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Über das Kollektivgedächtnis der Deutschen und wie man sich Zutritt verschafft

Udo O. H. Jung

1. Einleitung 1994; Morain 1976) müssen hier in Erwä- Als das Meinungsforschungsinstitut EM- gung gezogen werden. Dazu gehören NID am 10. und 11. Dezember 1999 eine auch Briefmarken. Jung (1998) hat die repräsentative Umfrage im Auftrag des Fakten dargelegt und das Instrumenta- SPIEGEL durchführte und rund 1000 rium ausgebreitet. Noch dauerhafter als Bundesrepublikanern die Frage stellte: Briefmarken sind jedoch Straßenschilder. »Welcher Deutsche der vergangenen Sie werden meist nur nach verlorenen Jahrhunderte hat, Ihrer Meinung nach, Kriegen ausgetauscht. Der Stadtrat be- den bedeutendsten Beitrag zur Entwick- schließt dann neu, die Verwaltung führt lung der Menschheit erbracht?«, da ran- aus und nach einer kurzen Gewöhnungs- gierte Helmut Kohl, der Kanzler der Ein- zeit gehen die Bürger auch an den neuen heit und der schwarzen Kassen, zusam- Straßenschildern achtlos vorbei. Erst men mit dem Physiker Max Planck noch wenn Ortsfremde nach dem Weg fragen, auf Rang 7 und verwies damit Johann kommt die Orientierungsfunktion von Stra- Wolfgang von Goethe, Otto von Bis- ßenschildern zum Bewußtsein. Straßen- marck, Nikolaus Kopernikus, den auch schilder haben jedoch auch noch ganz die Polen gerne für sich in Anspruch andere Funktionen. Semiotiker z. B. kön- nehmen, Ludwig van Beethoven und nen sprachhistorische Informationen aus Karl Marx auf die Plätze. Vor Kohl ran- den Benennungen gewinnen (Glasner gierten lediglich Martin Luther, Johannes 1999). Der Normalbürger wird sich jedoch Gutenberg, Albert Schweitzer, der Elsäs- nicht so sehr für die diachronisch-lingui- ser, Robert Koch und Wilhelm Röntgen. stische Verweisfunktion von Straßenschil- Einsame Spitze mit 24 Prozent aller Nen- dern interessieren. Ihm kommt es eher nungen war der amerikanische Staats- entgegen, daß Straßenschilder die Erinne- bürger Albert Einstein. rung wachhalten an Personen (Konrad Die Demoskopie ist ein möglicher Zugang Adenauer), verlorene Gebiete (Sudeten- zu den Ikonen der Nation. Bei dieser straße), Ereignisse (Straße des 17. Juni) Methode schwankt jedoch das Charakter- oder frühere Zustände (die Matrosengasse bild der Personen in der Geschichte, be- in Bayreuth z. B. verweist darauf, daß ein sonders dann, wenn es sich um zeitge- absolutistischer Duodezfürst sein Vergnü- schichtliche Figuren handelt, und seien sie gen daran hatte, auf einem erweiterten auch noch so gewichtig. Von größerer Tümpel Kriegsschiffe mit leibhaftigen Ma- Stetigkeit sind andere, öffentlich zugängli- trosen aufeinander schießen zu lassen). che Quellen, die auch von Sprachlernern Daß und wie die Fremdsprachendidaktik ohne Mühe und selbständig benutzt wer- die Stadt entdeckt hat, wird so mancher den können. Alle »public signs« (Deák Bürger gewahr, wenn sich ihm Schulkin-

Info DaF 27, 6 (2000), 609–616 610 der, ja selbst Erwachsene mit einem Fra- hatte den Antrag der SPD-Stadtratsfrak- gebogen in den Weg stellen und heraus- tion, die Florian-Seidl-Straße wegen der zufinden versuchen, wo »ein bestimmtes nationalsozialistischen Vergangenheit Denkmal« (Wicke 1988: 195) zu finden des Namensgebers umzubenennen, ab- wäre. Die sogenannten Town Games gelehnt und bei dieser Gelegenheit auch (Wicke 1984; Wright & Grant 1985) haben Bert Brecht und als Anti- den Vorteil, daß die mit einem Arbeits- demokraten bezeichnet, die ähnliches auftrag ausgestatteten Personen sich mit verdient hätten. Kaum einen Monat spä- Muttersprachlern in Verbindung setzen ter wiederholte sich der Vorgang im ober- müssen, um ihre Aufgabe zu lösen, denn bayerischen Geretsried, wo Zeitungsbe- »ein Stadtplan wird nicht ausgehändigt« richten zufolge Ministerpräsident Ed- (Wicke 1988: 195). mund Stoiber als Mitglied der CSU ein- Stadtpläne können jedoch sehr nützliche geschrieben ist. In Geretsried sollte wie- Informationsträger sein (Putnam 1978) derum auf Antrag der SPD die Kolben- und ihre Auswertung sehr lohnend, vor heyerstraße umbenannt werden. Auch allem dann, wenn man diese Auswer- Erwin Guido Kolbenheyer hat einen tung systematisch angeht. In ihrer Platz im »Lexikon nationalsozialistischer Summe stellen die Straßennamen näm- Dichter« gefunden. Die Politposse be- lich das Gedächtnisbuch einer Stadt dar, schäftigte die deutsche Presse eine Zeit- und eine Klasse von (Fremd)sprachenler- lang. nern kann darin blättern und recherchie- Im Laufe des Semesters fanden die bean- ren, die Ergebnisse mit denen anderer tragten Umbenennungen doch noch statt, Städte vergleichen und sie zueinander in nachdem der Ministerpräsident öffent- Beziehung setzen. lich Stellung bezogen hatte. Für die Stu- Im folgenden soll gezeigt werden, daß dierenden war es jedoch verwunderlich, und wie Straßennamen als relativ verläß- daß 55 Jahre nach Kriegsende noch im- liche Auskunftei genutzt werden können. mer Straßen nach NS-Anhängern be- Exemplifiziert wird dies zunächst am nannt waren. Sie fühlten sich herausge- Beispiel der Stadt Bayreuth, deren uni- fordert, dem Beharrungsvermögen des versitäres Sprachenzentrum ausländi- öffentlichen Gedächtnisses ein wenig auf sche Studenten in Deutsch-als-Zweit- den Grund zu gehen. sprache-Kursen mit deutscher Kultur und Geschichte vertraut macht. 3. Instrumente Es gibt zwei Instrumente, die in dieser 2. Straßenkämpfe Situation von Nutzen sein können: Stadt- Als »Aufhänger« für das Landeskunde- pläne und das Postleitzahlenverzeichnis Seminar im Wintersemester 1999/2000 der Deutschen Post. diente eine kurze Nachricht aus der Re- Das Postleitzahlenverzeichnis der Post gionalpresse. In der Hauptstadt der be- gibt es in Buchform und als CD-ROM. nachbarten Oberpfalz, in Regensburg, Beide Quellen sind einfach zu beschaffen. war ein heftiger Streit über die Umbenen- Jeder deutsche Haushalt verfügt über das nung der Florian-Seidl-Straße entbrannt. nahezu 1000 Seiten starke Buch, die CD- Der 1893 geborene Florian Seidl ist einer ROM gibt es in jedem Postamt. von 50 repräsentativen Nazi-Dichtern im Für unsere Belange ist es wichtig, daß das »Lexikon nationalsozialistischer Dichter« Postleitzahlenverzeichnis in ein Ortever- (Hillesheim/Michael 1993). Der CSU- zeichnis und ein Straßenverzeichnis auf- Oberbürgermeister von Regensburg geteilt ist. Das Orteverzeichnis enthält 611 ungefähr 50.000 kleine Orte, denen nur Sportler eine einzige Postleitzahl zugeteilt wor- Verwaltungsbeamte den ist. Für 209 größere Orte und Städte Wirtschaftler Wissenschaftler/Erfinder sind sämtliche Straßen alphabetisch auf- gelistet worden. Man erfährt also nach Ein Abgleich mit dem Straßenverzeichnis längerem Suchen, daß es in den größeren von Bayreuth ergab dann die Notwen- Orten und Städten Deutschlands 34 Stra- digkeit, Bühnengestalten aus Wagner- ßen, Plätze und Alleen gibt, die nach Opern sowie Städte-/Gebietsnamen hinzu- Anne Frank benannt wurden, nicht aber, zufügen. Aus methodischen Gründen wie es im kleinen Dachau aussieht, jenem wurden außerdem folgende Kategorien berüchtigten Ort nordwestlich von Mün- zusätzlich geschaffen (mit Überschnei- chen, dem die Postleitzahl 85221 zuge- dungen allerdings, die als unvermeidbar teilt wurde. Da hilft nur noch das Internet angesehen wurden): Ausländer wie Rem- (bisher leider nur teilweise) weiter, da es brandt oder Rubens, Frauen und Wider- sich noch im Aufbau befindet. Unter der ständler gegen das Naziregime. URL http://www.Stadtplan.net/home.html findet man eine Reihe kleiner Städte so- 4.1 Bayreuth zum Exempel wie deren Straßennamen. Eine jede der oben genannten Kategorien Die systematische Auswertung von Post- gibt Anlaß zu vielfältiger Recherche und leitzahlenverzeichnis und Internet hat ei- Diskussion, besonders dann, wenn man nen angenehmen Nebeneffekt, wenn die vor Ort ist und die Lokalität selbst in Studierenden gezwungen sind, sich über Augenschein nehmen kann. Zwei sollen die geographische Lage von Städten in hier herausgegriffen werden, weil sie in Ost und West ein Bild zu machen. Wenn besonderer Weise geeignet sind, deutsche man erfährt, daß es in Hannover einen Nachkriegsgeschichte zu erhellen: Städte-/ Anne-Frank-Weg gibt, möchte man auch Gebietsnamen sowie Dichter/Schriftsteller. gerne wissen, wo Hannover liegt. Eine im Nach dem Ende des 2. Weltkrieges wur- Klassenzimmer aufgehängte und perma- den die aus den deutschen Ostgebieten nent verfügbare Landkarte hinterläßt so Vertriebenen auf die BRD und die DDR bleibende Spuren im Gedächtnis. verteilt. Die Integration der Neubürger verlief nicht immer reibungslos, und der 4. Verfahren Anspruch auf Repatriierung wurde in Zu Beginn des Semesters versuchte die den Straßenschildern deutlich sichtbar Gruppe zunächst einmal, sich Rechen- dokumentiert. Von 16 Straßen im heuti- schaft darüber abzulegen, welcher Perso- gen Bayreuth, die auf die ehemaligen nenkreis für die Ehrung mit einem Stra- Siedlungsgebiete der Deutschen im ßennamen überhaupt in Frage kommt. Osten verweisen, sind allein acht mit den Am Ende stand eine alphabetische Liste: Namen sudetendeutscher Gebiete im heutigen Tschechien ausgestattet wor- Architekten/Baumeister Bildende Künstler den: Marienbad, Karlsbad, Franzensbad: Dichter/Schriftsteller nicht nur Goethe-Kenner werden die Zu- Gewerkschaftler sammenhänge rasch erkennen. Journalisten Den Tschechen galt diese öffentlich doku-

Mäzene/Wohltäter mentierte Erinnerungsarbeit lange Zeit Musiker Politiker/Staatsmänner als blanker Revanchismus, die Furcht vor Reproduzierende Künstler einer Rückeroberung saß so tief, daß Ge- Soldaten spräche zwischen den Nachbarn verhin- 612 dert wurden. Um eine Überinterpretation Nach der Machtergreifung 1933 – Thoma zu vermeiden, ist es jedoch erforderlich, hat das nicht mehr erlebt – wurde im eine Vorkriegsstraßenkarte von Bayreuth Dunstkreis der Hauptstadt der Bewe- hinzuzuziehen, da der Verweis auf be- gung, in Dachau, eines der berüchtigsten nachbarte Gebiete und Städte auch in KZs eingerichtet, um »Gesindel« und Friedenszeiten üblich war und ist. »Kröten« vor der Welt zu verschließen und zu liquidieren. Hier wurde kurz vor 4.2 Der Fall Ludwig Thoma Kriegsende auch Georg Elser getötet, je- ner Elser, der am 8. November 1939 ein In Bayreuth gibt es auch eine Straße, die Attentat auf den Führer verübte und der nach Ludwig Thoma benannt ist. Die erst 1999 der Quasi-Vergessenheit entris- deutsche Leserschaft kennt und schätzt sen wurde, als ein Mitarbeiter des Dresd- Ludwig Thoma als den Autor der Lausbu- ner Hannah-Arendt-Instituts für Totalita- bengeschichten. Einige wenige kennen den rismusforschung die spitze Frage stellte, Rechtsanwalt auch als Satiriker und Jour- ob denn beim Versuch des Tyrannenmor- nalisten. Kaum jemand weiß jedoch, daß des Kollateralschäden – tote oder ver- Thoma sich kurz vor seinem Tod als letzte Mitläufer, Journalisten, Neugierige Antisemit geoutet hat, wie man Neu- – billigend in Kauf genommen werden deutsch sagt. dürften. Am 7. April 1921 veröffentlichte er z. B. Nicht der Vergessenheit entreißen mußte im Miesbacher Anzeiger einen Beitrag un- man in Dachau den Namen von Ludwig ter dem Titel » Weh«. Die Verfrem- Thoma, der in Dachau gelebt hat; nach dung des Buchstabennamens »W« (für ihm ist in Dachau eine Straße benannt West) zu (Au) »Weh« bezeugt die anti- worden. Ein Griff zum Postleitzahlenver- preußische Haltung des Autors. Bedeu- zeichnis belehrt des weiteren darüber, tungsvoller ist jedoch die antijüdische daß in 18 anderen Städten der Republik Haltung, wie sie im Hauptteil des Arti- Straßen nach Ludwig Thoma benannt kels zum Ausdruck kommt. Der promo- worden sind. Die meisten davon liegen in vierte Verfasser berichtet von seinen Er- Süddeutschland. Ludwig Thoma ist eine lebnissen als Sanitätssoldat während des Figur der Literaturgeschichte von bloß 1. Weltkriegs an der Ostfront. Er und regionaler Bedeutung. Aber in den klei- seine Kameraden sahen dort »Gesindel« neren Städten Süddeutschlands schlägt und »Kröten«, denen Adjektive wie er Altkanzler Ludwig Erhard um Längen. »faul« oder »grätzig« eigen waren: Juden. Im Postleitzahlenverzeichnis gibt es auch Den Stil der Jenninger-Rede vorwegneh- unzählige Elsternwege und -straßen, Ge- mend, fragt Dr. Ludwig Thoma an einer org Elser dagegen ist nach dieser Quelle Stelle: »Warum führte man Krieg mit den einzig in Konstanz mit einem Straßenna- gutmütigen, anständigen Russen, statt men geehrt worden. mit ihnen diese Pest auszurotten?« Und Da stellt sich natürlich die Frage, wieviel es ist nicht die einzige anrüchige Stelle im Erinnerung sich eine Nation, eine Stadt, journalistischen Schaffen des Juristen ein Dorf leisten kann und darf. Die Stu- Thoma, wie die Ausgabe der Beiträge aus dierenden wurden aufgefordert, die zahl- dem Miesbacher Anzeiger belegt (Volkert reichen Kriegerdenkmäler der einzelnen 1989). Drei Jahre vor dem mißglückten Stadtteile einer genauen Inspektion zu Hitler-Putsch in München war einer der unterziehen. In einer erweiterten Per- Wegbereiter des Führers in der bayeri- spektive wären auch die Büsten und schen Provinz aktiv. Standbilder der Fürsten, Soldaten, Dich- 613 ter, Politiker und Märchenfiguren mit möglicherweise die dunkle Vergangen- einzubeziehen, die Straßenkreuzungen heit der Nazi-Dichter Paul Coelestin Et- und Marktplätze zieren oder – im Falle tighoffer und Rudolf Herzog entgangen Bayerns – die Walhalla an der Donau sein. oder die Münchener Ruhmeshalle über In Parenthese sei gesagt, daß selbst in der Theresienwiese. Des weiteren wurde einem weit fortgeschrittenen Kurs das die Frage aufgeworfen, ob denn nicht richtige Briefeschreiben nicht selbstver- auch den im Krieg füsilierten Fahnen- ständlich geleistet wird und eine große flüchtigen Denkmale gesetzt werden Lücke in den Zeitplan reißen kann. For- dürften. In Erfurt und anderswo ist es maler Aufbau (Anschrift, Datum, Betreff, versucht worden, nicht ohne den Zorn Anrede, Text, Abspann), Taktik (Captatio der schweigenden Mehrheit heraufzube- benevolentiae, Hintergrund, Sachver- schwören. 55 Jahre nach Kriegsende gibt haltsdarstellung, Erwartungshaltung) es in Deutschland noch eine Reihe schla- und Stil (einen Oberbürgermeister verab- fender Hunde, die man besser nicht schiedet man nicht mit »vielen lieben weckt – oder vielleicht doch? Der menta- Grüßen«) wollen geübt werden. Bei der- len Hygiene einer Nation kann es dien- artigen Projekten ist außerdem der Ver- lich sein, sich einen Spiegel vorhalten zu zug nicht kalkulierbar, weil die behördli- lassen. Die Studenten des Landeskunde- chen Mühlen nur langsam mahlen und Seminars beschlossen jedenfalls, den Ari- die Ergebnisse u. U. erst nach Semester- adnefaden der Straßennamen noch ein- ende eingehen. So auch in diesem Fall. mal aufzunehmen und zu fragen, wie es Der Oberbürgermeister von Wuppertal die Deutschen des Jahres 2000 mit Na- zeigte sich überrascht. Im Katasteramt zischriftstellern insgesamt und mit deren seiner Stadt verfügte man nach eigener Gegenstücken, den von den Nazis ins Aussage nur über sehr dürftige Informa- Exil getriebenen Dichtern, Dramatikern, tionen zur Vita von Rudolf Herzog und Kritikern und Journalisten halten. Gibt es die Gründe, warum nach ihm eine Straße etwa noch weitere Leichen im Keller von benannt worden war. Aber er versprach, Staat und Gesellschaft? Und wie steht es der Sache nachzugehen. um die Gewichtung bzw. Verteilung auf Zwei Monate nach Semesterende erhiel- die erst vor 10 Jahren vereinigten Teile ten die Studierenden, die die Anfrage Deutschlands? Schimmern da unter- abgeschickt hatten, Antworten auf Fra- schiedliche Traditionen durch? gen, die sie gar nicht gestellt hatten. So erfuhren sie vom Ressort Vermessung, 5. Schriftsteller in Ost und West Katasteramt und Geodaten der Stadt Mit dem bereits erwähnten »Lexikon na- Wuppertal, daß Rudolf Herzog »zwei- tionalsozialistischer Dichter« als Leitfa- felsohne durch den Nationalsozialismus den und dem Postleitzahlenverzeichnis beeinflußt« war. Aber das 1964 in Leipzig als labyrinthischer Fundgrube machten erschienene Deutsche Schriftstellerlexikon sich die Studierenden erneut auf die Su- von den Anfängen bis zur Gegenwart kann che und wurden in zwei Fällen fündig, je zur Entlastung herangezogen werden. Es einmal in Euskirchen und Wuppertal. bezeichnet ihn »eher als einen Vertreter Die zuständigen Sachbearbeiter bzw. die der reaktionären ›Heimatkunst‹«. Und Oberbürgermeister dieser Städte erhiel- auch das Literaturlexikon 20. Jahrhundert ten E-Mails, in denen die Studierenden (»er verherrlichte die großbürgerlich-na- unter Nennung ihrer Quellen den Ver- tionalen Vorstellungen der wilhelmini- dacht äußerten, den Stadtvätern könne schen Gesellschaft und blieb auch später 614 reaktionärer Ideologe«) hilft bei dem Ver- Eine Becherstraße darf nicht, eine Johan- such, den Teufel mit dem Beelzebub aus- nes R. Becher-Straße muß gezählt wer- zutreiben. Zum Schluß heißt es den, auch wenn sich dadurch der eine dann:«Nach sorgfältiger Prüfung Ihres oder andere Fehler einschleichen sollte. Begehrens und der Abwägung der Argu- Bei der Auswertung muß man sich weiter mente für und wider eine mögliche Stra- vor Augen halten, daß nach der Wende ßenumbenennung muß ich Ihnen mittei- die eine oder andere »Säuberungsaktion« len, daß für die Verwaltung kein Hand- stattgefunden haben könnte. Im Falle der lungsbedarf für die Aufhebung des Stra- Exilschriftsteller ist aber davon auszuge- ßennamens besteht«. Diese Forderung hen, daß es keine gravierenden Verände- war gar nicht erhoben worden, aber vor- rungen gegeben hat. auseilende Gefahrenabwehr ehrt den Die Auswertung zeigte, daß es auf deut- Staatsdiener. schen Straßen den folgenden »Literatur- In Euskirchen wußte man über Paul Coe- kanon« gibt: lestin Ettighoffer zu sagen, daß er sich nach den beiden Weltkriegen um die Autoren Nennungen deutsch-französische Aussöhnung ver- dient gemacht hatte. Die Blut- und Bo- 1 71 den-Literatur aus der Feder des im Elsaß 2 Bert Brecht 44 geborenen Schriftstellers war dabei außer 3 23 Betracht geblieben. Im Vergleich mit Ettighoffer und Herzog 4 20 ist Ludwig Thoma natürlich ein Gigant. 5 Kurt Tucholsky 18 Die drei verbindet jedoch die Tatsache, daß sie Wegbereiter bzw. Hymniker des 6 12 Führers waren. 7 Johannes R. Becher 11 Vorläufiges Fazit: Im Großen und Ganzen haben die Deutschen nach dem Krieg 8 Lion Feuchtwanger 9 ihre Hausaufgaben gemacht: Wenigstens 9 9 die Straßen wurden einigermaßen entna- zifiziert. 10 Carl Zuckmayer 8 Wie aber steht es um die Exilschriftstel- 11 Alfred Döblin 6 ler? Aus dem Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 12 5 wurde eine (subjektive) Auswahl der be- 13 Oskar Maria Graf 3 kanntesten Namen getroffen: Johannes R. Becher, Bert Brecht, Alfred Döblin, Lion 14 2 Feuchtwanger, Oskar Maria Graf, Ödön 15 Else Lasker-Schüler 2 von Horváth, Else Lasker-Schüler, Hein- rich Mann, Thomas Mann, , 16 1 Erich Maria Remarque, Nelly Sachs, 17 Ödön von Horváth Keine Anna Seghers, Kurt Tucholsky, Franz Werfel, Carl Zuckmayer, Arnold Zweig, 18 Robert Musil Keine Stefan Zweig. Methodisch gesehen muß man eine Fest- Die Tabelle zeigt neben den zwei Unper- legung treffen, daß nämlich nur der volle sonen deutlich die Spitzenreiter Thomas Name, nicht Teile davon, zu zählen ist: Mann und Bert Brecht, von denen auch 615 zu sagen ist, daß sie in beiden Teilen anderen Art kommt. Um noch einmal das Deutschlands präsent sind. Stefan Zweig Beispiel der Exilliteraten zu benutzen: es dagegen ist ein »Wessi«. Dieses Schicksal gibt in Westdeutschland wie in Ost- teilt er mit Nelly Sachs, Carl Zuckmayer, deutschland einzelne Städte, die sich da- Alfred Döblin, Else Lasker-Schüler und durch auszeichnen, daß sie überdurch- Erich Maria Remarque, dessen eine Nen- schnittlich viele Exilschriftsteller durch nung in Osnabrück allerdings wie ein Straßenbenennungen ehren. Häufig ist Feigenblatt anmutet. Niemand scheint dies das Verdienst einiger weniger enga- dem Autor von Im Westen nichts Neues gierter und couragierter Bürger, die da- viel Ehre angedeihen lassen zu wollen. mit ein Beispiel geben, an dem sich an- Umgekehrt gibt es Autoren, die nur im dere ein Beispiel nehmen können. Osten präsent sind. Dazu gehören Johan- Ein letztes Beispiel möge als Anregung nes R. Becher, der Dichter der DDR-Na- dienen, die hier vorgeführte Methode tionalhymne, und Arnold Zweig. Alle gleichsam zu entgrenzen. In der französi- anderen Autoren sind »Wessis« und »Os- schen Hauptstadt Paris wurde 86 Jahre sis« zugleich, wobei natürlich noch eine nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges Gewichtung in Abhängigkeit von der Be- und in Anwesenheit beider Bürgermei- völkerungszahl vorgenommen werden ster der »Square de Berlin« eingeweiht. könnte. Kurt Tucholsky z. B. ist 12 mal im Die Wunden zweier Weltkriege brauch- Westen und 6 mal im Osten vertreten, im ten ganze 86 Jahre, um zu verheilen. Als Westen leben aber mindestens 3 mal so Europa in den 1. Weltkrieg schlidderte, viele Menschen wie im Osten. schloß Paris die Metrostation mit dem Die Teilung der Nation besteht also teil- Namen Berlin. Pariser Straßen mit deut- weise fort – auch auf den Straßen. Einige schen Namen, von Künstlern etwa, die wenige Schriftsteller eignen sich mögli- dort gelebt und gearbeitet haben, sind cherweise als »Kitt«. Ob er in den Schul- selten. Wenn deutsche Ortsnamen auf- büchern genutzt wird, muß einer weite- tauchen, bezeichnen sie meist von den ren Untersuchung vorbehalten bleiben, Franzosen gewonnene Schlachten und denn Kultur ist in Deutschland Ländersa- erinnern so an die von den »Erzfeinden« che. geteilte blutige Geschichte.

6. Schlußbetrachtung Die hier vorgeführte Methode läßt sich Literatur auf beliebige Personenkategorien über- Claus, Sybille et al. (Hrsg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration tragen, auf die Frauenbewegung und de- nach 1933. Bd. III, Gesamtregister. Mün- ren Exponenten, auf die Revolutionäre chen: Saur, 1983. des Jahres 1848, auf den Widerstand ge- Deák, András M.: »Public signs in the gen Hitler, der aus den verschiedensten United States – a regional approach«, Quellen gespeist wurde: Soldaten, Kom- English Teaching Forum 32, 1 (1994), 41–44. Deutsche Bundespost Postdienst (Hrsg.): munisten, Gewerkschaftler, Kirchenmän- Das Postleitzahlenbuch. Alphabetisch ge- ner, Studierende, kommunale Verwal- ordnet. Bonn (Postfach 3000, 53105 Bonn), tungsbeamte. Aus Referaten zu Perso- 1993. nen- und Werkbiographien kann man ein Glasner, Peter: »Ein sprachhistorischer Bei- Mosaik zusammensetzen und auf einer trag zur Semiotik der Stadt: das Pilotpro- jekt ›Kölner Straßennamen‹«, Mutterspra- Art Generalstabskarte mit verschieden- che 109, 4 (1999), 316–330. farbigen Nadeln die Orte markieren, in Hillesheim, Jürgen; Michael, Elisabeth: Lexi- denen es zu Häufungen der einen oder kon nationalsozialistischer Dichter. Biogra- 616

phien – Analysen – Bibliographien. Würz- short study visits abroad«, Audio-Visual burg: Königshausen & Neumann, 1993. Language Journal 16, 3 (1978), 155–160. Jung, Udo O. H.: »›Jene kleinen Blättchen Snow, David; Byram, Michael: Crossing fron- mit zähem, weichem Klebstoff‹: Brief- tiers. The school study visit abroad. London: marken im Fremdsprachenunterricht«. CILT, 1997. In: Jung, Udo O. H. (Hrsg.): Praktische Volkert, Wilhelm: Ludwig Thoma. Sämtliche Handreichung für Fremdsprachenlehrer. Beiträge aus dem »Miesbacher Anzeiger« Frankfurt a. M.: Lang, 1998, 142–150. 1920/21. München: Piper, 1989. Morain, Genelle: »Visual literacy: reading signs and designs in the foreign culture«, Wicke, Rainer: »Town-games in Old Eng- Foreign Language Annals 9, 3 (1976), 210– land«, Betrifft erziehung 2 (1984), 45–49. 216. Wicke, Rainer: »Von der Studienfahrt über Olles, Helmut (Hrsg.): Literaturlexikon 20. den Schüleraustausch zur Städtepartner- Jahrhundert. Reinbek: Rowohlt, 1977. schaft«. In: Edelhoff, Christoph; Liebau, Putnam, Constanze E.: »A Stadtplan for Eckart: Über die Grenze. Weinheim; Basel: teaching culture«, Die Unterrichtspraxis for Beltz, 1988, 192–202. the Teaching of German 11, 2 (1978), 26–33. Wright, David; Grant, Michael: »Project- Smith, Sheila; Verguet, Patrick: »You can based excursions abroad«, British Journal lead a horse to water … organization of of Language Teaching 23, 3 (1985), 173–176.