlicher Erfahrung, ordnung eingebracht. Wir treten nunmehr in die mit unterschiedlicher Vergangenheit. Damit wir uns verbundene Aussprache aller aufgerufenen Tages- nicht mißverstehen, meine verehrten Kollegen; ich ordnungspunkte — von 2 bis 6 enschließlich — ein. will damit nicht etwa sagen, daß wir die Ambition hätten, in der Politik nach dem Schlagwort vorzu- Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel. gehen: „Männer machen Geschichte". Nein, wir wol- len lediglich jene Überzeugung vollziehen, die wir 41$ Männer einer ganz bestimmten Generation Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine als Männer einer ganz bestimmten Generation aus Damen und Herren! Die Entscheidung, die wir hier dem Wahnsinn des zweiten Weltkrieges herüber- zu treffen haben werden, gehört zu den ernstesten gerettet haben, und zu den folgenschwersten, die je im Deutschen Bundestag zu treffen waren. Ich scheue mich nicht, (Beifall bei den Regierungsparteien) von einer geschichtlichen Entscheidung zu spre- die Überzeugung nämlich, daß Grenzen, Gebiets- chen. Zur Entscheidung steht hier eine Politik. Es ansprüche, Gewalt und Krieg für uns ein für allemal geht auch, aber nicht nur um Vertragstexte. ihren Sinn verloren haben. Zu der Diskussion hier gehört auch das, was (Beifall bei den Regierungsparteien.) draußen im Lande zum Thema gesagt wird und — mehr noch — was eine raffinierte Propaganda un- Wenn ich heute schon wieder Flugblätter in die terschwellig als Bewußtseinslage und Druckkulisse Hand gedrückt bekomme, in denen ein größerer zu erzeugen versucht. Lebensraum für Rumpfdeutschland, wie es heißt, (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) gegenüber Polen verlangt wird, dann schaudert mich, meine Damen und Herren. Sie, Herr Kollege Scheel, können mit Ihrem (Beifall bei den Regierungsparteien.) Schlußappell und den Zitaten von verschwindenden Randerscheinungen der deutschen Gesellschaft nie- Mich schaudert bei dem Gedanken, all die schreck- manden hier in diesem Hause gemeint haben. liche Erfahrung könnte umsonst gewesen sein. Um- sonst, weil die einen, die wissen, zu feige sein (Beifall bei der CDU/CSU.) könnten, den Demagogen von Anfang an zu wider- Was aber soll man draußen — gemeint ist jetzt stehen, jenseits der Grenzen und auch bei denen, die Deutsch hören und verstehen, die auf diese Weise (lebhafter Beifall bei den Regierungspar im anderen Teil Deutschlands an dieser Debatte teien) teilnehmen — eigentlich denken, wenn Sie trotz- und weil die, meine Kollegen, die heute wieder an dem so sprechen, Herr Bundesaußenminister? Lebensraum • und derlei Dinge denken, von unserer Erfahrung nichts wissen. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Stücklen: Roß und Reiter! — Weitere Was soll man dort davon halten, wenn Sie schlie- Zurufe von der CDU/CSU.) ßen mit dem Satz, Sie hätten den Frieden „er- reicht"? Auch für die Berliner, wo noch geschossen Diese Verträge mögen und werden die Voraus- wird? Auch für die Deutschen entlang der Zonen- setzung und die Grundlage für Entspannung, Zu- grenze? sammenarbeit und Frieden in Europa bilden. Aber (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) ebenso bedeutend sind sie in ihrer Wirkung nach Das, meine Damen und Herren, sollte hier nicht ge- innen. Über 25 Jahre nach dem Krieg machen diese sagt werden. Verträge deutlich, was unserem Vaterland durch Verblendung und Verbrechen angetan wurde. Wir Aus diesen Gründen beginnen wir mit zwei Fest- können diese Wirklichkeit nicht wegwischen. stellungen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Erstens. Deutsche Politik, die deutsche Demokra- ten betreiben, war immer Friedenspolitik, und das Sie werden aber auch deutlich machen, daß wir die wird auch in Zukunft so sein. Möglichkeit haben, aber auch die Verantwortung, von der Ausgangsposition eines freiheitlichen deut- (Beifall bei der CDU/CSU.) schen Staates aus die Lehren der Geschichte zu be- Die Verantwortlichen der Weimarer Republik ha- herzigen. ben nichts anderes als Friedenspolitik betrieben, Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9753 Dr. Barzel nur Nationalsozialisten und Kommunisten nicht auch die Verständigung mit der Sowjetunion ge- beide keine Demokraten, beide gewalttätig auch in sucht habe. der innenpolitischen Auseinandersetzung; beide Damit haben Sie recht. Aber dann haben doch- Ihre sahen in Gewalt ein Mittel der Politik. Helfer draußen im Lande unrecht, die erzählen, vor (Beifall bei der CDU/CSU.) Ihrer Kanzlerschaft sei in Richtung Osten nichts ge- Die Kommunisten tun das noch heute. Das lehrt der schehen. Schießbefehl ebenso wie der nicht vergessene Ein- (Beifall bei der CDU/CSU.) marsch in die Tschechoslowakei und die Gewalt, die Ich verwahre mich hier ganz besonders gegen den kommunistische Kader in diesen Tagen an unseren Sprecher der SPD, welcher den ernsthaften und be- Universitäten üben. sorgten Appell unseres leider verhinderten Kollegen (Beifall -bei der CDU/CSU.) von Guttenberg als „Brunnenvergiftung" bezeich- nete, So müssen wir hier sagen: Die Außen- und die (Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört! — Deutschlandpolitik der Bundesrepublik Deutschland Zuruf von der SPD: Ist es doch!) war vor dieser Bundesregierung Friedenspolitik, und sie wird es nach ihr bleiben. Meine Damen und Herren, die zunehmende, ich sage: starrköpfige Rechthaberei und Empfindlichkeit (Beifall bei der CDU/CSU.) der Koalition gegenüber ihren demokratischen Kri- Die Namen Konrad Adenauer – hier oft beschwo- tikern gibt doch zu Besorgnis Anlaß. ren —, und (Beifall bei der, CDU/CSU.) stehen nicht nur für die längste Zeit der Demokra- tie in Deutschland, sondern auch für die längste Zeit Keiner sollte, Herr Kollege Scheel, dem, der an sei- des Nicht-Kriegs nach innen und nach außen. nen Grundsätzen aus Überzeugung festhält, „Unbe- weglichkeit" vorwerfen, und keiner sollte Geduld (Beifall bei der CDU/CSU.) und Augenmaß mit Nichtstun oder Betriebsamkeit In dieser Zeit wurde das einzige Stück realer mit Arbeit und Erfolg verwechseln. Friedensordnung in Europa geschaffen: die Euro- (Beifall bei der CDU/CSU.) Wir sprachen rechtsverbind- päische Gemeinschaft. Meine Damen und Herren, es ist doch auch in die- lich und uneingeschränkt Gewaltverzicht aus. Wir sem Bereich nicht die Hauptsache, d a ß etwas ge- gliederten die ausschließlich zur Verteidigung ge- schieht, sondern das Richtige muß geschehen, schaffene und geschulte Bundeswehr in die inter nationale und integrierte Struktur des Bündnisses (Zustimmung bei der CDU/CSU) ein. Wir verzichteten auf die Herstellung atomarer, und das Nein zum Falschen bleibt dafür die Voraus- biologischer und chemischer Waffen. Wir boten --- setzung. genauso wie nach Westen, Norden und Süden — (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) auch nach Osten Austausch, Aussöhnung und Aus- gleich an. Wir erklärten uns bereit, alle Streitfragen Ich sage dies alles, damit sich die Debatte hier friedlich zu regeln sowie Verträge darüber zu schlie- wie die draußen im Lande hütet, die Geschäfte un- ßen, auch über Gewaltverzicht, auch mit dem ande- serer gemeinsamen Feinde zu besorgen. Die wol- ren Teil Deutschlands. Und wir begannen, mit diesen len doch nur, daß sich die Demokraten gegenseitig Ländern Beziehungen aufzunehmen. den Bau der Mauer, die Schießerei dort wie die Ur- sachen und die Dauer der deutschen Spaltung vor- Sie, Herr Bundeskanzler, wären gut beraten, wenn werfen. Sie dies ausdrücklich betonten, (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) (Lachen bei der SPD) Nichts davon ist doch wahr! Für Mauer Schießbefehl anstatt draußen im Lande eine Kampagne führen zu und Stacheldraht trägt doch in diesem Hause kei- lassen, die den Eindruck erwecken soll, hier sei der ner die Verantwortung; die Verantwortung tragen eine mehr für den Frieden als der andere. allein unsere gemeinsamen Gegner. Darf man noch davon sprechen, daß dies unsere gemeinsamen (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Gegner sind? Das muß doch hier gesagt werden, Das ist nicht nur unwahr und beleidigend, sondern meine Damen und Herren. schädigt die Möglichkeiten Deutschlands im Aus- (Beifall bei der CDU/CSU.) land. Und deshalb, Herr Bundeskanzler, war Ihr Hinweis Es wird auch, Herr Bundeskanzler, Ihnen selbst darauf, daß die Mauer vor der Zeit Ihrer Regie- nicht gerecht. Denn Sie haben doch nicht nur als rung gebaut worden sei, völlig überflüssig. Regierender' Bürgermeister von Berlin am 10. Okto- (Zurufe von der SPD.) ber 1963 die Ehrenbürgerrechte der deutschen Haupt- stadt an Konrad Adenauer wegen dessen Verdienste Das ist doch ein Stil, als wenn wir fragten, wie da- um Berlin verliehen, sondern Sie haben am 27. Mai mals eigentlich in Berlin die Mehrheits- und Regie- 1970 im Bundestag von dieser Stelle aus als Bundes- rungsverhältnisse gewesen sind. Nein, ich sage noch kanzler gesagt, daß Sie nach dem Einblick in die ge- einmal: Keiner im Westen, sondern allein die jeni- heimen Akten tief beeindruckt seien von dem Mut gen tragen die Verantwortung, die unserem Volk und dem Ernst, mit dem Kanzler Adenauer nach mit Gewalt das Recht auf Freizügigkeit und Selbst- dem Vorbild der deutsch-französischen Aussöhnung bestimmung vorenthalten. 9754 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Dr. Barzel Es ist auch unwahr — dies wird draußen behaup- Das, meine Damen und Herren, ist wohl nicht zu- tet, nicht von jemandem in diesem Hause in dieser mutbar. bisherigen Debatte, aber das muß gesagt werden —, - wenn man die deutsche Spaltung als die direkte Aber das Wichtigere ist, daß Sie heute zweimal Folge des Zweiten Weltkrieges darstellt. Wahr ist, aus Verhandlungsprotokollen vorgelesen haben. daß Stalin und seine Helfer in ihrer Besatzungszone Sie haben beide Male nur vorgelesen, was Sie aus- die Abspaltung dieses Teils nicht gegen Hitler, son- geführt haben. Wir bestreiten nicht, daß Sie das dern gegen antifaschistische Demokraten gesagt haben mögen. Aber was haben eigentlich Ihre Gesprächspartner darauf geantwortet? Das hät- (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sehr rich ten wir doch gern gewußt. tig!) (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) der SPD, CDU und LDP erzwungen haben. Das muß festgehalten werden. Wenn Sie diese Teile vorlesen, warum geben Sie uns nicht Einsicht in das Ganze? Warum steht das (Beifall bei der CDU/CSU.) nicht im Vertrag, was Sie hier sagen? Und warum sagen Sie mir, die wichtigste Frage hätte ich vor Und das zweite: Unsere Sicherheit und unsere Freiheit hängen — mit diesem oder ohne dieses zwei Jahren gestellt, als ich fragte, ob die Sowjet- union bereit sei, die Vertragswerk — allein vom westlichen Bündnis ab. Politik der friedlichen Wieder- vereinigung nicht mehr als „agressiv" Zu betrachten, (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) sondern sie als eine Politik des Friedens zu betrach- Nur dieses Bündnis macht den Frieden sicher, und ten; dies sei das Wichtige? Sie haben es eben noch es ist anmaßend, zu behaupten, irgendetwas ande einmal bestätigt. res als dieses Bündnis mache den Frieden „sicherer". Nun, Herr Außenminister, können Sie das nach (Beifall bei der CDU/CSU.) Ihren Verhandlungen wirklich sagen, wo Sie doch im Bundesrat gesagt haben, der Gewaltvorbehalt Das Bündnis und die Freundschaft gelten der Demo- der Sowjetunion, den ich für eine illegale An- kratie in Deutschland. Und zur Demokratie gehört maßung halte, sei nur „überlagert"? Für welchen das Recht, in Freiheit ja oder nein zu sagen. Fall ist er überlagert? (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.) Niemand wird draußen deutscher sein als die Deut- Das ist doch die Frage, auf die hier nachher in der schen selbst. Jeder wird respektieren, wie wir selbst Debatte noch im einzelnen eingegangen werden uns entscheiden. Niemand im Westen mischt sich in muß. unsere inneren Angelegenheiten ein; jeder sagt, dies zu entscheiden sei allein unsere Sache. Herr Kollege Scheel, Sie haben die Gelegenheit (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) benutzt, die Auffassung der Opposition in einer Weise darzustellen, die nicht zutreffend ist. Sie Wer gleichwohl — hier oder im Lande — anderes haben gesagt, für uns sei allein das Berlin-Abkom- verbreitet, stellt seiner Wahrheitsliebe und seinem men der Maßstab, und daran hielten wir uns nun Demokratieverständnis ein schlechtes Zeugnis aus. nicht. Darf ich dem Hause noch einmal mit Genehmi- (Beifall bei der CDU/CSU.) gung des Herrn Präsidenten unsere Stellungnahme zum Vertragswerk vom 10. August 1970 wie folgt Meine Damen und Herren, der Kollege Scheel in Erinnerung rufen: hat einige Punkte genannt, die gleich berichtigt werden müssen. Von Anfang an haben wir die Bemühungen u m die schnellere und vollständigere Vereinigung (Lachen bei Abgeordneten der SPD. — Zu des freien Europas und die um Ausgleich mit ruf von der SPD: Schulmeister!) den Staaten Mittel- und Osteuropas als Ein- Zunächst sprach er davon, daß die Opposition nicht heit angesehen. Auch die Bemühungen der Bun- mit nach Moskau gefahren sei, obwohl er sie ein- desregierung um die Festigung des Freien geladen habe. Sie wissen selbst, Herr Kollege Berlins, die Verbesserung der Lage in ganz Scheel — und dies hat in einer früheren Debatte, Deutschland, die beabsichtigten Verträge mit auf die ich Bezug nehme, eine Rolle gespielt-, der Sowjetunion, mit Polen und der Tschecho- daß der Brief, mit dem Sie uns einluden, slowakei haben wir immer im Zusammenhang beurteilt. Auch daran halten wir fest. Deshalb (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Eine Aus hatten wir der Bundesregierung empfohlen, die ladung war!) Unterschrift unter einen paraphierten deutsch- einer Ausladung näherkam als einer Einladung, sowjetischen Vertrag erst zu leisten, wenn in den anderen Bereichen, vor allem hinsichtlich (Sehr wahr! bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD) Berlins und der innerdeutschen Probleme be- friedigende Lösungen vorliegen. weil es darum ging, auf der Basis des Bahr-Papiers Wir bleiben bei „und der innerdeutschen Probleme", — das war doch der fertige Vertrag, und die Exi- Sie nicht; wir kommen darauf zurück. stenz dieses Papiers hatte man doch geleugnet — uns mitzunehmen, aber nicht einmal als Angehö- (Beifall bei der CDU/CSU.) rige der Delegation. Der Bundeskanzler hat von Berlin gesprochen. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Dieses Abkommen liegt hier nicht zur Zustimmung Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode - 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9755

Dr. Barzel vor. Ob Ihre Hoffnungen, Herr Bundeskanzler, sich über 1969. Schließlich läßt sich die grausame Tat- in diesem Zusammenhang bestätigen werden, wird sache nicht übersehen, daß die Zahl der Opfer des man sehen. Dies ist. auch die Einstellung der Ber- Schießbefehls wieder gestiegen ist. 1969 fielen dem - liner. Daß Sie sich aber hier soeben zum Fürsprecher Schießbefehl und den Minen zwei Menschen, 1970 der sowjetischen Auffassung über den Zusammen- drei Menschen und 1971 acht Menschen zum Opfer. hang zwischen einer Ratifizierung des Moskauer Niemand wird die Schuld an dieser Mißachtung Vertrages und der Unterzeichnung des Berlin-Ab- der Menschenrechte irgendeinem hier im Hause zu- kommens gemacht haben, Herr Bundeskanzler, wirft schieben wollen. Aber ein Bericht zur Lage der Lichter auf Ihre Politik, für die Sie allein die Ver- Nation im gespaltenen Deutschland kann doch an antwortung tragen. diesen unfriedlichen Tatbeständen nicht vorbei- (Beifall bei der CDU, CSU.) gehen. Im Viermächteabkommen steht das anders. Und des- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) halb wird manch einer in den westlichen Haupt- Meine Damen und Herren, wir haben der Kaoli- städten kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen, was tion oftmals die gemeinsame Deutschlandpolitik an- Sie hier heute sagten, zumal mir in westlichen geboten und als deren Inhalt die sehr konkrete und Hauptstädten immer wieder versichert wird, das substantielle gemeinsame Entschließung des Deut- Berlin-Abkommen und das hier vorliegende Ver- schen Bundestages vom 25. September 1968 bezeich- tragswerk seien zwei getrennte Dinge, das eine sei net, der die CDU/CSU und die SPD zugestimmt ha- die Sache der Vier Mächte, das andere sei die Sache ben, die FDP damals in einem Punkt nicht. Diese der Deutschen; und darüber frei zu entscheiden, sei gemeinsame Basis für die Deutschlandpolitik, die für allein unsere Sache. Es sollte hier niemand unge- uns — und wohl auch für die Sozialdemokratie — ziemende Zusammenhänge zu erzeugen sich be- die Basis unserer Wahlkampfaussagen war, ist nach mühen. den Bundestagswahlen verlassen worden. Es hat Wenn der Herr Bundeskanzler im Bereich der niemanden befriedigt, als der Herr Bundeskanzler innerdeutschen Beziehungen ebenso wie der Kollege hier im Hause auf die Frage, warum er diese Basis Scheel einige Verbesserungen konkret bezeichnet verlassen habe, am 16. Januar 1970 erklärte, inzwi- hat, nämlich die Passierscheine, die 150 Telefon- schen seien doch Wahlen gewesen. leitungen und die Postvereinbarungen, dann an- Zu unserer ostpolitischen Alternative, nach der erkennen wir das natürlich. Aber, Herr Bundeskanz- der Kollege Scheel gefragt hat, gehört also erstens ler, glauben Sie nicht mit uns, daß dieser Bericht — und dies hat, glaube ich, einen sehr guten Grund überzeugender wäre, wenn Sie neben diesem spär- — das Bemühen um eine gemeinsame Deutschland- lichen Lichtschimmer den überwiegenden Schatten politik von Koalition und Opposition und zweitens ebenso konkret in einem Lagebericht über die Nation unsere Bindung an das gegebene Wort. Wir gaben im gespaltenen Deutschland bezeichnet hätten? es durch unsere Zustimmung zu der gemeinsamen (Beifall bei der CDU/CSU.) Entschließung, von der ich sprach. Nicht wer sein Wort hält, wer es verändert oder bricht, hat die Herr Bundeskanzler, warum verschweigen Sie Folgen zu verantworten. und Ihre Regierung diese Tatsachen, die ich nun in die Debatte einführen muß, weil sie sonst ja nicht Herr Bundeskanzler, Sie haben diese Politik gegen eingeführt werden? Im Jahre 1969 waren 64 Grenz- unseren Rat betrieben und bewußt die mögliche Ge- verletzungen durch DDR-Organe zu verzeichnen, meinsamkeit nicht gewollt. Als Sie die Verträge un- 1971 waren es 87. Fünfmal schossen die Uniformier- terschrieben, wußten Sie vorher, wie ungewiß und ten 1969 über die Grenze auf unser Gebiet, 1970 und wie unsicher die parlamentarische Rückendeckung 1971 allein 26mal. war. Ihr Beitrag, Herr Kollege Scheel, von eben hat (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Lage diese Rückendeckung sicherlich nicht sicherer ge- der Nation!) macht. (Beifall bei der CDU/CSU.) Die Zahl der Betonbunker an der Demarkationslinie mitten durch Deutschland hat sich seit 1969 fast ver- Also — so ist es das Gesetz der parlamentarischen vierfacht. Sie stieg von 40 auf 154. Der Metallgitter- Demokratie — stehen Sie nun dafür ein, allein mit zaun wurde um 200 km auf insgesamt 494 km ver- denen in diesem Hause, die Ihnen auch hierbei noch längert. Von 1970 auf 1971 wurde die verminte folgen wollen. Grenzstrecke von 747 auf 802 km verlängert. Im Wir gehen davon aus, daß die Sowjetunion -- innerdeutschen Personenverkehr einschließlich des aus welchen Gründen auch immer — seit einiger Berlin-Verkehrs gab es 1969 73 Verhaftungen. Die Zeit auch der Bundesrepublik Deutschland gegen- Zahl erhöhte sich 1970 auf 134, und 1971 wurden über gesprächsbereiter ist. Diese Bereitschaft hat sogar 209 Menschen von DDR-Organen verhaftet. die gegenwärtige Bundesregierung schlecht genutzt, (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das ist die da sie sich, wie mein Kollege Schröder jüngst zu- Realität!) treffend betonte, „bei den Vertragsverhandlungen mehr vom Wunsch nach baldigem Abschluß als von Seit 1969 hat sich die Zahl also fast verdreifacht. Die der Entschlossenheit zur Wahrnehmung der deut- Zahl der zeitweise Festgehaltenen im innerdeutschen schen Interessen" leiten ließ. Personenverkehr stieg von 46 im Jahre 1969 auf 115 im Jahre 1970 und erreichte 1971 die Höhe von 220. (Beifall beider CDU/CSU. — Zurufe von Das bedeutet also fast eine Verfünffachung gegen der SPD.) 9756 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn,. Mittwoch, den 23 Februar 1972 Dr. Barzel Wir halten fest, daß die Gespräche über Berlin der Informationen und der - Meinungen. Denn wo wie die mit der Sowjetunion zur Zeit der Regie- diese Freizügigkeit besteht, wo man sich kennt, wo rung Kiesinger eingeleitet wurden. Deshalb, Herr Grenzen offen sind, da hat nicht der Krieg, -sondern Kollege Scheel, ist kein Raum für die Polemik, als da — und ich fürchte: nur da — hat der Frieden sei hier jemand, der überhaupt nicht sprechen oder dauerhaft seine Chance. keine Verträge wolle. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Deshalb kann man vom Frieden nicht nur sprechen, Nur: wir hatten und haben auch dabei einige sondern er muß real sein, greifbar für die Men- Grundsätze, die unsere Politik nach allen Himmels- schen, er darf nicht nur auf dem Papier stehen. richtungen leiten, Grundsätze, von deren Qualität und Unverzichtbarkeit wir so überzeugt sind — und (Zustimmung bei der SPD.) gerade mit dem Blick auf das Schicksal unserer Gewaltverzicht auf dem Papier und bleibender Generation, Herr Kollege Scheel, und gerade mit Schießbefehl in der Wirklichkeit, das ist einer der dem Blick auf die Erfahrungen der 30er Jahre so Widersprüche und eine der Realitäten, die wir nicht überzeugt sind —, daß wir uns diese Grundsätze mitmachen können und wollen. für keinen Preis abhandeln lassen. Der zentrale Maßstab, der unser Urteil zu allen Fragen der Poli (Beifall bei der CDU/CSU.) tik bestimmt, lautet: Wir wollen Fortschritt, und Entspannung heißt doch, daß beide Seiten einan- der ist nur dort gegeben, wo die Menschen, nicht der entgegenkommen. Ausgleich gibt es nur bei die Apparate, etwas davon haben, Geben u n d Nehmen. Dauerhaft ist doch nur, was (Zustimmung bei der CDU/CSU) die Zustimmung der Völker, vor allem aber die wo also die Menschenrechte und ihre soziale Basis der getroffenen findet; das ist doch das Entschei- alltagswirksam gestärkt werden. dende! Das sind Gedanken, die auch in dem Entwurf der CSU, den der Kollege Außenminister versucht (Beifall bei der CDU/CSU.) hat — ohne ihn zu nennen — etwas zu kritisieren, Also ist, um das auf dieses Gebiet anzuwenden, als Diskussionsgrundlage ihren Ausdruck linden. Entspannung — die wir wollen — nur dort, wo So muß die der Weg zum Selbstbestimmungsrecht erleichtert Friedens- und Entspannungspolitik, und Freizügigkeit für Menschen, Informationen und diesen Namen verdient; eben frei sein von Macht- Meinungen immer mehr zur greifbaren Wirklichkeit denken und Hegemonie und muß aufbauen auf dem werden. beiderseitigen Willen zur Aussöhnung wie auf der gegenseitigen Achtung der elementaren Rechte und Wir halten es — dies ist auch für uns prinzi- Sicherheitsbedürfnisse aller Beteiligten. Dazu muß piell — nicht für ausreichend, Politik mit dem Blick treten ein System bedingungsfreien Gewaltverzichts, in die Vergangenheit zu machen. Bei der Aus- gegenseitiger Rüstungskontrolle und ausgewogener söhnung nach Westen, Süden und Norden waren Abrüstung sowie ein System der vermehrten und wir weder Gefangene der bösen Vergangenheit, verbesserten Zusammenarbeit auf allen Gebieten noch waren wir zufrieden mit Formeln, gar noch mit der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Kultur und zweideutigen. Wir haben gelernt, Verträge erst ab- vor allem der unbehinderte menschliche Kontakt zuschließen, nachdem man — hin und her — ge- über alle Grenzen hinweg. Eine solche reale und lernt hatte, sich besser zu vertragen, und dann solide Friedens- und Entspannungspolitik muß dann Verträge nur abzuschließen, in denen konstruktive auch in eine Beziehung gesetzt werden zu der uns Bauelemente für eine bessere Zukunft verbindlich moralisch und verfassungsrechtlich gebotenen For- niedergelegt sind. derung nach Wiederherstellung der deutschen Ein- heit auf der Grundlage des Selbstbestimmungs- (Beifall bei der CDU/CSU.) rechts. So und nicht anders kam es zur deutsch-französi- schen Freundschaft, zur Lösung der Saarfrage, zu Wir sehen, meine Damen und Herren, durchaus den Europäischen Gemeinschaften, zu konstruktiven die Realität „DDR" und die wirkliche Lage. Nur: zukunftsträchtigen Regelungen also, zu Lösungen — So, wie sie ist, ist sie für uns nicht annehmbar. nicht zu Formeln, welche zwar immer die Ver- (Beifall bei der CDU/CSU. - Zurufe von gangenheit kannten, aber eben deshalb darauf be- der SPD.) standen, Bauelemente einer besseren Zukunft ver- bindlich zum Vertragsinhalt zu machen, um allen Wir wollen im anderen Teil Deutschlands keine den Rückfall in die Vergangenheit unmöglich wer- Hoheitsrechte in Anspruch nehmen. Aber wir wol- den zu lassen. len, daß — auch für die Zeit der Teilung Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU.) lands — Bedrohung und Behinderung der Freizügig- keit auf dem Wege von Deutschland nach Deutsch- Unsere Generation hat auch gelernt — Sie haben land entfallen. Wir verstehen unter Lösung der das angesprochen, Herr Kollege Scheel —, daß deutschen Frage weder Anschluß noch Eingliede- Krieg und Gewalt am ehesten dort drohen, wo rung der „DDR", sondern einen geschichtlichen Volksverhetzung möglich ist. Deshalb muß nach Prozeß, an deren Ende das Recht zur Selbstbestim- unserer Überzeugung eine reale und solide Frie- mung sich durchsetzt. Die einzelnen Stationen da- denspolitik eben Grenzen öffnen — nicht zemen- von — das muß hier eigentlich jeder sagen — kann tieren für den freien Austausch der Menschen und heute keiner absehen. Aber heute dürfen wir doch Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9757

Dr. Barzel den Weg dahin nicht verbauen. Das tut dieses Ver- Ich wiederhole deshalb aus gutem Grund von die- tragswerk! ser Stelle aus, worin sich Mitglieder der sowjeti- (Lebhafter Beifall beider CDU/CSU.) schen Führung mit mir einig waren und was wir im Dezember 1971 in Moskau so festgestellt haben: Dabei ist für uns selbstverständlich, daß wir dabei immer — das braucht uns hier keiner zu sagen — Friede und Zusammenarbeit an den europäischen Ansatz unserer Politik, auch - so sagten beide - an das Wohl und die Sicherheit unserer europä- sind Hauptaufgaben unserer Zeit. Gegenseitiger ischen Nachbarn denken. Aber keinem Nachbarn Gewaltverzicht ist notwendig. Der wirtschaft- wäre doch gedient, wenn Deutschland etwa krank liche, wissenschaftliche und kulturelle Aus- würde, weil man ihm die Hoffnung und das natür- tausch muß und kann verbessert werden. liche Recht raubt, eines Tages als Volk geeint dem Frieden der Welt dienen zu können! Wer — für den Fall der Ablehnung der Verträge — ein „Desaster" an die Wand malt — wie dies auch Häufig haben wir hier erklärt, daß wir im Inter- Herr Kollege Scheel soeben zu tun beliebte —, der esse der Versöhnung und des Friedens zu Leistun- unterstellt damit der Sowjetunion Absichten, welche gen, auch zu schmerzlichen Leistungen, bereit seien, diese selbst weit von sich weist. (Zuruf von der SPD: Welchen?) (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von wenn die Grenzen für die Menschen erträglicher, die der SPD.) Systeme humaner und die Minderheiten geschützt Wir befürchten ein solches „Desaster" nicht — nicht werden, wenn alle Benachteiligungen der Menschen nur, weil das Bündnis den Frieden sichert und die wegen Religion, Sprache, Nation oder Meinung Demokratie, also das unbeeinflußte Recht, ja oder durch eine europäische Charta verbannt würden. nein zu sagen, sondern ebenso, weil den sowjeti- Wir haben Sie, Herr Bundeskanzler, bei der ersten schen Staatsmännern unsere Position im einzelnen Debatte über Ihre erste Regierungserklärung einge- genau bekannt ist und man es dort als Verleumdung laden, diesen Punkt aufzunehmen und ein euro- zurückweist, uns etwa jetzt oder künftig zu bedro- päisches Sicherheitssystem nicht leiten zu lassen hen. Man weiß in Moskau — wie in Washington, von der Sicherheit von Staaten oder Generalstäben, und Paris — sehr gut, daß das Vertrags- sondern von der Sicherheit menschenwürdigen Le- werk für uns als ein Modus vivendi zustimmungs- bens im Alltag. fähig werden könnte, und zwar durch drei Punkte: (Beifall bei der CDU/ CSU.) durch eine positive Einstellung der Sowjetunion Das, scheint mir, ist der richtige Bezugspunkt. 1. zur Europäischen Gemeinschaft, Wir haben ebenso verbindlich erklärt — und das durch die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts bleibt unsere Überzeugung —, daß wir den Status 2. quo mit all seinen Behinderungen der Versöhnung in das Vertragswerk sowie und des Friedens, alles das also, unter dem die 3. durch die verbindlich vereinbarte Absicht, in Menschen leiden — Zensur und Reiseverbot, Berufs- Deutschland Freizügigkeit stufenweise herzu- beschränkung, Informations-Manipulation und Mei- stellen. nungsterror, Unterdrückung der Arbeitnehmerrechte (Beifall bei der CDU/CSU.) wie der religiösen und politischen Freiheit —, nie Diese drei Punkte gehören zusammen. Sie sind eine anerkennen oder zementieren würden, denn wir Einheit. Und man weiß, daß diese Position für uns haben dies doch alle selbst unter Hitler erlebt, und auch morgen gelten wird, sei es, daß andere darauf einmal Hitler reicht für alle Zeiten. zurückkommen wollen, sei es, daß die Seiten der (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) demokratischen Verantwortung hier wechseln. Die herausragenden Punkte dieser Alternative, die (Zurufe von der SPD.) hier noch einmal in Erinnerung zu rufen ja die Bitte Die Bundesregierung legt, entgegen ihren eigenen der Regierung war, sind also sämtlich auf eine Vertrags- bessere Zukunft gerichtet. Sie heißen: Frieden durch früheren verbindlichen Erklärungen, ein Gewaltverzicht und durch Menschenrechte; wach- werk zur parlamentarischen Zustimmung vor, das sende Einheit Europas;-Selbstbestimmungsrecht und unvollständig ist, weil es den Kern der Probleme, die Freizügigkeit. Dabei wissen wir natürlich, daß Stu- Lage der Deutschen in Deutschland, weder regelt fen nicht scheuen darf, wer das Ziel erreichen will, noch löst. Wer Grenzfragen beantworten will, muß wie auch, daß Leistung und Gegenleistung ausge- die Grenzen für die Menschen erträglicher machen. wogen sein müssen. Das geschieht durch dieses Vertragswerk nicht. In den Verträgen fehlt die Verpflichtung beider Seiten, Diese Alternative, die ich hier in groben Stücken die von ihnen beabsichtigte Politik, insbesondere den in die Erinnerung gerufen habe, ist zugleich der Gewaltverzicht, auch in eine Beziehung zum Selbst- Maßstab für unser Urteil über die Politik der Koali- bestimmungsrecht des deutschen Volkes zu setzen. tion. Allein diese Bundesregierung — ihre Fehler und ihre Unterlassungen. — ist Gegner in dieser Schließlich muß das Vertragswerk im Zusammen- Debatte; allein diese Bundesregierung, nicht die hang mit der Europapolitik und mit der Weigerung Verantwortlichen in den Hauptstädten des Aus- der Sowjetunion, die Europäischen Gemeinschaften lands, zu akzeptieren, gesehen werden. Das Vertragswerk (Sehr gut! bei der CDU/CSU) gefährdet angesichts dieser fortbestehenden Weige- auch nicht in Moskau. rung die Grundlagen unserer europäischen Politik. 9758 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Dr. Barzel Es verändert das europäische Gleichgewicht zu- hängt ganz überwiegend davon ab, daß wir mit ungunsten des freien Europa. energischen Schritten das Ziel erreichen: die Euro- päische Gemeinschaft. „Wenn die Wiedervereinigungspolitik nicht mehr - vertreten wird, wird sich die Lage in Europa ändern, Diese Gemeinschaft ist gegen niemanden gerich- wird die Bundesrepublik Deutschland den Sowjets tet. Es ist bekannt, daß wir und wie wir das Ver- auf die Dauer keinen Widerstand leisten können." hältnis der Europäischen Gemeinschaft zu den USA Dies ist ein Satz, gesprochen von Konrad Adenauer ordnen wollen, und in Mittel- und Osteuropa weiß in seiner vorletzten Kabinettssitzung am 2. Oktober man, daß wir bereit sind, mit diesen Ländern die 1963. Und das stimmt heute noch. Wenn wir näm- wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammen- lich aufhören, wie es die Bundesregierung tut, von arbeit zu vermehren, einen multilateralen Zahlungs- der Wiedervereinigung zu sprechen, die Kommu- ausgleich einzurichten und einen Kooperationsaus- nisten aber an diesem Ziel festhalten, wie sie es tun, schuß zu bilden. dann wird sich der stärkere und konsequentere, der Für uns ist Außenpolitik der Bundesrepublik beharrlichere Wille durchsetzen. Deutschland nicht anders denkbar und verantwort- (Beifall bei der CDU/CSU.) bar als in den Formen der Bündnispolitik und der Integration. Wir kennen keine moderne und fried- Meine Damen und Herren, bevor ich zu diesen lichere Form einer Außenpolitik als diese. Wir ken- drei Punkten im einzelnen komme, möchte ich noch nen keinen verständigeren und fortschrittlicheren eine persönliche Bemerkung einschieben. Umgang mit der konkreten Souveränität. Wir haben im Landtagswahlkampf in Baden-Würt- Wenn gleichwohl die amtliche Moskauer Politik temberg gesehen, daß die Sozialdemokraten dort in das alles nicht nur ablehnt und eine bewußte Politik diesen Fragen eine Werbung betreiben, wie ich sie der Nichtanerkennung der EWG betreibt, sondern eingangs charakterisiert habe. Inzwischen wird ge- ausdrücklich den Zusammenschluß der freien Län- sagt, wer Christ sei, müsse diese Politik der Bundes- der Europas bekämpft, dann können wir, weil das regierung unterstützen. An vielen Stellen kommen für uns so fundamental ist, weder an dieser Tatsache zu den Diskussionen junge Menschen, die mit gro- vorbeigehen noch sie bagatellisieren, wie es diese ßem Ernst die gleiche Frage stellen. Die Frage lautet Bundesregierung tut. etwa so, und sie gehört, glaube ich, in diese De- (Beifall bei der CDU/CSU.) batte: Deutschland, so sagen sie, habe den Krieg be- gonnen und verloren und anderen viel Unrecht zuge- Meine Damen und Herren, die feindselige — die- fügt. Deshalb sei es eine moralische Pflicht, dies ein- ses Wort ist leider angebracht — Haltung der zugestehen und eben deshalb ohne Vorbehalte und Sowjetunion gegenüber der EWG macht deutlich, ohne Gegenleistungen die DDR anzuerkennen. So daß man in Moskau keineswegs bereit ist, alle ungefähr lautet der Diskussionsbeitrag, den wir europäischen Realitäten anzuerkennen. Sie macht immer wieder hören. deutlich, daß man dort an der Uneinigkeit der freien Länder interessiert bleibt. Wir müssen hinzufügen: Beidem vermögen wir - und wir nehmen den alle langfristigen Vorhaben, die wir wollen, zum Ernst ab, der in diesen Worten liegt — nicht zu fol- Ausbau des Handels, zur wirtschaftlichen und wis- gen. Denn hier wird mit zu leichter Hand über ande- senschaftlichen Zusammenarbeit mit den Ländern rer Menschen Schicksal geredet. Ost- und Mitteleuropas sind nur mit der EWG und (Beifall bei der CDU/CSU.) nicht gegen sie möglich; denn diese Gemeinschaft hat bereits eigene Zuständigkeiten. Hier wird entschieden, ohne daß die Menschen drü- ben selber — und die wären doch zunächst zustän- Meine Damen und Herren, wer nun die von der dig — dazu auch nur ihre Meinung haben sagen Sowjetunion konzipierte und von ihr so sehr ge- können. Ich glaube, die Tatsache, daß man verlangt, wünschte gesamteuropäische Konferenz will, der einige sollten wiedergutmachen, was wir alle zu ver- muß sich eben darauf einrichten, dort entweder der antworten haben, heißt doch: den Nächsten sitzen EWG als Teilnehmerin zu begegnen oder konkrete lassen oder aus anderer Tasche bezahlen. Das hat, Fragen der zivilen Zusammenarbeit dort nicht wie ich meine, keinen Anspruch, geschichtlich oder erörtern zu können oder diese Konferenz nicht moralisch als ernsthaftes Argument gewogen zu wer- stattfinden zu lassen. Denn an der EWG vorbei ist den. Dies wollte ich hier als eine persönliche Bemer- hier nichts mehr zu machen. Sollte die EWG dort kung dazwischenschieben. nicht in Erscheinung treten dürfen, dann wäre ein Stück westlicher Solidarität zerstört zugunsten eines Ich komme nun zu den drei Punkten unserer Stel- gesamteuropäischen Traumes. lungnahme im einzelnen, zunächst zu Europa. Wir (Beifall bei der CDU/CSU.) müssen noch einmal betonen — das ist für dieses Haus nichts Neues, aber es muß noch einmal gesagt Nun weigert sich die Sowjetunion nicht nur die werden, weil der Herr Außenminister eine etwas EWG anzuerkennen, sie zu akzeptieren oder mit merkwürdige Begründung in einem Punkt gegeben ihr zusammenzuarbeiten, sondern sie bekämpft die hat, in anderen auch, aber hier besonders -: Die EWG, um sie durch eine gesamteuropäische Organi- politische und wirtschaftliche Vereinigung der freien sation zu ersetzen. Damit steht man in Moskau nicht Länder Europas ist für uns, für unsere Nachbarn, für nur weit hinter dem Realitätssinn der Chinesen zu den Frieden in Europa und in der Welt lebensnot- rück, sondern dem Wunsch aller Europäer im Wege, wendig. Unser Fortschritt vom Wirtschaftswachstum die mehr Austausch und Begegnung von Ost nach über die Gesellschaftspolitik bis zur Bildungspolitik West wie von West nach Ost wollen. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9759 Dr. Barzel Meine Damen und Herren, auch wir gehen natür- Meine Damen und Herren, solche Fragen wären lich davon aus — um eine Kritik von draußen jetzt überhaupt nicht zu stellen, wenn im Vertragswerk aufzunehmen , daß die Haltung der Sowjetunion selber das enthalten wäre, was ausdrücklich Inhalt gegenüber der Europäischen Gemeinschaft nicht Ge- des Abkommens mit der Sowjetunion vom 13.- Sep- genstand dieser Vertragstexte sein kann. Aber die tember 1955 war. Konrad Adenauer und Bulganin Bundesregierung hätte, so meinen wir, als eine der waren übereingekommen — ich zitiere, und zwar notwendigen Gegenleistungen, zumindest als eine nicht aus einem Brief, der irgendwie das Tageslicht den Vertrag begleitende politische Absichtserklä- zu scheuen hat, sondern aus einem Abkommen, das rung — es gibt doch deren so viele —, die Zusage von beiden ausdrücklich unterschrieben wurde —: der Sowjetunion erstreben und erreichen müssen, daß die Herstellung und Entwicklung normaler mit der EWG zusammenarbeiten zu wollen. Ohne Beziehungen zwischen der Bundesrepublik diese Zusage hätte die Bundesregierung, wie wir Deutschland und der Sowjetunion zur Lösung sehr nachdrücklich meinen, sich niemals verpflichten der ungeklärten Fragen, die das ganze Deutsch- dürfen, dafür einzutreten, daß der sowjetische Plan land betreffen, beitragen wird und damit auch einer gesamteuropäischen Konferenz beschleunigt zur Lösung des gesamten nationalen Haupt- verwirklicht wird. problems des deutschen Volkes — der Wieder- (Beifall bei der CDU/CSU.) herstellung eines deutschen demokratischen Damit ist ein Stück des deutschen Gewichts in eine Staates — verhelfen wird. Waagschale geworfen, das wir in der Waagschale Der jetzt vorliegende Vertrag enthält nicht nur der Beschleunigung des Zusammenschlusses des nichts zur Frage des Selbstbestimmungsrechts und freien Europa sehen wollen. der Wiedervereinigung, sondern er beendet aus- Diese gesamteuropäische Konferenz ist doch nur drücklich die eben zitierte vertragliche Verpflich- dann nützlich und sinnvoll, wenn sie frei ist von tung. Zum Beispiel hier haben Sie, Herr Bundes- allen Absichten, etwa die Europäische Wirtschafts- kanzler, der Sie uns immer sagen, Sie hätten nichts gemeinschaft oder das Bündnis zu beeinträchtigen, aufgegeben, hier haben Sie konkret etwas auf- zu zerstören oder zu ersetzen. Wir haben leider gegeben, nämlich die gemeinsame Verpflichtung mit allen Anlaß, davon auszugehen, daß diese Absicht der Sowjetunion, Deutschlands Einheit herzustellen. bei den Initiatoren der Konferenz verstärkt besteht. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Deshalb sagen wir zu diesem Thema, das hier Marx [Kaiserslauern] : Leider wahr!) angesprochen ist: Eine gesamteuropäische Konfe- renz darf nicht Rivalität und Spaltung festigen, So fehlen — und bei dieser Vorgeschichte ist das sondern muß konkret zur Versöhnung beitragen, Fehlen jetzt natürlich eine besonders bedeutende die Zusammenarbeit verbessern und die freieren Tatsache — die Einbeziehung des Selbstbestim- Begegnungen durch alle Grenzen ermöglichen. Bei mungsrechts und das Ziel der Wiedervereinigung Teilnahme der USA, Kanadas und der EWG, bei im Vertrag. Dieser Mangel wiegt schwer. Die vier guter Vorbereitung und einer Tagesordnung mit Interpretationen, die dazu veröffentlicht wurden, konkreten Punkten wären wir bereit, eine europä- heilen ihn nicht, sondern machen ihn noch schlim- ische Sicherheitskonferenz zu unterstützen. Aber mer. wir lehnen es ab, durch eine solche Konferenz etwa Ich stimme dem früheren Generalsekretär der zu einer sachlich unbegründeten Euphorie der Ent- NATO, Brosio, zu, der kürzlich, am 20. September spannung beizutragen, an deren Ende es unmöglich 1971 — da war er noch im Amt —, in London im wäre, die Verteidigungsbeiträge zu erbringen. Des- Zusammenhang mit dieser Politik von einem „ho- halb würde an deren Ende die Selbstaufgabe des hen Preis" sprach; denn es sei — so sind seine Westens durch einseitige Abrüstung ebenso Worte — „kein Erfolg, wenn die Anwendung eines stehen wie die Möglichkeit der Sowjetunion, über der Grundprinzipien der freien Welt, nämlich des einen europäischen Sicherheitsrat Veto gegen die Rechts auf Selbstbestimmung der Völker, auf un- Politik der Vereinigung des freien Europa einzu- bestimmte Zeit verschoben wird". legen. (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, wir werden also an Dies ist das Wort eines erfahrenen Diplomaten. der Haltung der Sowjetunion zur Frage der EWG Nun hat zwar die Bundesregierung in ihrer Ant- feststellen können, ob sich bei ihr der Wille zur wort auf die Große Anfrage, die später eine Rolle Zusammenarbeit so stark durchgesetzt hat, daß sie spielen wird, dazu ein paar Worte gefunden, die, wenigstens an dieser Stelle dem Willen nach Vor- wenn sie im Vertrag stünden, uns erfreuen würden. herrschaft hier einmal nicht den Vorrang gibt. Aber sie stehen eben nicht im Vertrag, Der zweite Punkt betrifft das Selbstbestimmungs (Abg. Stücklen: Das ist es ja!) recht. Die zentrale Frage dieses Vertragswerks ist, und es gibt dafür auch keine Bestätigung der ob es nur beschreibt oder ob es festschreibt, ob es, Sowjetunion. Deshalb soll sich hier niemand dar- wie man überall in der Welt hört, eine endgültige über hinwegtäuschen, daß in diesem Vertragswerk Regelung oder nur eine vorläufige Regelung, also nun nicht nur das eine herausoperiert ist, sondern einen Modus vivendi, enthält. Die Frage heißt, ob daß eben jeder Hinweis auf die wirkliche Realität aktive Deutschlandpolitik möglich bleibt oder ob sie fehlt, nämlich die, daß es unverändert ein deutsches etwa aus dem Bereich der praktischen Politik in den Volk gibt, das aus einer großen Kultur heraus lebt, der politischen Belletristik verschoben wird. das eine Sprache spricht, eine Vergangenheit hat 9760 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Dr. Barzel und den Willen zu einer gemeinsamen Zukunft hat. Das sind eben die zwei Wahrheiten, mit denen hier Das fehlt. gearbeitet wird: die eine für die Kommuniqués nach (Beifall bei der CDU/CSU.) außen, die andere hier im Innern, wo man von der Nation spricht durch den gleichen Kanzler, der zu Nun ist die Auffassung der Sowjetunion zu die- Beginn seiner Regierung sagte, von Wiedervereini- sen Fragen klar und eindeutig; sie ist uns gut be- kannt. Da ich mir aber diese Auffassung nicht zu gung zu sprechen habe er sich abgewöhnt. eigen mache, da ich hier nichts gegen die Inter- Sie haben Verträge geschlossen, in denen essen einer künftigen Deutschlandpolitik interpre- nur dasdas Recht auf Selbstbestimmung, sondern auch tieren werde, verzichte ich darauf, hier dazu mehr das Ziel der Wiedervereinigung weder genannt noch auszuführen. In den vertraulichen Ausschüssen gewahrt ist, in denen der illegale Gewaltvorbehalt wird das freilich geschehen müssen. Wir werden der Sowjetunion nicht beseitigt, sondern nur „über- dort, Herr Kollege Scheel, nicht nur mitteilen, was lagert" wird, in denen Sie der Sowjetunion gegen- wir, sowjetischen Gesprächspartner gesagt haben, über alle europäischen Grenzen garantieren — ein sondern auch, wenigstens dem Inhalt nach, die Ant- Ausflug in Großmannssucht mit ungeahnten Kon- wort, die dann gegeben worden ist. Dort werden sequenzen. Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Kollege Scheel, (Beifall bei der CDU/CSU.) uns allen reinen Wein einschenken müssen; denn Mit den Einlassungen des Außenministers sind die Verniedlichung, des Vertragsinhalts, so wie sie einige Fragen aufgeworfen, die vor der Schlußab- der Herr Außenminister im Bundesrat vorgenommen stimmung sicher für jedes Mitglied dieses Hauses hat, als er am 9. Februar 1972 diese Politik als „den klar und unmißverständlich werden beantwortet vertraglichen Gewaltverzicht auf der Grundlage des sein müssen. Es sind dies vier Fragen, die zu diesem territorialen Status quo, als Ausgangspunkt für Ent- Punkt hier gehören. spannung und Zusammenarbeit" charakterisierte, diese Verharmlosung grenzt an Verschleierung des Erstens. Hat die Sowjetunion endgültig und aus- Inhalts dieser Politik, die doch in der ganzen Welt schließlich darauf verzichtet, unsere Politik der fried- völlig anders verstanden wird. lichen Wiedervereinigung auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts künftig nicht mehr als (Beifall bei der CDU/CSU.) aggressiv zu bezeichnen? Wenn Sie dafür einen Zeugen brauchen, zitieren Sie auch dieses Wort des Herrn französischen Staats- Zweitens. Ist etwa das Fehlen jeder Bezugnahme präsidenten, Herr Kollege Scheel, damit hier alles auf die Lösung der deutschen Frage - anders als auf dem Tisch liegt. in früheren Verträgen — die Geschäftsgrundlage dieses Vertragswerkes? Ginge es nämlich um einen gegenseitigen Gewalt- verzichtsvertrag, um einen Gewaltverzichtsvertrag Drittens. Regelt etwa der Vertrag die Beziehungen mit dem Inhalt: wir wollen als Deutsche friedlich und Bonn—Moskau abschließend und ausschließlich und in Freiheit zusammenleben, und wir verzichten dar- so, daß dazu eben nun nichts mehr gehört, was mit auf, dieses Ziel mit Gewalt zu erreichen, so würden Deutschland als Ganzem zu tun hat? wir dem zustimmen, weil das unsere Politik ist. Viertens. Regelt etwa das Vertragswerk alles so, Einen solchen Vertrag haben doch frühere Regie- daß ein späterer Friedensvertrag das lediglich zu rungen vorgelegt. Aber die Politik dieser Regie- „bestätigen" haben wird? Oder ist etwa diese Auf- rung ist eben nicht nur, wie sie uns einzureden fassung irgendwann im Laufe der Gespräche, Unter- versucht, Gewaltverzichtspolitik, auch nur noch tem- haltungen oder Verhandlungen in - Moskau von porär „überlagerte", was die Sowjetunion betrifft, einem Mitglied dieser Regierung oder einem ihrer sondern sie ist etwas ganz anderes. Beauftragten erklärt worden? Die Antwort auf die Sie haben sich doch, Herr Bundeskanzler, ver- letzte Frage bedeutet zugleich - damit Sie wissen, pflichtet — das sind andere Dinge als Gewaltver- um was es hier geht — die Antwort zu Art. 79 des zicht die DDR als zweiten deutschen Staat in die Grundgesetzes. UNO zu bringen. Sie sind doch die Verpflichtung Über den dritten Punkt, die Freizügigkeit, haben eingegangen, die innere Souveränität der DDR an- wir einiges gesagt, und wir haben einen Stufenplan zuerkennen. Was heißt „innere Souveränität der vorgelegt, der sicher in der Debatte und in den Aus- DDR"? Das sind all jene Tatbestände, die wir vor- schüssen noch seine Rolle spielen wird. Wir glauben, her beklagten. Sie haben sich verpflichtet, das Mos- in einem verbindlich vereinbarten. mehrjährigen kauer Konzept der gesamteuropäischen Konferenz Ablauf könnte Stufe um Stufe für Freizügigkeit hin zu unterstützen. Dann haben Sie auf der Krim einem und her festgelegt werden. So sollte z. B. die Alters- Kommuniqué zugestimmt, in dem von der deut- grenze für Ost-West-Reisende jährlich gesenkt wer- schen Frage nicht mehr die Rede ist. Und als ich Sie den, bis in einer absehbaren Zeit auch junge Men- wegen der Kasseler 20 Punkte ansprach, dort fehle schen aus der - DDR in die Bundesrepublik Deutsch- das Selbstbestimmungsrecht, haben Sie dies zurück- land reisen können. Reisen in dringenden Familien- gewiesen, weil dort auf die Menschenrechte abge- angelegenheiten sollten in beiden Richtungen unbe- hoben sei. Wir haben gesagt: gut, wenn das so ge- hindert sein. Der Heirat von Personen aus beiden meint ist. Aber inzwischen haben Sie kein Kommu- Teilen Deutschlands sollten Hindernisse nicht mehr niqué mehr, in dem von den Menschenrechten und in den Weg gelegt werden. Und warum sollte es der ungelösten deutschen Frage die Rede ist, meine nicht möglich sein, in einer Form wie der der Ber- Damen und meine Herren. liner Passierscheine Wochenendbesuche Westdeut- (Beifall bei der CDU/CSU.) scher bei Verwandten in der DDR zu ermöglichen? Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9761 Dr. Barzel Entsprechend der gesenkten Altersgrenze der Ost- Wenn es richtig ist, daß die Sowjetunion eine

West-Reisenden sollten, wie wir meinen, Wochen- Phase der Entspannung in Europa ernsthaft will , so endbesuche von Besuchern aus Mitteldeutschland bei bedarf es auf unserer Seite der Klarheit und der ihren Verwandten in der Bundesrepublik' Deutsch- Beharrlichkeit in den eigenen Zielvorstellungen land möglich gemacht werden. Ein derartiges zu ver- und einer nervenstarken Geduld, um auch mit der einbarendes Stufenprogramm böte durch verbürgte DDR über das, was innerdeutsch notwendig ist, ins und unwiderrufliche Erleichterungen die Gewähr für reine zu kommen. Jeder Erfolgszwang, unter den den Beginn eines innerdeutschen Ausgleichs, der das man sich selbst setzt, jede Hektik verhindert hier Wort „Modus vivendi" dann vertritt. den möglichen Erfolg, den Erfolg, der für den (Beifall bei der CDU/CSU.) Frieden in Deutschland und für einen tragfähigen europäischen Frieden eine unentbehrliche Grundlage Ein Verkehrsvertrag dagegen — Sie haben davon ist, nämlich Fortschritt durch Ausweitung von Men- gesprochen, Herr Bundeskanzler —, der die gegen- schenrechten. wärtigen Rinnsale innerdeutschen Verkehrs lediglich in eine von der DDR gewünschten völkerrechtlichen Manch einer wird nun fragen — und ich komme Form brächte, so etwas würde auf den entschiedenen auf eine dieser Fragen nachher noch zurück —, wie Widerstand der CDU/CSU treffen. Ich sage dies, alles dies erreicht werden könne. Meine Damen und weil Sie hier sagten, es gebe am Schluß die Notwen- Herren, zum Beispiel so, daß wir alle hier über- digkeit parlamentarischer Zustimmung. Ich sage dies einkommen, dieses Vertragswerk liegen zu lassen, also rechtzeitig. bis der befriedigende innerdeutsche Vertrag vor- liegt, den ursprünglich die Regierung selbst verlangt Meine Damen und Herren, an den Grenzen zum hat. Ausland findet sich durchschnittlich alle 8 km ein (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) allgemein zugänglicher Grenzübergang. An der in- nerdeutschen Demarkationslinie entfällt auf 112 km Und wer von dem gestern gegebenen Zeichen aus ein einziger Übergang, von der Zahl der Personen, Ost-Berlin spricht, der sollte doch sehen, daß hier die hier hinüber und herüber passieren dürfen, ganz bei Beharrlichkeit und Geduld zu schweigen. Dies darf nicht so bleiben. Denn selbst (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen] : Von wem?) zur Tschechoslowakei gibt es doch, bezogen auf die Grenzkilometer, mehr als doppelt so viele Über- sicherlich mehr möglich ist. — Ja, glauben Sie, Herr gänge wie zum anderen Teil Deutschlands. Dies, Schäfer, durch Nachgiebigkeit noch mehr zu er- Herr Bundeskanzler, ist wieder eine der deutschen reichen? Realitäten, die anzuerkennen oder mit denen uns (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das ist abzufinden wir uns entschieden weigern. ja deren Politik!) Damit nicht noch einmal im Laufe der Debatte hier Ich verstehe an dieser Stelle, Herr Kollege Schäfer, Pappkameraden und Popanze aufgebaut werden, Ihre — verglichen mit sonst geringe Unruhe füge ich hinzu: Das Abkommen mit der DDR könnte in der gleichen verbindlichen Weise den Abschluß (Lachen bei Abgeordneten der SPD) eines Grundvertrages über die beiderseitigen Bezie- hungen vorsehen, der freilich erst rechtskräftig ge- und möchte deshalb doch noch wiederholen: Die macht wird, sobald bestimmte wesentliche Teile des Regelung der innerdeutschen Probleme war doch - vereinbarten Programms zunehmender Freizügigkeit so sagten Sie wenigstens zu Anfang, und deshalb in beiden Richtungen realisiert und damit gegensei- haben Ihnen viele in der Bevölkerung dieses Wort tig und unwiderruflich gemacht worden sind. abgenommen und haben deshalb geglaubt, hier passiert etwas — der Kern und das Ziel dieser gan- (Beifall bei der CDU/CSU.) zen Ostpolitik. Und warum nun eigentlich - die Meine Damen und Herren, es muß, so glauben Frage müssen Sie doch beantworten sollen wir wir, der DDR zugemutet werden, der Realität der alles regeln, was für die Sowjetunion interessant Einheit unseres Volkes in dem Maße Rechnung zu ist, uns aber mit der Hoffnung begnügen, irgend- tragen, in dem wir jener Realität ins Auge sehen wann würden auch die deutschen Dinge schon ins müssen, daß die staatliche Einheit in absehbarer Zeit Lot kommen? wohl kaum wird verwirklicht werden können. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

Dieser Vorschlag — und ich meine, die Bundes- Meine Damen und Herren, hält man nun ,unseren regierung hätte es sich gewiß ersparen können, ihn Vorstellungen und unseren Prinzipien das gegen- abzulehnen — ist das Gegenteil von „alles oder über, was hier in Vertragsform vorliegt, so ist unser nichts". Er mutet der DDR nicht zu, auf einen Schlag Urteil wohlbegründet. Das Vertragswerk gibt den volle Freizügigkeit einzuräumen. Er verbindet den Sowjetrussen, den Polen und der DDR das meiste politischen Modus vivendi mit dem Recht auf Frei- oder beinahe fast alles von dem, was sie wollen: zügigkeit und setzt realistisch Programmpunkte in Es bringt den Europäern und den Deutschen keinen eine realisierbare, zeitlich festgelegte Vertrags- Fortschritt — falls man, wie wir es tun, Fortschritt politik um. Ich meine, meine Damen und Herren, es als reale Verbesserung für die Menschen, für ihre muß in Erinnerung gerufen werden, daß unsere Rechte und deren soziale Basis im 'Alltag betrachtet. Landsleute in Erfurt doch nicht einem Bundeskanz- ler zugerufen haben, um ihn etwa in seiner Zielset- Zu diesem unvollständigen, in Leistung und Ge- zung zu beschränken. genleistung unausgewogenen, im Inhalt mißdeut- 9762 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Dr. Barzel baren Vertragswerk sagen wir, die CDU/CSU, in Und nun knüpfen Sie, wie Sie zurufen, die Hoffnun- aller Verantwortung: So nicht. gen, die Sie ursprünglich an die Unterschrift ban- den, an die Ratifikation. Woher nehmen Sie den (Starker Beifall bei der CDU/CSU.) Mut zu dieser Hoffnung? Unser Maßstab für das, was Entspannung konkret (Beifall bei der CDU/CSU.) heißen soll, für das, was wir unter Entspannung in Deutschland verstehen, entspricht dem der freien Sehen Sie, am Beginn dieser Politik wußten Sie Welt. Er ist derselbe, den inzwischen die NATO noch, daß vergeblich hoffen wird, wer alles vorher mehrmals beschlossen hat und der ja in Kommuni- weggibt. Es sind doch des Bundeskanzlers eigene qués genannt wird: Freizügigkeit für Menschen, In- Worte, ich nehme an, nicht leichthin gesprochene, formationen und Meinungen als der Beweis und der sondern verantwortlich als Kanzler im Amt gespro- Maßstab für Entspannung. chene Worte, daß das innerdeutsche Verhältnis ge- Wer uns diesen Maßstab vorwirft, stellt sich also klärt sein müsse, bevor es eine Sicherheitskonferenz nicht nur gegen uns. Und wer uns deshalb unser „so geben könne; daß die DDR — so immer noch der nicht" vorwirft, wirft uns vor, daß wir an das glau- Kanzler — den Nachholbedarf an wechselseitigem ben, was wir sagen. Austausch wie an Zusammenarbeit erfüllen müsse, bevor es zu engen Beziehungen komme; daß die Bleibt noch, meine Damen und Herren, Bundesregierung nur dann über vieles mit sich reden (Zuruf des Abg. Mattick) lasse, wenn dabei gleichzeitig auch die Erleichte- rungen für die Menschen im geteilten Deutschland — Herr Mattick —, der Einwand, ob man nicht zu- herauskämen; daß die Entspannung Deutschland erst alles anerkennen müsse, um hinterher zu er- nicht ausklammern dürfe und daß — so immer noch träglicheren Regelungen und Wirklichkeiten zu kom- der Bundeskanzler — zur Normalisierung gehöre, men. Das ist doch der Einwand, der eine Rolle daß die Menschen hüben und drüben etwas davon spielt. — Nun, meine Damen und Herren, erfahrene hätten: daß der innerdeutsche Vertrag auf der und erfolgreiche Unterhändler mit den Moskauer Grundlage der 20 Kasseler Punkte unverzichtbarer Führern aus Ost und West — Unterhändler aus Ost Bestandteil des Ganzen sei. Dies letztere ist sogar u n d West! - lehren doch beharrlich, daß auf ein Leitsatz, den die ganze Regierung beschlossen Gegenleistung und auf späteres Entgegenkommen vergeblich wartet, wer vorher alles selbst aus der hat. Hand gab. Nun legen Sie trotzdem ein Vertragswerk ohne (Beifall bei der CDU/CSU.) die Regelungen vor, die Sie selbst verlangten, — Meine Damen und Herren, auch die Bundesregie- ein unvollständiges Vertragswerk also, wenn man rung hat das doch erfahren müssen. Oder ist es ein Ihren eigenen Worten glaubt. Wer Ihren ursprüng- Gerücht, daß man in Warschau in humanitären Fra- lichen Maßstab zugrunde legt, Herr Bundeskanzler, gen zugeknöpfter ist, als man hier in der Koalition muß dieses Vertragswerk schon deshalb als unvoll- beim Abschluß des Vertrages erwartete? Ist es ständig und unzureichend vertagen oder ablehnen. falsch, daß von den großen Geschäften, die uns im (Beifall bei der CDU/CSU.) August 1970 an die Wand gemalt worden sind, nicht mehr die Rede ist? Ist es falsch, meine Damen und Was haben denn — so der eigene Maßstab des Herren, daß der wirtschaftliche Austausch mit der Urteils - die Menschen hüben und drüben von die- Sowjetunion stagniert, daß er, der sich von 1959 bis sen Verträgen? Wo sind die gleichzeitigen Erleich- 1969 verdoppelt hatte, nun rückläufige Tendenz hat? terungen? Wo ist der befriedigte Nachholbedarf an Oder wird irgend jemand bestreiten, daß die DDR, Austausch und Zusammenarbeit? Sie selbst haben wie der Bericht zur Lage der Nation selbst ausweist doch alle Verträge in verbindlicher Weise zur Ein- und wie der Zusatz über die Schrecklichkeiten von heit erklärt: Moskau, Warschau, Prag, innerdeut- uns hinzufügt, trotz aller Verträge — oder vielleicht scher Vertrag, und der nur bei wesentlichem Durch- gar wegen der Verträge — den innerdeutschen Gra- setzen Ihrer 20 Kasseler Punkte; und genau der ben durch betonte „Abgrenzung" tiefer macht? fehlt. Wo, Herr Bundeskanzler, ist der innerdeut- sche Vertrag? Das ist die Frage, die die Opposition Meine Damen und Herren, Sie können nicht leug- jetzt hier stellen muß. nen, daß Sie mit den Unterschriften unter die Ver- träge große Hoffnungen und Erwartungen verban- (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sehr gut!) den, daß Sie sie auch im Volk erzeugt haben. Ich versage es mir, die bombastischen Wortzeugen aus Wo ist der Vertrag, den zu erreichen Ihre erklärte dem Koalitionslager aus der Zeit des Überschwangs Politik war und der der Kern der Entspannung sein im August 1970 hier auch nur zu zitieren. Was ist sollte? Wo ist davon auch nur ein Stückchen? denn aus diesen Hoffnungen und Erwartungen ge- (Beifall bei der CDU/CSU.) worden? (Zuruf von der SPD: Haben wir denn schon Glauben Sie nach allen Erfahrungen, die Sie in ratifiziert?) den über zwei Jahren haben machen müssen, diesen Vertrag leichter zu bekommen, wenn Sie zuerst den Was ist denn aus all dem geworden, was hier an Sowjets den Moskauer Vertrag geben? Das Ganze Hoffnungen erzeugt worden ist? Was haben die ist ein Torso, das Wichtigste fehlt. Wieder stecken Menschen davon? Sie zurück. Wieder geben Sie Trümpfe für nichts als (Weiterer Zuruf von der SPD.) Hoffnungen aus der Hand. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9763 Dr. Barzel So will ich nicht verschweigen-Ministerpräsi wollen: Tatsachen. Wir werden mit Hoffnungen ab- dent Stoltenberg hat das im Bundesrat im einzelnen gespeist. dargetan — daß unser Urteil auch von Mißtrauen - bestimmt ist, das der Bundeskanzler selbst nährt, Die Verteidigungsausgaben des Warschauer Pak- indem er seine Positionen ständig verändert. Die tes steigen. beharrlichste Konsequenz, die wir in diesen Fragen (Zuruf von der SPD: Unsere auch!) erleben, ist die Entschlossenheit, immer wieder Die DDR geht auf den Kurs betonter Feindselig- nachzugeben. keit und Abgrenzung. Der Schießbefehl ist geblieben (Beifall bei der CDU/CSU.) wie die Gewalt gegen 17 Millionen Deutsche. Die Für dieses konsequente Nachgeben hat der Bundes Sowjetunion verstärkt die Abhängigkeit der Mit- kanzler selbst soeben wieder Beispiele geliefert. gliedstaaten ihres Herrschaftsbereiches wie ihre Gegnerschaft zur Vereinigung des freien Europa. (Abg. Katzer: Genau!) Polen zögert mit humanitären Maßnahmen und fin- Früher hieß es, die Menschen hüben und drüben det das nötige Wort der Aussöhnung nicht. Die könnten und würden für uns nicht und nie Ausland Kommunisten im Lande fühlen sich sicherer und „sein". Heute heißt es, sie würden sich wohl nie werden frecher. so „empfinden". Da wird ein objektiver Sachver- (Beifall bei der CDU/CSU.) halt in den Bereich einer politisch irrelevanten Gefühlswelt verschoben! Mehr junge Menschen fragen nach dem Sinn der Wehrpflicht, andere nach dem des Verteidigungs- (Beifall bei , der CDU/CSU.) haushalts. Meine Damen und Herren, das kommt, Früher war die Rede davon, daß menschliche wenn die amtliche Politik aufhört, die Dinge beim Erleichterungen vor Inkrafttreten des Vertrags- Namen zu nennen. werkes greifbar sein müßten. Heute haben wir vom (Zustimmung bei der CDU/CSU.) Kanzler gehört, daß er die Hoffnung nicht aufgebe, daß es zu diesen Erleichterungen irgendwann Dies ist keine wertfreie Ordnung, dies ist ein frei- komme. heitlich-demokratischer Rechtsstaat mit Prinzipien, die zu niemandes Debatte stehen, auch nicht zur (Abg. Dr. Marx (Kaiserslautern) : So ver „wertfreien Schöpfung", meine Damen und Herren. ändert sich , das!) (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, wir gehen weiter. Wir fragen nach den Prinzipien einer Politik, die — Manch einer glaubt — und er wird verwirrt ge- wegen Verletzung der Menschenrechte — z. B. macht —, daß mit der außenpolitischen Öffnung nach Griechenland, dessen innere Ordnung wir ablehnen, Osten notwendigerweise die innenpolitische Öff- vom Europarat suspendieren will, aber gleichzeitig nung zum Sozialismus Hand in Hand gehen müsse. – trotz Verletzung der Menschenrechte — die DDR (Abg. Konrad: Pfui! - Gegenrufe und in die Vereinten Nationen hineinbringen will. Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Marx (Anhaltender lebhafter Beifall bei der [Kaiserslautern] : Wer hat denn „Pfui" ge CDU/CSU.) rufen? Das ist doch interessant!) So sehen wir allein die weitergreifenden Forde- Herr Bundeskanzler, Sie sagen, durch Ihr Ver- rungen der Kommunisten „sicherer" geworden. Wir tragswerk werde nichts verschenkt und gehe nichts sehen, wie der Wille unserer Gegner — unser, als verloren. Warum wohl haben dann die Führer des Demokraten, aller Gegner - stärker wird und wie Ostblocks — konsequent und mit großem Einsatz, zugleich der Wille schwächer wird, sich für un- mit einem Einsatz bis zu internationalen Krisen - sere gute und gerechte Sache einzusetzen. Das um das gekämpft, was Sie „nichts" nennen? Warum kommt, wenn man die wirklichen Spannungsur- rühmen sich die Führer des Ostblocks nun dieser sachen mit den Forderungen der Kommunisten ver- Verträge als ihrer großen Siege? Doch wohl nicht, wechselt. Die wirklichen Spannungsursachen: das weil sie mit diesen Verträgen nichts bekommen ist die Verweigerung von Menschenrechten in haben. Und warum sieht sogar „Time" in New York Deutschland und in Europa und nichts anderes. Die — Ihnen gewiß zugetan — in dem Vertrag einen Forderungen der anderen sind weitgehend ohne „diplomatischen Sieg der Sowjetunion"? Gegenleistung erfüllt, und die Entspannung bleibt Wer die deutschen Vorleistungen dieses Vertra- aus. Warum? Weil man eben die Spannungsursachen ges als „nichts" bezeichnet, hat zu Aussöhnung und mit den wirklichen Spannungen verwechselt hat. Geschichte ein anderes Verhältnis als wir! Wer eigentlich verunsichert in Europa den Frie- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) den? Sie sagen, Ihre Politik und diese Verträge mach- (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) ten „den Frieden sicherer". Wer wollte, wenn das Doch nicht die Deutschen, die Freizügigkeit wollen, real und solide mit Tatsachen begründet wäre, dem oder etwa das Offensein der deutschen Frage bei die Zustimmung versagen? Doch keiner! Aber wo gleichzeitiger Erklärung, diese Politik nur mit fried- sind die Tatsachen, die diese Aussage begründen? lichen Mitteln führen zu wollen. Wer verunsichert Sie argumentieren mit Hoffnungen, wo Tatsachen, den Frieden in Europa? Etwa das Bündnis oder die und mit Perspektiven, wo Wirklichkeiten entschei- deutsche Politik, die ein für allemal kontrolliert, ver- dend sind. Die anderen bekommen konkret, was sie fassungskräftig und völkerrechtlich wirksam auf Ge- 9764 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Dr. Barzel walt verzichtet hat? Oder etwa unsere Vertriebenen, nerseits, in der CDU/CSU, geschehen wird, wenn die die Ausgleich nicht nur zu ihrem Programm, sondern Verträge ratifiziert sein werden. Ich gebe zu, Herr Dr. Barzel, daß Sie jetzt taktisch den Eindruck er- auch zu ihrer Praxis gemacht haben? Nein, hier in - der freien Welt verunsichert keiner den Frieden, wecken wollen und auch müssen, daß es gar nicht sondern der wird von anderswoher verunsichert. dazu kommt. Sie haben eine probate Möglichkeit, die sozusagen zwischen Ja und Nein liegen soll, Ihr (Beifall bei der CDU/CSU,) Angebot nämlich, die Verträge liegenzulassen. Deshalb könnten allein Änderungen von Tatsachen (Abg.. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Bis zur den Frieden sicherer machen. Diese Tatsachen hat deutschen Regelung! — Abg. Rösing: Das die Politik der Bundesregierung bisher nicht ge- ist ein großer Unterschied!) schaffen. Von Aussöhnung spüren die Menschen nichts. Die Politik dieser Bundesregierung führt nicht Das ist also die dritte Möglichkeit, weder Mann zu mehr Freiheit, sondern zu mehr Abhängigkeit; noch Frau, sondern eine dritte Möglichkeit. (Oho-Rufe von der SPD) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.) nicht zum Brückenschlag, sondern zur Verhärtung. Herr Dr. Barzel! Sie haben selbst von einer ge- Sie bringt nicht das innerdeutsche Miteinander, son- schichtlichen Bedeutung gesprochen, die der Ent- dern sie organisiert und institutionalisiert die Riva scheidung zukomme, die hier zu treffen ist. Meinen lität und die Spannung. Sie, daß das Liegenlassen von geschichtlicher Be- Wir wollen dauerhaften Frieden, wirksame Ent- deutung wäre oder so definiert werden könnte? Sie spannung und Freiheit für die Menschen. Wir wol- haben hier eine Menge dessen, was veränderungs- len, daß das freie Europa sich vereinigt und mit bedürftig und was anzupacken notwendig ist, ge- den anderen Staaten Europas zusammenarbeitet, sagt, manchmal im Tone des Anklägers, so als ob daß Selbstbestimmungsrecht und Freizügigkeit — das, was Sie da sagen — ein Teil dessen —, nicht und die gehören zu unserer Überzeugung — zur auch von anderen als anzupacken für richtig gehal- dauerhaften Friedensordnung führen, der dann die ten wird. Aber natürlich muß die Pose des Anklä- Völker zustimmen, weil die Menschen greifbar und gers bei dem Sprecher der Opposition auch vorhan- spürbar etwas davon haben. den sein. Sie haben darüber, worum es hier geht, nämlich um diese konkreten Verträge und ihre Rati- (Zustimmung bei der CDU/CSU.) fikation, die wir mit dieser ersten Lesung einge- Wer dies mit uns will, meine Freunde — meine leitet haben, nachdem die andere 'Kammer, „das

Damen und Herren — Herrenhaus", der Bundesrat, sie schon im ersten Durchgang behandelt hat, so gut wie nicht gespro- (Lachen bei der SPD) chen. Sie haben das verdeckt durch Beteuerungen — ich habe Sie damit sicherlich nicht gemeint, Herr und durch — ich danke! — Belehrungen. Kollege Schäfer, ganz sicherlich nicht gemeint —, (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.) (lebhafter Beifall bei der CDU/CSU) Was mich angeht, so bin ich mit dem Herrn Bun- wer diese Ziele will, der kann sich nicht damit be- desminister des Auswärtigen im Einklang, wenn er gnügen, daß der Bundeskanzler zu ihm kommt und die große Bedeutung der Verträge für die friedliche sagt: „Es wäre doch ganz schrecklich, wenn jetzt Entwicklung Europas hervorgehoben hat und auch in der öffentlichen Meinung der Eindruck erweckt dargelegt hat, wieso dies so ist. Nach unserer An- würde,. hier sei einer mehr für Europa als der an- sicht sind westeuropäische Integration und gesamt- dere, mehr für Freizügigkeit und Selbstbestimmung." europäische Notwendigkeiten etwas, was einander Wodurch ist denn der. Eindruck entstanden? Dadurch, nicht ausschließen oder blockieren muß, sondern daß Sie dieses Vertragswerk gemacht haben, das was in eine Beziehung zueinander' gebracht zu wer- diese drei Grundentscheidungen, für die wir aus den verdient. Unsere Überzeugung ist, daß die Kon- Überzeugung stehen, gefährdet! sequenz, die aus den Westverträgen gezogen wer- (Widerspruch bei der SPD.) den muß, die Ostverträge sind, und zwar nicht, um sie dann liegenzulassen. Wenn allerdings zu den Deshalb sagen wir: So nicht! Ostverträgen sachlich so gut wie nichts gesagt (Starker, langanhaltender Beifall bei der wird — — CDU/CSU.) (Zuruf von der CDU/CSU: Dann haben Sie geschlafen!)

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: — Keineswegs. Mir wäre wohler, verehrter Herr, Meine Damen und Herren! Das Wort hat der Herr wenn ich hätte schlafen können. Aber wie sollte ich Abgeordnete Wehner. denn das angesichts einer solchen Attraktion, die wir heute hier hatten! Wehner {SPD): Herr Präsident! Meine Damen (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs und Herren! Mein verehrter Herr Vorredner hat parteien.) über vieles gesprochen. Es ist auch zuzugeben, daß bei einer solchen Entscheidung vieles bedacht und Nein, nein, das ist es nicht. Ich nehme an, daß ein auch vieles von dem, was man bedacht hat, be- folgender Redner noch einen weiteren Stein, den er sprochen werden muß. Über eines allerdings hat schon in der Tasche hat, werfen wird. Vielleicht ist Herr Dr. Barzel nicht gesprochen, was nämlich sei- das sogar der Herr Dr. Jaeger höchst selbst, der die- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9765 Wehner ser Tage die Ostverträge - ich muß das zitieren, Worte -gehört, die ich jetzt auf andere angewandt weil dieser Ausdruck bei Herrn Dr. Barzel aller- höre, nämlich daß Gegner summarisch als „Faschi- dings fehlte — so qualifiziert hat: „Die Ostverträge sten" und das, was sie wollen, als „roter Faschis---teien.) drohen für das deutsche Volk nicht nur territorial, mus" bezeichnet werden. Wenn man damit anfängt, sondern auch finanziell zu einem Super-Versailles verliert man insgesamt das Augenmaß für die kon- zu werden." krete Wirklichkeit. Ich will hier keine Retourkut- (Oh- und Pfui-Rufe von der SPD.) sche fahren; ich warne Sie nur davor. Das haben andere schon gemacht, die dann jeden Gegner, be- — Da würde ich gar nicht „Pfui" rufen. Dies sage sonders wenn er ihnen gewachsen zu sein schien, ich an die Adresse meiner eigenen Richtung. — als „Faschisten" und das, was er wollte, als „Faschis- Das ist nämlich berechnet, das ist eine Spekulation mus" bezeichnet haben. Das geht ganz schlimm aus. auf Wirkungen, wie sie die Versailles-Legende der Deutschnationalen in den Jahren nach dem ersten Im übrigen aber auch noch folgendes zu diesen Weltkrieg gezeitigt hat. Klagen. Ich unterstelle keinem, Herr Dr. Barzel - (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar ich meine, keinem auf Ihrer Seite —, daß er Krieg teien. — Zurufe von der CDU.) wolle oder daß er mit einer Politik auf Krieg spekuliere. Das ist eine Sache, bei der wir auch im — Das können Sie gern haben, Herr Rösing; wenn größten Zorn und in der höchsten Erregung keine das in Ihre Zuständigkeit fällt, leihe ich Ihnen das. Konzession machen sollten. (Heiterkeit und Beifall bei den R egierungspar (Zuruf von , der CDU/CSU.) — Lassen Sie sich das doch einmal gesagt sein, ver- Herr Dr. Barzel selbst hat von einer unterschwelli- ehrter Herr! Sie können sich, ich weiß nicht, wie gen Propaganda draußen gesprochen. Das ist sicher viele Stunden — die Stunden sind ja ausgerechnet, etwas, dem man zu Leibe gehen sollte. Ich denke, daß in denen man sich austoben kann —, jedenfalls noch dann auch jene Flugblätter mit drankommen, von viele Stunden bis Freitagnachmittag hier produ- denen ich hier ein Mappe habe — ich mache sie im zieren, und es wird immer wunderbar sein. Nein, Augenblick nicht auf, Herr Barzel —, jene Mappe mit nein, wir machen das so lange, bis wir uns gegen- Flugblättern in der Lesart von „AKON" oder „GOG" seitig völlig zum Halse heraushängen werden. oder wie diese eigentümlichen Splitter rechts drau- ßen heißen, die von Ihnen angezogen werden, wie (Heiterkeit bei der SPD. — Zurufe von der ein Magnet solche Splitter anzieht, und mit denen CDU/CSU.) nun nicht nur eine unterschwellige, sondern eine di- Das ist auch eine Therapie. rekte, hetzerische, eine Haßpropaganda betrieben wird. — Sicher, einige von Ihnen lachen darüber, Ich möchte nur sagen: es wäre verhängnisvoll, weil sie ja auch bei Schlimmerem schon gelacht ha- wenn die deutsche Politik oder deutsche Politik ben. überhaupt etwa in der Vorstellung betrieben würde, (Beifall bei den Regierungsparteien.) daß man zunächst damit beginnen könnte, sich sozusagen die Eskalation von Konflikten Dritter Ich wollte nur sagen, Herr Barzel: ich habe sehr gut oder an anderen Stellen, möglichst weit weg, zu- verstanden, daß Sie vor dieser Debatte öffentlich nutze zu machen. Manche Begründungen für die zur Sachlichkeit gemahnt haben und daß Sie sich Notwendigkeit, jetzt nicht nur eine Ost-, sondern dieser sicher auch befleißigen. Da steht es mir nicht auch eine Fernostpolitik zu machen, also uns sozu- zu, Zensuren zu geben. sagen zu überspielen, was ich jedem gönne, sind (Zurufe von der CDU/CSU.) nicht ganz frei von der Vorstellung, daß es, da es zwei recht bedeutende Mächte gibt, die miteinan- Aber glauben Sie bitte nicht, daß man es sich so der zerstritten sind, gut wäre, doch einmal zu sehen, einfach machen kann, daß man, weil man zur Sach- ob es nicht möglich ist, auch zu den anderen einen lichkeit aufgerufen hat, sich nachher fast alles er- Faden zu bekommen. Ich sehe hier noch zwei Her- lauben kann. ren, die 1964 dafür verantwortlich waren; Sie nicht, (Beifall bei der SPD.) der Sie gerade den Kopf schütteln; Sie waren da- Das paßt auch nicht zueinander. mals bei der FDP, Sie sind jetzt bei der CDU. (Zurufe von der CDU/CSU.) (Heiterkeit bei der SPD.) Ich bedauere z. B. sehr, daß auch eine Persönlich Sie sind damals nach Washington gekommen, der keit — deren Integrität ich sehr hoch schätze und eine etwas später als der andere, und da hatte der respektiere, ungeachtet völlig konträrer Auffassun andere schon dem damaligen Präsidenten Johnson gen, die wir in Fragen der Politik haben — wie der . zugestanden, daß aus dem damals im Werden be- Freiherr von und zu Guttenberg — — findlichen und weitgehend unterzeichnungsreifen Abkommen mit Peking nichts würde. Sie kennen (Abg. Dr. Aigner: Fragen Sie ihn mal, was das. Jetzt wollen Sie, daß wir uns hier beeilen. er von Ihnen heute denkt!) 1964 haben Sie das stillschweigend begraben, weil — Ich bitte Sie; das kann ja sein, daß Sie neuer- jemand mit dem Finger drohte. Das waren damals dings ganz intim sind, nachdem er seine Auffassun- die Amerikaner. Und weil diese nun nach Peking gen über bestimmte Personen in der CSU offensicht- gegangen sind, müssen wir nicht unbedingt auch lich ein wenig geändert hat. Aber das ist nicht meine gleich dort sein. Wir wollen normale Beziehungen. Sache, darüber zu befinden. Ich habe da schon Wir wollen da, wo es geht, auch freundliche Be- 9766 Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Wehner ziehungen, aber m i t jemandem und nicht mit je- parteien stehend, die es mit der Opposition nicht mandem gegen andere, z. B. mit den einen gegen immer gerade sehr fair trieben - - jene und mit den anderen gegen andere. (Zurufe von der CDU/CSU.) - (Beifall bei den Regierungsparteien.) — Das sage ich doch ohne Bitterkeit. Das sehe ich Ich glaube, daß wir uns in dieser Beziehung auch sozusagen im Abendsonnenschein, meine verehrten noch finden werden. jüngeren Kollegen, die Sie schon so alle mit den Hufen trappeln. Außerdem haben Sie vorher, Herr Dr. Barzel, (Heiterkeit.) noch die Sache mit der CSU auszutragen, die bis Wir haben uns immer bemüht, ein Viermächtedach jetzt die Verbindung zu Taiwan gepflegt hat, die ja keine offizielle diplomatische ist, sondern diese für unsere Vorschläge zustande zu bringen. Ich denke Verbindung haben die Herren, die hier sitzen, die noch an eine der Unterredungen, die mein leider freundlichen Reisenden, gepflegt, verstorbener verehrter Freund Ollenhauer zusam- men mit mir mit dem leider verstorbenen verehrten (Abg. Stücklen: Von Ihrer Seite auch!) Kollegen von Brentano vor einer der bedeutenden und sie haben es sich gegönnt, auch einmal einen Genfer Konferenzen hatte. Unsere Vorschläge, sagte von der CDU mit den Haxen zu stoßen, Herr von Brentano, seien sehr, sehr wichtig und sehr gut, man könne vielleicht auch auf sie zurückkom- (Heiterkeit bei den Regierungsparteien) men; man sollte sie jedenfalls gewissermaßen be- weil er in dieser Frage anderer Meinung war. wahren, vor allem weil wir damals immer ganz kor- rekt und sorgfältig, den Veränderungen gegenüber (Abg. Stücklen: Sie wissen gar nicht, wer früheren Konferenzen entsprechend, weil ja immer von Ihrer Fraktion alles nach Taiwan reist!) weiter erudierte, was man die deutsche Frage — Ach ja, aus jeder Fraktion! Sie erfahren allerdings nannte, ein für die Zeit noch passendes Viermächte- am meisten, weil Sie die meiste Zeit beim Skatspie- dach oder eine Viermächtebezugsstelle geschaffen len verbringen. Darum beneide ich Sie so, und, wenn es notwendig war, konstruiert haben. Im- (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs mer ging es dabei um die Regelungen zwischen den parteien) Teilen Deutschlands. weil die anderen etwas profanere Arbeiten zu lei- Jetzt, wo es endlich ein solches Dach gibt und Sie sten haben. Nein, nein, das ist es nicht. Diese Be- in der Opposition stehen, Herr Dr. Barzel, versagt ziehungen sind ein heikles Kapitel, und man sollte sich die nunmehrige Opposition. Sie fragen: Wo ist sehr behutsam damit umgehen. Ich glaube, daß die der Vertrag? Sie haben schon einmal gesagt, erst Regierung in dieser Beziehung keine Leichtfertig- müßten außer dem Moskauer und dem Warschauer keiten und auch keine Nachlässigkeiten dulden wird. Vertrag — wo Sie gesagt haben: Die sind schlecht — noch Verträge mit Prag und den anderen Ländern Aber ich möchte an diesem Tage Ihnen, Herr Dr. und ein unwiderruflicher innerer Vertrag vorliegen, Barzel, etwas zu treuen Händen zurückgeben, was dann würden Sie darüber befinden, w ie Sie zu dem mir am 30. Juni 1960 Ihr Mitvorsitzender im ande- Moskauer Vertrag Stellung nehmen. Das haben Sie ren Teil Ihrer CDU/CSU, nämlich der Herr Franz auch schon einmal anders gesagt. Sie wollten es da- Josef Strauß, ein wenig verklausuliert gesagt hat. mals auch liegenlassen, bis weitere Verhandlungen Da sagte er zu meinen damaligen konkreten Vor- mit anderen über andere Verträge gemacht worden schlägen, die ich als Sprecher der Opposition in seien. Nun fragen Sie heute: Wo ist denn der inner- einer Lage, die schwierig war, machte: Es gibt eine deutsche Vertrag? Ich sage in dem Zusammenhang, normative Kraft des Faktischen — das haben wir es wäre an der Zeit, all denen zu danken, die das erlebt —, aberes gibt keine faktenersetzende Kraft Viermächteabkommen über Berlin und auch die er- des Phraseologischen. Das, Herr Kollege Barzel, gänzenden Vereinbarungen möglich gemacht und zu- gebe ich Ihnen zu treuen Händen zurück. stande gebracht haben. (Große Heiterkeit und Beifall bei den Regie (Beifall bei den Regierungsparteien.) rungsparteien.) Das sollte man nicht so beiseite tun. Was immer Herr Strauß, der es mir damals geschenkt hat, wird gegen den Moskauer Vertrag eingewandt werden mir nicht böse sein, daß es mir so teuer war, daß mag, was immer seitens der Opposition dagegen ich es jetzt einem, der ihm am nächsten steht, über- eingewandt worden ist, daß die Verträge von Mos- reiche. kau und Warschau vor dem Zustandekommen einer Berlin-Regelung unterzeichnet worden seien, die Tat- (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs sache ist jedenfalls nicht mehr zu leugnen, daß das parteien. Zuruf des Abg. Strauß.) Berlin-Abkommen der Vier zustande gekommen ist und daß die zwischen den deutschen Seiten auszu- Wenn man so eine Weile lebt, hat man Gelegen- handelnden ergänzenden Vereinbarungen schließ- heit, das, was in verschiedenen Zeiten, bei ver- lich, wenn auch unter Knirschen, ebenfalls zustande schiedenen Zeitumständen kommt, ein wenig mit- gekommen sind. Da haben Sie etwas, was es bis da- einander in Berührung zu bringen. Ich jedenfalls bin hin nie gegeben hat. in dem entscheidenden Punkt anderer Meinung als Sie, Herr Dr. Barzel. Ich sage das als jemand, der Ich bin der Überzeugung, daß das ohne des Bun- sich viele Jahre bemüht hat, in der Opposition ge- deskanzlers und des Außenministers Unterschriften genüber einer Regierung und gegenüber Regierungs- unter den Moskauer Vertrag so nicht möglich ge- Deutscher Bundestag— 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9767 Wehner worden wäre. Damit schmälere ich keine andere Aber es hat schlimme Zeiten, die viele von Ihnen Initiative bzw. keinen anderen Beitrag, beispiels- sicher genauso sehen wie ich, und Unheil verkün- weise den von Präsident Nixon, der damals bei dende Abkommen auf der anderen Seite gegeben, Siemens den Anstoß dazu gegeben hat, und anderer. die z. B. so weit geführt hatten, daß man deklarierte, Keineswegs! Nur haben auch ausländische Diplo- Berlin-West gehöre geographisch und rechtlich zur maten, darunter einer, der kürzlich Bonn verlassen DDR. Das ist ja nun nicht mehr so. Seien wir des- hat und dem ich einen dicken Dank für das mit halb auch froh darüber, daß die Bindungen zwischen nach Hause gegeben habe, was er geleistet hat den Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik (Beifall bei den Regierungsparteien) Deutschland ausdrücklich als aufrechtzuerhalten und als zu entwickeln anerkannt worden sind. Hier ist und was die Botschafter insgesamt geleistet haben, einmal etwas Vernünftiges anerkannt worden. Daß gesagt, daß man das nie hätte erwarten können. die Bundesrepublik die konsularische Betreuung für Ich meine Herrn Rush, der jetzt zu anderen Ver- Personen mit ständigem Wohnsitz in den West- richtungen nach Washington zurückgegangen ist. Die sektoren Berlins ausüben kann, daß völkerrechtliche Diplomaten waren also einsichtig und überzeugt, Vereinbarungen und Abmachungen, die die Bundes- daß ohne des Bundeskanzlers und des Außenmini- republik schließt, auf die Westsektoren Berlins aus- sters Unterschriften unter den Moskauer Vertrag gedehnt werden können und daß die Bundesrepublik das Abkommen so nicht möglich geworden wäre. die Interessen der Westsektoren Berlins in inter- Deswegen meine ich: Über das Berlin-Abkommen nationalen Organisationen und auf internationalen sollten alle froh sein. Es sollte auch niemand aus Konferenzen vertreten kann. Das wäre nicht? Dar- aufhin könnte man fragen: Wo ist denn der Vertrag? Gegnerschaft gegen unsere Bundesregierung — es ist ja erlaubt, gegen sie zu sein — die Freude über Wir werden noch sehen, daß sich um dieses Abkom- das Berlin-Abkommen verdrängen zu müssen mei- men und das ergänzende Abkommen eben das ent- nen. Man kann doch das eine ablehnen und gleich- wickelt, was Sie einen Vertrag nennen, der vorher da sein sollte. zeitig sagen: Aber das hier ist eine gute Sache. Da- bei können Sie ja ruhig sagen: Die ist nur zustande Es ist ja auch so, daß Personen mit ständigem gekommen, weil die Vier so bedeutend daran ge- Wohnsitz in den Westsektoren Berlins nunmehr ge- wirkt haben. Das würden wir Ihnen gar nicht übel- meinsam mit Teilnehmern aus der Bundesrepublik nehmen. Nur fällt das Abkommen selber, Herr Dr. am internationalen Austausch und an internationa- Barzel, eigentlich unter das, wovon Sie sagen, Sie len Ausstellungen teilnehmen können, daß Tagun- redeten darüber nicht öffentlich, um nicht durch gen internationaler Organisationen und internatio- eine Interpretation, die Negatives ausdrückt, etwas naler Konferenzen sowie Ausstellungen mit inter- zu schädigen. nationaler Beteiligung in den Westsektoren Berlins durchgeführt werden können. Dies und noch man- Wer das Abkommen — das wollte ich nämlich ches weitere löst Verhältnisse ab, die unleidlich und sagen — negativ bewertet oder interpretiert - — schmerzhaft gewesen sind. Dafür sollten wir denen (Zuruf von der CDU/CSU.) danken, die das nun so geregelt haben. — Nun, nein, gar nicht! So schnell geht das bei (Beifall bei den Regierungsparteien.) uns nicht. In bezug auf inquisitorische Regeln — wie man das macht — sind Sie ja viel erfahrener, Meine Damen und Herren, unterschätzen wir das als wir es sein könnten. Da bin ich ein Amateur. doch, bitte, nicht! Das sind unbestreitbare Fort- Entschuldigen Sie mal! Wer es negativ bewertet schritte. Das Berlin-Abkommen, welches ohne die Unterschriften unter den Moskauer und den War- (Unruhe bei der CDU/CSU) schauer Vertrag nicht zustande gekommen wäre, — Sie haben es wohl gemerkt; ich bin wohl auf eine bedeutet eine Wendemarke, sowohl für die Betei- lange Zehe getreten — oder interpretiert, daß nun- ligten, die es zustande gebracht haben, als auch für mehr die Einwohner von Berlin-West ohne Behinde- die von ihm Betroffenen — im übertragenen Sinn rungen aus humanitären, familiären, religiösen, kul- gemeint. Das Viermächteabkommen kennzeichnet turellen oder kommerziellen Gründen oder als Tou- zwar keine Stunde null — so etwas gibt es nicht risten in die ihnen bisher verschlossen gewesenen mehr —, von der aus etwa alles neu beginnen Gebiete reisen und sie besuchen können, und zwar könnte, aber es kennzeichnet die Bedingungen, unter unter Bedingungen, die denen vergleichbar sind, denen es möglich ist, daß die an diesem Abkommen die für andere in diese Gebiete einreisende Per- Beteiligten und die von ihm Betroffenen so mitein- sonen gelten, wer dies, aus welchen Gründen auch ander auskommen, wie das in einer von Massenver- immer, negativ bewertet oder interpretiert, muß sich nichtungswaffen starrenden und von Gegensätzen wohl sagen lassen, daß er damit, wenn vielleicht häufig geschüttelten Welt überhaupt möglich ist, auch ungewollt, den Gegnern der Entspannung Was- allerdings nur, wenn die Beteiligten und Betroffe- ser auf die Mühlen leitet. nen auch in einem Punkt übereinstimmen — das ge- hört dazu —, nämlich darin, Berlin in Ruhe leben Es hat vor diesem Berlin-Abkommen kein ver- und arbeiten zu lassen und von Berlin aus nicht zu- gleichbares Abkommen der Vier Mächte und keine sätzlich Zündstoff zu verheerender Wirkung kom- entsprechenden ergänzenden Vereinbarungen der men zu lassen. Ich gehe davon aus, daß es in die- beiden Regierungen in Deutschland und des Senats sem Punkt Übereinstimmung gibt. Daran ändert auch von Berlin gegeben, durch die der Berlin-Verkehr die Tatsache nichts, daß Motive und Interessen nicht von zivilen Personen und Gütern geregelt wurde. völlig übereinstimmen. Wenn das so wäre, brauchte 9768 Deutscher Bundestag —p6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Wehner man keine Verträge. Entscheidend werden die Un- ein Mann wie darüber gedacht und befangenheit und die Bestimmtheit sein, mit der Be- daran gearbeitet hat, mindestens die Wirkungen all- teiligte und Betroffene sich dafür einsetzen, das, mählich mehr und mehr einzuschränken. Man- sollte worin sie übereinstimmen, mit Hilfe der im Vier- es jedenfalls ernsthaft versuchen. Sonst kommt man mächteabkommen gefundenen Regeln wirksam wer- wohl in die Kategorie derer, von denen gesagt wer- den zu lassen und festzuhalten. Insofern werden im den darf, sie wollten einfach Empörung wachhalten. Laufe der Zeit die am Viermächteabkommen un- Das ist aber für die vielen keine Lösung und bringt mittelbar Beteiligten und die von ihm Betroffenen keine Lösung. gleichermaßen interessierte Beteiligte an der Reali- Hier sind Störungsfaktoren, die dieses Abkom- sierung des Abkommens sein. men sicher zeitweise hart angehen könnten. Es sind Natürlich kommt der Einwand: Da ist die Mauer, in der Regel Störungsfaktoren innenpolitischer Art. da ist der Schießbefehl. Die Mauer und was zu ihr Sie können in jedem der Länder, die an der Ent- an Abschreckungs- und Einschüchterungsversuchen stehung beteiligt gewesen sind und die Garantien gehört, werden sowohl unmittelbar als auch mittel- für die Ausführung des Berlin-Abkommens übernom- bar störende Faktoren und Ärgernis bilden. Sie sind men haben, vorkommen. Das ist sicherlich nicht aus- Attribute des kalten Krieges, die das Finden und zuschließen. Wir haben hier also wahrscheinlich das Praktizieren des Modus vivendi erschweren und genügend zu tun, um das Austragen solcher Gegen- wahrscheinlich auch oft in Frage stellen werden. Und sätze sich nicht a conto dieses Abkommens ent- dennoch erlanbe ich mir, zu sagen: Es wird nicht wickeln zu lassen und unsere eigenen Auseinander- hilfreich sein, wenn sich etwa beide Seiten darin setzungen darüber auch so zu führen. erschöpfen sollten, gegeneinander aufzurechnen, Alles ist schwierig. Auf der anderen Seite ist es wessen Schwächen und wessen Aggressivität sich in anders als auf unserer. Hier auf unserer Seite kön- der Mauer niedergeschlagen haben und sie aufrecht- nen z. B. Kommunisten oder andersgeartete Partei- erhalten. Nur in, dem Maße, in dem es gelingen gänger des Regimes von der anderen Seite ihre kann, die Mauer durch die Regeln des Viermächte- Auffassung aussprechen, geltend machen, sofern sie abkommens — wenn man das so sagen darf zu- sich dabei und damit innerhalb der vom Grund- nächst zu relativieren und das Dennoch-Miteinander- gesetz gegebenen Regeln halten. Auf der anderen leben zu humanisieren, wird die Mauer mit ihren Seite dürfen Sozialdemokraten oder andersgeartete Begleiterscheinungen allmählich die Bedeutung ver- Parteigänger unserer Form politischen Miteinander lieren, die sie als Denk- und Mahnmal des kalten lebens ihre Auffassungen dort nicht unverblümt aus- Krieges im blutigen Sinne des Wortes noch immer sprechen oder gar geltend machen. Das bleibt ein wieder und manchmal gar über Nacht hat. wesentlicher Unterschied. Beide Seiten werden unter Ich weiß, daß es eine ganz andere Betrachtungs- Beweis steilen müssen — und ich hoffe, sie werden weise gibt, nämlich die, solche Wunde immer bren- es auch können —, daß sie sich dennoch imstande nend zu halten. Nur, ich halte sie nicht für die un- sehen, das Abkommen der Vier vom 3. September serem geographischen Standort und den machtpoliti- 1971 und die zusätzlichen Vereinbarungen vom De- schen Gegebenheiten entsprechende. zember 1971 in Wirkung zu setzen und zu halten — notfalls unter Zuhilfenahme der von den Vier Es wird sicher — das gestehe ich — prinzipielle Mächten unterschriftlich bekräftigen Konsultations- Einwände gegen meine Vermutung und gegen die prozedur. Ich glaube, Fortschritte im Verhalten zu- Erwartung geben, die ich soeben ausgesprochen einander werden daran gemessen werden können, habe. Es wird solche geben, die es für unsittlich und in welchem Ausmaß auf die Inanspruchnahme dieser unmoralisch halten, weniger zu verlangen als das Prozedur verzichtet werden kann. Verschwinden des Monstrums. Es gibt andere, die das Wort, von dem ich sprach, das bei aller Behut- In dem Maße, in dem im jeweiligen Geltungsbe- samkeit leicht mißverstanden werden kann, relati- reich der Verfassungen der beiden deutschen Staa- vieren, für gleichbedeutend halten mit dem Sich ten die spezielle Stellung Berlins praktisch respek- abfinden. Weitere wird es geben, die es für sinnvoll tiert wird und jede Seite das ihre dazu beiträgt, das und für wirkungsvoll halten, die Mauer so schrill Abkommen, Berlin betreffend, auch zu erfüllen, in wie möglich als das Wahrzeichen des Systems auf dem Maße drückt sich aus, was es im getrennten der anderen Seite anzuprangern. Und nicht zu ver- Deutschland an Souveränität in der Tat gibt. Die gessen die Resignierenden. Ich nehme jeden dieser Gleichberechtigung beider Staaten drückt sich aus Einwände ernst. Aber ich halte die Überwindung im gemeinsamen Nenner, der im Berlin-Abkommen des Mauerverhältnisses, zunächst gesagt, für das der Vier gesucht und gefunden worden ist. Die mora- schwierigste Unterfangen, bin aber überzeugt, daß lische und die politische Wertung der in den Gel- es möglich ist, durch die Anwendung der Regeln tungsbereichen der beiden Verfassungen herrschen- des Berlin-Abkommens zu einem humaneren Mit- den Verhältnisse muß und darf nicht die Fähigkeit einanderleben zu gelangen. zur Erfüllung des Abkommens über Berlin beein- trächtigen oder stören, es wäre denn, auf der einen Niemand — sofern er nicht ein Katastrophe aus- oder auf der anderen Seite würden Kräfte die Ober- lösen möchte — wird doch die Mauer ungeschehen hand gewinnen, die es darauf anlegen, innenpoli- machen können. Sonst mußte man uns sagen, wie es tische Gegensätze in einer oder in jeder der Vier geschehen sollte. Mächte — ihren Ländern, meine ich damit — und Immerhin war die Kehrseite der unmenschlichen außenpolitische Spannungen zwischen ihnen un- Wirkung dieses Monstrums die Intensität, mit der günstig auf die Entwicklung wirken zu lassen, die Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9769

Wehner mit dem Berlin-Abkommen markiert worden ist. Es ist daher in der Tat nur schwer vorstellbar, — Meiner Meinung nach sollte das Viermächteabkom- so schrieb er weiter — daß sich ganz Deutschland men über Berlin von den entspannungsbewußten bei einer Fortdauer der gegenwärtigen politischen Kräften auf beiden Seiten gehütet werden als ein Struktur in Europa der einen oder der anderen Unterpfand und als ein Mittel, die deutschen Bei- Seite ohne weiteres zugesellen könnte. Eben darum träge zum Frieden real wirken zu lassen, ungeachtet könne man das Zusammenwachsen der getrennten aller prinzipiellen und ideologischen Gegensätze und Teile Deutschlands nur eingebettet sehen in den Ansprüche. Prozeß der Überwindung des Ost-West-Konflikts in Europa. Wir sind — das ist zuzugeben — in einer Situa- tion, in der diejenigen, die in Deutschland neben- Was der Kollege Kiesinger — in einer Beziehung einander zu leben haben, völlig unterschiedliche und jedenfalls Vorgänger Willy Brandts, als Bundes- miteinander nicht zu vereinbarende Zielvorstellun- kanzler - in Worten als unvermeidlich erkannt gen über die Vereinigung Deutschlands haben. Die hatte, was er aber — so sehe ich es mit seinem unsere paßt nicht zu der anderen, und deren paßt Konservieren des Alleinvertretungsanspruchs der nicht zu der unseren. Keine Seite kann der anderen Bundesrepublik nicht in praktische Politik umzu- ihre Auffassung aufnötigen. Dafür wird immer zu setzen vermochte — leider nicht , das hat der sorgen sein. Bundeskanzler Willy Brandt mit den Erfahrungen als Regierender Bürgermeister von Berlin und als sollten wir deshalb ein wenig ver- Abgrenzung Bundesminister des Auswärtigen behutsam in kon- sachlicht behandeln. Denn Abgrenzung vorzuneh- krete politische Schritte gebracht. men und staatliche Zusammenarbeit gleichzeitig nicht zu verweigern ist durchaus denkbar. Es wird Das Berlin-Abkommen bekam seinen entschei- längerer Zeit bedürfen, bis es ohne so viel Knir- denden Impuls durch die Unterzeichnung des Ver- schen wie jetzt geht; aber es wird gehen. Bei aller trags mit der Sowjetunion am 12. August 1970 in Gegnerschaft zwischen uns und jenen, die jenseits Moskau durch Brandt und Scheel und durch die der Mauer regieren — und auch umgekehrt —, wird Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundes- durch die Erfüllung des Berlin-Abkommens und sei- republik Deutschland und der Volksrepublik Polen ner Bestimmungen allmählich etwas zustande kom- in Warschau am 7. Dezember 1970, ebenso durch men, von dem man wohl sagen kann, daß nicht mehr Brandt und Scheel. Das ist das, worüber nun zu völlige Ignoranz die Feder führen kann, wenn es befinden sein wird. sich um Regelungen des weiterführenden Verhält- nisses zwischen den beiden deutschen Seiten han- Der Deutsche Bundestag steht tatsächlich vor einer grundlegenden Entscheidung. Sagt er nämlich ja delt. zum Moskauer Vertrag, so eröffnet er die Möglich- In dieser Richtung sehe ich auch die Bedeutung keit zur Verbesserung der Beziehungen in Europa, des Berlin-Abkommens und seiner ergänzenden Be- ausgehend von der Lage der Staaten und Grenzen, stimmungen für die Konferenz für die Sicherheit und wie sie heute sind; anders kann das nicht gemacht Zusammenarbeit in Europa, über die seit 1969 disku- werden. Er sagt ja dazu, daß beide Staaten ihre tiert wird, über die , es unterschiedliche Meinungen Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln gegeben hat und von der wir — diejenigen, für die lösen und die Verpflichtung erfüllen, sich in Fragen, ich hier spreche immer gesagt haben: Wir wollen die die Sicherheit in Europa und die internationale nicht die sein, die eine solche Konferenz scheitern Sicherheit berühren, sowie in ihren gegenseitigen lassen oder an denen sie scheitert. Nur, sie soll einen Beziehungen gemäß Art. 2 der Charta der Verein- Sinn haben: über Sicherheit und Zusammenarbeit ten Nationen der Drohung mit Gewalt oder der tatsächlich zu sprechen. Wir haben keine Bedingun- Anwendung von Gewalt zu enthalten. Er sagt auch gen gestellt, aber wir waren froh, als deutlich war, ja dazu, daß beide sich verpflichten, die territoriale daß sich das westliche Bündnis die Auffassung zu Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen eigen macht, daß nach dem In-Geltung-Treten des Grenzen uneingeschränkt zu achten, daß sie keine Berlin-Abkommens die Erörterungen über eine euro- Gebietsansprüche gegen irgend jemanden haben päische Konferenz für Sicherheit und Zusammen- und solche in Zukunft auch nicht erheben werden. arbeit munter aufgehen könnten. Und durch unser Ja, meine Damen und Herren, Meine Damen und Herren, vom vorigen Bundes- wird der 1954 in den Westverträgen verbriefte kanzler, dem Kollegen Kurt Georg Kiesinger, Verzicht auf Androhung und Anwendung von Ge- stammt das Wort von der Notwendigkeit des Be- walt auch gegenüber dem Osten vertraglich besie- mühens um einen Interessenausgleich zwischen den gelt. Bündnissen von West und Ost, von der Notwendig- Unser Ja schließt auch ein, daß durch diesen Ver- keit nämlich im Interesse des Friedens in der Welt trag nicht die von beiden Partnern früher abge- und auch im Interesse des deutschen Volkes, von schlossenen zweiseitigen und mehrseitigen Verträge dem er, der Kollege Kiesinger, am 17. Juni 1967 in und Vereinbarungen berührt werden. Und hier, sehr einer nachdenkenswerten Rede gesagt hat — und verehrter Herr Kollege Barzel, verstehe ich nicht, ich zitiere ihn —, daß Deutschland — nämlich ein warum Sie immer wieder herumhämmern auf den wiedervereinigtes Deutschland — eine kritische Römischen Verträgen und darauf, daß die Sowjet- Größenordnung habe, denn es sei zu groß, um in union dazu gebracht werden müßte, die EWG anzu- der Belance der Kräfte keine Rolle zu spielen, und erkennen. Ich bitte Sie: Manchmal kommt es mir zu klein, um die Kräfte um sich herum selbst im — entschuldigen Sie — so vor, als spürten Sie, daß Gleichgewicht zu halten. dort ja wohl, weil man diese Entwicklung der 9770 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Wehner Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als eine Rea- daß manche Härten zumindest gemildert werden lität sieht und einschätzt, sowieso bald etwas posi- können. Die Tatsache z. B., daß zu Beginn des Jah- tivere Töne kommen werden. Dann können Sie res 1972 infolge einer Vereinbarung der drei Staa- natürlich sagen, Sie hätten diese mit bewirken hel- ten Polen, CSSR und DDR Besuchsreisen ohne Paß- fen. Das würde ich Ihnen auch gerne gönnen. Nur und Visumvorschriften möglich geworden sind und hat das mit unseren Verträgen nichts zu tun. Die von mehr als 1 Million Menschen genutzt wurden, sind außerhalb dessen. Wir sollten uns auch nicht, ist in Polen sowohl wegen der großen Zahl derer, wenn auch nicht aus diesem Grunde, sondern aus die davon Gebrauch gemacht haben, als auch des- einem anderen, den ich nicht für geringer halte, wegen, weil alles reibungslos und, wie sie sagten, plötzlich für Frankreich, für Holland, für die ande- ohne Inzident verlief, beachtet worden: Deutsche ren Beneluxländer, und ich weiß nicht, für wen und Polen, so sagten sie, können also miteinander noch, hinstellen und mit der Sowjetunion einen umgehen, ohne daß es zu Schwierigkeiten kommt. Streit darüber anfangen, daß sie nun endlich die Das alles ist als ein gutes Omen für den sich EWG anzuerkennen hätte. Ich weiß nicht, ob wir schließlich auch mit uns, der Bundesrepublik, ent- dafür Prokura haben und ob wir sie ansuchen soll- wickelnden Reise- und Touristenverkehr gewertet ten. Ich nehme an, das wäre politisch nicht sehr worden. gründlich überlegt. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns — bei Meine Damen und Herren, wir ergänzen mit der aller Bescheidenheit dieses Punktes — auch unserer- Entscheidung, vor der wir stehen und über die in seits dazu unseren Beitrag leisten. Ich war froh, die- den Ausschüssen vieles gesagt werden wird, die ser Tage hören zu können, daß Professor Eckert aus Westverträge durch diesen Vertrag und durch den Braunschweig, der sich ja bei dem in Übereinstim- Warschauer Vertrag, der, richtig gesehen, eine Ent- mung mit anderen vorgenommenen Säubern oder wicklung unseres Verhältnisses zu Polen einleiten Entrümpeln von Schulbüchern und Unterrichtsmate- wird, das, historisch und moralisch betrachtet, dem rial, vor allen Dingen geschichtlicher Darstellungen, Verhältnis entsprechen kann, das wir zu unserem schon bei den Holländern und anderen einen gu- westlichen Nachbarn Frankreich gefunden haben. ten Namen gemacht hat, sich jetzt mit einer Gruppe Das ist eine gewisse Verwandtschaft zu der Kate- des Schulbuchinstituts nach Polen begeben hat. Hier gorie der Bedeutung dieses Vertrages. Ich danke ist also offenbar eine Verständigung darüber getrof- an dieser Stelle der Regierung für die Begründung, fen worden, daß man es auch einmal miteinander die sie zu dem Ratifikationsgesetz zum Warschauer versuchen will. Vertrag gegeben hat. Die war, auch was das Ge- schehene betraf, das früher zwischen diesen beiden Über diese Dinge werden wir sicher häufig reden Völkern stand, richtig getroffen. müssen, wenn die Verträge ratifiziert sind. Sie wer- den ratifiziert werden. Bis dahin wird auch unsere Die Bundesrepublik — und das liegt in der Natur verehrte Opposition, unserer Grenzen — wird die Westgrenzen Polens, die Christlich Demokratische und die Christlich Soziale Union, hinsichtlich dessen die Oder-Neiße-Linie, nicht in Frage stellen. Ich klarkommen, was sie politisch tun wird, hoffe, vielleicht sollte ich auch sagen, ich wünsche, wenn die Verträge in Kraft daß man auch einmal über die Frage der deutschen gesetzt sein werden. Das ist ja die Selbstbestimmung wird sprechen können. Wer aber einzige Frage, die sie bisher sowohl draußen als diese Diskussion mit der offenen Oder-Neiße-Linie auch hier umgingen. Ich gebe zu, es ist eine schwie- belasten oder befrachten möchte oder es tut, schafft rige Frage. Aber Verträge sind Verträge, auch für die negative Garantie, daß über Selbstbestimmung eine Opposition. Insofern können wir auf Grund von nie konkret gesprochen werden wird. Erfahrungen, die wir gemacht haben, und auf Grund von Erfahrungen, die Sie zu sammeln beginnen, ja (Beifall bei den Regierungsparteien.) miteinander reden. Manches ist dabei schmerzlich, Da gibt es noch manches Schmerzliche, auch zu aber man sollte nichts unversucht lassen. Richten der Frage der Familienzusammenführung und der Sie sich bitte darauf ein, was Sie tun, wenn die Ver- Gewährung von Ausreisegenehmigungen gibt es träge in Kraft sein werden und Sie in der deutschen noch manches Schmerzliche, nur wissen diejenigen Politik und an der Gestaltung der Beziehungen zu bei Ihnen, die nicht nur Negatives sammeln, son- anderen mitwirken wollen. dern die auch versuchen, es zu heilen oder zumin- dest zu mildern oder den Ursachen zu Leibe zu Was die CSU auf diesem Gebiet getan hat, enthebt gehen, daß immerhin im vergangenen Jahr 26 237 uns freilich der Befürchtung, daß etwa Herr Strauß Menschen gekommen sind. Das ist die höchste Zahl oder ein anderer aus der ersten Reihe sagen könnte: seit dem Jahre 1959. Dazu kommen noch Ausreisen Man darf mit solchen Leuten wie denjenigen, die dort regieren, überhaupt keine Verträge schließen. in die DDR, die nach demselben Verfahren erfol- gen, aber nach dort, weil dort Familienangehörige — Wir haben ja gesehen, daß man Verträge schlie- sind. Es darf erwartet werden, daß die Schwierig- ßen soll. Wie sie entworfen worden sind oder ent- keiten, die mancherorts Ausreiseantragstellern be- worfen werden, haben wir auch gesehen. Das ist reitet worden sind, auszuräumen sind. Je beharr- so eine Art Milchreis mit Zucker und Zimt, Herr Strauß, den Sie da ausgeschenkt haben. licher, aber auch je weniger forsch wir in dieser Frage am Mann beiben, um so größer sind die Aus- (Zuruf des Abg. Stücklen.) sichten, daß vielen geholfen werden kann. — Ich habe ja nichts dagegen, daß man einmal einen Es darf aber auch erwartet werden, daß erwei- Scherz macht. Nur ist das natürlich ein Vertrag, den terte Besuchsreisemögichkeiten eröffnet werden, so nicht einmal eine Seite, sondern lediglich eine Grup- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9771

Wehner pe aufgestellt hat. Und dann wird es ja erst deftig dung sich noch am leichtesten die Möglichkeit er- — das wissen Sie doch ganz genau —, und zwar so- gibt, die erhöhten Baukosten heute abzufangen? wohl innerunionsräumlich als auch dann, wenn es - mit anderen Parteien und mit anderen Staaten wei- Ravens, Parlamentarischer Staatssekretär beim tergehen soll. Ich will hier nicht aus der Schule Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen: plaudern. Aber ich habe den Eindruck, daß die CSU Herr Kollege Böhme, ich muß noch einmal sagen: manchmal zu solchen lehrhaften Darstellungen neigt, die Landeszentralbank als Bestandteil des Noten- wie Politik eigentlich sein müßte. Dann schreibt sie banksystems hält weder noch betreut sie Fonds. Von ganze Hefte voll und schickt sie den amtlichen Po- daher ist eine hypothetische Antwort auf eine hypo- litikern. Das war auch in der Zeit so, als sie noch mit thetische Frage, glaube ich, für uns alle wertlos. in der Regierung war. Die Weltdeutsche Landesbank-Girozentrale jedoch (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar hält solche Fonds. Wenn Sie die meinen, will ich teien.) darauf gerne antworten. — Die Westdeutsche Lan- desbank-Girozentrale hält 30 Fonds. Davon beinhal- Vizepräsident Frau Funcke: Meine Damen ten 15 Fonds Anlagen im öffentlich geförderten so- und Herren, wir treten in die Mittagspause ein und zialen Wohnungsbau. Die Bundesregierung geht da- setzen die Sitzung um 14 Uhr mit der Fragestunde von aus, daß Immobilienfonds mit Einlagen von Ob- fort. Um 15 Uhr fahren wir in der Debatte über die jekten des sozialen Wohnungsbaues zur Vermögens- aufgerufenen Tagesordnungspunkte fort. bildung beitragen können. Deshalb will die Bundes- regierung ja auch diese Fonds durch entsprechende Die Sitzung ist unterbrochen. Maßnahmen besonders stützen und fördern. (Unterbrechung der Sitzung von 13.19 Uhr bis 14.00 Uhr.) Vizepräsident Frau Funcke: Zweite Zusatz- frage.

Vizepräsident Frau Funcke: Meine Damen Dr. Böhme (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, und Herren, die Sitzung wird fortgesetzt mit der meine zweite Zusatzfrage lautet: Sind Sie nicht der Auffassung, daß durch leine so große Beschränkung Fragestunde sich eine Diskriminierung für den sozialen Woh- — Drucksache VI/3165 — nungsbau in dieser Richtung ergibt, die man mög- lichst abbauen sollte oder aber, wenn sich das nicht Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bun- abbauen läßt, eben durch anderweitige Abschreibun- desministers für Städtebau und Wohnungswesen. gen oder Risikoausgleiche ersetzen müßte? Zur Beantwortung ist Herr Parlamentarischer Staats- sekretär Ravens anwesend. Ravens, Parlamentarischer Staatssekretär beim Ich rufe die Frage 1 des Herrn Abgeordneten Dr. Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen: Böhme auf: Ich sehe keine Beschränkung für die Anlage von hält es die Bundesregierung mit den Prinzipien der Förderung Objekten des sozialen Wohnungsbaus im Immo- des sozialen Wohnungsbaues für vereinbar und begrüßenswert, bilienfonds. Die Bindungen, die der soziale Woh- daß die von der Landeszentralbank Nordrhein-Westfalen aufge- legten Immobilienfonds die Aufnahme von Objekten, die mit nungsbau auf sich nimmt, sind Bindungen, die zu- öffentlichen Mitteln gefördert sind oder werden, ablehnen, da sie infolge der aus der Hingabe der öffentlichen Mittel entstehenden gunsten des betroffenen Personenkreises eingegan- oder entstandenen Bindungen zu viele Verfügungsbeschränkun- gen werden müssen und auf die auch nicht verzichtet gen hätten? werden kann. Bitte sehr, Herr Staatssekretär. Vizepräsident Frau Funcke: Keine Zusatzfrage Ravens, Parlamentarischer Staatssekretär beim mehr. Damit ist die Frage aus Ihrem Geschäftsbe- Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen: reich, Herr Staatssekretär, beantwortet. Ich danke Herr Kollege Dr. Böhme, nach Auskunft der Landes- Ihnen. zentralbank Nordrhein-Westfalen hat die Landes- Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des zentralbank keine Immobilienfonds aufgelegt, und Bundesministeriums für Wirtschaft und Finanzen, sie betreut auch keine Immobilienfonds. Abteilung Finanzen, auf. Zur Beantwortung ist der Herr Parlamentarische Staatssekretär Hermsdorf an- Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage, wesend. Herr Abgeordneter Dr. Böhme. Ich rufe Frage 56 des Herrn Abgeordneten Dr. Schneider (Nürnberg) auf: Dr. Böhme (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, Hält die Bundesregierung die Verfahren und Methoden zur unterstellt, sie würde dennoch, und zwar über eine Preiserhebung für ausreichend, um möglichst zuverlässige Aus- Unterbank, solche Immobilienfonds betreuen — was sagewerte zu den fraglichen Indexziffern zu erreichen und Fehler- quellen zu vermeiden? sie tut; darüber sind wir uns klar —, sind Sie mit mir dann der Auffassung, daß eine derartige Stellung- Bitte schön, Herr Staatssekretär. nahme gerade den Anreiz für den sozialen Woh- nungsbau, den die Regierung ja geben will, zunichte Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär machen würde, insbesondere da bei der Fondsbil- beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: 9772 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Parlamentarischer Staatssekretär Hermsdorf Herr Kollege Dr. Schneider, die in der amtlichen Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) : Herr Preisstatistik angewandten Verfahren und Methoden Staatssekretär, sind Sie in der Lage, anzugeben, wie der Preiserhebung sind nach Auffassung der Bundes- groß die möglichen Fehlerspannen bei dem jetzt ge- regierung angemessen, um hinreichend zuverlässige übten Verfahren sein können? Indexziffern berechnen zu können. Um die Preisent- wicklung zutreffender aufzuzeigen, wird streng dar- Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär auf geachtet, daß die preisbestimmenden Merkmale beim Bundesminster für Wirtschaft und Finanzen: wie Qualität, Mengeneinheit, Ausführung, Fracht- Dies kann ich aus dem Stegreif nicht. Ich bin auch lage usw. für einen längeren Zeitraum konstant bei- ziemlich sicher, daß derartige Unterlagen im Wirt- behalten werden. schafts- und Finanzministerium zur Zeit nicht vor- Sofern jedoch erkennbare Änderungen in diesen handen sind. Das müßte sich dann auch aus den Merkmalen eintreten, werden die darauf entfallen- Gesprächen ergeben. den Preisveränderungen nach international üblichen Verfahren ausgeschaltet. Auch die Auswahl reprä- sentativer Güter und Berichtsstellen erfolgt nach Vizepräsident Frau Funcke: Keine weiteren international üblichen Grundsätzen. Zusatzfragen. Bei der Erhebung von Verbraucherpreisen in den Ich rufe die Frage 57 des Herrn Abgeordneten Ott Gemeinden könnte allerdings die Einschaltung von auf: Preismittlern mit gründlichen Fachkenntnissen, die Angesichts der schriftlichen Antwort vom 26. Januar 1972, wo- nach Bundesminister Schiller sich schon vor einiger Zeit ent- dann höher dotiert werden müssen, zu fundierteren schlossen habe, das fragliche bundeseigene Haus in Köln nicht zu mieten, frage ich die Bundesregierung: An welchem Tag hat Ausgangsdaten führen. Dies setzt jedoch voraus, Bundesminister Schiller diesen Entschluß kundgetan? daß von den Ländern entsprechende Mittel bereitge- stellt werden. Es ist vorgesehen, mit den Ländern Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär hierüber zu sprechen. beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Der aktuelle Aussagewert der amtlichen Preis- Herr Abgeordneter Ott, ein Entschluß, das Haus in indizes ist zur Zeit ganz allgemein dadurch 'etwas Köln zu mieten, wurde nie gefaßt. - beeinträchtigt, daß bei der Gewichtung die Umsatz bzw. Ausgabenverhältnisse des Jahres 1962 zu- Eine Zusatzfrage, grunde liegen, obwohl inzwischen auf Grund der Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege. wirtschaftlichen Entwicklung erhebliche Änderungen eingetreten sind. Eine Angleichung der Wägungs- unterlagen an zeitnahe Verhältnisse — wie dies Ott (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, nach Ihrem mehrfach in den letzten 20 Jahren geschehen ist — Schreiben vom 26. Januar dieses Jahres hatte der ist daher auch jetzt wieder dringend geboten. Die Herr Minister Schiller „vor einigen Wochen" die derzeit vom Statistischen Bundesamt vorbereitete fragliche Wohnung in Köln besichtigt. Zu welchem Umstellung der Preisindizes erfolgt auf der neuen Zeitpunkt hatte der Minister sich entschlossen, diese Basis 1970. Durch den nunmehr bereits weiten Ab- Wohnung nicht zu mieten? stand zum Basisjahr 1962 dürften die Preisindizes die tatsächliche Preisentwicklung erfahrungsgemäß Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär eher etwas überhöht anzeigen. Dies gilt entgegen beim Bundesminster für Wirtschaft und Finanzen: einer verbreiteten Meinung insbesondere für die Als der Minister diese Wohnung besichtigte, war es Preisindizes der Lebenshaltung. — wie bei jedem Objekt, das man besichtigt — eine offene Frage, ob gemietet wird oder nicht. Diese Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage. Frage ist völlig offengeblieben, und es ist niemals irgendwie zu einer Mietabsprache gekommen. Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung gegebenen- Vizepräsident Frau Funcke: Eine zweite Zu- falls bereit, gemeinsam mit den Ländern den Er- satzfrage. hebungsgemeinden angemessene finanzielle Zu- schüsse zu gewähren, um das Meldeverfahren zu Ott (CDU/CSU) : Sind Sie in der Lage, mir zu verbessern und zu intensivieren? sagen, wann der Herr Minister den Entschluß gefaßt hat, die Wohnung nicht zu mieten? Lag dieser Zeit- Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär punkt vor oder nach den ersten Presseveröffent- beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: lichungen? Herr Kollege Schneider, die Bundesregierung ist be- reit, mit den Ländern darüber zu sprechen. Aber ich Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär würde es nicht für glücklich halten, schon jetzt die beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: finanziellen Auswirkungen hier im einzelnen zu be- Herr Abgeordneter Ott, es ist mir nicht erlaubt, eine raten und damit bei der Verhandlungsgrundlage Frage von Ihnen zu werten, obwohl ich natürlich hin- mit den Ländern wieder auf eine schiefe Ebene zu zufügen muß, daß ein Minister, der fünf Jahre be- geraten. reits Minister ist und über viele Jahre Abgeord- neter, das Recht hat, sich nach einer Wohnung oder Vizepräsident Frau Funcke: Eine zweite Zu- nach einem Haus umzusehen. Ich hoffe, daß das auch satzfrage. von Ihnen nicht bestritten wird. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9773

Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage Ich möchte ergänzend darauf hinweisen, daß im des Herrn Abgeordneten Hauser. Bundesfernstraßenbau, der für die Infrastruktur von großer Bedeutung ist, die Erschließung von Ost- bayern auch in diesem Jahr besonders berücksichtigt Hauser (Bad Godesberg) (CDU/CSU) : Herr wird. Dort sind für 1972 Investitionen in Höhe von Staatssekretär, ist es richtig, daß die Ehefrau des rund 100 Millionen DM vorgesehen, davon allein Herrn Bundeswirtschafts- und -finanzministers in 77 Millionen DM für den Ausbau der Autobahnen, ihrer Eigenschaft als Mitgesellschafterin eines Unter- 38 Millionen DM z. B. für die Deggen- nehmens sich zur Zeit in Düsseldorf um ein bundes- dorf—Passau. eigenes Grundstück bemüht, das vom Finanzressort verwaltet wird? Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage, bitte! Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Dr. Fuchs (CDU/CSU) : Herr Parlamentarischer Ich kann mich hierzu nicht äußern. Was das Ressort Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, daß bei „Finanzen" in der Rheindorfer Straße angeht, so ist einer Arbeitslosenquote in einzelnen Landkreisen mir ein solcher Vorgang weder von der Ehefrau des von über 30 %und in mehreren Landkreisen von Ministers noch von der zuständigen Abteilung bis- zwischen 20 und 30 %höchste Eile geboten ist, um her bekanntgeworden. nun tatsächlich dieses Problem endgültig zu beseiti- gen, und daß die Bundesregierung dabei eine ganz besondere Verpflichtung hat? Vizepräsident Frau Funcke: Keine Zusatzfra- gen. Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär Die Fragen 58 und 59 des Abgeordneten Kater beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich be- Herr Kollege Dr. Fuchs, ich kann Ihnen nicht ganz antwortet. Die Antworten werden als Anlage abge- zustimmen, daß dies nur ein Problem der Bundes- druckt. regierung sei. Ich habe vorausgeschickt, daß hier eine Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern Ich rufe die Frage 60 des Herrn Abgeordneten notwendig erscheint. Das Petitum, das Sie vortra- Breidbach auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal; gen, wird von mir nur unter dem Aspekt einer Zu- die Frage wird schriftlich beantwortet. Das gleiche sammenarbeit zwischen dem Bund und dem Frei- gilt für die Frage 61. Die Antworten werden als An- staat Bayern anerkannt. lage abgedruckt. Zweite Zusatz- Ich rufe die Frage 62 des Herrn Abgeordneten Dr. Vizepräsident Frau Funcke: frage. Becker (Mönchengladbach) auf. — Der Abgeordnete ist nicht im Saal; die Frage wird schriftlich beant- wortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Dr. Fuchs (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wer- den Sie von sich aus mit besonderem Nachdruck dar- Ich rufe die Frage 63 des Herrn Abgeordneten auf drängen, daß die erforderlichen Maßnahmen Dr. Fuchs auf: wirklich umgehend getroffen werden, und zwar auch unter dem Gesichtspunkt einer Regionalisierung der Ist die Bundesregierung bereit, angesichts der Arbeitslosen- zahlen in den ostbayerischen Landkreisen, die z. T. über denen Konjunkturpolitik und bei der Auflösung der Kon- des Jahres 1966 liegen, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die Infrastruktur zu verbessern und saison- junkturrücklage? unabhängige Dauerarbeitsplätze zu schaffen? Bitte schön! Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Wir werden selbstverständlich in der Konjunktur- Parlamentarischer Staatssekretär Hermsdorf, politik den Gesichtspunkt, den Sie hier vorgetragen beim Bundesminster für Wirtschaft und Finanzen: haben, nicht nur in bezug auf Bayern, sondern gene- Herr Kollege Dr. Fuchs, seit dem 1. Januar 1972 wird rell regional sehr genau zu prüfen haben. die regionale Wirtschaftspolitik, deren wichtigstes Ziel die Schaffung neuer Arbeitsplätze in wirt- schafts- und strukturschwachen Gebieten ist, nach Vizepräsident Frau Funcke: Keine weiteren dem ersten Rahmenplan für die Gemeinschaftsauf- Zusatzfragen? — Die Frage 64 wurde vom Frage- gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschafts- steller zurückgezogen. Die Fragen 65, 66, 67, 68, 69 struktur" durchgeführt. Die Bundesregierung wirkt und 70 werden auf Bitten der Fragesteller schriftlich bei der Rahmenplanung und bei der Finanzierung beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen ab- der Gemeinschaftsaufgabe mit. Die Durchführung gedruckt. der Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschafts- Ich rufe die Frage 71 des Herrn Abgeordneten struktur, wozu auch die Schaffung saisonunabhän- Löffler auf. — Der Herr Kollege ist nicht im Saal. giger Arbeitsplätze gehört, ist Aufgabe der Länder, Die Frage wird schriftlich beantwortet. Das gleiche in diesem Fall also des Freistaates Bayern. Im gilt für die Frage 72. Die Fragen 73 und 74 werden Rahmenplan stehen den Ländern Mittel für den Aus- auf Bitten des Fragestellers ebenfalls schriftlich be- bau der wirtschaftsnahen Infrastruktur zur Ver- antwortet. Die Antworten werden als Anlage abge- fügung. druckt. 9774 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Vizepräsident Frau Funcke Ich rufe die Frage 75 des Herrn Abgeordneten Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage. Kiechle auf: Sieht die Bundesregierung in der Beseitigung der zehnjährigen KieChle (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, teilen Grundsteuerfreiheit der sogenannten Zweitwohnungen einen Beitrag, die Finanznot unserer Kommunen zu lindern und die Sie meine Meinung, daß es insbesondere in schön Besitzer dieser Wohnungen zur Mitfinanzierung von durch die Gemeinden erbrachten Vorleistungen hinsichtlich der Infrastruk- gelegenen Ferienorten der Bundesrepublik eine tur heranzuziehen? Reihe von Wohnungen gibt, die von gutsituierten Kreisen unserer Bevölkerung nur deswegen gebaut Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär wurden, um sich dort für vier oder sechs Wochen im beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Jahr aufzuhalten, und daß diese Wohnungen, be- Herr Kollege Kiechle, dürfte ich beide Fragen zu- sonders auf die Infrastruktur bezogen, den Ge- sammen beantworten? meinden zusätzliche Lasten auferlegen, für die sie (Abg. Kiechle: Bitte sehr!) genauso wie für Hauptwohnsitze zehn Jahre lang keinerlei Grundsteuern einnehmen? — Ich bedanke mich. Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär Vizepräsident Frau Funcke: Bitte schön! Dann beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: rufe ich noch die Frage 76 des Herrn Abgeordneten Ich teile Ihre Auffassung nicht in jedem Punkt, ob- Kiechle auf: wohl ich zugebe, daß das Problem der Zweitwoh- Wird die Bundesregierung in absehbarer Zeit eine derartige nung, wie es von Ihnen hier aufgeworfen worden Initiative ergreifen und eine entsprechende Änderung des ein- schlägigen Gesetzes vorschlagen? ist, die Bundesregierung wiederholt beschäftigt hat. Trotzdem sind wir nach Prüfung der Dinge bisher zu Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär der Auffassung gekommen, die ich hier soeben vor- beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: getragen habe. Ich würde bitten, uns noch Material Zur Beseitigung des Wohnungsfehlbestandes soll zur Verfügung zu stellen und entsprechende Vor- der frei finanzierte Wohnungsbau weiterhin auf schläge zu machen, damit wir diese Frage bei der breiter Grundlage, u. a. durch die zehnjährige Steuerreform mit in Angriff nehmen können. Grundsteuervergünstigung nach dem Zweiten Woh- nungsbaugesetz, gefördert werden. Bei dem objekt- Vizepräsident Frau Funcke: Zusatzfrage. bezogenen und nur an die Einhaltung bestimmter Wohnflächengrenzen geknüpften Charakter der Kiechle (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, sind Sie Grundsteuervergünstigung spielt es dabei grund- meiner Meinung, daß es bei Abwägung der betref- sätzlich keine Rolle, ob die Wohnung vom Eigen- fenden Rechtsgüter — um es einmal so zu nennen — tümer selbst genutzt oder vermietet wird und mit den von mir angesprochenen Personenkreisen durch- welcher Intensität Eigentümer oder Mieter die Woh- aus zuzumuten wäre, im Falle der Zweitwohnung nung nutzen. auf die Vergünstigung der Steuerbestimmung zu Im Rahmen dieser einfachen und dem Objekt- verzichten, und sind Sie damit einverstanden, daß steuercharakter der Grundsteuer angepaßten Kon- ich beispielsweise die Fremdenverkehrsverbände zeption der Grundsteuervergünstigung muß es als bitte, Ihnen geeignetes Material in dieser Sache zur eine unerwünschte Nebenfolge in Kauf genommen Verfügung zu stellen? werden, daß auch als Dauerwohnraum geeignete Zweitwohnungen in typischen Ferienorten an der Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär allgemeinen Förderungsmaßnahme teilhaben, denn beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: nicht förderungswürdige Zweitwohnungen lassen Ich bin mit dem letzten Punkt absolut einverstanden. sich nicht von der objektiven Beschaffenheit her, insbesondere auch nicht auf Grund ihrer Lage, ab- Ihrem ersten Satz muß ich allerdings hinzufügen: grenzen. Den Charakter als Zweitwohnung erhält dies ist nicht nur eine Frage der Grundsteuerfrei- eine Wohnung vielmehr erst dadurch, daß sie vom heit, sondern es gibt in unserer Steuergesetzgebung Eigentümer oder Mieter nicht dauernd genutzt wird. bestimmt noch eine Reihe von Steuervergünstigun- Das Problem der unerwünschten Begünstigung be- gen, die Personen zuteil werden, die es eigentlich stimmter Zweitwohnungen ließe sich daher nur gar nicht notwendig hätten. Dieses generelle Pro- durch eine allgemeine behördliche Kontrolle über blem können wir hier nicht ausschließen. die Art der Nutzung frei finanzierter Neubauwoh- nungen lösen, wobei sicherlich die Unterhaltung Vizepräsident Frau Funcke: Keine Zusatzfra- einer Zweitwohnung aus gesundheitlichen oder be- gen. Ich rufe die Frage 77 des Herrn Abgeordneten ruflichen Gründen nicht ohne weiteres als steuer- Dichgans auf: schädlich angesehen werden könnte. Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, Künstler, die im Steuergebiet der Bundesrepublik Deutschland leben, dadurch zu fördern, daß öffentlich anerkannte, spendenfähige Museen, Die Abgrenzungsschwierigkeiten und der Verwal- denen Spenden für den Erwerb von Werken solcher Künstler tungsaufwand für die Überwachung der Nutzung gewährt werden, die Kunstwerke den Spendern auf Lebenszeit leihweise überlassen dürfen, ohne dadurch die Abzugsfähigkeit würden, bezogen auf das Bundesgebiet, in keinem der Spenden zu beseitigen, wobei Mißbräuchen dadurch vorge- beugt werden könnte, daß den einzelnen Museen ein jährlicher Verhältnis zu den erzielbaren Mehreinnahmen an Höchstbetrag für Ankäufe dieser Art zur Verfügung gestellt Grundsteuer stehen. Wir werden trotzdem bei der wird? Beratung der Zweiten Steuerreform dieses Problem im Auge behalten und sind gern bereit, geeignete Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär Vorschläge von Ihnen zu prüfen. beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9775

Parlamentarischer Staatssekretär Hermsdorf Verehrter Herr Kollege Dichgans, nach den Be- Ich rufe die Frage 78 des Herrn Abgeordneten stimmungen , des Einkommensteuergesetzes und des Pfeifer auf: Körperschaftsteuergesetzes können Spenden zur Ist die Bundesregierung bereit, mit der französischen Regierung bzw. den französischen Streitkräften erneut zu verhandeln mit Förderung gemeinnütziger Zwecke im Rahmen von dem Ziel, daß das Militärhospital der französischen Garnison in Höchstbeträgen bei der Ermittlung des Einkommens Tübingen, das — gemessen an der Gesamtzimmerzahl — kaum belegt ist, zur Errichtung eines großen Rehabilitationszentrums abgezogen werden. Gemeinnützig sind solche für Hirngeschädigte freigegeben wird? Zwecke, durch deren Erfüllung ausschließlich und unmittelbar die Allgemeinheit gefördert wird. Da Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär der Nutzen aus gekauften Kunstwerken in den von beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Ihnen genannten Fällen den Spendern auf Lebens- Herr Abgeordneter Pfeifer, der West- und Mittel- zeit überlassen werden soll, wird mit , den Spenden flügel des bundeseigenen ehemaligen Heeresstand- nicht ausschließlich die Allgemeinheit gefördert. ortlazaretts in Tübingen wird von den französischen Die Bundesregierung hält es deshalb nicht für ge- Streitkräften als Militärhospital benutzt, während rechtfertigt, die Ausgaben für den Erwerb der Kunst- der Ostflügel der Liegenschaft bereits heute vom werke in solchen Fällen als steuerlich abzugsfähige Land Baden-Württemberg als Versorgungskranken- Spenden anzuerkennen. haus für Hirnverletzte in Anspruch genommen ist. Nach langen Verhandlungen mit den französischen Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage. Streitkräften ist im erreicht worden, daß weitere 27 Räume des Militärhospitals dem Versor- Dichgans (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wäre gungskrankenhaus überlassen werden konnten. Die die Bundesregierung bereit, zu untersuchen, wie sich französischen Streitkräfte haben bei diesen Verhand- ähnliche Vorschriften in den Vereinigten Staaten lungen zu erkennen gegeben, daß sie das Militär- bewährt haben, und dann noch einmal zu prüfen, ob hospital für Ernst- und Katastrophenfälle bereithal- es nicht doch ein wirksamer Weg ist, gerade den ten müssen und einer Freigabe weiterer Räume lebenden Künstlern zu helfen, an denen wir ja nicht zustimmen können. stärker interessiert sind als an den toten? Bei diesem Sachverhalt versprechen Bemühungen um völlige Freigabe nur dann Erfolg, wenn den Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär Streitkräften entsprechender Ersatz angeboten wird. beim Bundesminster für Wirtschaft und Finanzen: Die Kosten der Ersatzbauten hätten dann allerdings Herr Kollege Dichgans, natürlich können wir das die Träger des Rehabilitationszentrums als Veranlas- Problem weiter untersuchen. Es muß aber festgestellt ser zu tragen. In diesem Fall wird es wahrscheinlich werden, daß der von Ihnen erwähnte Personenkreis wirtschaftlich sinnvoller sein, an Stelle von Ersatz- bereits eine Reihe von Vergünstigungen hat. Auf bauten für die französischen Streitkräfte Neubauten steuerlichem Gebiet wird den Künstlern wie anderen für das Rehabilitationszentrum zu erstellen. freiberuflich Tätigen bei der Ermittlung des Ein- Sollte in Zukunft eine Änderung der Haltung der kommens ein Freibetrag bis zur Höhe von 1200 DM französischen Streitkräfte erkennbar werden, ist die je Kalenderjahr gewährt. Außerdem können Künst- Bundesregierung selbstverständlich gern bereit, sich ler den ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 5,5 v. H. für eine Freigabe der restlichen Räume zugunsten in Anspruch nehmen. Schließlich sind bei Baumaß- des Versorgungskrankenhauses einzusetzen. nahmen des Bundes bis zu 2 v. H. der Baukosten für Aufträge an lebende Künstler vorzusehen, soweit Eine Zusatzfrage. Zweck und Bedeutung der Baumaßnahme dies recht- Vizepräsident Frau Funcke: fertigen. Sie sehen also, daß die Bundesregierung mit Hilfe dieser Maßnahmen schon versucht hat, den Pfeifer (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ich darf von Ihnen erwähnten Personenkreis zu begünstigen. Sie zunächst fragen: Besteht nicht auch eine Möglich- Ich sehe im Agenblick keine weiteren Ausweitungs- keit, daß die Bundesregierung prüft, ob sie den möglichkeiten, obwohl ich gern Anregungen von französischen Streitkräften eine entsprechende Bet- Ihrer Seite im Namen der Bundesregierung zur tenzahl in geeigneten anderen Räumen, etwa im Kenntnis nehmen und sie erneut überlegen würde. Schwarzwald, zur Verfügung stellen kann, zumal im Raum Baden-Baden in einer Reihe von Anstalten, z. B. für Lungenkranke, das Problem der Belegung Vizepräsident Frau Funcke: Zweite Zusatz- in der Zukunft aufgetreten ist? frage. Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär Dichgans (CDU/CSU) : Ist sich die Bundesregie- beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: rung darüber klar, daß die soeben von Ihnen ange- Soweit ich es habe nachprüfen können, Herr Kollege führten Vergünstigungen nur für Steuerpflichtige in Pfeifer, ist dies bereits versucht worden. Aber das, Betracht kommen, die ein Einkommen haben? was wir den Franzosen angeboten haben, haben sie abgelehnt. Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen: Vizepräsident Frau Funcke: Zweite Zusatz- Das trifft nicht in allen Fällen zu. frage.

Vizepräsident Frau Funcke: Keine Zusatz- Pfeifer (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, meine frage. zweite Zusatzfrage bezieht auf die Neubauten: Sol- 9776 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Pfeifer gangenen Jahr um mehr als 10 % erhöht wurden, die Renten len diese Neubauten für ein Rehabilitationszentrum jedoch nur um 5,5 % gestiegen sind? nach Ihren Vorstellungen im Raum Tübingen ent- stehen oder irgendwoanders? Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Hermsdorf, Parlamentarischer Staatssekretär Herr Kollege Härzschel, die Renten stiegen in den beim Bundesminister für Wissenschaft und Finan- letzten Jahren, wenn man alles in allem nimmt, zen: Dies kann ich aus dem Stegreif nicht beantwor- schneller als die Lebenshaltungskosten, wenn sie ten. Ich muß mich, da es ein ganz neuer Tatbestand auch hinter der Entwicklung der Pflegesätze zurück- ist, mit der Sache erst noch einmal befassen. Wenn geblieben sind. Das hat seinen Grund darin, daß die wir in dem Raum heute allerdings schon gewisse Heime personalintensive Einrichtungen sind und Zentren haben, würde es sich lohnen, die Maßnah- deshalb Lohn- und Gehaltserhöhungen besonders men dort fortzusetzen und nicht einen neuen Platz stark zu Buche schlagen. zu nehmen. Das setzt aber wieder eine Prüfung der Bedingungen und der Kosten der unterschiedlichen Dennoch hat sich die Situation der Rentner in Plätze voraus. Alten- und Pflegeheimen, die Hilfen in besonderen Lebenslagen erhalten — also Sozialhilfe , eher Da diese Frage einen ganz neuen Tatbestand auf- verbessert als verschlechtert, wenn man berücksich- wirft, bitte ich, die Sache jetzt nicht zu vertiefen. tigt, daß die Rentenerhöhung nach den Rentenanpas- Ich würde aber in meinem Hause die Unterlagen sungsgesetzen jeweils für die ersten fünf Monate noch einmal heraussuchen lassen, um festzustellen, nach der Anpassung nicht als Einkommen im Sinne ob eine Möglichkeit und welche besteht. dies Bundessozialhilfegesetzes berücksichtigt werden dürfen. Vizepräsident Frau Funcke: Zu einer Zusatz- frage Herr Abgeordneter Maucher. Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage.

Maucher (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß durch die Härzschel (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, es Errichtung eines solchen Rehabilitationszentrums in besteht kein Zweifel, daß in den letzten zwei Jahren Tübingen — in der Nähe einer Universität, wo er- die Rentenerhöhungen relativ gering waren, die fahrene Fachkräfte vorhanden sind — die beste Vor- Pflegesatzerhöhungen aber sehr hoch. Ich möchte Sie aussetzung dafür gegeben ist, bei den ständig zu- deshalb fragen: Haben Sie Zahlenmaterial, mit dem nehmenden Verkehrsunfällen auf die Dauer größe- Sie diese Aussage noch untermauern können? Bei ren Schaden durch eine sinnvolle Rehabilitation ab- meiner letzten Anfrage haben Sie bestritten, daß zuwenden, und daß die Mittel, die hier benötigt solches Material vorhanden ist. werden, sich im Laufe der Jahre mehrfach bezahlt machen? Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege, ich heit: Herr Kollege Härzschel, ich habe hier nicht kann die Zusatzfrage nicht zulassen. Sie hängt mit auf Grund von Zahlenmaterial geantwortet, weil dies der ursprünglichen Frage nicht mehr unmittelbar zu- dem Bund nicht zur Verfügung steht. Es liegt nicht sammen, sondern geht schon weit darüber hinaus. im Rahmen seiner Aufgabenstellung; dieses Gebiet Die Frage davor hatte ich zwar noch zugelassen; es ist verfassungsmäßig für andere Ebenen unseres tut mir leid; aber wir kommen sonst zu weit ab. Staates vorgesehen. Das, was ich hier beantwortet Damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich habe, ergibt sich aus der prinzipiellen Überlegung des Bundesministers für Wirtschaft und Finanzen der Veränderungen bei Renten insgesamt, bei der erledigt. Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Sozialhilfe andererseits und bei den Personalkosten in den Heimen und Einrichtungen. Darauf zielte ihre Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäftsbe- Frage; die habe ich beantwortet. reich des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit. Zur Beantwortung steht der Herr Par- Vizepräsident Frau Funcke: Zweite Zusatz- lamentarische Staatssekretär Westphal zur Verfü- frage. gung.

Die Fragen 2 und 3 dies Herrn Abgeordneten Mau- Härzschel (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, was cher werden zusammen mit den Fragen aus dem will die Regierung tun, um diese laufende Ver- Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und schlechterung der Situation der Rentner in den Sozialordnung beantwortet. Alten- und Pflegeheimen zu stoppen? Die Fragen 4 und 5 der Abgeordneten Frau Brauksiepe werden schriftlich beantwortet. Die Ant- Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim worten werden als Anlagen abgedruckt. Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- heit: Herr Kollege Härzschel, die Antwort, die ich Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Härzschel Ihnen gegeben habe, besagt, daß es eine relative auf: Verbesserung gegeben hat. Insofern kann ich zur Wie beurteilt die Bundesregierung die Situation der Rentner in Alters- und Pflegeheimen, nachdem die Pflegesätze im ver- Zeit keine Verschlechterung bekämpfen. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9777

Vizepräsident Frau Funcke: Keine Zusatz- heit: Herr Kollege, erstens fällt das nicht in das frage. Ressort, von dem aus ich hier die Antwort zu geben habe. Zweitens ist das Problem, um das es hier geht, Dann rufe ich die Frage 7 des Herrn Abgeordneten doch differenzierter zu sehen. Erstens geht es- um Härzschel auf: mehr Menschen, die in Zukunft vielleicht in Heimen Wie hoch ist prozentual der Anteil der Rentner in Alters- und wohnen werden, in verschiedenen Arten der Alten- Pflegeheimen, die neben der Rente Sozialhilfe in Anspruch neh- men müssen, und welche zusätzlichen Belastungen sind bei der einrichtungen. Zweitens geht es um Veränderungen zunehmenden Zahl von Alters- und Pflegeheimen für die Sozial- von Lohn- und Gehälterentwicklungen in den näch- hilfe zu erwarten? sten Jahren, die auch anders sein können als in den vergangenen Jahren. Und drittens geht es um Aus- Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim wirkungen auf Pflegesätze. Alles in allem ist es Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- richtig, daß das selbstverständlich auch Auswirkun- heit: Herr Kollege Härzschel, Berechnungsgrund- gen auf die Sozialhilfeleistungen gerade der Ge- lagen für die Beantwortung Ihrer Fragen liegen aus meinden hat. Daß dies kein leichtes Problem für die dem Jahre 1969 vor. Danach wohnen in der Bun- Gemeinden ist, ist auch klar. Aber eine zusammen- desrepublik 3,8 % der Gesamtbevölkerung in ge- fassende Antwort, wie sehr sich das in den nächsten schlossenen Alteneinrichtungen, und zwar 0,5 % in Jahren steigern wird, kann Ihnen keiner geben. Altenwohnheimen, 2,4% in Altenheimen und 0,9 % in Altenpflegeheimen, zusammen 3,8 % der Be- Keine Zusatz- völkerung. Von den in Alteneinrichtungen wohnen- Vizepräsident Frau Funcke: frage. den Menschen sind Sozialhilfeempfänger 10 % in den Altenwohnheimen, 31% in den Altenheimen Dann rufe ich auf die Frage 8 des Abgeordneten und 59 % in den Alten- und Pflegeheimen. Wollen Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein: Sie zusammengefaßt wissen, wie viele von den Ein- Wie beurteilt die Bundesregierung die Mitteilung der Deut- wohnern solcher Einrichtungen Sozialhilfeempfän- schen Krankenhausgesellschaft, daß bis 1975 rund 12,7 Milliarden DM aufgebracht werden müssen, um den bisherigen Standard der ger sind, müßte ich Ihnen antworten: Etwa 35 %! Krankenhausversorgung sicherzustellen? Nach vorläufigen, noch nicht abgeschlossenen Er- hebungen haben sich diese Prozentzahlen in den Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim letzten beiden Jahren nicht wesentlich verändert. Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: In welchem Umfang in den nächsten Jahren durch Ich bitte, beide Fragen des Herrn Abgeordneten im den Zuwachs von Alten- und Pflegeheimen zusätz- Zusammenhang beantworten zu dürfen. liche Belastungen auf die Sozialhilfe zukommen, ist nicht abzusehen. Vizepräsident Frau Funcke: Dann rufe ich auch die Frage 9 auf: Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage. Auf Grund welcher Erkenntnisse hält es die Bundesregierung für möglich, alle Leistungen nach dem vorgesehenen „Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung Härzschel (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, das der Krankenhauspflegesätze" einschließlich des Neubaus von bezieht sich auch auf die Frage von vorhin: Wie Krankenhäusern mit jährlich 7300 Betten und der Befriedigung des Ergänzungsbedarfsb von jährlich 14 700 Betten zu finanzieren, o erklären Sie sich dann, daß z. B. der Landkreistag wohl zwischen dem von der Deutschen Krankenhausgesellschaft bis 1975 für notwendig erachteten Betrag und den vorgesehenen in Baden-Württemberg von einer sehr starken Zu- Gesamtaufwendungen der öffentlichen Hand in Höhe von 8930 nahme der Belastung der Kreise gerade durch die Millionen DM eine Differenz von 3,8 Milliarden DM besteht? Sozialhilfe in Verbindung mit den Alten- und Pflege- heimen gesprochen hat? Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim heit: Die Bundesregierung kann sich die Berechnun- Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- gen der Deutschen Krankenhausgesellschaft nicht zu heit: Ich habe dies nicht bestritten! Ich habe Ihnen eigen machen. In ihrer Antwort auf die Kleine An- auf Grund Ihrer Frage die Relativität dieser Ände- frage der Abgeordneten Katzer, Dr. Götz, Dr. Schnei- rungen dargestellt. Es ist richtig, daß sich die Pflege- der (Nürnberg), Dr. Jungmann und der Fraktion sätze erheblich erhöht haben und daß dies auch Fol- der CDU/CSU betr. Krankenhausfinanzierung gen für die Sozialhilfe hat. Insofern kann ich Ihnen Drucksache VI/1141 - hat die Bundesregierung nichts anderes antworten als das, was auf Ihre erste eingehend die für sie maßgebenden Gesichtspunkte Frage geantwortet werden mußte. bei der Berechnung des Ersatzbedarfs, Nachholbe- darfs und Zusatzbedarfs dargelegt. Die grundsätz- lichen Ausführungen in der Antwort auf die Frage 2 Zweite Zusatz- Vizepräsident Frau Funcke: der Kleinen Anfrage gelten im wesentlichen auch frage. heute unverändert fort, auch wenn es im Hinblick auf die Berechnungsdaten dort inzwischen Verände- Härzschel (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wür- rungen gegeben hat. Die Bedarfsschätzungen der den Sie nicht meinen, daß durch den Antrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft gehen von CDU/CSU-Fraktion auf Rentenniveauerhöhung eine einem überhöhten Bettenzuwachs aus. Sie lassen ins- Entlastung erfolgen könnte? besondere außer acht, daß den Krankenhäusern nach Inkrafttreten des Gesetzes zur wirtschaftlichen Si- Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim cherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- Krankenhauspflegesätze für die Beschaffung von 9778 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Parlamentarischer Staatssekretär Westphal kurzfristigen Anlagegütern und für die Instand- Vizepräsident Frau Funcke: Eine weitere Zu- haltung und Instandsetzung pauschale Beträge aus satzfrage. öffentlichen Mitteln bewilligt werden, die über die gegenwärtig für die gleichen Zwecke zur Verfügung stehenden Mittel bei weitem hinausgehen. Damit Prinz zu Sayn-Wittgenstein -Hohenstein (CDU/CSU) : Halten Sie es für realistisch, wenn die werden die Krankenhäuser erstmals in die Lage Bundesregierung bei der mittelfristigen Finanzpla- versetzt, ihre Einrichtungen auf einen Stand zu nung die Steigerungsraten nach dem Krankenhaus- bringen, der in medizinischer Hinsicht durchaus Neu- finanzierungsgesetz mit 3 0 bauten entspricht. /0 pro Jahr annimmt, wäh- rend doch die tatsächlichen Steigerungsraten, insbe- Die Stellungnahme der Krankenhausgesellschaft sondere im Bereich des Hoch- und Tiefbaus, aber läßt auch unberücksichtigt, in welchem Umfang durch auch bei den Investitionsgütern, weitaus höher lie- eine Umstrukturierung im Rahmen der Kranken- gen? hausbedarfsplanung eine bessere Nutzung der für den Krankenhausbau bereitgestellten Mittel und der vorhandenen Flächenkapazitäten ermöglicht wird. Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- Die Bundesrepublik gehört der Zahl der Kranken- hausbetten nach schon heute im internationalen Ver- heit: Herr Kollege von Wittgenstein, wir haben zu gleich zu den am besten versorgten Staaten. Die dieser Frage im Zusammenhang mit allgemeinen Bundesregierung ist der Auffassung, daß der mit und über längere Fristen laufenden Entwicklungen dem Gesetzentwurf verfolgte Zweck mit der vorge- Berechnungen angestellt und sind von da aus bisher sehenen Finanzierung erreicht wird. bei diesen Raten der Erhöhung geblieben und glau- ben, daß wir das auch zur Zeit tun können. Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage. Vizepräsident Frau Funcke: Eine weitere Zu- satzfrage. Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, mir zuzugestehen, daß auf Grund der Entwicklung, Prinz zu Sayn -Wittgenstein -Hohenstein seitdem die Kleine Anfrage der CDU/CSU beant- (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, welche Mitteilun- wortet wurde, neue Werte und neue Überlegungen gen hat die Bundesregierung, denen Sie entnehmen in die Diskussion eingeführt wurden, die für die können, daß die Länder und die Gemeinden in der neuen Berechnungen der Krankenhausgesellschaft Lage sein werden, die zwei Drittel nach dem Kran- Grundlage sein könnten? kenhausfinanzierungsgesetz schon in diesem und in den folgenden Jahren in vollem Umfang zu finan- Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim zieren? Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Herr Kollege von Wittgenstein, die Bundesregie- Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim rung selbst hat, nachdem eine Prüfung stattgefunden Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- hatte davon wissen Sie —, ihre Werte, die zur heit: Ich kann Ihnen dazu im Augenblick keine Ant- Berechnung benutzt werden, verändert: 60 Jahre wort an Hand von Statistiken oder Unterlagen aus statt 50 Jahre Dauer der Nutzung und einen Bet- den Etats geben; darauf bin ich nicht vorbereitet. tenwert als Durchschnittsberechnungswert von Aber ich darf Ihnen sagen, daß im Zuge der Vorbe- 100 000 DM statt bisher 70 000 DM. Dazu kommen reitung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes die Steigerungsraten für die Zukunft. Sie hat daraus die Länder ja beteiligt waren, sich also doch über eine Konsequenzen gezogen und im Bundeshaushalt für längere Zeit darauf einstellen konnten, daß dieses die Mobilisierung der dafür erforderlichen Mittel Gesetz in Kraft treten soll. Sie wissen, daß die Ver- mehr Gelder bereitgestellt. abschiedung durch dieses Hohe Haus eigentlich schon hätte erfolgen sollen. Nun verzögert sich das leider. Vizepräsident Frau Funcke: Eine zweite Zu- Andererseits ist klar, daß das Datum für das Inkraft- satzfrage. treten dieses Gesetzes der 1. Januar 1972 ist und bleiben soll; die Länder haben sich also darauf ein-

Prinz zu Sayn-Wittgenstein -Hohenstein stellen könen. Daten aus den Länderhaushalten zu (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, würden Sie zur geben, darauf bin ich nicht vorbereitet. Kenntnis nehmen, daß die Bundesregierung genau den entgegengesetzten Weg, nämlich den der Ver- längerung der Nutzungs- und Abschreibungszeiten, Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage gegangen ist, als man zwangsläufig auf Grund der des Herrn Abgeordneten Dr. Fuchs. Entwicklung im Bereich der medizinisch-technischen Entwicklung gehen sollte? Dr. Fuchs (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Tatsache, daß der Bundesrat in Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf des Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- Krankenhausfinanzierungsgesetzes von einer we- heit: Sie haben mich gebeten, zur Kenntnis zu neh- sentlich höheren Investitionssumme ausgeht, als Sie men, was Sie gesagt haben. Dies muß ich tun; denn sie jetzt genannt haben und als sie auch im Regie- Sie haben es gesagt. rungsentwurf steht? Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9779

Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: des Herrn Abgeordneten Hansen. Herr Kollege Dr. Fuchs, die Beratungen im Bundes- - rat haben ja noch einmal eine ganze Fülle von Be- Hansen (SPD) : Herr Staatssekretär, sind Sie nicht sprechungen ausgelöst und auch mit zur Wirkung mit mir der Meinung, daß die Untersuchung, um ein gehabt, daß noch von unabhängiger Stelle Unter- vollständiges Bild zu erhalten, nicht auf Straßen- suchungen angestellt worden sind, deren Ergebnisse spiele beschränkt bleiben, sondern auch auf Spiele in Neuberechnungen und auch neue Bereitstellungen in Feld, Wald und Wiese, auf Schulhöfen und ver- von Mitteln des Bundes eingegangen sind, so daß botenen Rasenflächen erstreckt werden sollte? das, was der Bundesrat damals an Kritik äußerte, nach unserer Meinung nicht mehr geäußert werden Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim wird, wenn er jetzt in der zweiten Runde wieder Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: dran ist. Frau Präsidentin, muß ich antworten?

Vizepräsident Frau Funcke: Keine weitere Vizepräsident Frau Funcke: Nein, sie brau- Zusatzfrage. chen nicht zu antworten. Das steht Ihnen frei.

Ich rufe die Frage 10 des Herrn Abgeordneten An dieser Stelle haben wir aus dem Geschäfts- Rollmann auf: bereich des Auswärtigen Amtes noch die Frage 123 des Herrn Abgeordneten Baier: Ist die Bundesregierung bereit, eine Studie darüber in Auftrag zu geben, inwieweit Gewalttätigkeit und Brutalität der Szenen Wurde anläßlich des Pariser Treffens von Bundeskanzler Brandt im Fernsehen das Straßenspiel von Kindern beeinflussen? auch über die Fortführung und Aktivierung des Deutsch-Franzö- sischen Jugendwerks gesprochen mit dem Ziele, die gegenwär- tigen finanziellen Leistungen der deutschen und der französischen Regierung von je 16,2 Millionen DM wieder auf die früheren Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Leistungen von je 20,0 Millionen DM im gegenseitigen Einver- Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: nehmen anzuheben? Herr Kollege Rollmann, das Deutsche Jugendinstitut in München hat im Auftrag des Bundesministeriums Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim für Jugend, Familie und Gesundheit mit der Erarbei- Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- tung einer umfassenden Dokumentation und kriti- heit: Herr Kollege Baier, bei dem Treffen Anfang schen Analyse der international vorhandenen wis- Februar 1972 in Paris haben die Regierungschefs senschaftlichen Untersuchungen über Medienwir- die Frage der weiteren Finanzierung des Deutsch kung auf Kinder und Jugendliche begonnen. Erst Französischen Jugendwerks nicht behandelt. Es fand nach Abschluß der Arbeiten des Deutschen Jugend- jedoch zur gleichen Zeit ein Gespräch des Koordi- instituts — voraussichtlich Anfang 1973 — läßt sich nators für die deutsch-französische Zusammenarbeit, überblicken, auf welchen Gebieten weitere Studien Herrn Vizepräsidenten Professor Carlo Schmid, mit notwendig sind. Die Frage nach einer potentiellen seinem französischen Kollegen statt, bei dem der Beeinflussung des Straßenspiels von Kindern durch Wille zum Ausdruck gebracht wurde, nachdrücklich Gewalttätigkeit und Brutalität der Szenen im Fern- darauf hinzuwirken, daß durch die Währungsbewe- sehen könnte dabei als ein Teilaspekt unter vielen gungen keine nachteiligen Folgen für die Arbeit des innerhalb des breit gefächerten Wirkungsprozesses Deutsch-Französischen Jugendwerks entstehen. berücksichtigt werden. Der Bundesminister für Ju- gend, Familie und Gesundheit möchte hinzufügen, Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage. daß ihm bekanntgeworden ist, daß sich auch die von den Fernsehanstalten geplanten Forschungsvorhaben bezüglich der Medienwirkung u. a. mit diesem Baier (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ist aus Thema beschäftigen wollen. der Tatsache, daß vom Zeitpunkt der Begründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks im Jahre 1963 bis zum Jahre 1968 die Jugend- bzw. Erzie- Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage. hungsminister beider Länder siebenmal, und zwar außer im Jahre 1966 jährlich ein- bis zweimal, an diesen Konsultationstreffen der Regierungschefs Rollmann (CDU/CSU) : Ist es nicht möglich, Herr teilgenommen haben, seitdem aber nicht mehr, etwa Staatssekretär, den Einfluß der Gewalttätigkeit und zu schließen, daß dem deutsch-französischen Jugend- Brutalität im Fernsehen auf das Straßenspielen von austausch nicht mehr die ursprüngliche, hohe Be- Kindern bereits jetzt in den Auftrag an das Deut- deutung beigemessen wird, oder auf welche Gründe sche Jugendinstitut einzubeziehen? ist das zurückzuführen?

Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: heit: Herr Kollege Rollmann, der Auftrag an das Dies, was Sie daraus schließen wollen, können Sie Jugendinstitut ist der des Zusammenfassens und nicht daraus schließen, Herr Kollege Baier. Denn Auswertens aller vorhandenen Untersuchung. Falls Tatsache ist, daß der für diesen Fragenbereich zu- sich solche auf diesem Gebiet schon als vorhanden ständige Bundesminister, Frau Bundesminister Stro- zeigen, werden sie selbstverständlich einbezogen bel, mit seinem französischen Kollegen, dem Herrn werden. Minister Comiti, laufend Konsultationen hat, also 9780 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Parlamentarischer Staatssekretär Westphal sich nicht auf die Zeiten einzustellen braucht, die diese Frage erneut zur Debatte stand, und wir auch sich aus dem Zusammentreffen der Herren Regie- dort wieder sagen mußten: Bitte, haltet das auf deut- rungschefs ergeben. Insofern finden laufend, und scher Seite zur Verfügung gestellte Geld, wenn auch zwar durchschnittlich zweimal im Jahr, solche Zu- gesperrt, zur Verfügung! Dem hat der Finanzmini- sammenkünfte statt, die sich aus den Terminkalen- ster zugestimmt, und der Haushaltsausschuß dern dieser beiden Minister leichter ergeben. hat — — (Abg. Baier: Das war unser Antrag, nicht Vizepräsident Frau Funcke: Zweite Zusatz- der der Regierung!) frage. — Aber wir haben uns selbstverständlich darum bemüht, daß die 18 Millionen DM erhalten werden, Baier (CDU/CSU) : Wenn ich akzeptiere, daß dem und der Finanzminister hat dann zugestimmt. Es so ist, Herr Staatssekretär, dann will ich Sie doch gibt keine Gegensätze in dieser Frage, habe ich den fragen: Welche konkreten Schritte hat der Bundes- Eindruck. Wir müssen jetzt, Herr Kollege Rollmann, familien- und -jugendminister unternommen, um mit der französischen Seite erneut verhandeln, um diesen Betrag für das Deutsch-Französische Jugend- auf französischer Seite eine Einsicht für die Mög- werk, der seit über zwei Jahren von 20 Millio- lichkeit der Verwendung der deutschen Gelder über nen DM auf 16,2 Millionen DM abgesunken ist, die formale Gleichheit der Beträge hinaus zu errei- durch gemeinsame Bemühungen wieder zu erhöhen? chen, damit dem Jugendwerk und seiner Wirkung kein Schade entsteht. Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage Herr Kollege Baier, es gibt keine Treffen in den letz- des Herrn Abgeordneten Dr. Fuchs. ten Jahren zwischen den für dieses Jugendwerk verantwortlichen Ministern, bei dem dieses Problem nicht eines derjenigen gewesen ist, um das die Dr. Fuchs (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wie Minister sich bemüht haben, und bei dem von deut- beurteilen Sie die Aussichten, daß das Finanzvolu- scher Seite nicht darauf gedrängt worden ist, daß men des Deutsch-Französischen Jugendwerks wenig- auf französischer Seite eine Haltung eingenommen stens wieder auf die 20 Millionen DM erhöht wer- wird, die es ermöglichen würde, die nachteiligen den kann? Veränderungen, die sich aus dem Währungsgefüge für das Jugendwerk ergeben, aufzufangen. Beide Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Seiten sind der Ansicht, daß eine Änderung des Ver- Bundesminster für Jugend, Familie und Gesundheit: trages über das DFJW eine schwierige und proble- 20 Millionen DM liegen in weiter Ferne, Herr Dr. matische Sache ist. In ihm ist die sehr starre Gleich- Fuchs. Wir wären froh, wenn die 18 Millionen DM heitsformulierung enthalten, was die Einbringung fi- auf beiden Seiten gleichermaßen zum Einsatz kämen. nanzieller Mittel beider Seiten betrifft. Es muß sich also um einen Prozeß handeln, der im Rahmen des Vizepräsident Frau Funcke: Keine Zusatz- Vertrages herbeigeführt wird. Dazu bedarf es, so frage. Damit sind die Fragen aus Ihrem Geschäfts- habe ich den Eindruck, vornehmlich der Einsicht bereich erledigt. Vielen Dank, Herr Parlamentari- — nicht der Fachminister, sondern der Finanzmini- scher Staatssekretär Westphal! ster —, insbesondere auf französischer Seite. Auf unserer Seite, ist sie, glaube ich, vorhanden. Ich komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbe- reich des Bundesministers der Justiz. Zur Beantwor- Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage tung ist Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. des Herrn Abgeordneten Rollmann. Bayerl anwesend. — Ich komme zuerst zu Frage 50 des Herrn Abgeordneten Lenzer. — Herr Kollege Rollmann (CDU/CSU) : Was hat die Bundesregie- Lenzer ist nicht im Saal. Die Frage wird schriftlich rung getan, um in dem direkten Kontakt zwischen beantwortet, und die Antwort wird als Anlage abge- dem Bundesfinanzminister und dem französischen druckt. Finanzminister darauf hinzuweisen, daß Qualität Ich rufe die Frage 51 des Herrn Abgeordneten und Quantität des Deutsch-Französischen Jugend- Reddemann auf: werkes nicht mehr aufrechterhalten werden können, wenn in einer Zeit der steigenden Preise die Mittel Hält es die Bundesregierung für mit den gesetzlichen Bestim- mungen zu vereinbaren, wenn das gesetzliche Zeugnisverweige- für das Deutsch-Französische Jugendwerk sinken? rungsrecht für Redakteure durch die Vernehmung von Sekretä- rinnen ausgehöhlt werden soll? Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Dr. Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär Herr Kollege Rollmann, ich kann nicht für den Fi- beim Bundesminister der Justiz: Frau Präsident, ge- nanzminister antworten; den haben Sie in Ihrer statten Sie, daß ich beide Fragen gemeinsam be- Frage angesprochen. Aber die Bundesregierung be- antworte? müht sich durch ihren federführenden Minister lau- fend um die Regelung dieses Problems. Sie wissen, Vizepräsident Frau Funcke: Bitte! Dann rufe daß in der Beratung des Einzelplans 15 vor zwei ich auch die Frage 52 des Herrn Abgeordneten Wochen im Haushaltsausschuß dieses Hohen Hauses Reddemann auf: Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9781

Vizepräsident Frau Funcke Ist die Bundesregierung bejahendenfalls bereit, einer beab- trotzdem die Frage stellen: Ist es nicht bedenklich, sichtigten oder unbeabsichtigten derartigen Aushöhlung des Zeugnisverweigerungsrechts für Redakteure dadurch für künftige wenn die Bundesregierung bei einem Verfahren, bei Fälle entgegenzuwirken, daß sie dem Bundestag eine entspre- chende Novellierung der StPO vorlegt? dem sie mittelbar mitbeteiligt ist, zu möglichen Fehl- entscheidungen einfach mit dem Satz Stellung Dr. Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär nimmt, sie wolle auf Grund des schwebenden Ver- beim Bundesminister der Justiz: Herr Kollege fahrens nichts dazu sagen? Reddemann, nach § 53 Abs. 1 Nr. 5 der Straf- prozeßordnung sind im Strafverfahren zur Verwei- Dr. Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär gerung des Zeugnisses berechtigt Redakteure, Ver- beim Bundesminister der Justiz: Es ist tatsächlich leger, Herausgeber, Drucker und andere, die bei der so: die Bundesregierung will und kann keine Be- Herstellung und Veröffentlichung einer periodischen wertungen eines schwebenden Verfahrens vorneh- Druckschrift mitgewirkt haben, über die Person des men. Verfassers, Einsenders oder Gewährsmannes einer Veröffentlichung strafbaren Inhalts, wenn ein Re- Vizepräsident Frau Funcke: Dritte Zusatz- dakteur der Druckschrift wegen dieser Veröffent- frage. lichung bestraft ist oder seiner Bestrafung keine Hindernisse entgegenstehen. Reddemann (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, Das Zeugnisverweigerungsrecht steht nach dem würde dann die Bundesregierung wenigstens über Gesetz somit allen Personen zu, die kraft ihrer das in dieser Fragestunde Mögliche hinaus noch ein- dienstlichen Stellung, die sie bei der Herstellung der mal in der Öffentlichkeit ganz deutlich Hinweise Druckschrift einnehmen, in die Lage kommen, von auf dieses Zeugnisweigerungsrecht geben, damit der Person des Verfassers, Einsenders oder Ge- auch ganz sicher der Bonner Staatsanwaltschaft be- währsmannes Kenntnis zu erhalten. Diesem Perso- kanntwird, daß ein solches Verweigerungsrecht be- nenkreis sind auch Sekretärinnen zuzurechnen, steht? welche bei einem Unternehmen beschäftigt sind, das Druckwerke herstellt. Dr. Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär Dem bezeichneten Personenkreis steht somit ein beim Bundesminister der Justiz: Herr Kollege, ich Recht auf Vierweigerung des Zeugnisses zu. Macht habe hier mit Vorbedacht die entsprechende Stelle der Zeuge von diesem Recht keinen Gebrauch, ist er der StPO zitiert, und ich nehme an, daß Sie, aber also zur Aussage bereit, so steht einer Vernehmung auch die Presse den § 53 StPO publizieren werden. nichts im Wege. Noch in dieser Legislaturperiode wird die Bundes- Vizepräsident Frau Funcke: Keine weitere regierung dem Deutschen Bundestag den Entwurf Zusatzfrage. — Frage 53 des Abgeordneten Zander eines Gesetzes über die allgemeinen Rechtsverhält- wird auf Bitte des Fragestellers schriftlich beantwor- nisse der Presse vorlegen. Darin wird auch das Zeug- tet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. nisverweigerungsrecht der Angehörigen der Presse umfassend neu geregelt werden. Ich rufe Frage 54 des Herrn Abgeordneten Walk- hoff auf: Betrachtet die Bundesregierung es als eine Umgehung des Ge- Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage. setzes, wenn die nach Artikel 3 § 4 Abs. 8 Artikelgesetz ausge- schlossene Aufhebung des Mietverhältnisses dadurch erzielt wird, daß nicht der bestehende Wohnraum in Eigentumswohnun- gen umgewandelt werden soll, sondern durch Abbruch der Miet- Reddemann (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wohnungen und Neubau auf dem gleichen Grundstück Eigentums- ist der Bundesregierung bekannt, daß Journalisten wohnungen, insbesondere frei finanzierte, erstellt werden? und andere Mitarbeiter von Presseorganen in dem Verfahren nach § 353 c, das von der Bonner Staats- Dr. Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär anwaltschaft angestrengt worden ist, der Bonner beim Bundesminister der Justiz: Herr Kollege Walk- Staatsanwaltschaft Vorwürfe machen, daß sie in hoff, der besondere Kündigungsschutz des Mieters einer falschen Rechtsbelehrung darauf hingewiesen in Fällen einer Umwandlung von Mietwohnungen worden seien, kein Aussageverweigerungsrecht zu in Eigentumswohnungen trägt der erhöhten Gefahr haben? für den Bestandsschutz des Mieters bei Umwand- lungen Rechnung. Darüber hinaus soll einer speku- Dr. Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär lativen Umwandlung von Mietwohnungen in Eigen- beim Bundesminister der Justiz: Herr Kollege tumswohnungen, wie sie zum Teil in der Bundes- Reddemann, Sie werden Verständnis dafür haben, republik zu beobachten war, allgemein entgegenge- daß es von der Bundesregierung als ein Gebot der wirkt werden. Rechtsstaatlichkeit angesehen wird, sich zu schwe- Auch bei einer Umgehung dieser Regelung durch benden Verfahren nicht zu äußern. Abbruch von Mietwohnungen mit anschließendem Neubau ist der Mieter nach der Neuregelung nicht Vizepräsident Frau Funcke: Die zweite Zu- schutzlos. Hiernach kann der Vermieter das Miet- satzfrage. verhältnis nur kündigen, wenn er berechtigte In- teressen nachweist. Eine beabsichtigte anderweitige Reddemann (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wirtschaftliche Verwertung des Grundstücks stellt ich stimme Ihnen darin zu, daß man sich zu schwe- aber nur dann einen Kündigungsgrund dar, wenn die benden Verfahren nicht äußern sollte, möchte aber vorgesehene Verwertung angemessen ist und der 9782 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Bayerl Vermieter andernfalls erhebliche Nachteile erleiden rungen mit den gesetzlich ermöglichten Vorsorge- würde. untersuchungen auszuwerten. Dabei werden die von Ihnen genannten Kriterien eine wichtige Rolle spie- Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage. len. Die Auswertung wird dem Parlament vorge- legt. Die Bundesregierung wird — entsprechend der anläßlich der Verabschiedung des Zweiten Kranken- Walkhoff (SPD) : Herr Staatssekretär, ist das versicherungsänderungsgesetzes vom Bundestag ge- Interesse des Mieters noch ausreichend gewahrt, faßten Entschließung — den Bericht bis zum Ende wenn der Vermieter mit der Begründung, er wolle dieses Jahres erstellen. Dieser Bericht steht im die Häuser abreißen, um Eigentumswohnungen zu Zusammenhang mit unserem Interesse an einer bauen, Mietverhältnisse zum vorübergehenden Ge- hohen Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchun- brauch mit vierzehntägiger Kündigungsfrist - Miet- gen durch die Versicherten, ein Interesse, das auch verhältnisse, die sich oft über Jahre erstrecken kön- in Ihrer Frage zum Ausdruck kommt. nen — abschließt, wobei sich der Vermieter dann auf § 565 Abs. 2 Satz 2 BGB und auf das Gesetz über Kündigungsschutz — § 4 Abs. 2 — stützen kann, Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage. was bedeutet, daß der Mieter, der aus Not solche Mietverhältnisse eingeht, jeden Tag auf die Straße Frau Lauterbach (SPD) : Herr Parlamentarischer gesetzt werden kann? Staatssekretär, in welcher Weise informieren die Krankenkassen allgemein die Versicherten über die Dr. Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär Vorsorgeuntersuchungen, und inwieweit lassen in- beim Bundesminister der Justiz: Bei dieser Be- zwischen auch die Pflichtkassen, z. B. die AOK und gründung, wenn nicht andere qualifizierende Merk- die Betriebskrankenkassen, ähnlich wie die Ersatz- male, die das besondere Interesse des Vermieters kassen ihren Versicherten den Berechtigungsschein rechtfertigen, hinzukommen, würde ich Ihre Frage für die Krebsvorsorgeuntersuchung per Post zuge- verneinen. hen — ich darf auf meine Anregung in einer frühe- ren Fragestunde hinweisen —, um dadurch den ein- zelnen auf die ihm gebotene Möglichkeit aufmerk- Vizepräsident Frau Funcke: Keine Zusatz- sam zu machen? frage.

Die Frage 55 des Abgeordneten Wagner (Günz- Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim burg) soll auf Bitten des Fragestellers schriftlich Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: So- beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage weit es die Information angeht, Frau Kollegin, habe abgedruckt. ich in einer der letzten Fragestunden darauf aus- führlich geantwortet, wie sowohl durch individuelle Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekre- Anschreiben, durch Merkblätter der verschiedensten tär! Art als auch durch Presseinformationen das Inter- Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- esse der Versicherten für diese Vorsorgeuntersu- ministers für Arbeit und Sozialordnung. Die Fragen chungen geweckt und gestärkt wird. 82 und 83 des Abgeordneten Peiter sollen auf Zu der anderen Frage nach den Berechtigungs- Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet scheinen für die Früherkennungsuntersuchungen und werden. Die Antworten werden als Anlagen abge- ihrer Zusendung darf ich folgendes anmerken. Nach druckt. unserer Kenntnis machen insbesondere die Orts- Ich rufe die Frage 84 der Abgeordneten Frau Lau- krankenkassen von der Möglichkeit Gebrauch, sie terbach auf: mit der Post zuzustellen, wobei die Verfahrens- weise je nach Zweckmäßigkeit im Einzelfalle unter- Kann die Bundesregierung bereits darüber berichten, inwieweit von der seit 1. Juli v. J. in Kraft getretenen Möglichkeit der schiedlich ist. So fordern die Ortskrankenkassen Krebsvorsorgeuntersuchung als Pflichtleistung der Krankenkassen Gebrauch gemacht wurde — nach Männern und Frauen unter- Versicherte in einem persönlich gehaltenen Schrei- teilt —, welche Erfahrungen hinsichtlich ausreichend vorhandener ben, das über Sinn und Zweck der Untersuchung Fachärzte und Laboreinrichtungen vorliegen? näher aufklärt, zur Inanspruchnahme auf. Dabei wird entweder eine Anmeldekarte für den Arzt oder ein Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Berechtigungsschein beigefügt. Vielfach werden auch Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Frau Einladungen an Arbeitgeber zur Ausgabe an die Kollegin, der kurze Zeitraum seit Einführung der versicherten Beschäftigten übersandt, oder Arbeit- Krebsvorsorgeuntersuchungen im Juli des vergan- geber werden durch die Krankenkasse gebeten, die genen Jahres läßt eine sichere Beurteilung noch Arbeitnehmer auf die Inanspruchnahmemöglichkei- nicht zu, in welchem Umfange Männer und Frauen ten für die Untersuchungen besonders hinzuweisen. von den ihnen gebotenen Möglichkeiten der Vorsor- Den Land-, Innungs- und Betriebskrankenkassen ist geuntersuchungen Gebrauch gemacht haben. Das durch ihre Verbände ebenfalls empfohlen worden, gleiche gilt hinsichtlich der Frage nach den Fach- den Berechtigungsschein für die Inanspruchnahme ärzten und Laboreinrichtungen zur Durchführung durch die Post zuzusenden. Auch die Bundesknapp- dieser Aufgaben. Bisher sind jedoch Engpässe nicht schaft leitet dem berechtigten Personenkreis solche mitgeteilt worden. Sie können aber sicher sein, daß Berechtigungsscheine mit persönlichem Anschreiben sich unser Haus darum bemüht, sorgfältig die Erfah- zu. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9783

Vizepräsident Frau Funcke: Zweite Zusatz- Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim frage. Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Ge- naue Angaben über die Zahl der jährlich zu ver- - Frau Lauterbach (SPD) : Herr Staatssekretär, zeichnenden schweren Schädelhirnverletzungen lie- teilt die Bundesregierung meine Meinung, daß es gen der Bundesregierung nicht vor. Es dürfte aber bei der teilweise unzureichenden ärztlichen Versor- davon auszugehen sein, daß die Zahl der jährlich gung auf dem Lande auch im Bereich der Vorsorge- Schädelhirnverletzten bei etwa 25 000 liegt. Über den untersuchungen bei steigender Inanspruchnahme zu Anteil der Verletzten, die einen Dauerhirnschaden Engpässen personeller Art kommen könnte, und davontragen, können keine näheren Angaben ge- liegt der Bundesregierung über diese ärztliche Ver- macht werden. sorgung auf dem Lande bereits ein Ergebnis der Herr Kollege, die Bundesregierung teilt die Auf- Sachverständigenkommission zur Weiterentwick- fassung, die in Ihrer zweiten Frage zum Ausdruck lung der von der Krankenversicherung durchgeführ- kommt. Sie hat im „Aktionsprogramm zur Förderung ten Untersuchungen vor, das zu entsprechenden der Rehabilitation der Behinderten", das ein ge- Maßnahmen führen sollte? schlossenes System von Einrichtungen für alle Teil- bereiche der Rehabilitation anstrebt, bereits darauf Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim hingewiesen, daß für Schädelhirnverletzte Rehabili- Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Der tationszentren zu schaffen sind, in denen bereits am für Fragen der kassenärztlichen Versorgung in den Krankenbett mit Maßnahmen zur beruflichen Reha- Landgebieten eingesetzte Ausschuß der Sachverstän- bilitation begonnen wird. Ein erstes Projekt ist in digenkommission zur Weiterentwicklung der Kran- Bonn bereits geplant. Nachdem die. dort aufgetre- kenversicherung hat seine Beratungen inzwischen tenen baulichen Fragen vor kurzem geklärt werden weitgehend abgeschlossen. Der Ausschuß wird sein konnten, ist mit dem baldigen Abschluß der Pla- Beratungsergebnis der Kommission im Ganzen vor- nungsarbeiten zu rechnen. legen, und das Plenum der Kommission wird sich in Kürze damit befassen. Sobald mir die Stellungnahme Vizepräsident Frau Funcke: Eine Zusatzfrage. der Kommission unterbreitet worden ist, werde ich auch Sie gern darüber informieren. Maucher (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, darf ich Ihrer Antwort entnehmen, daß es dringend not- Keine Zusatzfra- Vizepräsident Frau Funcke: wendig ist, dafür Sorge zu tragen, daß eine aus- gen. reichende fachgerechte Behandlung der Hirngeschä- Frau Kollegin Lauterbach, ich möchte Sie jetzt in digten durch erfahrene Ärzte sichergestellt wird? folgender Hinsicht um Verständnis bitten. Herr Mau- cher hat die ganze Fragestunde abgewartet; seine Parlamentarischer Staatssekretär beim Fragen waren ursprünglich für das Gesundheitsres- Rohde, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Ja, sort vorgesehen. Sie sollen aber hier unter diesem Herr Kollege, das entspricht den Leitlinien, die wir Geschäftsbereich beantwortet werden. Ich bitte Sie im Aktionsprogramm für Rehabilitation niedergelegt um Ihr Verständnis, daß ich jetzt die Fragen 2 und 3 haben. von Herrn Maucher aufrufe. (Abg. Frau Lauterbach: Und meine letzte (CDU/CSU) : Darf ich Ihre Antwort auch Frage wird gestrichen?) Maucher so verstehen, daß Sie bereit sind, die Vorhaben in — Sie kommt noch daran, wenn nicht heute, dann Tübingen zu unterstützen und unter Umständen das nächste Mal. Herr Kollege Maucher hat sowohl auch dem Land Baden-Württemberg finanzielle Hilfe von der „niedrigen Hausnummer" der Fragen her zu gewähren? als auch unter dem Gesichtspunkt, daß seine Fragen früher unter einem anderen Ressort geführt wurden, Parlamentarischer Staatssekretär beim den Anspruch, daß die Fragen jetzt beantwortet Rohde, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr werden. Ich rufe also die Frage 2 des Herrn Abge- Kollege, die Bundesregierung ist schon seit längerer ordneten Maucher auf: Zeit bemüht, die sich an das Versorgungskranken- Ist der Bundesregierung bekannt, wie groß die Zahl der jähr- lich durch Verkehrs- und andere Unfälle verursachten Dauer- haus Tübingen anschließenden, zur Zeit den franzö- hirngeschädigten ist? sischen Streitkräften zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten für Zwecke der Rehabilitation nutz- Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim bar zu machen. In jüngster Zeit wurden bereits Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Frau einige zusätzliche Gebäudeteile für Zwecke des Ver- Präsident, ich würde die beiden Fragen wegen des sorgungskrankenhauses zur Verfügung gestellt. Die sachlichen Zusammenhangs gern gemeinsam beant- Bundesregierung wird sich bemühen, weitere Be- worten. reiche des Gebäudekomplexes Zwecken der Rehabi- litation zuzuführen, insbesondere auch unter Be- Vizepräsident Frau Funcke: Bitte schön! Dann rücksichtigung des in Ihren Fragen angesprochenen rufe ich auch noch die Frage 3 des Herrn Abgeord- Personenkreises. neten Maucher auf: Teilt die Bundesregierung die Meinung, daß ein medizinisch Vizepräsident Frau Funcke: Eine weitere Zu- neurologisches, berufsvorbereitendes Rehabilitationszentrum für erwachsene Hirngeschädigte dringend erforderlich ist? satzfrage. 9784 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Maucher (CDU/CSU) : Kann ich davon ausgehen, tigste Entscheidung, die dieser Bundestag seit sei- daß Sie es begrüßen würden, wenn das ganze Ge- nem Bestehen zu treffen haben wird. bäude in Tübingen, das dortige Militärhospital — Diese Entscheidung ist nicht nur die Entscheidung das kam in einer Antwort des Finanzministeriums zu irgendwelchen Vertragstexten, wie zum Ausdruck —, für diese Zwecke freigegeben mit Recht gesagt hat, sondern eine Entscheidung zu würde? einer konkreten Politik: zu der Außenpolitik dieser Regierung — ich sage es bewußt so: zu der Außen- Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim politik dieser Regierung —, in welche ja ihre Ost- Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr politik eingebettet ist, zu den Zielsetzungen dieser Kollege, ich habe auf die Bemühungen der Bundes- Politik und zu ihren Auswirkungen, so wie sie ge- regierung hingewiesen. Es ergaben sich dabei Ein- wollt sind oder so wie sie auch vielleicht nicht ge- zelfragen im Rahmen der Verhandlungen mit der wollt sind. französischen Seite. Sie werden Verständnis dafür haben, daß ich mich dazu nicht bis ins letzte Detail Zu einer solchen Politik gehören ihre Zielsetzun- äußern kann. gen, gehört die Einschätzung der Realitäten durch diejenigen, die eine solche Politik machen, gehören die für diese Politik angewandten Methoden, gehört Vizepräsident Frau Funcke: Dann rufe ich die Solidität oder auch Unsolidität der Bemühungen noch die Frage 85 der Frau Kollegin Lauterbach auf: um die Politik, wozu Festigkeit, Ausdauer, Geduld Wie beurteilt die Bundesregierung die in Fachkreisen zuneh- und manches andere gehören, gehört die Verfas- mende Meinung, daß Prämienzahlungen für nicht benutzte Kran- sungstreue dieser Politik und gehört natürlich am kenscheine nicht im Sinne der von ihr geförderten ärztlichen Vorsorgemaßnahmen sind und sie darüber hinaus auch einen Ende der politische Erfolg. erheblichen Verwaltungsaufwand bei den Kassen verursachen? Wir brauchen uns über die allgemeinen Zielvor- stellungen und Zielsetzungen in diesem Hause, ich Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim hoffe es, nicht zu streiten: daß wir den Frieden Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Frau wollen, daß wir Verständigung und Entspannung Kollegin, die Bundesregierung hat am 25. Januar wollen, und ich hoffe immer noch, daß wir gemein- dieses Jahres dem Bundesrat einen Bericht über die sam die Wiederherstellung der deutschen Einheit — bisherigen Erfahrungen mit der neu eingeführten nicht nur die Bewahrung der deutschen Nation, son- Prämienzahlung für nicht benutzte Krankenscheine dern die deutsche Nation unter einem Dach — vorgelegt. Darin sind auch die von Ihnen angespro- wollen. chenen Probleme gewürdigt worden. (Beifall bei der CDU/CSU.) Diesen Bericht wird die Sachverständigenkommis- Das alles ist unser gemeinsames Gut, unsere ge- sion zur Weiterentwicklung der sozialen Kranken- meinsame Auffassung gewesen bis zum Ende der versicherung beraten. Sie wird sich dabei auch mit Großen Koalition. Fürchten Sie nicht, daß ich der den von Ihnen aufgeworfenen Fragen befassen. Im Versuchung nachgebe, davon zuviel zu sprechen. übrigen werde ich Ihre Fragen der Kommission zu- Aber eines erlauben Sie mir. Herr Kollege Wehner leiten. hatte heute die Freundlichkeit, mich wieder an die Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, Rede vom 17. Juni zu erinnern. Ich weiß, daß er mir Frau Kollegin, daß die Bundesregierung das Votum damals zugestimmt hat. Herr Wehner, ich kann der Sachverständigenkommission bei ihrem Urteil Ihnen versichern: ich stehe zu dieser Rede heute berücksichtigen möchte. Sie wird abschließend Stel- noch Wort für Wort und Satz für Satz. lung nehmen, sobald dieses Votum vorliegt. (Abg. Wehner: Dann müssen Sie auch den Punkt dahintersetzen, Herr Dr. Kiesinger!) Vizepräsident Frau Funcke: Keine Zusatz- — Sie sagen, dann müsse ich auch den Punkt da- frage. — Damit ist die Fragestunde beendet. Vielen hintersetzen. Ich will Ihnen gleich antworten. Sie Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Rohde. sagten, die Ostverträge seien die Konsequenz der Wir kehren zu den Tagesordnungspunkten 2 bis 6 Westverträge. Man kann auch sagen, sie seien die zurück und setzen die Debatte fort. Konsequenz der politischen Konzeption, daß sich die deutsche Einheit nur im Verlauf eines europäischen Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kiesinger. Entspannungs- und Friedensprozesses erreichen lasse, da Deutschland eben jene kritische Größe Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Herr Präsident! habe. Was ich Ihnen bestreite, ist aber dies: Wohl Meine Damen und Herren! Der Herr Außenminister ist eine entsprechende Ostpolitik die Konsequenz hat heute früh die Frage gestellt, ob es denn not- der Westverträge und die Konsequenz dieser meiner wendig oder unvermeidlich sei, daß im Blick auf die Auffassung. Aber ich bestreite mit meinen politi- anstehende Entscheidung in diesem Hohen Hause zu schen Freunden, daß diese Ostverträge, die Sie ab- der deutschen Spaltung auch noch ein innerer Graben geschlossen haben, die notwendige Konsequenz sind. zwischen den Parteien gezogen werde. Ich habe (Sehr wahr! und Beifall bei der CDU/CSU.) nicht vor, durch Aufquirlen von Emotionen dazu bei- zutragen, sondern ich will in aller Nüchternheit, Darauf möchte ich gern zu sprechen kommen. aber auch mit allem gebotenen Ernst das Meine zu Durch Zufall habe ich heute ein nettes Heftchen dem zu sagen versuchen, was hier ansteht. Es ist ja in die Hand bekommen, das von Ihrem Ministerium in der Tat eine der wichtigsten, vielleicht die wich- während der Großen Koalition herausgegeben wor- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9785

Dr. h. c. Kiesinger den ist. Es zeigt ein Friedensengelchen, und Willy Ich will es mir nun nicht etwa einfach machen und Brandt und ich schaufeln gerade für die Friedens- das nur so in den Raum hineinstellen, sondern ich palme, die uns dieses Friedensengelchen anbietet, will wirklich untersuchen, was Ihre damaligen Sätze ein Beet, in das sie hineingepflanzt werden soll, da- mit der heutigen politischen Wirklichkeit und -auch mit sie wachse und blühe. In diesem Heftchen Ihres mit den Vertragstexten zu tun haben. Zunächst Ministeriums lese ich: Der Minister für gesamtdeut- sprachen Sie nur von „staatlicher Anerkennung". sche Fragen stellt fest, wozu die Bundesregierung Es geht jetzt nicht um die völkerrechtliche Aner- nicht bereit ist. Dann heißt es wörtlich: kennung. Sie haben sich damals also gegen die Wir werden aus freiem Willen nicht anerken- staatliche Anerkennung gewehrt, die der Bundes- nen, daß der Bereich, der sich „DDR" nennt, kanzler als erstes in seiner Regierungserklärung Ausland ist, vollzogen hat. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Hört, Hört! und Beifall bei der CDU/CSU) Man kann lernen, man kann sich wandeln, man kann und wir können auch nicht anerkennen, daß die auch eine Politik — — Repräsentanten dieses Gebildes (Abg. Wehner: Ich möchte wissen, ob Sie übersetzt „Phänomen" — in den Verträgen das Wort „endgültig" ge den freien Willen der Bevölkerung verkörpern. funden haben!) Nun gibt es auch in der Bundesrepublik — Doch, die staatliche Anerkennung muß ich wohl manche Kritiker, die behaupten, man könne erst nach den Worten des Bundeskanzlers als „end- nach einer formellen staatlichen Anerkennung gültig" vollzogen ansehen. der anderen Seite erfolgreiche Verhandlungen zur Überwindung der innerdeutschen Spannun- (Abg. Wehner: In dem, was Sie vorgelesen gen erwarten. Aber kann man die Teilung wirk- haben, war aber von der Endgültigkeit der lich überwinden, indem man sie vorher als end- Teilung die Rede!) gültig anerkennt? — Ja, aber vorher ging es um die Ablehnung der (Beifall bei der CDU/CSU.) staatlichen Anerkennung. Ich habe Ihnen einen — Alles beherzigenswerte Sätze! — Satz in die Erinnerung gerufen, der zeigt, daß wir uns damals weitgehend einig waren. Deutschland — so sagten Sie weiter — Nun zu den Zielsetzungen. Nicht nur die eigenen sind wichtig für die Realität, in der diese Verträge ist nur deshalb ein Krisen- und Spannungsherd stehen, sondern auch die Zielsetzungen des Partners in Europa, weil dieses Land gegen den Willen oder Gegners, d. h. des einen, des übermächtigen, seines Volkes geteilt ist. Man kann die Span- und seines Trabanten, des Regimes, das leider nungen daher verringern, indem man die Tei- 17 Millionen Deutsche wider ihren Willen be- lung für das Volk erträglicher macht, nicht aber, herrscht. indem man die Teilung auch noch von Westen her betoniert. Der Herr Außenminister hat heute früh einen merkwürdigen Satz gesprochen. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Nicht nur einen!) Vizepräsident Frau Funcke : Herr Kollege, ge- statten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abge- Er hat den Satz gesprochen: „Entgegengesetzte poli- ordneten Wehner? tische Zielvorstellungen werden durch die Verträge nicht berührt." Herr Außenminister, jetzt drehe ich Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Bitte schön, den Satz um: Aber die Verträge werden durch ent- Herr Kollege Wehner! gegengesetzte politische Zielvorstellungen berührt, qualifiziert, interpretiert, ausgebildet und in der Welt durchgesetzt. Dies ist doch die Wirklichkeit! Wehner (SPD) : Herr Kollege Kiesinger, darf ich Sie fragen, ob Sie bei der Betonung dieses schönen (Beifall bei der CDU/CSU.) Textes, der ja zeigt, daß ich mich damals an Ihre Deswegen sagen wir: es geht hier nicht nur um Kabinettsdisziplin zu halten verstand, Vertragstexte, sondern es geht um das Ja und Nein (Lachen bei der CDU/CSU) zu einer ganz bestimmten Politik in einer ganz be- stimmten Situation unserer Welt. Diese Vertrags- auch einmal auf die Verträge geguckt und dort das texte schweben ja nicht in der Luft, sondern sie Wort „endgültig" gefunden haben — in den Ver- stehen in der Realität der politischen Macht, der trägen nämlich —, oder ob Sie gefunden haben, politischen Ideologie, des politischen Willens und was ja das gleiche wäre, daß unsere Verfassung des politischen Handelns eines übermächtigen Ver außer Kraft gesetzt ist. Das wäre ja die Konsequenz. handlungs- und Vertragspartners, dem gegenüber alle Behutsamkeit, alle Klugheit, alle Zähigkeit, Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Herr Kollege alle Festigkeit am Platze wären. Wehner, Sie haben mich unterbrochen; ich wollte eben folgenden Satz sagen: (Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Wehner: Ich bitte um Entschuldi Meine Damen und Herren, wir haben nicht um- gung!) sonst von allem Anfang an die Hektik der Verhand- 9786 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Dr. h. c. Kiesinger lungen kritisiert. Das gehört zur Methode, zur gedeutet werden, als daß er die Dinge für end- Solidität. Was in aller Welt hat diese Regierung gültig entschieden hält. gezwungen, die Verhandlungen über den Tisch zu - jagen, so rasch wie möglich irgendeinen Erfolg oder Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) : Ich komme auf Scheinerfolg vorzuweisen? Was hätte uns gedrängt, die Locarno-Verträge zurück. Erinnern Sie sich nicht, das zu tun und dabei möglicherweise erhebliche wie ich es tue, daß das Motiv der Briten, sich nicht Verhandlungschancen zu versäumen? Wenn es, Herr an eine Garantie für die polnische Westgrenze zu Außenminister, wahr wäre, daß in den Vertrags- binden, war, daß man die Verhältnisse im Osten texten selber keine Ungenauigkeiten, Unsicherheiten für zu unsicher und für zu konfliktreich hielt und und Ansätze zum Dissens vorlägen — sie liegen man nicht in einen Konflikt hineingezogen werden auch in den Vertragstexten vor —, dann läge der wollte? Dissens eben gerade in den politischen Gegensätzen, und der ist doch für uns, der ist doch für Deutsch- Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Herr Kollege land, der ist doch für Europa entscheidend. Professor Schmid, ich kann jetzt nicht mit Ihnen in (Beifall bei der CDU/CSU.) einen historischen Rückblick über jene schwierige Zeit eintreten. Aber ich glaube mit Sicherheit sagen Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege, ge- zu können: Stresemann ließ sich nicht darauf ein, statten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeord- weil er die Dinge im Osten nicht endgültig so ak- neten Dr. Schmid? zeptieren wollte, wie sie standen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Bitte sehr! Das zu dieser Frage. Es ist eben das Schlimme: wenn es schon keinen Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) : Herr Kollege Kie- Dissens oder keinen Ansatz zum Dissens, vor dem singer, würden Sie meiner Unwissenheit abhelfen ja der Außenminister selbst gewarnt hat, in den und mir die Stellen nennen, über die Dissens be- Vertragstexten gäbe, dann war es doch eine ganz steht? unverzeihliche Sünde dieser Regierung, daß sie nicht von Anfang an mit aller Energie gegen die Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Darf ich Sie Fehlinterpretation dieser Verträge nicht nur durch z. B. daran erinnern, Herr Kollege Schmid, daß im die Sowjetunion, sondern auch durch die westliche Locarno-Vertrag Welt angegangen ist. (Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Ich spreche (Beifall bei der CDU/CSU.) von den Verträgen!) Wir haben uns da keinen Vorwurf zu machen. — ja, ich spreche über den Wortlaut, den man in (Abg. Dorn: Sie selbst haben die Interpre völkerrechtlichen Verträgen anzuwenden pflegt — tation geliefert!) die Unverletzlichkeit der Grenzen Vielleicht darf ich den Herrn Bundeskanzler bit- (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!) ten, mir einen Augenblick Aufmerksamkeit zu schen- zwischen Deutschland und Frankreich und Deutsch- ken. Ich habe zweimal in diesem Hause Ihnen, Herr land und Belgien niedergelegt war, daß mit diesem Bundeskanzler, die Frage gestellt, ob die Interpre- Wort „Unverletzlichkeit" ganz einwandfrei die An- tation Ihrer Politik richtig sei; einmal war es ein erkennung, die Endgültigkeit dieser Grenzen ge- bekannter „Spiegel"-Artikel, ein anderes Mal war es meint und gewollt war und daß dies der Grund ein Artikel im „Time Magazine". In beiden wurde war, warum sich Stresemann gegen eine entspre- Ihnen unterstellt, daß Sie den Status quo als das Er- chende Regelung nach Osten gewandt hat. Dies ist gebnis des zweiten Weltkrieges endgültig anerkannt z. B. ein Ausdruck, Her Kollege Schmid hätten, nicht etwa unter Vorbehalten irgendwelcher Art. Ich habe Sie zweimal in diesem Hause gefragt, (Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Damit ist die und zweimal sind Sie mir die Antwort leider schul- Frage noch nicht beantwortet!) dig geblieben. — doch —, der eine Interpretation offenläßt. Und Nein, Herr Kollege Wehner, diese Ostverträge die unterschiedliche Interpretation haben Sie ja sind für uns nicht die Konsequenz auch unserer Ein- wohl gehört. Wie viele Male müssen sowjetrussi- sicht, daß die deutsche Spaltung nur im Laufe der sche Politiker, Journalisten, führende Männer von Entwicklung einer europäischen Friedensordnung drüben uns noch sagen, daß für sie diese Angele- überwunden werden kann. Sie haben viel Zeit auf genheit eine causa finita ist, daß die Grenzen end- Berlin verwandt. Ich werde gewiß nicht das, was für gültig seien? Wenn nur Herr Honecker dies trium- Berlin erreicht worden ist, in kleinlicher Weise phierend in seiner Rede verkündet hätte, nähme herunterzumarkten versuchen. Da ist etwas erreicht ich das noch nicht so ernst; aber maßgebliche Ver- worden, und hier hat die Bundesregierung durch das treter der Sowjetunion haben es getan. Festhalten daran, daß sie sagte, es wird keine Un- (Beifall bei der CDU/CSU.) terzeichnung des Vertrages geben, wenn es zu kei- ner befriedigenden Berlin-Lösung kommt, sich ein Auch der Satz von Herrn Breschnew in seiner Rede Verdienst erworben. in Alma-Ata, daß , das Ergebnis dieser Verträge die Bestätigung der Ergebnisse des „großen vaterlän- Herr Bundeskanzler und Herr Wehner, aber so dischen Krieges" sei, kann doch gar nicht anders wunderschön, wie es geklungen hat, ist nun diese Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9787 Dr. h. c. Kiesinger Berlin-Regelung natürlich auch nicht. Denn eines stimmungsrechts im Moskauer Vertrag nachgegeben steht fest: auch Befürworter Ihrer Politik schreiben, haben. daß nach diesen Berlin-Verhandlungen die Berliner Position — nicht Bestandteil der Bundesrepublik — Sie haben dann eine weitere Voraussetzung -dafür festgeschrieben ist und daß die Diskriminierung der vorgetragen, daß die Verträge angenommen werden Berliner weitergeht. Sie haben schnell das Wort könnten. Sie haben nämlich gesagt: Wir machen „vergleichbar", das ja auch in den Viermächtever- unser Ja zu einer europäischen Sicherheitskonferenz, handlungen auftaucht, statt „gleich" genommen. In die die Sowjetunion wünscht, vom Zustandekommen der Tat, die Berliner werden nicht gleich, sondern des Grundvertrages abhängig. Meine Damen und nur vergleichbar behandelt. Das Schlimmste, was Herren, auch hier hat die Regierung nachgegeben. man sagen muß: die DDR hat im Zuge dieser Ver- Dies ist doch ein Zeichen dafür, daß es an jener Soli- handlungen durchgesetzt, daß mindestens de facto dität gemangelt hat, an jener Zähigkeit, Festigkeit, Ost-Berlin als Teil der DDR und als Hauptstadt der Geduld und Ausdauer, von der ich als etwas zu Kri- DDR hingenommen, wenn nicht gar anerkannt wird. tisierendem gesprochen habe. (Abg. Wehner: Wie war das denn vorher, Was ist jetzt? Was haben Sie jetzt in der Hand, Herr Dr. Kiesinger?) um nun jenes Wichtigste, für das eigentlich alles an- — Es war vorher eine einseitige Inanspruchnahme. gelegt war, zu erreichen? Ich meine den sogenann- ten instrumentalen Charakter des Moskauer Ver- (Abg. Wehner: Und wie wollen Sie bewei trags. Was haben Sie nun in der Hand, um das Kern- sen, daß es jetzt eine zweiseitige ist?) stück zu erreichen, nämlich jene innerdeutsche Ver- — Der amerikanische Botschafter Rush hat zwar einbarung, die das Leben der Menschen in Deutsch- ausdrücklich gesagt, daß sich die Vereinbarungen land erleichtern und eine durch Selbstbestimmung zu auf ganz Berlin bezögen, aber es läßt sich nun einmal erreichende Einigung der deutschen Nation anbah- nicht leugnen — ein Befürworter Ihrer Politik nen soll? Nichts mehr! Sie haben nur noch eine schrieb das dieser Tage —, daß das Regime der DDR, Hoffnung. Diese Hoffnung ist heute in allen Reden was Ost-Berlin betrifft, einen erheblichen Gelände- zum Ausdruck gekommen. gewinn erzielt hat. (Abg. Wehner: Wenn der Mantel der Ge Aber gut! Ich sagte, ich will nichts heruntermark- schichte vorbeirauscht, einen Zipfel zu ten. Wir wollen uns freuen, daß sich die Berliner in fassen hoffen!) Zukunft möglicherweise etwas freier bewegen kön- nen, daß sie in Zukunft möglicherweise geschützter — Richtig, Herr Wehner! Das Schlimme ist nur, daß Ihnen der Zipfel entglitten ist. sind gegen die Schikanen von seiten der Machthaber der DDR, denen sie so viele Jahre ausgesetzt waren. (Beifall bei der CDU/CSU. — Erneuter Zu Ich will auch hoffen, daß die internationalen Span- ruf des Abg. Wehner.) nungen, die sich immer wieder an Berlin entzündet haben, durch die Vereinbarungen der Vier Mächte Sie haben vielleicht die Hoffnung durch die Zusage, mindestens in größere Ferne gerückt sind. daß die Machthaber der DDR, wenn sie sich wohl verhielten, mit unserer Unterstützung in die Ver- Es war aber nun nicht so, wie es heute früh Sie, einten Nationen einziehen könnten, Herr Bundes- Herr Außenminister, wieder einmal sagten — Herr kanzler, Herr Außenminister, darauf haben Sie Barzel hat es schon zurückgewiesen —, als hätten bereits die Antwort bekommen, z. B. von Herrn wir eine befriedigende Berlin-Regelung zum Testfall Honecker. Höhnisch war diese Antwort! Sie lautete: für die Annahme oder die Nichtannahme der Ver- Diesen Prozeß der völkerrechtlichen Anerkennung träge gemacht. Wir sprachen vom ersten Augenblick der DDR und ihrer Aufnahme in die Vereinten Na- an ganz klar. Wir haben unsere entscheidenden Be- tionen kann die deutsche Regierung überhaupt nicht denken publiziert, Ihnen erläutert und gesagt: wenn mehr verhindern, der ist ohnehin zwangsläufig. diese entscheidenden Bedenken nicht ausgeräumt (Abg. Dr. Eppler: Wie war das früher?) werden, werden wir am Ende — auch das haben wir aus Verantwortungsbewußtsein getan —, wenn wir Dies ist also ein sehr schwacher Trost, und daher unser Votum fällen, eben gegen die Verträge stim- eine vage Hoffnung, wenn nicht gar eine Illusion. men. So war es. Dazu gehören nun natürlich bei Sie stehen also, was diese wichtigste aller Fragen be- allem Respekt und aller Anteilnahme am Schicksal trifft, mit leeren Händen da. Der Fortgang der Dinge der Berliner noch mehr Dinge, z. B. die Anteilnahme in den nächsten Monaten wird zeigen, ob für Ihre am Schicksal der 17 Millionen Deutschen, die drüben Hoffnung auch nur ein Quentchen übrigbleibt. Gleich in der DDR leben. sei es gesagt: Niemand komme uns und diesem (Beifall bei der CDU/CSU.) Volk mit ein paar technischen Vereinbarungen, so wichtig sie als solche sein mögen, als Ersatz für jene Sie selber haben ja auch genau gespürt, um was politischen Vereinbarungen, die unter allen Um- es da geht. Sie haben ja selber den Versuch gemacht, ständen der Inhalt einer solchen innerdeutschen die Unterzeichnung des Moskauer Vertrages von Vereinbarung sein müssen. einer innerdeutschen oder gesamtdeutschen Verein- barung abhängig zu machen. Sie haben nachgegeben. (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von Sie haben genauso nachgegeben, wie Sie in der der SPD. — Abg. Dorn: Können Sie denn Frage des Selbstbestimmungsrechts, einer für uns jetzt einmal Ihre vollen Hände ausbreiten?) wenigstens erträglichen Verankerung des Selbstbe- — Ich komme darauf! 9788 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Dr. h. c. Kiesinger Herr Scheel hat heute früh gesagt: Die größte worden. Es geht um Selbstbestimmungsrecht in ir- Schwäche der Opposition sei es, daß sie keine Alter- gendeiner Weise im Vertragstext, — — native anzubieten habe. (Lachen und Zurufe bei der SPD.) - (Ironischer Beifall bei der SPD.) — Dazu lachen Sie, meine Damen und Herren; das Meine Damen und Herren, lassen Sie uns diesen ist sehr bezeichnend! Vorwurf untersuchen; Rainer Barzel hat es schon (Beifall bei der CDU/CSU.) getan. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Die haben Es geht um die Haltung der Sowjetunion zu Europa, nicht zugehört, die jetzt geklatscht haben!) und es geht um eine verbindlich geregelte, in Stu- fen zu verwirklichende Freizügigkeit innerhalb Ich will es nur noch einmal nachstoßen. Er hat ge- Deutschlands. Wenn Sie mir entgegenhalten, das sei sagt, wir haben es immer gesagt und in jeder Dis- deshalb keine Alternative, weil sich die Sowjet- kussion draußen muß es gesagt werden: Wenn die union auf solche Bedingungen nicht einlassen Leute sagen: Was habt Ihr denn in 20 Jahren zu- würde, dann kann ich Ihnen nur sagen: warum stande gebracht? haben Sie sich nicht zwei Jahre mehr Zeit genom- (Zurufe von der SPD: Nichts!) men, um herauszubekommen, ob sich die Sowjet- union darauf einlassen würde oder nicht. — Was haben Sie in zwei Jahren zustande ge- (Beifall bei der CDU/CSU.) bracht, meine Damen und Herren?! (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Natürlich geht es nicht darum — da hat Herr Abg. Wehner: Ein Berlin-Abkommen!) Kollege Wehner vollkommen recht —, daß wir heute etwa zur Sowjetunion laufen und sagen: du mußt — Ja! nun in einer verbindlichen Weise die Europäische (Abg. Wehner: Wenn das nicht mehr wäre, Gemeinschaft anerkennen! Wir wollen nur entgegen wäre das viel!) so vielen feindseligen Äußerungen bis herauf zu — Herr Kollege Wehner, ich habe meine positive Herrn Kossygin von der Sowjetunion das hören, was Bewertung des Berlin-Abkommens in viel zu frühem Optimismus der Herr Außenmini- ster aus Moskau mitgebracht , hat, als er uns näm- (Abg. Wehner: Sehen Sie! Immerhin schon lich sagte, die Sowjetunion habe sich nun mit der etwas! — Abg. Dr. Eppler: Also doch!) europäischen Einigung abgefunden. Herr Außen- schon ausgedrückt. Aber es steht nicht allein, und minister, dann ist aber im kommunistischen Lager es ist bei weitem noch nicht das Wichtigste. Es etwas Merkwürdiges geschehen. Dann ist zum er- kommt nicht darauf an, daß etwas getan wird, unter stenmal die Disziplin verlassen worden, und es allen Umständen, in steriler Aufgeregtheit, sondern redet zu dieser Frage offenbar jeder, wie er will; es kommt in der Tat — jawohl, Dr. Barzel sagte es denn wie viele Äußerungen haben wir gehört, daß bereits — darauf an, daß das Richtige getan wird. die Sowjetunion diese Einigung nicht will. Wenn sie schon vielleicht die wirtschaftliche Einigung Euro- Nun kommen „die vollen Hände". Wenn die Zeit pas wollte, wie steht es dann mit der politischen so ist, daß das Richtige, das Notwendige eben im und militärischen Einigung Europas, die unter allen Augenblick noch nicht getan werden kann, d. h. daß Umständen erforderlich ist? Sie muß doch an dem der politische Stoff, wie es Bismarck einmal ausge- Tag vollbracht sein, wo die Amerikaner Europa drückt hat, noch nicht Bußbereit ist, dann allerdings, verlassen. Sind Sie auch so optimistisch zu glau- Herr Kollege Wehner, ist auch das Liegenlassen ben, daß die Sowjetunion sich mit dieser politischen einer Frage eine politische Leistung, unter Umstän- Einigung Europas einverstanden erklärt? Oder glau- den eine politische Leistung großen Ranges. ben Sie nicht vielmehr mit uns, daß die Sowjetunion ihr Ziel, ihren Einfluß Stufe für Stufe über ganz (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU: — Europa bis zur Hegemonialmacht auszudehnen, un- Widerspruch bei der SPD. — Abg. Wehner: verrückbar festhält? Das war eine Leistung, aber eine rhetori sche Leistung! — Weitere Zurufe von den (Beifall bei der CDU/CSU.) Regierungsparteien.) Wenn Sie mit uns dieser Meinung sind, dann durf- ten Sie diese überoptimistische Bemerkung nicht Weil wir schon bei Bismarck sind, den manche in machen. diesem Lande nicht mögen, dessen politische Intelli- genz und Durchstehkraft aber keiner bezweifeln Sie sagten, wir könnten uns, wo andere Entspan- kann, zitiere ich Ihnen auch seinen Satz, man könne nung und Zusammenarbeit betrieben, nicht aus- den Lauf der Zeit nicht dadurch beschleunigen, daß schließen, und wir dürften nicht sagen, mit Kommu- man seine Uhren vorstelle. Sie, meine Damen und nisten könne man keine Verträge schließen. Wer Herren, haben exakt dies zu tun versucht. von uns hat je gesagt, mit Kommunisten könne man (Beifall bei der CDU/CSU.) keine Verträge schließen? Wir haben es nicht nur nicht gesagt, sondern wir haben das Gegenteil getan, Aber es ist gar nicht so, daß wir einfach alles lie- und meine eigenen ganzen Bemühungen, unterstützt genlassen wollen. Wir haben ja eine politische Al- von meiner Partei, meiner Fraktion und natürlich ternative. Sie ist heute noch einmal ausdrücklich von den damaligen Koalitionspartner, gingen ja darauf dem Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU dargelegt aus, solche Verträge abzuschließen. Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9789 Dr. h. c. Kiesinger Aber meine Damen und Herren, wenn schon der Ich habe zahlreiche Gespräche mit führenden Re- Bundeskanzler gesagt hat: Entspannung nicht an präsentanten des Westens und der Dritten Welt uns vorbei und nicht über uns hinweg, dann setze gehabt; ich habe niemals den Eindruck bekommen, - ich dem, hoffentlich ohne in den Verruf eines daß mein Insistieren auf dieser unserer Pflicht nicht Nationalisten zu kommen, den Satz hinzu: Entspan- auf Verständnis gestoßen wäre. Und dazu, Herr Kol- nung auch nicht auf Kosten und unter Preisgabe lege Wehner, gehört auch, daß wir als die einzig der Lebensinteressen des deutschen Volkes. frei Gewählten für die anderen drüben sprechen, so (Beifall bei der CDU/CSU.) wie es uns im Deutschland-Vertrag als Recht zuer- kannt ist. Ob dies sein wird und wie dies sein wird, das wer- den wir bei der dritten Lesung dieses Vertragswer- Ich habe mich ein wenig gewundert, daß Sie heute kes endgültig feststellen; denn Rainer Barzel hat ja früh sagten, ich hätte die richtige Einsicht — die gesagt, unter welchen Bedingungen für uns das etwa in der Rede zum 17. Juni stak — eben nicht zur Vertragswerk noch annehmbar erschiene. Sie rech- politischen Konsequenz gebracht durch mein Fest- nen, glaube ich, zu sehr mit einem pragmatisch den- halten am Alleinvertretungsrecht. Wenn Sie dieses kenden und nicht mit einem ideologisch fixierten Heftchen, von dem ich eben sprach, nachlesen, dann Gegner, sowohl in der Sowjetunion wie in der DDR. werden Sie finden, daß ich in dem Heftchen, das Ihr Das ist ja leider ein allgemein verbreiteter Fehler Ministerium herausgegeben hat, dafür ausdrücklich im Westen. Die Friedenssehnsucht der Menschen, gelobt werde. die Sehnsucht nach Ruhe, um ungestört leben und Jetzt verkündete arbeiten zu können und nicht dauernd von Sorgen geplagt zu werden, ist überall groß, und nur zu — so heißt es da auf Seite 1 - gern läßt man sich sagen, jetzt seien die Dinge in Bundeskanzler Kiesinger die Grundzüge einer Ordnung, etwa: die Sowjetunion sei jetzt saturiert; neuen Deutschlandpolitik. Er gab die Rechts sie begnüge sich mit dem Status quo. Ich kenne ansprüche nicht preis: Nur die frei gewählte keine einzige Äußerung aus sowjetischem Munde, Bundesregierung könne für das ganze deutsche die uns dazu berechtigt, anzunehmen, die Sowjet- Volk sprechen. Das ist ihre Gewissenspflicht. union sei mit dem Status quo — und das wäre für Das ist damals unsere Meinung gewesen, und das uns schon schlimm genug — zufrieden. Vielmehr ist auch heute unsere Meinung. Ich kann deswegen deutet alles, was wir von drüben hören, darauf hin, Ihre Kritik nicht verstehen und muß Ihren Vorwurf daß ihre „friedliche Koexistenz" nach wie vor die zurückweisen. Weltrevolution und in Europa die Hegemonie zum Ziel hat. Wenn ich heute Äußerungen des französischen (Beifall bei der CDU/CSU.) Staatspräsidenten mit denen seines Vorgängers ver- gleiche — erlauben Sie mir diese ganz kurze Rück- Dies ist, ich weiß es, eine sehr ernste Feststellung. schau —, dann erschrecke ich. In meinen Unterhal- Meine Damen und Herren, wenn wir freien Deut- tungen mit Präsident de Gaulle war zwar immer klar, schen dabei nicht mit besonderer Sorge an die daß er mir die alte französische Forderung auf An- 17 Millionen denken, wer sonst sollte es tun? Wir erkennung der Oder-Neiße-Grenze vortrug, obwohl machen es draußen vielen Menschen leicht, wenn er mir entgegenkam, als ich ihm eines Tages wir ihnen die Sorge für dieses Problem abnehmen sagte: „So einfach ist das nun wahrhaftig nicht; so oder abzunehmen scheinen. Schlagen wir doch an einfach war es auch für Sie nicht, Algerien abzu- die eigene Brust! Das ist doch bei jedem Volk gleich: trennen; das hat Frankreich bis in die Grundfesten jedem Volk ist seine eigene Problematik näher als erschüttert. Vielleicht waren Sie der einzige Fran- die des anderen, und auch wir selber haben oft zose, der das konnte — auf Grund Ihrer großen gewiß den Fehler gemacht, daß uns die Sorgen der Verdienste." Er sagte: Nun gut, lassen wir das da- anderen nicht so bedrückten, wie sie es eigentlich hingestellt, ob ich es allein konnte; aber auch ich hätten tun sollen. Noch ist es bei allen Bemühungen hätte es nicht gekonnt, wenn nicht die französische um Entspannung und Verständigung, um Aussöh- Nation es bei sich selbst schon so beschlossen gehabt nung in dieser Welt schlimm genug bestellt. Und hätte, und anders kann es auch bei Ihnen nicht sein. wer von einem Zeitalter der Entspannung spricht, — Dies war zur Oder-Neiße-Frage ein erstes Ent- der sehe sich doch die politische Landkarte an! Der gegenkommen in einer zähen Aussprache, die ich mit Herr Außenminister hat es heute früh zur Einleitung ihm darüber hatte. seiner Rede getan. Wenn die anderen Verbündeten dieses Problem nicht haben: wir haben es! Und des- Was die Wiedervereinigung anlangt, hörte ich aus wegen war es unsere verdammte Pflicht und Schul- seinem Munde immer erneut — und ich mußte es digkeit, es mit unseren Verbündeten zusammen zu ihm glauben durch die Art, wie er es vortrug —, daß lösen zu versuchen. Und die große Leistung Kon- wir uns in der Frage der Wiedervereinigung auf rad Adenauers, die Friedensleistung Konrad Ade- niemanden sicherer und fester verlassen könnten als nauers für unser Volk war es, daß ihm das bei auf Frankreich, da die Wiedervereinigung des deut- unserem Eintritt. in das nordatlantische Bündnis ge- schen Volkes auch im wohlverstandenen Interesse lungen ist. Frankreichs liege. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Hier darf man sich eben nicht nur auf Hoffnungen Wie anders klang die Bemerkung Herrn Pompi- verlassen, daß alles schon gutgehen werde, sondern dous in seiner Pressekonferenz, als er über den hier muß man schon einiges Konkrete tun. „Marsch zur Anerkennung" sprach und dabei be- 9790 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Dr. h. c. Kiesinger merkte, Frankreich habe sich aus Freundschaft zur ideologischen und ideellen Gegensatzes nicht rüh- Bundesrepublik dabei zurückgehalten! Sein Vorgän- ren. ger hat sich nicht zurückgehalten. Sein Vorgänger (Abg. Wehner: Was dachten Sie denn? — hat mir diese Versicherung abgegeben, und sein Weitere Zurufe von der SPD.) Vorgänger hat in Rußland den dortigen Machtha- Dazu gehört unter anderem die feste Theorie und bern klipp und klar die deutsche Spaltung als etwas die brutale Praxis der Breschnew-Doktrin, nach der Widernatürliches dargestellt. eben keine Bevölkerung, die im sozialistischen La- (Beifall bei der CDU/CSU.) ger lebt, dieses Lager verlassen dürfe. Ich sage dies — und ich könnte noch manches an- (Abg. Wehner: Was hat das mit unserem dere nennen — einfach aus dem Grunde, weil mit Vertrag zu tun?) Recht von einigen meiner Freunde gesagt worden Und wir erinnern uns ja alle gut an das, was in ist, daß die Politik der Regierung die Gefahr in sich Prag geschah. birgt, daß man draußen nicht deutscher als die Das heißt, die möglichen Erleichterungen, die mög- Deutschen sein will und sein kann. Eine ganze Welt. lichen Abmachungen können nur ganz zweit- und eine ganze freie Welt 20 Jahre lang dabei zu halten, drittrangigen Charakter haben, und es kann dabei uns bei einem so schwierigen Problem wie dem nicht um das gehen, auf was es uns ankommt, deutschen durch dick und dünn zu unterstützen, das (Abg. Wehner: Sagen Sie einmal, worauf war eine große politische Leistung, meine Damen es Ihnen ankommt!) und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU.) also um die Freizügigkeit, gegen die man sich drü- ben abgrenzt, Wenn ich jetzt, Herr Kollege Wehner, so manches (Zuruf von der SPD: Sagen Sie, was das durchlese, was Sie damals gesagt haben und auch heißt!) an manches denke, was wir damals besprochen ha- ben — — wo man behauptet, über die Frage einer einheit- (Zuruf von der SPD.) lichen Nation habe die Geschichte bereits entschie- den, wo man uns — und auch Ihnen — vorwirft, — Nein, das Damals ist gar nicht so weit weg, es wir seien eine heimtückische und aggressive im- sei denn, Sie wollen mir sagen, die SPD habe eine perialistische Macht. Politik mit Mentalreservation gemacht. Meine Damen und Herren, es wird einmal einen (Beifall bei der CDU/CSU.) Tag geben, da wird man einer späteren jungen Dies unterstelle ich meinem damaligen Koalitions- deutschen Generation jene Szene vorspielen, die partner nicht. Wenn Sie also diesen Einwand nicht wir und viele Millionen mit uns im deutschen Fern- machen, dann fragt man sich doch folgendes, wenn sehen gesehen haben, als einer der Hauptpropa- man das alles durchliest, etwa Ihre Rede, Herr Kol- gandisten der DDR, Herr von Schnitzler, am Tisch lege Wehner, vom 5. April 1968, einen Tag, bevor neben einem Journalisten aus der Bundesrepublik jener schwere Gang der Bevölkerung in der DDR Deutschland sitzend, plötzlich erklärte: ich sitze zur Abstimmung anzutreten war. Da haben Sie auf hier überhaupt falsch; ich darf nicht neben diesem Ulbricht, der am Vortag gesprochen hatte, Bezug ge- Deutschen hier sitzen, sondern mein Platz ist neben nommen und haben gesagt: Der Mann sagte, man einem Mitglied des sozialistischen Lagers. Und dann lebe jetzt schon in einer längeren Friedensperiode wurde in dramatischer Weise ein Platzwechsel vor- als je sonst im 20. Jahrhundert. Sie haben mit Recht genommen. hinzugefügt: Was für eine Friedensperiode! Sie ha- (Unruhe bei der SPD.) ben den Finger auf die Wunde gelegt. Sie haben ge- Das ist eine der übelsten Szenen, meine Damen und sagt: das ist ein Friede, in welchem und durch wel- Herren, die sich abgespielt haben. Sie ist nur zu chen dem deutschen Volk verwehrt wird, mit sich vergleichen mit dem, was an der Mauer vor sich selbst Frieden zu schließen. So war es, so ist es, geht. Dieser symbolische Vorgang bezeichnet genau und daran — so sieht es, Gott sei es geklagt, aus — das, was Herr Honecker in seiner berühmten Rede werden auch diese Verträge, wird auch diese Politik ausgedrückt hat. nichts ändern. Nein, ich muß meinem Kollegen Nicht, Herr Kollege Wehner, daß ein Sozialdemo- Schröder, ich muß meinem Fraktionsvorsitzenden zu- krat oder ein CDU-Mann drüben nicht seine freie stimmen und Franz Josef Strauß. Diese Politik ver- Meinung sagen kann, ist der wirkliche Unterschied tieft die deutsche Spaltung und macht die deutsche Das haben Sie einmal, viel schöner gesagt, und Einigung schwerer, als sie vor den Verträgen war. zwar eben in jener Rede zum 5. April. Mit Erlaub- (Beifall bei der CDU/CSU.) nis der Frau Präsidentin will ich die paar Sätze vor- lesen. Sie sagten, das deutsche Volk werde ver- Daß man nichts Vollkommenes verlangen kann, hindert, seinen Frieden mit sich selbst zu machen, Herr Kollege Wehner, das ist klar. Sie wissen, daß und sagten dann: ich nie Illusionen nachgejagt bin. Ich habe auch in meiner Rede zum 17. Juni gesagt: Diese Politik Wir haben die Erfahrung gemacht, daß Systeme, könne scheitern. Aber Sie wollten uns heute ein die Anspruch auf Alleingültigkeit erheben, den wenig trösten mit dem Hinweis, daß sich trotz des Frieden gefährden, auch wenn sie feierlich Frie- Antagonismus der Ideologie dort und unserer frei- den als ihr Ziel proklamieren. heitlicher Ideen hier Vereinbarungen denken ließen. (Hört! Hört! und Sehr gut! bei der CDU/ Welche? Doch nur solche, die an den Kern des CSU.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9791

Dr. h. c. Kiesinger Worauf es ankommt, ist, endlich die Menschen in der atlantischen Gemeinschaft noch in den Jahren und ihre Sehnsucht, in Frieden zu leben, zu entwickelt worden ist, in denen ich Ihr Außen- ihrem Recht kommen zu lassen. minister war, Herr Kollege Kiesinger—, indem man die Zusammenarbeit zwischen einander wesensver-- (Sehr gut! bei der CDU/CSU.) schiedenen Gesellschaftssystemen und sich feind- Systeme müssen den Menschen dienen und lich gegenüberstehenden Blöcken trotz allem orga- nicht umgekehrt. nisiert und versucht, durch Abmachungen über (Sehr gut! bei der CDU/CSU.) Rüstungsbegrenzungen den Frieden sicherer zu ma- chen. Das ist unser Kriterium. (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das haben wir So sagten Sie damals. Und so sagen wir — — auch gemacht!) (Abg. Wehner: Das sage ich heute auch Selbstverständlich stehen dem weiterhin starke noch! — Beifall bei der SPD.) Spannungen und Spannungsursachen entgegen. Wir — Herr Kollege Wehner, sind noch lange nicht aus den Gefahrenzonen heraus. Auch deshalb brauchen wir die solide Verankerung (Abg. Wehner: Ich verlange nämlich keinen im Atlantischen Bündnis, und dies gehört ja wohl Passierschein, wissen Sie! — Zurufe von nach dem bisher Erörterten zu dem im wesentlichen der CDU/CSU) nicht Umstrittenen, so wie, wenn ich es recht ver- wenn Sie das heute noch so sagen, stehe, zu dem nicht Umstrittenen gehört, daß wir hier miteinander Frieden wollen, daß wir die frei- (Abg. Wehner: Ja!) heitlich-demokratische Ordnung unseres Grundge- dann dürfen Sie auch die Gegensätze nicht vernied- setzes wollen, daß wir den Anspruch auf deutsche lichen und nicht verharmlosen, wie es aus Ihren Einheit nicht untergehen lassen wollen und daß wir Worten klang, Europa in seinen beiden Dimensionen, West-West (lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf und West-Ost, wollen. Das ist das, was man inso- von der SPD: Was heißt verniedlichen? — weit abhaken kann. weitere Zurufe) (Beifall bei den Regierungsparteien. — sondern dann müssen Sie bei der realistischen Ein- Zuruf des Abg. Stücklen.) schätzung des Möglichen bleiben. Kürzlich wurde behauptet — insoweit kommt Ihr (Zuruf von der SPD: Natürlich!) Zuruf passend, Herr Kollege Stücklen —, ich hätte mit Generalsekretär Breschnew über die Wieder- Das ist unser Kriterium. herstellung der deutschen Einheit um den Preis der (Weitere Zurufe von der SPD: Machen wir!) Neutralisierung Deutschlands verhandelt. Dies ist Und das, Herr Kollege Wehner, wird für die Zu- eine zugleich dreiste und lächerliche Erfindung. ungeprüft verbreitet haben, kunft das Kriterium der Union bleiben. Dies wollen Diejenigen, die sie mußten wissen, daß sie sich an einer Propaganda- wir verwirklichen helfen, diesen Frieden, nach dem aktion beteiligen. Ein ungeteiltes und im Sinne des sich die Menschen sehnen. Das werden wir tun, ob Grundgesetzes demokratisch regiertes Deutschland nun die Verträge fallen, oder ob sie ratifiziert wer- außerhalb der Militärblöcke hätte eine der wesent- den. lichsten Spannungsursachen gar nicht erst entste- (Anhaltender starker Beifall bei der CDU/ hen lassen. Das ist wahr. Wir haben aber seit CSU.) langem die Lage akzeptiert, wie sie sich aus der Nachkriegsentwicklung ergab und wie sie durch Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der die Westverträge und für die DDR durch deren Herr Bundeskanzler. Ostverträge festgeschrieben wurde. Aus der Nach- kriegsentwicklung folgt — dies ist für viele von uns keine neue Erkenntnis —, daß es Fortschritte Brandt, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! Meine im Sinne der deutschen Einheit nur in dem Maße Damen und Herren! Herr Kollege Kiesinger, für geben kann, in dem sich die allgemeinen Ost-West die Beurteilung der Ostverträge — und darum geht Beziehungen grundlegend verbessern. es heute — Ich fürchte, Herr Kollege Barzel hat Wunschvor- (Beifall bei den Regierungsparteien. — stellungen, wenn er meint, man könne schon jetzt Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Um die Politik!) einen mehrjährigen Ablauf der Verbesserung der ist es entscheidend, daß sie und die ihnen zugrunde Freizügigkeit vereinbaren und ihn zur Vorbedin- liegende Außenpolitik sich im Einklang mit der gung für die Ratifizierung der Verträge machen. weltpolitischen Entwicklung befinden. Das ist das Die Lage erfordert meiner festen Überzeugung nach entscheidende Kriterium, um das es hier geht. genau das umgekehrte Verfahren. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei der SPD.) Das Bemühen um Entspannung besteht in dem Ver- Zuerst müssen die Verträge in Kraft treten, such, die Ursachen der Spannungen zu vermindern (Widerspruch bei der CDU/CSU) und den Ausbruch neuer Konflikte zu verhindern. Dies geschieht — das haben wir uns nicht ausge- und dann besteht die Chance, daß Zug um Zug, dacht, sondern das ist eine Überzeugung, wie sie Stufe um Stufe die künstlichen Schranken in Europa 9792 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Bundeskanzler Brandt und in Deutschland niedriger gesetzt werden kön- diese doppelte Zielsetzung ermöglicht das gemein- nen. Wir stützen uns dabei — ich habe es heute same Handeln. morgen zu Beginn dieser Sitzung gesagt — auf die Daß die westeuropäische Einigung parallel zu Realität der fortdauernden Einheit der deutschen - dem, was man unsere Ostpolitik nennt, Fortschritte Nation. Meine Damen und Herren, es gilt darauf gemacht hat, ist hier schon dargelegt worden. Ich zu achten, daß Deutschland von der Weltpolitik weiß, manche Herren von der Opposition, ob sie es Nutzen hat und nicht unter ihre Räder kommt. nun zugeben oder nicht, wären glücklich gewesen, Darum handelt es sich. wenn zu ihrer Regierungszeit die Erweiterung und (Beifall bei den Regierungsparteien.) die Vertiefung der Europäsischen Gemeinschaft vor- Mir wird vorgehalten — so erst kürzlich, ich angekommen wären. glaube, in der vergangenen Woche, von dem Kol- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu legen Strauß —, ich hätte 1962 gesagt, man könne rufe von der CDU/CSU.) einem Volk zwar die Teilung auferlegen, aber nicht Nebenbei, Herr Kollege Kiesinger, Sie sind einem verlangen, daß sie von diesem akzeptiert und unter- ernsten Mißverständnis erlegen, was den Zusam- schrieben werde. Bei dieser Meinung bin ich ge- menhang zwischen den Verträgen und einer Konfe- blieben. renz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Abg. Strauß: Also nein zu dem Vertrag!) angeht. Der Zusammenhang mit der multilateralen Ich weise es auch heute als unzumutbar zurück, Vorbereitung einer solchen Konferenz ist durch die nachträglich die Zustimmung zur Teilung Deutsch- Allianz in bezug auf die Berlin-Vereinbarung her- lands zu geben. Dies wäre ein Verstoß gegen un- gestellt worden. Daran hat sich nichts geändert, und sere Würde, gegen unsere Geschichte, gegen unsere das ist der Grund, warum dieses Thema von der Interessen. Niemand kann das von uns verlangen. Dezember-Tagung in Brüssel auf die Tagesordnung der Mai-Tagung Ende Mai in Bonn verschoben wor- (Beifall bei den Regierungsparteien.) den ist. Einen Zusammenhang zwischen unserem Aber die Hinnahme eines gegebenen Zustandes in Vertrag mit der Sowjetunion und einer solchen Kon- dem Willen, ihn zu verbessern, ist etwas entschei- ferenz haben wir aus guten Gründen nicht herge- dend anderes, Herr Kollege Kiesinger, als eine stellt, und keiner unserer Verbündeten hat uns Tatenlosigkeit, die lediglich von beschwörenden Er- hierzu geraten. klärungen begleitet wird. Herr Barzel hat — vor dieser Debatte noch etwas (Lebhafter Beifall bei den Regierungs stärker als jetzt in der Debatte — als eine Art Vor- parteien.) aussetzung für die Zustimmung zu den Verträgen Die Ostverträge sind der Ausdruck unseres Bei- der Erwartung Ausdruck gegeben, daß die Sowjet trags zur Entspannungspolitik. Sie sind aber auch union die EWG anerkenne. Herr Kiesinger sagte: noch etwas anderes. Sie sind, zusammen mit dem Es muß nicht im strengen Sinne „anerkennen" hei- Berlin-Abkommen, der Ausgangspunkt für eine zeit- ßen, aber: sie solle ihre feindselige Haltung aufge- gemäße Deutschlandpolitik. Diese Politik kann nicht ben. ohne Verträge und Abkommen mit der DDR ge- (Zustimmung des Abg. Dr. h. c. Kiesinger.) macht werden. Daran führte heute kein Weg vor- Nun, die EWG bedarf in der Tat einer solchen An- bei, und es hat überhaupt keinen Sinn, den Kopf erkennung nicht, denn sie ist eine Realität. Sie hat in den Sand zu stecken. uns auch nicht gebeten, im europäischen Rahmen (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. h. c. Kie Kinderkrankheiten der deutschen Anerkennungs- singer: Niemand will das! Wer will denn politik nachzuvollziehen. das?) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu Wir haben — damit komme ich einen Augenblick rufe von der CDU/CSU.) auf einen Teil der Äußerungen von heute vormittag Zur Sache selbst kann ich hier sagen, meine Damen zurück — eindeutige und unwiderlegbare Zeugnisse und Herren — und ich weiß, wovon ich spreche —: dafür, daß sowohl unsere Hauptverbündeten als die Sowjetunion hat Sinn für Realitäten, und die auch die meisten anderen Regierungen in aller EWG ist eine Realität. Meine Damen und Herren Welt unsere Politik unterstützen. Ich kann der von der Opposition, ich sage hier voraus: Opposition zuliebe die Lage nicht anders darstellen, als sie ist. Das Nein der Opposition zu den Ost- (Zuruf von der CDU/CSU: Prophet!) verträgen wird unseren Interessen schon deshalb Moskau wird, was dieses Gebiet angeht, bei dem nicht gerecht, weil es den Interessen des atlanti- wir jetzt sind, nicht so lange mit der Einsicht in die schen Bündnisses und der westeuropäischen Ge- wirkliche Lage brauchen wie manche hierzulande meinschaft widerspricht. oder auch in diesem Hause. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu (Beifall bei den Regierungsparteien.) ruf von der CDU/CSU: Wo steht denn das? Wer sich mit den Verträgen im übrigen ernsthaft — Abg. von Thadden: Erfindung!) befaßt, der sieht, daß sie nur einen wirklichen Ver- Seit langem ist klar, daß die innere Bindung der zicht enthalten, und das ist der Verzicht auf Gewalt. NATO auf ihrer doppelten Zielsetzung beruht, der Wer hier logisch argumentieren wollte, der müßte Fähigkeit zur gemeinsamen Verteidigung und der hinzufügen, daß der Verzicht des Stärkeren noch gemeinsamen Bereitschaft zur Entspannung. Nur schwerer wiegt als der des Schwächeren. Traumver- Deutscher Bundestag 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9793

Bundeskanzler Brandt träge gibt es nicht, oder nur in einer eingebildeten men nicht vor die Verhandlungen über die Verträge Welt. Insgesamt beinhalten diese Verträge ein aus- hätten setzen lassen, doch offenbar in der Befürch- gewogenes Verhältnis von Leistung und Gegenlei- tung, daß es nach Unterzeichnung der Verträge keine stung. Berlin-Vereinbarung der Vier Mächte geben würde?- (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.) Die Kritiker haben sich geirrt. Wir haben den Zu- sammenhang des Ganzen immer vor Augen gehabt. An erster Stelle steht hier die Berlin-Regelung. Er besteht auch heute noch, und aus ihm folgt Herr Barzel hat uns heute morgen vorgeworfen zwangsläufig, daß wir hier über das Ganze zu bera- — und Herr Kiesinger hat daran angeknüpft und ten und politisch zu entscheiden haben. Schon heute sinngemäß dasselbe gesagt —, die Politik dieser kann doch niemand bestreiten, daß sich beispiels- Bundesregierung führe nicht zu mehr Freiheit, son- weise in praktischen Bereichen und durch den Ab- dern zu mehr Abhängigkeit. bau von Vorurteilen gegenüber der Bundesrepu- (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) blik bemerkenswerte Veränderungen abzuzeichnen beginnen. „Kleinigkeiten", „drittrangige Dinge", Ich sage dazu: diese Bundesregierung betreibt eine mag man sagen, aber es sind wichtige Dinge, gemes- Politik der Vernunft und des Ausgleichs der Inter- sen an der Entwicklung der voraufgegangenen essen. Der Außenminister hat bereits im Bundes- Jahre. Man hat unser Volk auf diesem Gebiet doch rat dargestellt — es lohnt sich, dies nachzulesen —, nicht verwöhnt in den Jahren, die zurückliegen, und auf welche Forderungen die Sowjetunion uns, der diejenigen, die in Berlin und anderswo besonders be- Bundesrepublik Deutschland gegenüber, verzichtet troffen sind, wissen es zu schätzen, wenn es auch hat, um zu dem Vertrag zu kommen. Das Ergebnis nur begrenzt Offnungen, Entwicklungen nach vorn der Verhandlungen mit Moskau war in der Tat eine gibt. Verständigung über einen beiderseitig akzeptablen Text. Der Vorwurf der Abhängigkeit ist leichtfertig. Unsere Leistung besteht in erster Linie darin, daß Begibt sich etwa der Präsident der Vereinigten Staa- wir Selbstverständliches tun, daß wir nicht die ten in Abhängigkeit, wenn er über die Begrenzung Augen davor verschließen, wie der zweite Welt- strategischer Rüstungen verhandelt oder wenn er krieg ausgegangen ist und was ihm voraufgegangen in Peking Verhandlungen führt? war, (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das ist ganz et (Beifall bei den Regierungsparteien — Zu was anderes!) rufe von der CDU/CSU) Hat der Vertrag zwischen Frankreich und der So- daß sich — ich sage dies unverblühmt, gerade weil wjetunion etwa eine Abhängigkeit Frankreichs be- wir zu so vielen sprechen — schmerzliche Grenz- gründet? veränderungen vollzogen haben und daß wir das Entstehen zweier Staaten auf deutschem Boden nicht (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Frankreich hat haben verhindern können. auf nichts verzichtet!) Herr Kollege Kiesinger hat eine früher schon Hier liegt eine Verwechselung mit den Verpflich- zweimal gestellte Frage wieder aufgegriffen: die tungen vor, die selbstverständlich beide Seiten auf nach der Endgültigkeit der Erklärungen zur gegebe- Grund vertraglicher Beziehungen übernehmen. Wie nen Lage, zum Status quo. Meine Antwort ist diese: gesagt: der Verzicht auf Gewalt und der Verzicht Anzuerkennen haben wir in der Tat, daß wir von den auf Interventionsrechte sind Verpflichtungen, wel- Realitäten ausgehen müssen, wie sie sind, wenn wir che die Sowjetunion uns gegenüber eingeht und die auf sie in unserem Sinne einwirken wollen. Auch unsere Abhängigkeit — hier greife ich das Wort der Schießbefehl verschwindet nicht dadurch, daß „Abhängigkeit" auf — von den Folgen des zweiten wir ihn anprangern, Weltkrieges vermindern und damit unseren politi- schen Handlungsspielraum vergrößern. (Abg. Dr. Wörner: Auch nicht dadurch, daß wir das verschweigen!) (Beifall bei den Regierungsparteien.) sondern nur dadurch, daß wir eine neue Lage schaf Berlin und was damit zusammenhängt, das ist die fen helfen, in der seine Anwendung entfallen kann. Grundlage für menschliche Erleichterungen auch zwi- schen den beiden Teilen Deutschlands. Wer will und (Zurufe von der CDU/CSU.) wer darf das, was dort schon jetzt anläuft, gering- Was die Einschätzung der sowjetischen Politik an- schätzen oder abwerten? geht: Ich kenne niemanden an verantwortlicher Es ist Kritik daran geübt worden, daß ich auf den Stelle im westlichen Bündnis, der sich falsche Hoff- inneren Zusammenhang zwischen dem Inkrafttreten nungen machen würde. der Verträge, besonders des Moskauer Vertrages, (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Aber hier und dem Inkrafttreten der Berlin-Regelung verwie- in dieser Regierung!) sen habe. Herr Kollege Kiesinger hat die Regierung in dieser Frage nicht kritisiert, sondern hat sie bei Wir alle wissen, wie schwer der Weg zur Entspan- seinen sonst kritischen Bemerkungen dafür gelobt, nung ist und wie tief die Gegensätze in der Welt noch sind. Wir wissen auch, daß der Wind wieder daß sie an der sachlichen Verbindung mit Berlin umschlagen kann und daß neue Konflikte entstehen festgehalten habe. Aber haben nicht führende Spre- können. Ich bin gegen Schönfärberei, cher der Opposition, an ihrer Spitze der Kollege Schröder, uns attackiert, weil wir das Berlin-Abkom- (Aha-Rufe bei der CDU/CSU) 9794 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Bundeskanzler Brandt gegen das Verwischen und Vermischen von gegen sächlich die Spannungen aus der Welt geschafft? Und sätzlichen Überzeugungen und Positionen. Vor sind Sie sich bewußt, daß eine der Schwächen der Euphorie kann nicht deutlich genug gewarnt werden, Demokratie darin liegt, daß selbst einsichtige Staats- - (Beifall bei der SPD und demonstrativer männer mitunter Rücksicht nehmen müssen auf den lebhafter Beifall bei der CDU/CSU) sehr engen Tageshorizont ihrer Wähler? heute wie vor einem Jahr und vor zwei Jahren. Aber (Beifall bei der CDU/CSU. — Unruhe bei die Annahme ist doch wirklich absurd, daß die Füh- den Regierungsparteien.) rer des westlichen Bündnisses, an ihrer Spitze der Präsident der Vereinigten Staaten, eine Politik be- Brandt, Bundeskanzler: Lassen Sie mich dazu treiben und unterstützen würden, die zielbewußt zweierlei sagen, Herr Kollege Kiesinger. Für die eine Schwächung des westlichen Bündnisses be- richtige Interpretation der deutschen Politik, um die wirkte. wir uns bemühen, wäre es eine Hilfe, wenn die (Beifall bei den Regierungsparteien.) Opposition nicht durch ihre Darlegungen uns in der Welt Schwierigkeiten machte, statt die gemeinsamen Den Wunsch der Sowjetunion, ihre Machtposition zu Überzeugungen zu vertreten. festigen, kalkuliert der Westen selbstverständlich ein. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Durchaus nicht Im übrigen habe ich es mit Regierungen zu tun und überall! — Abg. Wienand: Wo denn nicht, sage hier: Präsident Pompidou hat vor 14 Tagen Herr Kiesinger?) gesagt, Frankreich unterstütze die Politik der Bun- Wenn der Westen insgesamt und unser Verhältnis desregierung vorbehaltlos. Der britische Außen- zu ihm geschwächt würden, so würden die Verbün- minister hat gesagt, die britische Regierung habe deten dies merken, und sie würden dies sagen, denn von Anfang an die Ost-West-Politik der Bundes- sie sind nicht dumm; sie sind jedenfalls nicht alle republik Deutschland unterstützt. Und Präsident zusammen dümmer als die Opposition im Deutschen Nixon hat in Key Biscayne zur Jahreswende und in Bundestag. seinen Äußerungen seitdem die Übereinstimmung (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu der amerikanischen und der deutschen Politik dar- rufe von der CDU/CSU.) gestellt. Die Opposition sollte bei allem andern kein Interesse daran haben können, hiervon etwas abzu- Natürlich hat der Kollege Kiesinger recht, wenn streichen, sondern sie sollte hier heraufgehen und er erklärt, die Sowjetunion müsse nicht nur als ein sagen: Darüber freuen wir uns. pragmatischer, sondern auch als ein ideologischer Faktor in dieser Welt gewertet werden. Aber es gibt (Beifall bei den Regierungsparteien.) mittlerweile eine Reihe von Anzeichen dafür — es Der Gewaltverzicht und die Prinzipien des fried- gäbe sie auch, wenn Konrad Adenauer in seinen lichen Zusammenlebens sind im übrigen nicht mehr letzten Jahren nicht darauf hingewiesen hätte —, nur eine Sache zwischen der Bundesrepublik Deutsch- daß auch die Sowjetunion auf der Suche nach den land und Sowjetunion oder der Volksrepublik Polen, Möglichkeiten einer friedlichen Zusammenarbeit ist, sondern sie sind eine Sache der europäischen und daß sie ihren Wettbewerbsnachteil in wirtschaft- der internationalen Politik geworden. Meine Damen licher und technologischer Hinsicht gegenüber dem und Herren, nehmen Sie es so, wie ich es sage. Westen wettmachen möchte, daß sie den Frieden Heute können wir noch zu den Schrittmachern einer will und nicht den Krieg. Nur dann, wenn wir den neuen Politik gehören, morgen würden wir besten- vielfältigen Faktoren, die im Spiel sind, Rechnung falls den Nachzüglern zugezählt werden. tragen und wenn wir auf unsere eigenen Sicher- (Beifall bei den Regierungsparteien.) heitsinteressen bedacht bleiben, können wir eine ausgewogene Ost-West-Politik betreiben. Die Behauptung, die Chancen für die deutsche Einheit würden sich verschlechtern oder, wie es beim Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Bundeskanz- Kollegen Kiesinger zum Schluß seiner Rede hieß, die ler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- Spaltung würde vertieft werden, ist nicht zu be- neten Dr. Kiesinger? weisen. Aber es ist wahr, wir müssen neue Wege gehen und dürfen auch Umwege nicht scheuen. Wir Brandt, Bundeskanzler: Bitte sehr! wollen aber in Deutschland, in Europa jedenfalls eine Öffnung der Grenzen für Menschen, Ideen und Informationen erzielen. Nur dafür gibt es keine an- Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Herr Bundes- dere Chance als den Weg dieser Verträge und die kanzler, sind Sie sich ebenso wie wir der Tatsache Methode vertraglicher Abmachungen auch und ge- bewußt, daß es im Westen Regierende gibt, die die rade mit der DDR. Welt sehr genau einzuschätzen wissen, etwa den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, Unsere Chancen können nicht verbessert werden, denen wir keineswegs unterstellen können, daß sie wenn man, Herr Kollege Barzel, die seltsame Auf- eine Politik betreiben, die zu ihrer eigenen Gefähr- fassung vertritt, der deutschen Ostpolitik müsse eine dung führen könnte? Sind Sie sich aber auch be- Fernostpolitik vorausgehen. wußt, daß im Westen Millionen und aber Millionen (Abg. Dr. Barzel: Das habe ich nie gesagt!) von Menschen leben, deren politische Informiertheit nicht so ist, daß sie nicht anfällig wären für den Irr- Ich kann das nur so verstehen: wenn die Opposition tum, diese Ostpolitik der Bundesregierung habe tat- nein zu den Verträgen sagt, dann will sie nicht die Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9795

Bundeskanzler Brandt Ostverträge, die Ostpolitik ergänzen, sondern durch Als Gegenargument der letzten Stunde hat man etwas Fernerliegendes ersetzen. Wer die Landkarte nun die Befürchtung geäußert, unsere Entspannungs- kennt, kann dies nicht realistisch nennen, sondern politik könne radikalen Kräften Auftrieb geben. Dies muß befürchten, daß uns dies auf Abwege bringen ist eine für meine Begriffe demagogische Vermi-- könnte. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein schung außen- und innenpolitischer Fragen. europäischer Staat. Hier in Europa entscheidet sich (Zuruf von der CDU/CSU: Ist aber Tatsache!) unser Schicksal zusammen mit dem unserer Verbün- deten im Verhältnis zu den Staaten Osteuropas und Ich zweifle übrigens keinen Augenblick daran, daß der Sowjetunion. Ich möchte vor allen Illusionen wir mit den kleinen Gruppen von Extremisten in warnen, unserem Land fertig werden. Was wären wir denn (Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch!) wert, wenn wir uns, worüber sonst immer gestritten werden mag, nicht einmal das zutrauen würden, auf Wunder irgendwelcher Art zu setzen. meine Damen und Herren! (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu Für unsere Probleme, die hier zu lösen sind, gibt es rufe von der Mitte.) keine Wunderwaffen; auch China ist keine. Man darf hier aber auch nicht alles durcheinan- (Beifall bei den Regierungsparteien.) derbringen, und man muß zu differenzieren wissen. Natürlich dürfen die Probleme der inneren Sicher- Im übrigen, Herr Kollege Kiesinger, als Sie im heit nicht auf die leichte Schulter genommen wer- letzten Bundestagswahlkampf ausriefen: „Ich sage den. Aber um einen Staat, der wegen einer über- nur China, China, China", steigerten oder gar propagandistisch angeheizten (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das hat der Sorge um seine innere Sicherheit auf die für ihn not- „Spiegel" geschrieben! Ich habe es nicht wendige Außenpolitik verzichten wollte, wäre es gesagt!) ganz schlecht bestellt. In dieser Lage sind wir nicht, da hat Sie wohl niemand so verstanden, als hätten und dazu werden wir es, bitte, auch nicht kommen Sie damit die jüngste Forderung des CDU-Präsi- lassen. diums vorwegnehmen wollen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs Niemand, der sauber argumentiert, kann übri- parteien.) gens die Bereitschaft zu gleichberechtigten Bezie- hungen mit der DDR ideologisch umdeuten in die Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Bundeskanz- Behauptung, wir sähen in der DDR einen gleich ler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- artig en Staat. Es bedarf hier keiner Belehrung neten Dr. Kiesinger? über den grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden poliltischen Ordnungen, und es bedarf weder Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Herr Bundes- hier noch draußen anfeuernder Zurufe, um die Aus- kanzler, darf ich Sie fragen: Haben Sie mich das einandersetzung mit Rechts- und Linksradikalen zu ausrufen hören, oder haben Sie nicht vielmehr den bestehen. Davon verstehen wir in der Regierung und „Spiegel" gelesen, der, wie üblich, falsch berichtet in der Koalition mindestens ebensoviel wie sonst hat? irgendwer in diesem Hohen Hause. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien.)

Brandt, Bundeskanzler: Ich stütze mich nicht auf Meine Damen und Herren, 27 Jahre nach Kriegs- den „Spiegel", sondern auf mein eigenes Gedächtnis. ende ist nun endlich die Zeit gekommen, unsere Beziehungen zur Sowjetunion und zu Osteuropa auf (Zurufe von der CDU/CSU.) eine neue Grundlage zu stellen. Niemand kann doch sagen, daß das zu früh sei. Auch wenn die Sowjet- Denn ich hatte, Herr Kollege Kiesinger, auf dem union keine Siegermacht des zweiten Weltkrieges Stuttgarter Rathausplatz damals, im September 1969, wäre, auch wenn sie keine besonderen Rechte und Veranlassung genommen, darauf hinzuweisen, daß Verantwortlichkeiten in bezug auf Deutschland als Sie irrten, falls Sie meinten, hier stünde Mao zur Ganzes hätte, das politische und das wirtschaftliche Wahl, was ja wirklich nicht der Fall war. Interesse der Bundesrepublik Deutschland würden (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. eine Politik der Verständigung gebieten. Unser Dr. h. c. Kiesinger: Habe ich nie gesagt! Mitspracherecht in den internationalen Angelegen- — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) heiten, die uns, die Westeuropa berühren, kann nur zur Geltung gebracht werden, wenn wir möglichst Die Bundesregierung hat von ihrer Regierungs- gute Beziehungen auch zur Sowjetunion und zu den erklärung gerade bezüglich des Punktes, über den osteuropäischen Staaten unterhalten. Unsere Außen- ich jetzt spreche, nichts wegzunehmen und nichts politik kann, um den Kollegen Wehner zu zitieren, hinzuzufügen. Sie will also normale Beziehungen mit auf einem Bein stehen, aber nur auf zwei Beinen allen, die dies auch wollen. gehen. (Abg. von Thadden: Taiwan will!) (Beifall bei der SPD.) Sie will auch in der hier in Frage stehenden neuen Um so mehr gilt dies unter den veränderten welt- Dimension keine Schaukelpolitik und schon gar politischen Bedingungen, mit denen wir es zu tun nichts, was als Abenteurertum erscheinen könnte. haben. Der Versuch, den wir jetzt machen, ent- 9796 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Bundeskanzler Brandt spricht dem Gebot der politischen Vernunft. Wür- Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der den wir ihn nicht unternehmen oder würden wir Abgeordnete Dr. Barzel. ihn scheitern lassen, so würde nicht nur eine große - Chance vertan werden. Wir würden uns vielmehr Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine isolieren. Wir würden unter dieser Isolierung leiden Damen und Herren! Sie, Herr Bundeskanzler, haben und deshalb ganz zwangsläufig schon sehr bald eben gesagt, diese Opposition mache Ihnen Schwie- einen neuen Versuch machen müssen, dann aller- rigkeiten. Mit Verlaub, Herr Bundeskanzler, diese dings unter wesentlich erschwerten Bedingungen. Opposition sagt ihre Meinung und kämpft für ihre Ich kann verstehen, daß mancher in unserem Lande verantwortlich erarbeitete Überzeugung. Das wird diesen Verträgen, die ich mir auch schöner hätte durch nichts in diesem Hause vom Tisch geschafft vorstellen können, mit Skepsis begegnet. Nach der werden können und ganz sicherlich nicht von Ihnen, langen Zeit des kalten Krieges und nach den vor- der Sie auszogen unter dem Motto, angeblich „mehr hergegangenen schrecklichen Erfahrungen, welche Demokratie" zu wagen. die Völker miteinander haben machen müssen, ist (Beifall bei der CDU/CSU.) ein großes Maß an negativen Gefühlen übriggeblie- ben. Wir alle zusammen müssen uns aber davon Hier begann gerade erst — das wurde ja von dem befreien, wenn wir gemeinsam eine friedliche Zu- Kollegen Wehner schon ein bißchen ins Lächerliche kunft gestalten wollen. Es geht jetzt um unseren gezogen; das ist doch eine Koalitionstaktik dieser Beitrag dazu. Die Sorge um den Frieden und die Debatte — ein mehrtägiger Streit über die Richtig- Bemühungen für den Frieden sind gewiß nicht nur keit dieses Weges, und schon kommt der Bundes- Sache einer Partei oder einer Koalition. Auch ich kanzler, der allein die Verantwortung dafür trägt, bezweifle nicht, daß alle Seiten dieses Hauses den daß Gemeinsamkeit hier nicht zustande kam, Frieden wollen. Aber dann muß man wie auf an- (Widerspruch bei den Regierungsparteien) deren Gebieten, wo man grundsätzlich gar nicht und beschwert sich über die Haltung der Opposition. auseinander ist, um das streiten, was der eine und (Beifall bei der CDU/CSU.) was der andere für notwendig hält. Und ich sage, man muß auch, wenn man es für notwendig hält, Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, daß Sie im Laufe für das einstehen, was viele heute noch für unpopu- der Tage und Stunden dieser Debatte noch Gelegen- lär halten. Ich glaube, man hilft unserem Volk, heit nehmen, das, was wir bisher hier gesagt haben, indem man auch dafür einsteht. Verständigung ist vielleicht doch noch nachzulesen, um nicht, durch heute nicht mehr abstrakt, sondern nur konkret zu flüchtige Informanten belehrt, hier Einlassungen auf betreiben. Das wird eine konkrete Entscheidung in einige der Fragen zu machen. Auf sehr wesentliche diesem Hohen Hause verlangen. Fragen sind Sie bisher überhaupt nicht eingegangen. Wir werden sie im Laufe dieser Zeit stellen, meine Dies ist noch nicht der Tag der Abstimmung. Dies Damen und Herren. ist nach einer langen Zeit der Vorbereitung und (Beifall bei der CDU/CSU.) 18 Monate nach Unterzeichnung des Vertrages mit der Sowjetunion, 14 Monate nach der Unterzeich- Die Frage ist doch, woher Sie die Hoffnung neh- nung des Vertrages mit Polen und sechs Monate men, daß es in Deutschland besser werden könnte, nach Abschluß des Berlin-Abkommens die erste Le- wenn Sie vorher alles weggeben. sung der Ratifizierungsgesetze. Ihr folgt die, wie (Lebhafter Widerspruch bei den Regierungs ich überzeugt bin, gewissenhafte Beratung in den parteien. — Abg. Dr. Apel: Pfui! Lügner! Ausschüssen. Niemand kann, wenn ich hier noch Unerhört! — Weitere Zurufe von der SPD. einmal an den zeitlichen Ablauf erinnere, unter die- — Beifall bei der CDU/CSU.) sen Umständen guten Gewissens behaupten, die Die Frage lautet: Warum aus dem Vertragswerk Verträge seien hektisch behandelt worden oder eine früher von einer Vorgängerregierung verab- sollten parlamentarisch durchgepeitscht werden. redete Passage über die gemeinsame Verpflichtung (Beifall bei den Regierungsparteien. — der Wiederherstellung der deutschen Einheit ent- Widerspruch bei der CDU/CSU. — Abg. fernt worden ist? Die Frage lautet: Was mit dem Stücklen: Die Aushandlung! — Zurufe von Gewaltverzicht und seiner zeitlichen „Überlagerung" der CDU/CSU: Hektisch abgeschlossen!) — dies sind doch die Erklärungen, die Sie im Bun- desrat öffentlich abgegeben haben — hier sein soll? Niemand wird auch nach diesen Beratungen be- Auf diese und auf andere Fragen Antwort zu geben, haupten können, er sei nicht informiert, und es wird werden wir Sie zwingen, meine Damen und Herren, niemandem etwas vorenthalten, jede Frage wird und die Öffentlichkeit — — beantwortet werden. Die Bundesregierung respek- (Zurufe von der SPD. — Abg. Dr. Marx tiert die Haltung jedes ernsthaften Kritikers, aber [Kaiserslautern] : Ist das die Aufgabe der es kann keinen Zweifel darüber geben, welche Ver- Regierung? — Beifall bei der CDU/CSU. — antwortung jeder von uns trägt. Es geht hier und Anhaltende Zurufe von der SPD.) in den kommenden Wochen und dann im Mai bei — Natürlich, meine Damen und Herren! Dies ist die der endgültigen Abstimmung um unsere Interessen Aufgabe einer Opposition, und wir werden hier und um unseren spezifischen Beitrag in dieser welt- unsere Pflicht tun. politischen Situation zur Sicherung des Friedens. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Marx (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar [Kaiserslautern] : Und die Aufgabe der Re teien.) gierung ist es, zu antworten!) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9797

Dr. Barzel Herr Bundeskanzler, Sie haben an zwei Stellen — Ja, meine Damen und Herren, lesen Sie einmal direkt zu den Einlassungen der Opposition heute nach, was in den Tischreden — — morgen Stellung genommen, einmal zu dem Punkt (Abg. Wehner: Nein, nein! Was heißt das? - Freizügigkeit. Sie haben geglaubt, sagen zu sollen, Sagen Sie das hier bitte! Werden Sie nicht das, was ich hier vorgetragen habe, seien „Wunsch- feige, Sie Brunnenvergifter! — Abg. Dr. vorstellungen" ; so Ihre Worte. Herr Bundeskanzler, Marx [Kaiserslautern] : Ich möchte wissen, haben Sie wirklich übersehen, daß ich das alles ob der Präsident das gehört hat!) argumentiert und formuliert habe mit Ihren eigenen Worten, daß ich hier die Position aufgebaut habe, — Meine Damen und Herren, wir haben uns in mit der Sie den Übergang zu dieser Ostpolitik hier Ruhe alle Reden des Bundeskanzlers angehört, und im Hause und draußen im Lande begründet haben? wir erwarten, daß Sie dies hier auch tun werden. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Dr. Apel: Geben Sie eine Antwort! Eine Unverschämtheit! — Weitere Zurufe Wollen Sie mir vorwerfen, daß ich dieses Wort ernst von der SPD. — Gegenrufe von der CDU/ nehme und ein Argument zu hören wünsche, warum CSU.) heute für Sie nicht mehr gilt, was gestern verant- wortlich von Ihnen hier gesagt worden ist? Das, Herr Bundeskanzler, kann doch nicht Ihre Absicht sein. Vizepräsident Dr. Jaeger: Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe. Und wie ist es mit den Mitgliedern Ihrer Regie- (Abg. Dr. Apel: Unerhört ist das! — Abg. rung? Sie haben doch am 7. Juni 1970 Richtlinien des Konrad: Lassen Sie sich doch mal zur Ant Kabinetts beschlossen. Die Ziffer 5 habe ich heute wort zwingen!) zitiert. Waren das „Wunschvorstellungen", oder ist das das, was real möglich ist? Wir halten eben fest: Sie haben früher gesagt: es muß zuerst etwas für Dr. Barzel (CDU/CSU) : Meine Damen und die Menschen herauskommen, dann können Ver- Herren, dann werde ich doch gleich den Kollegen träge in Kraft treten ; Sie sagen heute: ich mache erst Wehner an dieser Stelle, wenn das so interessiert, Verträge und hoffe, daß dann für die Menschen auf folgendes aufmerksam machen: Hier, Kollege etwas herauskommt. Das ist der Punkt, meine Da- Wehner, ist auf dem Bogen Ihrer Fraktion eine Er- men und Herren. S i e haben Ihre Position verän- klärung von Ihnen selbst, datiert vom 1. Februar dert. 1972, in der Sie behaupten: Das von Präsident Nixon (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. und Bundeskanzler Brandt Ende Dezember in Key Wohlrabe: So sieht es aus!) Biscane herausgegebene Kommuniqué enthält die volle Übereinstimmung in Fragen der Außen- und Der zweite Punkt betrifft — und ich werde nicht insbesondere der Ostpolitik. So weit Ihr Zitat. Etwas müde werden, davon zu sprechen den europäi- Ähnliches hat mit anderen Worten der Bundes- schen Akzent. Herr Bundeskanzler, Sie können doch kanzler eben gesagt. nicht leugnen — wir haben darüber doch hier im Hause debattiert —, daß Sie in Ihrer Politik die Hier, meine Damen und Herren, ist nun das Akzente anders verteilen, als es uns richtig er- Bulletin der Bundesregierung mit dem Kommuniqué scheint. Sie verpflichten sich, das gesamteuropäische von Key Biscane, und der Satz, Herr Kollege Weh- Konzept, an dem niemand so interessiert ist wie ner, den Sie daraus zitieren, hat eine einzige Eigen- Moskau, zu beschleunigen, und erklären vorher, die schaft: In dem Kommuniqué gibt es diesen Satz politische Vereinigung des freien Europa sei Sache nicht! So wird hier eben eine falsche Informations- der nächsten Generationen. politik betrieben — hoffentlich nicht auch gegenüber den Kollegen Ihrer Fraktion, meine Damen und (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Herren! Das ist eine Unwahrheit von Ihnen!) (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Dies, meine Damen und Herren — Herr Kollege Ehmke meldet sich zu einer Zwischenfrage.) Wehner, Sie können ruhig rufen und brüllen —, am 2. März 1970 zu London. Das Zitat ist hier dem — Ich möchte das jetzt nicht, Herr Kollege. Bundeskanzler in einer Debatte des Jahres 1970 — (Lautes Lachen bei der SPD. — Zurufe von im Juni, wenn ich mich recht erinnere — vorgetra- der SPD: Feigling! — Abg. Konrad: Bang gen worden; wir haben ihm gesagt, , er solle Gele- büx! Kneift!) genheit nehmen, das in Ordnung zu bringen. Er Ich möchte wieder auf den europäischen Punkt zu dachte nicht daran. sprechen kommen. Herr Bundeskanzler, Sie haben (Beifall bei der CDU/CSU.) die Prognose abgegeben, die Sowjetunion werde das eines Tages tun: d. h. die Organisation ihrer Zu- Und dann, Herr Kollege Wehner, lesen Sie doch sammenarbeit mit der Europäischen Gemeinschaft. vielleicht einmal nach — wenn Sie hier schon Herr Bundeskanzler, diese Meinung verbreiten Sie dauernd mit auswärtigen Quellen arbeiten, um eine im In- und Ausland seit geraumer Zeit. Ich räume deutsche Politik hier im deutschen Parlament zu be- Ihnen ein, daß ich angenommen hatte, zumal der gründen — — Herr Außenminister ähnliches sagt, daß hier in der (Unruhe bei der SPD. — Lebhafter Beifall Tat die Sowjetunion dabei sei, sich in dieser Frage bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Was zu entwickeln, und daß man deshalb, wenn man das soll denn das heißen? Sie Vergifter!) in verbindlichen Gesprächen zur Sprache bringt, 9798 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Dr. Barzel etwa zur Antwort bekommt: Nun, warten Sie mal Spaltung erst zementieren, um sie dann besser ab, da entwickelt sich etwas. Herr Bundeskanzler überwinden zu können. Das wäre ein gefähr- Sie wissen ganz genau, welche Antworten man von licher Trugschluß. Die Übernahme der von der den verantwortlichen Führern der Sowjetunion be- sowjetischen Politik gepflanzten Formeln- von kommt. Und Sie sollten deshalb diese harten Ant- der Anerkennung der Realitäten, womit von der worten dann hier nirgendwo verniedlichen und hier Anerkennung der Oder-Neiße-Linie über die nicht den Eindruck erwecken, es sei schon alles zum völkerrechtliche Zementierung des Ulbricht-Re- besten. Deshalb wiederhole ich noch einmal: Diese gimes als eigenen unabhängigen deutschen Europäische Gemeinschaft im Westen, auf die wir Staat bis zum Herausbrechen des freien Berlin als Volk und für unsere Zukunft unsere Existenz aus dem freien Westen die gesamte sowjetische gesetzt haben, diese Gemeinschaft steht nicht zur Deutschlandpolitik gemeint ist, würde nicht zur Disposition oder auch nur zur Erschütterung durch Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in irgendeine Traumvorstellung gesamteuropäischer gesicherter Freiheit führen, sondern zur Festi- Institutionen. Das ist der Punkt, von dem hier ge- gung einer unter falscher Flagge segelnden Ko- sprochen werden muß. lonialherrschaft auf deutschem Boden. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Apel: (Beifall bei der CDU/CSU.) Was soll denn das? Gegen wen reden Sie denn hier überhaupt? An wen wenden Sie Das, meine Damen und Herren, ist dafür die Begrün- sich hier überhaupt? Wem werfen Sie denn dung, und dies ist ein Wort von , gespro- das vor? Uns etwa? Das ist doch völlig chen auf dem Karlsruher Parteitag der SPD 1964. lächerlich! Sie schießen doch auf Papp (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — kameraden!) Abg. Wehner: Über Takt konnte man mit Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanz- dem nie reden!) ler hat davon gesprochen, daß man von Realitäten ausgehen müsse. Das ist sicherlich richtig. Aber von Bleibt darauf zurückzukommen, daß der Herr Au- Realitäten ausgehen — — ßenminister ebenso wie der Bundeskanzler die Frage der Fernostpolitik bewußt oder unbewußt, (Abg. Dr. Apel: Mein Gott noch mal! auf jeden Fall unrichtig, hier zitiert hat. Wir haben Billiger Jakob!) nicht gesagt, eine Ostpolitik setze Fernostpolitik voraus, sondern wir haben gesagt, es müsse auch Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter eine Fernostpolitik geben, um aus einer halben Dr. Apel, der Zuruf „Billiger Jakob" ist unparlamen- Sache eine ganze zu machen. Dies, glaube ich, ist etwas anderes. tarisch. (Lachen bei Abgeordneten der SPD.)

Dr. Barzel (CDU/CSU) : Aber lassen Sie ihn sich Und wenn Sie sich hier, Herr Bundeskanzler, am doch blamieren, wie er will, Herr Präsident. Schluß zu der Frage des politischen Radikalismus (Beifall bei der CDU/CSU. Abg. Dr. geäußert haben, so möchte ich, meine Damen und Marx [Kaiserslautern] : Das ist doch ein Herren, Sie daran erinnern, daß wir im Oktober von typischer Apel! Das entspricht seinem Ni dieser Stelle aus Ihnen den Vorschlag gemacht ha- veau! — Weiterer Zuruf von der CDU/ ben, in den Fragen des inneren Friedens, in der CSU: (Schnösel!) Frage der Bekämpfung des Radikalismus und der Kriminalität gemeinsam zu arbeiten. Es ist gar keine Herr Bundeskanzler, es ist etwas anderes, ob man Frage, daß dies eine wichtige Sorge und eine berech- Realitäten sieht, ob man sie erkennt, ob man von tigte Sorge in unserer Bevölkerung ist. Hierzu, Herr ihnen ausgeht — soweit ist doch alles klar — oder Bundeskanzler, hören wir seitens Ihrer Regierung ob man sich bereit findet, sie aufzuschreiben und viele Worte, aber wir sehen wenig Taten. sie so aufzuschreiben, daß eine Chance der Verän- (Beifall bei der CDU/CSU.) derung nicht mehr besteht. Das ist doch die Frage, die hier gestellt werden muß, und auf diese Frage Sie sollten z. B. auf das antworten, was Herr Pro- sind Sie bisher nicht eingegangen, schon gar nicht fessor Steinbuch in einem offenen Brief an Sie selbst befriedigend. gesagt hat. Herr Bundeskanzler, ich möchte auf den Vorwurf (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) zurückkommen, den Sie gegen mich persönlich er- Und Sie sollten, Herr Bundeskanzler, nicht den Ein- hoben haben, als Sie meine Bemerkung — wohl druck erwecken — wie dies soeben geschah —, daß am Schluß meiner Rede — kritisierten, daß dieses irgend jemand, der sich um die innere Sicherheit Vertragswerk nicht zu mehr Freiheit, sondern zu wegen der Radikalisierung in bestimmten Berei- mehr Abhängigkeit führe. Ich möchte hierfür gern chen besondere Sorge macht, dies vielleicht über- eine Begründung geben und diese Begründung zu- treibe. Das, meine Damen und Herren, kann man nächst wie folgt formulieren: doch wohl nicht sagen angesichts der Lage z. B. Aber wir raten zur Vorsicht gegenüber jenen, an manchen Universitäten und in manchen Bereichen die einst in berechtigter Sorge den Stillstand dort, wo es doch darauf ankommt, daß dieser Staat der deutschen Frage bedauerten, aber jetzt zu die über 95 °/o hart arbeiten wollenden Studenten dem falschen Schluß kommen, man müsse die vor den Radikalinskis in Schutz nimmt, die sie daran Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9799

Dr. Barzel hindern, die Leistung, die sie erbringen wollen, er ren. Wir geben Ihnen recht, daß es gut wäre, wenn bringen zu können, meine Damen und meine Herren. wir hier wirklich gemeinsam die gemeinsamen Fra- gen behandeln könnten. Sie haben heute vormittag (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des - Abg. Wehner. — Abg. Konrad: Steinbuch so in etwa die Behauptung aufgestellt, in dem Brief, ist gut, aber Sie sind falsch programmiert! den der Außenminister an die Fraktionsvorsitzenden Weitere Zurufe.) gerichtet hat, Vertreter für die Teilnahme an den Verhandlungen in Moskau zu benennen, wäre so Herr Bundeskanzler, Sie haben am Schluß noch eine Art unterschwelliger Absage enthalten ge- einmal von der Gefahr gesprochen, in die sich angeb- wesen. Das ist nicht der Fall. lich die Opposition begebe, wenn sie bei ihrer Hal- tung zum Vertragswerk bliebe. Herr Bundeskanz- (Zuruf des Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : ler, lassen Sie dies unsere Sorge sein. Und wir wis- Nicht unterschwellig, das war genau zu sen, daß wir mit einer Position, wie wir sie be- lesen!) ziehen, die sagt: Selbstbestimmung, Freizügigkeit — Das steht weder genau darin noch unterschwellig, und Europa, niemals allein in der Welt stehen, denn denn den gleichen Brief, den Sie, Herr Kollege die Position der Menschenrechte ist die der freien Barzel, erhalten haben, haben der Kollege Wehner Welt. Und wenn wir die beziehen, meine Damen und ich erhalten. Allerdings steht ein Satz darin, und Herren, gehen wir guten Gewissens auch in die der deutlich sagt, daß die Bundesregierung nicht da- nächste Runde dieser Debatte, auch in die Aus- von ausgeht, daß eine Teilnahme der Opposition schüsse, auch in die zweite Lesung. für sie etwa bedeute, damit auch verpflichtet zu Sie werden uns aber nicht daran hindern können, sein, die Ergebnisse mittragen zu müssen. Das Herr Bundeskanzler — und wenn Sie noch ein paar- scheint mir eine sehr faire Art gewesen zu sein, mal hier heraufkommen —, das deutlich zu machen. (Unruhe bei den Regierungsparteien und (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : In den Zurufe von der SPD: Unerhört! - Unver letzten drei Minuten!) schämtheit!) — Nicht in den letzten drei Minuten; das war be- auch wenn Sie es als Schwierigkeit empfinden, was reits im Juli. wir hier machen, hier das zu sagen, was wir den- (Erneuter Zuruf des Abg. Dr. Marx [Kai ken. Sie werden diese Opposition weder mundtot serslautern].) machen noch von ihrer Überzeugung abbringen können. Herr Kollege Dr. Barzel, wenn Sie hier wieder da- von sprechen, die gemeinsame Grundlage sei von (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Ihnen angeboten worden, kann ich nur sagen: wenn Weitere Zurufe von der SPD.) wir die Maßstäbe für die Voraussetzungen für eine gemeinsame Arbeit anwendeten, die ein Kollege von Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der Ihnen dafür gesetzt hat, sähe das ganz anders aus. Abgeordnete Mischnick. Er schrieb: (Ein Teil der Abgeordneten der CDU/CSU In allen funktionierenden Demokratien der Erde Fraktion verläßt den Saal. — Unruhe bei gibt es eine parlamentarische Diskussion über den Regierungsparteien.) die Wege der Außenpolitik. Sie wird hier schär- fer und dort weniger erbittert geführt. Die Op- position sollte aber dabei niemals so weit Mischnick (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr gehen, der legitimen Vertretung ihrer Regie- verehrten Damen und Herren! Es gibt wieder rung bei der Vertretung ihrer Politik gegenüber einige Kollegen, die der Meinung sind, es sei besser, anderen Mächten in den Arm zu fallen oder sie Gegenargumente nicht zu hören, damit ihre vorge- gar zu verdächtigen, in Wahrheit das Gegenteil faßte Meinung nicht erschüttert wird. von dem zu wollen, was sie erklärt, denn nach (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar dem Grundgesetz ist der Kanzler der Vollstrek- teien. — Abg. Rawe: Da muß schon einer ker der deutschen Politik. Alles Gerede über kommen, der Argumente hat!) eine gemeinsame Außenpolitik bleibt daher so Meine Damen und Herren! Herr Kollege Barzel lange leer und unglaubwürdig, wie die Oppo- hat eben davon gesprochen, die Opposition kämpfe sition dem ersten Bevollmächtigten der deut- für ihre Überzeugung. Das ist nicht nur ihr gutes schen Demokratie das persönliche Vertrauen Recht, das ist nicht nur ihre Pflicht, sondern wir ge- verweigert. ben ihr in der Verfahrensweise dieser Debatte auch So schrieb in der „Politischen Meinung" in Heft 5 jede Möglichkeit dazu. Ich wäre sehr froh gewesen, im Jahre 1960 Herr Kollege von Guttenberg. wenn es während unserer Oppositionszeit immer so (Abg. Dorn: Hört! Hört!) selbstverständlich gewesen wäre, daß der Opposi- tion — wie wir das heute Ihnen gegenüber getan Wenn wir diese Maßstäbe zur Voraussetzung der haben — jedesmal die Antwortchance gegeben Gemeinsamkeit gemacht hätten, wäre es überhaupt wurde. nicht zu einem Angebot gekommen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Wir gehen davon aus, daß Sie eigene Vorstellun- Herr Kollege Barzel, Sie haben eben noch ein- gen haben. Wenn Sie aber, Herr Kollege Barzel, mal die Notwendigkeit der Gemeinsamkeit beschwo- immer davon sprechen, wir hofften jetzt, daß etwas 9800 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Mischnick kommt, nachdem alles weggegeben sei, dann ist mitwirkt, ob diese Bundesrepublik Deutschland in genau diese Formulierung „alles weggegeben sei" der Lage ist, die Möglichkeiten, die ihr noch gege- das Gegenteil von dem, was sie selbst für diese ben sind, zum Nutzen der Menschen in Deutsch- - Debatte gefordert haben, nämlich eine faire Dis- land und auch zur Sicherung des Friedens in Europa kussion zu führen. zu ergreifen. Es geht um mehr als um die Gewin- (Beifall bei den Regierungsparteien.) nung des einen oder des anderen taktischen partei- politischen Vorteils. Es geht — ich sage das bewußt Herr Kollege Barzel, Sie haben sich eben darüber so, nicht etwa, um pathetisch zu werden — um ganz beklagt, daß so viele ausländische Stimmen heran- Deutschland in dieser Frage. Ich wähle diesen Ge- gezogen würden, um die Richtigkeit unserer Politik samtbegriff, weil eben zur Debatte steht: Wie steht zu unterstreichen oder um zu beweisen, daß wir in ganz Deutschland, wie stehen die beiden deutschen Übereinstimmung mit unseren Verbündeten sind. Staaten zu dieser Entspannungspolitik in der Zu- Das wäre doch gar nicht notwendig, wenn Sie nicht kunft? ständig hier und draußen im Lande die falsche Be- hauptung aufstellten, die europäische Politik, der Gleichzeitig steht die Frage vor uns: Können wir, Zusammenhalt im Bündnis würde durch die Ver- wollen wir die Chance nutzen — ich meine, wir träge gefährdet. Das ist doch Ihre Behauptung, müssen es tun —, bewußt etwas zur Wahrung der nicht unsere Behauptung. deutschen Nation zu tun, und zwar dadurch, daß wir unseren Beitrag dazu leisten, die Klammer um Ber- Wenn Sie eben davon sprachen, da sei falsch lin jetzt auch vertragsmäßig festzulegen und zu ver- aus einem Kommuniqué zitiert worden oder das sei stärken, um ein Klima zu schaffen, das die Verhand- nicht enthalten, so möchte ich Ihnen einige Zitate lungen, die Gespräche zwischen den beiden Staaten aus der Rede des amerikanischen Präsidenten Nixon in Deutschland möglich macht und fördert? Nur so vortragen. Ich füge hinzu, die Übersetzung erfolgte lassen sich doch auf die Dauer sinnvolle Ergebnisse durch den „Amerika-Dienst" der US-Botschaft, damit erzielen. Nur auf diesem Wege, nur auf dem Weg Sie nicht etwa wieder bezweifeln, ob das authen- über Verhandlungen und Verträge können wir doch tisch sei. Es sind Zitate gerade zu der Frage, wie- die Erleichterungen für die Menschen in Deutschland weit die europäische Politik, wieweit das Bündnis ermöglichen. Nur so kommen sich die Menschen in gefestigt oder gefährdet sei. Präsident Nixon hat Deutschland wieder näher, bleiben die Bindungen in seiner Erklärung im Januar 1972 zur Lage der und Verbindungen bestehen. Meine sehr verehrten Welt unter anderem gesagt: Damen und Herren, alles formelle Bestehen auf ver- Die Einigung Westeuropas machte einen großen traglichen Vereinbarungen nützt uns in dem Augen- Fortschritt, als im vorigen Jahr die entscheiden- blick nichts mehr, da die Entfremdung zwischen den den Schritte in Richtung auf eine Mitgliedschaft Menschen so weit fortgeschritten ist, daß sie gar Großbritanniens, Irlands, Dänemarks und Nor- nicht mehr verstehen, was ein ganzes Deutschland wegens in der Europäischen Gemeinschaft ge- sein kann. Deshalb ist es notwendig, diesen freilich tan wurden. mühsamen Prozeß in Gang zu bringen und nach dem jahrelangen passiven Verharren, das uns kei- Mit den Verträgen und nicht gegen die Verträge nen Schritt weitergebracht hat, aktiv zu werden und ist das erreicht worden. mit den Verträgen, mit den Vereinbarungen eine Er sagte ferner: allmähliche Verbesserung unserer Lage zu erreichen. Unsere Verbündeten verstärkten ihren Trup- Herr Kollege Barzel hat schon davon gesprochen, penbeitrag zur gemeinsamen Verteidigung. daß es nicht nur um das geht, was hier im Deutschen Bundestag und was im Bundesrat gesagt wird, son- Er fügte hinzu: dern daß es auch um das geht, was — leider oft mit Die Vier Mächte erzielten ein Abkommen über gespaltener Zunge — draußen im Land gesagt wird. Berlin, das die ständigen Krisen der Nachkriegs- Da wird die Behauptung aufgestellt, diese Politik, zeit bezüglich dieser Stadt beenden und die die wir, diese Koalition heute treiben, sei nicht eine Situation der tapferen Bevölkerung West-Ber- kontinuierliche Fortsetzung dessen, was die Freien lins auf konkrete Weise verbessern soll. Demokraten früher einmal verlangt haben. Das Ge- genteil ist der Fall. Tatsache ist doch — das möchte Wenn der amerikanische Präsident das betont, sind ich hier einmal in die Erinnerung zurückrufen —, doch Ihre Zweifel, daß das Bündnis gefährdet ist, daß Pfleiderer als damaliger Bundestagsabgeordne- wirklich völlig aus der Luft gegriffen. Sie haben ter hier von diesem Pult aus bereits in den Jahren keine anderen Argumente mehr gegen die Verträger 1952 bis 1954 davon sprach, daß die weißen Flecken und flüchten sich jetzt in Behauptungen, die Sie auf der Landkarte verschwinden müßten, daß diplo- nicht beweisen können. matische Beziehungen mit osteuropäischen Ländern (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. aufgenommen werden müßten. Und wie schwer hat Dr. Apel: Genauso ist es!) man sich getan, diesen Schritt dann endlich zu tun! Natürlich werden in dieser Debatte, in der wir die Ich denke an die harte und tagelange Debatte 1958 Ostverträge diskutieren, Weichen für die Zukunft über die Frage: ja oder nein zur atomaren Bewaff- gestellt werden. Dies ist eine Stunde, in der vor nung? Ich denke daran, wie damals ein entsprechen- entschieden wird, ob diese Bundesrepublik Deutsch- der Dissens zwischen Regierung und Oppositions- land im Fluß des weltpolitischen Geschehens mit parteien SPD und FDP über die Frage war: gibt es eigenem, selbstsicherem und kraftvollem Handeln einen sowjetischen Vorschlag, einen einzigen Frie- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9801 Mischnick densvertrag mit ganz Deutschland abzuschließen? Und die Feststellung: Aus dem Aide-mémoire der Sowjetunion ging her- Die Bundesrepublik Deutschland respektiert den vor, daß sie zu diesem Zeitpunkt noch bereit war, gegenwärtigen Status von Berlin, die Rechte einen einzigen Friedensvertrag mit ganz Deutsch- - und Pflichten der Vier Mächte. land abzuschließen. Sie haben zu diesen Vorschlägen Nein gesagt. Alle diese Argumente, die damals von Ihnen ge- meinsam mit getragen worden sind, haben heute Oder denken Sie daran, daß 1963 — Kollege Weh- Eingang in die Verträge gefunden. Ich habe wenig ner sprach schon davon — im damaligen Kabinett Verständnis dafür, daß Sie jetzt plötzlich, weil Sie Adenauer der Gedanke diskutiert und ein entspre- nicht an der Regierung beteiligt sind, diese Elemente chender Beschluß gefaßt wurde, unter dem Dach der nicht mehr wahrhaben wollen. Vier Mächte, im Auftrag der Vier Mächte oder mit (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu ihrer Duldung — wie es später hieß — paritätisch rufe von der CDU/CSU.) besetzte gesamtdeutsche Kommissionen einzurich- ten. Das stieß auf Widerstand in Ihren Reihen. Aller- Eines allerdings ist eine entscheidende Änderung: dings, heute — obwohl es schon im Kabinett Ade- offensichtlich waren für Sie damals das alles nur nauer beschlossen wurde — wollen Sie plötzlich verbale Ankündigungen, hinter denen nicht der von diesen paritätisch besetzten Kommissionen Wille stand, das, was gesagt wurde, durch Verhand- nichts mehr wissen. lungen auch in die Tat umzusetzen. Das unterschei- det uns ja gerade von Ihnen, daß wir das, was wir Wir können mit Befriedigung feststellen, daß seit verkünden, jetzt auch in die Tat umsetzen. Beginn dieser Regierungskoalition, seit diese Bun- (Beifall bei der FDP und Abgeordneten der desregierung im Amt ist, unsere Forderungen, die SPD.) wir vor der Bundestagswahl 1969 aufgestellt haben, nämlich einen Vertrag zwischen den beiden deut- In der Politik nützt es natürlich gar nichts auf die schen Staaten zustande zu bringen, für Berlin eine Dauer, wenn man, wie Sie es immer tun, richtige vertragliche Regelung zu finden und einen Gewalt- Prinzipien, über die wir gar nicht verschiedener verzichtsvertrag zu erreichen, mit den vorliegenden Meinung sind, nur ständig wiederholt, sondern es Verträgen in die Wirklichkeit umgesetzt werden. gilt, praktische Konsequenzen daraus zu ziehen. Wir stellen auch fest, daß unsere Forderung — auch Wenn wir das nicht getan hätten, wäre — darüber hier ist die Kontinuität ebenfalls voll bewiesen —, ist sich doch jeder, der die Situation nüchtern be- daß europäische Lösungen an territorialen Fragen urteilt, völlig im klaren — die Entwicklung in der nicht scheitern dürfen, Eingang in die Vertrags- Entspannnugspolitik längst über uns hinweggegan- texte gefunden hat. gen. Herr Kollege Barzel, als Sie davon sprachen — Nun hat der Kollege Kiesinger genauso wie an- ich zitiere wörtlich; Sie haben das heute wieder- dere aus der CDU/CSU-Fraktion davon gesprochen, holt —: „Die DDR, wie sie ist, ist eine politische die Verträge seien zu schnell ausgehandelt worden. Realität", glaubte ich, das sei nun der gemeinsame Die tatsächliche Entwicklung sieht doch ganz anders Weg. — Wenn Sie in Zweifel sind, lesen Sie es in aus. Vom Bundesaußenminister ist das nicht nur Ihrem Artikel vom 4. Januar 1972 im „Deutschland- heute, sondern vielfach dargelegt worden. Ich Union-Dienst" nach. möchte gerade Sie, die Kollegen von der CDU/CSU, (Abg. Dr. Barzel: Aber , dort geht der Satz an das Memorandum erinnern, das am 9. April 1968 weiter, lieber Herr Mischnick!) von der damaligen Regierung dem sowjetischen Bot- schafter übergeben wurde. Darin waren folgende — Natürlich. Ich sage ja: die Hoffnung — jetzt Punkte enthalten: kommt nämlich leider die Enttäuschung —, , daß wir nun auf einen gemeinsamen Weg wären. Wie so oft Die Bundesrepublik Deutschland erhebt keine haben Sie zwar diesen Satz gesagt und geschrieben, Gebietsansprüche gegen irgend jemand. aber leider daraus nicht die Konsequenzen in Ihrem Weite Schichten des deutschen Volkes begrei- praktischen Handeln gezogen. fen heute besser als früher den Wunsch des (Abg. Dr. Barzel: Aber der Satz geht doch polnischen Volkes, in gesicherten Grenzen zu weiter!) leben. Das ist doch der entscheidende Punkt. Sie haben wie- Die Grenzen eines wiedervereinigten Deutsch- der einmal, wie so oft, Deklamation und nicht Han- land können nur in einer frei vereinbarten Re- deln als das Wichtigere angesehen. gelung Heute haben wir erneut in dieser Debatte gehört: (Abg. Dr. Barzel: Das ist es!) Die Vertragsverhandlungen sind abgeschlossen, mit einer gesamtdeutschen Regierung festge- aber noch ist die Mauer nicht weg, noch ist der legt werden. Schießbefehl nicht weg! Lieber Herr Kollege Barzel, in der Kritik an diesen Dingen überbieten Sie nie- — In den Verträgen steht nichts anderes, Herr manden. Die Meinung darüber ist unter uns allen Kollege Barzel. — die gleiche. Nur eins: mit der Feststellung von 1961 Das unter Androhung von Gewalt zustande bis 1969 „Die Mauer muß weg" sind wir keinen gekommene Münchner Abkommen ist nicht Schritt weitergekommen; mehr gültig. (Beifall bei den Regierungsparteien) 9802 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Mischnick mit den heutigen Vereinbarungen haben wir wenig- nicht berührt wird und daß die Festlegung des Art. 3 stens Teilerleichterungen erreicht, und ich bin fest ein eindeutiger Gewaltverzicht ist. überzeugt: das ist der Anfang von den menschlichen Erleichterungen, die wir auf die Dauer durchsetzen Nun wird die Frage gestellt: Ist denn das Ganze werden. für uns tragbar, wird damit nicht noch in irgend- einer Weise etwas endgültig festgelegt? Hier muß Hier ist mehrfach betont worden, daß in der Frage ich Sie daran erinnern, daß die Regierung Adenauer des Gewaltverzichts selbstverständlich in diesem anläßlich des Beitritts der Bundesrepublik Deutsch- Hause eine einhellige Meinung bestehe. Natürlich land zur NATO am 3. Oktober 1954 in einer offiziel- ist heute, 27 Jahre nach Kriegsende, das Bewußt- len Note an die drei Westmächte folgendes festge- sein des einzelnen über die verheerenden Wirkun- stellt hat — ich zitiere wörtlich —: gen des Krieges, über die Menschenverluste, über Insbesondere verpflichtet sich die Bundesrepu- die Zerstörung der Städte nicht mehr so voll präsent. blik Deutschland, die Wiedervereinigung Aber eins hat sich doch gezeigt, nämlich daß alle Deutschlands oder die Änderung der gegenwär- Verantwortlichen in dieser Welt die Frage der ge- tigen Grenzen der Bundesrepublik niemals mit waltsamen Auseinandersetzung, der gewaltsamen gewaltsamen Mitteln herbeizuführen und alle Lösung von Konflikten politisch, moralisch und völ- zwischen der Bundesrepublik und anderen Staa- kerrechtlich inzwischen anders beurteilen und be- ten gegebenenfalls entstehenden Streitfragen werten, als das früher der Fall war. Hier ist doch mit friedlichen Mitteln zu lasen. ein großer Fortschritt erzielt worden. Die Erkenntnis ist gewachsen, daß Gewalt und Gewaltandrohung Das, was damals, 1954, von Adenauer erklärt wor- keine Mittel der Politik sein können, da sie nur zur den ist, entspricht genau dem Inhalt der Verträge, Zerstörung einer Nation führen würden. die wir hier vorgelegt haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Denkste!) Wenn man bereit ist, Gewaltverzichtsverträge ab- zuschließen, aber dabei sagt, man müsse sich an das — Wenn Sie sagen, das sei nicht der Fall, kann ich alte deutsche Sprichwort erinnern, Vorsicht sei die nur feststellen, daß Sie die Verträge entweder nicht Mutter der Porzellankiste, so ist das völlig richtig, gelesen haben oder wider besseren Wissens bewußt nur darf man dann nicht davon ausgehen, , daß diese immer wieder falsche Behauptungen aufstellen. Vorsicht nur für einen selbst gilt, sondern muß auch (Beifall bei den Regierungsparteien.) den Verhandlungs-Partnern bei ihren Überlegun- gen genauso zugestehen, berechtigte Interessen Was die Auslegung betrifft, wissen Sie ganz ge- wahrzunehmen, und sie nehmen sie natürlich auch nau, daß der Verdacht, hier sei das Grundgesetz wahr. Wir sehen in dieser Vereinbarung, in diesen verletzt worden, von einer Reihe Staats- und Völker- Gewaltverzichtsverträgen den Versuch, auf beiden rechtlern in aller Deutlichkeit zurückgewiesen wor- Seiten gleichberechtigt und ausgewogen eine Grund- den ist. Ich erinnere nur an das, was Professor Kriele lage dafür zu legen, daß in Zukunft Gewalt und Ge- dazu gesagt hat, ohne das hier im einzelnen vor- waltandrohung ausgeschlossen werden. Nur auf die- zulesen. Sie sagen immer, Unverletzlichkeit bedeute, sem Wege können wir doch überhaupt hoffen, mit daß die Grenzen nicht verändert werden könnten. unseren anderen Forderungen zur Deutschland- Genau das ist falsch. Richtig ist vielmehr, daß die politik weiterzukommen. Sowjetunion solche Forderungen und eine Reihe an- derer zwar früher aufgestellt hat, daß diese früheren Der Kern des Vertrages mit der UdSSR sind — das Forderungen aber gerade durch diesen Vertrag vom ist hier angesprochen worden — die Artikel über Tisch gewischt sind. den Gewaltverzicht und die Unverletzlichkeit der Grenzen. Die CDU/CSU hat mehrfach behauptet, die- Die Sowjetunion hat einmal einen Katalog von ser Vertrag — das ist heute noch nicht in die Debatte 18 Einzelforderungen aufgestellt und ihre Erfüllung eingeführt worden, wird aber voraussichtlich noch als Voraussetzung für einen Gewaltverzicht bezeich- eingeführt werden — widerspreche insbesondere net. Dazu zählten u. a. die bedingungslose Anerken- dem Art. 3 des zwischen der Bundesrepublik Deutsch- nung der DDR, die Feststellung — so hatte sie ge- land und den drei Westmächten abgeschlossenen fordert — der Unveränderlichkeit der Grenzen und Deutschlandvertrags. Diese Behauptung ist falsch. die Definition West-Berlins als besondere politische Einheit. Darüber hinaus hat sie noch am 21. Novem- Richtig ist es, daß der deutsch-sowjetische Vertrag ber 1967 in einem Memorandum erklärt, daß die keine friedensvertragliche Regelung der deutschen Feindstaatenklauseln ihr volle Gültigkeit behalten Grenzen vorwegnimmt. Er bestätigt vielmehr die un- sollten. Alle diese ursprünglichen Forderungen der eingeschränkte Gültigkeit früher abgeschlossener Sowjetunion sind in den Verhandlungen in Moskau Verträge. Die Attacken, die dagegen geritten wer- durch Bahr und Scheel vom Tisch gebracht worden, den, sind alles Scheinattacken, denn Sie haben hier und im Vertrag ist eben nicht von „Unveränderlich- tatsächlich keinen Gegner vor sich. Der Vertrag ent- keit", sondern von „Unverletzlichkeit" der Grenzen hält nicht das, was Sie behaupten. Außerdem ist die Rede. durch den Überleitungssatz in Art. 2 und durch den Art. 4, nämlich die Nichtverletzung bestehender Ver- Ich habe diesen Punkt deshalb so breit ausgeführt, träge, sichergestellt, daß der deutsch-sowjetische weil Sie, meine Damen und Herren von der CDU/ Vertrag eben keine friedensvertragliche Regelung CDU, draußen im Lande im Gegensatz zu dem, was vorwegnimmt. Ferner ist sichergestellt, daß die Ver- hier gesagt wird, gerade die Frage der Unverletz- antwortung der Vier Mächte für ganz Deutschland lichkeit der Grenzen als einen der entscheidenden Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode - 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9803

Mischnick Punkte herausstellen und die Menschen immer wie- So hat Adenauer zu dem damaligen Brief im Bundes- der glauben machen wollen, daß mit dieser Bestim- tag Stellung genommen. mung eine einvernehmliche Änderung der Grenzen, (Zuruf von der CDU/CSU: Er hat damals- eine Veränderung der Grenzen durch gemeinsames nichts verhökert!) Handeln zweier Staaten, ausgeschlossen sei. Gerade das ist nicht ausgeschlossen. Mit diesen Verträgen — Sie sagen: Er hat damals nichts verhökert. Jetzt ist jede Grenzveränderung, die einvernehmlich ge- geht es um die Frage: Ist die Wirksamkeit eines schieht, weiterhin möglich. solchen Briefes für Sie etwa davon abhängig, ob Sie selbst in der Regierung sitzen oder nicht? Die (Abg. Stücklen: So wie Gromyko mit Polen?) Auslegung kann doch nur die gleiche sein. — Verehrter Herr Kollege Stücklen, wenn Sie sa- (Beifall bei den Regierungsparteien.) gen: so wie Gromyko mit Polen, Meine Damen und Herren, auch bei dem deutsch- (Abg. Stücklen: Mehrmals schon geändert!) polnischen Vertrag geht es nicht darum, Grenzen kann ich nur sagen: wenn Sie die politische Arbeit endgültig anzuerkennen oder, wie es manchmal in einer deutschen Bundesregierung so beurteilen, den öffentlichen Diskussionen gesagt wird, began- dann richten Sie sich damit selbst. genes Unrecht, auch an den Vertriebenen, etwa zu legitimieren. Es geht doch nicht darum, eine Auf- (Beifall bei den Regierungsparteien.) rechnung des Unrechts vorzunehmen. Es geht nur Meine Damen und Herren, es ist auch die Forde- darum, mit diesen Verträgen den Versuch zu ma- rung aufgestellt worden, in dem Vertrag müsse die chen, die Lage in Europa zu verbessern. Selbstbestimmung aufgeführt werden. Es wird be- Die Regierung der Volksrepublik Polen ist sich hauptet, diese Verträge ignorierten die Selbstbe- auch bewußt, daß die Regierung der Bundesrepublik stimmung. Das trifft nicht zu. In diesem Vertrag ist keine rechtsverbindlichen Erklärungen für einen durch den Bezug auf die Präambel der Charta der möglichen gesamtdeutschen Souverän abgeben kann. Vereinten Nationen und durch den Brief klar- Der damalige stellvertretende polnische Außenmi- gestellt worden, daß das Selbstbestimmungsrecht nister Winiewicz hat im November 1971 vor der nicht eingeschränkt wird. Durch keinerlei materiel- Gesellschaft für auswärtige Politik in Bonn wörtlich len Beweis können Sie hier der Behauptung Nah- gesagt — eine Reihe Kollegen haben daran teilge- rung geben, daß wir mit diesen Verträgen das nommen —: Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes in Frage stellen. Dieser Vertrag bindet nur die Bundesrepublik (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Haben die Russen Deutschland. Ob wir jemals zu einer friedens- die Breschnew-Doktrin im Vertrag aufge vertraglichen Regelung für Gesamtdeutschland geben?) kommen, ist zur Zeit eine rein hypothetische Frage. — Verehrter Herr Kollege Kiesinger, Sie sagen, die Russen hätten die Breschnew-Doktrin nicht auf- Auf Befragen hat Herr Kollege Schröder dazu ge- gegeben. sagt: „Das hat er sehr geschickt gesagt, und das können wir akzeptieren". Wenn Sie das akzeptie- (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ich habe gefragt!) ren, dann muß aber doch auch endlich Schluß sein — Ich habe nicht gesagt, daß sie sie aufgegeben mit der Behauptung, mit diesem Vertrag würden haben. Ich stelle nur fest, daß die Behauptung falsch endgültige Grenzregelungen vorgenommen. Auch ist, wir könnten unser Ziel, die deutsche Einheit zu dieser Vertrag läßt Deutschen und Polen die Mög- erreichen, vertraglich nicht weiter verfolgen. Es lichkeit offen, über diese Frage zu verhandeln, wenn wurde sogar behauptet, wenn wir das täten, wäre sich diese Möglichkeit aus der weiteren Entwick- das vertragswidrig. Diese Behauptung ist falsch. lung ergibt. Sie sagen dann, der Brief, den der Bundesaußen- Nun ist schon davon gesprochen worden, daß die minister heute zitiert hat, habe keine rechtliche Be- Ausfüllung des deutsch-polnischen Vertrages von deutung, er sei nicht relevant, er sei nicht ausrei- beiden Seiten bereits versucht worden sei, daß hier chend. Ich darf Sie daran erinnern, was Bundeskanz- die Familienzusammenführung in Gang gesetzt wor- ler Adenauer in der 101. Sitzung des 2. Deutschen den ist, über deren Tempo man unterschiedlicher Bundestages am 22. September 1955 zur Wirksam- Meinung sein mag. keit des Briefes sagte, den er damals überreichen (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Das ließ. Er hat damals im Deutschen Bundestag wört- glaube ich nicht! Da sind wir doch alle lich gesagt: einer Meinung, Herr Mischnick!) Bei den Vorbehalten handelt es sich um eine — Natürlich sind wir unterschiedlicher Meinung deutsche Rechtsverwahrung. Für eine solche ist gegenüber Polen. Das ist doch wohl so. — Wir eine einseitige Erklärung der Bundesregierung müssen selbstverständlich immer wieder um Ver- ausreichend. Diese Erklärung muß nur der an- ständnis für unser Drängen bitten, allen Ausreise- deren Seite zugegangen sein. Dies ist gesche- willigen möglichst schnell die erforderliche Geneh- hen, und die deutschen Vorbehalte sind damit migung zu erteilen. völkerrechtlich wirksam geworden. Die Erklä- rung muß nicht etwa, um völkerrechtlich wirk- Allerdings — und das gehört zur Beurteilung der sam zu sein, von der Gegenseite angenommen Fakten — dürfen wir die Probleme nicht verken- werden. nen, die für Polen in manchem regionalen Bereich 9804 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Mischnick daraus entstehen. Wer aber heute den Vertrag mit Eine Politik dient nur dann der Versöhnung, wenn der Volksrepublik Polen nicht will, muß sich doch sie es den Menschen ermöglicht, zueinander zu wenigstens im klaren darüber sein, daß er die Fron- finden, denn es sind die Menschen und -nicht die ten verhärtet und die Familienzusammenführung da- Staaten, die die Versöhnung auf Dauer begründen. mit nicht erleichtert, sondern im Gegenteil behin- Ich kenne die Behauptung des Herrn Bundeskanz- dert. lers — ich kenne den Grund, warum er im Augen- Meine Damen und Herren, alles, was wir heute blick nicht anwesend sein kann, ich richte aber von der Opposition bisher gehört haben, macht deut- trotzdem meine Worte an ihn —, daß diese Ver- lich, daß sie auf ihren alten Positionen beharrt. Ich träge den Frieden sicherer machen. Das ist eine bin nicht davon ausgegangen, daß die heutige De- Behauptung, die durch nichts und schon gar nicht batte oder vielleicht auch die Beratungen sie grund- durch die geschichtliche Entwicklung erwiesen ist. sätzlich von ihrem Standpunkt abbringen wird. Nur (Beifall bei der CDU/CSU.-Abg. Dr. eines muß sich jeder selber als Frage vorlegen: ob Marx [Kaiserslautern] : Eine Propaganda er mit der Zustimmung zu den Verträgen den schablone!) Status quo in Europa überwinden helfen will oder Ich habe die ernsthafte Befürchtung, daß diese Ver- ob er mit der Ablehnung der Verträge, durch Zemen- träge nicht den Frieden sicherer machen, sondern tierung des Status quo und damit durch den Rück- daß unsere Sicherheit in Freiheit mit diesen Ver- fall in den kalten Krieg, wieder die wenigen Chan- trägen gefährdet wird. cen, die sich jetzt bieten, endgültig begraben will. (Beifall bei der CDU/CSU.) Nur mit Rechtsvorbehalten, wie sie hier von der CDU/CSU wiederum geäußert worden sind, kann Diese Politik führt auch nicht zur Entspannung, man keine Politik machen. denn sie schreibt die Ursachen der Spannungen fest. Diese Ostverträge sind auch kein Beitrag zur (Beifall bei den Regierungsparteien.) Versöhnung, denn sie zementieren die Trennung Es geht heute darum, die Grenzen erträglicher zu der Menschen durch Mauer und Stacheldraht. Die machen. Das geschieht durch die Verträge. Ostpolitik dieser Regierung ist illusionär, weil sie versucht, das Unvereinbare zu vereinen: Eine ge- In diesem Sinne halten wir die Verträge für rich- samteuropäische Friedensordnung mit Moskau als tig, weil notwendig und unseren Interessen förder- Hegemonialmacht, mehr Rechte für den Menschen lich. Das gilt nach unserer festen Überzeugung nicht ohne Achtung der Menschenrechte, mehr Freizügig- nur für die Bundesrepublik Deutschland, sondern keit ohne Durchlässigkeit der Grenzen. das gilt für das ganze deutsche Volk. Heute, wo sich uns die Frage stellt, wohin diese (Beifall bei den Regierungsparteien.) Politik führt, wo wir mit tiefer Sorge in die Zukunft blicken müssen, ist nicht der Tag, um die Vergan- genheit zu beschwören. Dennoch ist es notwendig, Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der eines hier festzuhalten: Es war die geschichtliche Abgeordnete Stücklen. Leistung von Adenauer, der die Friedenspolitik in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa Stücklen (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine sehr mitbegründet hat, es war die Leistung von 20 Jah- verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Misch- ren Politik der CDU/CSU, den Frieden für Deutsch- nick hat sehr viel Zeit seiner Ausführungen dafür land zu sichern und die Freiheit für uns zu be- aufgewandt, daß er uns klarmachen wollte, daß wahren. dieser Vertrag nur eine Interpretation hat, nur (Beifall bei der CDU/CSU.) eine Auslegungsmöglichkeit erlaubt. Diese hat er Ihre Haltung, Herr Bundeskanzler, die Haltung hier in einzelnen Punkten dargelegt. Herr Kollege Ihrer Regierung und Ihrer Partei zu dieser von Kon- Mischnick, ich bezweifle gar nicht, daß das Ihre rad Adenauer begründeten Friedenspolitik der CDU/ ehrliche Auffassung, Ihre Überzeugung ist. Aber der CSU ist genauso zwiespältig wie Ihre heutige Poli- Vertragspartner, der bisher auch in der Öffentlich- tik. Einerseits behaupten Sie, Sie führten die Kon- keit eine unterschiedliche Auslegung zu erkennen tinuität jener Politik fort, also die Politik von gegeben hat, sind nicht Sie, Herr Mischnick, sondern Adenauer, Erhard und Kiesinger; auf der anderen ist die Sowjetunion. Und darauf kommt es an, meine Seite verketzern Sie diese Politik als Politik der sehr verehrten Damen und Herren. Erstarrung, der Unbeweglichkeit und behaupten, Sie (Beifall bei der CDU/CSU.) seien es, die Deutschland jetzt aus einer Sackgasse der Stagnation herausführen müßten. Der Herr Bundeskanzler und der Herr Außen- minister haben heute morgen sehr viel von Frieden, (Abg. Kiep: Sehr richtig!) Entspannung und Versöhnung gesprochen. Eine Beides ist falsch, meine Damen und Herren! Politik dient nur dann dem Frieden, wenn sie darauf (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Kiep: gerichtet ist, neben dem Ausschluß von Gewalt auch gleichzeitig das Recht zu wahren und die Man kann nur eines erreichen!) Freiheit zu sichern. Eine Politik dient nicht nur dann Weder wahren Sie die Kontinuität unserer Friedens- der Entspannung, wenn sie darauf gerichtet ist, die politik, noch hat diese Friedenspolitik der CDU/CSU Ursachen der Spannung zu beseitigen. je in eine Sackgasse der Stagnation geführt. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Dr. Eppler: Hört! Hört!) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9805

Stücklen Geduld, meine sehr verehrten Damen und Herren Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten und besonders Herr Bundeskanzler und jetzt stell- handeln werden. vertretend Herr Außenminister, ist keine Stagna- (Abg. Matthöfer: Reden Sie über die Ver tion! Eine Politik ist noch lange nicht schon des- träge, die hier zur Debatte stehen!) - wegen gut, weil sie überhastet durchgeführt wird. Herr Breschnew hat noch im Juni 1968 einer tsche- (Beifall bei der CDU/CSU.) choslowakischen Parlamentsdelegation unter Füh- rung des tschechoslowakischen Parlamentspräsiden- Nur wenn auf beiden Seiten-das ist eine der ten Josef Smrkowski angeboten, ein internationaler grundlegenden Fragen, die das gesamte Vertrags- Gerichtshof möge die Interventionsgelüste, die der werk so schwierig machen, die auch die Verhand- Sowjetunion unterstellt werden, überprüfen. Nie- lungen so schwierig gestalten mußten — die glei- mals, so erklärte Herr Breschnew damals, habe die chen Wertvorstellungen über die unverzichtbaren Sowjetunion auf die innere Politik ihrer Nachbarn Grundrechte des Menschen und über das Zusammen- Einfluß nehmen wollen. Sie habe das 1956 in Polen leben der Völker bestehen, ist eine dauerhafte — nicht getan. Warum sollte sie es jetzt gegenüber ich betone: dauerhafte! — Ordnung in Frieden und der Tschechoslowakei tun? Freiheit zu begründen. Ungeachtet der nicht vorhan- denen Übereinstimmung in diesen Grundwerten sind (Abg. Dr. Barzel: Hört! Hört!) wir von der CDU/CSU bereit, im Interesse der Men- Zwei Monate später standen die sowjetischen Pan- schen nach Mitteln und Wegen zu suchen, um we- zer in Prag. nigstens vorläufige Regelungen zu finden. (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr! — Abg. Dr. (Beifall bei der CDU/CSU.) Eppler: Mit denen will die CDU einen Ver trag schließen!) Solange aber die andere Seite ihre ideologisch untermauerte Machtpolitik beibehält, ist äußerste - Herr Eppler, ob Sie die kommunistische Gefahr Vorsicht am Platze. Sicherheit ist nach wie vor das so sehen wie ich, ist völlig gleichgültig. Sie müssen mir nur gestatten, daß ich nicht blind über die histo- vordringliche Gebot der Stunde. Wer diese Notwen- rischen Daten der letzten 25 Jahre hinweggehe und digkeit in den Hintergrund treten oder gar außer so tue, als ob es überhaupt keine bolschewistische acht läßt, kann plötzlich vor einer verhängnisvollen Gefahr in dieser Welt gäbe. Entwicklung stehen. Ich weiß, wer heute auf die bolschewistische Gefahr in Deutschland aufmerksam (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — macht, kommt leicht in den Verdacht, ein kalter Abg. Dr. Eppler: Warum wollen Sie dann Krieger zu sein, und wird von bestimmter Seite mit denen einen Vertrag schließen?) verketzert und verdammt. Nur dann, wenn wir die Situation richtig ein- (Zuruf des Abg. Wehner.) schätzen, können wir Demokraten, die wir doch alle sind — ich mache keinem einzigen hier in diesem — Da ändern auch Sie, Herr Wehner, mit Ihrem Hause einen Vorwurf —, können wir dieser Gefahr Zwischenruf nichts an dieser Situation. auch begegnen. (Beifall bei der CDU/CSU.) Herr Abgeordneter Dies wird mich aber nicht abhalten, den Kommunis- Vizepräsident Dr. Jaeger: mus so zu sehen und so zu beurteilen, wie er sich Stücklen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab- verhält und wie er sich programmatisch offenbart. geordneten Matthöfer? Die Weltrevolution ist nach wie vor das Ziel des Kommunismus. Die Nachkriegspolitik der Sowjet- Matthöfer (SPD) : Können Sie mir sagen, warum union liefert dafür eine Reihe unwiderlegbarer Be- auch die CSU mit solchen Leuten einen Vertrag ab- weise. In all den heute kommunistischen Staaten im schließen will? Bereich des Warschauer Paktes war die kommuni- stische Partei jeweils in der Minderheit, und heute Stücklen (CDU/CSU) : Herr Matthöfer, wir wer- ist sie mit sowjetrussischer Unterstützung die allein den und würden auch einen Vertrag abschließen. Auf beherrschende Staatspartei geworden. den komme ich gleich zu sprechen. Ich sage nur, wir Ich erinnere an die tragischen Schicksalstage, die dürfen nicht die Augen vor den tatsächlichen Ver- wir in Europa erlebten. Ich denke an den 17. Juni hältnissen und Zielsetzungen des Bolschewismus 1953, an die Niederwerfung des Ungarnaufstandes verschließen. (Beifall bei der CDU/CSU.) 1956, den Mauerbau am 13. August 1961 und zuletzt an den 21. August 1968, den völkerrechtswidrigen Die Bundesregierung glaubt mit ihrer Verhand- Überfall auf die Tschechoslowakei. Der Überfall auf lungspolitik, diese in wenigen Beispielen angeführ- einen Verbündeten des Warschauer Paktes erfolgte, ten, leider auch bestehenden Realitäten überspielen obwohl es im Art. 8 dieses Paktvertrages heißt: Die zu können. Wir befürchten — und dies ist eine un- vertragschließenden Seiten erklären, daß sie im serer großen Sorgen —, daß diese Politik der Bun- Geiste der Freundschaft, Zusammenarbeit für die desregierung uns nach ihrem inneren Gesetz, nach Weiterentwicklung und Festigung der wirtschaft- ihrer eigenen Logik mit zwingender geschichtlicher lichen und kulturellen Beziehungen untereinander in Automatik aus dem Verband des freien Westens lö- Befolgung der Grundsätze der gegenseitigen Ach- sen wird. Die Frage ist nicht, ob Herr Brandt und tung ihrer Unabhängigkeit und Souveränität und der Herr Scheel das wollen, die Frage ist, wohin die 9806 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Stücklen Gleise führen, auf die Sie unseren Zug gesetzt ha- Aktionen der Regierung und der Koalition gegan- ben. gen ist — (Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Wehner: „Roter Faden" ist gut!)- Meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht die Regierungspropaganda und die Koalitionspar- der deutsch-sowjetische Vertrag sichert uns den teien versuchen in massiver Weise, der Öffentlich- Frieden, sondern Frieden, Freiheit und Sicherheit keit zu suggerieren, die Regierungsseite sei für eine garantiert jenes Bündnis, das trotz des erbitterten Friedenspolitik und die CDU/CSU sei dagegen. In Widerstandes der SPD von Adenauer mit der CDU/ ganz infamer Weise — ich weiß wohl, welchen Aus- CSU geschaffen wurde. druck ich hier benutze (Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : 400 000 DM hat man dafür ausgegeben!) Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter ist dies jetzt im baden-württembergischen Wahl- Stücklen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des kampf geschehen. Da behauptet die SPD in großen Abgeordneten Dr. Eppler? Zeitungsanzeigen, (Abg. Wehner: Das Geld hat sie vom Bol- Stücklen (CDU/CSU) : Herr Eppler, wenn Sie mich schewismus!) zu häufig mit Zwischenrufen unterbrechen oder Zwischenfragen stellen, würde ich doch bitten, daß die CDU wolle nicht den Frieden, und stellt noch die Sie mir das rechtzeitig anzeigen, damit ich einen Frage — und jetzt bekommen Sie eine anständige Absatz zu Ende bringen kann. — Bitte schön! Antwort —: Was hat die CDU mit Deutschland vor? Das ist die Frage, die in dieser Zeitungsanzeige in Baden-Württemberg veröffentlicht worden ist: Was Dr. Eppler (SPD) : Herr Kollege Stücklen, ange- hat die CDU mit Deutschland vor? nommen, es wäre so, daß diese Politik den Zusam- menhalt des Westens und des Bündnisses schwächen (Zurufe von der SPD: Geben Sie doch die würde, wie erklären Sie es sich dann, daß das keiner Antwort!) unserer Verbündeten bisher gemerkt hat? (Lachen und Zurufe von den Regierungspar Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter teien. - Abg. Wehner: Alles bolschewisti Stücklen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab- sche Fälschung!) geordneten Mattick?

Stücklen (CDU/CSU) : Herr Wehner, wenn ich Stücklen (CDU/CSU) : Herr Präsident, ich wäre diesen Zwischenruf so auffaßte, wie er von Ihnen sehr dankbar, wenn ich wenigstens immer einen gemeint wird, wäre ich durchaus in der Lage, zu Gedanken zu Ende führen könnte. sagen — ohne überaus bösartig zu sein —: Sie müs- sen das ja wissen. (Abg. Wehner: Man weiß aber nie, Wann ein Gedanke bei Ihnen anfängt und auf (Beifall bei der CDU/CSU.-Abg. Weh hört!) ner: Darum sagen Sie es auch, Sie schwar zer Ehrenmann!) — Herr Wehner, das liegt doch nicht an mir, das liegt doch vielleicht an Ihnen — um wiederum höf- Meine sehr verehrten Damen und Herren, warum lich zu sein. — Aber Herr Mattick, bitte! die Verbündeten noch nicht auf diese Idee gekom- men sind? Heute früh waren Sie ja auch wieder von Ihrem Nachrichtendienst falsch informiert. Warum Mattick (SPD) : Herr Kollege Stücklen, kann es die westlichen Alliierten — Sie meinen die Ameri- denn etwas Infameres geben, als der Bundesregie- kaner, die Engländer und Franzosen, als die drei rung und der Bundestagsmehrheit zu unterstellen, Großen — noch nicht auf diese Idee gekommen sind? daß sie entweder beabsichtige oder nicht übersehe, Ich nehme an, daß Sie — da sie nicht Skatspieler daß ihre Politik die Bundesrepublik dem Bolsche- sind und keine Zeit für diesen Sport aufwenden wismus ausliefere? müssen in der Lage sind, sehr viel von dem zu lesen, was sehr gewichtige Staatsmänner und was vor allen Dingen der Generalsekretär der NATO, Stücklen (CDU/CSU) : Darauf komme ich jetzt. Herr Brosio, ebenso wie Herr Luns in den letzten Sie haben ein Manuskript, das der Presse gegeben Wochen an Warnungen bezüglich der Sicherheit in worden ist, schon vorher eingesehen und sind schon Europa ausgesprochen haben. um drei, vier Sätze vorweg. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich wiederhole, nicht dieser Vertrag gibt uns die Ich werde das wiederholen, was ich dazu zu Sicherheit, gibt uns mehr Frieden und sichert un- sagen habe. Ich hätte gedacht, Herr Mattick, Sie wür- sere Freiheit, sondern das ist das Bündnis mit der den hier vor diesem Haus erklären, daß Sie solche freien Welt in der NATO. Anzeigen, wie sie hier gemacht worden sind, z. B.: Die Regierungspropaganda — und jetzt komme „Die Welt sagt ja zur Friedenspolitik — Die CDU ich auf den Kernpunkt, der in den vergangenen ist dagegen" — — Wochen und Monaten wie ein roter Faden durch die (Zurufe von der SPD.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9807

Stücklen - Was? Moment, wir werden Ihnen schon Bescheid politik, stellen wir die geschichtlichen Fakten ge- sagen, meine Herren. — „Was hat die CDU mit genüber. Wir von der CDU/CSU haben schon eine Deutschland vor?" aktive Ostpolitik betrieben, als die SPD noch nein zu Adenauers Westpolitik sagte und zu Beginn- der (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]: Das dürfen fünfziger Jahre die Straße gegen unsere Bündnis- wir doch noch fragen!) politik mit dem Westen mobilisierte, Diese Ungeheuerlichkeit, diese Unterstellung bedarf (Beifall bei der CDU/CSU) keines Kommentars und disqualifiziert ihre Urheber. Die Frage aber, die hier von der SPD gestellt wird, gegen ein Westbündnis, von dem selbst diese Re- will ich gern von dieser Stelle aus einmal hart und gierung eingestehen muß — und das hat der Herr unmißverständlich beantworten. Sie lautet: Wohin Bundesaußenminister wiederholt getan, der Bundes- führt die CDU Deutschland? Die CDU und CSU kanzler ebenfalls —, daß es die Grundlage einer wird Deutschland weder in den Sozialismus noch in Ostpolitik überhaupt ist. Vor 17 Jahren hat sich den Bolschewismus führen. Bundeskanzler Adenauer in Zusammenhang mit dem Abschluß der Pariser Verträge zu einer Politik des (Beifall bei der CDU/CSU. — Bravo-Rufe Gewaltverzichts einschließlich des Verzichts auf die von der SPD.) ABC-Waffen, also auf die Massenvernichtungswaf- Wir werden uns allen Kräften widersetzen, die dar- fen, Atomwaffen und andere, verpflichtet. Viele auf abzielen, die freiheitlich-demokratische Ord- Jahre, bevor von einem Atomwaffensperrvertrag nung unserer Gesellschaft auszuhöhlen oder gar zu überhaupt die Rede war, hat die CDU/CSU unter zerstören. Adenauer bereits auf diese Massenvernichtungs- (Erneute Bravo-Rufe von der SPD.) waffen für Deutschland verzichtet. Ich bin über- Wir werden wie in den zwei Jahrzehnten zuvor da- zeugt, daß dies ein ganz entscheidender Beitrag zur für sorgen, Friedenspolitik in Europa nicht nur nach dem We- sten, sondern nach dem Osten ebenfalls war. Diese (Zuruf von der SPD: Neues Rundfunk Politik hat die CDU/CSU stets bekräftigt bis hin gesetz!) zu Erhards Friedensnote von 1966 und bis zu Kie daß die persönliche Freiheit des einzelnen nicht singers Vorschlägen für den Austausch von Ge- eingeengt wird und daß der Bürger unsere Landes waltverzichtserklärungen. in Ruhe und Frieden und in einem geordneten, mo- dernen Staat leben kann. Es war die Politik der CDU/CSU, die mit unseren östlichen Nachbarstaaten die wirtschaftlichen, wis- (Beifall bei der CDU 'CSU. — Zurufe von senschaftlichen und kulturellen Bindungen ange- der SPD.) bahnt und entwickelt hat. Es war Konrad Adenauer, Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist der 1955 die diplomatischen Beziehungen zu Moskau die von Ihnen, von der SPD, provozierte Antwort herstellte, ohne einen Preis zu bezahlen, der dafür auf Ihre Anzeige in Baden-Württemberg. aber 10 000 deutsche Kriegsgefangene in die Heimat zurückführte. (Beifall bei der CDU/CSU.) Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter Stücklen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Konrad Adenauer und die Ostpolitik der CDU/CSU Herrn Abgeordneten Dr. Sperling? haben dabei stets die Freiheitsinteressen der Bun- desrepublik Deutschland gewahrt, das Selbstbestim- Stücklen (CDU/CSU) : Ich habe nichts dagegen. mungsrecht für alle Deutschen gesichert Ich kann dann einmal einen Schluck Wasser neh- (Zuruf von der SPD: Wieso gesichert?) men. — Bitte schön. und die deutsche Frage offengehalten.

Dr. Sperling (SPD) : Vielen Dank. Herr Kollege Einen solchen Vertrag mit Moskau, wie ihn die Stücklen, darf ich Sie dann so verstehen, daß Sie Bundesregierung heute diesem Hohen Hause vor- Deutschland wieder zurück nach Preußen führen legt, hätte Konrad Adenauer schon vor 17 Jahren wollen, da Sie die letzten Preußen sowieso schon haben können. da haben? (Beifall bei der CDU/CSU. — Lachen bei der (Oho-Rufen und Lachen bei der CDU/CSU.) SPD.) Aber ein Bundeskanzler Konrad Adenauer hätte nie- Stücklen (CDU/CSU): Sehr verehrter Herr Kol- mals seine Unterschrift unter einen solchen Vertrag lege, da ich nicht die Gouvernante meines Landes- gesetzt, der die Forderungen der Sowjets erfüllt vorsitzenden bin und mir bewußt ist, wie wortge- und für die nationalen Anliegen des deutschen waltig er ist, und ich weiß, daß er morgen zur rich- Volkes nur wenig bis nichts bringt. tigen Zeit hier an dieser Stelle stehen wird, kann (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) ich Ihnen nur sagen, daß er Ihnen dann vermutlich auf Ihre Frage eine authentische, unmittelbare Ant- Die CDU und die CSU wissen durchaus, wie eine wort geben wird. Gewaltverzichtspolitik aussehen muß, die die gerade (Beifall bei der CDU/CSU.) Linie der Friedenspolitik Adenauer/Erhard/Kiesinger Meine Damen und Herren, der Verleumdungs- fortsetzt. Wir von der CSU, meine sehr verehrten kampagne, die CDU/CSU sei gegen eine Friedens- Damen und Herren, haben darum den Entwurf zu 9808 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Stücklen einem echten Gewaltverzichtsvertrag vorgelegt, Verhandlungen eingeladen. Herr Professor Carlo während sich der von Ihnen, Herr Bundeskanzler Schmid, Sie saßen mit am Verhandlungstisch. und Herr Außenminister, abgeschlossene Moskauer (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!) Vertrag nicht einmal mehr in der Überschrift „Ge- - waltverzichtsvertrag" nennen darf, zumal da die Ich weiß — und das rechne ich Ihnen als Verdienst Sowjetunion in diesem Vertrag nicht auf ihre auf die an —, daß Sie in einer sehr kritischen Situation dem Feindstaatenklausel der UN-Charta gestützten Inter- Bundeskanzler zur Seite gestanden und die Ver- ventionsansprüche verzichtet. handlungen erfolgreich mit zum Abschluß gebracht haben. Das, meine sehr verehrten Damen und Her- In Übereinstimmung mit dem NATO-Kommuniqué ren, hat als Einladung an eine Fraktion, an den vom Dezember 1971 geht es uns um eine Entspan- Verhandlungen über einen Vertrag mit der Sowjet- nung durch Beseitigung der Ursachen der Span- union teilzunehmen, einen Sinn. nung. Uns geht es im Gegensatz zum Moskauer Ver- trag nicht nur um die friedliche Zusammenarbeit (Beifall bei der CDU/CSU.) zwischen den Staaten, sondern um die Zusammen- arbeit in ganz Europa. Hier ist auch die von der Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) : Herr Kollege CDU/CSU angestrebte politische Union des freien Stücklen, wenn Sie Ihr Gedächtnis anstrengen — Europa mit eingeschlossen. wollen Sie das tun? —, (Heiterkeit) Unser Vertragsentwurf bezieht sich auch ausdrück- wird Ihnen vielleicht einfallen — lich auf die Ergebnisse der Verhandlungen, die Bun- deskanzler Adenauer 1955 in Moskau geführt hat. Und da ist eine Richtigstellung dessen am Platze, Stücklen (CDU/CSU) : Ja, bitte, ich bin ja in per- was vom Kollegen Mischnick in etwas unklarer manentem Training. Form behandelt worden ist, was aber als eine kla- gende Anfrage vom Außenminister heute morgen Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) : — ich muß ja eine vorgetragen worden ist. Der Herr Außenminister Frage stellen —, daß der Herr Kollege Kiesinger hat hier mitgeteilt, daß die CDU/CSU zu den Ver- und ich nicht nach Fraktionsproporz eingeladen handlungen nach Moskau bzw. später dann nach wurden, sondern er als Vorsitzender des Auswärti- Warschau eingeladen worden sei. — Meine sehr gen Ausschusses, ich als sein Stellvertreter, verehrten Damen und Herren, ich lese Ihnen den (Zuruf von der CDU/CSU: Sie waren doch entscheidenden Passus des betreffenden Briefes vor: Vertreter der SPD-Fraktion!) (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Bitte lang und daß die Teilnahme an den Verhandlungen sam!) darin bestand, daß wir manchmal mit zu Tisch saßen. Die Vertreter der Fraktionen werden nicht Mit- Was Sie freundlicherweise in Erinnerung gebracht glieder der offiziellen Verhandlungsdelegation haben, nämlich meine Intervention für die Kriegs- sein. gefangenen, erfolgte nicht etwa auf Grund einer (Zurufe von der CDU/CSU.) Tagesordnung, sondern da habe ich mich, als die Konferenz zu platzen drohte, schlicht erhoben und Das ist der wahre Tatbestand der Einladung zu den gesprochen. Verhandlungen nach Moskau und später nach War- schau. (Demonstrativer Beifall bei der CDU/CSU.) (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Stücklen (CDU/CSU) : Herr Professor Carlo Im übrigen war, meine Damen und Herren, als Schmid, ich bedanke mich, daß Sie den Kern meiner Herr Außenminister Scheel nach Moskau fuhr, um Ausführungen bestätigen. Selbstverständlich hätte die Verhandlungen abzuschließen und um zu para- ich nie daran gedacht, daß Sie sich wie ein Hinter- phieren, materiell von dem Verhandlungsvorläufer, bänkler an den Verhandlungstisch setzen und nicht Herrn Bahr, bereits alles restlos geregelt. zum richtigen Augenblick, ob gefragt oder nicht ge- (Zustimmung bei der CDU/CSU.) fragt, das sagen, was Sie für richtig halten. Das, was Herrn Außenminister Scheel übrigblieb, (Beifall bei der CDU/CSU.) war, noch etwas Kosmetik in diesen Vertrag hinein- zubringen. Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Stücklen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab- Materiell und inhaltlich konnte er nichts mehr geordneten Dr. Schulze-Vorberg? ändern. (Zuruf von der SPD: War der auch da?) (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ CSU.) Stücklen (CDU/CSU): Ja, bitte sehr! Nun, meine Damen und Herren, will ich Ihnen einmal sagen, wie sich die Regierung Adenauer bei Dr. Schulze -Vorberg (CDU/CSU) : Herr Stück- einer ähnlichen Siuation im Jahre 1955 verhalten len, ist Ihnen bekannt, daß Bundeskanzler Adenauer hat. Ich sehe meinen verehrten Kollegen Professor in seinen „Erinnerungen" die Ausführungen von Carlo Schmid unter uns. Adenauer hatte auch her- Professor Carlo Schmid in Moskau, zu denen nach vorragende Mitglieder aus allen Fraktionen zu den Adenauers „Erinnerungen" er, der Bundeskanzler, Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9809 Dr. Schulze-Vorberg ihn aufgefordert hatte, er möchte auch sein Wort vor die Füße geworfen worden, er ist also ange- dazu sagen, für so wichtig gehalten hat, daß er sie nommen worden und sicherlich irgendwo abgelegt, im vollen Wortlaut in seinen „Erinnerungen" ab- und dabei hat es sich mit Ihrem Brief! Der Brief - druckt, daß aus dieser Einlassung von Professor Adenauers an Bulganin dagegen ist ausdrücklich Carlo Schmid hervorgeht: „Wir sprechen hier bei von Bulganin bestätigt und beantwortet worden; allen parteipolitischen Verschiedenheiten für das Bulganin bezieht sich insbesondere auf den Absatz, ganze deutsche Volk", und daß diese bedeutende in dem von dem Recht des deutschen Volkes auf die Rede von Professor Carlo Schmid in dem tausend- staatliche Einheit die Rede ist. seitigen Band über die Auswärtige Politik der Bun- Meine Damen und Herren, so stellt sich auch der desrepublik Deutschland, den das Auswärtige Amt Unterschied zwischen dem Vertrag, den Sie uns zur gerade herausgegeben hat, mit keinem Wort er- Ratifizierung vorgelegt haben, und unserem Ver- wähnt ist? tragsentwurf dar. Der Herr Außenminister hat hier (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) heute morgen provokatorisch erklärt: Wo ist eure Der Band wurde gerade jetzt von Herrn Scheel Alternative, wo habt ihr eure Ostpolitik? Wir haben herausgegeben. diese Alternative auf den Tisch gelegt. Der Text unseres Vertragsentwurfes ist staats- und völker- (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Eine rechtlich so einwandfrei, daß er bisher von keiner zweite Auflage! — Weitere Zurufe von der Seite — weder von der Regierung noch von der CDU/CSU: Neue Auflage, Herr Außen Koalition, von SPD oder FDP — irgendeine Bean- minister!) standung erfahren hat. Lediglich Polemik haben wir gegen diesen unseren Vertragsentwurf erfahren. Stücklen (CDU/CSU) : Herr Kollege Schulze-Vor- Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit Po- berg, ich kann Ihre Frage bejahen, ich kann aber lemik kommen wir aber bei einer so schwerwiegen- noch hinzufügen, daß diese Regierung zwar sehr den, weittragenden und schicksalhaften Entschei- viel von Demokratie spricht, daß aber andere Regie- dung wie der über diese Verträge nicht zurecht. rungen Demokratie praktisch durchgeführt haben. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter Vertragsentwurf — das ist der Vertragsentwurf, Stücklen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des den die CSU erarbeitet hat und der allen Abgeord- Abgeordneten Mattick? neten zugegangen ist — bezieht sich ausdrücklich auch auf die Ergebnisse der Verhandlungen, die Bundeskanzler Adenauer 1955 in Moskau geführt Mattick (SPD) : Herr Kollege Stücklen, können hat. Adenauer hatte am 14. September 1955 gegen- Sie sich daran erinnern, daß die deutsche Bundes- über Bulganin erklärt: regierung auf Grund dieses Verfahrens mit der Sowjetunion einen Konsularvertrag abgeschlossen 1. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen hat? Und erinnern Sie sich auch an die klassischen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Worte Ihres Staatssekretärs, des Herrn Lahr, da- Deutschland und der Regierung der Sowjet- mals im Auswärtigen Ausschuß, daß es den Ber- union stellt keine Anerkennung des derzeitigen linern wohl zuzumuten ist, auch in Zukunft auf beiderseitigen territorialen Besitzstandes dar. die Konsularverträge der deutschen Bundesregie- Die endgültige Festsetzung der Grenzen rung zu verzichten? Deutschlands bleibt dem Friedensvertrag vor- behalten. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das wer den wir morgen auch zitieren!) 2. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Regierung der Sowjetunion bedeutet keine Änderung des Rechtsstandpunktes der Stücklen (CDU/CSU): Herr Kollege Mattick, ich Bundesregierung in bezug auf ihre Befugnisse hätte es gern gesehen, wenn wir die Debatte jetzt zur Vertretung des deutschen Volkes in inter- auf den Bereich beschränkt hätten, den ich angeführt nationalen Angelegenheiten und in bezug auf habe. Den anderen Bereich, auf den Sie sich jetzt die politischen Verhältnisse in denjenigen deut- beziehen, habe ich nicht angeführt. Ich habe auch schen Gebieten, die gegenwärtig außerhalb ihrer die entsprechenden Unterlagen nicht mit. Ich höre effektiven Hoheitsgewalt liegen. aber mit großer Befriedigung, daß mein Kollege Marx morgen auch auf diese Frage eingehen wird. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Das war noch ein Text!) Ich möchte eine Ausführung, die heute unser Fraktionsvorsitzender, Herr Dr. Barzel, hier gemacht In unserem Vertragsentwurf haben wir auf diese hat, noch einmal unterstreichen und mit besonderem Erklärung Adenauers gegenüber Bulganin Bezug Nachdruck vortragen: In jenem Brief Bulganins ist genommen, und zwar in der Präambel. Herr Außen- uns von sowjetischer Seite das Recht auf staatliche minister Scheel, der entscheidende Unterschied zwi- Einheit, auf Wiedervereinigung zugestanden wor- schen Ihrem Brief, den Sie an den Außenminister den. Diese Position, die Adenauer gegenüber der Gromyko gerichtet haben und in dem es um das Sowjetunion errungen hat, ist von dieser Regierung geht, was in dem zweiten Punkt des Adenauer leichtfertig wieder preisgegeben worden. Briefes angesprochen ist, und dem Brief Adenauers an Bulganin ist folgender: Der Brief ist Ihnen nicht (Beifall bei der CDU/CSU.) 9810 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Stücklen Der CSU-Vertragsentwurf stellt eindeutig fest, daß trag fehlt eine solche Formel, da er von der durch es zwischen der Bundesrepublik Deutschland und die Stalinsche Expansionspolitik geschaffenen, in diesem Raum bestehenden wirklichen Lage ausgeht. der Sowjetunion strittige und unterschiedlich be- - wertete Fragen gibt, zu deren späterer friedlicher Damit sanktioniert der Moskauer Vertrag die Lösung der erklärte Ausschluß der Gewaltanwen- Kriegsbeute Stalins. dung beitragen soll. Hier zeigt sich deutlich die Kon- tinuität des CSU-Vertragsentwurfes mit der deut- Dem von der CDU/CSU-Fraktion einstimmig ge- schen Friedenspolitik von Adenauer, Erhard und billigten Vertragsentwurf geht es bei dem Bestre- Kiesinger. Ich möchte mich hier noch auf eine Er- ben, friedliche Beziehungen zwischen den euro- klärung des damaligen Außenministers Willy Brandt päischen Staaten zu entwickeln, um den zügigen vom 13. Dezember 1967 vor dem Deutschen Bundes- Ausbau der Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem, tag beziehen. Da der Bundeskanzler nicht dasein wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet sowie kann, möchte ich es mir ersparen, hier zu zitieren. um die Öffnung aller Grenzen für einen ungehinder- Ich möchte die Erklärung nur inhaltlich wiederge- ten Reiseverkehr. Auch diese Formel fehlt in dem ben. Willy Brandt war der Meinung, daß die stritti- von der Regierung ausgehandelten Moskauer Ver- gen Fragen nicht präjudiziert werden dürften und trag. Auch hier hat diese Bundesregierung die daß ein Klima geschaffen werden sollte, daß der Linie einer Politik der Freiheit zum mindesten fahr- Lösung der eigentlichen Sachprobleme dienlich sei. lässig verlassen. Diese Politik hat der Außenminister Willy Brandt (Vorsitz: Präsident von Hassel.) in der letzten Legislaturperiode vertreten, aber in dieser Legislaturperiode als Kanzler aufgegeben. Im Moskauer Vertrag sind demgegenüber Be- griffe enthalten, die wörtlich aus sowjetischen No- Die Sowjetunion sieht in dem Moskauer Vertrag ten, Reden und Memoranden abgeschrieben sind. eine endgültige Lösung von Sachfragen. Dafür gibt Ich erwähne z. B. „Normalisierung der Lage in es Stimmen aus der Sowjetunion und aus dem kom- Europa". Dieser Begriff ist wörtlich abgeschrieben munistischen Machtbereich, aus dem Machtbereich aus dem sowjetischen Memorandum an Bonn vom des Warschauer Paktes. Es ist eben nicht interessant 12. Oktober 1967. genug, daß Herr Mischnick hier eine andere eindeu- tige Auslegung vertritt. Ich versage es mir, hier (Abg. Wehner: Haben Sie selber gelesen?) Zitate anzuführen, angefangen vom Bundeskanzler Das bedeutet nach Moskauer Urteil die Beseitigung und von , der in einer Erklärung alles dessen, was den Normen des Potsdamer Ab- zum Ausdruck gebracht hat: „Die Sozialdemokraten kommens in der bekannten sowjetischen Auslegung haben als erste erklärt, daß sie niemals die Oder noch nicht entspricht und was der Breschnew-Dok- Neiße-Linie anerkennen." Ich verzichte auch darauf, trin und dem uneingeschränkten russischen Kon- in vollem Umfange das Zitat zu bringen, in dem trollanspruch zuwiderläuft. Herr Brandt, Herr Wehner und Herr Ollenhauer an- läßlich des Schlesier-Treffens erklärt haben, Verzicht Weiter heißt es im Moskauer Vertrag, daß man sei Verrat. Ich möchte auch nicht das Zitat von Ihnen „von der in diesem Raume bestehenden wirklichen bringen, Herr Kollege Wehner, in dem Sie gesagt Lage" ausgehen wolle. Dies ist wörtlich abgeschrie- haben, wer auf diese Gebiete verzichte, sei ein ben aus dem sowjetischen Memorandum vorn Strolch. 21. November 1967. In sowjetischer Auslegung deckt (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) dieser Begriff alle sowjetischen Thesen und Forde- rungen, die auf eine rechtsgültige Stabilisierung des Ich möchte aber ein Zitat hier vortragen — und gegenwärtigen russischen Herrschaftsraumes sowie das muß ich wörtlich bringen — über die Grenz- auf die Ausweitung des sowjetischen Einflusses auf frage. So sagte Bundeskanzler Brandt, damals Par- West-Berlin und Westdeutschland abzielen. teivorsitzender, noch nicht Außenminister: „Über die Grenzfrage wird sich eine von der SPD gebil- Weiter heißt es im Moskauer Vertrag: „Wenn dete Bundesregierung nicht äußern und auch keinen niemand die gegenwärtigen Grenzen antastet". Dies Verzicht anbieten." Und das in Pirmasens am ist wörtlich abgeschrieben aus der Rede Breschnews 23. Mai 1965. Ich frage mich nur: Wenn die Versiche- in Moskau vom 12. Juni 1970. Im Moskauer Vertrag rungen von gestern so schnell vergessen sind bei werden durch diese und andere Formulierungen in diesem Bundeskanzler, wie lange gelten dann seine Artikel 3 insbesondere auch diejenigen Grenzen als Beteuerungen von heute? unverletzlich sanktioniert, die 1939 über die Köpfe (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) der betroffenen Völker hinweg im Hitler-Stalin-Pakt festgelegt wurden. In dem Vertragsentwurf der CSU heißt es jeden- falls in Übereinstimmung mit der bisher auch von (Beifall bei der CDU/CSU.) Ihnen — von der Regierung und von der SPD — Ich frage: Ist es Aufgabe der Bundesregierung, auch vertretenen Politik, daß die spätere Lösung stritti- Grenzen von Gebieten für unverletzlich zu erklären, ger Fragen zu einer Verwirklichung des Rechtes auf die während oder nach dem Kriege von der Sowjet- der geteilten deutschen Nation Selbstbestimmung union annektiert wurden und in keiner unmittelba- bezieht sich führen muß. Die Gewaltverzichtsklausel ren Verbindung zur Bundesrepublik Deutschland in unserem Entwurf ausdrücklich auf alle strittigen standen oder stehen? Fragen einschließlich der Fragen, die Grenzen und Demarkationslinien betreffen. Im Moskauer Ver- (Beifall und Zurufe von der CDU/CSU.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9811 Stücklen Ich frage weiter: Kann es Aufgabe der Bundesrepu- spricht unbestreitbar eine Politik, die auf die blik sein, den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 zumindest Festigung geschlossener politischer und wirt- moralisch nachträglich noch zu sanktionieren? schaftlicher Blöcke, wie es die EWG ist, gerich- tet ist. (Beifall bei der CDU/CSU. — Pfui-Rufe von der SPD.) Damit ist klar und unmißverständlich zum Ausdruck Während man gleichzeitig von östlicher Seite die gebracht, was auch der Fraktionsvorsitzende Dr. Bar- Forderung hört, das Münchener Abkommen von An- zel in Moskau aus dem Munde der verantwortlichen fang an für ungültig zu erklären, höre ich keine Vertreter der sowjetrussischen Regierung selbst ge- Forderungen, diesen völkerrechtswidrigen Vertrag hört hat. mit dem Geheimabkommen vom August 1939 zwi- Ähnlich lautet die Erklärung des Vorsitzenden des schen Hitler und Stalin für ungültig zu erklären. Außenpolitischen Ausschusses des Obersten So- Ferner verlangt der Moskauer Vertrag „die ter- wjets, Jurij Schukow, vom 22. September 1970. ritoriale Integrität" aller Staaten „in ihren heutigen Leider gibt es auch eine Erklärung des Herrn Bun- Grenzen" zu achten. Auch dies ist wörtlich aus dem deskanzlers, die besagt, daß die politische Einigung sowjetischen Memorandum vom Oktober 1967 ab- Europas eine Aufgabe kommender Generationen geschrieben. sein soll. Weiter heißt es: ,,... keine Gebietsansprüche" zu Meine sehr verehrten Damen und Herren, im erheben. Dies ist wörtlich aus dem Memorandum CSU-Vertragsentwurf erklärt die Bundesrepublik vom November abgeschrieben. Deutschland im Gegensatz zum Moskauer Vertrag, Schließlich betrachten die Unterzeichner des Mos- daß sie weiterhin in vollem Umfang das von ihr kauer Vertrages „heute und künftig" die Grenzen vertretene und ausgeübte Recht, Selbstbestimmung als „unverletzlich". Dies ist wieder wörtlich aus dem und Einheit der deutschen Nation als Ziel ihrer Vertrag zwischen der Sowjetunion und der Tsche- Politik mit friedlichen Mitteln zu verfolgen, ausüben choslowakei vom 8. Mai 1970 abgeschrieben. wird. Ein solcher Passus fehlt im Moskauer Vertrag vollständig. Die Bundesregierung verzichtet darauf, Damit ist wohl hinlänglich bewiesen: dieser Ver- dieses Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestim- trag trägt die Handschrift Moskaus. mung und auch das Recht auf Einigung der geteil- (Beifall bei der CDU/CSU.) ten Nation in den Vertragstext aufzunehmen. Sie be- Im Moskauer Vertrag ist im Gegensatz zum CSU- gnügt sich mit einem Brief an Gromyko, der nicht Vertragsentwurf kein Verzicht auf die sowjetische Bestandteil des Vertrages ist, obwohl sie gerade in Interventionsanmaßung gemäß Artikel 53 und 107 dieser Frage bei der Sowjetunion auf Verständnis der Charta der Vereinten Nationen enthalten. hätte stoßen müssen, da die Sowjetunion in den letz- ten Jahren ein glühender Verfechter des Selbst- Wir haben es für notwendig gehalten, daß die bestimmungsrechts der neuen afrikanischen Staaten Bundesrepublik Deutschland die von ihr verfolgte und zuletzt von Bangla Desh war. Wir sind der Politik der Herstellung eines politisch geeinten Meinung, daß das, was den afrikanischen und asiati- Europas bekräftigt. In unserem Vertragsentwurf schen Staaten an Selbstbestimmungsrecht zusteht, versichert sie dabei zugleich der Sowjetunion, daß auch für das deutsche Volk und die deutsche Nation dies ein politisch geeintes unabhängiges Europa gelten muß. sein soll und daß die deutsche Politik zur Herstel- (Beifall bei der CDU/CSU.) lung des politisch geeinten Europas gegen nieman- den gerichtet ist, da dieses freie politisch geeinte Aber die Sowjetunion will das Selbstbestim- Europa der friedlichen Zusammenarbeit mit allen mungsrecht der Deutschen verhindern, weil seine anderen Staaten der Welt dienen soll. Im Moskauer Verwirklichung gleichbedeutend mit dem Ende der Vertrag fehlt eine entsprechende Bestimmung oder kommunistischen Gewaltherrschaft im anderen Teil ein Hinweis auf die Möglichkeit der europäischen Deutschlands wäre. Integration völlig. Das Moskauer Vertragswerk soll (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) nach erklärter sowjetischer Überzeugung ein Werk-. Deshalb hat die Sowjetunion die Aufnahme des zeug sein, um die politische Einigung des freien Selbstbestimmungsrechts in den Vertragstext verhin- Europas zu verhindern. Das ist hier von verschiede- dert, und die Bundesregierung hat sich ihr, ich sage, nen Vertretern der Koalition und auch von seiten in unverantwortlicher Weise gefügt. der Regierung bestritten worden. Es gibt ganz offi- zielle Erklärungen. TASS, die amtliche Nachrich- Unser Vertragsentwurf enthält gegenüber dem tenagentur der Sowjetunion, sagt am 22. Februar Moskauer Vertrag keinerlei Festschreibungen von 1971: Grenzen, sondern die Bekräftigung, daß der Friede Gegenwärtig erhält die Idee der Einberufung in Europa nur erhalten werden kann, wenn die eines gesamteuropäischen Forums zu Proble- Grundsätze des Völkerrechts, der Gleichberechtigung, men der Sicherheit und Zusammenarbeit eine des Selbstbestimmungsrechts der Völker, der Nicht- immer größere Unterstützung. Die Abhaltung einmischung sowie der Achtung der Menschenrechte eines solchen Forums würde zweifellos zur Ver- und Grundfreiheiten, insbesondere des Rechts auf besserung des politischen Klimas beitragen und Freizügigkeit für Menschen und Ideen, überall be- weitgehend Möglichkeiten für eine gleichbe- achtet werden. Während sich auch hier der Mos- rechtigte Zusammenarbeit aller Staaten eröff- kauer Vertrag den sowjetischen Forderungen beugt, nen. Doch einer solchen Entwicklung wider- führt der CSU-Vertragsentwurf die Friedenspolitik 9812 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Stücklen nicht nur der Bundesrepublik Deutschland, sondern Vor kurzem hat uns gerade Japan eine Lektion er- auch seiner westlichen Alliierten fort. Ich möchte teilt und gezeigt, daß zähes Vertreten von nationa- hier nur an das Kommuniqué der letzten NATO- len Interessen und Beharrlichkeit zu einem Nach- Ministerratstagung vom vergangenen Dezember er- geben Moskaus führen können. Nachdem Tokio innern, in dem das Recht auf Freizügigkeit für Men- 27 Jahre auf einen Friedensvertrag mit Moskau ge- schen und Ideen als Grundlage jener europäischen wartet hat, hat der Kreml jetzt endlich seine Bereit- Friedenspolitik über die bestehenden Blöcke hin- schaft zum Abschluß eines Friedensvertrages zu weg bezeichnet worden ist. erkennen gegeben. Und dies, seitdem Japan sich an- schickt, sein Verhältnis zu Peking zu normalisieren. Eine der schwerwiegendsten Unterlassungen, deren sich die Bundesregierung bei der Abfassung Unseren früheren Bundeskanzler Kiesinger haben des deutsch-sowjetischen Vertrags schuldig gemacht Sie hier mit „Peking, Peking" attackiert; Bundes- hat, besteht darin, daß ein Friedensvertragsvorbe- kanzler Brandt hat es getan. Meine sehr verehrten halt fehlt. Der von uns vorgelegte Vertragsentwurf Damen und Herren, wenn die uns befreundete stellt fest, daß eine endgültige Regelung der deut- größte Macht im Westen, die Vereinigten Staaten, schen Frage einschließlich der Grenzen einem Frie- ein so hohes Interesse an China entwickelt, dann densvertrag mit ganz Deutschland vorbehalten blei- war es eine weise Voraussicht von Kanzler Kiesin- ben muß. Auch hier befinden wir uns in Überein- ger damals, daß er diese Frage rechtzeitig — — stimmung mit nach wie vor gültigem deutschen Vertragsrecht, nämlich mit dem Deutschland-Ver- (Beifall bei der CDU/CSU. — Gelächter bei trag. der SPD.)

Der CSU-Vertragsentwurf stellt abschließend fest, Wie sehr wir mit unseren Befürchtungen wegen daß durch diesen Vertrag die von den Partnern der verschiedenartigen Auslegungen dieses Ver- früher abgeschlossenen zweiseitigen und mehrseiti- trages recht haben, zeigen die Ausführungen im gen Verträge und Vereinbarungen in ihrer Geltung „Forum" — ich würde Ihnen dringend empfehlen, nicht beeinträchtigt werden. Hierdurch ist die volle sie einmal zu lesen —, die von Ihrem Fraktionskol- Fortgeltung früherer Vertragsrechte, wie z. B. des legen MdB Claus Arndt verfaßt worden sind. Hier Deutschland-Vertrags, eindeutig gesichert. Das ist steht: beim Moskauer Vertrag nicht der Fall. Auch hier Selten ist in einem völkerrechtlichen Dokument haben wir es wieder mit einer mehrdeutigen Aus- so deutlich zum Ausdruck gekommen, daß die legung zu tun. beiden vertragschließenden Parteien in fast Diese Gegenüberstellung des Moskauer Vertrags allen wichtigen Fragen des Völker- und Staats- und des von der CDU/CSU-Fraktion einstimmig rechts, die sie betreffen, dissentieren und den- verabschiedeten Vertragsentwurfs zeigt mit aller noch ungeachtet dessen miteinander praktische Deutlichkeit, daß die Bundesregierung einen Vertrag Politik betreiben. nach den Vorstellungen Moskaus unterzeichnet hat, Hier wird bestätigt, daß die Sowjetunion eine an- während unser Entwurf einen wirklichen Gewaltver- dere Interpretation gibt, als sie hier von der Regie- zichtsvertrag zum Inhalt hat. rung und anderen vertreten worden ist. Ich weiß, meine Damen und Herren, was mir von der Regierungsseite hierauf entgegnet wird: das sei Nichts zeigt im übrigen deutlicher als die Reak- ein Traumvertrag, sei Wunschträumerei, tion des Ostblocks, wo die wahren Unterschiede zwischen unserem Entwurf und dem von der Regie- (Abg. Wehner: Ein Alptraum ist , das!) rung ausgehandelten Moskauer Vertrag liegen. Ra- für einen Vertrag bedürfe es auch eines Partners, der dio Prag — Sie können nicht sagen: Was interessiert gewillt sei, ihn zu unterzeichnen. Meine sehr ver- uns Radio Prag? Sie wissen alle, daß in den kommu- ehrten Damen und Herren, es ist kein Traumver- nistischen Staaten der Rundfunk ein staatskontrol- trag. Ein Traumvertrag wäre es dann, wenn in die- lierter Rundfunk ist sen Vertrag der Art. 7 des Deutschland-Vertrages im (Zurufe von der SPD: Wie in Bayern!) Wortlaut mit aufgenommen worden wäre, d. h. wenn auch die Sowjetunion für die Wiedervereini- — Das ist hochinteressant. Bisher hat uns die SPD gung Deutschlands eintreten würde insbesondere in Bayern immer vorgehalten, der (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Bayerische Rundfunk sei ein „schwarzer" Rundfunk. Was für ein Tinnef!) Jetzt sagen Sie plötzlich: Die CSU will sich des Rundfunks bemächtigen. Wenn wir ihn doch schon und eine freiheitliche Verfassung die Verfassung in der Hand haben, brauchen wir ihn doch nicht mehr für Gesamtdeutschland sein sollte. eigens mit einer Gesetzesnovelle zu erobern. Ich gebe zu, natürlich wird man einen so ausge- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) wogenen Vertrag nicht unter Dach und Fach bringen, wenn man wie diese Bundesregierung sich ohne Not Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist selbst unter Zeitdruck setzt und in wenigen Monaten die Doppelzüngigkeit, die manchmal von Ihrer Seite in Moskau eine überhastete Vereinbarung schließt. zu hören ist. Um einen ausgewogenen, wirklichen Gewaltver- zichtsvertrag zu unterzeichnen, bedarf es zäher Ver- Radio Prag erklärte am 1. Februar — ich zitiere, handlungen. Dazu braucht man Geduld und langen und ich würde sehr bitten, wenigstens jetzt einmal Atem. aufmerksam zuzuhören —: Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9813 Stücklen Seinen mehr ausreicht., dann finden wir im offiziellen Weiß- — d. h. Strauß- buch der Bundesregierung dieses Papier als Bahr- Papier deklariert. Ich will nicht darauf eingehen, -daß Vorstellungen zufolge sollte ein Vertrag mit der man ursprünglich keine Einwendungen dagegen er- Sowjetunion bestätigen, daß die deutsche Bun- hoben hat, daß wir diese Notizen als Protokoll be- desrepublik auf das sogenannte Recht auf zeichnet haben. Es hat eine Zeit gedauert, bis ir- Selbstbestimmung und Einheit der Nation nicht gendwo jemand auf die Idee gekommen ist, zu sa- verzichtet, was lediglich eine andere Formulie- gen: Wir haben ja gar kein Protokoll. — Also wir rung der revanchistischen Ansprüche auf eine wollen uns nicht darauf festlegen, ob wir das „Proto- Revision der Ergebnisse des zweiten Weltkriegs koll" nennen oder ob wir das „Aufzeichnungen über darstellt. die Verhandlungen" nennen, nur müssen wir es nach Wer sich also auf das Selbstbestimmungsrecht be- wie vor bedauern, daß wir bisher keinen Erfolg mit ruft, wer das Recht auf Wiedervereinigung verkün- unseren Anliegen gehabt haben. Dies ist genauso det, ist in den Augen zumindest des kommunisti- unannehmbar, meine sehr verehrten Damen und schen Senders Radio Prag ein Revanchist. Da ich der Herren, wie die Tatsache, daß der Parlamentarische Auffassung bin, daß alle Damen und Herren Abge- Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Herr ordneten in diesem Hause das Selbstbestimmungs- Moersch, uns einzelne für die Regierung günstige recht bejahen, die Wiedervereinigung wollen, sind Teile aus den Protokollen selektiv anzudienen Sie alle, meine sehr verehrten Damen und Herren, versucht, ohne daß wir kontrollieren können, was miteinander Revanchisten. vor, zwischen und nach den Zitaten steht. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Haeh (Abg. Kiep: Hört! Hört! — Beifall bei der ser: Ich lasse mich von Ihnen nicht be CDU/CSU.) schimpfen! — Weitere Zurufe von der SPD.) Es geht auch nicht nur, verehrter Herr Außenmini- — Von Radio Prag, nicht von mir! — Wer sich also ster, um Protokolle oder Niederschriften über die auf das Selbstbestimmungsrecht beruft, ist ein Re- Verhandlungen zwischen Ihnen und Gromyko, son- vanchist. dern es geht in viel entscheidenderer Weise um die Protokolle und Niederschriften über die Verhand- Im Gegensatz zu den Beteuerungen der Bundes- lungen, die Herr Bahr mit Herrn Gromyko geführt regierung wird uns hier vom Osten klar gesagt, was hat. eben nicht im Moskauer Vertrag gesichert ist. Ich (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) zitiere jetzt aus der „Prawda" vom 2. Februar die- ses Jahres: Hier hoffen wir endgültig Aufklärung zu finden, ob die sowjetrussische Seite aus Böswilligkeit eine Der Clou des Straußschen Programms ist die andere Interpretation gibt oder ob aus den Proto Nichtanerkennung der gegenwärtigen Staats- kollen zu erkennen ist, daß diese Interpretation tat- grenzen in Europa und daß ihre Festlegung an- sächlich in den Verhandlungen ermöglicht wurde. geblich nicht endgültig sein soll. Wir bedauern die Ablehnung auch deshalb, weil Meine sehr verehrten Damen und Herren, belas- diese Regierung mehr Demokratie, mehr Transpa- sen wir es in dieser Stunde bei diesen Zitaten be- renz versprochen hat. Was erleben wir? Das Gegen- deutender Stimmen aus dem Osten! teil! Diese Haltung der Regierung ist eine Zumutung Ich möchte zum Schluß kommen. für die parlamentarische Opposition, für die stärkste Fraktion dieses Deutschen Bundestages! (Bravo-Rufe von der SPD.) (Beifall bei der CDU/CSU.) — Sehen Sie, so geteilt ist Ihre Fraktion: Die einen bedauern es, die anderen freuen sich. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir fragen uns, und die Öffentlichkeit wird mit uns die (Heiterkeit bei der CDU/CSU.) Frage stellen: Was hat denn die Regierung zu ver- Wie man es hier als Oppositionsredner macht, man bergen, daß sie sich weigert, uns Einsicht in die kann es der SPD einfach nicht recht machen. Protokolle zu geben? Ich darf noch eine Frage anschneiden, die wir sehr (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) ernst nehmen. Ich sehe nämlich nicht ein, warum Meine Damen und Herren, mit einem Satz wende man hier nicht eine andere Haltung einnehmen kann: ich mich noch an den Bundeskanzler. Da er aber Ich habe von dem Dissens, von den verschiedenar- nicht da ist, — — tigen Interpretationen, von den unterschiedlichen (Zurufe: Doch!) Auslegungen auf sowjetischer und unserer Seite ge- — Entschuldigung, Herr Bundeskanzler! sprochen. Nun berufen sich die Staatsmänner des (Abg. Wehner: Wissen Sie: Sie können Ostens nicht nur auf den Vertrag, sondern auch auf wenigstens einmal etwas sagen, was die Verhandlungen. Deshalb sind Kollege Dr. Barzel übereinstimmt mit der Wahrheit! — Heiter und ich wiederholt beim Bundeskanzler und beim keit und Beifall bei der SPD.) Außenminister vorstellig geworden und haben ge- beten, Einsicht in die Protokolle bzw. in die Ver- — Herr Wehner, wissen Sie: So etwas — — handlungsniederschriften zu erhalten. Ich möchte (Abg. Wehner: Es ist schamlos, wie Sie nicht auf das Bahr-Papier eingehen, das es über- Fernsehhetze betreiben! Sie sollten das haupt nicht gibt, und wenn es das gibt, dann ist es nicht tun, denn so tief sind doch manche höchstens eine „Notiz". Und wenn „Notiz" nicht draußen nicht!) 9814 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Stücklen — Herr Wehner, Ihre vornehme Zurückhaltung hier der oder von jener Seite kommt. Lassen Sie mich im Bundestag mit dem Satz schließen: wenn Unrecht nicht mehr Unrecht ist, ganz gleich von welcher politischen (Heiterkeit bei der CDU/CSU) - Richtung dieses Unrecht zu verantworten ist, wenn ist nicht nur uns von der CDU/CSU bekannt, son- brutale Macht Realitäten schafft, die anerkannt wer- dern auch die Fernsehzuschauer wissen, daß Sie sich den müssen, so ist das das Ende des Rechts insge- hier in ganz besonderer Weise produzieren, nicht samt. immer im Stile eines Gentleman. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) (Heiterkeit und lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Kiep: Sehr vornehm! Präsident von Hassel: Das Wort hat der Herr Abg. Dorn: Das ist aber gut, daß wir Bundeskanzler. Sie hier haben! — Weitere Zurufe von den Regierungsparteien.) Brandt, Bundeskanzler: Ich weiß nicht, was das — Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn zum Schluß sollte. Ich bin Kanzler der Bundesrepu- Sie mich durch Zwischenrufe nun etwas anheizen, blik Deutschland und stehe in der Pflicht, in dieser dann entschuldigen Sie bitte: Ich bin noch nicht so Bundesrepublik Deutschland für die Demokratie zu alt, daß mein Temparement so weit unten in der sorgen — das tue ich mit allen, die das auch wollen Skala liegt, daß ich nicht auch einmal explodieren — und außerdem dafür zu sorgen, daß es den Deut- könnte. Aber eines können Sie bei mir doch immer schen auch darüber hinaus besser geht. Alles, was annehmen, das dürfen Sie mir abnehmen: Ich will daran im übrigen geknüpft wird, Herr Stücklen, ist persönlich niemandem zu nahe treten. pure Heuchelei. (Zuruf von den Regierungsparteien. — Abg. (Anhaltender lebhafter Beifall bei , den Haehser: Sie haben heute die unverschäm Regierungsparteien. — Zurufe von der teste Rede im Parlament gehalten!) CDU/CSU.) Ich sage meine Auffassung mit aller Deutlichkeit, insbesondere auch, nachdem der Herr Bundeskanz- Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abge- ler hier, was mich auch etwas überrascht hat, nicht ordnete Dr. Barzel. gerade mit Samthandschuhen mit uns umgegangen ist. Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine (Widerspruch bei der SPD.) Damen und Herren! Wir glauben, daß die Reaktion des Herrn Bundeskanzlers ebenso unbegründet wie Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr unberechtigt war, Bundeskanzler, noch ein Wort an Sie. Ich möchte ganz kurz einen Griff in die Geschichte machen mit (lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Pfui einem einzigen Satz, weil hier so viel von Reali- Rufe von der SPD) täten und Anerkennung der Realitäten die Rede daß Sie sich im Ausdruck vergriffen haben, Herr war: Nach der Machtergreifung der NSDAP am Bundeskanzler, durch ein Wort, das nicht parla- 30. Januar 1933 waren auch ein Reichskanzler Hitler mentsfähig ist. und das Dritte Reich Realität. Sie, Herr Brandt (Abg. Dr. Apel: Wer denn wohl? — Abg. ich sage jetzt: Herr Brandt —, haben sich damals Mattick: 33! — Weitere Zurufe von der nicht dieser Realität gebeugt. SPD.) (Zuruf des Abg. Matthöfer.) Wenn der Kollege Stücklen hier dargetan hat, daß — Warten Sie doch erst einmal ab, Herr Matthöfer! diese Bundesregierung mit anderen Worten hier als (Abg. Matthöfer: Ja!) draußen und jetzt als früher arbeitet, ist das der Vorwurf, Herr Bundeskanzler, mit dem Sie sich in Sie haben sich dieser Realität nicht gebeugt. Sie sind der Sache und nicht durch Empfindlichkeit ausein- emigriert und haben diesen Unrechtsstaat, dieses andersetzen sollten. Unrechtsregime bekämpft. Ich frage Sie: Stimmen Sie mit mir überein, wenn ich sage: die Machthaber (Beifall bei der CDU/CSU.) im anderen Teil Deutschlands haben keine demo- kratische Legitimation. Stimmen Sie mit mir überein, Präsident von Hassel: Das Wort hat der Herr wenn ich feststelle, daß diese Regierung im anderen Bundesminister Ehmke. Teil Deutschlands nicht vom freien Willen der (Abg. Strauß: Jetzt kommt die Ambulanz!) 17 Millionen Deutschen getragen ist? Und stimmen Sie mit mir überein, wenn ich feststelle, daß die Menschenrechte mit Füßen getreten werden Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- gaben: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! (Zurufe von der SPD) Wir haben erneut einen nicht unbekannten Auftritt - das geht doch nicht gegen Sie, meine sehr verehr von Ihnen, Herr Barzel, erlebt, in dem Sie — man ten Damen und Herren! — daß ideologischer Zwang könnte den Zuruf des Kanzlers auch darauf anwen- an Stelle der Freiheit, daß Stacheldraht und Minen- den — versuchen, die Regierung hier ins Unrecht zu felder an Stelle der Freizügigkeit stehen? Warum, setzen, wenn sie sich gegen Unterstellungen wehrt. Herr Bundeskanzler, legen Sie heute andere Maß- Der Vergleich von Herrn Kollegen Stücklen wäre ja stäbe an als 1933? Doch nicht deshalb, weil das von nur dann sinnvoll, wenn es für den Bundeskanzler Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9815 Bundesminister Dr. Ehmke um die Frage ginge, aus der DDR zu emigrieren. Präsident von Hassel: Wir fahren in der Aus- Was der Vergleich wirklich sollte, weiß ich nicht. sprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Borm. (Zurufe von der CDU/CSU.) Borm (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehr- — Vielleicht kann Herr Kollege Stücklen es hier ten Damen und Herren! Wir fahren in der Aus- erklären. sprache fort. Ich habe mit großem Interesse, Herr Aber Herr Dr. Barzel, ich wollte etwas zu Ihnen Kollege Stücklen, Ihre Ausführungen über den Ver- sagen. Sie haben hier vorhin etwas gesagt, was ich tragsentwurf der CDU/CSU gelesen, und ich frage als ungeheuerlich empfunden habe, als eine — viel- mich, ob es möglich ist, daß Sie annehmen, die so leicht können Sie es mir anders erklären — jeden- schreckliche Sowjetunion würde Ihren schönen Ver- falls prima facie sehr nationalistische Aussage. trag annehmen. Ich glaube, wir folgen in diesem Fall besser der Anregung des Kollegen Kiesinger, (Zurufe von der CDU/CSU.) der es als eine politisch richtige Tat hingestellt hat, — Lassen Sie mich doch einmal erklären! — Sie zuzuwarten. Ich glaube, wir legen diesen Vertrags- haben Herrn Kollegen Wehner zugerufen, er solle entwurf beiseite; realisierbar ist er ohnehin nicht. hier nicht reden — ich habe es im Protokoll noch Nur das wollte ich zu Ihren Ausführungen sagen. nicht nachlesen können —, solange er hier in die- Nun möchte ich zu dem Thema Berlin kommen, sem deutschen Parlament aus auswärtigen Quellen einem Thema, bei dem die Leidenschaften wahr- zitiere. scheinlich nicht so hochgehen werden; denn hier (Widerspruch bei der CDU/CSU. — Abg. gibt es sicherlich weniger grundsätzliche Gegen- Kiep: Lesen Sie doch erst einmal nach! — sätze, wie die Vergangenheit bewiesen hat. Diese Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) Stadt Berlin steht wieder einmal mittem im Welt- geschehen. Um das zu illustrieren, gestatten Sie mir — Gut, solche Mißverständnisse können entstehen. bitte, zu Anfang das darzulegen, was Präsident Dann ist die richtige Art, miteinander umzugehen Nixon am 2. Januar 1972 über das Berlin-Abkommen - da Sie doch nach draußen immer für Sachlichkeit gesagt hat. Er hielt dieses Abkommen für einen sind —, hier eine Richtigstellung zu bringen. Ich Durchbruch hin zu einem Gipfeltreffen mit Moskau. bitte Sie darum, richtigzustellen, was Sie vorhin ge- Dieses Abkommen, so sagte er, lasse erkennen, daß meint haben, und ich bitte auch Herrn Kollegen die USA und die Sowjetunion, wenn es möglich sei, Stücklen hier um Richtigstellung. Aber hier so zu sich über dieses kritische, dieses dauernd umstrit- operieren, das einerseits unklar zu lassen und dann tene Gebiet zu einigen, vielleicht auch eine Möglich- andererseits in oberlehrerhaftem Ton moralische keit finden könnten, sich über andere Probleme zu Belehrungen zu erteilen, einigen und möglicherweise über den Nahen Osten, (lebhafter Beifall bei der SPD - erregte möglicherweise auch über eine Rüstungsbegrenzung. Zurufe von der CDU/CSU) Das zeigt, wie sehr diese Stadt Berlin, meine Kolle- gen, mit der Weltgeschichte verflochten ist. das ist nicht der Stil der Sachlichkeit, der allein die- ser Sache angemessen ist. Dieses Abkommen ist in der Tat nicht nur ein besonders wichtiger Teil der Europapolitik unserer (Beifall bei den Regierungsparteien.) Tage, es ist auch ein historisches Abkommen von weltpolitischer Bedeutung. Dieses Gewicht aber Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abge- konnte dieses Abkommen nur erreichen, weil es im ordnete Dr. Barzel. Berlin-Abkommen und den Ostverträgen erstmalig gelungen ist, die Ziele, in denen wir gemeinsam sind, mit den Möglichkeiten, die die Regierung ge- Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine wahrt hat, in Einklang zu bringen. Dazu gehörte in Damen und Herren! Herr Kollege Ehmke hat es erster Linie Ehrlichkeit vor uns selbst, und dazu soeben für notwendig gefunden, auf die Stelle zu- gehörte Sinn für Realität. Wir haben doch erlebt, rückzukommen, die während meiner Intervention gerade wir in Berlin, wohin es gekommen ist, als nach der Rede des Herrn Bundeskanzlers zu Unruhe die früheren Bundesregierungen sich dazu nicht fä- auf dieser Seite des Hauses führte. Ich habe wäh- hig zeigten, als sie nämlich mit der Forderung „alles rend der letzten Rede das Protokoll bekommen, und oder nichts" die tiefe Weisheit des Begriffs Kom- es ist unverändert. Ich lese jetzt die Sätze vor, die promiß mißachteten, ohne den Entspannung nun zu der Unruhe führten. Die Sätze heißen: einmal nicht denkbar ist. Und dann, Herr Kollege Wehner, lesen Sie Nachdem die Bundesregierung nun endlich in zä- doch vielleicht einmal nach — wenn Sie hier hen Verhandlungen einen Kompromiß erreicht hat, schon dauernd mit auswärtigen Quellen arbei- versuchen Sie nun, meine Damen und Herren von ten, um eine deutsche Politik hier im deutschen der Opposition, diesen Kompromiß dadurch zu ent- Parlament zu begründen — — werten, daß Sie Leistungen und Gegenleistungen in einer Art gegeneinander aufrechnen, die der Wirk- Das ist der ganze Satz. Auf Grund dieses Satzes lichkeit des Erreichten nicht gerecht wird. So achten gab es diese Unruhe. Sie zeigt, daß Nervosität bei Sie z. B. die für uns positiven Auswirkungen im Ihnen ist, meine Damen und Herren. politisch-psychologischen Bereich — da ist es bei (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — uns Deutschen manchmal sehr schlecht bestellt — Lachen bei der SPD.) gering, und sie überbewerten als Eigenleistung oder, 9816 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Borm wie Sie es nennen, als Vorleistung die nachträgliche Zweitens. Die Bindung Berlins an den Bund, die Respektierung längst bestehender und von der ge- 20 Jahre lang umstritten war, ist vertraglich fest- gelegt worden. Die Vertretung der Interessen West- samten übrigen Welt zur Kenntnis genommener - politischer Tatsachen. Berlins und seiner Bewohner wird künftig durch die Bundesregierung auch in den Ländern des Wir haben mit diesem Kompromiß, der nach sei- Ostens übernommen. Die Einbeziehung in die inter- ner Definition auch dem Gegenspieler Pluspunkte nationalen Verträge der Bundesrepublik ist ge- zugestehen muß, mit den Berlin-Verträgen praktische sichert. Ergebnisse erzielt, die weitgehend — das freue ich mich feststellen zu können — auch den Vorstellun- Drittens. Erstmals überhaupt wurde von den Vier gen der Opposition entsprechen. 25 Jahre lang war Mächten die vertragliche Grundlage für den zivilen der westliche Teil dieser Stadt bedroht. Der Osten Personen- und Güterverkehr von und nach West- wollte mit Blockade, mit Ultimatum die Schutzmächte Berlin geschaffen und zwischen Bonn und Ost-Berlin aus Berlin hinausdrängen. Er wollte sich diese Stadt im einzelnen ausgehandelt. 25 Jahre — prüfen wir einverleiben oder ohne jede Bindung an den Bund uns doch — schien eine solche politische Überein- vogelfrei machen. 25 Jahre lang hing Berlin in der kunft zwischen beiden deutschen Staaten undenk- Luft, ohne sicheres Fundament, stets Willkürmaß- bar. Undenkbar schien es auch, daß der Osten je- nahmen ausgesetzt, ein willkommener Hebel, über mals das Druckmittel eines nicht geregelten zivilen den Moskau zu jeder Zeit — und das hat es getan — Verkehrs aus der Hand geben würde. Druck auf die Westmächte ausüben oder unser Ver- Und endlich viertens: Erstmals seit 20 Jahren hältnis zu den Verbündeten stören konnte. Ich er- besteht für die Westberliner wieder die vertrag- innere nur daran, daß nach dem Bau der Mauer lich gesicherte Möglichkeit, Ost-Berlin und die DDR die Ansichten darüber, was daraufhin zu geschehen zu besuchen. — Nun wissen wir, daß die DDR habe, zwischen der Bundesregierung und den West- gestern einseitig die Möglichkeit eröffnet hat, daß mächten weit auseinandergingen. Diese Situation die Westberliner den Ostteil ihrer Stadt besuchen. stellte einen Gefahrenpunkt erster Ordnung dar, für Und, meine Damen und Herren, ich habe gestern Deutschland, für Europa, für den Frieden der Welt im Fernsehen gesehen, daß ein prominentes Mit- und nicht zuletzt für Berlin selbst. glied der Opposition erklärte, das sei eine Folge Wer würde ohne Entspannung in West-Berlin noch der Härte. Meine Damen und Herren, das ist eine langfristig investieren? Wie sollte der Prozeß der Folge der geschlossenen Verträge! Überalterung auf die Dauer gestoppt werden? Wie (Beifall bei den Regierungsparteien.) wäre die Funktion, wenn derzeit schon nicht einer deutschen Hauptstadt, so doch einer deutschen Welt- Diese Verträge haben nach Jahren die Mauer end- stadt unter diesen Umständen aufrechtzuerhalten ge- lich wieder einmal von West nach Ost durchlässig wesen? Wie sollte diese Stadt je eine europäische gemacht. Bedeutung erlangen können? Aus solchen Überle- (Zuruf von der CDU/CSU: Und von Ost gungen ergaben sich die Forderungen, die die Bun- nach West?) desregierung an ein Berlin-Abkommen stellen muß- te. Dabei war uns ebenso wie unseren Verbündeten Aber in diesem Zusammenhang gestatten Sie mir von Anfang an klar, daß diese Forderungen nur in bitte, zu sagen: wir alle wollen die Mauer weg- einem engen politischen Zusammenhang mit den haben, aber wir bekommen sie niemals von West Ostverträgen, mit dem gegenseitigen Gewaltver- nach Ost, sondern nur von Ost nach West weg. Und zicht und nur bei Respektierung des Status quo in darüber müssen wir mit ihnen reden. einem befriedigenden Umfang durchzusetzen waren (Zustimmung bei Abgeordneten der Regie und nicht anders. rungsparteien.) (Unruhe.) Das alles ist — der Bundesaußenminister sagte es — gewiß noch keine Berlin-Lösung, aber es ist Präsident von Hassel: Darf ich Sie um etwas eine Berlin-Regelung, die die Lebensfähigkeit die- mehr Ruhe bitten und die Kollegen, die dringend ser Stadt wiederherstellt und uns eine Atempause Rücksprache zu erledigen haben, bitten, das draußen sichert, daß wir in Ruhe bis zur endgültigen Ent- in der Lobby zu tun. scheidung warten können. Das ist gewiß kein Grund zum Jubeln — das will man uns fälschlich unter- stellen —, aber es ist ein Ausgangspunkt geschaf- (FDP) : Dies geschah in geduldigen Ver- Borm fen worden, eine Chance für weitere positive Ent- handlungen und beispielhafter Zusammenarbeit mit wicklungen. den drei Westmächten. Was wurde bis jetzt erreicht? Ich nenne nur vier Natürlich wünschen wir uns mehr, natürlich wün- Hauptpunkte. schen wir den freien Verkehr nach beiden Richtun- gen. Aber was wir erreichten, war das heute mög- Erstens. Seit 1948 hat die Sowjetunion erstmals lich Gebliebene, und es ist sehr viel mehr, als viele wieder die Viermächteverantwortung für Berlin als zu hoffen wagten. Wer das Gegenteil behauptet, Ganzes anerkannt; lesen Sie die Präambel des Ber- tut es wider besseres Wissen oder weil er sich lin-Abkommens. Damit sind die Rechte der Drei niemals richtig informiert hat. Mächte für West-Berlin nicht mehr bestritten, und diese Rechte waren einstmals Anlaß für die Berlin- Wir freuen uns — ich sagte es —, daß manche Blockade und für das Chruschtschow-Ultimatum. unserer Argumente auch von der Opposition — Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9813 Borm wenigstens zum Teil — anerkannt und gewürdigt des Handelns an sich zu reißen. Das hat aber die werden. Regierung jetzt getan. (Beifall bei den Regierungsparteien.) So Kollege Dr. Schröder im Deutschlandfunk am - 5. September: Er sieht reale Lebenserleichterungen Selbstverständlich weiß auch ich um die inter- für die Berliner; er sieht die Verantwortlichkeit der nationale Verflechtung des Berlin-Problems. Das ist drei Westmächte für das freie Berlin gesichert; er nun einmal nicht jederzeit und nicht isoliert anzu- begrüßt, daß keine Bundesbediensteten aus Berlin packen. Schon zu Ihrer Regierungszeit war aber der abgezogen werden; er sieht die enge Bindung zwi- weltweite Wunsch nach Entspannung deutlich sicht- schen Bund und West-Berlin gesichert; er begrüßt, bar geworden. Die darauf schon seit Jahren basie- daß wir Berliner nach wie vor hierbleiben können, rende Politik der Weltmächte hätte Berlin auch was bekanntlich oft genug umstritten war; er hält schon früher eine Chance, zu einer grundsätzlichen die gesamte Berlin-Regelung für akzeptabel, wenn die innerdeutschen Gespräche mit vernünftigen Lö- Regelung zu kommen, gegeben. sungen enden. Meine Damen und Herren, sie haben Das hätte möglicherweise — ich greife einige mit vernünftigen Lösungen geendet, und so haben Vorwürfe auf, die Sie hier heute erhoben haben — wir gehandelt. in der Tat sogar unter besseren Voraussetzungen Herr Kollege von Wrangel in der „Welt" vom von Ihnen, meine Herren Kollegen, genutzt werden 11. September 1931: Die Außenvertretung entspricht können, wenn es nur rechtzeitig, wenn es methodisch den CDU-Vorstellungen. richtig und wenn es konsequent betrieben worden wäre. Das aber haben Sie nicht getan. Unser Kollege Der Vorsitzende der CSU sieht den Personen- und Professor Erhard hat zwar einen Versuch in dieser Warenverkehr ohne menschliche und bürokratische Richtung gemacht, 'es blieb aber bei einer anerken- Schikanen sowie gleichberechtigte Behandlung der nenswerten Absichtserklärung. Dieser blieb auch Berliner als seiner Zustimmung würdig. in der Erweiterung durch den Kollegen Kiesinger, der bereit war, die DDR als gleichberechtigten Ge- Kollege Marx hält Transitverkehr mit plombierten sprächspartner zu akzeptieren, der Erfolg versagt, Wagen und durchgehenden Zügen, Personenverkehr weil man die Konsequenzen dieser Absicht scheute, und die Einrichtung von Rastmöglichkeiten für ver- nämlich den Weg über Moskau und den schmerz- nünftige Regelungen. lichen Prozeß, unserem Volk seine wahre Lage dar- Und nicht zuletzt der Vorsitzende der CDU-Frak- zulegen. Man hat die verbliebenen Möglichkeiten tion im Abgeordnetenhaus von Berlin, Herr Lummer, und Grenzen deutscher Politik frei von Illusionen der die Dinge sicherlich sehr eingehend geprüft hat! und frei von trügerischen Hoffnungen nicht genutzt. Er sagt, es stehe ganz außer Frage, daß eine Reihe Diese sozialliberale Koalition hat diesen Mut ge- von Verbesserungen erreicht werde, wenn die habt, und sie hat zugleich die Chance genutzt, die Praxis dem Buchstaben entspreche. Hier, meine Da- uns die weltpolitische Entwicklung jetzt noch — men und Herren, muß ich allerdings Herrn Lummer ich wiederhole: jetzt noch — bietet. Das könnte sich beipflichten: wenn die Praxis dem Buchstaben ent- aber sehr schnell ändern, und die Entwicklung spricht. Im Gegensatz zu manchem tun wir, tut die könnte an uns vorbei- oder über uns hinweggehen. Regierung alles, was in ihren Kräften steht, um Es ist wenig überzeugend, wenn Herr Minister- diese Übereinstimmung nicht zu behindern. Herr präsident Filbinger darauf hinweist, daß die neue Lummer sagt, er könne diese Berlin-Verträge fast Entwicklung in Ostasien zu späterer Zeit bessere als befriedigend ansehen. Chancen bieten müsse. Auch Kollege Dr. Barzel — er ist jetzt nicht hier — will die China-Karte, und Nun ist es das Wesen einer Opposition, daß ihre zwar schon jetzt, ins Spiel gebracht wissen. Meine Vertreter jeweils behaupten, sie hätten mehr errei Damen und Herren, natürlich wird die Regierung chen können, und die Gegenseite sei mit weniger das Verhältnis zu China, das Verhältnis zur dritten zufrieden gewesen. Aber gerade diese Opposition Weltmacht normalisieren, hier in diesem Hohen Haus dürfte es schwer haben, die deutsche und die internationale Öffentlichkeit (Abg. Kiep: Um nichts anderes geht es ja!) von ihren Fähigkeiten gerade in diesem Bereich zu aber nicht mit vordergründigen Aspekten. überzeugen. Sie haben doch in 20 Jahren Regierungs- verantwortung nicht verhindern können, daß sich Können wir uns denn wirklich vorstellen, daß die die politische Lage Berlins laufend verschlechterte. von uns allen so sehr gewünschte dauerhafte und Auch die wirtschaftliche Lage blieb trotz aller Hilfs- friedliche Neuordnung Europas aus dem Spannungs- maßnahmen ständig bedroht und labil. verhältnis zwischen zwei Weltmächten auf dieser so klein gewordenen Erde erwachsen könnte? Kön- Nun spricht man von den steigenden Investitio- nen wir wirklich erwarten, daß man dann uns als nen, von denen Sie sicher auch noch einen Teil zu lachendem Dritten das Geschenk der Wiederver- Ihrem Vorteil abbuchen möchten — warum auch einigung — in welchen Grenzen auch immer — nicht —, aber sie waren doch nur möglich, weil sich präsentieren würde? Können wir erwarten, daß bereits seit Jahren 'ein Klima der Entspannung an- dieses Abwarten und dieses politische Kalkül der zubahnen anfing. De facto wurde von Ihnen doch Interessenlage unserer Verbündeten entsprechen? stets nur an den Symptomen herumkuriert. Das Übel Das sind doch Denkkategorien aus einer Geschichts- an der Wurzel haben Sie niemals angepackt. Sie epoche, die hinter dem Atompilz über dem Bikini haben reagiert, Sie haben nie versucht, das Gesetz Atoll untergegangen ist. Das sind doch sehr gefähr- 9818 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Borm liche Spekulationen! Vor ihnen können wir nicht gezogen. Präsident Nixon ist heute in Peking und in genug warnen. Binger Zeit in Moskau, und dort wohnen bekanntlich Leider tragen viele kritische Bemerkungen der ja Kommunisten. - Opposition zum Berlin-Vertrag lediglich polemi- Ebenso falsch wird auch der Sachzusammenhang schen Charakter und haben keinen substantiellen zwischen dem Moskauer Vertrag und den Berlin- Bezug, so z. B. wenn Kollege Marx sagt „Auch in Vereinbarungen dargestellt. Die drei verbündeten Berlin wird nur sowjetische Westpolitik getrieben" Westmächte und die Bundesregierung trugen diesem oder: „Die Einschränkungen für die Westberliner Sachverhalt Rechnung, um ein für uns positives sind unerträglich.". Berlin-Abkommen zu erreichen. Denn zweifellos (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Wo haben konnte erst auf dieser Basis die Einigung zwischen Sie denn dieses Zitat her?) den drei Westmächten und der Sowjetunion erfol- Dabei sollten Sie doch alle wissen, daß nach dem gen. Im übrigen ging Kollege Barzel von den glei- Wortlaut — — chen Gedankengängen aus, als er am 27. Mai vor (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sie müs diesem Hohen Hause ausführte: sen doch wenigstens zitieren können! Wo Sollte die Bundesregierung beabsichtigen, den haben Sie so ein Zitat her?) Vertrag mit der Sowjetunion abzuschließen, be- — Ich sage es Ihnen nachher, Herr Kollege. vor die Gespräche der Alliierten in Berlin zu (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Unglaub greifbaren positiven Ergebnissen geführt haben, lich! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU: so würde dies die Zukunft Berlins gefährden. Jetzt! — Vor der Öffentlichkeit!) Also auch er erkannte den ursächlichen Zusammen- — Sie haben gesagt: Auch in Berlin wird sowjeti- hang. sche Westpolitik getrieben. Das habe ich selber in Die Opposition oder doch Kräfte in ihr möchten der Zeitung gelesen. nun die UdSSR von vornherein für vertragsbrüchig (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Und was erklären, weil sie ihrerseits — notabene: erst nach- haben Sie eben zitiert? Wiederholen Sie träglich, als die Opposition aus allen Rohren gegen es noch einmal!) die Verträge zu schießen begonnen hatte — angeb- — Ich habe gesagt: Auch in Berlin wird nur so- lich ein Junktim herstellte, um die Bundesregierung wjetische Westpolitik getrieben. zu bewegen, den Moskauer Vertrag ratifizieren zu (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : „Nur" lassen, wie es heute eingeleitet worden ist. Wir soll- haben Sie gesagt!) ten die Interessenlage der Sowjetunion begreifen. Vielleicht geschah es auch, um die DDR zu beruhi- - Ich habe des weiteren gesagt, daß Sie gesagt hätten, die Einschränkungen für die Westberliner gen, die das Berlin-Abkommen intern für sich nega- seien unerträglich — und dies, Herr Kollege Marx, tiv interpretiert. Die Chinesen sprachen sogar davon obgleich Sie genau wissen, daß, wenn das Abkom- — diesmal die Chinesen auch von mir ins Feld ge- führt —, daß die Sowjetunion die DDR an die Bun- men verifiziert ist und in Kraft tritt, die Bedingun- desrepublik ausgeliefert habe. gen, unter denen die Westberliner in die DDR und nach Ost-Berlin einreisen können, zwar nicht be- Die CSU hält nach den Worten ihres Vorsitzenden friedigend sind, obwohl aber noch besser als die dagegen das Berlin-Abkommen für so einseitig im Bedingungen für die übrigen Bundesbürger. Interesse der Sowjetunion gelegen, daß er am Kollege Wohlrabe geht so weit, von einer „dop- 17. Oktober 1971 auf dem CSU-Parteitag feststellte, pelt unbefriedigenden Blamage" zu sprechen, da die Sowjetunion werde dieses Abkommen auch dann für die Westberliner weniger erreicht worden sei, nicht aufs Spiel setzen, wenn die Verträge nicht als von den Alliierten, von der Bundesregierung ratifiziert würden. Was soll das? Kann das jemand und vom Senat vorausgesetzt worden wäre. Meine im Ernst wirklich glauben. Damen und Herren, das ist objektiv nicht richtig; Der Fraktionsvorsitzende der Berliner CDU, Herr es ist unwahr. Der subjektive Informationsstand Lummer — ich sagte das bereits -, hält die Verträge des Kollegen Wohlrabe ist mir allerdings unbe- für fast befriedigend und stößt sich lediglich an der kannt. Verbindung mit dem Moskauer Vertrag. Herr Kollege von Guttenberg will glauben machen, Welche Anhäufung widersprüchlicher Aussagen! daß die Sowjets nunmehr erstmals eine vertragliche Wie stark muß der durch keine Argumente zu er- Grundlage gewonnen hätten, die politische Trennung schütternde Wille der Opposition sein, nein und nur West-Berlins vom Bund weiter zu betreiben. Meine nein zu den Verträgen zu sagen, wenn auch wider- Kollegen, dem steht doch der klare, ausdrückliche sprüchlichste Argumente immer nur zum vorgeplan- Text des Viermächteabkommens entgegen. Dieser ten Nein führen können! Das erinnert doch fatal an spricht nämlich davon, daß die bestehenden Bindun- die Haltung des Abtes in „Nathan der Weise", dem gen ausgebaut werden können. Solche polemischen es kompromißlos nur auf Nathans Tod ankam. Hier Äußerungen sind doch letztlich von überholten Vor- drängt sich ebenso wie bei dem sogenannten Alter- stellungen geprägt. nativentwurf der CDU/CSU der Eindruck auf, daß Thomas Mann sprach vom Antikommunismus — außen- und innenpolitischen Motivationen in gefähr- er meinte damit diesen als Prinzip und als Maxime licher Weise vermischt werden. Jeder von Ihnen, politischen Handelns — als der Grundtorheit unse- meine Damen und Herren von der Opposition, wird res Jahrhundert, die keine Chance mehr habe. Die sich fragen müssen, ob er das mitmachen kann ange- Welt hat dann auch längst die Konsequenzen daraus sichts unserer Verantwortung aus der geographi- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9819

Borm schen Lage unseres Landes, angesichts unseres wirt- Betreuung der West-Berliner durch die entsprechen- schaftlichen und politischen Gewichts und angesichts den Institutionen der Bundesregierung in den ost- unserer Bedeutung für das westliche Bündnissystem. europäischen Staaten nicht mehr in Frage stellt. Sie Jeder wird sich fragen müssen, ob er das mitmachen wissen, daß damit West-Berlin aus der Zuständig- kann in einer Phase weltpolitischer Entwicklung, die keit der sowjetischen Botschaft bei der DDR heraus- von uns sicher schwere, aber klare und eindeutig genommen wird. Das ist das Entscheidende. Sie motivierte sachbezogene, nur sachbezogene Entschei- wissen, daß dieses Generalkonsulat bei den drei dungen fordert. Westmächten akkreditiert werden soll. Das unter- Kritische Äußerungen der Opposition sprechen im streicht doch wohl deutlich die Tatsache, daß die Sowjetunion die alleinige Oberhoheit der drei West- Hinblick auf Berlin von einem Status quo minus. mächte für West-Berlin ausdrücklich anerkennt, un- Dafür werden hauptsächlich zwei Argumente ins beschadet der weiter bestehenden Vier-Mächte- Feld geführt, mit denen ich mich auseinanderzu- setzen habe. Verantwortung für ganz Berlin. Erstens. Es sei die folgenschwerste Bestimmung des Schließlich ist ein sowjetisches Generalkonsulat, Viermächteabkommens, daß die Berliner Westsek- das noch dazu in seinem Personalbestand vertrag- toren kein Land, kein konstitutiver Teil der Bundes- lich begrenzt ist, nicht als ein Minus für eine Stadt republik seien und daß diese von den Alliierten ge- anzusehen, die nach unser aller Wunsch gerade durch wünschte Formel — so Kollege Marx in der „Welt" die Vertragswerke in eine neue zukunftsträchtige vom 6. September 1971 — jetzt in ein internationa- Funktion zwischen West und Ost hineinwachsen les Abkommen eingeführt sei; diese Formel habe soll. Oder wollen Sie z. B. in einem sowjetischen bisher nur intern zwischen uns und den Westalliier- Generalkonsulat in Hamburg auch einen sowjeti- ten existiert. Ebenfalls Kollege Marx am 19. Februar schen Machtzuwachs sehen? 1972 im ZDF-Hearing. — Wollen Sie im Ernst be- Noch eins: Uns wird gelegentlich vorgeworfen, haupten, wir hätten diese von den Alliierten ge- wir würden Positionen und Ansprüche für ein Lin- wünschte Formel mitsamt den ursprünglichen Vor- sengericht aufgeben. Ich darf daran erinnern, daß stellungen. der UdSSR über Berlin als einem dritten der frühere Bundeskanzler Kollege Kiesinger bereit deutschen Staat überspielen und West-Berlin ver- war, auf die Bundesversammlung im Jahre 1969 in traglich als ein Land der Bundesrepublik deklarieren Berlin zu verzichten, wenn dafür seitens Ost-Berlins lassen können? Passierscheine gewährt worden wären. Er moti- vierte am 3. März 1969 in der ZDF-Sendung „Bon- Glaubt die Oppositin etwa im Ernst, daß die Alli- ner Perspektiven" diese Bereitschaft so: „Es ist kein ierten, wenn es nicht zum Abschluß des Viermächte- Tauschmittel, sondern es ist einfach die Frage: was abkommens gekommen wäre und wenn die Span- ist besser für Berlin und die Berliner, daß wir als nungen in Berlin fortbestehen würden, jemals be- ein Symbol der politischen Zusammenarbeit die reit wären, einer vollen Einbeziehung West-Berlins Bundesversammlung dort abhalten oder daß wir als elftes Bundesland in die Bundesrepublik zuzu- etwas für sie herausholen, was für die Dauer ihre stimmen? Eine solche Annahme kann doch nur Position verbessert? Das ist die ganze Frage." In illusionär sein. Insoweit ist also keine Änderung der Tat, das ist die Frage. So handeln wir. der realen Lage durch das Viermächteabkommen erfolgt. Meine Damen und Herren, niemand von uns wäre bereit, diese — zur Zeit ruhende — Funktion, den Nach dem Viermächteabkommen können die Bin- Anspruch Berlins als deutscher Hauptstadt, aufzu- dungen zwischen den Westsektoren Berlins und der geben. Aber dieser Anspruch ist durch die Verträge Bundesrepublik nicht nur aufrechterhalten, sondern ebensowenig berührt wie alle anderen Fragen, die weiterentwickelt werden. Es bleibt die Bundesprä- für eine friedensvertragliche Regelung ausdrücklich senz mit den Ausschußsitzungen des Bundestages offengehalten sind. Es liegt jetzt an uns und an nie- und des Bundesrates sowie den Sitzungen der Frak- mand anderem, aus West-Berlin eine attraktive tionen. Kein Bundesbediensteter wird aus Berlin Weststadt zu machen, solange es noch nicht wieder abgezogen. Wir bleiben hier. Zudem wird die Bun- deutsche Hauptstadt sein kann. desrepublik nunmehr West-Berlin außenpolitisch auch gegenüber dem Osten vertreten. Das alles läßt Herr Dr. Barzel, Sie befürchten, daß West-Berlin zwar noch Wünsche übrig, aber man kann doch dann durch die ständige Aufwertung — das sind Ihre gegenüber der jetzigen Lage nicht von einem Status Worte — Ost-Berlins mehr und mehr verkümmern quo minus sprechen. müsse. In der Tat, ohne diese Ostverträge würde ich diese Befürchtung nach den Erfahrungen der Sie wissen genau, daß die vertraglichen Fest- Vergangenheit vielleicht sogar teilen. Jetzt aber, legungen, die das Abkommen enthält, von der So- da die Verträge die Lebens- und Entwicklungsfähig- wjetunion bisher als mit dem sogenannten inter- keit der Stadt sichern sollen, wird mit deren Rati- nationalen Status Berlins nicht vereinbar bezeichnet fizierung neuer Raum für neues Denken und Han- wurden. Jetzt ist die Sowjetunion zur Unterschrift deln geschaffen. Sie, Herr Kollege Barzel, wetteifern bereit. Das hat bisher keine andere Politik erreicht. doch geradezu — erfreulicherweise, darf ich sagen — Zweitens. Die Opposition führt das vorgesehene mit der Bundesregierung, dem Westberliner Senat sowjetische Generalkonsulat in Berlin als weiteren und seinem Regierenden Bürgermeister in bezug Beweis für den Status quo minus an. Sie wissen auf Vorschläge, wie man diese Stadt Berlin für uns genau, daß dieses Generalkonsulat das Äquivalent alle und für seine Bewohner attraktiver machen dafür ist, daß die Sowjetunion die Vertretung und könnte. Nur, Herr Kollege, die Schlüsselfrage, die 9820 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Borm Conditio sine qua non, sollten Sie nicht übersehen: Erlauben Sie mir in der kurzen Zeit, die bleibt, Realisierbar werden alle diese Gedanken erst durch noch einmal die Gesamtthematik zu behandeln. Ich ein Ja zu den Ostverträgen. Ein Nein würde Berlin möchte mit dem Punkt beginnen, von dem ich an- nicht nur wieder in den Zustand latenter Spannun- nehme, daß er für uns alle hier unsere tiefste- Sorge gen und stets möglicher Krisen zurückwerfen, die bedeutet, nämlich die Teilung unseres Landes. jede Bemühung um seine Lebensfähigkeit und seine innere Ruhe in Frage stellen. Ein Nein würde nicht Der Herr Bundesminister des Auswärtigen hatte nur das Klima der Entspannung, in dem wir jetzt die Freundlichkeit, sich am 9. Februar im Bundesrat schon leben und von dem wir schon profitieren, mit den Sorgen zu beschäftigen, die ich kürzlich zur wieder zerstören. Ein Nein würde auch — und das Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesregierung dargelegt habe. Sie haben, Herr Bundesminister, Be- wiegt am schwersten — die weltweite Politik unse- rer Verbündeten, die wie noch nie in der Nach- zug genommen auf meine Feststellung, unser kriegszeit auch in der Berlin-Frage mit der Bundes- schwerstes Bedenken gegen den Moskauer Vertrag Teilung Deutschlands ver- regierung konform läuft, empfindlich stören. Ein sei es, daß durch ihn die Nein würde jenen Kräften in der DDR, die den tieft werde. Sie haben dazu bemerkt — mich hat das etwas erstaunt —, die Teilung Deutschlands hänge Entspannungsverträgen inneren Widerstand entge- doch nicht davon ab, ob die Zentralafrikanische Re- gensetzen, neuen Auftrieb geben. Die Folgen eines publik die DDR anerkenne oder nicht. Sie werden Nein wären unabsehbar. Es wäre einfach apolitisch, doch nicht im Ernst annehmen, daß das von Ihnen wenn man glauben wollte, daß ein Nein nur eine vorübergehende, leichte internationale Unruhe aus- erwähnte Beispiel den Kern unserer Sorge trifft. lösen würde, für die dann die jetzige Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU.) rung und ihre Verbündeten allein verantwortlich Die Frage, Herr Bundesminister, um die es hier wären. So leicht macht es die Geschichte an einem Kreuzweg, am möglichen Beginn einer neuen geht und die nicht mit so leichter Hand vom Tisch Epoche, niemandem, auch nicht der Partei, die jetzt gewischt werden darf, ist doch die: Wie wird sich die die internationale Etablie- in der Opposition steht. staatliche Aufwertung, rung der DDR auf die Teilung Deutschlands aus- Vergessen Sie auch nicht, daß es die vier Alliier- wirken? ten waren, die das Abkommen über Berlin abge- (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) schlossen haben, das durch interdeutsche Verhand- Welche Folgen wird es haben, wenn beide Teile lungen lediglich ergänzt worden ist. Wollen Sie Deutschlands Mitglieder der Vereinten Nationen unsere Verbündeten desavouieren? Glauben Sie im werden? Welche Konsequenzen werden sich erge- Ernst, daß Sie, wenn Sie in der Regierungsverant- ben, wenn die DDR weltweit völkerrechtlich aner- wortung gestanden hätten, mehr hätten erreichen kannt sein wird? Was wird sein, wenn unsere Part- können als die USA, Großbritannien und Frank- ner beim Deutschlandvertrag, wenn Frankreich, reich zusammen? Diese Frage sollten Sie sich vor- Großbritannien und die Vereinigten Staaten von legen. Amerika in Ost-Berlin Botschaften errichten werden? Wir alle, meine Kollegen, tragen vor unserem Welchen politischen Wert werden dann die feinge- Volk und vor der europäischen Geschichte eine sponnenen rechtlichen Vorbehalte der Bundesregie- schwere Verantwortung. Meine Entscheidung ba- rung noch haben, einer Bundesregierung übrigens, siert auf den Erfahrungen eines langen Lebens. Sie die den Wert anderer, von uns aufrechterhaltener basiert auf den Lehren aus zwei Weltkriegen. Sie und wesentlich kräftigerer Rechtspositionen ja sehr basiert auf schweren persönlichen Erlebnissen. Nicht gering veranschlagt hat? Auf diese Fragen kommt jeder von Ihnen, Gott sei Dank, brauchte dies alles es an. Die Regierung, so fürchte ich, geht bei ihrer zu durchleben. Das aber enthebt niemanden der Beantwortung einen Weg, der mit Illusionen gepfla- Verantwortung. Hier ist der einzelne gefordert. stert ist. Daran sollten Sie denken, meine Kollegen von der (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Opposition. Meine Damen und Herren, die harte und lang- (Beifall bei den Regierungsparteien.) wierige Auseinandersetzung um die deutsche Ost- politik und um die Ostverträge ist ein Vorgang, der für ein demokratisches System normal ist. Die Präsident von Hassel: Wir fahren in der Aus- Debatte verlangt von uns allen große Klarheit. Sie sprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. braucht sachliche und nicht persönliche Härte. Sie Gerhard Schröder. muß der anderen Seite den guten Willen zubilligen, und „andere Seite" heißt natürlich: vice versa. Wir Dr. Schröder (Düsseldorf) (CDU/CSU) : Herr Prä- sollten unter der Voraussetzung sprechen, daß auf sident! Meine Damen und Herren! Darf ich zunächst beiden Seiten Patrioten stehen, die unter den ge- ein Wort an die Adresse des Kollegen Borm sagen. gebenen Bedingungen das Beste für unser Land und Seine Ausführungen über Berlin, das Viermächte Volk wollen. Niemand sollte in dieser Diskussion abkommen und die damit zusammenhängenden Pro- verteufelt werden. Diese Kontroverse darf nicht in bleme bedürfen einer eingehenden Kommentierung einen Glaubenskrieg ausarten. Dabei sollte Klarheit und Behandlung. Sie wird morgen von meinen bei- darüber bestehen, daß eine besonders große Verant- den Berliner Kollegen vorgenommen werden. Ich wortung vor allem die Regierung selbst und die sie möchte mich damit jetzt im Augenblick nicht im tragenden parlamentarischen Kräfte haben, eine be- einzelnen beschäftigen. sonders große Verantwortung einfach deswegen, Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9821 Dr. Schröder (Düsseldorf) weil die Regierung und die sie tragenden parla- nach Osten betrieben. Oder aber sie nimmt für sich mentarischen Kräfte die größeren Aktionsmöglich- in Anspruch, ihre Politik stehe in der Kontinuität keiten haben. Das sind aber nicht nur größere Ak- und sei die Fortsetzung der früher unter unserer - tionsmöglichkeiten, sondern ist auch eine weitaus Führung verfolgten Linie. größere Verantwortung. Nun, meine Damen und Herren, von Kontinuität Wir haben, meine Damen und Herren, häufiger kann sicherlich nicht gesprochen werden. gesagt — und möchten es wiederholen —, daß der Versuch der Lösung so schwieriger Probleme bes- (Beifall bei der CDU/CSU.) ser auf eine gemeinsame Grundlage gestellt worden Die Politik dieser Bundesregierung hat wesentliche wäre. Es mag sein, daß die Regierung ursprünglich Teile und wesentliche Positionen der früheren Poli einmal etwas Derartiges geplant hat. Der Herr Bun- tik aufgegeben oder hat sie auf Formalien reduziert. deskanzler hat in der Aussprache über die Regie- rungserklärung 1969 gesagt: (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Diese Regierung wird in allen Lebensfragen der Es gibt trotzdem eine Übereinstimmung, die im Nation die Meinung der Opposition nicht nur Interesse unseres Landes sowohl nach draußen wie hören, sondern sie auch in ihre Politik einbe- nach drinnen betrachtet nachdrücklich unterstrichen ziehen. werden muß. Diese Gemeinsamkeit besteht und muß Nun, meine Damen und Herren, was ist aus solchen bestehen bleiben trotz aller Fehler, die gemacht Ankündigungen geworden?! worden sein mögen. Es besteht eine Gemeinsamkeit im Ziel der Ost- und Deutschlandpolitik, wenn man (Beifall bei der CDU/CSU.) darunter dreierlei verstehen will: Das Festhalten Leider — ich sage: leider — gab es keine ausrei- am Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen, fried- chenden Bemühungen der Bundesregierung um Ge- liche Beziehungen, Verständigung, Zusammenarbeit meinsamkeit. Offenbar war die Bundesregierung auch mit den Staaten Osteuropas einschließlich der entschlossen, ihren eigenen Weg zu gehen. Im Sowjetunion und schließlich — das ist der dritte Grunde hatte sie diesen eigenen Weg bereits in der Punkt — den Verzicht auf Androhung und Anwen- Regierungserklärung von 1969 mit der Formulierung dung von Gewalt. Dies alles sind Elemente einer von den „zwei Staaten in Deutschland" beschritten. Politik, die wir über viele Jahre verfolgt haben. Die entscheidende Veränderung der deutschen Als Außenminister der Jahre 1961 bis 1966 möchte Politik in der jüngeren Zeit liegt also bereits vor ich hier mit allein Nachdruck feststellen, daß die ge- der oder in der Regierungserklärung selbst. nannten drei Ziele, von denen ich hoffe, daß wir nach Wir wollen heute hier mit Klarheit und Nach- wie vor in ihnen einig sind, in den Jahren unserer druck aussprechen, daß die bis 1969 gemeinsam ver- Regierungsführung gegolten haben. Ich möchte folgte Linie der Ost- und Deutschlandpolitik von gleichzeitig sagen, daß sie nach unserer Meinung der Regierung ohne eine Fühlungnahme und ohne weiter gelten und gelten müssen und daß wir im Übereinstimmung mit der Opposition verlassen wor- deutschen Interesse alles Erdenkliche tun müssen, den ist. diese Überzeugung als eine gemeinsame Überzeu- (Beifall bei der CDU/CSU.) gung von Opposition mit Regierung nach drinnen und draußen festzuhalten. Meine Damen und Herren, ich weiß, daß das ein harter Vorwurf ist. Wenn der Außenminister ge- (Beifall bei der CDU/CSU.) genüber diesem Vorwurf darauf verweist, er habe doch auch die Opposition eingeladen, Vertreter zu Meine Damen und Herren, wenn ich das nach- drücklich unterstreiche, möchte ich ebenso klar Be- den Abschlußbesprechungen mit nach Moskau und Warschau zu entsenden, so fällt es bei aller Zurück- merkungen zurückweisen — es sind Bemerkungen, die im Bundesrat gefallen sind — wie z. B. die, daß haltung, so muß ich sagen, schwer, dieses Argument wir in erstarrten Denkkategorien, in einer Art ernst zu nehmen. „Maginot-Denken" — so hat es der Außenminister (Beifall bei der CDU/CSU.) formuliert — befangen gewesen seien. Derlei Unter- Als diese Einladung erging, waren alle entscheiden- stellungen und Bemerkungen tragen zur Sachlichkeit den Festlegungen bereits getroffen. Aber einen Teil der Auseinandersetzung nicht bei. der Dekoration oder ein Stück der Statisterie bei (Beifall bei der CDU/CSU.) den Schlußakten zu bilden war sicherlich nicht das, was unter gemeinsamer Grundlage und gemein- Die Bundesregierung mag für sich in Anspruch neh- samem Handeln verstanden werden sollte. men, daß ihre heutige Politik richtig sei. Das ist ihr gutes und von uns nicht bestrittenes Recht. Aber (Beifall bei der CDU/CSU.) wir wehren uns gegen jede Schwarz-Weiß-Malerei, Wir haben also als erstes festzustellen, daß die etwa in dem Stile: hier eine neue Ostpolitik, dort Bundesregierung eine neue Ost- und Deutschland- alter Immobilismus! politik eingeschlagen hat. Sie selbst verfährt dabei (Sehr war! bei der CDU/CSU.) in ihrer Argumentation allerdings nicht einheitlich. Je nach Bedarf hebt sie hervor, daß die frühere Diese Schwarz-Weiß-Malerei dient weder den In- Politik in eine Sackgasse geführt habe oder — so teressen unseres Landes noch trägt sie zu einem sagt sie noch gröber 20 Jahre lang nichts ge- guten Stil der Diskussion bei. schehen sei; erst jetzt werde aktive deutsche Politik (Beifall bei der CDU/CSU.) 9822 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Dr. Schröder (Düsseldorf) Aber lassen Sie mich zu einem etwas heiteren Westen überhaupt gegeben, aus Gründen teils in Bild übergehen: Der Herr Bundesaußenminister hat neupolitischer Natur, teils außenpolitischer Art. Die im Bundesrat in Antwort auf Ausführungen von Gründe innenpolitischer Natur werden zurückge- - Ministerpräsident Filbinger lange über das Verhal- führt auf die Entwicklung der sowjetischen Indu- ten des Weines gesprochen. Mit dem Zeitfaktor, so striegesellschaft und ihr natürliches Bedürfnis, einen meinte er, bei diplomatischen Verhandlungen sei es höheren Lebensstandard zu erzielen und sich dafür wie mit dem Wein: Auch da sei die Zeit ein wich- der möglichen Hilfsquellen des Westens zu bedie- tiger Faktor. Es gebe Rotweine — die Verantwor- nen. Unter den Gründen außenpolitischer Art wird tung für diese Feststellung trägt er —, häufig das Stichwort China genannt. Übrigens nicht (Heiterkeit bei der CDU/CSU) so sehr von uns — daran denke ich jetzt weniger — als von Regierungsseite. Die Regierung sagt weiter die immer besser würden, je älter sie seien, und das ist der zweite Punkt —, daß die Bundesrepu- die immer besser würden, je länger man damit blik Deutschland ihren Beitrag zu den weltweiten, warte, sie zu trinken. Aber der Bundesaußenmini- insbesondere auch von der NATO verfolgten Ent- ster spricht dann von einem Zeitpunkt des Um- spannungsbemühungen leisten müsse. schlagens der Weine, wenn man zu lange warte, und kommt dann mit diesem Bild wieder zu den Zu diesen beiden Argumenten möchte ich sagen: diplomatischen Verhandlungen; wenn man nämlich Beide sind als Bewertung wahrscheinlich zutreffend. den rechten Zeitpunkt, die Chance zu verhandeln, Als Kommentar muß aber folgendes dazu festge- nicht nutze, sei sie unwiderbringlich dahin. Nach stellt und der Regierung entgegengehalten wer- seiner Behauptung hat die Bundesregierung in den den. Erstens: Die Bereitschaft der Sowjetunion zu Verhandlungen mit der Sowjetunion und mit Polen Abmachungen mit uns war vor, sagen wir, fünf oder genau den Zeitpunkt gewählt, sechs Jahren sicherlich geringer als jetzt, ihre Sor- (Bundesminister Scheel: So ist es!) gen waren nämlich damals geringer. Wenn also eine gewachsene Bereitschaft der Sowjetunion ihrer ver- der der geeignetste gewesen sei, um ein Ergebnis änderten Interessenlage entspricht oder entsprach, zu erreichen, das für beide Seiten akzeptabel sei so konnte auf unserer Seite mit mehr Geduld, mit und auch von beiden Seiten getragen werde. mehr Festigkeit und mehr Ausdauer verhandelt (Zuruf des Abg. Mattick.) werden, statt hastig zuzugreifen, obwohl noch sehr wenig aus dem Tisch lag. — Das war der Zipfel, über den heute schon ge- sprochen wurde. Der frühere Bundeskanzler meinte, (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) er sei auf Ihrer Seite nicht erwischt worden. Aber vertiefen wir diese Kontroverse nicht. Meine Damen und Herren, es ist nicht strittig, daß auch die Bundesrepublik Deutschland einen Bei- Das ist in der Tat ein wichtiger Gedanke, der trag zur Entspannung leisten soll. Daraus ergibt sich dort ausgesprochen worden ist, Herr Bundesmini- aber keineswegs, daß dieser Beitrag so auszusehen ster. Dieser Gedanke leitet zum Kern der Divergenz hat, wie dies bei den Ostverträgen der Fall ist. hin. War dies der richtige Zeitpunkt, so weit- gehende Verträge zu schließen? Wir sagen klipp (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) und klar, daß, wenn wir solche Verträge hätten schließen wollen, das schon Jahre vorher möglich Es ist also nicht angängig, daß die Bundesregierung gewesen wäre. versucht, den Eindruck zu erwecken, als habe sie mit dem Abschluß des Moskauer Vertrages eine einma- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) lige, sozusagen nicht wiederkehrende Gelegenheit Meine Damen und Herren, wir sprechen aus un- genutzt, als seien Verträge des Inhalts, wie sie serer Beurteilung der künftigen weltpolitischen jetzt vorliegen, der einzig mögliche Entspannungs- Entwicklung unsere Überzeugung aus, daß auch zu beitrag der Bundesrepublik Deutschland. einem späteren Zeitpunkt ein Vertragsabschluß nicht nur dieser Art, sondern besserer Art möglich Nach Auffassung der Bundesregierung hat die geworden wäre. Sowjetunion, hat aber auch Polen uns gegenüber (Beifall bei der CDU/CSU.) wichtige Konzessionen gemacht. Sie bestehen oder sollen bestehen in dem Verzicht auf eine formelle Ich habe die Einigkeit im Ziel unterstrichen, aber völkerrechtliche Anerkennung der DDR, sie sollen dieser Einigkeit im Ziel entspricht weder eine Einig- bestehen im Verzicht auf eine Anerkennung West keit über den Weg noch über die Gangart auf die- Berlins als selbständiger politischer Einheit, sie sol- sem Weg. Wie war die Gangart, und durch was war len bestehen — nach Meinung der Regierung ist das sie charakterisiert? Die Antwort lautet: sie war cha- eine Konzession — im Verzicht auf Anwendung der rakterisiert durch unangemessene Eile, durch den sogenannten Interventionsartikel der UN-Charta ge- Eindruck von Hektik und durch die Erzeugung von genüber der Bundesrepublik Deutschland, worüber Erfolgszwang. Der Weg ist gekennzeichnet durch heute schon ein paarmal gesprochen wurde. Als die beiden Verträge, und ich stelle nun die Frage: wichtige Konzession werden angeführt die Aner- wie sind die Verträge zu bewerten? kennung des Fortbestehens der Viermächte-Verant- Die Regierung erklärt ihre Motive an verschie- wortung für Deutschland als Ganzes und schließlich denen Stellen in folgender Weise. Erstens: Es habe der Verzicht auf die völkerrechtliche Anerkennung eine Bereitschaft der Sowjetunion zum Arrange- der Oder-Neiße-Linie als endgültiger Westgrenze ment mit uns und zu mehr Zusammenarbeit mit dem Polens. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9823

Dr. Schröder (Düsseldorf) Nun, meine Damen und Herren, hier muß klar ge- Meine Damen und Herren, zu den Interventions- sagt oder klargemacht werden, daß die Erfüllung artikeln der UN-Charta ist zu sagen, und zwar schon fast aller dieser sowjetischen bzw. polnischen For- seit langem: Die Sicherheit unseres Landes beruht - derungen der Bundesregierung aus rechtlichen Grün- nicht auf dem guten Willen der Sowjetunion, son- den, d. h. nach der grundgesetzlichen Lage, gar nicht dern auf der Kraft des nordatlantischen Verteidi- möglich war und ist. Die Bundesregierung hat also gungsbündnisses, nicht etwa der Gegenseite durch geschickte Verhand- (Beifall bei der CDU/CSU) lungsführung etwas nicht gegeben oder nicht ge- währt, was sie hätte leisten können; sie wäre in all dem wir angehören dank der Politik, die wir seit diesen Fragen, die ich gerade aufgeführt habe, mit vielen Jahren, so darf ich doch wohl sagen, gemein- Sicherheit auf die Schranken des Grundgesetzes ge- sam hier betrieben haben. stoßen. Dem mußte sie zu entgehen versuchen. (Abg. Strauß: Allein angefangen haben!) (Beifall bei der CDU/CSU.) — Ja, ich weiß, Herr Strauß, aber gemeinsam — das andere stimmt schon — für viele Jahre. Als Vorteile, die weiterhin mit den Verträgen ver- bunden seien, stellt die Bundesregierung dar: Die Die Bundesregierung arbeitet ganz überwiegend Grundlage für den weiteren Ausbau der Beziehun- mit Hoffnungen und Erwartungen auf die Zukunft. gen in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Wir wissen alle, meine Damen und Herren, daß ohne Hinsicht, die Aussöhnung mit dem Osten, die Ent- diese Elemente Politik sicherlich nicht möglich ist, krampfung der Beziehungen; sie werde im Laufe der da der Politik ihrem Wesen nach etwas Spekulatives Zeit zur Verwirklichung der Grundrechte in ganz innewohnt im Gegensatz zu den exakten Naturwis- Europa, also auch in ganz Deutschland, führen, z. B. senschaften, bei denen es sich um berechenbare, zur Wiederherstellung der Freizügigkeit; aus einem meßbare Größen handelt oder handeln soll; lassen geregelten Nebeneinander werde es zu einem Mit- wir das offen. einander der beiden Teile Deutschlands kommen; es Aber Verträge, die einen wirklichen Interessen- seien keine endgültigen Grenzregelungen erfolgt, da ausgleich bringen sollen, müssen aus ihrem Text die Bundesrepublik Deutschland nur sich, nicht aber heraus klar und eindeutig für beide Seiten in aus- einen zukünftigen gesamtdeutschen Souverän bin- gewogener Weise Vorteile bringen. den könne; für den weiteren, insbesondere politi- schen Zusammenschluß Europas sei Voraussetzung, (Beifall bei der CDU/CSU.) daß die Bundesrepublik Deutschland keine Grenz- Zu der optimistischen Betrachtungsweise der Bun- probleme im Osten mehr habe. Die Widersprüchlich- desregierung in dieser Beziehung gibt es ein bemer- keit der beiden letztgenannten Argumente liegt doch kenswertes Zitat, eine Äußerung, die der Herr Bun- wohl klar zutage. desminister des Auswärtigen im Bundesrat am 9. Fe- (Beifall bei der CDU/CSU.) bruar gemacht hat. Ich zitiere: Das ändert aber nichts daran, daß sie geläufig wie- Ist die Perspektive eines guten und konstruk- derholt werden. tiven Verhältnisses auch zur Sowjetunion für die Bundesrepublik nicht auch eine Gegenlei- Bei Würdigung dieser Argumentation der Bundes- stung? regierung möchte ich auf einige Punkte hinweisen, Dazu ist zu sagen: Ein gutes und konstruktives Ver- die ich für besonders wichtig halte. hältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion, wie wir alle es wünschen, Die sowjetischen Konzessionen oder die Abwehr sollte nach unserer Auffassung für beide Seiten sowjetischer Forderungen waren kein Erfolg der vorteilhaft sein. Eine Gegenleistung der Sowjet- Verhandlungsführung, sondern ergaben sich zwin- union kann ich in der Inaussichtstellung solcher für gend aus der Rechtslage. Ich denke dabei an die sie wie für uns nützlichen Beziehungen nicht erblik- unter anderem von der Regierung in die Materialien ken. eingeführte Bemerkung des sowjetischen Außen- (Beifall bei der CDU/CSU.) ministers Gromyko: Meine Damen und Herren, dieses Beispiel — Sie Wir könnten einen Vertrag machen, der das können das im Protokoll selber nachlesen, und Sie Kreuz über alle Pläne zur Wiedervereinigung werden darüber nachdenklich werden — ist aber Deutschlands setzen würde. typisch für die Art und Weise, wie die Bundes- Wir haben nicht die Antwort, die daraufhin von regierung zugunsten der Verträge argumentiert. deutscher Seite gegeben worden ist. War dies eine Es bleibt also die Feststellung, daß es schwere zynische Bemerkung, oder welche Art von Bemer Bedenken erwecken muß, wenn die Vorteile von kung war es? Sie können sie in der ersten Druck- Verträgen weniger auf den Vertragstext als auf sache, die vor Ihnen liegt, nachlesen. Hoffnungen und Erwartungen gegründet werden. Ich möchte mit allem Nachdruck betonen, daß ein (Beifall bei der CDU/CSU.) solcher Vertrag — „Wir könnten einen Vertrag Dies, meine Damen und Herren, ist um so bedenk- machen" — mit keiner Regierung der Bundesrepu- licher, als offenbar — und dies hat die Bundesregie- blik Deutschland hätte abgeschlossen werden kön- rung durch ihre eher lapidar klingenden als über- nen, solange das Grundgesetz gilt. zeugenden Erklärungen in keiner Weise widerlegen (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) können — zwischen ihrer Interpretation der Ver- 9824 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 Dr. Schröder (Düsseldorf) träge und der Interpretation und Anwendung durch Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwi- ihre Vertragspartner nicht nur Unterschiede, son- schenfrage des Abgeordneten Arndt (Hamburg)? dern Gegensätze bestehen. - (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sehr Dr. Schröder (Düsseldorf) (CDU/CSU) : Bitte wahr!) sehr!

Wo liegen die Gegensätze nun wirklich? Die Bun- Dr. Arndt (Hamburg) (SPD) : Herr Kollege Schrö- desregierung sagt wieder und wieder, die Verträge der, würden Sie das Haus freundlicherweise deutlich sollten zu einem Modus vivendi — oder sagen wir darauf hinweisen, daß beide Zitate, die Sie eben besser: zu einem erträglichen Modus vivendi — gebracht haben, vor der endgültigen Festlegung der führen, sie seien eine Beschreibung der bestehen- Vertragstexte liegen? den Realitäten, eine Beschreibung des Status quo.

Das Echo im Osten, teilweise auch im Westen und Dr. Schröder (Düsseldorf) (CDU/CSU) : Nur das teilweise auch in der Dritten Welt aber lautet: In erste! Ich will mich wegen des Zeitablaufs nicht un- Wirklichkeit handelt es sich um eine Anerkennung nötig lange aufhalten, aber das erste Zitat liegt vor des Status quo und damit auch der Teilung Deutsch- dem Abschluß und ist deswegen im Grunde noch lands; es sei eine endgültige Fixierung des Status gefährlicher, weil es in diese Richtung gewiesen hat. quo, der sogenannten Ergebnisse des Zweiten Welt- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) krieges. Das zweite Zitat läuft parallel zur Unterzeichnung. Nun, meine Damen und Herren, damit kein Miß- (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Der Go verständnis aufkommt: Ich will hier gleich einfügen, mulka wußte ja, wovon er redet!) daß ich absolut den Standpunkt vertrete, daß wir Deutschen keine Auslegung der Verträge zu un- — Natürlich wußte er, wovon er redet, denn die seren Ungunsten vornehmen sollten, Sache war ihm ja nahe genug. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Bundesregierung verweist demgegenüber dar- auf, daß das Wort Anerkennung in den Verträgen uns also nicht einer Argumentationslinie der Gegen- nicht vorkommt. Sie kann aber nicht bestreiten, daß seite bedienen dürfen. Das ändert aber doch gar die dort verwendeten Formulierungen von der öst- nichts daran, daß wir diese Argumentationslinie lichen Seite als Ersatzvokabeln gewertet werden. Tag für Tag vorgesetzt bekommen, ohne daß das auf den energischen Widerstand der Bundesregie- (Abg. Dr. Barzel: Hört! Hört!) rung stieße. Die Vorbehalte der Regierung sind also zwar (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) formal richtig, aber die politische Wirkung der Ab- machungen ist, wie ich das gezeigt habe, dem weithin Meine Damen und Herren, ich verstehe sehr wohl, entgegengesetzt. Es besteht hier ganz offensichtlich daß die Bundesregierung in dieser Frage Zurück- die Gefahr — jetzt spreche ich einmal nur von der haltung übt. Auf der anderen Seite — und davor Gefahr —, daß die formalen Vorbehalte der Regie- kann und darf sie die Augen nicht verschließen — rung als verbale Pflichtübung entwertet werden. muß sie aber erkennen, daß die Gefahr des Ausein- (Beifall bei der CDU/CSU.) anderklaffens der Auffassungen, also des Dissenses, der Nichtübereinstimmung damit in gefährliche Grö- ßenordnungen wächst. Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwi- schenfrage? (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich möchte mich hier auf ganz wenige Beispiele Dr. Schröder (Düsseldorf) (CDU/CSU) : Nein, beschränken und zunächst eine Stimme aus dem nicht jetzt. Westen zitieren, nämlich die Schlagzeile einer ange- Das ist nicht nur eine Gefahr, meine Damen und sehenen französischen Zeitung, des „Figaro", schon Herren, sondern es ist — leider, sage ich — schon vom 4. Juni 1970. Dort heißt es kurz und bündig: Wirklichkeit. Der deutsch-sowjetische Vertrag wird die Tei- Unsere Kritik an den Verträgen beruht daher auf lung Deutschlands feierlich festlegen. der Befürchtung, daß die Teilung Deutschlands ver- (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) tieft, die Verwirklichung des Selbstbestimmungs- rechts für alle Deutschen erschwert wird; daß das Was den Warschauer Vertrag angeht, so war die im Deutschland-Vertrag niedergelegte Engagement Stimme von Gomulka selbst am 3. Dezember 1970 unserer drei großen westlichen Verbündeten, zu in Hindenburg zu hören: einer freiheitlichen Lösung der deutschen Frage bei- In diesem Vertrag erkennt die Bundesrepublik zutragen, mit Sicherheit durch diese Verträge nicht Deutschland den endgültigen Charakter unserer gestärkt, sondern vermindert wird. westlichen Grenze an Oder und Neiße an. (Beifall bei der CDU/CSU.) Ich verzichte hier darauf, aus der Rede Bresch- Dafür ist heute hier schon das eine oder an news vom August 1970 in Alma-Ata zu zitieren; dere Mal die Redewendung gebraucht worden, nie sie lautet auf Anerkennung, nicht Beschreibung. mand könne erwarten, daß unsere westlichen Ver- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9825 Dr. Schröder (Düsseldorf) bündeten etwa deutscher sein würden als die Deut- Forderungen, die jahrelang erhoben worden sind, schen selbst und — das ist noch wichtiger — daß entsprochen. sie etwa noch Interessen wahrnehmen würden, die (Beifall bei der CDU/CSU.) von der Bundesregierung selbst kleiner geschrieben Die Vertretung der deutschen Interessen ist dadurch werden. nicht leichter geworden. Die Vertretung der deut- (Beifall bei der CDU/CSU.) schen Interessen wird in Zukunft sehr viel mehr Wie gespenstisch das ist, sehen Sie, wenn Sie sich Festigkeit, sehr viel mehr Mut und Entschlossenheit eine etwas zurückliegende Äußerung der drei West- erfordern, als die Bundesregierung beim Zustande- mächte anhören. Die Deutschland-Erklärung der drei kommen dieses Vertrages bewiesen hat. Westmächte vom 26. Juni 1964 war zum Abschluß (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) des Vertrages zwischen der Sowjetunion und der DDR verfaßt worden. Dort heißt es: Da sich nun aus dem Vertragstext sicher keine Vorteile, nach seiner östlichen Interpretation sogar Die drei Regierungen erkennen weder das ost- deutsche Regime noch die Existenz eines Staates schwerwiegende Nachteile für die deutschen In- in Ostdeutschland an. Was die Bestimmungen teressen ergeben, versucht die Regierung, den Ver- tragsabschluß mit Verweisungen auf künftig zu über die Grenzen dieses sogenannten Staates erwartende Entwicklungen zu rechtfertigen. Es tut betrifft, wiederholen die drei Regierungen, daß es innerhalb Deutschlands und Berlins keine mir leid, meine Damen und Herren, aber in unseren Augen ist das keine solide Außenpolitik. Staatsgrenzen, vielmehr nur eine „Demarka- tionslinie" und die „Sektorengrenzen" gibt und (Anhaltender, lebhafter Beifall bei der daß auf Grund eben der Abkommen, auf welche CDU/CSU.) in dem Vertrag vom 12. Juni Bezug genommen Meine Damen und Herren, es ist die Pflicht der wird, die endgültige Festlegung der Staatsgren- Opposition, auf die Mängel, auf die Unausgewogen- zen Deutschlands einer Friedensregelung für Ge- heit der Verträge und auf die Gefahren, die sich samtdeutschland vorbehalten bleibt. daraus ergeben können, hinzuweisen. Bei Würdi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.) gung aller Argumente erscheinen die Risiken, die mit der Ostpolitik der Bundesregierung und mit Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine wei- den Verträgen von Moskau und Warschau verbun- tere Zwischenfrage? den sind, bei weitem größer als die Chancen, die sie bieten können. Dr. Schröder (Düsseldorf) (CDU/CSU) : Ich Zum Schluß nur noch ein Wort zu einer Frage, möchte zu Ende kommen. die viel Unruhe verursacht hat und noch verursacht Wir befürchten, daß die Ostpolitik langfristig den und auf die wir eine ganz nüchterne Antwort drin- Zusammenhalt des Westens, das empfindliche gend geben müssen. Von Regierungsseite wie auch Machtgleichgewicht in Europa und damit unsere von östlicher Seite wird immer wieder mehr oder Sicherheit gefährdet. Wir haben insbesondere die weniger deutlich auf die angeblich schwerwiegen- ernste Sorge, daß die Bindungen zwischen Europa den Folgen hingewiesen, die mit einem Scheitern und den Vereinigten Staaten eben nicht intensiviert, dieser Verträge für die Bundesrepublik Deutsch- sondern daß sie gelockert werden und daß damit die land verbunden sein würden. Es sind Ausdrücke Funktionsfähigkeit der NATO beeinträchtigt wird. wie „Desaster" und „totale Isolierung", die uns Wir befürchten, daß es auf die Dauer gesehen zu dann angeblich drohten, verwendet worden. Der einer Machtverschiebung in Europa zugunsten der Bundesregierung muß deutlich gesagt werden, daß Sowjetunion kommt. Wir befürchten, daß sie aus sie allein es ist, welche die Verantwortung für eine dieser veränderten Situation heraus dem ihr äußerst Politik trägt, die sie allein betrieben hat und be- unbequemen westeuropäischen Zusammenschluß treibt. nach Kräftén Steine in den Weg legen wird. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Von Regierungsseite wird nun gesagt, wir arbei- Die Bundesregierung nimmt die Chance des Er- teten mit Befürchtungen, während wir ihr gleich- folgs für sich in Anspruch. Sie muß auch das Risiko zeitig vorwürfen, sie stütze sich auf Hoffnungen und des Scheiterns tragen. Erwartungen. Dann bezögen sich doch beide auf die (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Zukunft. Meine Damen und Herren, das mag im Wir jedenfalls werden uns von Pressionen nicht ersten Augenblick ganz gut klingen; es ist aber beeindrucken lassen. durchaus nicht überzeugend. Die Ausgangsposi- tionen von Regierung und Opposition sind sehr ver- (Wiederholter Beifall bei der CDU/CSU.) schieden. Ein Scheitern der Verträge ist ein Desaster nur für Die Regierung hat, wenn wir den Moskauer Ver- die Bundesregierung, die sie abgeschlossen hat. trag als das Hauptinstrument ansehen, einen Ver- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) trag geschlossen, dessen Vorteile sich für beide Seiten, wie ich vorhin sagte, normalerweise aus dem Ich bin der Überzeugung, daß die Interessen Vertragstext ergeben sollten. Das heißt also, Lei- Deutschlands ohne diese Verträge besser wahrge- stungen und Gegenleistungen sollten erkennbar in nommen werden können. einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. (Lebhafter, langanhaltender Beifall bei der In Wirklichkeit hat die Regierung sowjetischen CDU/CSU.) 9826 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Präsident von Hassel: Meine Damen und Her- ren, der Ältestenrat hat beschlossen, die heutige Debatte bis 20 Uhr fortzusetzen und sie morgen früh um 9 Uhr wiederaufzunehmen. Nach dem Stand von gegenwärtig 20 Uhr ist morgen früh als erster Red- ner der Herr Bundesminister für innerdeutsche Be- ziehungen vorgesehen. Ich schließe die heutige Sitzung und berufe die nächste Sitzung auf morgen, Donnerstag, den 24. Fe- bruar, 9 Uhr ein.

(Schluß der Sitzung: 20.02 Uhr.) Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode - 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9827

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Bonn, den 9. Februar 1972 - Liste der beurlaubten Abgeordneten An den Herrn Präsidenten Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich des Deutschen Bundestages Bonn Bals *** 25. 2. Bredl 4. 3. Vorstehende Abschrift wird auf Ihr Schreiben vom Breidbach 23. 2. 28. Januar 1972 mit der Bitte um Kenntnisnahme Dasch 3. 3. übersandt. Frau Dr. Diemer-Nicolaus *** 26. 2. Dr. Dittrich 25. 2. Heinz Kühn Draeger *** 25. 2. Freiherr von und zu Guttenberg 4. 3. Frau Dr. Henze 18. 3. Anlage Kahn-Ackermann *** 26. 2. zum Schreiben des Präsidenten Kriedemann * 23. 2. des Bundesrates vom 9. Februar 1972 Lautenschlager * 2. 24. an den Bundeskanzler Lenze (Attendorn) *** 25. 2. Lücker (München) * 24. 2. Memmel * 25. 2. Entschließung Mertes 25. 2. zum Gesetz über die weitere Finanzierung von Maß Müller (Remscheid) 25. 2. nahmen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse Pöhler *** 25. 2. der Gemeinden und des Bundesfernstraßenbaus Richarts 25. 2. (Verkehrsfinanzgesetz 1971) Rinderspacher *** 25. 2. Dr. Schober 23. 2. Der Bundesrat stellt mit Bedauern fest, daß durch Schulte (Schwäbisch Gmünd) 25. 2. nationale Maßnahmen von EWG-Mitgliedstaaten Dr. Seume 25. 2. den deutschen Seehäfen Wettbewerbsnachteile er- wachsen, und vermag kein Verständnis dafür auf- * Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Euro- zubringen, daß durch das vorliegende Gesetz die päischen Parlaments Wettbewerbsverzerrungen zum Nachteil der deut- *** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen der Ver- schen Seehäfen noch weiter verschärft werden. Der sammlung der Westeuropäischen Union Bundesrat nimmt Bezug darauf, daß der zuständige Bundesminister für Verkehr den deutschen Seehäfen nationale Maßnahmen zum Ausgleich der Wett- bewerbsverzerrungen in Aussicht gestellt hat, wenn die wettbewerbsnachteiligen Maßnahmen der in Frage kommenden EWG-Mitgliedstaaten nicht ab- gebaut werden. Unter Bezug hierauf bittet der Bun- desrat die Bundesregierung, Anlage 2 1. im Rahmen der EWG mit Nachdruck darauf hin- zuwirken, daß eine Harmonisierung der Wettbe- Der Präsident des Bundesrates werbsbedingungen im Bereich des Verkehrswe- sens herbeigeführt wird, Bonn, 9. Februar 1972 2. im Zuge dieser Bemühungen alle Möglichkeiten An den auszunutzen, um durch nationale Maßnahmen Herrn Bundeskanzler schwere Schäden von der deutschen Verkehrs- Bonn wirtschaft abzuwenden. Der Bundesrat hat in seiner 376. Sitzung am 9. Fe- bruar 1972 beschlossen, dem vom Deutschen Bundes- tag am 26. Januar 1972 verabschiedeten Gesetz über die weitere Finanzierung von Maß- Anlage 3 nahmen zur Verbesserung der Verkehrsverhält- nisse der Gemeinden und des Bundesfernstra- Schriftliche Antwort ßenbaus (Verkehrsfinanzgesetz 1971) des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf gemäß Artikel 84 Abs. 1, 104 a Abs. 4 und 105 Abs. 3 vom 23. Februar 1972 auf die Mündlichen Fragen des Grundgesetzes zuzustimmen. des Abgeordneten Breidbach (CDU/CSU) (Druck- sache VI/3165 Frage A 60 und 61): Außerdem hat der Bundesrat die aus der Anlage ersichtliche Entschließung angenommen. Wie beurteilt die Bundesregierung die Lage der westdeutschen Aluminiumindustrie? Welche Prognose für den Aluminiumverbrauch pro Einwohner Heinz Kühn kann für die nächsten Jahre abgegeben werden? 9828 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Die westdeutsche Aluminiumindustrie befindet Anlage 4 sich gegenwärtig in einer recht ernsten Lage, die in erster Linie aus einer internationalen Überproduk- Schriftliche Antwort tion und einem entsprechenden Preisverfall resul- tiert. Auch in der Bundesrepublik sind in den letz- des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf ten Jahren wegen der Verfügbarkeit billigeren vom 23. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des Kernkraftstroms und im Vertrauen auf einen wei- Abgeordneten Dr. Becker (Mönchengladbach) (CDU/ teren kräftigen Nachfrageanstieg neue Aluminium- CSU) (Drucksache VI/3165 Frage A 62) : kapazitäten entstanden. Die Hüttenproduktion stieg Ist die Bundesregierung bereit, das Petitum des Verbandes der Europäischen Bekleidungsindustrie an das Generalsekretariat dadurch im abgelaufenen Jahr um 38 %auf des GATT über den baldigen Abschluß eines Abkommens über 427 000 t, von denen ein Teil unabsetzbar blieb. Bei den Welthandel mit Textilien zu unterstützen? den Aluminiumlegierungen belief sich der Produk- tionsanstieg auf 6 % Für Baumwolltextilien besteht bekanntlich bereits eine multilaterale Vereinbarung im Rahmen des Da auch in der westlichen Welt insgesamt die GATT (Weltbaumwoliwarenabkommen). Aluminiumnachfrage — wie schon 1970 — unter der Weltproduktion blieb, fielen im internationalen Was den Abschluß eines dem Weltbaumwollwa- Handel die Preise unter die Gestehungskosten der renabkommens analogen Abkommens für Non-Cot- meisten Produzenten, so daß gegenwärtig wenig- ton-Textil- und Bekleidungserzeugnisse anbetrifft, stens die deutsche Produktion ein Verlustgeschäft wie es bereits 1969 von den USA vorgeschlagen geworden ist. Trotz des Kampfes um die Markt- wurde, so hat die Bundesrepublik — ebenso wie anteile sind 87 000 t im Frühjahr 1971 fertiggestellte auch andere Länder — hiergegen Bedenken geäu- Kapazitäten nicht in Betrieb genommen worden. Im ßert, weil sie in einer derart umfassenden Handels- Januar d. J. wurden weitere 33 000 t Kapazitäten beschränkung ein gefährliches Präjudiz auch für älterer Werke abgeschaltet. andere Sektoren befürchtet, das schließlich zu einer Bedrohung des gesamten freien Welthandels führen Ungeachtet der großen gegenwärtigen Schwierig- könnte. In jedem Falle sollte daher nach Auffassung keiten sieht die Bundesregierung — wie auch die der Bundesregierung vor einer weltweiten Rege- Aluminiumwirtschaft — die Aluminiumindustrie lung für Non-Cotton-Textil- und Bekleidungserzeug- mittel- bis langfristig als ausgesprochene Wachs- nisse zunächst eine genaue Durchleuchtung der Han- tumsindustrie an. Das temporäre Überangebot dels- und wirtschaftspolitischen Situation dieses sollte, wofür international auf breiter Front plädiert Sektors erfolgen. wird, durch geringere Kapazitätsausnutzungen über- wunden werden können. Die Bundesregierung hat sich deshalb vor länge- rer Zeit im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft, Verbauchsprognosen für einzelne Jahre unterlie- die für derartige handelspolitische Arrangements zu- gen großen Fehlermöglichkeiten, wie aus folgender ständig wäre, für die Einsetzung einer Arbeits- Übersicht über die letzten Jahre hervorgeht: gruppe beim GATT ausgesprochen, welche die be- stehenden Probleme untersuchen soll. Aluminiumverbrauch je Kopf Die EG hat ihre Bereitschaft hierzu schon anläß- in der Bundesrepublik Deutschland lich der Zusammenkunft der Vertreter der wichtig- in kg sten Welthandelsländer im Sommer 1970 und erneut im Frühjahr 1971 in Genf zum Ausdruck gebracht. 1965 8,9 Wegen des Widerstandes oder mangelnden Interes- 1966 9,4 ses anderer Welthandelsländer ist diese Arbeits- 1967 9,0 gruppe jedoch bisher nicht eingesetzt worden. 1968 11,4 1969 13,5 1970 13,5 1971 13,6 Anlage 5

Auf einen 50%igen Anstieg zwischen 1967 und Schriftliche Antwort 1969 folgte eine über zwei Jahre gehende Stagna- tion. Bislang ist der Aluminiumverbrauch mittel- des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf fristig doppelt so stark gestiegen wie das Sozial- vom 23. Februar 1972 auf die Mündliche Frage der produkt. Das mag für die nächsten 5 bis 6 Jahre, Abgeordneten Frau Funcke (FDP) (Drucksache gestützt durch Überlegungen über den Verbrauch VI/3165 Frage A 65) :

in einzelnen Fachrichtungen, noch zutreffen. Danach Ist die Bundesregierung bereit, den Omnibusfahrern im Linien- ist eine leichte Abflachung denkbar. Man kann des- dienst, die neben dem Führen des Fahrzeugs den Kassendienst versehen und für die unter Berücksichtigung des Fahrgast- halb bis 1976 mit einem Verbrauchsanstieg je Kopf andrangs, der Verkehrsbehinderung beim Halten und der Ver- von 7,5 bis 8 % in der Bundesrepublik Deutschland pflichtung, den Fahrplan einzuhalten, die Gefahr von Kassen- fehlbeträgen besonders groß ist, auch wenn der Gesamtumsatz rechnen. Für das Endjahr ergäbe das einen Ver- beim Kassieren von Kleinbeträgen relativ gering ist, im gleichen Umfang Steuerfreiheit für Fehlgeldentschädigung zu gewähren brauch in der Bundesrepublik Deutschland von 1,2 wie den Arbeitnehmern, die der Regelung von Abschnitt 2 Millionen t, je Kopf von 18,0 kg. Die USA hatten Abs. 2 Buchstabe a der Lohnsteuerriditlinien unterliegen? 1969 einen je Kopf-Verbrauch von 22,4 und 1970 von 20,9 kg. Ich beantworte Ihre mündliche Anfrage mit „nein". Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9829

Der Bargeldumsatz der Omnibusfahrer im Linien- denden Wirkungen derjenigen Tabakwaren (im Sinne des § 2 Abs. 6 des Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des dienst ist — verglichen mit anderem Kassendienst Tabaksteuergesetzes in Drucksache VI/3048), wie zum Beispiel des unter Sachkundigen bekannten thailändischen Tiefentorfs oder — normalerweise so gering, daß trotz des von Ihnen des Island-Mooses, zu erforschen und bekanntzumachen, und hält erwähnten größeren Verlustrisikos Steuerfreiheit es die Bundesregierung nicht für angebracht, diejenigen Tabak- waren, die nicht aus Tabak bestehen (§ 2 Abs. 6 des o. a. Ent- für eine höhere Fehlgeldentschädigung nicht gerecht- wurfs), steuerlich stärker zu belasten, um auf diese Weise der weiteren Verbreitung dieser möglicherweise die gesundheits- fertigt erscheint. gefährdende Wirkung des Nikotins übertreffenden Stoffe vorzu- beugen? Im übrigen hätte die Bundesregierung auch Beden- ken, als Kriterium für die Höhe der steuerfreien Thailändischer Tiefentorf und Island-Moos werden neben dem Umfang des Bar- Fehlgeldentschädigung in der Bundesrepublik bei der Herstellung von geldumsatzes auch risikoerhöhende Umstände in Be- Tabakerzeugnissen nicht verwendet. Es gibt auch tracht zu ziehen. Hierfür ließen sich nur schwer all- keinen Grund zu der Annahme, daß die deutsche gemeingültige Abgrenzungsmerkmale finden. Das Tabakindustrie künftig Torf und Moos verarbeiten Problem besteht ja nicht nur bei Omnibusfahrern, wird. Die Bundesregierung sieht daher keinen An- sondern auch in anderen Berufen, wie z. B. bei Kas- laß, Forschungen über etwaige schädliche Wirkun- siererinnen in Lebensmittelgeschäften. Selbst bei gen dieser Stoffe anzustellen. Omnibusfahrern müßte man vielleicht unterscheiden zwischen Stadtverkehr und ruhigem Überlandver- Die Frage, ob zum Rauchen bestimmte Erzeug- kehr. nisse, die nicht aus Tabak bestehen, steuerlich stär- ker belastet werden sollen, hat sich bisher nicht ge- Ich möchte aber noch darauf hinweisen, daß Kas- stellt, weil es solche Erzeugnisse zur Zeit auf dem senverluste, die die Fehlgeldentschädigung überstei- deutschen Markt nicht gibt. Die Bestimmung des § 2 gen, als Werbungskosten geltend gemacht werden Abs. 6 ist bereits vor einiger Zeit in das Tabak- können, so daß den Busfahrern trotz der Begren- steuergesetz aufgenommen worden, um Substitu- zung der steuerfreien Fehlgeldentschädigung auf tionsprodukte, wie z. B. Zigaretten mit syntheti- 10 DM monatlich vielfach keine steuerlichen Nach- schem Inhalt — an entsprechenden Versuchen wird teile entstehen. im Ausland gearbeitet — ggf. ebenso besteuern zu können wie die ersetzten Naturprodukte. Für eine Erhöhung ides Steuersatzes für Substitutionspro- Anlage 6 dukte sieht die Bundesregierung unter den gegebe- nen Umständen z. Z. keinen Anlaß. Schriftliche Antwort

des Parlamentarischen Staatssekretär Hermsdorf vom 23. Februar 1972 auf die Mündlichen Fragen Anlage 8 des Abgeordneten Dr. Ahrens (SPD) (Drucksache VI/3165 Fragen A 66 und 67) : Schriftliche Antwort Hat sich die Hoffnung der Bundesregierung auf eine beispiel- gebende Wirkung des Gesetzes über die verbilligte Veräußerung, des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf Vermietung und Verpachtung von bundeseigenen Grundstücken auf die Bundesländer und Gemeinden erfüllt? vom 23. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des In welchen Bundesländern sind entsprechende Gesetze erlassen Abgeordneten Schlaga (SPD) (Drucksache VI/3165 worden oder in Vorbereitung? Frage A 69) : Ist die Bundesregierung bereit, auch solche Zigaretten als Ziga- Der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundes- retten im Sinne des Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes (Drucksache VI/3048; dort § 2 Abs. 1 tages hat die Bundesregierung zu einem Bericht Nr. 1 und 2 in Verbindung mit § 2 Abs. 3) zu erfassen, die von über die von Ihnen gestellten Fragen aufgefordert. sogenannten „Selbstdrehern" unter Mißachtung der im § 2 Abs. 1 Nr. 2 geforderten Parallelität der Naht der Tabakfolie zur Längs- Die dazu notwendigen Stellungnahmen der Bundes- achse des nicht aus Feinschnitt bestehenden Tabakstrangs herge- stellt wurden, auch wenn sie ansonsten die Auflagen nach Stück länder und Gemeinden habe ich zum 1. März d. J. gewicht und Hüllenmaterial beachten? erbeten. Bislang hat sich nur ein Teil der angeschriebenen Die in der Frage angeführten Bestimmungen des Stellen geäußert. Eine Beantwortung Ihrer Fragen Tabaksteuergesetzes haben mit dem sog. Selbst- ist daher zur Zeit noch nicht möglich. Sobald mir drehen von Zigaretten nichts zu tun. Sie dienen der alle Stellungnahmen vorliegen, werde ich den Be- begrifflichen Abgrenzung der Zigarette von der richt an den Haushaltsausschuß erstatten und Ihnen Zigarre. eine Durchschrift des Berichts übersenden. Im übrigen brauchen selbstgedrehte Zigaretten nicht versteuert zu werden, weil sie aus versteuer- tem Feinschnitt und versteuerten Zigarettenhüllen Anlage 7 bestehen.

Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf Anlage 9 vom 23. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Krockert (SPD) (Drucksache 1 71/3165 Schriftliche Antwort Frage A 68) : des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf Welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung zu ergreifen, um die noch nicht bekannten, möglicherweise gesundheitsgefähr- vom 23. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des 9830 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972

Abgeordneten Dr. Sperling (SPD) (Drucksache Nach Auffassung der Bundesregierung können in VI/3165 Frage A 70) : der in der Bundesrepublik bestehenden Wirtschafts- ordnung die unterschiedlichen Interessen von Mine- Halt es die Bundesregierung — ins Sinne der durch das Bundes- - ministerium für Familie, Jugend und Gesundheit angeregten ralölgesellschaften und Tankstellengewerbe am ehe- und geführten Kampagne gegen das durch Nikotin und andere Stoffe gesundheitsgefährdende Rauchen von Tabakwaren und ins- sten und am besten durch unmittelbare Verhand- besondere von Zigaretten — nicht für sinnvoll, eine steuerliche Bevorzugung derjenigen Zigaretten, Zigarren und Rauchtabake lungen zwischen beiden Wirtschaftsgruppen ausge- im Sinne der Definition des von der Bundesregierung eingebrach- glichen werden, wie das auch in der Vergangenheit ten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Tabak- steuergesetzes (Drucksache VI/2899 in der Fassung der Beschlüsse der Fall war. des Finanzausschusses in Drucksache VI/3048; dort § 2 Abs. 1 bis 5) zu erwägen, soweit diese entsprechend § 2 Abs. 6 des Das schließt nicht die Bereitschaft der Bundesre- gleichen Entwurfs ganz aus anderen Stoffen als Tabak bestehen, und ist die Bundesregierung bereit, den Abgeordneten des Bun- gierung zu vermittelnden Gesprächen aus. Sie ver- destages eine Zusammenstellung derjenigen Tabakwaren zukom- weist in diesem Zusammenhang auf die wiederhol- men zu lassen, die nicht aus Tabak bestehen (§ 2 Abs. 6 des Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuer- ten Gespräche im BMWF, durch die in der Vergan- gesetzes in Drucksache VI/3048)? genheit das Zustandekommen einvernehmlicher Re- Der Forschung ist es bis heute nicht gelungen, gelungen zwischen beiden Wirtschaftsgruppen ge- einen Ersatzstoff für Tabak zu finden, der nicht fördert worden ist. Bei diesen Gesprächen hat sich schädlich ist. Es gibt daher keinen Anlaß, die Frage das BMWF davon leiten lassen, einer steuerlichen Bevorzugung solcher Erzeugnisse — die Rationalisierungsbemühungen beider Par- zu prüfen. teien zu unterstützen, Zigaretten, Zigarren und Rauchtabak aus anderen — die sozialen Anliegen des Tankstellengewerbes Stoffen als Tabak sind zur Zeit nicht auf dem deut- gewahrt zu sehen, schen Markt. — die Interessen der Verbraucher an einer preis günstigen Versorgung zur Geltung zu bringen.

Anlage 10

Schriftliche Antwort Anlage 11 des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf Schriftliche Antwort vom 23. Februar 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abgeordneten Löffler (SPD) (Drucksache VI/3165 des Parlamentarischen Staatssekretärs Hermsdorf Fragen A 71 und 72) : vom 23. Februar 1972 auf die Mündlichen Fragen der Glaubt die Bundesregierung, daß das von den Mineralöl Abgeordneten Frau Dr. Orth (SPD) (Drucksache firmen an das Tankstellengewerbe gerichtete Angebot, nach dem sich der Bonus pro Liter lediglich um 0,2 Pf bei Normalbenzin VI/3165 Fragen A 73 und 74): und um 0,8 Pf bei Super erhöhen soll, den steigenden Kosten im Tankstellengewerbe gerecht wird? Ist der Bundesregierung bekannt, daß der Mehrwertsteuerzu- schlag für landwirtschaftliche Veredlungserzeugnisse unterschied- Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, während der z. Z. lich gehandhabt wird, indem einmal der Bruttoerlös von allen laufenden Verhandlungen über Konditionsverbesserungen auf Kosten bereinigt wird und dann erst der Mehrwertsteuerzuschlag die Mineralölfirmen dahin gehend einzuwirken, daß diese dem erfolgt, während ein anderes Mal die Mehrwertsteuer dem Tankstellengewerbe einen Bonus gewähren, der die selbständige Bruttoerlös zugeschlagen wird und dann erst die Kosten abge- wirtschaftliche Basis dieses Gewerbes sichert? zogen werden? Sieht es die Bundesregierung nicht für erforderlich an, daß, Die Bundesregierung verfügt über keine reprä- uni Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, hier nach einheit- sentativen Unterlagen, die eine Beurteilung der Ko- lichen Regelungen verfahren werden müßte? stensituation des Tankstellengewerbes und der An- gemessenheit der Provisionsvorschläge der Mineral- Der Bundesregierung .ist bekannt, daß die Ver- rechnung von Aufwendungen, deren Erstattung der ölgesellschaften zuließen. Abnehmer landwirtschaftlicher Erzeugnisse vom Bei der Wertung der gegenwärtig zwischen den Lieferer verlangen kann, unterschiedlich gehandhabt Mineralölgesellschaften und den Tankstellenverbän- wird. Diese Unterschiede sind jedoch sachlich ge- den geführten Verhandlungen glaubt die Bundesre- rechtfertigt. gierung, angesichts der wechselseitigen Interessen- verflechtung beider Wirtschaftsgruppen davon aus- Sind die Aufwendungen durch Zahlungen entstan- gehen zu können, daß ein für beide Seiten befriedi- den, die der Abnehmer für eigene Rechnung — d. h. gendes Ergebnis ausgehandelt werden kann. Dabei auf Grund eigener Verpflichtung — an Dritte gelei- müssen sich zwangsläufig die Mineralölgesellschaf- stet hat, so mindert die Erstattung das Entgelt für ten- von dem Interesse leiten lassen, ein funktions die Lieferung. Die Verrechnung kann daher vor Be- und leistungsfähiges Tankstellengewerbe für den rechnung der Umsatzsteuer vorgenommen werden. Absatz ihrer Produkte zur Verfügung zu haben. Die Bei nachträglicher Erstattung muß der Erstattungs- betrag in eine Minderung des Entgelts und eine an- nachhaltigen Anstrengungen in dieser Richtung kommen unter anderem darin zum Ausdruck, daß teilige Minderung der in Rechnung gestellten Um- der durchschnittliche Kraftstoffabsatz je Tankstelle satzsteuer aufgeteilt werden. von 33 500 Litern im Jahre 1970 auf rd. 42 500 Liter Dagegen gehören Zahlungen, die der Abnehmer zu Anfang des Jahres 1972 gestiegen ist. Damit sind für Rechnung des Lieferers leistet — durch die er auch die Provisionseinkommen der Tankstellenin- also den Lieferer von einer Verpflichtung gegenüber haber gestiegen. Der darin deutlich werdende Ratio- Dritten befreit — zum Entgelt für die Lieferung. Die nalisierungseffekt ist nicht zuletzt durch eine Kon- Erstattung derartiger Zahlungen ist nur durch Ver- zentrierung des Absatzes auf modernere und lei- rechnung mit dem Preis der Lieferung, d. h. nur nach stungsfähigere Anlagen erreicht worden. Berechnung der Umsatzsteuer zulässig. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 171. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 23. Februar 1972 9831

Die Bundesregierung hält es für erforderlich, daß Im Schlußabsatz meiner schriftlichen Antwort auf nach den eben dargelegten Grundsätzen verfahren ihre Fragen habe ich zugesagt, daß ich mich bemü- wird. Soweit ihr bekanntgeworden ist, daß sachlich hen werde, Zahlen für die Bereiche zu ermitteln, in nicht gerechtfertigte, sondern auf uneinheitlicher denen statistisch aufgeschlüsselte Unterlagen vor-- Rechtsanwendung beruhende Unterschiede gemacht handen sind. worden sind, hat sie bereits im Einvernehmen mit Nach meinen Feststellungen sind solche Zahlen- den Obersten Finanzbehörden der Länder für eine angaben zu einem Teil für die Bereiche Deutsche einheitliche Regelung gesorgt, wie z. B. bei den Bei- Bundesbahn und Deutsche Bundespost vorhanden. trägen zum Absatzfonds oder der Produktionsabgabe Der anliegenden Übersicht**) ist zu entnehmen, wie- Zucker. viel Beamte innerhalb der vorgenannten Bereiche in den Kalenderjahren 1962 bis 1971 nach Vollendung des 62. Lebensjahres in den Ruhestand versetzt wor- den sind und welche Erhöhung der Versorgungs- Anlage 12 lasten sich dadurch in den entsprechenden Kalender- Schriftliche Antwort jahren ergibt. Ergänzend bemerke ich, daß im Bereich der Deut- des Parlamentarischen Staatssekretärs Rohde vom schen Bundesbahn nach einer im Jahre 1967 durch- 23. Februar 1972 auf die Mündlichen Fragen des Ab- geführten Repräsentativerhebung rund 55 v. H. der geordneten Peiter (SPD) (Drucksache VI/ 3165 Fra- auf eigenen Antrag nach § 42 Abs. 3 BBG in den gen 82 und 83) : Ruhestand versetzten Beamten nicht mehr dienst- Ist die Bundesregierung bereit, nunmehr die Gesetzeslücke zu fähig gewesen sind. schließen, die dadurch entstanden ist, daß in § 32 des Angestell- tenversicherungs-Neuregelungsgesetzes 1957 für die pflichtver- Im Bereich der Deutschen Bundespost sind in den sicherten Handwerker und freiwillig Versicherten in der damali- gen französischen Zone die gleichen Werteinheiten festgelegt Jahren 1962, 1968, 1969 und 1971 keine statistischen wurden wie für die Versicherten in der ehemaligen englischen und amerikanischen Zone, obwohl der oben genannte Personen- Erhebungen angestellt worden. Außerdem konnte kreis im Markenverfahren in der Zeit vom 1. Juni 1946 bis die Erhöhung der Versorgungslasten mangels Unter- 31. Oktober 1949 auf Grund der Verordnung Nr. 38 des Ober- befehlshabers der französischen Besatzungszone erheblich höhere lagen nur geschätzt werden. Insbesondere ist dabei Beiträge geleistet hat? nicht berücksichtigt worden, daß ein großer Teil der Ist der Bundesregierung bekannt, daß von dieser Benachteili- gung etwa 25 000 Personen aus der damaligen französischen nach § 42 Abs. 3 BBG in den Ruhestand versetzten Zone betroffen sind? Beamten bereits dauernd dienstunfähig war. Nach einer 1968 angestellten Erhebung betrug im Jahre Der von Ihnen genannte Sachverhalt geht auf die 1967 der Anteil der nicht mehr dienstfähigen Beam- geltende Rentenformel zurück. Danach werden der ten an der Gesamtzahl der nach § 42 Abs. 3 BBG in Rentenberechnung die versicherten Bruttoarbeitsent- den Ruhestand versetzten Beamten nur etwa 60 gelte oder Bruttoarbeitseinkommen zugrunde gelegt, bis 70 v. H. und zwar gleichermaßen in der Pflichtversicherung wie auch in der freiwilligen Weiterversicherung. *) Siehe 154. Sitzung Seite 8903 A Hierbei werden die versicherten Bruttoarbeits- entgelte und Bruttoarbeitseinkommen für das ge- **) Übersicht samte Gebiet der Bundesrepublik einheitlich be- über Ruhestandsversetzungen nach § 42 Abs. 3 BBG wertet. Diese grundlegende Regelung wirkt sich der nicht allein auf den von Ihnen angesprochenen Per- Bereich der Bereich sonenkreis aus. Beispielsweise war der Beitrags- Deutschen Deutschen Bundesbahn Bundespost satz in der Vergangenheit sowohl im zeitlichen Ab- lauf als auch teilweise in den Rentenversicherungen Jahr Versorgungs sorgungsVer der Arbeiter und der Angestellten unterschiedlich Zahl der aufwand im Zahl der aufwand im Ruhestands Jahr der Ruhestands- Jahr der hoch. Auch diese Sachverhalte bleiben bei der Be- versetzun Ruhestands versetzun Ruhestands gen versetzung gen versetzung rechnung der durch die geltende Rentenformel be- in Millionen i in Millionen gründeten lohnbezogenen Rente unberücksichtigt. DM DM

Zu Ihrer zweiten Frage darf ich noch ergänzend 1962 529 3,11 1 ) — - mitteilen, daß genaue Zahlen unserem Hause nicht vorliegen. Der Beitragssatz galt seinerzeit nicht nur 1963 532 3,44 1 356 7,4 für die pflichtversicherten Handwerker und für die 1964 623 4,14 1 316 7,5 freiwillig Versicherten, sondern für alle Versicher- ten. 1965 593 4,35 1 263 7,7 1966 472 3,79 1 065 6,8 1967 413 3,35 1 060 7,1 Anlage 13 1968 353 3,16 1 ) — — 1969 454 4,18 1) — - Zusätzliche Schriftliche Antwort 1970 518 5,38 1 053 10,4 des Bundesministers Genscher vom 16. Februar 1972 1971 645 10,21 1) — — auf die Frage des Abgeordneten Dr. Götz (CDU/ CSU) *) 1 ) Es sind keine statistische Erhebungen erstellt worden.